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German Pages 320 [321] Year 2018
Wolfgang Pleger
Handbuch der Anthropologie Die wichtigsten Konzepte von Homer bis Sartre 3. Auflage
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.
wbg Academic ist ein Imprint der wbg. 3., aktualisierte Auflage © 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Konstantin Alogas Umschlagabbildung: Henry Moore – King and Queen, © ullstein bild – AISA Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Layout und Satz: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27048-4 Elektronisch sind Elektronisch sindfolgende folgendeAusgaben Ausgabenerhältlich: erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74416-9 978-3-534-74258-5 eBook (PDF): eBook (epub): 978-3-534-74417-6 978-3-534-74259-2
Für Barbara
Inhalt
Einleitung
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Antike und biblische Mythologie
I. Die Sterblichen – Griechische Mythologie
17
1. Die Sterblichen und die Unsterblichen (Homer) 18 2. Goldenes Zeitalter und Büchse der Pandora (Hesiod) 23 3. Tragische Anthropologie (Sophokles) 28
II. Der Mensch, ein Geschöpf Gottes – Das kreationistische Konzept 35 1. Die Erschaffung der Welt und des Menschen (Genesis 1–3) 36 2. Erbsünde und Gnadenwahl (Augustinus) 42 3. Natur und Gnade (Thomas von Aquin) 48
Dualismus und Monismus
III. Dualistische Konzepte
55
1. Psyche und Soma (Platon) 56 2. Körper und Geist (Descartes) 61 3. Der Mensch als Bürger zweier Welten (Kant) 68
Inhalt
7
IV. Monismus – Die Einheit der Natur
75
1. Der Mensch im Kosmos (Marc Aurel) 76 2. ‚Deus sive natura‘ – das pantheistische Konzept (Spinoza) 83 3. Autopoiese – Die Selbsterzeugung lebender Systeme (Maturana) 88
Kultur und Geschichte
V. Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell 95 1. Eros, Prometheus und Hermes – Mythen von menschlichen Mängeln (Platon) 96 2. Der erste Freigelassene der Schöpfung (Herder) 102 3. Kultur als Kompensation natürlicher Mängel (Gehlen) 108
VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen 1. Das Ziel der Weltgeschichte (Kant) 116 2. Geschichtliches Verstehen (Dilthey) 123 3. Das Seinsgeschick und der Mensch (Heidegger) 129
Stufen- und Entwicklungsmodelle
VII. Das Stufenmodell
136
1. Pflanze – Tier – Mensch (Aristoteles) 137 2. Die Stufenleiter des Seins: Vom Drang zum Geist (Scheler) 145 3. Der Stufenbau des Lebens (Plessner) 151
VIII. Genetische Modelle
161
1. Die Evolution des Menschen (Darwin) 162 2. Ichentwicklung und Ichstärkung (Freud) 170 3. Die Bildung der menschlichen Gestalt (Portmann) 179
8
Inhalt
115
Individuum und Person
IX. Der Mensch als Individuum
187
1. Das Individuum als Monade (Leibniz) 188 2. Die Bildung der Individualität (W. v. Humboldt) 195 3. Das Individuum als ‚Wille zur Macht‘ (Nietzsche) 203
X. Zum Begriff der Person
212
1. Der Mensch als Person (Cicero) 213 2. Die Identität der Person (Locke) 221 3. Die Person als Zweck an sich selbst (Kant) 229
Determinierte Materie und Freiheit des Subjekts
XI. Materialistische Anthropologie
239
1. Der Maschinenmensch (La Mettrie) 240 2. Materialistische Dialektik (Engels) 247 3. Historischer Materialismus (Marx) 254
XII. Das absolute Ich – Das Konzept der Subjektivität
261
1. Ich und Nicht-Ich (Fichte) 262 2. Das natürliche und das transzendentale Ich (Husserl) 271 3. Die Freiheit des Subjekts (Sartre) 279
Epilog: Natur – Freiheit – Vernunft. Zur Situation der Person 288 1. 2. 3. 4.
Die Stellung des Menschen in der Natur 289 Die Entwicklung der Person 293 Praktische Freiheit – Die Handlungen der Person 297 Pragmatische Vernunft – Zur Identität der Person 301
Literaturverzeichnis Register
307
315
Inhalt
9
Einleitung Nichts Armseligeres nährt die Erde als den Menschen unter allem, was auf der Erde Atem hat und kriecht (...) (Homer) Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person (...) (I. Kant)
Die Welt ist für den Menschen das unhintergehbare, materiale Apriori seines Lebens. Das bedeutet: Die Existenz des Menschen hat die der Welt zur Voraussetzung, nicht aber umgekehrt. Mit der Geburt entwickelt der Mensch ein eigenes Verhältnis zur Welt. Treffend wird daher die Geburt als der Vorgang bezeichnet, durch den der Mensch ‚zur Welt‘ kommt. Äußerliches Zeichen für das eigene Weltverhältnis ist die selbständige Atmung, durch die die Abhängigkeit des Säuglings von dem Blutkreislauf der Mutter aufgehoben wird. Der Säugling wird zu einem eigenständigen Lebewesen. Mit der „Vollendung der Geburt“ kommt ihm daher nach unserer Rechtsauffassung ein besonderer Status zu: die Rechtsfähigkeit (§ 1 BGB). Das Verhältnis des Menschen zur Welt hat einen jeweils individuellen Charakter. Er macht seine Situation aus. Mit der Situation ist das spezifische In-der-Welt-Sein eines Menschen gemeint. Diese lässt sich durch objektive Kriterien bestimmen. Das gilt bereits für den Säugling. Bestimmte Merkmale seiner Situation werden in der Regel auch sofort festgestellt: so das Geschlecht, der Ort und die Zeit seiner Geburt, Körpergröße, Gewicht und Gesundheitszustand. Sie markieren seine Situation zu Beginn seines Lebens und bleiben daher unveränderliche Daten seiner Biographie, selbst wenn sich einige von ihnen im Laufe der Zeit ändern. Die Entwicklung des Menschen ist dadurch bestimmt, dass er mit der Geburt in ein Verhältnis zu der Situation tritt, in der er sich befindet. Von Bedeutung ist, dass sich beide Seiten des Verhältnisses im Laufe der Zeit verändern, der Mensch und die Situation. Jede neue Situation stellt daher für den Menschen auch eine neue Herausforderung dar. Sprechend und handelnd antwortet er auf diese Herausforderung. Indem er dies tut, bestimmt er zugleich sich selbst. Herausforderung und Antwort bestimmen den Dialog des Menschen mit der Welt. Unternimmt der Mensch den Versuch, die problematische Situation des Menschen in einem allgemeinen Sinne zu bestimmen, so gewinnt der Zusammenhang dieser Aussagen die Form einer Anthropologie.
Einleitung
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Anthropologie ist die Lehre vom Menschen. Diese Lehre entstammt entweder den Wissenschaften oder der Philosophie oder der Theologie. Wir sprechen daher z.B. von einer wissenschaftlichen, einer philosophischen oder von religiöser bzw. theologischer Anthropologie. Das Wort Anthropologie hat eine analoge Struktur z. B. zum Wort Geologie. In beiden Fällen gibt es ein Thema und eine Lehre, die sich auf das Thema bezieht. Allerdings verdeckt diese Analogie einen gravierenden Unterschied zwischen beiden Begriffen. Im Fall des Begriffs Geologie gehören derjenige, der die Lehre entwickelt und vertritt, und das Thema, dem sich die Lehre widmet, zwei verschiedenen Bereichen an. Das ist bei der Anthropologie anders. Das Objekt dieser Lehre und das Subjekt, das diese Lehre aufstellt, sind identisch: Es ist der Mensch, der in der Anthropologie Aussagen über sich selbst macht. Anthropologie hat daher, unabhängig davon, ob dieser Sachverhalt selbst noch einmal thematisiert wird, einen reflexiven Charakter. Man darf annehmen, dass der Mensch, nachdem er angefangen hat zu denken und zu sprechen, auch über sich selbst nachdenkt und spricht. Das gilt in phylogenetischer Hinsicht ebenso wie in ontogenetischer. Für die Denk- und Sprachentwicklung des Kindes lassen sich hierzu überprüfbare Aussagen machen. Versteht man Anthropologie nicht nur als eine Lehre neben anderen möglichen, sondern als eine spezifische, nämlich als Selbstthematisierung des Menschen, dann kann man sagen, dass Anthropologie zum Wesen des Menschen gehört. Der Mensch ist in dem erläuterten Sinne das ‚anthropo-logische‘ Lebewesen. Da Selbstthematisierung Reflexion bedeutet, kann man ebenso sagen: Der Mensch ist das reflexive Lebewesen. Der Mensch entwickelt ein Selbstverhältnis, das ihn in allen seinen Handlungen und Aussagen begleitet. Bleibt dieses Selbstverhältnis unthematisch, sprechen wir von einer impliziten Anthropologie, wird es thematisch, von einer expliziten. Aus diesem Grunde enthält auch die Geologie eine implizite Anthropologie. Indem der Mensch über die Erde spricht, thematisiert er einen Gegenstand. Gleichzeitig aber bestimmt er damit sein Verhältnis zu diesem Gegenstand und damit implizit sich selbst. In Sätzen artikuliert der Mensch einen Sachverhalt mit Hilfe von Worten. Der im Satz artikulierte Sachverhalt wird zu einem bestimmten. Jede Bestimmung bedeutet zugleich Ab- und Eingrenzung. Den Akt der sprachlichen Begrenzung einer Sache bezeichnen wir als Definition. Die Definition muss nicht im schulmäßigen Sinne mithilfe der Angabe des Oberbegriffs und der artspezifischen Merkmale erfolgen. Werden z. B. die Menschen als die Sterblichen bezeichnet, so grenzt sich der Mensch durch diese Selbstbestimmung von den Unsterblichen ab. Diese Definition sagt nicht alles über ihn aus, verleugnet auch nicht, dass alle Lebewesen sterblich sind, betont aber deutlich, dass das Verhältnis des Menschen zu den Unsterblichen ihn wesentlicher charakterisiert als alles andere. Nicht anders verhält es sich, wenn sich der Mensch als Mängelwesen definiert. Hier erfolgt die Abgrenzung gegenüber dem Tier. Die Definition enthält die These, dass der Mensch im Verhältnis zum Tier gravierende Mängel aufweist. Innerhalb der europäischen Geschichte hat sich der Mensch in unterschiedlicher Weise selbst definiert. Die zwölf wichtigsten Positionen sollen in diesem Handbuch dargestellt werden. Die Darstellung hat, diesem Ansatz folgend, einen historisch-systematischen Charakter. Vollständigkeit ist damit jedoch nicht intendiert. Die Humanwissenschaften haben ohnehin ihren fachspezifischen Zugang zu anthropologischen
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Einleitung
Fragestellungen. So ließen sich die erörterten Modelle fast beliebig ergänzen durch eine medizinische, eine psychologische, eine pädagogische, eine soziologische Anthropologie usw. Außerdem könnte im Bereich der Philosophie der Ansatz ergänzt werden durch eine dialektische, eine hermeneutische, eine phänomenologische und eine strukturale Anthropologie usw. Die Begründung für die hier getroffene Auswahl besteht darin, dass sie sich weder an Disziplinen orientiert, noch an dem methodischen Zugang, wissenschaftlicher oder philosophischer Art, sondern an den inhaltlich bestimmten Definitionen des Menschen. Die im Folgenden dargestellten anthropologischen Modelle lassen sich zu sechs Paaren mit jeweils zwei Definitionen ordnen. Das erste Paar bilden die antike und die biblische Mythologie. Der Mythos ist eine Göttergeschichte. Der Mensch definiert sich als Geschöpf Gottes. Das gilt, bei allen Unterschieden, sowohl für den antiken griechischen Mythos wie auch für den biblischen Schöpfungsmythos. Der antike Mythos und der biblische Paradiesmythos haben als weitere Gemeinsamkeit, dass die Situation des Menschen als leidvoll dargestellt wird. Im antiken Mythos ist es das Schicksal, das dem Menschen von den Göttern zugeteilt wird. Er hat darauf eine Antwort zu finden. Im Paradiesmythos ist der Mensch nach seiner Vertreibung auf ein schmerzvolles und hartes Arbeitsleben verwiesen. Beiden Mythen ist jedoch der Gedanke gemeinsam, dass der Mensch, entweder durch Hybris, d.h. Überheblichkeit, oder aber durch eine Verfehlung, d. h. durch einen Ungehorsam, sich seine elende Situation selbst zuzuschreiben hat. Allerdings enthält die Bibel einen zweiten Mythos, in welchem dem Menschen das Leid erspart bleibt: Es ist der Mythos von der Ebenbildlichkeit Gottes. Die Bibel thematisiert daher, streng genommen, zwei unterschiedliche Modelle des Menschen. Ein weiteres Paar bilden dualistische und monistische Konzepte. Der Dualismus verbindet sich mit dem Gedanken, dass die Welt in zwei grundsätzlich unterschiedliche Seinsbereiche gegliedert ist. Für die griechische Antike sind es die Bereiche von ‚psyche‘ und ‚soma‘, für Descartes ‚res extensa‘ und ‚res cogitans‘ und für Kant ‚mundus sensibilis‘ und ‚mundus intelligibilis‘. Entscheidend ist, dass der Mensch stets beiden Bereichen angehört. Daraus ergibt sich das Problem ihrer Vermittlung. Dieses Problem wird im Monismus dadurch überwunden, dass er nur von einem Seinsbereich ausgeht. In den hier thematisierten monistischen Konzepten ist dies die Einheit der Natur. Der Mensch ist ein Teil der Natur. Sein Verhältnis zu ihr lässt sich bestimmen nach dem Verhältnis des Teils zum Ganzen. Das dritte Paar lässt sich durch die Stichworte Kultur und Geschichte charakterisieren. Unter das erste Stichwort fallen alle Versuche, den Menschen im Vergleich zum Tier als ein Mängelwesen zu bestimmen. Es zeichnet ihn aus, dass er durch Handwerke, Künste, Wissenschaften, Vernunft und Freiheit sowie schließlich Kultur seine Mängel zu kompensieren sucht. Mag es auch bei diesen Versuchen im Laufe der Zeit Fortschritte geben, so steht doch jeder Mensch jeden Tag neu vor der Aufgabe, seine konstitutiven, d. h. anthropologisch bedingten, Mängel zu beheben. Anders verhält es sich, wenn der Mensch als ein geschichtliches Wesen definiert wird. Nach diesem Konzept steht der Mensch in einem größeren Zusammenhang. Seine Situation ist dadurch bestimmt, dass er Teil eines Geschehens ist, das vor ihm begann und sich nach ihm fortsetzt. Die anthropologischen Konzepte, die sich hieran orientieren, interpretieren den Gesamtzusammenhang der Geschichte jedoch sehr unterschiedlich.
Einleitung
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Das vierte Paar thematisiert Stufen- und Entwicklungsmodelle. Das Stufenmodell wird gelegentlich auch als Schichtenmodell bezeichnet. Es hat einen statischen Charakter und eine hierarchische Gliederung. Mit ihm werden vier Seinsstufen bezeichnet. Es handelt sich um das anorganische Sein, die Pflanze, das Tier und den Menschen. Im Unterschied zu ihm verbindet das genetische Modell die Stufen durch den Gedanken der Entwicklung. Das bedeutet, dass die jeweils höheren Seinsbereiche auch spätere Stufen der Entwicklung repräsentieren. Dieses Modell hat seinen Siegeszug mit der Evolutionstheorie Darwins angetreten. Während diese die phylogenetischen Aspekte betrachtet, konzentriert sich die Entwicklungspsychologie auf die ontogenetischen. Das fünfte Paar wird bestimmt durch die anthropologischen Konzepte des Individuums und der Person. Sofern mit dem Begriff Individuum das Unteilbare gemeint ist, das Atom, hat es seinen Ursprung in der griechischen Antike, wird aber nicht für einen einzelnen Menschen gebraucht. Ist mit ihm der Einzelne im Unterschied zu dem Allgemeinen gemeint, hat es seinen Ursprung bei Aristoteles. Eine besondere anthropologische Bedeutung bekam es jedoch erst dadurch, dass mit ihm das Einzigartige bezeichnet wurde, und das erfolgte durch Leibniz. Allerdings ist dieser Begriff nicht auf den anthropologischen Bereich beschränkt. Streng genommen ist jedes einzelne Ding durch Einzigartigkeit ausgezeichnet. Das ist bei dem Begriff der Person anders. Er kommt im alltäglichen Sprachgebrauch nur einzelnen Menschen zu; im Bereich des Rechts dient er auch zur Bezeichnung von Institutionen, z. B. „Körperschaften“, und im Bereich der Theologie hat er eine zentrale Bedeutung für das Verständnis der Trinität. Der lateinische Begriff ‚persona‘ ist die Übersetzung des griechischen Wortes ‚prosopon‘, das die Maske eines Schauspielers bezeichnet. Der Begriff Person hat eine mehrfache Bedeutung: Rolle, Rechtssubjekt, Personalpronomen und Selbstbewusstsein. Das sechste Paar zentriert sich um den Begriff der Freiheit. Es thematisiert die Determiniertheit der Materie und die Freiheit des Subjekts. Ansätze zu einer materialistischen Anthropologie finden sich bereits in der griechischen Antike, aber in der Neuzeit erhalten sie mit der Wiederbelebung der Atomtheorie und der Entwicklung des mechanischen Denkens eine neue Aktualität. Setzen auch der mechanische, der dialektische und der historische Materialismus unterschiedliche Akzente, so verbindet sie doch eine Überzeugung: Sie besteht in der Determiniertheit allen Geschehens. Den Gegensatz bildet die Philosophie der Subjektivität, die sich in der Neuzeit herausbildete. Sie ist unlösbar mit dem Begriff Freiheit verbunden. Merkmale, die in der mittelalterlichen Theologie Gott als dem absoluten Subjekt zugesprochen worden waren, nimmt nun das menschliche Subjekt für sich in Anspruch. Das autonome Ich, das sich aus allen weltlichen Bezügen herauslöst, ist nicht nur frei, sondern absolut. Die verwendeten anthropologischen Grundbegriffe haben einen unterschiedlichen Charakter. Die Bezeichnung des Menschen als Geschöpf Gottes hat den Charakter einer Definition, das Stufenkonzept den Charakter eines Modells. In einigen Fällen ist der Charakter nicht eindeutig. So lässt sich der Begriff der Person ebenso sehr als Definition, wie von seinem Ursprung her als eine anthropologische Metapher verstehen, die selbst Modellcharakter hat. Der Begriff des Modells lässt sich wie folgt an einem Beispiel erläutern: Das Modell eines Hauses, das ein Architekt anfertigt, hat einen eigentümlichen Zwischenstatus. Es ist angesiedelt zwischen dem gedanklichen Entwurf des Hauses und dem später ausgeführten Bauwerk. Es verbindet in sich anschauliche und
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Einleitung
gedankliche Momente. An diesem Beispiel orientiert sich der hier gebrauchte Begriff des Modells. Übergreifend wird aber der Begriff Konzept verwendet. Die hier vorgestellten Konzepte fügen sich keiner bestimmten Geschichtsauffassung und keiner Epocheneinteilung. Sie stützen das Modell einer Verfallsgeschichte ebenso wenig wie das einer Geschichte des Fortschritts. Auch bilden sie keine geschichtliche Reihe. Keines von ihnen kann daher als geschichtlich überholt angesehen werden. Einige Beispiele mögen das belegen. Die Definition der Menschen als ‚die Sterblichen‘ hat, trotz des Übergangs ‚Vom Mythos zum Logos‘ ihre zentrale Bedeutung nie verloren. Das Verständnis des Menschen als eines Geschöpfs Gottes wird seit seinem Ursprung im Alten Testament, ungeachtet der Evolutionstheorie, in der Theologie vertreten. Dasselbe gilt für den Begriff des Mängelwesens. Die Betonung der natürlichen Mängel des Menschen im Vergleich zum Tier wird im griechischen Prometheusmythos deutlich ausgesprochen und mit der Herausstellung derselben Kennzeichen, z. B. der Nacktheit, von Gehlen im 20. Jh. wiederholt. Das Stufenmodell, das von Aristoteles entwickelt wurde, wird, trotz der an ihm vorgenommenen Differenzierungen, in seiner Grundstruktur ebenfalls noch im 20. Jh. vertreten, und das obwohl in der Zwischenzeit die Evolutionstheorie eine maßgebliche Bedeutung bekommen hat. Einige Definitionen haben zwar eine Vorgeschichte, entwickeln sich jedoch erst in einer bestimmten Epoche zu einem anthropologischen Grundbegriff. Das gilt für den Begriff des Subjekts ebenso wie für den des Individuums. Schließlich der Begriff der Person. Er hat seine Vorgeschichte im griechischen Theater, avanciert aber im römischen Sprachgebrauch zu einem zentralen anthropologischen Begriff. Für alle Konzepte gilt: Nachdem sie ihre zentrale anthropologische Bedeutung entwickelt haben, sind sie aus dem Spektrum anthropologischer Definitionen nicht mehr wegzudenken. Wenn die erörterten Konzepte nicht als geschichtlich überholt anzusehen sind, wird die Frage ihrer Verbindlichkeit unabweisbar. Zwei mögliche Antworten sind jedoch wenig überzeugend. Nach der einen kann nur eine einzige Definition Anspruch auf Verbindlichkeit erheben und nach der anderen ist die Entscheidung für eine bestimmte beliebig. Demgegenüber soll die These vertreten werden, dass jedes Konzept mit guten Gründen einen eigenen Wahrheitsanspruch behauptet. Das gilt auch für die mythologischen Modelle. Die Sterblichkeit des Menschen zu seinem entscheidenden Kriterium zu machen ist keineswegs überholt. Der Kampf gegen die Sterblichkeit und das Bemühen um die Verlängerung des Lebens haben mit der Entwicklung der Medizin und allgemeinen Gesundheitsprogrammen in der Gegenwart eher noch zugenommen. Ebenso enthält der biblische Mythos auch für den nichtreligiösen Menschen eine Wahrheit. Sie besteht, negativ formuliert, darin, dass der Mensch sich nicht selbst gemacht hat, d. h., dass er im strengen Wortsinn kein ‚self-made-man‘ ist; mag man auch an die Stelle des Schöpfergottes die Natur setzen oder im Sinne von Spinoza die Formel ‚deus sive natura‘ bevorzugen. Das dualistische Konzept bewahrt seine Aktualität z. B. in der psycho-somatischen Medizin, das monistische darin, dass alle realen Unterschiede als innere Differenzierungen in der Einheit der Natur verstanden werden können. Ähnliche Argumente für den jeweiligen Wahrheitsanspruch ließen sich auch für die anderen Modelle geltend machen. Das bedeutet, dass in jedem Konzept wichtige Einsichten über den Menschen enthalten sind, die eine Anthropologie in einem umfassenden Sinne zu berücksichtigen hätte. Für sie böte der Begriff der Person einen erfolgversprechenden
Einleitung
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Ansatz, da für ihn Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung konstitutive Merkmale sind. Nur eine Person kann sich selbst z. B. als Geschöpf Gottes, als Mängelwesen oder als Individuum definieren. Insofern kommt dem Konzept der Person eine besondere Bedeutung zu. Für die Darstellung der genannten anthropologischen Konzepte wird auf das Prinzip des Exemplarischen zurückgegriffen. Da es nicht möglich ist, die Konzepte auch nur annähernd erschöpfend auszuführen, musste eine Auswahl getroffen werden. Es werden jeweils drei Autoren herangezogen, die geeignet sind, das jeweilige Modell in besonders prägnanter Weise zu repräsentieren. Die Methode der Darstellung ist weitgehend bestimmt durch einen hermeneutischen Ansatz. Ziel ist es, die anthropologischen Aussagen des jeweiligen Autors im Kontext seines eigenen Denkens möglichst unverkürzt darzustellen. Ein besonderer Akzent liegt darauf, die spezifische Intention des Autors zur Geltung zu bringen. In diesem Zusammenhang kommt der Berücksichtigung seiner jeweils eigentümlichen Denk- und Sprechweise eine besondere Bedeutung zu. Das geschieht dadurch, dass Zitate ihren angemessenen Platz finden. Im Mittelpunkt stehen der Autor und die von ihm vertretene Position. So beginnt die Darstellung eines Autors stets mit einer Textpassage von ihm, auf die bei seiner Interpretation durch die Anmerkung ‚vgl. Text’ hingewiesen wird. Im Epilog wird der Versuch unternommen, die Situation der Person genauer zu bestimmen. Dabei wird a) die besondere Stellung des Menschen in der Natur thematisiert, b) die Entwicklung des Kindes vom Säugling zur Person nachgezeichnet, c) die praktische Freiheit der Person am Leitfaden des Handlungsbegriffs erläutert und d) die pragmatische Vernunft als Maßstab der Orientierung für die angestrebte Identiät der Person herausgestellt. Über die zitierten Quellen und die verwendete Forschungsliteratur gibt das Literaturverzeichnis Auskunft.
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Einleitung
Antike und biblische Mythologie
I.
Die Sterblichen – Griechische Mythologie
Mythen sind Göttergeschichten. Die Götter Griechenlands sind idealisierte Menschen, bestimmt durch Schönheit, Leichtigkeit und überlegene Kraft. Sie repräsentieren all das, was einzelne Menschen in glücklichen Momenten sein können. Andererseits aber sind sie – wie Menschen auch – eifersüchtig, rachsüchtig und launisch. In einer Hinsicht aber überragen sie den Menschen in einem prinzipiellen Sinne: sie sind unsterblich. Es ist der Kontrast von Sterblichkeit und Unsterblichkeit, der die Folie bildet für die erste entscheidende Definition des Menschen in Europa: Die Menschen, das sind die Sterblichen. Die Sterblichkeit bedrängt den Menschen in einem solch radikalen Sinne, dass er sich auf sie hin definiert. Die Sterblichkeit stellt die erste entscheidende Kränkung dar, mit der sich der Mensch auseinandersetzen muss. Sie ist bedeutsamer als alle anderen Kränkungen, mit denen er sich im Laufe der Geschichte konfrontiert sieht; bedeutsamer als die Einsicht, dass die Erde nicht den Mittelpunkt des Weltalls darstellt, bedeutsamer als die Evolutionstheorie, die dem Menschen seine tierische Abstammung vor Augen führt, und bedeutsamer schließlich als die große Macht des Unbewussten und die relative Ohnmacht des Ichs, auf die Freud hinwies. Der griechische Mythos zeigt, in welcher Weise die Sterblichkeit das leitende Motiv für das frühe anthropologische Denken wird. Er zeigt auch, ob sich der Mensch von diesem ‚Makel‘ zu befreien sucht oder ihn als unüberwindbare Tatsache akzeptiert. Lang ist die Geschichte der Versuche, den Tod als endgültiges Ende des Lebens zu leugnen. Zu ihr gehören philosophische Versuche ebenso wie religiöse und theologische. Sie bilden ein zentrales Thema der Geschichte des europäischen Denkens. Platons Argumente für die Unsterblichkeit der Seele bilden einen ersten Höhepunkt. Bemerkenswert ist auch der Gedanke Epikurs, in einem logisch zwingenden Schluss darzulegen, dass der Tod den Menschen nichts angeht; denn solange wir sind, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, sind wir nicht da. So bestechend die Überlegung ist, sie hat die Menschen nicht wirklich überzeugt, denn sie spricht zwar über den Tod, nicht aber über die Sterblichkeit. Nun ist die Sterblichkeit kein spezifisches Charakteristikum des Menschen, sondern es betrifft alle Lebewesen, und deshalb scheint es auch für eine Definition des Men-
I. Die Sterblichen – Griechische Mythologie
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schen untauglich zu sein. Der Grund, weshalb der Begriff ‚Die Sterblichen‘ gleichwohl geeignet ist, den Menschen in einem spezifischen Sinne zu kennzeichnen, liegt in einer unausgesprochenen Implikation. Sie besteht in einem im Begriff zum Ausdruck kommenden Wissen: Die sterblichen Wesen, die sich selbst so bezeichnen, wissen um ihre Sterblichkeit, und von diesem Wissen können sie nicht absehen, solange sie leben. Aus diesem Wissen beziehen die ‚Unsterblichkeitsbeweise‘ ihre eigentliche Dringlichkeit. Und solange es sie gab, schien der Begriff ‚Die Sterblichen‘ nicht das entscheidende, letzte Wort über den Menschen auszusagen. Erst nachdem Kant philosophischen Beweisen der Unsterblichkeit der Seele ein weitgehend akzeptiertes Ende setzte, indem er Aussagen über sie in einen Bereich jenseits der Vernunft verwies, nämlich in den des Glaubens und der Hoffnung, waren die Voraussetzungen erfüllt, die Kennzeichnung ‚Die Sterblichen‘ zu rehabilitieren. Und so ist es vielleicht kein Zufall, dass der späte Heidegger in Anknüpfung an die griechische Mythologie die Menschen wieder so benennt: Die Sterblichen.
1. Die Sterblichen und die Unsterblichen (Homer) „Wie der Blätter Geschlecht, so ist auch das der Männer. / Die Blätter – da schüttet diese der Wind zu Boden, und andere treibt / Der knospende Wald hervor, und es kommt die Zeit des Frühlings. / So auch der Männer Geschlecht: dies sproßt hervor, das andere schwindet“ (Homer: Ilias 6, 146–149). „Nichts Armseligeres nährt die Erde als den Menschen unter allem, was auf der Erde Atem hat und kriecht. Da meint er, niemals werde ihm hernach ein Übel widerfahren, solange die Götter Gedeihen geben und sich seine Knie regen. Jedoch wenn die seligen Götter auch Bitteres vollenden, so trägt er auch dieses wieder nur murrend mit bedrücktem Mute“ (Homer: Odyssee 18, 130ff.). „(...) dieses ist die Weise der Sterblichen, wenn einer gestorben ist. Denn nicht mehr halten dann die Sehnen das Fleisch zusammen und die Knochen, sondern diese bezwingt die starke Kraft des brennenden Feuers, sobald einmal der Lebensmut die weißen Knochen verlassen hat, die Seele aber fliegt umher, davongeflogen wie ein Traum“ (Homer: Odyssee 11, 196–224).
Homer lebte im 8. Jh. v. Chr. im ionischen Kleinasien. Über seinen genauen Geburtsort gibt es nur Vermutungen. Unter seinem Namen werden die beiden Versepen Ilias und Odyssee tradiert. Die Ilias, die die zehnjährige Belagerung und Eroberung Trojas behandelt, ist das älteste erhaltene Großepos der europäischen Literatur. Die später entstandene Odyssee berichtet von der zehnjährigen Irrfahrt und der Heimkehr des Odysseus, die durch göttliches Einwirken immer wieder verzögert wird. Die Frage nach dem Autor wird inzwischen durch die Annahme beantwortet, dass zum einen der schriftlichen Fassung der Epen eine möglicherweise jahrhundertelange mündliche Tradition vorausging und dass nur die Ilias, in der uns bekannten Form, Homer zuzuschreiben ist. Gleichwohl enthalten beide Epen eine in den Grundzügen übereinstimmende Anthropologie,
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I. Die Sterblichen – Griechische Mythologie
die jedoch in der Odyssee eine Anreicherung durch sich differenzierende psychologische Einsichten erfährt. In der Ilias thematisiert Homer nicht nur den Krieg um Troja, sondern erläutert in einem umfassenden Sinne seine Deutung der Welt. Gegensätze, Kampf, Krieg und Streit bilden ihre grundlegende Struktur. Die Welt ist zu verstehen als ein Ensemble von Auseinandersetzungen und Gegensätzen (vgl. Schadewaldt, 1978, 64). Solche Gegensatzpaare sind: Erde – Meer, Tag – Nacht, Alter – Jugend, Götter – Menschen, Worte – Taten, Hochzeit – Streit u.ä. Wollte man Homers poetische Ontologie auf eine Formel bringen, so ließe sich sagen: Die Welt existiert als Streit. Das von ihm betonte agonale Prinzip, das die griechische Lebensauffassung überhaupt spiegelt, ist eingesenkt in das Wesen der Dinge und der Menschen (vgl. Jens, 1978, 17). Gleichwohl spielen sich alle Auseinandersetzungen in einem in sich geschlossenen, symmetrischen und harmonischen Weltbau ab. Homers Weltmodell – das Wort Kosmos zur Bezeichnung der Welt taucht bei ihm noch nicht auf – findet sich in einer Schildbeschreibung (Homer, Ilias 18, 478–608). Die Darstellung der Welt auf einem Schild macht bereits einen Grundzug des homerischen und des griechischen Denkens deutlich: den Entwurf von Modellen. Der beschriebene Schild gibt das anschauliche Modell der sichtbaren Welt. Es ist dadurch ausgezeichnet, dass Erde und Meer sich auf einer kreisrunden Scheibe befinden, die an ihrem äußersten Ende von dem Okeanos begrenzt wird und über die sich der Himmel als Kuppel wölbt. An ihr sind die Sterne befestigt. Die Erde wird belebt von Pflanzen, Tieren und Menschen. Die sie bestimmenden Gegensätze sind: Stadt – Land, Hochzeit – Streit, Angriff – Flucht, Arbeit – Genuss u. a. Der sichtbare Teil der Welt ist zu ergänzen durch eine unter der Erde gelegene Halbkugel, die sich zu der des Himmels symmetrisch verhält. Sie repräsentiert den Hades. Die Erdscheibe halbiert so die insgesamt geschlossene Weltkugel. Von Bedeutung ist, dass Homer den Okeanos nicht nur als den Ursprung der Götter (Ilias 14, 201), sondern als Ursprung von allem bezeichnet (ebd. 14, 246). Die Rede vom Okeanos macht deutlich, dass Homers Weltmodell, so sehr es als ein physikalisches vorstellbar ist, mythischen Ursprungs ist. Es ist ambivalent, da es eine sachliche Seite enthält, die der unmittelbaren Anschauung entspricht, und eine im Mythos verwurzelte. Der Okeanos ist der alles umschließende Weltstrom und zugleich der göttliche Ursprung von allem. Homers Götterwelt bildet nicht den Anfang in der Geschichte der Mythologie, sondern stellt bereits eine Neuerung dar. Sie grenzt sich gegen eine ältere ab, die in seinen Epen, aber auch bei Hesiod und in der Tragödie, stellenweise durchschimmert. Ziel der von Homer eingeführten olympischen Götterwelt ist es, den alten Mythos zu überwinden (Otto, 1987, 21ff.). Während es sich bei den homerischen Göttern des Olymps um personale und betont männliche Gestalten handelt, was auch für die Göttinnen gilt, sind die Götter der mythischen Vorzeit, die genauer vielleicht als göttliche Mächte zu bezeichnen wären, weiblich. Dazu gehören Erde, Zeugung, Blut und Tod, aber auch der Himmelsäther, die Winde, die Flüsse und die Meereswogen. Zu erwähnen sind die Erynien, die ‚Zürnenden‘, die Eumeniden, die ‚Töchter der Nacht‘, und die Moiren, die ihre Schwestern sind. Als Mächte des Schicksals verfügen sie über Geburt, Hochzeit und Tod. Die Moira, das Schicksal, hat Homer in seinen Mythos übernommen; es steht noch über der olympischen Götterwelt. Gegen das Schicksal zu kämpfen ist weder den Men-
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schen noch den Göttern möglich, und wenn es versucht wird, ist die Übertretung von kurzer Dauer und die Strafe folgt unvermeidlich. Ebenso ist der Tod als eine der alten mythischen Mächte weder für Menschen noch für Götter zu besiegen, auch wenn diese selbst unsterblich sind. Der Erde kommt eine besondere Bedeutung zu. Sie ist vor allem die Lebenspendende. Sie gibt dem Menschen die Nahrung und erhält ihn. Den Göttern sind bei Homer bestimmte Wirklichkeitsbereiche zugeordnet, gleichzeitig aber repräsentieren sie diese Bereiche auch als Person. So ist Ares der Gott des Krieges und der Krieg selbst, Poseidon der Gott des Meeres und das Meer selbst, Aphrodite die Göttin der Liebe und die Liebe selbst u.a.m. Das führt zu der paradoxen Situation, dass Ares sich in einen Kampf mit einem Menschen einlässt und dabei verwundet wird (Fränkel, 1976, 82), während Athene dem Kontrahenten des Ares zu Hilfe kommt. Deshalb muss zwischen dem Gott, der einen Wirklichkeitsbereich repräsentiert, und der Wirklichkeit selbst unterschieden werden. Die dadurch entstehende Ambivalenz entwickelt sich zu dem Unterschied von Person und Sache; sie ist für die Entwicklung des griechischen Denkens von entscheidender Bedeutung. Indem sich die Götter bei Homer aus der unmittelbaren Einheit der alten mythischen Mächte mit den ihnen zugehörigen Wirklichkeitsbereichen lösen und unter Verwendung anthropomorpher Züge personale Qualitäten annehmen, wird die Wirklichkeit selbst der sachlichen Betrachtung zugänglich. Aus ihr entwickeln sich Wissenschaft und Forschung. Das Verhältnis der Menschen zu den Göttern hat daher zugleich immer auch eine personale Qualität. Die Beziehungen zwischen den Menschen sind ebenso wenig ohne Spannung wie die zu den Göttern. Die Götter begleiten das menschliche Leben, planen die große Linie, teilen ihm sein Schicksal zu und intervenieren gelegentlich bei einzelnen Handlungen. Ein Beispiel hierfür findet sich gleich zu Beginn der Ilias. Dort ist von dem Zorn Achills die Rede, der wegen einer ihm von Agamemnon zugefügten Schmach erwägt: „Ob er, das scharfe Schwert gezogen von dem Schenkel, / Die Männer aufjagte und den Atreus-Sohn erschlage, / Oder Einhalt täte dem Zorn und zurückhalte den Mut“ (ebd. 1, 190). Doch noch während er überlegt, dann aber das Schwert zieht, erscheint die Göttin Athene. Sie ergreift seine „blonde Mähne“ und ermahnt ihn mit folgenden Worten: „Gekommen bin ich, Einhalt zu tun deinem Ungestüm, wenn du mir folgtest“ (ebd. 1, 207). Die Situation ist höchst aufschlussreich. Die Göttin ermahnt Achill, aber sie greift nicht in einem physischen Sinne in das Geschehen ein. Es bleibt seine freie Entscheidung, ihr zu folgen oder sich zu widersetzen; und so beschließt Achill aus eigener Einsicht, der Göttin zu folgen; „denn so ist es besser“. Seine Begründung lautet: „Wer den Göttern gehorcht, sehr hören sie auch auf diesen.“ (ebd. 1, 218). Die Menschen sind bei Homer keine Marionetten in den Händen der Götter. Im günstigsten Fall also entsprechen sich göttliches und menschliches Handeln. So heißt es im 11. Buch der Ilias: „Dorthin trat und schrie die Göttin groß und schrecklich / Hell auf und warf den Achaiern große Kraft einem jeden / In das Herz unablässig zu streiten und zu kämpfen. (...) / Der Atreus-Sohn aber rief und befahl, sich zu gürten (...)“ (ebd. 11, 10 ff.).
Es ist Eris, die Göttin des Streites, die zum Kampf ruft und nach ihr, ihr entsprechend, Agamemnon, des Atreus-Sohn. Auf diese Weise macht er sich die Intention der Göttin zu eigen.
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Mit dem hier angesprochenen Herzen ist ein Bereich des Menschen genannt, der für Planung und Durchführung einer Handlung von zentraler Bedeutung ist. Homer entwickelt eine ganz eigene Anatomie. Der Mensch stellt eine gegliederte Einheit von Fleisch, Sehnen und Knochen dar. Das, was seine Glieder zusammenhält und in Bewegung versetzt, ist sein Leben, seine Lebenskraft. Der Tod wird daher bei Homer auch als der ‚Gliederlösende‘ bezeichnet. In einem Zweikampf tötet Agamemnon seinen Feind so: Er „schlug ihm das Schwert in den Hals und löste die Glieder. So fiel dieser dort und schlief den ehernen Schlaf, der Arme, / Fern der vermählten Gattin“ (ebd. 11, 240ff.). In der Ilias wird die Grausamkeit des Krieges deutlich beschrieben. Nicht selten wird das Töten mit schmähenden Worten begleitet. So spricht Odysseus zu seinem Feind: „Ah, Elender! Wahrhaftig, jetzt trifft dich das jähe Verderben! / (...) Dir aber sage ich, wird hier der Tod und die schwarze Todesgöttin / Kommen an diesem Tag, und unter meinem Speer bezwungen / Gibst du mir Ruhm, die Seele aber dem rosseberühmten Hades!“ (ebd. 11, 441ff.).
Im Tod verlässt ein verkleinertes Abbild (eidolon) des Menschen den Sterbenden aus dem Mund oder aus der tödlichen Wunde. Dieses Abbild ist seine ‚psyche‘ (Rohde, o. J., 17). Sie fliegt in den Hades und führt dort ein trostloses Schattendasein. Im 11. Gesang der Odyssee wird dieser Vorgang anschaulich beschrieben. Der Hades ist der Ort, „wo die Toten wohnen, die sinnberaubten, die Schatten der müdegewordenen Sterblichen“. Daher kann es in ihm auch keinen Trost geben. Aus diesem Grund entgegnet der verstorbene Achill Odysseus bei seiner Unterweltschau: „Suche mich nicht über den Tod zu trösten, strahlender Odysseus! Wollte ich doch lieber als Ackerknecht Lohndienste bei einem anderen, einem Manne ohne Landlos leisten, der nicht viel Lebensgut besitzt, als über alle die dahingeschwundenen Toten Herr sein!“ (Od. 11, 463ff.).
Der Mensch befindet sich in einem permanenten Kampf mit seinesgleichen und mit den Unsterblichen, die eine überlegene, unberechenbare Macht darstellen und deren unvorhersehbaren Eingriffen er sich fügen muss. Das Resümeé ist daher: Das Leben der Menschen ist elend. Es unterliegt dem allgemeinen Kreislauf der Natur. Die Menschen gleichen den Blättern des Waldes, die der Wind abreißt und die zu Boden fallen, während andere emporsprießen. Selbst im Vergleich zu den anderen Lebewesen ist er armseliger als alle anderen. Sein Vertrauen auf seine Kraft hat keine verlässliche Grundlage. Es wird durch das Eingreifen der Götter immer wieder erschüttert. Bemerkenswert ist jedoch, dass der Mensch in den Epen Homers nicht resigniert. Er akzeptiert das ihm von den Göttern zugeteilte Schicksal. Das schließt sogar die Hinnahme der Sterblichkeit ein. In einer einzigartigen Episode bietet die Göttin Kalypso Odysseus die Unsterblichkeit an, wenn er nur bei ihr bliebe und bereit wäre, auf seine Heimkehr zu verzichten. Doch Odysseus lehnt das Angebot ab, denn er sehnt sich nach der Liebe einer Sterblichen, seiner Frau Penelope, und daher begehrt er, nach Hause zu kommen, „und
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wollte mich auch einer der Götter abermals zerschmettern auf dem weinfarbenen Meere: dulden will ich es!“ (ebd. 5, 221ff.) Bedenkt man, welche intellektuelle Energie in der nachfolgenden Philosophie und Theologie aufgewendet worden ist, um dem Menschen, oder doch seiner Seele, oder zumindest einem Teil der Seele, die Unsterblichkeit zu sichern, so darf dieser Verzicht auf Unsterblichkeit als außerordentlich eingeschätzt werden. Die Unsterblichkeit der Seele ist für Homer schon deshalb kein erstrebenswertes Ziel, weil der Hades, der Ort der Seelen nach dem Tode, trostlos ist. Ein Wunsch nach Unsterblichkeit hätte nur dann einen Sinn, wenn dem Menschen wie den Göttern ein Leben in immerwährender Jugend geschenkt würde; doch gerade das ist ihm verwehrt. Bei Homer bereitet sich die spätere dualistische Anthropologie von ‚psyche‘ und ‚soma‘ vor; aber besondere Aspekte sind zu beachten. Die Begriffe entsprechen nicht dem späteren Leib-Seele-Schema. Denn ‚Soma‘ ist nicht der lebendige Leib, sondern der Leichnam, der, nachdem die ‚psyche‘ den Menschen verlassen hat, zurückbleibt. Der Begriff Leben entspricht am ehesten dem Wort ‚menos‘, das man mit Lebenskraft übersetzen kann. Der Einsicht in die Sterblichkeit entspricht die Ethik. Sie ist charakterisiert durch ein Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite ist sie bestimmt durch das durchgängige agonale Prinzip. Dass die Welt Auseinandersetzung und Streit ist, ist für den Menschen bei Homer ebenso selbstverständlich wie die Tatsache, dass er sich im Kampf zu bewähren hat. Dazu gehört auch das Streben nach Ruhm. Dieses wird in einer Gesellschaft, in der dem Adel die führende Rolle zukommt, höher eingeschätzt als das Leben selbst. Doch die Ruhmsucht birgt auch eine Gefahr. Es ist die der Hybris, d. h. der Selbstüberschätzung und der Überheblichkeit. Die Warnung vor Hybris ist daher das notwendige, immer wieder in Erinnerung zu rufende Korrektiv gegenüber der Ruhmsucht, die als Ausdruck des agonalen Prinzips zu verstehen ist. Der Appell, Maß zu halten, richtet sich an denjenigen, der seine Kräfte überschätzt und sich für unsterblich hält. Diesem Appell entspricht eine Ethik des Maßes. Das Prinzip des Maßes spielt auch beim Tode Hektors eine besondere Rolle. Nachdem Achill Hektor getötet hat, bindet er den Leichnam an seinen Wagen und schleift ihn in maßloser Wut immer wieder um das Grabmal seines getöteten Freundes Patroklos. Nach griechischem Verständnis ist es ein maßloser Frevel, den Gefallenen nicht seinen Angehörigen zur Bestattung zu übergeben. Die Übergabe geschieht dann aber doch, als der greise Priamos im Schutze der Götter Achill am Abend aufsucht und um Freigabe des Leichnams bittet. Indem Achill ihm diese Bitte gewährt, kehrt er zurück zu dem menschlichen Maß. In dieser Geste findet nicht nur der Krieg ein Ende, sondern das Epos seinen Abschluss. Für Homer ist der Streit unlösbar mit dem Leben der Menschen verbunden, aber er propagiert ihn nicht. Vielmehr äußert er in seinem Werk den Wunsch nach einem Ende allen Streits. In anderer Weise kommt die Ethik des Maßes in der Odyssee zum Ausdruck. Ein Beispiel hierfür ist die Heimkehr des Odysseus. Dieser erblickt voller Zorn die „unverschämten Freier“ in seinem Hause, die sein „Gut verprassen“ und seine Frau bedrängen. Er möchte aufspringen und sie sofort erschlagen. Doch kluge Überlegung hält ihn zurück bis zu dem dafür geeigneten Zeitpunkt, und so führt er mit sich folgenden inneren Monolog: „Halte aus, Herz! Einst hast du noch Hündischeres ausgehalten (. . .). So sprach er und schalt sein Herz in der Brust. Da verharrte
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ihm das Herz ganz im Gehorsam und hielt aus unablässig“ (ebd. 20, 15–24). In dieser Rede bahnt sich ein spezifisches Verhältnis des Menschen zu sich selbst an, ein Selbstverhältnis. Es bildet den Ausgangspunkt für die Ethik der Selbstbeherrschung. Die Wirkungsgeschichte der Epen Homers ist kaum übersehbar. Im klassischen Griechenland gehörten sie zum allgemein anerkannten Bildungskanon. Homerzitate finden sich in großer Zahl in Platons Werk. Der Raub der Helena, der Krieg vor Troja, die Suche von Telemachos nach seinem Vater, die Heimkehr des Odysseus bildeten Motive für die bildende Kunst und die Literatur. Das Werk von James Joyce Ulysses ist ein spätes Zeugnis dafür. Entscheidender ist aber etwas anderes. Im Werk Homers spricht sich ein Grundmotiv europäischen Denkens aus: Es ist das agonale Prinzip. Zu ihm gehören Kampf, Auseinandersetzung, Konkurrenz, wissenschaftlicher und technischer Fortschritt, aber auch Krieg und Leid. Das bedeutet: Weltgeschehen ist Streitgeschehen. Gegenüber dem agonalen Prinzip hat sich die in der Stoa vertretene Haltung des Gleichmuts ebenso wenig behaupten können wie christliche Meditation und Askese. Allerdings: Auch die Ethik des Maßes, die Homer als Gegengewicht zum agonalen Prinzip betonte, ist wenig erfolgreich gewesen.
2. Goldenes Zeitalter und Büchse der Pandora (Hesiod) „Früher nämlich lebten auf Erden die Stämme der Menschen Weit von den Übeln entfernt und ohne drückende Plage, Lästigen Krankheiten fern, die den Männern Tode bereiten. Jäh befällt ja die sterblichen Menschen im Elend das Alter. Aber die Frau entfernte den großen Deckel des Kruges, Leerte ihn aus und sann den Menschen schmerzliche Leiden. Einzig die Hoffnung verblieb im unzerbrechlichen Hause, Drinnen unter den Lippen des Kruges, und nicht aus der Öffnung Flog sie heraus; sie hatte zuvor den Deckel des Kruges Zugeworfen nach Willen des Zeus des Wolkensammlers. Sonst aber zahllose Leiden entschwirrten unter die Menschen. Voll ist nämlich von Übeln die Erde und voll das Wasser, Krankheiten gehen bei Tag und Krankheiten gehen bei Nacht um Unter den Menschen von selbst und bringen den Sterblichen Unheil, Lautlos, da ihnen Zeus der Berater die Stimme herausnahm. Also ist es unmöglich, dem Sinn des Zeus zu entrinnen“ (Hesiod, Werke und Tage, V. 90–104).
Hesiod, der zweite Epiker der griechischen Antike, lebte um 700 v. Chr. Er wurde in Askra (Boiotien) geboren, wohin sein Vater, der aus dem aiolischen Kyme stammte, ausgewandert war. Er ist im Unterschied zu Homer als historische Person greifbar. Seine Berufung zum Dichter schildert er in einem Musenanruf. Er bedeutet Nachweis der Legitimation seines dichterischen Auftretens und Garantie für den Wahrheitsgehalt seiner Dichtung: „Diese (d. h. die Musen, WP) nun lehrten einst den Hesiod schönen Gesang, / als er Schafe weidete unter dem gotterfüllten Helikon. / Dieses Wort aber sprachen die Göttin-
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nen zuerst zu mir, / die olympischen Musen, die Töchter des ägishaltenden Zeus: / ‚Ihr Hirten draußen, üble Burschen, nichts als Bäuche, / wir wissen viel Falsches zu sagen, dem Wirklichen Ähnliches, / wir wissen aber auch, wenn wir wollen, Wahres zu verkünden.‘ / So sprachen die Töchter des großen Zeus, die rechtredenden. / Und sie gaben mir einen Stab, einen Zweig vom blütenreichen Lorbeer / Schneidend, einen ansehnlichen. Und sie hauchten mir eine weissagende / Stimme ein, damit ich rühme, was sein wird und was vorher war, / und sie forderten mich auf, das Geschlecht der seligen (Götter) zu preisen, der ewig seienden, / sie selbst aber zuerst und zuletzt stets zu besingen“ (Hesiod, 1985, V. 22–34).
Betont wird nicht nur der Kontrast zwischen seiner einfachen Herkunft und seiner hohen Berufung, sondern auch die weissagende und daher göttliche Qualität seiner dichterischen Botschaft. Als Rhapsode hat Hesiod auf Euböa bei Leichenspielen einen Dreifuß als Preis erhalten. Seine beiden Hauptwerke sind die Theogonie mit 1022 Versen und Werke und Tage mit 828 Versen. Hesiods Sprache ist bedächtig, gelegentlich sogar schwerfällig. Gleichwohl wurde er im Altertum sehr geschätzt und in der Regel mit Homer in einem Atemzug genannt. Seine Dichtung zeigt Einflüsse des Vorderen Orients, so z. B. die Sukzessionsmythen, die bis ins 2. Jahrtausend v. Chr. zurückreichen. In der Theogonie beschreibt Hesiod die Entstehung der Welt und der Götter. Beide bilden eine Einheit: Theogonie ist zugleich Kosmogonie. Mit der Frage nach dem Anfang der Welt wird nicht nur ein Mythos entworfen, sondern Perspektiven philosophischer Spekulation eröffnet (vgl. Gigon, 1968). Hesiod beschreibt diesen Anfang so: „Zuallererst wahrlich entstand das Chaos, aber dann / die breitbrüstige Gaia, der niemals wankende Sitz von allen / Unsterblichen, die das Haupt des schneebedeckten Olymp bewohnen, / und der dämmerige Tartaros im Innern der breitstraßigen Erde / und der Eros, der schönste unter den unsterblichen Göttern, / der gliederlösende. Von allen Göttern und von allen Menschen / bezwingt er in der Brust den Sinn und den klugen Ratschluß. / (...) Gaia aber erzeugte als erstes, ihr selbst gleich, / den sternreichen Uranos, damit er sie ganz umhülle (und) / damit er den seligen Göttern für immer der nicht wankende Sitz sei“ (Hesiod, 1985, V. 116–128).
Das Chaos ist keineswegs eine bloße Unordnung, auch nicht das Nichts, sondern, der Etymologie des Wortes entsprechend, ein ‚gähnender Schlund‘. Auch das Chaos ist entstanden wie alle Götter; aber nachdem sie entstanden sind, sind sie unsterblich. Bemerkenswert ist, dass Gaia (die Erde) nicht aus dem Chaos entstand, sondern nach ihm, d. h. gleichursprünglich. Die Götter repräsentieren, wie bei Homer, Wirklichkeitsbereiche der Welt. Das Entstehen wird in biologischen Kategorien als Erzeugen und Gebären gedacht. Die Welt zu verstehen, heißt zu erkennen, wie sie geworden ist. Das Wesen einer Sache besteht in ihrem Ursprung. Ebenso kennt man einen Menschen erst dann, wenn man seine Eltern kennt. Hesiod entwickelt eine poetische Ontologie, die den Charakter einer Genealogie hat. Die Entstehung der Götter und der Welt stellen eine Vorgeschichte zu aller menschlichen Geschichte dar. Es handelt sich um ein mythisches Apriori. Während Homer den Okeanos als den Ursprung von allem bezeichnet, ist es bei Hesiod das Chaos. Hesiods Götter sind mythische Mächte. Sie haben vielfach
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einen Status, der zwischen Person und Sache liegt. So ist die Erde keine bloße Sache, aber sie hat auch keine personale Qualität. Gleichwohl zeigt sich in seiner Mythologie ein matriarchalisches Denken: Es ist Gaia (die Erde), die Uranos (den Himmel) hervorbringt. Hesiod bewegt sich damit mythengeschichtlich in einer, gegenüber Homer, älteren Epoche. Hesiods Anthropologie entfaltet sich am Leitfaden von Mythen, die er aneinanderreiht und in einem lockeren gedanklichen Zusammenhang zu einem Ganzen verbindet. Es sind vornehmlich vier Mythen. Sie berichten davon, wie es dazu kam, dass die Menschen den Göttern Opfer darbringen, ferner, wie sie in den Besitz des Feuers kamen und schließlich in zwei weiteren, wie die gegenwärtige elende Situation des Menschen entstanden ist. Ausgangspunkt dieser Geschichten ist die Aufhebung der ursprünglichen Gemeinschaft der Menschen mit den Göttern. Hesiod formuliert diesen Vorgang so: „Als nämlich die Götter und die sterblichen Menschen sich trennten“ (Hesiod, 1985, V. 535). Mit der Trennung entsteht ein konfliktreiches Verhältnis zwischen Göttern und Menschen. Dieses hat ein Pendant in der Götterwelt selbst. Es ist der Konflikt zwischen Prometheus, dem Vertreter der ehemaligen, von Zeus gestürzten, Götterwelt und Zeus selbst, dem Repräsentanten der neuen olympischen Götter. Prometheus tritt als Freund und Anwalt der Menschen auf und versucht, ihre Stellung gegenüber Zeus zu behaupten. Der Konflikt zwischen Göttern und Menschen wird auf diese Weise von Hesiod eingekleidet in die konflikthafte Ablösung des älteren Mythos durch einen neuen. Das erste Beispiel ist der von Zeus zwar durchschaute, schließlich aber doch erfolgreiche Versuch von Prometheus, Zeus bei der Aufteilung eines Rindes zu täuschen. Der Zorn über den Betrug trifft jedoch zunächst nicht Prometheus, den Betrüger, sondern die Menschen. Um diesen Zorn zu besänftigen, bringen die Menschen den Göttern Opfergaben dar: „Von da an verbrennen die Geschlechter der Menschen auf der Erde den Unsterblichen weiße Knochen auf rauchenden Altären“ (ebd. V. 556f.). Die Opfergaben haben also nicht den Sinn, die Götter zu Wohltaten zu veranlassen, sondern sind als eine Bitte um Versöhnung zu verstehen. Die Strafe, die Zeus den Menschen zudachte, bestand darin, ihnen das Feuer vorzuenthalten. Auch hier ist es Prometheus, der den Menschen zu Hilfe kommt. Er stiehlt es, transportiert es versteckt in einem hölzernen Rohr und gibt es den Menschen. Auch in diesem Fall trifft die Strafe des Zeus die Menschen. Über sie berichtet Hesiod in zwei Versionen. Während in der Theogonie die Männer mit unverträglichen und faulen Ehefrauen bestraft werden, ist es in Werke und Tage eine einzige Frau, die allen Menschen Unheil bringt. Sie wird eigens für diesen Zweck von Hephaistos geschaffen: „Und dem Hephaistos befahl er, dem weitberühmten, daß schnellstens / Erde mit Wasser er mische und eingebe menschliche Stimme, / Stärke auch, angleiche dann unsterblicher Göttin Antlitz / Und die schöne Gestalt des reizenden Mädchens“ (Hesiod, 1966, V. 60ff.).
Der Name dieses Mädchens lautet Pandora (ebd. V. 81). Ihre Geschichte wird überliefert unter dem Titel ‚Die Büchse der Pandora‘, obwohl Hesiod von einem Krug spricht (vgl. Text). Bemerkenswert ist, dass Pandora, die ihrer Aufgabe nach als ein unsterbliches Wesen zu denken ist, nach dem Handwerkermodell, genauer nach dem eines Töpfers, aus Erde und Wasser hergestellt wird, während im Übrigen für die Beschreibung des
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Entstehens biologische Kategorien verwendet werden. Hesiods Frauenbild ist ambivalent. Es schwankt zwischen Ausdrücken der Misogynie und der Utopie eines harmonischen Zusammenlebens der Geschlechter. Die Erzählung enthält in aller Kürze alle Elemente einer Verfallsgeschichte. Erinnert wird an ein glanzvolles ‚Früher‘. Dieses hat seinen Platz in einer mythischen Vorgeschichte. Es ist ein Leben in der Gemeinschaft der Götter und daher ganz ohne Übel. Der Übergang zur realen Geschichte stellt einen Bruch dar, der nicht mit Jahreszahlen zu datieren ist. Im Gegensatz dazu ist der gegenwärtige Zustand voller Elend, bestimmt durch Krankheit, Leid und Tod. Er ist unerträglich und erklärungsbedürftig. Die Erklärung leistet der Mythos. Bemerkenswert ist der Hinweis auf die Hoffnung, die auf Anweisung von Zeus im Krug verbleibt. Sie ist hier nicht als eine trügerische Hoffnung zu verstehen, sondern als Ausdruck einer realen Aussicht auf Besserung. Gerade die aber ist den Menschen verwehrt. Die Lage des Menschen ist elend und zudem, so der Sinn der Erläuterung, völlig hoffnungslos. Dazu kommt: Krankheiten und alle Arten von Übel kommen schleichend und lautlos. Die zweite, sich unmittelbar daran anschließende, ausführlichere Verfallsgeschichte ist die vom ‚Goldenen Zeitalter‘. Auch diese beginnt mit der Schilderung der Gemeinschaft von Menschen und Göttern. Hesiod beginnt sie mit folgenden Worten: „Wie aus derselben Geburt geworden sind Götter und Menschen. / Golden war ja zuerst das Geschlecht der sprechenden Menschen / (. . .) Und sie lebten wie Götter und hatten das Herz ohne Kummer, / Ohne Plagen und Jammer. Sogar das klägliche Alter / Nahte nicht (. . .) / Freuten sich am üppigen Mahl und kannten kein Unheil. Wie vom Schlaf überwältigt, starben sie; alles Erwünschte / War ihnen eigen“ (ebd. V. 108–117).
Bemerkenswert ist, dass Hesiod nicht den Grund für das Ende des ‚goldenen Zeitalters‘ nennt. Übergangslos heißt es: „Wieder ein zweites Geschlecht, ein viel geringeres, schufen / Silbern die Götter dann später (. . .)“ (ebd. V. 127ff.). Für dieses gilt, dass das Leben der Menschen in ihm kurz war und „von Leiden erfüllt“. Die Menschen lebten „ohne Vernunft“ und ehrten die Götter nicht. Das dritte von Zeus erschaffene Geschlecht war aus „Erz“. Es betrieb „Ares’ grausige Werke“. Ihr Aussehen war „ungeschlacht“ und „klobig“. In fortwährendem Krieg bereiteten sie sich selbst ein Ende, und „von den eigenen Händen bezwungen, / Stiegen sie hinab in das dumpfe Haus des eisigen Hades“ (ebd. V. 153). Das vierte Geschlecht „war gerechter und besser“. Es ist das Zeitalter der Heroen, die den Krieg vor Troja führten. Einige von ihnen wurde eine besondere Ehre zuteil, denn „Zeus der Vater“, „ließ sie wohnen am Rande der Erde. / Und da wohnen sie nun und haben das Herz ohne Kummer / Auf den Seligeninseln, wo tief der Okeanos wirbelt“ (ebd. V. 168). Das fünfte Zeitalter, das eiserne, ist das, in dem Hesiod selbst leben muss. Er klagt: „wär zuvor ich gestorben, später geboren!“. Das Leben der Menschen ist völlig trostlos, denn „niemals am Tage / Ruhn sie von quälender Mühe und Jammer, und immer die Nächte / Reiben sie auf mit drückenden Sorgen, Geschenken der Götter“ (ebd. V. 176ff.). Es gilt das „Faustrecht“, die „Eidestreue“ wird nicht gewürdigt und der „frevelnde Tä-
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ter / Steht viel höher in Ehren“; „nur trauriges Elend / Bleibt den sterblichen Menschen, und nirgends ist Abwehr des Unheils“ (ebd. V. 200). Die Verfallsgeschichte wirft Fragen auf. So wird nicht deutlich, warum das goldene Zeitalter durch das silberne abgelöst wird. Anders als im biblischen Paradiesmythos (vgl. Kap. II, 1) geschieht es nicht durch die Schuld der Menschen. Dazu kommt, dass das Dekadenzschema nicht strikt eingehalten wird. So fällt das vierte Zeitalter heraus. In Erinnerung an die vorbildlichen Epen Homers bekommt es gar eine herausgehobene Stellung. Bemerkenswert ist auch der Gedanke, dass die Verfallsgeschichte mit dem fünften Zeitalter offensichtlich nur einen vorläufigen Endzustand beschreibt, denn sonst wäre der Wunsch, in einem späteren zu leben, unverständlich. Zwar deutet sich nicht der Gedanke eines Kreislaufs der Zeitalter an, aber Hesiod sieht gleichwohl einen Ausweg aus der gegenwärtigen elenden Situation. Es ist der Gedanke des Rechts, der die Ethik von Hesiod bestimmt, und der darüber hinaus eine gesellschaftliche Utopie enthält. Zu seiner Entwicklung konfrontiert er den gegenwärtigen rechtlosen Zustand mit dem zukünftigen, rechtlichen. Das in seinem Zeitalter geltende ‚Recht des Stärkeren‘ erläutert Hesiod in einer Fabel: Ein Habicht hält eine Nachtigall in ihren Krallen und verhöhnt die „Sängerin“: „Fressen tu ich dich, ganz wie ich Lust hab, oder ich laß dich“. Nur ein „Narr“ versuche es, sich einem Stärkeren zu widersetzen. Hesiod wählt die Tierfabel nicht zufällig. In einer direkten Anrede an seinen Bruder Perses, mit dem er einen Rechtsstreit führt, hält Hesiod ein eindrucksvolles Plädoyer für das Prinzip des Rechts: „Höre du jetzt auf das Recht und schlag die Gewalt aus dem Sinn dir! / Denn ein solches Gesetz erteilt den Menschen Kronion: / Fische zwar sollten und wildes Getier und gefiederte Vögel / Fressen einer den andern, weil unter ihnen keinen Recht ist. / Aber den Menschen gab er das Recht bei weitem als bestes / Gut“ (ebd. V. 274ff.).
Das Recht ist die Alternative zur Gewalt. Bedeutsamer ist aber der Gedanke, dass das Recht im Vergleich zu den Tieren ein spezifisch anthropologisches Kriterium ist. Hier wird – vielleicht zum ersten Mal – neben dem dominanten Vergleich des Menschen mit den Göttern, der Tier-Mensch-Vergleich eingeführt, um den Menschen zu definieren. Während in späteren Verwendungen dieses Vergleichs der Mensch gegenüber dem Tier Mängel aufweist (vgl. Kap. V), verfügt er hier ihm gegenüber im wörtlichen Sinne über ein Vorrecht. Das Recht ist ein Privileg. Es ist auch ein Beispiel dafür, dass der Mensch von den Göttern nicht nur „üble Geschenke“ erhält. Die Beachtung des Rechts ist nicht nur eine Pflicht gegenüber dem Gott Zeus und der Göttin des Rechts, Dike, sie garantiert auch Wohlstand und Glück. Die ‚Verletzung des Rechts‘, die selbst eine mythologische Redeweise darstellt, erläutert Hesiod in einem eindrucksvollen Bild und kontrastiert es mit der Schilderung der positiven Folgen der Einhaltung des Rechts: „Dike jedoch geht weinend durch Städte und Länder der Völker, / Schwebt in luftigem Kleid und bringt den Menschen Verderben, / Die sie jagten hinaus und nicht gerade verteilten. / Die aber jedem sein Recht, dem Fremden und den Heimischen, geben / (...) Denen gedeiht die Stadt, die Menschen blühen darinnen, / Friede liegt über dem Land
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und nährt die Jugend, und niemals / Drückenden Krieg verhängt über sie der Weitblick Kronions. / Auch kein Hunger verfolgt gerade richtende Männer, / Schaden bleibt ihnen fern, nur Glück erblüht ihren Werken“ (ebd. V. 221–230).
Der Gedanke des Rechts verbindet sich bei Hesiod in einer für die Antike einzigartigen Weise aber auch mit dem der Arbeit. Die Alternative zu einem gewaltsamen, d. h. unrechtmäßigen, Erwerb von Reichtum ist die Arbeit. Sein Plädoyer lautet so: „Arbeit macht ja die Männer so reich an Herden und Habe, / Auch macht die Arbeit sie viel lieber unsterblichen Göttern. / Wirst auch lieber den Sterblichen sein, sie hassen den Faulen. / Arbeit ist nimmermehr Schande, doch Scheu vor der Arbeit ist Schande“ (ebd. V. 307ff.).
Die Arbeit eröffnet die Perspektive auf einen friedlichen Wettstreit. Hesiod unterscheidet zwei Arten des Streits, die gute und die schlechte ‚eris‘. Die gute besteht, in einem ganz wörtlichen Sinne, in der Konkurrenz. Hesiod bemerkt: „Jeden ergreift die Lust zur Arbeit, wenn er des andern / Reichtum sieht, schon eilt er zu pflügen, zu pflanzen / Und das Haus zu bestellen. Der Nachbar läuft mit dem Nachbarn / Um die Wette nach Wohlstand; so nützt diese Eris den Menschen“ (ebd. V. 21–24).
Die bösartige ‚eris‘ dagegen sucht „Hader und Händel“ und schreckt auch vor Raub nicht zurück. Das Fazit ist: Die gegenwärtige Situation des Menschen ist elend. Sie kann aber von ihm selbst durch Arbeit und Beachtung des Rechts entscheidend verbessert werden. Die Wirkungsgeschichte von Hesiod reicht weit. Die Mythen vom ‚goldenen Zeitalter‘ und der ‚Büchse der Pandora‘ sind Allgemeingut geworden. Der Gedanke des Rechts wird von Solon weiter verfolgt. Das Dekadenzschema der Zeitalter findet in Platons Hierarchie der fünf Regierungsformen eine interessante Entsprechung. Das Konzept der Verfallsgeschichte ist ein in vielen Variationen sich durchziehender Typus der Geschichtsbetrachtung. Sie wird von Heidegger, im Rückgriff auf die griechische Antike, in neuer Weise entwickelt (vgl. Kap. VI, 3).
3. Tragische Anthropologie (Sophokles) „Viel des Unheimlichen ist, doch nichts Ist unheimlicher als der Mensch. Das jagt über das graue Meer Vor dem winterlichen Föhn Dahin unter stürzender Wogen Gewölbe sicher ans Ziel. Der Göttinnen heiligste, die Erde, Die ewig quellende, die nie müde, Quält er mit kreisendem Pfluge, jahrein jahraus Wenden auf ihr die Gespanne.
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(...) Sprache, der Gedanken Luftigen Hauch, und zu gesetzlicher Siedlung sanftwilligen Geist Bracht’ er sich bei, Und der Witterung Ungemach, Der klaren Kälten und des Regens Pfeile zu meiden, Der Nimmer-Verlegene: verlegen Geht er an kein Künftiges – vorm Tod allein Weiß er sich kein Entrinnen; Aus Siechtum letzter Not doch Sann er sich Wege.“ (Sophokles, Antigone, V. 332–341; 352–363).
Die Entstehung der Tragödie und mit ihr die des Dramas ist eine einzigartige griechische Erfindung. Die Tragödie hat ihren Ursprung in einem Fest zu Ehren des Gottes Dionysos, einem Gott der Vegetation, der Fruchtbarkeit und des Weines. Ihm zu Ehren traten im Frühjahr Chöre auf einem Platz auf, in dessen Mitte an einem Pfahl die Maske des Gottes befestigt war (Finley, 1976, 73). Im Laufe der Zeit trat ein Schauspieler hinzu, der mit dem Chorführer in einen Dialog trat (Schadewaldt, 1991, 47). Später wurde die Zahl der Schauspieler erhöht. Aus diesem Dialog entwickelte sich das Drama. Die auf diese Weise in Szene gesetzten Geschichten waren in der Regel dem Mythos entnommen und bildeten in Einzelfällen einen Sagenkreis, so die Orestie, die sich um die Heimkehr Agamemnons und seine Ermordung zentriert oder die, die das Schicksal des Labdakidenhauses (thebanischer Sagenkreis) thematisiert. Nach verlorengegangenen Anfängen der Tragödie bei Thespis haben wir mit Perser von Aischylos (525/4–456/5), die im Jahre 472 aufgeführt wurde, die älteste uns erhaltene Tragödie. Bemerkenswert ist, dass ihr Stoff nicht dem Mythos entstammt, sondern der unmittelbar erlebten Geschichte. Sie thematisiert den gescheiterten Versuch des Perserkönigs Xerxes, Griechenland zu erobern. Aischylos, der selbst an den Kämpfen bei Marathon und Salamis beteiligt war, verleiht ihr alle Momente einer Tragödie: Die Überheblichkeit (hybris) des Königs, seinen maßlosen Eroberungswillen, seine Verblendung (ate), seine Verfehlung im Handeln und die unausweichliche, von den Göttern herbeigeführte Strafe. Bemerkenswert ist, dass Aischylos, der sich selbst auf der Seite der Sieger befindet, in seiner Darstellung Triumph, Häme und Spott gegenüber dem Feind vermeidet. Die Niederlage der Perser ist für ihn vielmehr ein Beispiel für ein tragisches Geschehen, das so oder ähnlich jederzeit Menschen zustoßen kann. Die ethische Konsequenz des Stückes besteht in der Warnung vor Hybris. Sophokles (497/6–405), geboren im attischen Demos Kolonos, soll als Jüngling den Chor bei der Siegesfeier von Salamis angeführt haben. Sein Vater ließ ihn in Gymnastik, Musik und Tanz ausbilden. Sein Leben lang blieb er seiner Heimatstadt Athen eng verbunden. Im Seebund bekleidete er das Amt eines Bundesschatzmeisters (Hellenotamias) und in der athenischen Politik mindestens einmal das Amt des Strategen, zusammen mit Perikles. 468 errang er mit seiner ersten Tetralogie einen Sieg im tragischen Agon und entwickelte die Tragödie durch die Einführung eines dritten Schauspielers
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weiter. Sophokles war mit Herodot befreundet. Er verehrte Aischylos und zollte Euripides (485/4 oder 480–406), dem „tragischsten“ (Aristoteles) der Tragödiendichter, seine Anerkennung. Dessen Einflüsse auf sein Werk sind unverkennbar. Von Sophokles erhalten sind sieben Tragödien: Trachinierinnen, Aias, Antigone, Ödipus Tyrannos, Elektra, Philoktetes und Ödipus auf Kolonos. Im Zentrum der Tragödien von Sophokles steht nicht der Charakter einer Person und auch nicht die Frage der moralischen Schuld, nicht einmal die Handlung, obwohl sie eine wichtige Rolle spielt und sich das Wort Drama von dem Wort Handlung ableitet. Thema der Tragödie ist ein tragisches Geschehen, eine Geschichte, in der das, von den Göttern den Menschen zugeteilte, Schicksal ebenso eine Rolle spielt wie das Handeln und das Leiden der in das Geschehen verwickelten Personen. Für Sophokles hat das Schicksal eine ebenso große Bedeutung wie die Personen, die mit ihrem Handeln eine Antwort darauf geben. Die Schicksalsschläge sind nicht immer als eine Strafe für eine Verfehlung desjenigen anzusehen, der sie zu erleiden hat. Vielmehr greift Sophokles einen Gedanken auf, den bereits Solon entwickelte: Das Schicksal erfüllt sich auch noch in der zweiten und dritten Generation. Es trifft bisweilen ein ganzes Geschlecht. Für den Betroffenen bekommt es daher einen unberechenbaren und irrationalen Charakter. Allerdings macht das Schicksal den Menschen nicht zu einer Marionette in den Händen der Götter. Der Mensch trifft seine eigenen Entscheidungen, seine Handlungen bleiben autonom. Nicht selten vollendet er selbst seinen Untergang durch einen Selbstmord. Aristoteles hat in seiner Poetik der Tragödie einen bedeutsamen Abschnitt gewidmet. Er definiert sie so: „Die Tragödie ist die Nachahmung einer edlen und abgeschlossenen Handlung von einer bestimmten Größe in gewählter Rede, derart, (. . .) daß gehandelt und nicht berichtet wird und daß mit Hilfe von Mitleid (eleos) und Furcht (phobos) eine Reinigung (katharsis) von eben diesen Affekten bewerkstelligt wird (. . .). Nachahmung der Handlung ist nun der Mythos“ (Aristoteles, Poetik, 1449 b, 11ff.).
In den Handlungen zeigen sich die Charaktere der Personen. Dargestellt wird in der Tragödie, wie eine Person, die keineswegs besonders schlecht ist, sondern „dem Zuschauer ähnlich“, durch einen „großen Fehler“ ins Unglück stürzt. Bei dem tragischen Geschehen handelt es sich um ein Ereignis, das so oder ähnlich Menschen zustoßen kann. Es thematisiert die Situation des Menschen in einem allgemeinen Sinn. Aristoteles hält daher die tragische Dichtung, wie Dichtung überhaupt, im Unterschied zur Geschichtsschreibung, die stets nur von besonderen Ereignissen berichtet, für „philosophischer und bedeutender“. Nur dadurch, dass der Zuschauer das Geschehen auf der Bühne unmittelbar auch auf sich beziehen kann, entstehen Furcht und Mitleid bei ihm. Bei ihrer Erzeugung spielen drei Momente eine entscheidende Rolle. Es sind: Peripetie, Entdeckung und Pathos. Aristoteles erläutert sie am Beispiel der Ödipus-Tragödie von Sophokles. Die Peripetie ist der „Umschlag der Handlung in ihr Gegenteil“, d. h. der Umschlag von Glück in Unglück. Entdeckung ist der „Umschlag aus Unwissenheit in Erkenntnis“. In der Ödipus-Tragödie fällt beides zusammen. Die ‚Entdeckung‘, dass Ödipus unwissentlich eine Frau heiratete, die seine Mutter war, und dass er im
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I. Die Sterblichen – Griechische Mythologie
Streit einen Mann erschlug, der, wie sich später herausstellt, sein Vater war, bedeutet zugleich eine ‚Peripetie‘ der Handlung, d. h. die Herbeiführung der Katastrophe. An sie schließt sich das dritte Element an, das ‚Pathos‘. Aristoteles definiert es so. „Pathos ist eine zum Untergang führende oder qualvolle Handlung, wie etwa Tod auf der Bühne, Schmerzen, Verwundungen und dergleichen“ (ebd. 1452b, 9ff.). Ödipus zieht aus der Katastrophe selbst die Konsequenz; er blendet sich und leitet diese Tat mit folgenden Worten ein: „O Licht! Zum letzten Mal hätt ich dich jetzt gesehn, / Der ich zu Tage trat: entstammt, von wem / Ich nicht gesollt – mit wem ich nicht gesollt, / Zusammenlebe – und wen ich nicht gedurft, erschlug!“ (Sophokles, 1973, 57).
Den Schluss der Tragödie bildet der Epilog des Chores, der die Lehre aus dem tragischen Geschehen zu ziehen sucht. Er lautet: „Bürger in dem Lande Theben! Sehet, dieser Ödipus, / Der die berühmten Rätsel löste und ein Mann vor allen war, / Er, auf dessen Glück – wer von den Bürgern nicht mit Neid geblickt: / In welch große Woge schwerer Schickung er geriet! / Darum blicke man bei jedem, der da sterblich, auf den Tag, / Der zuletzt erscheint, und preise selig keinen, ehe er denn / Durchgedrungen bis zum Ziel des Lebens, nie von Leid berührt“ (ebd. 70).
Die Lehre, die der Zuschauer auf sich zu beziehen hätte, lautet: Bedenke, dass du sterblich bist und dass dich bis zu deinem Tode jederzeit Schicksalsschläge treffen können! Die Aussagen von Aristoteles zur Tragödie haben bis in die Gegenwart hinein ihre Bedeutung behalten. So schließt der Altphilologe Albin Lesky mit seiner Charakteristik direkt an ihn an. Nach ihm gehören drei Elemente zur Tragödie: Das erste ist die „Dignität des Falles“, d. h. dass es sich bei dem „tragischen Helden“ um einen Menschen handelt, dessen Sturz eine gewisse Fallhöhe zur Voraussetzung hat; das zweite ist die „Beziehungsmöglichkeit auf unsere eigene Welt“, d. h. die Vermittlung des Gefühls „Nostra res agitur“ und das dritte ist, dass der „Träger des tragischen Geschehens“ weiß, was mit ihm geschieht und nicht als ein „willenloses Opfer dumpf und stumpf zur Schlachtbank geführt wird“ (Lesky, 1984, 21ff.). Ähnlich äußert sich Vernant, ein französischer Forscher der antiken Religionen. Er sagt: „In der durch das Drama eröffneten Debatte wird die Stellung des Menschen selbst zum Problem, wird das Rätsel des menschlichen Daseins dem Publikum aufgegeben, ohne daß die immer wieder aufgenommene und nie abgeschlossene tragische Suche je eine definitive Antwort liefern und die Frage zum Verstummen bringen könnte“ (Vernant, 1987, 198). Im Folgenden soll die aus diesen Interpretationen sich ergebende tragische Anthropologie am Beispiel der Tragödie Antigone von Sophokles erläutert werden. Sie entstammt dem thebanischen Sagenkreis mit folgendem Inhalt: Laios, Sohn des Labdakos, erhielt von den Göttern das Verbot, Nachwuchs zu zeugen. Dem Verbot zum Trotz entstammte seiner Ehe mit Iokaste ihr Sohn Ödipus. Dessen Kinder waren Polyneikes, Eteokles, Antigone und Ismene. Das Schicksal von Laios, Ödipus und Iokaste ist Thema von König Ödipus, das von Antigone und Ismene Gegenstand der Antigone und das von Polyneikes und Eteokles behandelt die Tragödie von Aischylos Sieben gegen The-
3. Tragische Anthropologie (Sophokles)
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ben. Ihr Schicksal erfüllt sich als Geschlechterfluch. Er vollzieht sich als eine Folge von Katastrophen: Laios wird von seinem Sohn Ödipus erschlagen, Iokaste erhängt sich, Ödipus blendet sich, Polyneikes und Eteokles töten sich im Kampf um Theben gegenseitig und auch Antigone erhängt sich. Lediglich Ismene überlebt. Die Tragödie Antigone, deren Uraufführung in das Jahr 442 fällt, schließt thematisch an den Kampf um Theben an. Die Stadt hat sich gegenüber ihren Angreifern, unter ihnen Polyneikes, verteidigen können, Kreon, ihr König, feiert seinen Triumph. Eteokles, der zu den Verteidigern gehörte, wird ehrenvoll bestattet, sein Bruder Polyneikes dagegen soll auf ausdrücklichen Befehl Kreons unbeerdigt bleiben, „zum Fraße / Für Hund und Vogel“. Dieses grausame Verbot löst bei Antigone Entsetzen und Empörung aus. Sie ist nicht bereit, ihm zu folgen und versucht ihre Schwester Ismene davon zu überzeugen, gemeinsam die Bestattung vorzunehmen. Doch die lehnt ab. Zwar hält auch sie das Verbot für verwerflich, doch sei Auflehnung gegen den König nicht gestattet. So nimmt Antigone alleine eine symbolische Bestattung vor, indem sie den Leichnam des Bruders mit Staub bedeckt. Sie bleibt zunächst unentdeckt, beim zweiten Mal jedoch wird sie ergriffen und vor Kreon gebracht. In dem nun zwischen ihnen sich entwickelnden Streitgespräch vertritt Kreon zwei Argumente: Zum einen sein Verbot, zum zweiten aber das von Zeus zur Geltung gebrachte Prinzip des Rechts, das vorschreibt, den Verteidiger der ‚polis‘ zu ehren, nicht aber ihren Feind. Antigone hält dagegen. Sie weist ausdrücklich daraufhin, dass sie sich nicht auf „Zeus“, „noch Dike in der unteren Götter Rat“ (Sophokles, Antigone V. 451) berufe, sondern dass es ein älteres Recht gebe, das noch über das von Zeus hinausgehe. Es ist das „ungeschriebne, / Untilgbare der Götter“, und das verlangt die Bestattung der Toten. Antigone wird daraufhin von Kreon zum Tode verurteilt und mit ihr Ismene, die herbeigerufen, sich mit ihrer Schwester solidarisiert und ebenfalls die Schuld auf sich nimmt. Schließlich wird jedoch nur Antigone auf Lebenszeit in ein Verlies gesperrt, Ismene dagegen, nach Einspruch des Chores, entlassen. Ein zweites Streitgespräch entwickelt sich zwischen Haimon, dem Sohn Kreons und Verlobten Antigones. Sein Argument ist politischer Natur. Er hat vernommen, „wie sich die Stadt um dieses Mädchen härmt“ (ebd. V. 693). Die Bürger in der Stadt verurteilen Kreons Handeln. Doch der beruft sich auf sein Recht als Herrscher. Darauf erwidert Haimon: „Staat ist nicht, was eines einzigen ist“ und „Alleinherrschaft ist gut Ding über Wüsten“ (ebd. V. 737ff.). Erst als Teiresias, der Seher, Kreon großes Unheil ankündigt, lenkt dieser ein. Er lässt Polyneikes bestatten und eilt in das Verließ, um Antigone freizulassen. Doch ihm bietet sich ein grässliches Bild. Antigone hat sich erhängt, Haimon erstochen, und schließlich erfährt er, dass auch seine Frau Euridyke sich selbst tötete. Kreon bleibt als gebrochener Mann allein zurück. Nach der Interpretation von Aristoteles ist das Schicksal von Antigone deshalb tragisch, weil sie aufgrund einer „edlen Handlung“, hier der Bestattung ihres Bruders, ins Unglück stürzt. Deshalb trägt die Tragödie ihren Namen und nicht den Kreons. Die Tragödie thematisiert zwei Konflikte. Es ist zum einen der zwischen Antigone und Kreon ausgetragene. In ihm geht es um das von Antigone vertretene Recht der uralten matriarchalisch bestimmten Gottheiten, zu denen auch Hades gehört. Er erhebt einen Anspruch auf die Toten. Kreon dagegen beruft sich auf die neueren, olympischen Götter
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I. Die Sterblichen – Griechische Mythologie
unter der Führung von Zeus. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Sophokles eine Frau zur Vertreterin des alten matriarchalischen Rechts macht und zugleich zur Titelheldin, begleitet und schließlich unterstützt von ihrer Schwester Ismene. Der zweite Konflikt, der zwischen Kreon und seinem Sohn Haimon ausgetragen wird, thematisiert den Bereich der Politik. Hier steht das Konzept absoluter Alleinherrschaft, d. h. der Tyrannis, einem Verständnis von Politik gegenüber, nachdem diese eine gemeinsame Angelegenheit ihrer Bürger ist. Die Tragödie behandelt nicht, wie Hegel meinte (Hegel, 1970, 13, 287), den Konflikt zwischen dem Recht der Familie gegenüber dem des Staates, sondern das Recht der ‚polis‘ gegenüber der Willkür eines Tyrannen. Tragisch ist das Schicksal von Kreon, weil er im Zustand der Verblendung (ate) handelte und seinen Fehler zu spät erkannte. Die Antigone ist Beispiel einer tragischen Anthropologie. In dem berühmt gewordenen Chorlied am Ende des ersten Auftritts (vgl. Text) entwirft Sophokles Grundzüge seiner Anthropologie. Es ist der verfremdete Blick auf die Situation des Menschen. Er ist bestimmt durch eine Mischung aus Bewunderung und Beklemmung. Das zeigen schon die ersten Zeilen: „Viel des Unheimlichen ist, doch nichts / Ist unheimlicher als der Mensch.“ Der Mensch ist ‚deinos‘, d. h. unheimlich, furchtbar, schrecklich, seltsam, gewaltig, tüchtig, geschickt u.a.m. In zahlreichen Beispielen werden der Mut, der Erfindungsreichtum und die Klugheit des Menschen mit Staunen zur Kenntnis genommen. Es beginnt mit dem Hinweis auf die gefährliche Seefahrt und die mühselige Landwirtschaft. Vogel- und Fischfang schließen sich an, dazu die Zähmung wilder Tiere. Der Mensch erfindet die Sprache und schützt sich vor der Witterung. Politik und Recht garantieren ein gutes Zusammenleben. Selbst gegen Krankheiten findet er Auswege. Jedoch, und damit nennt Sophokles die alles entscheidende Einschränkung: „vorm Tod allein / Weiß er kein Entrinnen.“ Der Tod stellt all die bewunderungswürdigen menschlichen Errungenschaften wieder in Frage. Er stellt das unausweichliche Schicksal dar, das jeden ereilt. Sophokles bestätigt damit die anthropologische Grundaussage der griechischen Mythologie: Die Menschen, das sind die Sterblichen. Ein elegischer Ton gibt dem Gedicht im Ganzen eine dunkle Färbung. Zurück bleibt ein Gefühl der Trauer. Die Frage der Ethik entzündet sich am Verhältnis von Schicksal und Freiheit. Wäre das Leben der Menschen schicksalhaft determiniert, gäbe es keinen Anhaltspunkt für eine Ethik. Aber tatsächlich vereitelt das Schicksal nicht die eigene Entscheidung und das überlegte Handeln. Es provoziert dieses vielmehr. Mehr noch: Für Antigone geht ihr Handeln ihrem Schicksal voraus. Sie kennt die Konsequenzen der Übertretung des Verbots und nimmt die vorhersehbare Strafe in Kauf. Und selbst den Vollzug der Strafe lässt sie nicht über sich ergehen, sondern sie kommt ihm durch Selbstmord zuvor. In König Ödipus ist die Lage freilich verwickelter. Ödipus kennt die Weissagung, die ihm Vatermord und Inzest voraussagt, und versucht durch das Verlassen seiner vermeintlichen Eltern, dem zu entkommen, allerdings vergeblich. Entscheidend aber ist, er fügt sich nicht willenlos seinem Schicksal, sondern handelt so, wie es ihm bei Kenntnis seiner Situation sinnvoll erscheint. Unter der Voraussetzung eigener Entscheidungen und Handlungen ergibt sich allerdings die Frage der Schuld. Für das Verständnis dieses Begriffs ist es sinnvoll, auf die griechische Bedeutung des Wortes zu achten. Das griechische Wort ‚aitia‘ bedeutet: Ursache, Grund, Anlass, Schuld, Beschuldigung, Vorwurf, Anklage. In diesem breiten
3. Tragische Anthropologie (Sophokles)
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Bedeutungsspektrum kommt der ersten eine tragende Rolle zu. ‚Aitia‘ ist die Ursache für ein Ereignis. Bei einer Handlung ist es der Handelnde. Der Akzent liegt dabei auf der Objektivität der Tat (Hegel). Ödipus ist schuld am Tod seines Vaters, auch wenn er ihn, wie berichtet wird, in Notwehr erschlagen hat. Die besondere Schuld ergibt sich im Übrigen nicht daraus, dass er im Streit einen Mann erschlug, sondern daraus, dass es sein Vater war. Er ist schuld am Inzest mit seiner Mutter, weil er sie geheiratet hat, auch wenn er nicht wusste, dass die Frau, die er heiratete, seine Mutter war. Die Betonung der Objektivität der Tat ist das Kennzeichen archaischen Rechtsdenkens. Dies verändert sich erst im Zeitalter der Sophistik. Nun werden stärker Motive, Absichten und Wissen bei der Beurteilung von Schuld berücksichtigt. Die Tragödie dagegen lebt von dem Gedanken einer unwillentlich und unwissentlich entstandenen Schuld. Die Tragödie betont schließlich die Ethik des Maßes. Dieses Maß hat Kreon überschritten, als er sich über uraltes göttliches Recht hinwegsetzte und über das Recht seiner Mitbürger. Die Strafe für diese Missachtung ist nicht nur der Verlust seines Sohnes und seiner Ehefrau, sondern auch der Verstoß aus der ‚polis‘. Schwieriger zu beurteilen ist das Handeln von Antigone und Ismene. Obwohl Sophokles Antigone zur Titelheldin macht, bedeutet das nicht, dass er ihr Handeln billigt. Auch sie überschreitet ein Maß und endet tragisch. Eine Ethik des Maßes vertritt dagegen Ismene. Sie gehorcht dem Verbot aus Überzeugung, nicht aus Angst; denn im entscheidenden Moment ist sie bereit, mit Antigone in den Tod zu gehen. Die Wirkungsgeschichte der griechischen Tragödie umfasst einen wesentlichen Teil der Geschichte des europäischen Dramas. Dabei wurden in vielen Fällen die antiken Stoffe in die eigenen zeitgeschichtlichen Kontexte versetzt und neu inszeniert. Das reicht von Goethes Iphigenie bis hin zu Sartres Die Fliegen. Das bürgerliche Trauerspiel, das auf den mythologischen Hintergrund verzichtet, ist in der Zeit von 1750–1850 eine deutsche Variante der Tragödie. Innerhalb der Philosophiegeschichte könnte man versucht sein, in Schopenhauers Pessimismus eine Erneuerung des tragischen Denkens zu sehen. Doch der Schein trügt. Schopenhauers Philosophie ist eine Antwort auf Leibniz’ Optimismus (vgl. Kap. IX, 1), d. h. seiner These, wir lebten in der besten aller möglichen Welten. Doch die Tragödie beschreibt nicht den Zustand der Welt, sondern ein tragisches Geschehen. Auch geht es ihr nicht, wie bei Schopenhauer, um Vermeidung von Leid, sondern um die Einsicht, dass Handeln und Leiden sich gegenseitig bedingen und unvermeidbar sind. Anders ist das Denken von Nietzsche (vgl. Kap. IX, 3) zu beurteilen. Als Altphilologe hat er sich intensiv mit der Tragödie auseinandergesetzt und den Versuch unternommen, als Alternative zum Christentum und zur Philosophie seiner Zeit, eine tragische Anthropologie zu entwickeln. Allen ethischen Glücksversprechen misstrauisch gegenüber, sah er im Akzeptieren des Leidens die Bedingung für die Verwirklichung von Individualität.
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I. Die Sterblichen – Griechische Mythologie
Antike und biblische Mythologie
II.
Der Mensch, ein Geschöpf Gottes – Das kreationistische Konzept
Der biblische Schöpfungsmythos, wie er im ersten Buch Mose, der Genesis, dargestellt wird, ist Teil der Geschichte Jahwes mit seinem Volk. Sie nimmt ihren Ausgang in der Errettung des Volkes aus der Knechtschaft in Ägypten und dessen Auszug unter der Führung von Mose. Diese Errettung geht einher mit einem Bund, den Gott mit seinem Volk schließt und der als der Alte Bund seither das Selbstverständnis des Judentums bestimmt. Das Christentum hat daran angeknüpft und in dem durch Christus besiegelten Neuen Bund nicht eine Ablösung des Alten Bundes gesehen, sondern seine Erfüllung. Daher stellte es eine religionsgeschichtlich bedeutsame Herausforderung dar, als das Christentum sich anschickte, sich über die Grenzen Israels hinaus ins Römische Reich hinein auszubreiten. Es war eine Herausforderung nicht nur in Bezug auf die dort vertretenen Kulte und Glaubensrichtungen, sondern auch eine spezifisch intellektuelle. Sie bestand darin, sich mit den philosophischen Schulen der Zeit auseinanderzusetzen. Spuren davon sind bereits bei Paulus zu erkennen. Die entscheidende Auseinandersetzung erfolgte jedoch durch Augustinus. Die Aussagen des Alten und des Neuen Testaments mussten in ein Verhältnis zu der griechischrömischen Philosophie gesetzt werden. Augustinus formulierte für diese Auseinandersetzung das zentrale Thema: ‚fides et ratio‘ – Glaube und Vernunft. Seine Erörterung bildet einen erheblichen Teil der Geschichte des europäischen Denkens, das der Theologie ebenso wie das der Philosophie. Für Augustinus hat die geoffenbarte Wahrheit der Bibel einen absoluten Vorrang gegenüber der durch natürliche Vernunft gewonnenen Erkenntnis. So ist es für ihn unstrittig, dass die philosophische Grundannahme von der Selbständigkeit der Welt und der in ihr herrschenden Kreisläufe der Natur falsch ist. Die Welt ist eine Schöpfung Gottes und hat einen zeitlichen Anfang und ein zeitliches Ende. Erkenntnisse der natürlichen Vernunft können nur dann akzeptiert werden, wenn sie den Aussagen der Bibel nicht widersprechen. In dem Maße nun, in dem die mittelalterliche Philosophie selbst die theologisch bestimmten Glaubensvoraussetzungen übernahm, fand eine einzigartige Durchdringung von Philosophie und Theologie statt. Sie hatte von seiten der Philosophie ihr Zentrum
II. Der Mensch, ein Geschöpf Gottes – Das kreationistische Konzept
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in Gottesbeweisen, in denen freilich aus dem ‚Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs‘ der ‚Gott der Philosophen‘ (Pascal) wurde. Von theologischer Seite aber führte der bis in die Neuzeit nicht ernsthaft in Frage gestellte Wahrheitsanspruch dazu, die vertretene Glaubenswahrheit fundamentalistisch auszuweiten und sie an die Stelle unvoreingenommener wissenschaftlicher Forschung zu setzen. Ein Beispiel hierfür ist die Verfolgung derjenigen Wissenschaftler, die sich zu Beginn der Neuzeit aufgrund astronomischer Erkenntnisse für die Ersetzung des geozentrischen durch ein heliozentrisches Weltbild einsetzten, wie z. B. Galilei. Ein weiteres ist der im Namen des Kreationismus geführte Kampf gegen Darwin und die Evolutionstheorie. Es zeigen sich drei Möglichkeiten des Verhältnisses von Vernunft und Glaube: a) Der Glaube bildet die unhintergehbare Grundlage von Aussagen der Vernunft (Augustinus) und b) die Aussagen der Vernunft bilden den Anfang. Sie werden durch Glaubenswahrheiten überhöht und vollendet (Thomas von Aquin). Die dritte, hier nicht mehr dargestellte Möglichkeit, sei erwähnt: Vernunft und Glaube sind durch eine Kluft getrennt, die nur durch einen Sprung überwunden werden kann (Kierkegaard).
1. Die Erschaffung der Welt und des Menschen (Genesis 1–3) „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan (. . .) Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag.“ (1. Mos. 1 V. 26ff; V. 31). „Und Gott der HErr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele. Und Gott der HErr pflanzte einen Garten in Eden gegen Morgen und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte (. . .) Und Gott der HErr gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben. Und Gott der HErr sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei.“ (1. Mos. 2 V. 7f. ; V. 16ff.).
Der biblische Schöpfungsmythos hat eine klare Botschaft: Der Gott, der das Volk Israel errettet hat, es bewahrt und leitet, ist der eine und einzige Gott, der auch die Menschen und die Welt geschaffen hat. Er stellt die mythische Vorgeschichte nicht nur
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II. Der Mensch, ein Geschöpf Gottes – Das kreationistische Konzept
seines Volkes dar, sondern der Welt insgesamt und aller Menschen in ihr. Allerdings gibt es den Schöpfungsmythos in zwei Versionen. Sie stammen von zwei Verfassern. Der eine wird als der Jahwist (J) bezeichnet, der andere wird unter dem Titel Priesterschrift (P) zitiert. Daneben gibt es noch einen Redaktor (R), der die beiden Texte behutsam zu einem Ganzen zusammenfügte. Er hat großen Respekt vor den tradierten Texten und hütet sich, inhaltliche Differenzen zu löschen (vgl. Westermann, 1999, 4). Der Text von J ist der ältere. Er „dürfte um 900 vor Christus seine Form gefunden haben“ (Flasch, 2005, 27). Gleichwohl beginnt die Genesis, das 1. Buch Mose, mit der jüngeren Schrift P, deren Entstehung in das „sechste vorchristliche Jahrhundert gehört“ (ebd.). Diese berichtet von der Erschaffung der Welt und des Menschen in einem SechsTagewerk und seinem Abschluss am siebten Tag der Ruhe. J berichtet nur kurz von der Erschaffung der Welt, legt den Hauptakzent auf die Erschaffung Adams und Evas sowie der Vertreibung aus dem Paradies. Die Frage, warum der Redaktor den jüngeren Text vorangestellt hat, lässt sich nur mit einer Vermutung beantworten. Bei der von ihm vorgenommenen Anordnung ergibt sich ein Erzählbogen, der von der Erschaffung der Welt über die Erschaffung des Menschen bis zur Vertreibung aus dem Paradies und darüber hinaus führt. Dieser Bogen würde bei einer werkchronologischen Anordnung zerstört. Beide Texte enthalten eine grundlegende Gemeinsamkeit. Sie besteht in der Aussage: Mensch und Welt sind eine Schöpfung Gottes. Das ist die kreationistische Grundthese der Bibel. In der Interpretation der Situation des Menschen in der Welt weichen sie jedoch in ganz erheblicher Weise voneinander ab. Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich nur durch einen Vergleich deutlich machen. Der Text von P hat einen klaren Aufbau, der sich aus der Chronologie der sieben Tage ergibt und enthält eine eigene Strenge durch wiederholte formelhafte Wendungen. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Mit diesen Worten beginnt der erste Schöpfungstag. Neben der Erde werden das Wasser und die Finsternis genannt, der Gott sein Wort „Es werde Licht“ entgegensetzte. Zugleich schied er Licht und Finsternis und schuf damit Tag und Nacht. Der erste Schöpfungstag endet mit der formelhaften Wendung: „Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag“. Der zweite Schöpfungstag ist durch einen weiteren Akt der Scheidung bestimmt. Auch hier geschieht die Handlung durch ein Wort. Es ist die Scheidung des Wassers oberhalb einer Feste und unterhalb ihrer. Die Feste nannte er Himmel. Wieder folgt die Wendung: „Da ward aus Abend und Morgen der andere Tag“. Der dritte Tag ist bestimmt durch zwei Schöpfungsakte, die Scheidung von Erde und Meer und das Wachsen von Gräsern, Kräutern und Bäumen. Beide werden von Gott als „gut“ beurteilt. Es folgt der formelhafte Schlusssatz. Der vierte Tag enthält die Erschaffung der Gestirne, „ein großes Licht“, das den Tag, und ein „kleines“, das die Nacht regiert, dazu die Sterne. Auch dieses Werk wird als „gut“ beurteilt und formelhaft abgeschlossen. Am fünften Tag werden Fische und Vögel geschaffen. Ihnen wird gesagt: „Seid fruchtbar und mehret euch“, abgeschlossen durch die Formel. Der sechste Tag berichtet ebenfalls von zwei Schöpfungsakten: der Erschaffung der Tiere auf der Erde und der Erschaffung des Menschen (vgl. Text). Der Mensch erhält den Auftrag, über Fische und Vögel und alles Getier auf der Erde zu herrschen. Als Speise weist Gott ihnen „allerlei Kraut“ sowie die Früchte der Bäume zu, den Tieren als Nah-
1. Die Erschaffung der Welt und des Menschen (Genesis 1–3)
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rung „allerlei grünes Kraut“. An dieser Stelle folgen das Urteil, dass alles „sehr gut“ war, und der formelhafte Schluss. Im Zentrum des siebenten Tages steht die Aussage: „Und also vollendete Gott am siebenten Tag seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tag von allen seinen Werken, die er machte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn“ (Gn 2, 2f.). Der Text erläutert die Ordnung der Welt durch eine Chronologie von Schöpfungsakten. Mit einer bewunderungswürdigen Intuition ergeben sich hinsichtlich des Lebens Aspekte einer Evolutionstheorie, die heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen standhält. Zur Bezeichnung der Schöpfungsakte gebraucht der Autor zwei Wendungen. Die eine lautet: „Und Gott sprach“ und die andere: „Gott machte“. Man unterscheidet daher einen Wortbericht von einem Tatbericht. Bei dem Wortbericht ist an eine Schöpfung zu denken, die durch ein Ins-Dasein-Rufen zu verstehen ist, bei dem Machen an ein handwerkliches oder künstlerisches Tun. Von besonderer Bedeutung ist die Erschaffung des Menschen, die nicht nur der Reihe nach den Schluss bildet, sondern zweifellos als der Höhepunkt der Schöpfung gemeint ist. Die besondere Stellung des Menschen zeigt sich darin, dass er als Ebenbild Gottes bezeichnet wird. Das Bild weist eine Ähnlichkeit mit dem Original auf. Doch worin besteht diese? Es ist weder von körperlicher noch geistiger Ähnlichkeit die Rede. Der einzige im Text enthaltene Vergleichspunkt wird durch den Auftrag der Herrschaft gebildet. Ähnlichkeit entsteht durch Analogie. So, wie Gott über die ganze Welt herrscht, so soll der Mensch über alle Lebewesen herrschen und sich die Erde untertan machen. Beachtlich ist, dass bei der Erschaffung des Menschen Mann und Frau gleichursprünglich und damit gleichrangig genannt werden. Bemerkenswert ist auch, dass sowohl den Menschen als auch den Tieren nur pflanzliche Nahrung zugewiesen wird. Der siebente Tag weist auf die Sabbatruhe hin und gibt ihr ihre Legitimation. Die Schöpfungsgeschichte des Jahwisten ist in ihrem Aufbau komplexer. Sie weist Erzählelemente auf, die ursprünglich wahrscheinlich eigenständig waren, doch sind sie von J zu einer Einheit verbunden worden. Daher ist es sinnvoll, den vorliegenden Text zur Grundlage der Interpretation zu machen: Die Erzählung beginnt mit dem Zustand der Welt, als die Erde noch keine Pflanzen trug und nur ein Nebel die Erde befeuchtete. Es folgt die Erschaffung des Menschen aus einem Erdenkloß (vgl. Text) und die Erschaffung des Garten Edens. In ihn setzt Gott „den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“ (Gn 2, 9). Erwähnt werden vier Ströme, die z. T. Gold und Onyx enthalten, und die geographisch bekannten Euphrat und Tigris. Dann erhält der Mensch die Erlaubnis von den Bäumen des Gartens zu essen und das Verbot: „von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben“. Danach folgt Gottes Aussage: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei“. Eingeschoben wird die Erzählung, dass Gott dem Menschen Tiere zuführte und ihn aufforderte, ihnen Namen zu geben. Den Anschluss an die ursprüngliche Absicht bildet der Satz: „aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre“ (Gn 2, 20). So lässt Gott den Menschen in einen Tiefschlaf fallen, entnimmt ihm eine Rippe und formt aus ihr „ein Weib“. Der Mann spricht: „Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch“; ergänzt
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II. Der Mensch, ein Geschöpf Gottes – Das kreationistische Konzept
durch den Hinweis: „Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht“ (Gn 2, 25). Es folgt die Verführung der Frau durch die Schlange, die „listiger“ war als alle Tiere. Sie erinnert an Gottes Erlaubnis, von den Früchten der Bäume zu essen. Doch dem Hinweis der Frau auf das Verbot, vom Baum „mitten im Garten“ zu essen, widerspricht die Schlange, indem sie sagt: Ihr werdet nicht sterben, sondern „sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist“. Gereizt durch die „lieblich“ anzusehenden Früchte und die Verführung durch die Schlange, isst sie davon und gibt auch ihrem Mann zu essen. Daraufhin erkannten sie, dass sie nackt waren, und sie flochten sich Feigenblätter, um sich zu bedecken. Sie verstecken sich vor Gott, dessen „Stimme“ sie hören als „der im Garten ging, da der Tag kühl geworden war“ (Gn 3, 8). Adam, der mit den Worten angerufen wird: „Wo bist du?“, gibt als Grund seines Versteckens seine Scham über sein Nacktsein an und nennt als Grund für die Übertretung des Verbots das „Weib, das du mir zugesellt hast“. Das „Weib“ aber entschuldigt sich mit Hinweis auf die Schlange. Es folgt die Bestrafung durch Gott: Die Schlange sei „verflucht“, sie soll auf dem Bauch kriechen und Erde essen. Feindschaft soll zwischen ihr und dem Weibe herrschen. Das Weib soll ihr den Kopf zertreten und sie soll sie in die Ferse stechen. An die Frau ergeht das Urteil: „du sollst mit Schmerzen Kinder gebären; und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein; und er soll dein Herr sein“. Und zu Adam: „verflucht sei der Acker um deinetwillen; mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen (. . .) Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist (Gn 3, 17ff.)“. Erst im Schlussteil nennt Adam seine Frau Eva, „Mutter. . .aller Lebendigen“. Gott fertigt für sie „Röcke von Fellen“ und spricht: „Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber daß er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden“ (Gn 3, 22f.). Der Garten aber wird bewacht durch Cherubim, die mit Schwertern bewaffnet sind, „zu bewahren den Weg zu dem Baum des Lebens“ (Gn 3, 24). Im Zentrum des Paradiesmythos steht nicht die Erschaffung der Welt, sondern die des Menschen. Von Bedeutung ist, dass zunächst nur der Mann gemacht wird. Es werden die Tiere geschaffen und bemerkenswerterweise festgestellt, dass unter ihnen keine geeignete Hilfe für den Mann zu finden ist. Dann erst erfolgt die Erschaffung der Frau. Viel diskutiert wird die Rolle der zwei besonders erwähnten Bäume: der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis (vgl. Westermann, 1999, 291f.). Zwischen ihnen besteht ein Rangunterschied. Der Baum des Lebens ist der wichtigere. Das Essen von dem Baum der Erkenntnis gibt das Wissen von Gut und Böse, der Baum des Lebens aber das ewige Leben. Das aber ist ein Privileg Gottes, das von ihm eifersüchtig verteidigt wird. Die Vertreibung aus dem Paradies ist daher sowohl Strafe für die Menschen, mehr aber noch Schutz des Baums des Lebens vor menschlichem Zugriff. Aber auch der Baum der Erkenntnis wirft Fragen auf, die der Text nicht beantwortet: Warum soll der Mensch nicht erkennen, was Gut und Böse ist? Muss der Mensch vor der Übertretung des Verbots nicht bereits wissen, dass seine Missachtung böse ist? Und schließlich: In welchem Verhältnis steht die Fähigkeit der Erkenntnis von Gut und Böse mit der Entdeckung der Nacktheit und der Scham?
1. Die Erschaffung der Welt und des Menschen (Genesis 1–3)
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Im Verhältnis von Mann und Frau ist auf zwei Aspekte hinzuweisen. Der Mann existiert zunächst alleine. Doch dieser Zustand „ist nicht gut“. Die Schöpfung enthält bemerkenswerterweise „ein Ungenügen“ (Westermann, 1999, 309). Gott muss sie nachbessern. Zum anderen aber wird der Vorrang des Mannes klar ausgesprochen. Sie ist seine Gehilfin, nicht umgekehrt, und er soll ihr Herr sein. Mit Blick auf die Strafe ist Folgendes von Bedeutung: Die ursprüngliche Strafandrohung wird nicht vollstreckt. Aus der angekündigten Todesstrafe wird eine Strafe auf Lebenszeit. Man kann darin eine Inkonsequenz Gottes sehen (vgl. Westermann, 1999, 306) oder aber auch eine gnädige Strafermäßigung. Doch auch so ist die Strafe hart genug. Sie wird für Schlange, Frau und Mann jeweils spezifisch verhängt. Die Bestrafung von Tieren gehört archaischem Rechtsdenken an. Die Bestrafung der Frau setzt bei ihrer Rolle als ‚Mutter aller Lebendigen‘ an. Diese Auszeichnung wird zwar nicht zurückgenommen, aber die Wertschätzung der Frau wird durch das ihr zugeteilte Leid doch erheblich gemindert. Auch die Bestrafung des Mannes setzt bei seiner Rolle an. Er hat durch Arbeit für den Unterhalt zu sorgen. Gedacht ist an schwere Feldarbeit, den Kampf gegen Dornen und Disteln, die schweißtreibende Anstrengung. Der Mann bleibt sein Leben lang gebunden an seine Scholle. Er bearbeitet die Erde bis zu seinem Tod, d. h. bis er schließlich selbst wieder zu Erde wird. Aber dies mühselige Leben hat er sich selbst zuzuschreiben. Es ist das Ergebnis seiner eigenen Verfehlung. Die Bibel nennt diese Verfehlung Sünde und gebietet dem Menschen, über sie zu „herrschen“ (vgl. Gn 4, 7). Vergleicht man die beiden Schöpfungsgeschichten, so zeigen sie eine völlig unterschiedliche Anthropologie und Ethik. Für den Vergleich erscheint es sinnvoll, sich die Situation des Menschen vorzustellen, der sie durch die Erzählung einer mythischen Vorgeschichte zu deuten sucht. Dabei ergibt sich für die Priesterschrift folgendes Bild: Sie beginnt bei der Schilderung der Schöpfung der Welt. Diese stellt eine äußerst gelungene Ordnung dar. Sie findet in der strengen Ordnung des Textes ihre Entsprechung. Alles ist sinnvoll angeordnet: Himmel und Erde, Wasser und Land, Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Fische und Vögel, Landtiere und Menschen, Kräuter und Früchte sowie schließlich Werktage und Ruhetag. Immer wieder wird bestätigt, dass das Geschaffene „gut“ ist. Das Werk als Ganzes ist sogar „sehr gut“. Eine besondere Beachtung verdient die Stellung des Menschen in ihr. Mann und Frau sind gleichrangig. Sie haben eine herausgehobene Stellung auf der Erde, denn sie dürfen sich als Lebewesen verstehen, die von Gott ausgezeichnet sind. Sie sind ein Ebenbild Gottes. Als solche sind sie Herrscher über alle Lebewesen und machen sich die Erde untertan. Für ihre Ernährung ist gesorgt, Vermehrung ist ihnen aufgetragen. Angedeutet wird, dass auch sie die Unterscheidung von Werktag und Ruhetag in Anspruch nehmen dürfen. Die Priesterschrift schildert die Situation des Menschen ausschließlich mit positiven Aussagen. Es gibt keine negativen Aspekte, keinerlei Einschränkungen, nicht einmal Andeutungen dazu. Ganz anders stellt sich der Schöpfungsbericht des Jahwisten dar, wenn man ihn aus der Perspektive der Situation heraus interpretiert, zu der dieser Bericht die mythische Vorgeschichte bildet: Die gegenwärtige und seit jeher erfahrbare Situation des Menschen stellt sich so dar: Das Leben des Menschen ist mühselig und qualvoll. Die Arbeit ist schwer, die der Erde abgetrotzte Ernte spärlich. Das Leben der Frau ist nicht besser. Die Schwangerschaft ist beschwerlich, die Geburten sind schmerzvoll. Außerdem hat sie sich
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ihrem Mann unterzuordnen; er ist ihr Herr. Es gibt keinen Genuss und keine Aussicht auf ein besseres Leben. Der Weg dazu ist versperrt. Am Ende eines arbeitsreichen Lebens steht der Tod. Dieses kümmerliche Leben ist das Ergebnis einer selbstverschuldeten Verfehlung. Mit seinen Verfehlungen, seiner Sünde, hat der Mensch das Leben verdient, das er führen muss. Er kann niemand anderen dafür verantwortlich machen. Der Gegensatz beider Schilderungen könnte größer nicht sein. Will man die positive Botschaft der Priesterschrift auf eine anthropologische Formel bringen, so lautet sie: Der Mensch ist Ebenbild Gottes. Die negativ gefärbte Anthropologie des Jahwisten lautet: Der Mensch ist ein Sünder. Beide bilden einen Kontrast. Nach den vorliegenden Texten schließen sie sich gegenseitig aus. Der Mensch, der ein Ebenbild Gottes ist, ist kein Sünder; der Sünder kein Ebenbild Gottes. Die ethischen Konsequenzen sind entsprechend unterschiedlich. Nach der ersten Schöpfungsgeschichte erhält der Mensch einen Auftrag: Als Ebenbild Gottes soll und darf sich der Mensch vermehren, über alle Lebewesen herrschen und sich die Erde untertan machen; nach der zweiten soll sich der Mensch als Sünder vor weiteren Verfehlungen hüten, um zusätzliche Strafen zu vermeiden. Die Wirkungsgeschichte beider Bestimmungen des Menschen ist ebenfalls unterschiedlich. Die Ebenbild-Formel verläuft eher untergründig. Sie erlebt nach einer langen Phase der Latenz in der Renaissance eine kurze Blüte, so z. B. bei Pico della Mirandola, der dem Menschen die Annäherung an sein göttliches Urbild zutraut, um dann wieder zu verstummen. Lediglich das Gebot der Vermehrung nimmt die katholische Kirche sehr ernst. Die Paradiesgeschichte hat ihre unverwechselbare Wirkung im Bereich der Religionsgeschichte und der Geschichte der Theologie gezeitigt. Das Christentum ist ohne sie nicht zu denken. Der Mensch ist nach seinem Verständnis der erlösungsbedürftige Sünder. Paulus betont: „der Sünde Sold ist Tod“ (Röm. 6, 23). Jesus tritt auf mit dem bereits von Johannes dem Täufer vorgetragenen Aufruf: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ (Mt 3,2). Seine Kreuzigung wird im Christentum als Opfertod zur Erlösung der Menschen von den Sünden interpretiert. Ohne die Sündhaftigkeit des Menschen verlöre der Opfertod Christi seinen Sinn. Noch der gekreuzigte Jesus verspricht einem der mit ihm Gekreuzigten: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“ (Luk. 23, 43). Dieses Verständnis hat die weitere Geschichte des Christentums bestimmt. Betont wird die Sündhaftigkeit des Menschen, nicht seine Ebenbildlichkeit im Verhältnis zu Gott. Für Augustinus stehen Erbsünde und Gnadenwahl im Zentrum seines Denkens. Luthers Rechtfertigungslehre ist ohne den Begriff der Sünde nicht denkbar, und Kierkegaard sieht in der Verzweiflung des Sünders vor Gott die einzige Möglichkeit der Rettung (vgl. Kierkegaard, 1962, 77). In jüngerer Zeit hat Claus Westermann (Westermann, 1999) in seinem gründlichen und lehrreichen Genesiskommentar versucht, beide Definitionen des Menschen zu harmonisieren. Er vertritt mit anderen Theologen die erstaunliche These, dass „das Menschenverständnis der P kein grundlegend anderes ist als bei J“ (ebd. 794). Als einen beide Texte vermittelnden Begriff führt er im Anschluss an Karl Barth den des „Gegenüber“ ein. Danach ist der Mensch das personale Gegenüber Gottes. Auch der Mensch als „Ebenbild Gottes“ sei aus seiner „Verantwortlichkeit“ gegenüber Gott zu verstehen. Als Beleg wird Gottes Frage an den Menschen: „Adam, wo bist du?“ (ebd.
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804) angeführt. Doch dieser Harmonisierungsversuch kann nicht überzeugen. Ein Begriff der Priesterschrift (Ebenbild Gottes) wird mit einem Zitat aus der Schrift des Jahwisten (Paradiesmythos) erläutert. Das ist methodisch fragwürdig. Im Gegensatz zu dieser Interpretation betont daher Kurt Flasch zu Recht: „Bei genauerem Hinsehen sind die beiden Erzählungen unvereinbar“ (Flasch, 2005, 26f.). Nach der Priesterschrift erhält der Mensch von Gott einen Auftrag, den er zu erfüllen, nicht aber zu erörtern oder gar in Frage zu stellen hat. Obwohl der Mensch Ebenbild Gottes ist, bleibt Gott in einer erhabenen Distanz. Der Gedanke eines personalen Gegenübers hat lediglich in der Paradiesgeschichte seinen Ort. Nur hier gibt es den Wechsel von Frage und Antwort, von Anklage und dem Versuch der Rechtfertigung. Die Differenz bleibt bestehen: ‚Ebenbild Gottes‘ und ‚Sünder‘ sind im Kontext der Erzählungen, in denen sie verwendet werden, unvereinbare Gegensätze. Man wird sich damit abfinden müssen, dass die Genesis zwei sehr unterschiedliche Konzepte des Menschen entwirft. Allerdings, beide Texte stimmen in einer wesentlichen Aussage überein: Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes.
2. Erbsünde und Gnadenwahl (Augustinus) „Denn als Gott die Tiere schuf, teils ungesellig (. . .), teils gesellig, (. . .) da hat er von beiden Sorten nicht etwa zunächst bloß Einzelwesen geschaffen, aus denen dann die Nachkommen erwachsen sollten, sondern gleich mehrere. Anders den Menschen. Seiner Natur wies er eine Art Mittelstellung an zwischen Engeln und Tieren. Wenn er, dem Schöpfer als seinem wahren Herrn untertänig, sein Gebot in frommem Gehorsam erfüllte, sollte er in den Kreis der Engel aufgenommen werden und, ohne erst sterben zu müssen, die selige, nie endende Unsterblichkeit erlangen; wenn er aber den Herrn, seinen Gott, unter Mißbrauch des freien Willens hochmütig und ungehorsam beleidigte, war ihm bestimmt, dem Tode überantwortet tierisch zu leben, Sklave seiner Lüste zu sein und nach dem Tode der ewigen Verdammnis zu verfallen. Ihn nun schuf Gott als Einzigen und Einzelnen, freilich nicht um ihn allein und ohne menschliche Gesellschaft zu lassen (. . .). Darum gefiel es ihm, auch das Weib, das dem Manne zugesellt werden sollte, nicht so zu schaffen wie ihn, sondern aus ihm, so daß also das Menschengeschlecht von einem einzigen Menschen sich ausbreitete. (. . .) Gott wußte freilich, der Mensch werde sündigen und, dem Tode preisgegeben, sterbliche Nachkommen erzeugen, die es in ihrem Sündenfrevel dahin bringen sollten, daß die vernunftlosen Tiere (. . .) sicherer und friedlicher mit ihren Artgenossen leben als die Menschen (. . .).“ (Augustinus: Vom Gottesstaat. Buch 11–22, München 1991, 98f.).
Augustinus wird 354 n. Chr. in Thagaste (dem heutigen Souk Ahras in Algerien) geboren. In den Jahren 370–373 studiert er in Karthago Rhetorik. Die Schriften Ciceros und die akademische Skepsis machen einen großen Eindruck auf ihn. Eine erste weltanschauliche Orientierung bietet ihm der Manichäismus, dem er in den Jahren 373–382 angehört. Es handelt sich um eine dualistische Religion der Spätantike, die im Anschluss an ihren persischen Gründer Mani (216–277) die sichtbare Welt, das Reich der Finsternis, als das Werk eines bösen Demiurgen ansieht. Ihr steht die Herrschaft des wahren Gottes, das Reich des Lichts, entgegen. Es gibt Erwählte, Kinder des Lichts, die vom
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Boten des Lichts erweckt, sich von der sichtbaren Welt, z. B. durch geschlechtliche Enthaltsamkeit, abkehren und so erlöst werden. 375/76 übt Augustinus eine Tätigkeit als Rhetoriklehrer in Thagaste und Karthago aus und 383 in Rom. 384 erhält er eine Stelle als ‚magister rhetoricae‘ in Mailand, wo er auch den Bischof Ambrosius kennenlernt. Dieser hat eine maßgebliche Bedeutung für die Bekehrung Augustins zum Christentum. Außerdem spielen einige Werke des Neuplatonismus, so die von Plotin und Porphyrios, dabei eine wichtige Rolle. In das Jahr 386 fällt sein Bekehrungserlebnis, das er in seinen confessiones (Bekenntnisse) anschaulich schildert. 387 wird er durch den Bischof Ambrosius getauft. Nach seiner Rückkehr nach Thagaste und Karthago im Jahre 388 wird er im Jahre 390 in Hippo Regius (Nordafrika) – eher unfreiwillig – zum Priester gewählt und 395 ebendort zum Bischof geweiht. In diese Zeit fällt auch der Konflikt mit den Donatisten, eine in den unteren Volksschichten beheimatete religiöse Bewegung, die die sittliche Reinheit der Priester zur Vorbedingung für die Gültigkeit der Sakramente machen will und für die Trennung von Kirche und Staat eintritt. Im Jahr 396 orientiert sich Augustinus theologisch neu. Er entwickelt das Konzept der Gnadenlehre. Nach ihr ist es dem Menschen nicht möglich, sich durch eigenes Nachdenken und sittliches Wollen auf die Gnade vorzubereiten. Vielmehr gebe es einige wenige, die von Gott durch seine unerforschliche Gnade erwählt werden, und die große Zahl der Verworfenen. Dieses neue Konzept führt zu einer heftigen Auseinandersetzung mit den Pelagianern, den Anhängern des Pelagius, die die Bedeutung der Freiheit des Willens und das eigene sittliche Streben betonen und Augustinus den Rückfall in den Manichäismus vorwerfen. Seit dem Jahre 400 bildet seine Gnadenlehre auch die Grundlage für sein Werk De civitate dei (Vom Gottesstaat) das in den Jahren 413–27 entsteht. Augustinus stirbt im Jahre 430, während der Belagerung Hippos durch die Vandalen (vgl. Marrou, 1984; Horn 1995). Beeinflusst durch die spätantike Philosophie einerseits und die christliche Religion andererseits, bemühte sich Augustinus in seinem Denken darum, zu einer angemessenen Bestimmung des Verhältnisses von Glaube und Vernunft (fides et ratio) zu gelangen. Es war nicht sein Ziel, das vernunftbestimmte Wissen durch den Glauben zu ersetzen, wohl aber zwischen ihnen ein Fundierungsverhältnis auszusprechen. Es ist das Wissen, das in einem Glauben begründet ist. Der Glaube selbst aber kann nicht mehr in Wissen überführt werden. Das Verhältnis von Glaube und Wissen darf nicht verwechselt werden mit der antiken Gegenüberstellung von Meinung (doxa) und Wissen (episteme). Ziel der antiken Philosophie war es, die Meinungen in Wissen zu überführen. Augustinus dagegen kam es darauf an, den Glauben als unhintergehbaren, letzten Grund allen Wissens aufzudecken. Das Verhältnis von Glaube und Vernunft wird von Augustinus in zweifacher Weise erörtert: zum einen als das Verhältnis zweier Lehrgebäude zueinander, nämlich der Theologie und der Philosophie, zum anderen aber als Verhältnis von zwei Arten der Gewissheit im einzelnen Menschen. Zu diesem zweiten Aspekt ist folgendes Beispiel erhellend: Für Augustinus gibt es drei Gewissheiten, die sich so formulieren lassen: „Denn wir sind, wissen, daß wir sind, wir lieben dies unser Sein und Wissen“ (Augustinus, 1991, 42f.). Diese Gewissheiten lassen sich auch durch keinen Einwand der Skeptiker widerlegen. Auf ihre Frage: „Wie, wenn du dich täuschst?“ antwortet er vielmehr: „Wenn ich mich täusche, bin ich ja.
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Denn wer nicht ist, kann sich auch nicht täuschen; also bin ich, wenn ich mich täusche“ (ebd.) Die unbezweifelbare Selbstgewissheit ist ein Wissen, wie Augustinus ausdrücklich betont. Es gibt aber eine Frage, die über dieses wie über jedes Wissen hinausgeht. Es ist die nach dem Ursprung des eigenen Seins. Der Ursprung des eigenen Lebens lässt sich nur glauben, nicht wissen. Augustinus formuliert diesen Gedanken so: „Ich frage dich: Wenn man alles das nicht glauben darf, was man nicht weiß, wie sollen dann Kinder ihren Eltern gehorchen und ihre Liebe erwidern, wenn sie nicht glauben, daß dies ihre Eltern sind? Das kann man ja unmöglich aufgrund vernünftiger Einsicht (ratione) wissen. Vielmehr glaubt man in der Frage der Vaterschaft der Aussage der Mutter aufgrund ihrer Autorität. Was die Mutterschaft angeht, so glaubt man gewöhnlich nicht einmal der Mutter, sondern Geburtshelferinnen, Ammen, Dienerinnen“ (Augustinus, 1992, 157).
Darüber hinaus gibt es weitere Fälle, in denen an die Stelle des Wissens der Glaube an eine Autorität tritt. Das ist überall dort der Fall, wo das eigene Wissen zur Beurteilung eines Sachverhalts nicht ausreicht. Jeder „halbwegs einsichtige Mensch erkennt (. . .) daß es für die Unwissenden nützlicher und heilsamer ist, den Maßregeln der Weisen Folge zu leisten, als nach eigenem Gutdünken ihr Leben zu führen“ (ebd. 159). Der Übergang vom Wissen zum Glauben spielt aber nicht nur für das Leben des einzelnen Menschen eine entscheidende Rolle, sondern auch im Verhältnis von Philosophie und Theologie. Ein wichtiges Beispiel stellt die Frage der Kosmologie dar. Für die antike Philosophie besteht die Welt von Natur aus, d. h. sie besteht von sich aus. Sie ist eine Ordnung, die ihren natürlichen Kreisläufen unterworfen ist. Dieses Weltverständnis kann Augustinus als christlicher Theologe nicht akzeptieren. Deshalb entwickelt er auch hier einen Gedanken, der von der der Vernunft zugänglichen Existenz der Welt zu ihrem Ursprung führt. Dieser kann nur geglaubt werden. Augustinus formuliert das so: „Von allem Sichtbaren ist die Welt das größte, von allem Unsichtbaren Gott. Daß aber eine Welt vorhanden ist, sehen wir, daß Gott ist, glauben wir. Daß aber Gott die Welt geschaffen hat, glauben wir niemandem sicherer als Gott selber. Wo haben wir ihn gehört? Nun, einstweilen nirgendwo besser als in der Heiligen Schrift, wo sein Prophet spricht: ‚Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde‘“ (Augustinus, 1991, 6f.).
Die Existenz der Welt ist der Anschauung und damit der Vernunft zugänglich, ihr Ursprung aber kann nur geglaubt werden. Mit dem Glauben an die Erschaffung der Welt verbindet sich aber ein weiterer Gedanke. Es ist der von einem zeitlichen Anfang und einem zeitlichen Ende der Welt. Damit ist der antike Gedanke des Kreislaufs unvereinbar. Kreislauf, das bedeutet für Augustinus die ewige Wiederkehr des Gleichen. Das aber bedeutete, dass Plato „schon unzählige Male in weiter zurückliegenden Jahrhunderten (. . .), dieselbe Schule und dieselben Schüler“ gehabt hätte. Er fährt fort: „Ausgeschlossen, so etwas zu glauben! Denn einmal nur ist Christus für unsere Sünden gestorben, ‚auferstanden aber von den Toten, stirbt er hinfort nicht mehr (. . .)‘“ (ebd. 81). Wenn es aber keine ewigen Kreisläufe gibt, sondern einen bestimmten Anfang und ein bestimm-
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tes Ende der Welt, dann muss auch die Zeit selbst etwas Endliches sein. Genau das behauptet Augustinus. Mit der Welt hat Gott die Zeit selbst erschaffen (vgl. Augustinus, 1994, 311). Es gibt keine Zeit vor dem Anfang der Welt. Das Fazit ist: Der Glaube an die Erschaffung der Welt gründet sich auf den Glauben an die Autorität der ‚Heiligen Schrift‘. Bemerkenswert ist jedoch, dass Augustinus den Glauben außerdem auch auf das Argument einer natürlichen Theologie stützt. Er sagt: „Denn auch abgesehen von den Prophetenstimmen verkündet die Welt selber, obschon stillschweigend, durch ihre wohl geordnete Wandelbarkeit (. . .) und die wundervolle Formschönheit alles Sichtbaren, sowohl daß sie geschaffen ist als auch, daß nur der unsagbar und unfaßlich (...) schöne Gott sie geschaffen haben kann“ (Augustinus, 1991, 7).
Diese Aussage hat jedoch nur den Charakter eines Hilfsarguments. Der Hauptakzent liegt auf der Autorität der Bibel. Der Glaube an die Autorität der Bibel verbindet sich für Augustinus in zunehmendem Maße mit dem Glauben an die Autorität der katholischen Kirche, die als einzige legitime Interpretin des Glaubens verstanden wird. Mehr noch: Als Bischof setzt er zur Durchsetzung der kirchlichen Autorität und zur Erfüllung des Missionsauftrags auch Gewalt ein. Bei einem Blick auf die Anthropologie sei auf zwei Aspekte hingewiesen: Es ist zum einen die Dimension der Innerlichkeit, und es sind zum anderen seine Aussagen über den Menschen als Geschöpf Gottes. Der Bereich der Innerlichkeit erhält bei Augustinus eine bis dahin nicht gekannte Aufmerksamkeit. Die antike Devise der Selbsterkenntnis stößt bei ihm in neue Dimensionen vor. Bereits in seiner Schrift De vera religione – Über die wahre Religion – von 391 hat Augustinus den Weg nach Innen postuliert: „Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit“ (Augustinus, 1991 a, 123). In seinem Buch Bekenntnisse führt er diese Devise aus, indem er die Leistung der ‚memoria‘, d. h. des Gedächtnisses, beschreibt. Angemessener wäre es, das Wort mit ‚Bewusstsein‘ zu übersetzen, denn es umfasst neben der Erinnerung und dem Gedächtnis ebenso die Phantasie und das Selbstbewusstsein. Augustinus führt aus: „Ich unterscheide den Duft der Lilie von dem des Veilchens, obgleich ich nichts davon rieche, und ziehe in bloßer Erinnerung, nichts schmeckend oder befühlend, Honig dem Most, das Glatte dem Rauhen vor. / Im Innern tue ich dies, im ungeheuren Raume meines Gedächtnisses. Dort sind mir gegenwärtig Himmel, Erde, Meer und alles, was ich von ihren Dingen mit meinen Sinnen fassen konnte, nur jenes nicht, was ich vergessen habe. Dort begegne ich auch mir selbst und erlebe es noch einmal, was und wann und wo mein Tun gewesen und was ich bei diesem Tun empfunden. (. . .) Groß ist die Macht meines Gedächtnisses, gewaltig groß, o Gott, ein Inneres, so weit und grenzenlos. Wer ergründet es in seiner ganzen Tiefe? Diese Kraft gehört meinem eigenen Ich hier an, sie ist in meiner Natur gelegen, und gleichwohl fasse ich selber nicht ganz, was ich bin. So ist der Geist zu eng, sich selbst zu fassen. (. . .) Ein groß Verwundern überkommt mich da, Staunen ergreift mich über diese Dinge. / Und da gehen die Menschen hin und bewundern die Höhen der Berge, das mächtige Wogen des Meeres, die breiten Gefälle der Ströme, die Weiten des Ozeans und den Umschwung der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst“ (Augustinus, 1961, 178f.).
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Der Text beschreibt das Staunen des Menschen über sich selbst. Es ist eine ähnliche Mischung aus Bewunderung und Beklemmung, die auch in dem Chorlied in Sophokles’ Antigone angesprochen wird. Doch hier sind es nicht die erstaunlichen Leistungen des Menschen in der Welt, die dieses Gefühl auslösen, sondern das Innere des Menschen, eine Dimension, die er als eigene Kraft begreift, die zugleich aber sein Fassungsvermögen übersteigt. Es ist auch nicht der Mensch überhaupt, der Staunen erregt, sondern das eigene Ich. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich eröffnet die Möglichkeit des Selbstbewusstseins und des Selbstgesprächs. Augustinus hat unter dem Titel Soliloquia (Selbstgespräche) dazu ein eigenes Buch verfasst. Für ihn erweitert sich das Selbstgespräch zu einem Gespräch mit Gott. In einem Dialog mit der personifizierten Vernunft macht er deutlich, was ihn allein interessiert: „Vernunft: Was willst du also wissen? (. . .) Augustinus: Gott und die Seele will ich erkennen. Vernunft: Weiter nichts? Augustinus: Gar nichts“ (Augustinus, 1986, 19). Der zweite Bereich seiner Anthropologie betrifft den Menschen als Geschöpf Gottes. Hier interpretiert Augustinus den biblischen Schöpfungsmythos (vgl. Text). Er verbindet beide Schöpfungsgeschichten zu einer Einheit, bei der, der christlichen Theologie entsprechend, der Paradiesmythos den Leitfaden bildet. Und doch ist die Art der Verbindung beider bei ihm bemerkenswert: Zunächst betont er, dass im Unterschied zu den Tieren der Mensch als Einzelwesen geschaffen wurde. Die Diskrepanz zum Ebenbild-Mythos und die dort betonte Gleichursprünglichkeit von Mann und Frau wird dabei übergangen. Der Ursprung der Menschheit aus einem Menschen hat für ihn eine doppelte symbolische Bedeutung. Indem Gott Adam als „Ahnherrn der großen Menge“ schuf, verband er mit ihm den Gedanken, „daß dank dieser Mahnung bei den Vielen Eintracht und Einigkeit gewahrt bleibe“ (Augustinus, 1991, 106). Die zweite Bedeutung ergibt sich aus der Erschaffung Evas. Indem sie aus Adams Rippe entsteht, wird zum Ausdruck gebracht, „wie innig vertraut die Verbindung von Gatte und Gattin sein soll“ (ebd.). Mit dieser Interpretation gibt Augustinus dem Paradies-Mythos eine neue Wendung, die die Gleichrangigkeit von Mann und Frau stärker betont. Der zweite Aspekt betrifft die Mittelstellung des Menschen „zwischen Engeln und Tieren“. Hier klingt die Ebenbild-Formel deutlich an, die Augustinus wenig später auch nennt. Er macht einen eindeutigen Unterschied zwischen der Situation des Menschen vor und nach dem „Sündenfall“. Vor dem Sündenfall ist der Mensch frei und hat die Möglichkeit, in den „Kreis der Engel“ aufgenommen zu werden. Ihm wird sogar – im Gegensatz zum Wortlaut des Textes – Unsterblichkeit zugebilligt. Den „freien Willen“ hat er jedoch missbraucht und durch eine einzige Handlung zugleich verloren. Nun ist er ein „Sklave seiner Lüste“, dem „Tode überantwortet“ und gezwungen, „tierisch zu leben“. Mehr noch: Statt der ihm zugedachten Eintracht führt er Kriege, wie sie bei Tieren nicht stattfinden; denn „weder haben Löwen untereinander Kriege geführt noch Drachen, wie die Menschen es tun“ (ebd. 99f.). Die Sündhaftigkeit des Menschen bildet auch die Grundlage seiner Ethik. In ihr setzt er sich mit der stoischen Ethik seiner Zeit auseinander. Ihre Ziele seien die Lust, die Tugend oder die Ruhe oder eine Kombination von ihnen. In jedem Fall aber „wollen sie in erstaunlicher Verblendung hier glückselig sein und durch sich selbst glückselig werden“ (ebd. 529). Doch dieser Versuch kann nicht gelingen:
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„Denn wer vermöchte es wohl, und ergösse sich seine Beredsamkeit wie ein Strom, das Elend dieses Lebens zu schildern? (. . .) Verlust oder Schwächung von Gliedern zerstört des Menschen Unversehrtheit, Entstellung seine Schönheit, Siechtum seine Gesundheit, Mattigkeit seine Kraft, Steifheit oder Lähmung seine Beweglichkeit; und was von alledem könnte nicht auch über des Weisen Leiblichkeit hereinbrechen?“ (ebd. 529f.).
Ebenso lassen die Fähigkeiten der Sinne im Alter nach. Doch nicht nur der Körper, auch die geistigen Kräfte sind vor Zerstörung nicht gefeit: „Die Vernunft aber und das Erkenntnisvermögen, wohin entweichen, wo schlummern sie, wenn infolge einer Erkrankung der Geist sich verwirrt?“ (ebd.). Das Fazit ist: Das von den Philosophen gelehrte Glück ist in diesem Leben nicht zu erreichen. Das höchste Gut ist das „ewige Leben“, und das liegt im Jenseits. Doch wer darf dieses für sich erhoffen? Die Antwort auf diese Frage gibt Augustinus in seiner Sünden- und Gnadenlehre. Ihre Ausführung bildet das Thema seines Werkes De civitate dei. Die deutsche Übersetzung Vom Gottesstaat gibt den Begriff nur unzureichend wieder. Es handelt sich nicht um einen Staat im Unterschied zur Gesellschaft, sondern er ist eher als eine Gemeinschaft zu verstehen. Der richtige Begriff ergibt sich aus seinem Gegensatz, der ‚civitas terrenae‘. Es ist der Gegensatz zwischen einer Gott zugewandten Gemeinschaft und einer an der Welt orientierten. Ausgangspunkt für das Entstehen dieser beiden Gemeinschaften ist der mit Adam eingetretene „Sündenfall“. Die durch ihn entstandene Schuld überträgt sich auf alle seine Nachkommen, d. h. auf die gesamte Menschheit. Das Tradieren der Sünde auf die Nachkommen heißt Traduzianismus; sein Thema ist die „Erbsünde“. Augustinus bemerkt: „Denn Gott, der Urheber der Naturen, nicht der Gebrechen, hat den Menschen wohl gut erschaffen, doch der, durch eigene Schuld verderbt und dafür von Gott gerecht verdammt, hat verderbte und verdammte Nachkommen erzeugt“ (ebd. 1991, 124).
Durch die Erbsünde sind nicht nur alle Menschen, von Geburt an, schuldig, sie können sich auch nicht aus eigener Kraft von dieser Schuld befreien. Zwar gibt es Stellen, in denen Augustinus den Menschen vor eine freie Wahl zu stellen scheint, so wenn er sagt: „In jedem Menschen wohnt innen ein Imperator (. . .). Gott wollte in deinem Willen sein, biete ihm Raum, Gott oder dem Teufel. Wenn du ihm Raum gegeben hast, wird er herrschen“ (Flasch, 1994, 190). Doch dieser Gedanke wird wieder zunichte gemacht durch die von ihm entwickelte Gnadenlehre. Nach ihr sind alle Menschen „ein einziger Klumpen Dreck“ oder „ein Haufen der Sünde“. Das bedeutet: „Seitdem gebührt allen, sieht man von der Barmherzigkeit Gottes ab, die ewige Verdammung“ (ebd. 198). Die Tatsache, dass Gott für einige wenige Auserwählte von der Verdammung absieht, ist ein unerforschlicher Akt der Gnade. Ausgangspunkt für diesen Gedanken bildet eine Stelle bei Paulus, in der dieser betont, dass Gott durch eine „freie Wahl“ sich für Jakob und gegen Esau entschied, indem er sagte: „Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehaßt“ (Röm. 9, 13). Diese Wahl erfolgte, wie Paulus betont: „Ehe die Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten“ (ebd.). Augustinus greift diesen Gedanke auf und betont: Gott ist nicht ungerecht, wenn er nicht allen Menschen ihre verdiente Strafe zukommen lässt, sondern barmherzig, wenn
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er einige davon ausnimmt. Die wenigen Auserwählten gehören dem Gottesstaat an, ihnen wird das ewige Leben versprochen. Augustinus sagt: „Wir müssen annehmen, daß mit diesem ersterschaffenen Menschen, zwar nicht sichtlich für uns, aber dem Vorherwissen Gottes bereits offenbar, die beiden Gemeinschaften, gleichsam zwei Staaten, im Menschengeschlecht ihren Anfang genommen haben. Denn aus jenem ersten sollten alle Menschen hervorgehen, um nach Gottes zwar verborgenem, aber gerechtem Gericht teils als Genossen der bösen Engel verdammt, teils als Genossen der guten ewig belohnt zu werden“ (Augustinus, 1991, 106). Die kreationistische Grundthese der Bibel erfährt bei Augustinus eine besondere Zuspitzung: Der Mensch ist nicht nur überhaupt ein Geschöpf Gottes, sondern er ist entweder ein erwähltes oder aber ein verdammtes Geschöpf. Die Wirkungsgeschichte von Augustinus, der als Kirchenlehrer in der katholischen Kirche seit jeher ein großes Ansehen genießt, ist wechselvoll. Vor allem seine Erbsünden- und Gnadenlehre stieß auf Widerspruch. Bemerkenswerterweise war es gerade Martin Luther, der sich in seiner Rechtfertigungslehre auf Paulus und Augustinus berief. In seiner Schrift De servo arbitrio (Daß der freie Wille nichts sei) beschreibt er den Menschen als ein „Lasttier“ (Luther, 1954, 46f.), das unabhängig von seinem Willen entweder von „Gott“ oder vom „Satan“ geritten wird und betont immer wieder, dass der Mensch nicht aus eigener Kraft, nicht durch gute Werke, sondern allein durch das Geschenk des Glaubens, d. h. durch die Gnade Gottes, gerechtfertigt werden könne (vgl. Pleger, 2017, 54).
3. Natur und Gnade (Thomas von Aquin) „Wie aber das Seiende das erste ist, das überhaupt aufgefaßt wird, so ist das Gute das erste, das von der praktischen Vernunft aufgefaßt wird (. . .). Weil aber das Gute den Sinn von Zweck und das Böse den des Gegenteils hat, deshalb erkennt die Vernunft alles, wozu der Mensch eine natürliche Neigung hat (. . .). Daher richtet sich die Ordnung der Gebote des Naturgesetzes nach der Ordnung der natürlichen Neigungen. Zuerst wohnt dem nämlich Menschen die Neigung zu einem Guten entsprechend der Natur inne, in der er mit allen Substanzen übereinkommt; sie besteht darin, daß jede Substanz die Erhaltung ihres Seins begehrt, wie es ihrer Natur entspricht. Dieser Neigung zufolge gehört zum Naturgesetz solches, durch das das Leben des Menschen erhalten wird, während das Gegenteil verboten wird. – Zweitens wohnt dem Menschen eine Neigung zu einigen inne, (. . .) die er mit den anderen Lebewesen gemeinsam hat. Demzufolge zählt man das zum Naturgesetz, ‚was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat‘, so die Verbindung des Männlichen und Weiblichen, die Aufzucht der Nachkommen und ähnliches. – In einem dritten Sinn wohnt dem Menschen die Neigung zum Guten entsprechend der Vernunftnatur inne, die ihm eigentümlich ist: So neigt der Mensch von Natur aus dazu, die Wahrheit über Gott zu erkennen, und dazu, in Gesellschaft zu leben.“ (Thomas von Aquin. Opera omnia Bd. 7. Summa theologica, Rom 1892. K. Flasch (Hg.), Geschichte der Philosophie Bd. 2, Stuttgart 1988, 324f.).
Thomas von Aquin (1224/25–1274) wird auf dem Schloss Roccasecca bei Aquino in der Nähe von Neapel als Sohn einer adligen Familie geboren. 1239 wird er Student an der Universität von Neapel und erhält außer theologischer Unterweisung eine Einführung
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II. Der Mensch, ein Geschöpf Gottes – Das kreationistische Konzept
in die griechische Philosophie, unter anderem in die aristotelische. Als 20-jähriger tritt er in den Dominikanerorden ein. Studienjahre in Paris folgen. Hier lernt er Albertus Magnus (1200–1280) kennen, der die griechische Philosophie, und speziell die aristotelische, mit der Theologie zu verbinden sucht. Er folgt seinem Lehrer nach Köln. 1256 wird er Magister an der Universität Paris und beginnt ab 1258 mit seinem Werk Summa contra Gentiles. Nach dreijähriger Lehrtätigkeit kehrt er nach Italien zurück. Am päpstlichen Hof lernt er Wilhelm von Moerbeke kennen, der für ihn aristotelische Schriften übersetzt. 1269–72 ist er wieder in Paris. In diese Zeit fällt die Abfassung seiner Summa Theologiae. Ab 1272 ist Thomas wieder in Italien und wirkt nun am Ordensstudium der Universität zu Neapel mit. Auf der Reise zum Konzil von Lyon stirbt er 1274 im Zisterzienserkloster zu Fossanova (vgl. Chenu, 1992). Für Thomas von Aquin bildet eine Neubestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie, von Glauben und Wissen (fides et ratio), das Zentrum seines Denkens. Im Vergleich zu Augustinus aber hatte sich dieses Verhältnis durch die Entdeckung der aristotelischen Schriften vollständig verändert. Bildete noch für Augustinus der Neuplatonismus den Hintergrund seiner philosophisch-theologischen Überlegungen, so entstand mit Aristoteles eine neue philosophische Herausforderung. Sie bestand in der Bedeutung, die die aristotelische Philosophie der wissenschaftlichen Erörterung einzelner Bereiche der Wirklichkeit gab, und radikaler noch, der prinzipiellen Bedeutung des Einzelnen im Gegensatz zum Allgemeinen. Waren bis 1200 nur einzelne logische Schriften von Aristoteles im lateinisch sprechenden Westen bekannt, so verfügte die arabische Welt bereits seit der Mitte des 10. Jh.s über eine vollständige Übersetzung der aristotelischen Schriften. Abu Ali ibn Sid (980–1037), der in Bagdad lebte und im Westen Avicenna genannt wurde, und Ibn Rushd (1126–1198), genannt Averroes, der im arabisch beherrschten Cordoba lebte, verfassten bedeutsame Aristoteles-Kommentare. Erst ab 1210 wurden an der Artistenfakultät zu Paris Vorlesungen über die aristotelische Physik und Metaphysik abgehalten, und erst um 1240 lag eine vollständige lateinische Übersetzung der aristotelischen Schriften vor. Doch die Irritation, die von Aristoteles für die offizielle Lehre der katholischen Kirche ausging, war so groß, dass der Papst 1210 zum ersten Mal, 1231 erneut und 1263 zum letzten Mal die Aristoteles-Lektüre verbot. Für Albertus Magnus und für Thomas führte das Aristoteles-Studium zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie. Der Anspruch von Philosophie und Wissenschaft wurde als eigenständige Möglichkeit der Erkenntnis ernst genommen. Für Thomas bedeutete der Neuansatz die Möglichkeit, einen anderen Weg der Erkenntnis als den traditionellen, neuplatonisch inspirierten, einzuschlagen. Ausgangspunkt wurde für ihn das ‚lumen naturale‘, die dem Menschen von Natur aus zukommende Vernunft. Es galt, ihre Reichweite auszuloten. Allerdings galt auch für ihn: Diese ist begrenzt und jenseits ihrer beginnt das Reich des Glaubens, das ein Geschenk der Gnade ist. Thomas entwickelte für ihr Verhältnis zueinander die einprägsame Formel „gratia perficit naturam“, d. h. die Gnade vollendet das in der Natur des Menschen liegende, aber unvollkommene, Streben nach dem Guten und Wahren. Er sagt: „Die Geschenke der Gnade fügen sich auf solche Weise zur Natur, daß sie diese nicht aufheben, sondern eher vollenden. Darum auch löscht das Licht des Glaubens, das
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gnadenhaft in uns einströmt, das Licht der natürlichen Erkenntnis nicht aus, das unsere natürliche Mitgift ist“ (Thomas von Aquin, 1946, 116).
Das neue Zutrauen in die Kräfte der menschlichen Vernunft und der Philosophie führte auch dazu, dass der Versuch von Gottesbeweisen einen neuen Auftrieb erhielt. Für Augustinus war die Existenz Gottes eine Angelegenheit des Glaubens, in die das Wissen nicht vordringt. Das belegt seine Aussage: „Daß aber eine Welt vorhanden ist, sehen wir, daß Gott ist, glauben wir“ (Augustinus, 1991, 6). Anselm von Canterbury (1033–1109) hat demgegenüber einen bedeutsamen, neuplatonisch inspirierten Gottesbeweis vorgelegt. Er definiert Gott als „etwas, über dem nichts Größeres gedacht werden kann“ (Anselm, 1984, 85). Er argumentiert so: Das angenommene Etwas, das als Gott definiert wird, ist nur dann das Größte, wenn ihm auch Existenz zukommt, denn sonst könnte etwas gedacht werden, dass größer wäre, nämlich etwas, das die Existenz einschließt. Bemerkenswerterweise verwirft Thomas diesen Gottesbeweis mit zwei Argumenten. Zum einen betont er, „daß vielleicht der, der diesen Namen Gott hört, nicht einsieht, es werde damit etwas bezeichnet, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, da einige geglaubt haben, Gott sei ein Körper“ (Weischedel, 1979, 135). Sein zweiter Einwand ist gravierender. Er sagt: Selbst wenn jemand dieses Größte als Gott bezeichnet, „so folgt doch daraus nicht, daß er einsieht, das, was durch den Namen bezeichnet wird, sei in der Natur der Dinge, sondern (nur, es sei) in der Auffassung des Verstandes“ (ebd. 136). Kurz gesagt: Aus dem Begriff Gottes als einem Verstandesbegriff lässt sich nicht seine Existenz „in der Wirklichkeit“ ableiten. Thomas entwickelt seinen eigenen Gottesbeweis in fünffacher Weise (quinque viae): Der erste Beweis geht von der Erfahrung aus, dass es Bewegtes gibt. Alles Bewegte aber muss von etwas bewegt werden. Der erste unbewegte Beweger ist Gott. Thomas entnimmt den Gedanken des unbewegten Bewegers der Metaphysik von Aristoteles und bezeugt damit einmal mehr seine Nähe zu ihm. Der zweite Beweis argumentiert ähnlich: Alles in der Wirklichkeit Gegebene hat eine Ursache; es gibt für jedes Seiende eine ‚causa efficiens‘. Nur die erste Ursache ist selbst nicht verursacht, sie ist ‚causa sui‘, Ursache ihrer selbst; und das ist Gott. Der dritte Beweis thematisiert das Verhältnis von Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit. Wir treffen auf Dinge, so erläutert Thomas, die entstehen und vergehen, bald sind, bald nicht sind. „Es ist aber bei allem Derartigen unmöglich, immer zu sein, weil, was die Möglichkeit des Nichtseins hat, auch einmal nicht ist. Wenn also alles in der Möglichkeit steht, nicht zu sein, so war irgendeinmal nichts an Dingen da. Wenn das aber wahr ist, so gäbe es auch heute nichts, weil, was nicht ist, nur durch eins, was da ist, dazusein beginnt“ (Thomas von Aquin, 1985, 24). Dieses Eine aber, so folgert er weiter, kann nur ein Notwendiges sein, und das ist Gott. Der vierte Beweis geht von der Unterscheidung des Vollkommenen und des Unvollkommenen aus. Um das Unvollkommene als Unvollkommenes erkennen zu können, bedarf es eines Maßstabs, und der ist das Vollkommene selbst. Thomas folgert: „Es gibt also etwas, das allen Seienden die Ursache des Seins und der Gutheit und jeglicher Vollkommenheit ist: und das nennen wir Gott“ (ebd. 25). Dieser Beweis ist im eminenten Sinne platonisch. Platon bezeichnet dieses vollkommene Sein als Idee.
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Der fünfte Beweis geht von dem Gedanken der in der Natur anzutreffenden Zwecke aus. Diese sind vorauszusetzen, auch wenn den Dingen selbst die Erkenntnis eines Ziels fehlt. Dasjenige, was ohne Erkenntnis einem Ziel zustrebt, kann das Ziel nicht aus sich haben. Es gibt daher in den Naturabläufen „ein Vernünftiges, von dem alle Naturdinge zu einem Ziele hingeordnet werden: und das heißen wir Gott“ (ebd. 25). Dieser Beweis greift den aristotelischen Gedanken der Teleologie auf. Es ist der der ‚causa finalis‘. Die Gottesbeweise von Thomas sind in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Sie beabsichtigen zum einen, die Existenz Gottes zu beweisen; sie geben zum anderen Hinweise auf sein Wesen, und schließlich machen sie deutlich, dass alle Dinge dieser Welt, den Menschen eingeschlossen, ihre Ursache in Gott haben, d. h. eine Schöpfung Gottes sind. Fasst man die Argumente zusammen, so ergeben sich für das Wesen Gottes folgende Aussagen: Gott ist als unbewegter Beweger der Anfang von allem Bewegten, er ist die Ursache alles Seienden, er ist das einzige, notwendig Existierende, das vollkommene Sein und schließlich das Ziel allen Strebens. Er ist zugleich Anfang, Maßstab und Ziel der Schöpfung. Aber er ist selbst nicht ein Seiendes, auch kein erstes oder höchstes. Das, was Maßstab des Seienden ist, kann selbst nicht ein Seiendes sein. Gott ist das Sein selbst, „das ipsum esse per se subsistens“ (Hirschberger I, 1976, 482). Als solches ist es unvergleichbar mit jedem Seienden. Alles Sprechen über das Sein selbst ist unzulänglich. Es hat nur den Charakter einer Analogie (analogia entis). Zugleich aber wird auch deutlich, dass das Sein des Seienden seinen Grund im Sein selbst hat, d. h. in Gott. Da Gott das Sein selbst ist, bedeutet Schöpfung, etwas aus dem Nichts ins Sein hervorbringen. Schöpfung ist „creatio ex nihilo“. Die Alternative dazu bot die griechische Philosophie, die die Ewigkeit der Welt betonte, so auch Aristoteles. Es spricht für seine intellektuelle Redlichkeit, dass Thomas den Schöpfungsgedanken ausdrücklich als einen Glaubenssatz bezeichnet. Er betont, dass das Konzept einer ungeschaffenen, ewigen Welt mit vernünftigen Argumenten nicht zu widerlegen ist. In seiner Summa Theologiae formuliert Thomas den Einwand der natürlichen Vernunft so: „Nun ist es aber ein Glaubenssatz, daß Gott der Schöpfer der Welt ist in der Weise, daß die Welt zu sein einen Anfang genommen hat (. . .). Allein mit dem Glauben wird festgehalten, und es läßt sich nicht beweisen, daß die Welt nicht immer gewesen ist“ (Thomas von Aquin, 1985, 209).
Das bedeutet aber auch: Seine Beweise der Existenz eines Schöpfergottes haben eine theologische Prämisse, und sie verlieren ohne sie ihre Beweiskraft (vgl. Chenu, 1992, 104; Hirschberger I, 506). In ähnlicher Weise verbinden sich theologische und philosophische Motive in seiner Anthropologie. Die Lehre von der Erschaffung des ersten Menschen entnimmt Thomas der Bibel. Die Bildung Evas aus Adams Rippe hat für ihn vornehmlich den Zweck, die Fortpflanzung der Menschheit zu sichern. Doch daneben gibt es bei ihm eine Lehre von der Entstehung des einzelnen Menschen. Sie umfasst Zeugung, Entwicklung und den Wesensaufbau des Menschen. Thomas
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definiert den Menschen mit Aristoteles als ‚animal rationale‘. Bei dem Menschen handelt es sich um einen Körper, der durch Selbstbewegung, Ernährung, Fortpflanzung, Sinnesempfindungen und Vernunft ausgezeichnet ist. Diese Vermögen hat der Körper nicht aus sich selbst; denn sie kommen nicht jedem Körper zu. Sie bezeichnen seine Seele. Die Seele ist das Lebensprinzip bei allen Lebewesen; sie hat einen Stufenaufbau. Mit den Tieren verbinden den Menschen vier Stufen oder Seelenpotenzen. Es sind die vegetative (pflanzliche), die sensitive (Sinnesempfindungen), die appetitive (das instinktive Streben) und die motible (Ortsveränderung). Die menschliche Seele zeichnet sich jedoch durch ihr intellektives, rein geistiges Vermögen aus, das Denken und freies Wollen umfasst (vgl. Hirschberger I, 1979, 510f.). Das Denken beinhaltet auch die Fähigkeit, sich auf sich selbst zurückbeugen zu können, d. h. die Fähigkeit der Reflexion. Sie ist nicht an die Sinnlichkeit gebunden, sondern hat ihr gegenüber eine Selbständigkeit. Diese „Geistseele“ ist etwas selbständig Existierendes, sie ist eine Substanz. Aus diesem Grund ist sie auch unsterblich. Bemerkenswert sind die Ausführungen von Thomas zur Entstehung des einzelnen Menschen, die eine Embryologie einschließen. Die Entwicklungsstufen stellen sich wie folgt dar (vgl. Hirschberger I, 1979, 513f.): Den Ausgangspunkt bildet das „Mutterblut“. Durch Kombination einer Reihe von Faktoren, wie Gott, Himmelsgeister, die Sonne und das Sperma des Vaters, wird das Mutterblut zu einem Lebewesen, das auf der Stufe des vegetativen Lebens steht, ohne jedoch einer bestimmten Pflanze zugeordnet werden zu können. Danach beginnt es Lebensfunktionen auszuüben, wie Ernährung und Wachstum. Nach dem Erreichen einer bestimmten Gestalt erhält es die Stufe des animalischen Lebens, und zwar zunächst nur dem Sein nach; später auch aufgrund seiner Tätigkeiten der Sinneswahrnehmung und der Bewegung. Es gehört keiner spezifischen Tierart an. Erst nach einer weiteren Entwicklung des Embryos wächst dieser zur menschlichen Gestalt heran, und die bis dahin entstandene animalische Seele muss der menschlichen weichen. Die menschliche Vernunftseele wird von Gott für jedes Individuum eigens geschaffen und ihm zugeteilt. Jetzt gehört der ‚foetus‘ der Spezies Mensch an. Auch hier geht das Sein dem Handeln voran. Der Foetus hat nur das Vermögen vegetativer und sensitiver Tätigkeit (homo actu primu). „Erst wenn das Kind zum Gebrauch der Vernunft gelangt ist, ist es auch lebenstätiger Mensch (homo actu secundo)“ (ebd. 514). Der Mensch durchläuft also die drei von Aristoteles bezeichneten Lebensstufen: Pflanze, Tier, Mensch. Die markantesten Kennzeichen dieses Konzeptes bestehen darin, dass es, im Anschluss an Aristoteles, die Entwicklung des Menschen von der Zeugung bis ins Kindesalter als einen natürlichen Prozess beschreibt. Von Bedeutung ist auch der Gedanke, die Schöpfung nicht als einen mit dem Anfang der Welt abgeschlossenen Akt anzusehen, sondern als eine fortdauernde Schöpfung, eine ‚creatio continua‘. Dazu gehört auch der Ansatz einer Sukzessivbeseelung, die die Beseelung als einen nach und nach sich ereignenden Vorgang ansieht, im Unterschied zu dem der Simultanbeseelung, der davon ausgeht, dass dem Menschen von Anfang an eine menschliche Seele zukomme. Auch in seiner Ethik schließt sich Thomas direkt an die Philosophie von Aristoteles an. Dessen Aussage, mit der die Nikomachische Ethik beginnt, man habe „mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt“ (Aristoteles, EN, 1094 a), geben
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den Rahmen, in dem sich die ethischen Überlegungen von Thomas bewegen (vgl. Text). Er zitiert die angeführte Stelle, wenn er das Gute als das bestimmt, „was alle begehren“. Der Mensch strebt von Natur aus das Gute an. Die Gebote der Natur bilden eine Ordnung der „natürlichen Neigungen“. Sie stellen ein Naturgesetz dar. Für Thomas gibt es drei Stufen dieser natürlichen Neigungen: Die erste besteht in dem Prinzip der Selbsterhaltung, die zweite in der Verbindung von Mann und Frau und in der Erzeugung und Aufzucht von Nachkommen. Erst die dritte Stufe umfasst das spezifisch Menschliche. Sie besteht in der Erkenntnis der Wahrheit Gottes und in dem Prinzip des Zusammenlebens in einer Gesellschaft. Die menschliche Gesellschaft unterscheidet er dabei eindeutig von jeder tierischen, und man kann nur vermuten, dass er sich dabei von denselben Kriterien leiten lässt wie Platon und Aristoteles, die die politische Ordnung als eine Rechtsordnung interpretierten, die es im Tierreich nicht gibt. Doch auch das Streben nach der Erkenntnis der Wahrheit Gottes entspricht ganz dem aristotelischen Ansatz, für den die theoretische Lebensweise durch die Erkenntnis des Göttlichen bestimmt war. Wenn aber der Mensch von Natur aus nach dem Guten strebt, stellt sich die Frage nach dem Bösen. Thomas interpretiert es als einen Mangel. Er definiert das Böse so: „Wie unter dem Wort ‚gut‘ das Vollkommene verstanden wird, so unter dem Wort ‚böse‘ nichts anderes denn der Verlust des Vollkommenseins“ (Thomas von Aquin, 1946, 25). Diese Definition beinhaltet auch den Gedanken, dass das Gute seinem Wesen und seinem Ursprung nach dem Bösen vorangeht: „Wie das Gute von Natur früher ist als das Böse, das seinen Verlust bedeutet, so sind auch die Regungen der Seele, deren Gegenstand das Gute ist, von Natur früher als die Regungen, deren Gegenstand das Böse ist, und die deshalb aus jenen entspringen. Und darum haben Haß und Traurigkeit ihre Ursache in einer Liebe, einem Verlangen, einer Lust“ (ebd. 29). Das Böse ist ein irregeleitetes Streben nach einem Guten. Das bedeutet: „Alles Böse wurzelt in einem Guten“ (ebd. 30). Aber Thomas geht noch einen Schritt weiter. Er sagt: „Wenn das Böse gänzlich von der Wirklichkeit ausgeschlossen würde, so bedeutete das, daß auch viel Gutes aufgehoben würde. Es liegt also nicht in der Meinung der göttlichen Vorsehung, das Böse völlig von der Wirklichkeit auszuschließen, vielmehr das Böse, das hervortritt, auf ein Gutes hinzuordnen“ (ebd. 31f.). Das allerdings ist die Sicht der Dinge aus der Perspektive Gottes. Für den Menschen gilt das Gebot: „Das Böse ist auf jegliche Weise zu meiden; darum darf man auf keine Weise Böses tun, damit daraus etwas Gutes erwachse“ (ebd. 29). Warum aber gibt es überhaupt böse Handlungen? Die Antwort von Thomas ist die, die bereits Platon und Aristoteles gegeben haben. Es ist die „Unwissenheit der Vernunft“, die den Menschen veranlasst, statt des erstrebten Guten ein Böses oder Sündhaftes zu tun. Das Streben nach dem Guten ist aber nicht zu verstehen als eine Determination. Thomas legt großen Wert auf die Betonung der Freiheit des Menschen. Gott ist die erste Ursache der Welt; aber damit sind nicht alle weiteren Folgen und Ursachen determiniert. Es gibt vielmehr den eigenen Bereich der Zweitursachen. Hier hat die menschliche Freiheit ihren Ort. Thomas bemerkt: „Gott bewegt alle Wesen gemäß ihrer Weise. Und darum haben an der Bewegung durch Gott einige Wesen auf die Weise der Notwendigkeit teil, die geistbegabte Natur aber auf die Weise der Freiheit“ (ebd. 115). Die
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„geistbegabte Natur“ ist die des Menschen. Die Freiheit richtet sich darauf, für das angestrebte Ziel die geeigneten Mittel zu wählen. Allerdings, auch hier kann sich der Mensch irren und statt der guten Mittel böse wählen. Das führt zu einer entscheidenden Konsequenz: „Sich für das Böse entscheiden können, gehört nicht zum Wesen des freien Willens; es folgt jedoch aus dem freien Willen, sofern dieser in einem geschaffenen Wesen wohnt, das also des Versagens fähig ist“ (ebd. 62). Das bedeutet umgekehrt: „Wo immer geistige Erkenntnis ist, da ist auch freier Wille“ (ebd.). In seiner Staatsphilosophie betont Thomas die Unterordnung der weltlichen Obrigkeit unter die geistliche. Das kreationistische Credo von Thomas lautet: Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes, dessen natürliches Streben nach dem Guten durch die Gnade vollendet wird. Die Wirkungsgeschichte von Thomas ist bedeutend. Für die katholische Kirche stellt er nach wie vor die entscheidende Lehrautorität dar. Die von ihm gesuchte Nähe zu den Wissenschaften führte dazu, auch weiterhin wissenschaftliche Erkenntnisse mit den Glaubenswahrheiten als vereinbar zu betrachten. Das gelang nicht immer. So bekämpfte die katholische Kirche entscheidende neuzeitliche naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Trotzdem weist Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Fides et Ratio aus dem Jahre 1998 erneut auf die zentrale Bedeutung des „hl. Thomas“ hin. Ihm komme „das große Verdienst zu, daß er die Harmonie, die zwischen Vernunft und Glaube besteht, in den Vordergrund gerückt hat“ (Papst Johannes Paul II, 1998, 46). Er betont, allerdings nicht ohne eine gewisse Einschränkung: „Die Bezugnahme auf die Naturwissenschaften ist in vielen Fällen nützlich“ (ebd. 71).
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Dualismus und Monismus
III.
Dualistische Konzepte
Die Erfahrung, dass sich die Welt in Gegensätzen darstellt, bestimmt das menschliche Denken seit seinen frühesten Anfängen: Stadt – Land, Hochzeit – Streit, Arbeit – Genuss (Homer); Männliches – Weibliches, Licht – Finsternis, Gutes – Böses (Pythagoras) und Gesundheit – Krankheit, Leben – Tod, Ruhe – Bewegung (Heraklit) wären dafür Beispiele. Aber es ist vor allem ein Gegensatz, der das Denken in besonderer Weise herausgefordert hat: der von ‚psyche und soma‘. Der Grund für seine Bedeutung ist wohl darin zu sehen, dass er wie kein anderer geeignet war, die menschliche Situation in einem prinzipiellen Sinne zu deuten und den Menschen zu definieren. Seine besondere Auszeichnung zeigt sich darin, dass er bis heute Teil nicht nur der Alltagssprache ist – im Deutschen als Leib und Seele – sondern sich auch innerhalb der Wissenschaftssprache eingebürgert hat. Die psychosomatische Medizin ist ein etablierter Bereich unseres Gesundheitswesens. Eine erste begriffliche Entfaltung erfuhr dieses Konzept bei Platon, und lange Zeit wurde die platonische Philosophie im Ganzen unter diesem Vorzeichen interpretiert. Inzwischen wissen wir etwas genauer, dass dieses anthropologische Modell für Platon nur eines von mehreren, wenn auch ein sehr wichtiges, darstellte. Weniger bekannt ist, dass bereits das platonische Konzept eine bedeutungsvolle Vorgeschichte hat. Sie beginnt bei Homer. Auch er verwendet die Begriffe ‚psyche‘ und ‚soma‘, aber in einem völlig anderen Sinn. ‚Soma‘ ist nicht der lebendige Leib, sondern der Leichnam und ‚psyche‘ nicht die lebendige Seele, sondern das verkleinerte Abbild des Menschen, das diesen bei seinem Tode verlässt, um im Hades ein elendes, schattenhaftes Dasein zu führen. Das Gegensatzpaar von ‚psyche‘ und ‚soma‘ im Sinne Homers war nicht geeignet, zu einem anthropologischen Leitfaden zu werden (vgl. Kap. I, 1). Damit dies geschehen konnte, war ein wichtiger Zwischenschritt notwendig, und der erfolgte durch Pythagoras. Unter dem Einfluss von Mysterienreligion und Orphik, d. h. früher mythologischer Dichtung, vertrat er die Lehre von der Seelenwanderung. Sie umfasste den Gedanken der Unsterblichkeit der Seele und ihrer Reinkarnation in anderen Lebewesen. Dazu gehörte auch der Versuch der ‚Erinnerung‘ an das frühere Leben, das die „Seele einmal, bevor sie in ihrem heutigen Leibe gefesselt wurde, geführt habe“ (Mansfeld, 1987, 173).
III. Dualistische Konzepte
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Erst mit Pythagoras wird ‚soma‘ zum lebendigen Leib und die ‚psyche‘ erhält die Rolle der bewussten Lebensführung. Es ist der Gedanke der Reinkarnation, der nun eine besondere Aufmerksamkeit auf die Lebensführung lenkt, sofern nämlich der Zugang zum neuen Leben nach Verdienst im alten erfolgt. Das Verhältnis von ‚psyche‘ und ‚soma‘ bekommt damit anthropologische und ethische Relevanz. Das geschieht bei Platon, der sich explizit auf pythagoreische Lehren bezieht. Das Gegensatzpaar erhält bei Descartes die Namen ‚Körper und Geist‘, bei Leibniz ‚Körper und Seele‘ und bei Kant ‚mundus sensibilis‘ und ‚mundus intelligibilis‘ bzw. ‚Sinnlichkeit und Verstand‘. Der entscheidende philosophische Streit entzündete sich aber nicht an den Namen, sondern an der Frage, wie dieses Verhältnis zu denken sei. Es ist vor allem die nach der Verbindung oder Vermittlung beider Bereiche. Während Descartes ein besonderes Organ im Gehirn des Menschen dafür verantwortlich macht, setzt Leibniz auf die von Gott eingerichtete ‚prästabilierte Harmonie‘ von Körper und Seele (vgl. Kap. IX, 1). Kant nimmt zunächst zwei getrennte Perspektiven an, behauptet schließlich aber die Möglichkeit, dass die ‚Vernunft‘ (das Intelligible) selbst im Menschen ein ‚Gefühl‘ (das Sensible) der ‚Achtung‘ ihr gegenüber erwirken könne.
1. Psyche und Soma (Platon) „Laßt uns nun (. . .) zu uns selbst aber sagen, ob wir wohl glauben, daß der Tod etwas sei? – Allerdings, fiel Simmias ein. – Und wohl etwas anderes als die Trennung der Seele von dem Leibe? Und daß das heiße tot sein, wenn abgesondert von der Seele der Leib für sich allein ist und auch die Seele abgesondert von dem Leibe für sich allein ist. Oder sollte wohl der Tod etwas anderes sein als dieses? – Nein, sondern eben dieses. – (. . .) Scheint dir, daß es sich für einen philosophischen Mann gehöre, sich Mühe zu geben um die sogenannten Lüste, wie um die am Essen und Trinken? (...) Oder um die aus dem Geschlechtstriebe? – Keineswegs. – Und die übrige Besorgung des Leibes, glaubst du, daß ein solcher sie groß achte? (. . .) Verachten, dünkt mich wenigstens, wird es der wahrhafte Philosoph. Dünkt dich also nicht überhaupt eines solchen ganze Beschäftigung nicht um den Leib zu sein, sondern soweit nur möglich von ihm abgekehrt und der Seele zugewandt? – Das dünkt mich. – Also hierin zuerst zeigt sich der Philosoph als ablösend seine Seele von der Gemeinschaft mit dem Leibe vor den übrigen Menschen allen? – Offenbar. (. . .)“ (Platon: Phaidon, 64 b–65 a).
Platon wird 428/27 v. Chr. in Athen geboren. Seit 407 v. Chr. ist er Schüler von Sokrates. Nach dessen Hinrichtung im Jahre 399 reist er nach Megara zu Euklid und studiert dessen Mathematik. 389 reist er nach Syrakus, Sizilien, vielleicht auch nach Ägypten und Kyrene. In Italien bekommt er Kontakt mit dem Pythagoreer Archytas von Tarent. 387 gründet er die Akademie, eine philosophische Schule in einem Hain außerhalb Athens. 367 und 361 erfolgen zwei weitere Reisen nach Sizilien, auf denen er vergeblich versucht, die Tyrannen Dionysios I. und II. von dem Konzept eines auf philosophischen Prinzipien gegründeten Staates zu überzeugen. Er stirbt im Jahre 347 v. Chr. in Athen (vgl. Martin, 1983; Pleger, 2009).
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III. Dualistische Konzepte
Die traditionelle Unterscheidung von ‚psyche und soma‘, wie sie von Homer her in das griechische Leben eingedrungen ist, spielt auch im Werk Platons eine zentrale Rolle. Bemerkenswert ist jedoch, dass Platon im Laufe seines Schaffens zahlreiche Umdeutungen vornimmt. So ist ihre Interpretation in seinem Frühwerk, dem auch die Apologie angehört, eine andere als in seinen mittleren Schriften, etwa dem Phaidon. Es ist eine immer wieder diskutierte Frage, inwieweit die in der Apologie mitgeteilte Rede auf Sokrates selbst zurückgeht und inwieweit sie das Werk Platons ist. Die Ausführungen zu dem Verhältnis von ‚psyche und soma‘ bieten für ihre Beantwortung einen bemerkenswerten Hinweis. In der Darstellung seiner Lebensweise betont Sokrates, dass er seine Mitbürger davon zu überzeugen suche, nicht als erstes an den „Leib“ zu denken, sondern vielmehr an die „Seele, daß diese aufs Beste gedeihe“ (Apologie, 30 b). Die Unterscheidung von Leib und Seele setzt er dabei als selbstverständlich voraus. Sein vielleicht nicht selbstverständliches Plädoyer betrifft die These, dass die „Sorge für die Seele“ (epimeleia tes psyches) einen absoluten Vorrang habe vor dem leiblichen Wohl. Während derjenige, der den Leib im Blick habe, sich um die Vermehrung seines Geldes bemühe und um ‚Ruhm und Ehre‘, sorge sich derjenige, der sich vor allem um die Seele kümmere, um Einsicht, um die Erkenntnis der Wahrheit und um die Tüchtigkeit (Tugend) der Seele. Ziel sei ihre ‚beste Verfassung‘, und dazu gehöre vor allem die Gerechtigkeit. Im Vergleich zu Homer wird dabei zweierlei deutlich: zum einen, dass die bei ihm anzutreffende geringe Wertschätzung der Seele bereits überwunden wurde und zum anderen, dass ‚soma‘ nun nicht mehr ‚Leichnam‘ bedeutet, sondern ‚lebendiger Leib‘. Die eigentümliche Stellung, die Sokrates hier zwischen Homer und den späteren Schriften Platons einnimmt, zeigt sich in der Frage der Beurteilung des Todes. Sokrates vertritt einen bemerkenswerten Agnostizismus. Er argumentiert so: Wir wissen nicht, was uns nach dem Tod erwartet. Denkbar sind zwei Möglichkeiten: Entweder ist der Tod wie ein langer, traumloser Schlaf, und dann ist das ein Zustand, der im Vergleich zu dem Schlaf in der Lebenszeit, der oftmals durch aufreizende und beunruhigende Träume bestimmt ist, nicht zu fürchten ist. Gibt es aber tatsächlich den Hades mit seinem Totengericht, in dem jeder nach dem Maßstab der Gerechtigkeit gerichtet wird, so hat ein gerechter Mann ebenfalls nichts zu fürchten; im Gegenteil: Er bekommt nun die Gelegenheit, mit all den verstorbenen, berühmten Männern zusammenzutreffen und sich mit ihnen zu unterhalten. So oder so, ein gerechter Mensch hat den Tod nicht zu fürchten. Und schließlich steht für Sokrates nicht einmal fest, ob den Toten gegenüber den Lebenden nicht sogar das bessere Los zuteil wird (ebd. 42 a). Es gibt in der Apologie nicht einen einzigen Anhaltspunkt für einen Unsterblichkeitsbeweis der Seele, wie ihn Platon im Phaidon entwickelt. Es ist aber nicht anzunehmen, dass Platon seinem Lehrer Ansichten in den Mund legt, die weder dieser noch er selbst vertreten hat. Daher spricht sehr viel für die Annahme, dass Sokrates tatsächlich eine agnostische Haltung eingenommen hat (vgl. Pleger, 1998, 78). Die Argumentation ändert sich im Dialog Phaidon völlig. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass Platon in der Zwischenzeit auf seinen Reisen nach Süditalien die Lehren des Pythagoras kennenlernte. Sie betrafen die Musik und Mechanik, Arithmetik und Geometrie, vor allem aber den Gedanken der Unsterblichkeit der Seele. Zweifellos hat
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dabei seine Begegnung mit Archytas von Tarent, mit dem er in Unteritalien zusammentraf, eine große Rolle gespielt. Der Dialog Phaidon hat als Ausgangspunkt den letzten Tag im Leben von Sokrates, den Tag seiner Hinrichtung Er hat darin seinen historischen Bezug. Tatsächlich aber gibt diese lebensweltliche Situierung Platon die Gelegenheit, seine eigenen Ansichten über das Verhältnis von ‚psyche und soma‘ darzustellen. Nichts davon geht auf den historischen Sokrates zurück (vgl. ebd. 100ff.). Der platonische Sokrates stellt zu Beginn des Dialogs die These auf: Derjenige, der sich auf die rechte Art mit der Philosophie befasst, hat kein anderes Ziel als zu sterben und tot zu sein (Phaidon, 64 a). Philosophie ist demnach eine Kunst, das Sterben zu lernen. Die Begründung für diese These sieht er in der Definition des Todes: Der Tod ist die Trennung von Leib und Seele. Diese Trennung ist wünschenswert, denn durch sie wird die Seele von all den Widrigkeiten des Leibes befreit und ist nun ganz bei sich selbst. Worin bestehen diese Widrigkeiten? Es sind „tausenderlei Übel“: Hunger, Krankheit, sexuelle Gelüste, Begierden allgemein, Furcht und Krieg u. v. a. m. Die Seele hat es dagegen mit dem Denken zu tun, mit der Erkenntnis der Wahrheit, mit dem Schönen selbst, mit der Gerechtigkeit selbst, kurz, mit der Idee des Guten. Und indem sie sich ganz auf diese Bereiche konzentriert, reinigt sie sich von all dem „Schmutz“, der sie durch die Berührung mit dem Leib verunreinigt. Deshalb heißt Philosophieren „Sterben lernen“. Aber der Philosoph ist vor anderen Menschen dadurch ausgezeichnet, dass er bereits zu seinen Lebzeiten diese Trennung erreichen kann. Dies geschieht dadurch, dass er sich sein Leben lang auf den Bereich des Denkens konzentriert und alles Leibliche verachtet und meidet. Aber ist das möglich? Es ist möglich, wenn der Nachweis gelingt, dass die Seele wirklich eine unabhängig vom Leibe existierende Einheit des Seins darstellt. Und dieser Nachweis ist dann erbracht, wenn gezeigt werden kann, dass die Seele auch ohne den Leib, d. h. auch nach ihrer Trennung von ihr im Tode, weiterbesteht. M. a. W. der Beweis der Unsterblichkeit der Seele eröffnet nicht nur dieser eine Fortexistenz über den Tod hinaus, sondern hat bereits für den Lebenden die Bedeutung des Nachweises der Selbständigkeit und Autonomie der Seele. Beide Aspekte sind bei den nun folgenden Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele zu beachten. Genau genommen handelt es sich jedoch nicht um Beweise, sondern um Argumente, denn selbst der platonische Sokrates verleiht ihnen keine letzte Beweiskraft. Sokrates entwickelt insgesamt vier Argumente für die Unsterblichkeit der Seele und widerlegt zwei Einwände seiner Gesprächspartner Simmias und Kebes, die beide Pythagoreer sind. Der erste Argumentationsgang schließt an eine Frage an, die Kebes vorbringt: Könnte es nicht sein, dass sich die Seele beim Tode nicht nur vom Leibe trennt, sondern anschließend sich auflöst „wie ein Hauch oder Rauch“ und dann „zerstoben ist und verflogen und nirgends mehr ist“ (ebd. 70 a)? Gegen dieses Argument stellt Sokrates eine „alte Lehre“, nach der die Seele der Verstorbenen in den Hades eingeht, aber von dort auch wieder zurückkehrt und wiedergeboren wird. Und diesem Kreislauf von Leben und Tod entspricht ein universales Prinzip der Natur. Überall verwandelt sich das Eine in sein Gegenteil: Das vorher Größere wird ein Kleineres, das Stärkere ein Schwächeres, das Bessere ein Schlechteres u. v. a. m. Diese Umwandlungen finden stets in beide Rich-
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tungen statt. Und daher müssen wir annehmen, dass nicht nur das Leben in den Tod übergeht, sondern dass umgekehrt, das Tote in das Lebende sich verwandelt, d. h. dass dem Sterben einerseits, ein „Aufleben“ (ebd. 71 e) andererseits entsprechen muss. Denn gäbe es nur die eine Richtung, dann wäre schließlich alles tot. Es handelt sich um ein naturphilosophisches Argument, das an die Lehre eines Anaximander und eines Heraklit anschließt. Das zweite Argument thematisiert die Anamnesislehre, die Platon in seinem Dialog Menon eingeführt hatte. Nach ihr bedeutet alles Lernen nur Wiedererinnerung eines vorgeburtlichen Wissens. Erläutert wird dieser Gedanke an folgendem Problem: Wie können wir die Frage beantworten, ob zwei Dinge gleich groß sind, wenn wir nicht wissen, was überhaupt das Gleich-Sein bedeutet und was Groß-Sein? Die Idee der Gleichheit und die der Größe setzen wir immer schon voraus. Wir können die Gleichheit zweier Gegenstände nicht aus der sinnlichen Erscheinung der Gegenstände selbst ableiten, weder aus jedem Einzelnen, noch aus beiden zusammen. Bei der Idee der Gleichheit wie der Größe handelt es sich um ein Wissen, das wir auf sinnliche Gegenstände beziehen, aber nicht von ihnen ablesen. Wenn wir dieses Wissen nicht aus dem Umgang mit den sinnlichen Gegenständen gewonnen haben können, müssen wir es schon bei der Geburt mitgebracht haben, und das heißt, es gibt ein Wissen, über das die Seele bereits vor ihrer Geburt verfügt. Das bedeutet aber auch, dass die Seele vor der Geburt des Menschen, dem sie zugehört, existierte. Aber wie steht es mit ihrer Fortexistenz nach dem Tode? Um diese Frage zu beantworten, wird ein weiterer Argumentationsgang nötig. Das Kriterium, das nun eingeführt wird, besteht in der Unterscheidung des Zusammengesetzten von dem Einfachen. Zweifellos sind die sichtbaren Dinge, d. h. die, die man mit den Sinnen wahrnimmt, zusammengesetzt: also „Menschen, Pferde, Kleider“ u .ä. Diese ändern sich fortwährend. Die unsichtbaren Dinge dagegen gehören einem Bereich an, der sich nicht ändert, sondern sich gleich bleibt. Die unsichtbaren Dinge erschließen sich nur dem Denken. Zu ihnen gehört das Vernünftige, Einfache, Unsterbliche, Göttliche, Unauflösliche. Der Leib gehört zweifellos dem Bereich des Sinnlichen, Zusammengesetzten und Veränderlichen an; die Seele dagegen dem Einfachen und Unveränderlichen. Sie ist daher dem Unveränderlichen, Göttlichen und Unsterblichen „ähnlich“; und wenn es so ist, kommt es ihr dann nicht zu – so das Argument von Sokrates – „ganz und gar unauflöslich zu sein oder wenigstens beinahe so?“ (ebd. 80 b). Alles Zusammengesetzte löst sich auf und vergeht, das Einfache ist dagegen unauflöslich, unvergänglich, unsterblich. Also ist die Seele, die einfach ist, unsterblich. Die Seele, die sich schon in der Zeit ihrer Verbindung mit dem Leibe von diesem gelöst hat, gelangt nach dem Tode zu dem ihr Ähnlichen, um dort „glückselig zu sein“ (ebd. 81 a). Die Seelen aber, die sich zu sehr mit dem Leiblichen eingelassen haben, mit ihm „gleichsam zusammengewachsen“ sind, sind gezwungen, nach ihrer Wiedergeburt sich mit einem neuen Leib zu verbinden, in dem die ehedem gepflegten Lüste vorherrschen, mit einem „Esel“, einem „Wolf“, einem „Habicht“ oder einem „Geier“. Der vierte Argumentationsgang antwortet auf zwei Einwände. Der erste betrifft die Frage der Autonomie der Seele gegenüber dem Leib. Ist es nicht denkbar, so der Einwand, dass sich das Verhältnis von Leib und Seele so verhält, wie das der Leier zu der von ihr erzeugten Stimmung? Danach wäre die Seele die Stimmung des Leibes und
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brächte diese zum Ausdruck. Doch gegen diesen Einwand sprechen zwei Argumente. Zum einen entsteht die Seele nicht, so wie bei der Leier, erst nach dem Körper. Das ist das gemeinsam akzeptierte Ergebnis der Anamnesislehre. Zum anderen aber ist die Seele nicht vom Leib so abhängig wie die Stimmung der Leier von ihrer Bauweise; vielmehr beherrscht die Seele den Leib. Der zweite Einwand wird ebenfalls in der Form eines Bildes vorgetragen. Seele und Leib könnten sich verhalten wie der Weber zu den von ihm gewebten Kleidern. Im Laufe seines Lebens verfertigt er viele und trägt sie auf. Schließlich aber stirbt er und das letzte von ihm gewebte überdauert ihn sogar noch eine Weile, bis es schließlich auch zerfällt. So könnte die Seele im Laufe einer langen Zeit mehrere Körper bewohnen, schließlich aber doch sterben. Gegen diesen Einwand wird das Konzept der Ideen zur Geltung gebracht. Es gibt nicht nur Ideen, wie etwa die bereits angesprochenen der Gleichheit oder der Größe, sondern eine Vielzahl weiterer. Einige von ihnen sind miteinander „verflochten“ (symploke) und gehen eine unlösbare Verbindung ein, so die Idee des Schnees mit der der Kälte oder die Idee der Zahl ‚Drei‘ mit der des Ungeraden. Ebenso wenig wie es warmen Schnee geben kann, gibt es eine gerade Drei. Dasselbe betrifft nun das Verhältnis der Idee der Seele mit der des Lebens. Seele und Leben bilden eine unlösbare Ideenverflechtung. Da aber Tod und Leben unversöhnliche Gegensätze bilden, kann auch die Seele sich niemals mit dem Tod verbinden. Stirbt also der Leib, so verlässt die unsterbliche Seele nur diesen Ort, ohne selbst zu sterben. Gleichwohl betont Sokrates noch einmal ausdrücklich, dass angesichts der Schwere der Fragestellung alle vorgetragenen Argumente einer weiterhin sehr sorgfältigen Überprüfung bedürften. Vollends unsicher aber sei das weitere Schicksal der Seele nach ihrer Trennung von dem Leibe. Zwar gibt es darüber einen Mythos zu erzählen, aber dieser ist, wie alle Mythen, ohne Beweiskraft. An ihn zu glauben ist vielmehr „ein schönes Wagnis“ (ebd. 114 d). Das von Platon im Phaidon vorgetragene anthropologische Modell hat entscheidende Auswirkungen auf die Ethik. Dabei ist die Einschätzung des Leibes von großer Bedeutung. Der Hauptpunkt der Kritik besteht darin, dass die Sinne als Organe des Leibes keine verlässliche Erkenntnis liefern. Die Verlässlichkeit der Erkenntnis besteht darin, dass es sich um eine bleibende handelt, und eine bleibende Erkenntnis, so die Argumentation, gibt es nur vom Bleibenden, d. h. von dem Sein. Das Sein repräsentiert die Wahrheit und mit ihr hat es das Denken zu tun. Die Sinne als Organe des Leibes sind wie dieser veränderlich. Daher täuschen sie, sie sind trügerisch und vermitteln das Falsche. Das hat Konsequenzen für das Handeln. So hält der Leib die Befriedigung der Lust für das Gute und verkennt dabei ihren trügerischen Charakter, da sie nicht nur veränderlich ist und in ihrer Größe falsch eingeschätzt wird, sondern vielfach auch für den Menschen überhaupt verderblich ist. Die Konsequenz, die der ‚Philosoph‘ daraus zieht, besteht in zweierlei: Zunächst einmal wird er dem Leib so wenig Beachtung schenken wie nur irgend möglich und sich stattdessen den Aufgaben der Seele zuwenden, und die bestehen vor allem im Denken; zum anderen aber wird er sich nicht wie die Stimmung einer Leier von seinem Leib bestimmen lassen, sondern umgekehrt ihn beherrschen. Die dafür erforderliche Tugend ist die Selbstbeherrschung. Die Selbstbeherrschung gewährt der Seele die
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Autonomie, die nötig ist, um dem, was wahrhaft, d. h. bleibend gut ist, folgen zu können. Das anthropologische Modell im Phaidon ist in der Philosophie Platons nur eines von mehreren. So gibt er in der Politeia das Konzept der Einfachheit der Seele auf und setzt an ihre Stelle drei Seelenteile (Pleger, 2009, 115) und im Timaios entwickelt er am Leitfaden eines Panpsychismus’ Ansätze zu einem Mikrokosmos-Makrokosmos-Modell. Platons Leib-Seele-Dualismus stellt innerhalb seiner Philosophie eine extreme Position dar. In keinem Werk sonst ist die Leibfeindlichkeit so drastisch artikuliert. Gleichwohl wird Platons Philosophie gerade mit diesem Modell aufs engste verbunden. Verloren geht dabei möglicherweise auch eine nach wie vor im Phaidon enthaltene Einsicht. Sie besteht darin, dass Leib und Seele sich nicht einfach auf zwei Bereiche verteilen lassen, die nichts miteinander zu tun haben, sondern beide in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander stehen. Für Platon besteht die Verbindung zum einen darin, dass die Seele, die sich zu sehr auf die Bedürfnisse des Leibes einlässt, von diesem affiziert wird. Wichtiger aber ist ein anderer Gedanke: Platon interpretiert die Seele als die Instanz, die in der Lage ist, den Leib zu beherrschen. In ihr gründet sein Konzept der Selbstbeherrschung. Im Hinblick auf den dualistischen Ansatz lässt sich daher Folgendes feststellen: Der Dualismus wird von Platon nicht streng durchgehalten. Es gibt zwischen beiden Bereichen Berührungspunkte, gegenseitige Beeinflussungen und Vermittlungen. Durch sie bekommen ethische Fragen erst eine Bedeutung. Die ethische Devise für den ‚Philosophen‘, die im Phaidon entworfen wird, sich von den Bedürfnissen des Leibes möglichst wenig beeinflussen zu lassen, wird in Platons späteren Schriften durch den Gedanken ersetzt, sich nicht nur um die Seele zu sorgen, sondern in angemessener Weise auch um den Leib. Die Wirkungsgeschichte Platons verbindet sich jedoch in besonderer Weise mit dem Leib-Seele-Dualismus, wie er im Phaidon vertreten wird. Das beginnt mit der Transformation seines Ansatzes im Neuplatonismus und setzt sich vor allem in der Übernahme der griechischen Philosophie durch das Christentum fort. Die Leibfeindlichkeit wird zu einem festen Bestandteil des christlichen Denkens. In einer sarkastischen Zuspitzung bezeichnet Nietzsche das Christentum als „Platonismus fürs ‚Volk‘“ (Nietzsche II, 566). Das bedeutet, dass der philosophische Hintergrund des Platonismus, gar nicht zu reden von Platon selbst, vergessen und auf einen einfachen Dualismus von Diesseits und Jenseits umgebogen wird. Die Einsicht, dass die platonische Philosophie im Platonismus nicht nur vergröbert, sondern in weiten Teilen auch verfälscht wurde, geht dabei verloren.
2. Körper und Geist (Descartes) „Nun, erstens bemerke ich hier, daß zwischen Geist und Körper insofern ein großer Unterschied besteht, als der Körper seiner Natur nach stets teilbar, der Geist hingegen durchaus unteilbar ist. Denn, in der Tat, wenn ich diesen betrachte, d. h. mich selbst, insofern ich nur ein denkendes Wesen bin, so kann ich in mir keine Teile unterscheiden, sondern erkenne mich als ein durchaus einheitliches und ganzes Ding. Und wenngleich der ganze Geist mit dem ganzen Körper verbunden zu sein scheint, so erkenne ich doch, daß, wenn man den Fuß oder den Arm oder irgendeinen anderen Körperteil abschneidet,
2. Körper und Geist (Descartes)
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darum nichts vom Geiste weggenommen ist. Auch darf man nicht die Fähigkeiten des Wollens, Empfindens, Erkennens usw. als seine Teile bezeichnen, ist es doch ein und derselbe Geist, der will, empfindet und erkennt. Im Gegenteil aber kann ich mir kein körperliches, d. h. ausgedehntes Ding denken, das ich nicht in Gedanken unschwer in Teile teilen und ebendadurch als teilbar erkennen könnte, und das allein würde hinreichen, mich zu lehren, daß der Geist vom Körper gänzlich verschieden ist, wenn ich es noch nicht anderswoher zur Genüge wüßte.“ (R. Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg 1977, 153ff.).
René Descartes wird 1596 in La Haye in der Touraine geboren. 1604–1612 besucht er das jesuitische Collège Royale in La Flèche (Anjou). 1616 erwirbt er das Baccalaureat und Lizenziat der Rechte an der Fakultät zu Poitiers. Nach einer militärischen Ausbildung in Holland meldet er sich 1620 als Freiwilliger zum Kriegsdienst in den bayerischen Truppen und nimmt unter Tilly an einigen der ersten Feldzüge des Dreißigjährigen Krieges teil. 1628 emigriert er in die Niederlande. 1632 bekommt er Kontakt zu Constatin Huygens, dem Sekretär des Prinzen von Oranien. 1647 beginnt sein Briefwechsel mit der Königin Christine von Schweden, und 1649 folgt er ihrer Einladung nach Stockholm. Dort stirbt er 1650. Die Kirche setzt seine Schriften 1663 auf den ‚Index Romanus‘ (vgl. Schultz, 2001). René Descartes lebte in einer Zeit geschichtlicher Umbrüche. Zwei von ihnen verdienen eine besondere Erwähnung. Der eine hat seinen Ausgangspunkt in theologischen Fragen, nimmt aber bald allgemeine politische Dimensionen an und weitet sich zu einem geschichtlichen Ereignis größter Tragweite aus. Es handelt sich um die Spaltung der Einheit der Kirche in zwei Glaubensrichtungen, die Europa erschüttert und im ‚Dreißigjährigen Krieg‘ ihren Höhepunkt findet. Descartes hat den 1648 abgeschlossenen Westfälischen Frieden nur um zwei Jahre überlebt. Der andere Umbruch hat das Selbstverständnis der Menschen nicht weniger erschüttert. Er betraf die Ersetzung des geozentrischen Weltbildes durch das heliozentrische. Galilei, der seit 1610 sich öffentlich zu dem heliozentrischen Weltsystem von Kopernikus bekannte, wurde 1633 von der Kirche gezwungen, „seinem Irrtum“ abzuschwören. Descartes, der das neue Weltbild übernahm, verzichtete nun darauf, seine Schrift Le monde, die diese Lehre enthielt, zu veröffentlichen. Bereits 1628 hatte er seinen Wohnsitz in das liberale Holland verlegt. Gleichwohl vermied er einen Bruch mit den Autoritäten der katholischen Kirche. Vielmehr suchte er in seinen Schriften deren Einverständnis zu erreichen. So widmete er seine Meditationen der theologischen Fakultät der Universität von Paris und bemühte sich darzulegen, dass sein Gottesbeweis in besonderer Weise geeignet sei, auch Nichtgläubige zu überzeugen. Tatsächlich aber war sein eigener philosophischer Ansatz, der zu einer Neubegründung nicht nur der Naturwissenschaften, sondern der Wissenschaften überhaupt führen sollte, mit der von der Kirche vertretenen aristotelisch-scholastischen Methode nicht zu vereinbaren. Descartes sah sich deshalb gezwungen, in seinen Formulierungen zu lavieren, und er bekannte sich auch gegenüber Freunden zu dem Wahlspruch: ‚larvatus prodeo‘, d. h. ich trete mit einer Maske auf. Aber der Konflikt mit der Institution der Kirche war nur die äußere Erscheinungsweise eines tiefer gehenden Konflikts, und der betraf das Selbstverständnis des Menschen in seinen Fundamenten.
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Descartes sah sich herausgefordert, diese Fundamente selbst neu zu legen. Die Metapher des Fundaments spielt daher in seiner Philosophie eine entscheidende Rolle. In dem Discours de la methode aus dem Jahre 1637 führt er als Beispiel an, „daß manch einer sein eigenes Haus abreißen läßt, um es wieder aufzubauen, und daß er manchmal sogar dazu gezwungen ist, wenn Gefahr droht, daß es von selbst einstürzt und seine Fundamente nicht ganz sicher sind“ (Descartes, 1990, 23). In dieser Situation aber sah Descartes sich und seine Zeitgenossen. Das Ziel seiner philosophischen Bemühungen war es, ein neues, unerschütterliches Fundament zu legen, ein „fundamentum inconcussum“. Auf ihm sollte ein neues tragfähiges wissenschaftliches Gebäude errichtet werden. Dieses Konzept umfasste auch eine neue Wissenschaft vom Menschen. Wenn man genau hinsieht, ergeben sich sogar zwei Argumentationslinien für die Anthropologie. Nach der einen darf Descartes als Begründer der Philosophie der Subjektivität angesehen werden (vgl. Kap. XII), nach der anderen als Repräsentant einer dualistischen Substanzmetaphysik. In der weiteren Geschichte bilden sie den Ausgangspunkt für zwei auseinanderlaufende Linien. Bei Descartes sind sie jedoch noch miteinander verbunden. Seine Theorie der Subjektivität mündet ein in eine dualistische Anthropologie. Die Schritte seines Denkens folgen dabei dem von ihm entworfenen Bild des Abrisses und des Neubaus eines Hauses. Genau genommen sind es drei Schritte: a) Abriss des alten Hauses, b) Freilegung bzw. Entdeckung eines tragfähigen Fundaments und c) Bau eines neues Hauses. Zunächst verabschiedet sich Descartes von dem tradierten Bücherwissen, d. h. von dem aristotelisch-scholastischen ‚Lehr-Gebäude‘ seiner Zeit, da er in ihm nur eine Ansammlung sich widersprechender Meinungen finden kann. Daher entschloss er sich, „kein anderes Wissen zu suchen, als was ich in mir selbst oder im großen Buche der Welt würde finden können“ (ebd. 17). Descartes beginnt mit dem ‚Buch der Welt‘. Das dadurch gewonnene Wissen ist zunächst das der sinnlichen Wahrnehmung. Doch die ist voller Täuschung. So erscheint der in der Ferne wahrgenommene Turm rund, aus der Nähe betrachtet viereckig (vgl. Descartes, 1977, 137). Und selbst die eigene Körperwahrnehmung, die beglaubigt wird durch das Betasten mit den Händen, ist trügerisch, denn sie ist im Traum genauso gegeben. Unabhängig von diesen sinnlich wahrnehmbaren Dingen sind jedoch die mathematischen Gegenstände der Arithmetik und der Geometrie. Doch abgesehen von der stets gegebenen Möglichkeit des Irrtums, ist der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, dass „irgendein böser Geist“ (ebd. 39) ihn stets täusche. Doch nun taucht der entscheidende Gedanke auf, der jede Skepsis überwindet und die Täuschungsversuche des „bösen Geistes“ ins Leere laufen lässt, denn „wenn er mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, daß ich bin. Er täusche mich, soviel er kann, niemals wird er doch fertigbringen, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei“ (ebd. 43). Daraus folgt, „daß dieser Satz: ‚Ich bin, ich existiere‘, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist“ (ebd. 45). Descartes folgt hier im Wesentlichen der Argumentation von Augustinus (vgl. Kap. II, 2). Die Leistungen des Ichs beinhalten nicht nur Denken und Sprechen. Ein ‚denkendes Wesen‘ ist vielmehr „ein Wesen, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will und das sich auch etwas bildlich vorstellt und empfindet“ (ebd. 51). Entscheidend ist aller-
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dings die Verbindung des Satzinhalts ‚ego cogito‘ mit dem Akt des Sprechens oder Denkens; denn nur im Akt des Denkens ist sich der Denkende seiner Existenz gewiss. Das räumt Descartes ein: „Denn vielleicht könnte es sogar geschehen, daß ich, wenn ich ganz aufhörte zu denken, alsbald auch aufhörte zu sein“ (ebd. 47). Bis zu diesem Schritt seiner Überlegungen bewegt sich Descartes in den Bahnen einer Philosophie der Subjektivität. Das Subjekt besteht in nichts anderem als in den Akten des Denkens. Doch nun macht er einen bemerkenswerten Sprung. Dieser Sprung vollzieht sich unauffällig in folgenden Sätzen: „Ich bin also genau nur ein denkendes Wesen, d. h. Geist, Seele, Verstand, Vernunft (. . .). Ich bin aber ein wahres und wahrhaft existierendes Ding, doch was für ein Ding? Nun, ich sagte es bereits – ein denkendes“ (ebd. 47ff.). Aus den episodischen, d. h. zeitlich befristeten, Akten des Denkens ist eine Substanz geworden, die als Substanz den Charakter des ‚Zugrundeliegenden‘ und ‚Bleibenden‘ hat. Aus dem denkenden Subjekt ist eine Denksubstanz geworden. Edmund Husserl, der selbst ein Repräsentant einer Philosophie der Subjektivität ist, kritisiert in seinen Pariser Vorträgen Descartes, der „mit der unscheinbaren, aber verhängnisvollen Wendung, die das ego zur substantia cogitans (. . .) macht“ (Hua I, 9), sich von dem Konzept der Subjektivität verabschiedet habe. Husserls Einwand lautet: Mit dem Begriff der ‚denkenden Substanz‘ ist bei Descartes der Gedanke verbunden, „ein kleines Endchen der Welt gerettet“ zu haben, wohingegen das Subjekt gerade dadurch ausgezeichnet ist, dass es seine Weltlosigkeit akzeptiert (vgl. Kap. XII, 2). Nachdem Descartes nun wieder in die Bahn der Metaphysik der Substanz eingebogen ist, geht es ihm im Folgende darum, von diesem unerschütterlichen ontologischen Fundament aus die Existenz der Welt, die in der konsequent angewendeten Methode des Zweifels verlorengegangen war, wiederzugewinnen, d. h. von dem kleinen „Endchen der Welt“ aus die ganze zu erschließen. Den Weg, auf dem er diesen Versuch unternimmt, geht er über den Gottesbeweis. Ähnlich wie Augustinus die „ungeheuren Räume seines Gedächtnisses“ durchmustert, geht Descartes vor. Er sagt: „Ich werde jetzt meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen und alle meine Sinne ablenken (. . .) mit mir allein will ich reden, tiefer in mich hineinblicken und so versuchen, mir mein Selbst nach und nach bekannter und vertrauter zu machen“ (Descartes, 1977, 61).
Dabei taucht eine Fülle von Vorstellungen auf, als deren Urheber er sich selbst annehmen darf. Allein bei der „Vorstellung Gottes“ verhält es sich anders. Sie bedeutet „eine Substanz, die unendlich, unabhängig, allwissend und allmächtig ist und von der ich selbst geschaffen bin ebenso wie alles andere Existierende, falls es solches gibt“ (ebd. 83). Das Attribut ‚unendlich‘ kann seinen Ursprung nicht in der Verneinung der Endlichkeit haben, die das denkende Ich als Merkmal seiner selbst kennt, vielmehr ist umgekehrt die Endlichkeit als Einschränkung und Mangel gegenüber der Unendlichkeit und Vollkommenheit zu verstehen, die mit der Vorstellung Gottes verbunden wird. Descartes betont: Es ist offensichtlich, „daß mehr Sachgehalt (realitas) in der unendlichen Substanz als in der endlichen enthalten ist und daß demnach der Begriff des Unendlichen dem des Endlichen, d.i. der Gottes dem meiner selbst gewissermaßen vorhergeht.“ (ebd.).
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Dieser Gottesbeweis folgt im Wesentlichen dem von Anselm von Canterbury. Für ihn folgt aus dem Begriff des ‚Größten‘ der Gedanke, dass nur das das ‚Größte‘ ist, dem auch Existenz zukommt, denn sonst fehlte ihm etwas und es gäbe etwas, das noch größer wäre. Der Schlüsselbegriff lautet bei Descartes ‚realitas‘, d. h. ‚Sachgehalt‘. Die Vorstellung Gottes meint einen ‚Sachgehalt‘ der Unendlichkeit und Vollkommenheit, die das denkende Ich, das schon aufgrund seiner Zweifel sich als mangelhaft, unvollkommen und endlich kennengelernt hat, nicht in sich enthalten kann. Für Descartes eröffnet sich mit seinem Beweis der Zugang zu den Gegenständen der Welt. Zwar sind Irrtum und unzureichende Erkenntnis für den Menschen auch weiterhin nicht ausgeschlossen, aber zumindest ist nach dem Beweis eines allmächtigen und gütigen Gottes die Macht des „genius malignus“, d. h. eines bösen Geistes, gebrochen (ebd. 99). Das denkende Subjekt darf sich vielmehr darin sicher sein, dass es dort, wo es Sachverhalte in einer solchen Klarheit und Unterschiedenheit vor sich sieht wie die beiden elementaren Gewissheiten, nämlich der seiner selbst und der Gottes, die Wahrheit erkannt hat. Die Art dieser Gewissheiten zeigt, was unter Wahrheit zu verstehen ist. Die Formel lautet: ‚verum est quod clare et distincte percipitur‘, d. h. wahr ist das, was klar und unterschieden wahrgenommen wird (vgl. Descartes, 1990, 63). Die Gegenstände der Welt außerhalb der denkenden Substanz haben eine eigene Struktur. Ihre wesentliche Beschaffenheit ist die Ausdehnung. Sie sind im Unterschied zu der unteilbaren denkenden Substanz teilbar. Descartes folgt hier im Wesentlichen der Argumentation Platons. Teilbare, d. h. ausgedehnte Dinge fasst er unter den Begriff ‚res extensa‘, die unteilbare, denkende Substanz unter den Begriff ‚res cogitans‘. Ausdehnung ist das wesentliche Merkmal der Körper. Insofern der Mensch einen Körper hat, zugleich aber eine denkende Substanz ist, besteht er aus diesen beiden Substanzen: ‚res extensa‘ und ‚res cogitans‘. Die Bestimmung des Verhältnisses beider Substanzen zueinander ist Gegenstand der Anthropologie. Zunächst betont Descartes die relative Eigenständigkeit beider Substanzen, so etwa, wenn er sagt, dass der „Geist“ des Menschen unberührt bleibe, wenn seinem Körper ein Glied abgeschnitten wird, etwa ein „Fuß“ oder ein „Arm“ (vgl. Text). Descartes hat zur Erläuterung des Gedankens der Unabhängigkeit des Körpers vom Geist den Körper auch mit einer Maschine verglichen, die den Charakter eines Automaten hat. Mit diesem Modell lassen sich sogar Krankheiten erklären. Ein kranker Körper funktioniert wie ein fehlerhafter Automat. Descartes führt diesen Gedanken so aus: „Ja, ebenso wie eine aus Rädern und Gewichten zusammengesetzte Uhr nicht weniger genau alle Naturgesetze beobachtet, wenn sie schlecht angefertigt ist und die Stunden nicht richtig anzeigt, als wenn sie in jeder Hinsicht dem Wunsche ihres Konstrukteurs genügt, so steht es auch mit dem menschlichen Körper, wenn ich ihn als eine Art von Maschine betrachte, die aus Knochen, Nerven, Muskeln, Adern, Blut und Haut so eingerichtet und zusammengesetzt ist, daß, auch wenn gar kein Geist in ihr existierte, sie doch genau dieselben Bewegungen ausführte, die mein Körper jetzt unwillkürlich ausführt und die also nicht vom Bewußtsein ausgehen“ (Descartes, 1977,151).
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Nach diesem Modell gäbe es keine Verbindung zwischen Körper und Geist, denn die Abläufe in der Maschine verliefen automatisch. Der Geist könnte den Ablauf der Maschine beobachten, aber nicht beeinflussen. Doch dieses Modell wirft Fragen auf, die Descartes sich selbst ebenfalls stellte und für die er eine Antwort fand. Das Beispiel von dem abgeschnittenen Arm macht das deutlich. In dem Moment, wenn der Arm abgeschnitten wird, entsteht im Geist, der nicht nur der Ort der Gedanken ist, sondern ebenso, wie Descartes ausdrücklich betont, der der Empfindungen, eine starke Schmerzempfindung. Und diese Gleichzeitigkeit wirft die Frage auf, ob diese in der Amputation ihre Ursache haben könnte. Dazu aber müsste es eine Verbindung von Körper und Geist geben. Und diese Verbindung nimmt Descartes auch tatsächlich an und identifiziert sie als ein besonderes Organ im Gehirn, nämlich die Zirbeldrüse („conarium“). Descartes beschreibt ihre Funktionsweise so: „Sodann bemerke ich, daß der Geist nicht von allen Körperteilen unmittelbar beeinflußt wird, sondern nur vom Gehirn, oder vielleicht sogar nur von einem ganz winzigen Teile desselben, nämlich von dem, worin der Gemeinsinn seinen Sitz haben soll. Sooft sich dieser Teil nun in demselben Zustand befindet, läßt er den Geist dasselbe empfinden“ (ebd. 155).
Die Zirbeldrüse stellt eine Art Schaltstelle im Gehirn dar, die eine zweifache Funktion erfüllt. Zum einen führt sie dazu, dass z. B. ein schreckenerregender Eindruck beim Menschen eine bestimmte Reaktion hervorruft, z. B. Furcht oder Mut und Kühnheit und dementsprechend zu Flucht oder Verteidigung führt; zum anderen aber überträgt sie Handlungsabsichten des freien Willens auf den Körper und bewirkt bei ihm die entsprechenden Aktionen. Descartes bemerkt: „Alle Tätigkeit der Seele besteht aber darin, daß allein dadurch, daß sie irgendetwas will, sie bewirkt, daß die kleine Hirndrüse, mit der sie eng verbunden ist, sich in der Art bewegt, wie erforderlich ist, um die Wirkung hervorzurufen, die diesem Willen entspricht“ (Descartes, 1996, 69). Auch Descartes bleibt nicht bei einem reinen Dualismus stehen. Die beiden Substanzen müssen auf irgendeine Weise vermittelt werden. Für Descartes ist es eine Drüse. Die Einführung eines vermittelnden Organs wirft allerdings neue Fragen auf, denn es hat eine ganz eigene, einerseits körperlich lokalisierte, andererseits aber geistige Inhalte erzeugende Struktur. Deutlich wird allerdings, dass Descartes den Menschen nicht zu einem ‚L’homme machine‘ macht, wie hundert Jahre später der Materialist La Mettrie (vgl. Kap. XI, 1). Es sind körperliche Vorgänge, die über das vermittelnde Organ im Gehirn an den Geist weitergeleitet werden. Umgekehrt steuern geistige Leistungen wie Gemeinsinn, Gedächtnis und Phantasie die körperlichen Organe und setzen diese mit Hilfe der sogenannten ‚Lebensgeister‘ (esprits animaux) in Bewegung (Descartes, 1990, 91). Es sind die geistigen Leistungen, die den Menschen auszeichnen und die ausschließen, dass es sich beim Menschen um eine Maschine handeln könnte. Den Beweis dafür liefert der Vergleich mit dem Tier. Das Tier kann man sich – so Descartes – als eine höchst komplizierte Maschine vorstellen; denn: „Wenn es Maschinen mit den Organen und der Gestalt eines Affen oder eines anderen vernunftlosen Tieres gäbe, so hätten wir gar kein Mittel, das
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uns nur den geringsten Unterschied erkennen ließe zwischen dem Mechanismus dieser Maschinen und dem Lebensprinzip dieser Tiere“ (ebd. 91ff.). Dagegen kann man sich keine noch so komplizierte Maschine vorstellen, die mit einem Menschen verwechselt werden könnte. Der Grund dafür liegt in der menschlichen Sprache und der Fähigkeit, vernünftig zu handeln. Die Grenze der Maschine besteht in Folgendem: „man kann sich nicht vorstellen, daß sie die Worte auf verschiedene Weisen zusammenordnet, um auf die Bedeutung alles dessen, was in ihrer Gegenwart laut werden mag, zu antworten“ (ebd. 93). Ebenso ist es „unwahrscheinlich“, „daß es in einer einzigen Maschine genügend verschiedene Organe gibt, die sie in allen Lebensfällen so handeln ließen, wie uns unsere Vernunft handeln läßt“ (ebd.). Der Grund dafür liegt darin, dass die Maschinen „nicht aus Einsicht handeln, sondern nur zufolge der Einrichtung ihrer Organe“ (ebd.). Im Unterschied zu den Einzelfunktionen einer Maschine ist „die Vernunft ein Universalinstrument“. Ein Mensch kann daher weder mit einem Tier noch mit einer Maschine verwechselt werden. Bei seinen moralischen Überlegungen lässt sich Descartes von dem Gedanken leiten, dass eine begründete Ethik erst möglich sei, wenn die Grundlagen für das neue wissenschaftliche Gebäude gelegt sind. Bis dahin sei es notwendig, sich mit einer provisorischen Moral (morale par provision) zu begnügen. Für sie entwirft er vier Grundsätze: Der erste kann als traditionalistisch bezeichnet werden. Er bedeutet, sich nach den bewährten Sitten des Landes, in dem er lebt, zu richten und alle Extreme zu vermeiden. Der zweite Grundsatz bedeutet, in seinem Handeln konsequent zu sein, d. h. eine einmal getroffene Entscheidung beizubehalten, gerade so, wie ein Wanderer, der sich in einem Wald verirrt hat, gut beraten ist, eine einmal eingeschlagene Richtung zu verfolgen und so sicher sein kann, ihn schließlich auch wieder zu verlassen. Der dritte Grundsatz kann als stoische Maxime bezeichnet werden. Er bedeutet die Bereitschaft, „eher mich selbst zu besiegen als das Schicksal, eher meine Wünsche zu ändern als die Weltordnung“ (ebd. 43). Der vierte Grundsatz beinhaltet die Entscheidung, an seiner bisher eingenommenen theoretischen Lebensweise festzuhalten. Die Wirkungsgeschichte von Descartes verläuft in den beiden unterschiedlichen Bahnen: der Philosophie der Subjektivität einerseits und dem Körper-Geist-Dualismus andererseits. Die Theorie der Subjektivität bildet den Ausgangspunkt für erkenntnistheoretische Fragestellungen, so bei Kant und der sich an ihn anschließenden Wissenschaftstheorie. Sie bildet aber auch den Ausgangspunkt für spezifische anthropologische Fragestellungen, vor allem für das Problem der Intersubjektivität. Das dualistische Konzept dagegen findet seine Fortsetzung in medizinischen und psychologischen Fragestellungen der Psychosomatik und dem Körper-Geist-Problem, das heute in Theorien der Hirnforschung seinen Niederschlag findet. Die von Descartes thematisierten Lebensgeister (esprits animaux) werden dabei als ‚Botenstoffe‘ beschrieben, die körperliche und seelische Prozesse vermitteln.
2. Körper und Geist (Descartes)
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3. Der Mensch als Bürger zweier Welten (Kant) „Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermögen, dadurch er sich von allen andern Dingen, ja von sich selbst, so fern er durch Gegenstände affiziert wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft. Diese, als reine Selbsttätigkeit, ist sogar darin noch über den Verstand erhoben: daß, obgleich dieser auch Selbsttätigkeit ist, und nicht, wie der Sinn, bloß Vorstellungen enthält, die nur entspringen, wenn man von Dingen affiziert (mithin leidend) ist, er dennoch aus seiner Tätigkeit keine andere Begriffe hervorbringen kann, als die, so bloß dazu dienen, um die sinnlichen Vorstellungen unter Regeln zu bringen (. . .), da hingegen die Vernunft (. . .) ihr vornehmstes Geschäfte darin beweiset, Sinnenwelt und Verstandeswelt von einander zu unterscheiden, dadurch aber dem Verstande selbst seine Schranken vorzuzeichnen. Um deswillen muß ein vernünftiges Wesen sich selbst, als Intelligenz (also nicht von Seiten seiner untern Kräfte), nicht als zur Sinnen-, sondern zur Verstandeswelt gehörig, ansehen; mithin hat es zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten, und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen, erkennen kann, einmal, sofern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, als zur intelligibelen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sein.“ (I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kant IV, 88).
Kant, der einer Handwerkerfamilie entstammt, wird 1724 in Königsberg geboren. Er besucht in seiner Heimatstadt, nach Absolvierung der Vorstädter Hospitalschule, das pietistische Friedrichskollegium. Die im Pietismus gepflegte ‚Herzensfrömmigkeit‘ hat in ihrer moralischen Intensität Kant vermutlich nicht unwesentlich beeinflusst. Kant bleibt seiner Heimatstadt zeitlebens verbunden. Er studiert an der Universität in Königsberg Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft. 1746 erscheint seine erste Abhandlung Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte. In den Jahren 1746–55 ist er bei verschiedenen Familien in der Umgebung Königsbergs als Hauslehrer tätig. Nach seiner Dissertation und einer weiteren Schrift wird Kant 1755 Privatdozent an der Universität Königsberg und hält Vorlesungen über Philosophie, Naturwissenschaft, physische Geographie und Theologie. Nachdem er 1764 eine Professur für Dichtkunst abgelehnt hat, erhält er 1765 die Stelle eines Unterbibliothekars an der Königlichen Schlossbibliothek in Königsberg. 1770 wird Kant ordentlicher Professor für Metaphysik und Logik an der Universität und 1786 ein erstes Mal und 1788 ein zweites Mal ihr Rektor. Kant stirbt 1804 (vgl. Schultz, 1972). Kants Denken ist nicht nur dem Pietismus und der Stoa verpflichtet, sondern darüber hinaus wesentlich der Aufklärung. Die Devise der Autonomie der Vernunft, der Gedanke des Fortschritts, der Meinungsfreiheit und der Respektierung bürgerlicher Rechte, bilden wesentliche Elemente dieses Ansatzes. Kant hat der Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? eine eigene Schrift gewidmet. Seine Antwort lautet: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant VI, 53). Ihr Wahlspruch lautet: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (ebd.). Dieser Mut fehle aber bei einem großen Teil der Menschheit. Kant bemerkt: „Es ist so bequem unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich
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die Diät beurteilt, usw.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen“ (ebd.). Aber nicht minder verhängnisvoll sind die „Vormünder“, die diese Situation ausnutzen und die Unmündigkeit künstlich verlängern, indem sie die Menschen wie „Hausvieh“ behandeln und wie in einem „Gängelwagen“ einsperren, damit sie ja keinen eigenen Schritt tun. Daher ist es für den einzelnen Menschen schwer, sich aus dieser unseligen Mischung aus Bequemlichkeit und Bevormundung zu befreien. Den Ausweg sieht Kant in folgendem: „Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich“ (ebd. 54). Es ist das Prinzip der Öffentlichkeit, dem Kant den entscheidenden Faktor im Prozess der Aufklärung zuspricht. Von ihr verspricht er sich eine Reform des Denkens, die auch vor dem „Thron“ nicht haltmacht und so zu einer positiven Neuordnung der politischen Verhältnisse führen wird. Kants Denken geht jedoch auch noch über das Programm der Aufklärung hinaus. Die Forderung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, macht die Prüfung der eigenen Verstandeskräfte nicht überflüssig, sondern geradezu zwingend notwendig, sollen nicht an die Stelle der Bevormundungen durch „Vormünder“ nur die eigenen ungeprüften Meinungen treten. Die Prüfung der Leistungsfähigkeit des menschlichen Verstandes wird daher zu einem zentralen philosophischen Anliegen Kants. Für dieses Unternehmen gibt es in der Neuzeit eine bedeutende Vorgeschichte. Dazu gehören die rationalistischen Konzepte von Descartes und Leibniz ebenso wie die empiristischen von Locke und Hume. Aber Kants Unternehmen stellt eine ganz eigene Lösung dar, weil er den Ansatz des Rationalismus, der ihm selbst aus seinem Studium der Philosophie her vertraut war und der als das System von Leibniz und Wolff schulbildend gewirkt hatte, mit dem aus England stammenden Konzept des Empirismus in ein Verhältnis setzte. Für Kant erfolgte die Begegnung mit dem Empirismus durch die Auseinandersetzung mit Hume, der ihn, wie er selbst bekennt, aus dem „dogmatischen Schlummer“ riss. Kant sah sich in seiner Philosophie vor die Aufgabe gestellt, die Ansprüche des Rationalismus und die des Empirismus zu prüfen, überzogene Ansprüche zurückzuweisen und die berechtigten zu akzeptieren. Die Art, dies zu tun, verglich er mit der Aufgabe eines Richters, der die Forderungen zweier streitender Parteien begrenzt und einen gerechten Ausgleich schafft. Die Rolle des Richters kann jedoch nur eine unbestrittene Autorität übernehmen, und das ist die Vernunft selbst. Kant spricht von dem juridischen Charakter der Vernunft. Die Kritik der Vernunft umfasst einen ‚genitivus subjectivus‘ und einen ‚genitivus objectivus‘. Es ist die Vernunft, die kritisiert und die mit Blick auf ihre Leistungsfähigkeit zugleich kritisiert wird. Das Ergebnis ist eine Selbstbegrenzung der menschlichen Vernunft. Diese Selbstbegrenzung ist notwendig, da beide Konzepte der Vernunft, das rationalistische nicht weniger als das empiristische, ihre Grenzen überschritten haben. Die Begrenzung des rationalistischen Konzepts ist nötig, weil in ihm die Erkenntniskräfte der menschlichen Vernunft überschätzt wurden. Der Rationalismus glaubte, Gott, Welt, Unsterblichkeit der Seele und Freiheit in ihrer Existenz beweisen zu können. Aber diese Bereiche sind nicht ein Gegenstand der Erkenntnis, sondern Ideen der Vernunft. Das Wissen hat sich aus ihnen zurückzuziehen. Kant wirft dem Rationa-
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lismus im Übrigen vor, dass er nicht hinreichend Glauben und Wissen unterscheide. In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft formuliert Kant diesen Gedanken so: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (Kant II, 33). Ebenso aber galt es, den Anspruch des Empirismus in seinen Grenzen zu bestätigen, aber überzogene Ansprüche zurückzuweisen. Bereits Leibniz hatte die These von Locke, dass nichts in unserem Verstand sei, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen sei, dadurch kritisiert, dass er den Verstand selbst von dieser These ausnahm („Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi intellectus ipse“, Leibniz III 1, 103). Unabweisbar aber ist: Sinnlichkeit und Verstand, Erfahrung und Denken bilden einen Dualismus. Kant bestätigt und begrenzt die Rolle der Erfahrung für die Erkenntnis so: „Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel ; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen (. . .) und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt? (. . .) Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein, daß selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (. . .) aus sich selbst hergibt“ (Kant II, 45).
Den ‚rohen Stoff sinnlicher Eindrücke‘ kann der Verstand nicht aus sich selbst erzeugen, er muss ihm gegeben sein. An dieser Einsicht des Empirismus hat Kant festgehalten und ihn gegen jede Kritik aus idealistischer Perspektive verteidigt. Dagegen ist der Verstand in seinen Kategorien, mit denen er den ‚rohen Stoff sinnlicher Eindrücke‘ zu Gegenständen der Erfahrung „verarbeitet“, autonom. Die Erkenntnissituation des Menschen ist dadurch charakterisiert, dass sie auf zwei Stämme zurückgreifen muss: den Bereich des Sensiblen und den des Intelligiblen. Kant bezeichnet sie sogar als zwei Welten: den ‚mundus sensibilis‘ und den ‚mundus intelligibilis‘. In seiner Kritik der reinen Vernunft entwickelt Kant ein Konzept, den Dualismus zu überbrücken, der durch diese zwei Welten entsteht. Es ist die Verbindung des Sensiblen, das den Stoff repräsentiert, mit dem Intelligiblen, für das der Verstand steht. Die Aufgabe der Synthese überträgt Kant dem „transzendentalen Subjekte“ (ebd. 363). Das Sensible, das Material der Anschauung in seiner Mannigfaltigkeit, wird durch das Intelligible, das denkende Ich, als Repräsentant des transzendentalen Subjekts, zu einer Einheit verbunden. Kant nennt sie daher auch die „transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins“. Ohne diese synthetisierende Leistung des transzendentalen Subjekts bliebe die Anschauung pure Mannigfaltigkeit, ohne zu einem, mit sich identischen, Gegenstand der Erfahrung zu werden. Kant bezeichnet die für das Zustandekommen von Erkenntnis entscheidende Leistung des transzendentalen Subjekts als „ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption“ und formuliert sie durch folgenden Grundsatz: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“ (Kant II, 136). Er begründet ihn so: „denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht ge-
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III. Dualistische Konzepte
dacht werden könnte“ (ebd.). Seine weitere Erläuterung lautet: „Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird“ (ebd.). In jedem Erkenntnisakt werden Anschauung und Denken durch das Subjekt verbunden und damit der Dualismus überwunden. Das Problem des Dualismus setzt sich jedoch im Bereich der Ethik fort. Hier stehen sich Sinnlichkeit und praktische Vernunft gegenüber. Der Bereich der Sinnlichkeit ist hier aber nicht ein ‚roher Stoff‘, sondern Teil des Menschen selbst und als solcher mit Strebungen, Bedürfnissen und Motiven ausgestattet. Es ist vor allem das Glücksbedürfnis, das den Menschen zu Handlungen motiviert. Das Glücksbedürfnis ist im Menschen so tief verankert, dass er von ihm niemals absehen kann. Aber es zielt vor allem auf das eigene Wohl, es stellt ‚das liebe Ich‘ in das Zentrum seines Begehrens, es ist egoistisch. Als Gegenspieler ist die praktische Vernunft anzusehen, die den Menschen als ein vernünftiges Wesen in Anspruch nimmt. Sie fordert ihn dazu auf, seine Handlungsmotive daraufhin zu überprüfen, ob sie mit dem Gesetz der praktischen Vernunft übereinstimmen. Das Gesetz der praktischen Vernunft orientiert sich nicht an dem Wohl des Einzelnen, sondern daran, ob eine Handlung der besondere Fall eines allgemeingültigen Gesetzes sein kann. Vorbild für Kants Gesetzesbegriff ist zum Einen der Gedanke der Widerspruchsfreiheit, der der Logik entstammt, und zum Zweiten die Allgemeingültigkeit von Naturgesetzen. So wie in der Natur allgemeine Gesetze gelten, und das ausnahmslos, so soll auch das menschliche Handeln einem allgemeingültigen Gesetz gehorchen. Egoismus, Ausnahmen und Privilegien, spezielle Vorlieben und Neigungen haben darin keinen Platz. Die Formulierungen des kategorischen Imperativs, die diese Gedanken ausdrücken, lauten: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant IV, 51) und „handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte“ (ebd.). Bemerkenswert jedoch ist, dass Kant den kategorischen Imperativ in zwei weiteren Formulierungen zur Sprache bringt, in denen nicht die Allgemeinheit des Gesetzes im Zentrum steht, sondern der Gedanke der Person und der eines Reichs der Zwecke (vgl. Kap. X, 3). In den genannten Formulierungen ergibt sich jedoch ein dualistisches Spannungsverhältnis zwischen dem am eigenen Wohl orientierten Glücksbedürfnis des Einzelnen und der im kategorischen Imperativ formulierten Allgemeingültigkeit. Während das Glücksbedürfnis sich als Neigung artikuliert, hat der kategorische Imperativ den Charakter einer Pflicht. Kants Ethik ist eine Pflichtethik. In ihr werden die vollkommenen und die unvollkommenen Pflichten unterschieden sowie die Pflichten gegen sich selbst und gegen andere. Die vollkommenen Pflichten haben den Charakter von Verboten, die unvollkommenen den von Geboten. Kant entwickelt an Hand von vier Beispielen folgendes Schema der Pflichten (vgl. ebd. IV, 52f.):
3. Der Mensch als Bürger zweier Welten (Kant)
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Pflichten:
vollkommene
unvollkommene
Gegen sich selbst
Verbot des Selbstmordes
Gebot der Entwicklung eigener Talente
Gegen andere
Verbot des lügenhaften Versprechens
Gebot der Hilfe in der Not gegenüber anderen
Das Beispiel der vollkommenen Pflicht gegen sich selbst bedeutet: Ein Mensch, der des Lebens überdrüssig ist und die Neigung spürt, seinem Leben ein Ende zu setzen, möge sich fragen, ob die Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne. Er wird feststellen, dass das nicht der Fall ist, denn die Handlung ist ein Widerspruch einer zweckvollen Natur in sich selbst. Das Beispiel einer vollkommenen Pflicht gegen andere bedeutet: Ein lügenhaftes Versprechen kann kein allgemeines Gesetz werden; denn jede Lüge stellt einen Widerspruch in sich selbst dar, da in ihr die geäußerten Worte und der tatsächliche Wille sich widersprechen. Das Beispiel einer unvollkommenen Pflicht gegen sich bedeutet: Zwar ist es widerspruchsfrei denkbar, dass jemand die Talente, die in ihm schlummern, unentwickelt lässt, aber es kann nicht der Zweck einer als vernünftig gedachten Natur sein. Das Beispiel einer unvollkommenen Pflicht gegen andere bedeutet schließlich: Zwar ist es möglich, sich widerspruchsfrei eine Natur zu denken, in der jeder nur auf sein Wohl bedacht ist, dem anderen nicht schadet, ihm aber auch in Not nicht hilft. Auch hier gilt: Dieses Handeln ist mit der Idee einer vernünftigen Natur nicht vereinbar. Nun müssen Pflicht und Neigung keineswegs immer in einem Widerspruch stehen. In manchen Fällen entspricht ein pflichtmäßiges Handeln auch einem klugen Kalkül. So wird ein Kaufmann einen Kunden nicht betrügen, weil er diesen auf Dauer nicht verlieren möchte. Ein anderer hilft einem in Not Geratenen aus einem Gefühl des Mitleids heraus. Doch Kant lässt diese Fälle als Beispiele für moralisches Handeln nicht gelten; denn moralisch ist ein Handeln nur dann zu nennen, wenn das Motiv der Handlung der kategorische Imperativ ist. Allerdings ergeben sich nun zwei Probleme: Zum einen entsteht die Frage, wie sich bei einer einzelnen Handlung das Motiv feststellen lässt. Kants überraschende Antwort lautet: Überhaupt nicht. Kein Mensch kann bei einer pflichtmäßigen Handlung weder bei einem anderen, noch auch bei sich selbst erkennen, aus welchem Motiv die Handlung erfolgte. Motivforschung stößt auf ein unergründliches Geheimnis. Das zweite Problem ist nicht minder gravierend: Wie ist es überhaupt möglich, dass die praktische Vernunft zum Motiv einer Handlung wird? Selbst wenn unterstellt wird, dass der Mensch intellektuell dazu in der Lage ist, seine Handlung am Maßstab des kategorischen Imperativs zu prüfen und er dies auch tut, so ist damit keineswegs sichergestellt, dass diese Handlung auch ausgeführt wird. Wie kann das durch seine Sinnlichkeit bedingte, starke Motiv des Menschen, nur an das eigene Wohl zu denken, durch eine Vernunft überwunden werden, deren Reich das Intelligible ist? Kants überraschen-
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III. Dualistische Konzepte
de Antwort lautet: Die Möglichkeit für ein vernünftiges Handeln besteht in der „Achtung für dieses praktische Gesetz“. Diese Achtung ist ein Gefühl. Auf den Einwand, ein Gefühl gehöre dem Bereich der Sinnlichkeit an, antwortet Kant so: „Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersten Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch unterschiedren. Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung, welche bloß das Bewußtsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze, ohne Vermittelung anderer Einflüsse auf meinen Sinn, bedeutet“ (Kant IV, 27f. Anm.).
Mit dem Gefühl der Achtung verbindet sich die schwer zu beantwortende Frage: Wie kann die Vernunft ein Gefühl „erwirken“, das im Übrigen, wie Kant betont, eines ist, das „meiner Selbstliebe Abbruch tut“? Der Grund, weshalb Kant ein ‚Gefühl der Achtung‘ konzipierte, ist darin zu sehen, dass er, wie bei jedem dualistischen Denken, eine Instanz der Vermittlung brauchte, um den Anspruch der ‚Vernunft‘ gegenüber der natürlich gegebenen ‚Selbstliebe‘ zur Geltung zu bringen. Gehören Gefühle zwar generell dem ‚mundus sensibilis‘ an, so verleiht Kant dem Gefühl der Achtung vor dem Gesetz einen Sonderstatus. Er besteht darin, dass es sich bei ihm um ein von der Vernunft „selbstgewirktes Gefühl“ handelt. Als solches wird ihm die Aufgabe der Vermittlung von Sinnlichkeit und Vernunft nicht nur zugewiesen, sondern auch zugetraut. Schließlich ist auf ein letztes Problem hinzuweisen: Ein Handeln aus Vernunft macht den Menschen glückswürdig. Aber die Glückswürdigkeit garantiert nicht die Erlangung des Glücks bzw. der Glückseligkeit. Daher ist es denkbar, dass ein Mensch, trotz aller Glückswürdigkeit, in seinem Leben unglücklich bleibt. Nicht selten bleibt dem rechtschaffenen Menschen das Glück versagt, während einem Kriminellen das Glück hold ist. Dieses grobe Missverhältnis verstößt gegen das Denken jedes moralischen Menschen. Doch die Vernunft findet für dieses Problem in diesem Leben keine Lösung. Die Sehnsucht, dem Menschen möge ‚dereinst‘ ein seiner Glückswürdigkeit entsprechendes Glück zuteil werden, ist eine Hoffnung und gehört als solche in den Bereich der Religion. Kant formuliert diesen Gedanken, der nicht ohne Gott auskommt, so: „Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen“ (Kant IV, 238).
Die Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit repräsentiert das „höchste Gut“. Es verbindet sich mit einer Hoffnung, die auf ein Leben im Jenseits gerichtet ist: „Also ist das höchste Gut, praktisch, nur unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele möglich“ (ebd. 252). Zusammenfassend lässt sich sagen: Kants Denken bewegt sich in dualistischen Kategorien, die sich als Artikulation des Gegensatzes von Leib und Seele verstehen lassen. Entscheidend ist jedoch, dass er den Dualismus immer auch zu überwinden sucht.
3. Der Mensch als Bürger zweier Welten (Kant)
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Beispiele sind dafür die Bereiche der Erkenntnis, der Moral und der Religion. Im Bereich der Erkenntnis ist es die Leistung des transzendentalen Subjekts, Sinnlichkeit und Verstand in der Einheit des Selbstbewusstseins zu verbinden. Im Bereich der Moral ist es das von der praktischen Vernunft hervorgebrachte Gefühl der Achtung vor dem Gesetz, Pflicht und Neigung zu vermitteln. Den Dualismus von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit zu überwinden, ist schließlich die entscheidende Hoffnung der Religion. Kants Wirkungsgeschichte im Bereich der Ethik ist bis heute ungebrochen, auch wenn Utilitarismus und Wertphilosophie zu anderen Lösungen kamen. Während die Wertphilosophie den Formalismus Kants kritisierte und an seine Stelle ein materielles ‚Wertfühlen‘ setzte, rehabilitierte der Utilitarismus die Moral des ‚klugen Kaufmanns‘. Auch im Bereich der theoretischen Philosophie wurde Kants Lösung des Leib-SeeleProblems nicht allgemein akzeptiert. Für das 19. Jh. sei an eine im Jahre 1872 gehaltene, unter dem Stichwort Ignorabimus-Rede bekannt gewordene, Ausführung des Physiologen Emil Dubois-Reymond erinnert, der eine Erkenntnis der „Verbindung von Leib und Seele im Menschen“ für prinzipiell unmöglich hielt. Allerdings ist sein Ansatz ein völlig anderer als bei Kant. Er versteht die Erkenntnis nicht als eine synthetisierende Leistung des Subjekts, sondern fragt nach der Evolution des Geistes aus der Materie. Die Grenze der Naturerkenntnis sei mit der Annahme überschritten „als könnten durch die Kenntnis der materiellen Vorgänge im Gehirn gewisse geistige Vorgänge und Anlagen uns verständlich werden“ (vgl. Du Bois-Reymond, 1967, 41). Sein definitives Urteil lautet: ‚Ignoramus – Ignorabimus‘: ‚Wir wissen es nicht und wir werden es nicht wissen!‘ An diese Rede erinnert im Jahre 2000 der Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt a. M. Wolf Singer, indem er im Rückblick auf weitere, über 130 Jahre währende neurophysiologische Forschungen zur Frage der Erzeugung geistiger Vorgänge durch das Gehirn bemerkt: „Ich schicke voraus, um keine falschen Erwartungen zu wecken, daß ich der Überzeugung bin, daß diese höchsten Hervorbringungen unserer Gehirne (. . .) der neurobiologischen Erklärung nicht direkt zugänglich“ sind (Singer, 2002, 62). Die Produktion geistiger Vorgänge durch materielle Vorgänge im Gehirn, von der Du Bois-Reymond sprach, bleibt daher nach wie vor rätselhaft. Zumindest das ‚Ignoramus‘ von Du Bois-Reymond ist bislang nicht überwunden worden.
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III. Dualistische Konzepte
Dualismus und Monismus
IV.
Monismus – Die Einheit der Natur
Der Dualismus sieht sich mit dem Problem der Vermittlung zweier für sich bestehender Seinsbereiche konfrontiert, das ihn zu immer neuen Lösungen herausfordert. Dieses Problem taucht bei dem Monismus nicht auf, da er nicht von zwei Seinsbereichen ausgeht, sondern nur von einem. Es ist das Modell der Einheit. Dieses entwickelte Parmenides in seinem philosophischen Lehrgedicht. Bei ihm wird die ‚Einheit des Seins‘ zur Grundlage aller Aussagen gemacht. Das Sein, das mit sich selbst dasselbe ist, garantiert seine eigene Identität und zugleich die von Denken und Sein. Aber trotz dieser scheinbar zwingenden Logik hat Platon, der lange Zeit Parmenides bewunderte, die Position von der einfachen Einheit des Seins in seinem Dialog Parmenides kritisiert und schließlich verworfen. Die Rede von der ‚Einheit des Seins‘ hält nämlich nicht das, was sie verspricht. Tatsächlich widerspricht sie sich selbst, da sie in sich eine Zweiheit enthält. Es handelt sich bei ihr, im Sprachgebrauch Platons, um zwei Ideen: um die Idee der Einheit und um die Idee des Seins. An die Stelle der ‚Einheit des Seins‘ setzt Platon daher konsequenterweise eine Vielheit von Ideen. Jede Idee repräsentiert zwar ebenfalls eine Einheit des Seins; aber von ihnen gibt es durchaus viele. Seit Platons Kritik ist das Konzept von der einfachen Einheit des Seins – abgesehen von weltanschaulichen Einzelpositionen monistischer Prägung – aufgegeben worden. Vielmehr sah sich das Denken nun vor die Aufgabe gestellt, Einheit und Vielheit zusammenzudenken. Aus der einfachen Einheit wurde auf diese Weise, allerdings in anspruchsvoller Weise, eine Alleinheit. Die von Heraklit dafür geprägte Formel lautet: ‚(h)en kai pan‘ – ‚Eines und Alles sind dasselbe‘. Sie wurde bis in den Deutschen Idealismus hinein tradiert und geradezu verehrt. Aber wie ist das Verhältnis des ‚Einen‘ zu ‚Allem‘ zu denken? Einige Möglichkeiten seien genannt. Wie Sokrates im Dialog Protagoras erläutert, gibt es zunächst zwei Möglichkeiten: Ein Teil kann sich zu der Einheit eines Ganzen verhalten a) wie der Teil eines Goldklumpens zu dem ganzen Goldklumpen oder aber b) wie der Teil eines Gesichts – also Augen, Mund, Nase – zu der Einheit des Gesichts. Die erste Möglichkeit gehört zu einem Monismus, dem eine homogene Einheit entspricht, und käme der parmenideischen Lösung nahe. Sie wird von keinem der hier vorgestellten Autoren vertreten.
IV. Monismus – Die Einheit der Natur
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Die zweite Möglichkeit findet sich in dem Ansatz von Marc Aurel. Nach ihm unterscheidet sich jedes Individuum von jedem anderen, aber jedes ist organischer Teil der einen Natur, die für ihn ein Kosmos ist. Ähnlich argumentiert Spinoza, für den jedes Einzelne seinen Grund in der einen Substanz hat, die er ‚Gott oder die Natur‘ nennt. Die dritte Möglichkeit lässt sich denken als Differenzierung der Einheit, d. h. als zunehmende Verästelung der Einheit in eine Vielheit. Das ist die Lösung von Maturana. Sie bedeutet, dass die Natur zu verstehen ist als ein fortlaufender Prozess von autopoietischen, d. h. sich selbsterzeugenden, lebendigen Systemen, die sich im Laufe der Naturgeschichte immer weiter verzweigen. Auf diese Weise wird der Monismus mit der Evolutionstheorie verbunden. Einen ersten, allerdings stark weltanschaulich bestimmten Versuch dieser Art, unternahm Haeckel mit seinem Buch Die Welträtsel von 1899. Eine letzte Möglichkeit sei angedeutet. Sie besteht darin, dass jeder Teil sich zur Einheit des Seins im Ganzen verhält wie ein Mikrokosmos zum Makrokosmos, d. h. der Teil ist ein verkleinertes Abbild des Ganzen. Diese Lösung hat Platon in seinem der Spätphilosophie angehörenden kosmologischen Modell gewählt, sie klingt gelegentlich bei Marc Aurel an und findet sich schließlich explizit erläutert bei Leibniz (vgl. Kap. IX, 1).
1. Der Mensch im Kosmos (Marc Aurel) „Mag die Welt aus Atomen bestehen oder von einer Natur durchwaltet werden, mein erster Grundsatz muß sein: Ich bin ein Teil des Ganzen, das von der Natur durchwaltet wird. Und zweitens, daß ich in irgendeinem engen Verhältnis zu den verwandten Teilen stehe. Denn wenn ich daran denke, daß ich ein Teil bin, werde ich mich über nichts grämen, was mir von dem Ganzen zugeteilt wird. Denn es kann nichts, was dem Ganzen nützlich ist, dem Teile schaden. (. . .) Während dies aber alle Naturen gemeinsam haben, hat die des Kosmos noch dazu die Macht, auch nicht von irgendeiner äußeren Ursache gezwungen werden zu können, etwas zu erzeugen, was ihr selber schädlich wäre. Auf Grund des Bewußtseins also, daß ich ein Teil des Ganzen bin, werde ich mit allem, was sich begibt, zufrieden sein. Sofern ich aber in einem engen Verhältnis zu den verwandten Teilen stehe, werde ich nichts tun, was dem Geist der Gemeinschaft widerspricht, vielmehr werde ich auf meine Verwandten Rücksicht nehmen und all mein Streben auf das Gemeinwohl richten und vom Gegenteil abkehren. Wenn diese Grundsätze so verwirklicht werden, dann muß das Leben glücklich verlaufen, wie man sich auch vorstellen kann, daß das Leben eines Bürgers glücklich verläuft, der von einer Tat zur andern schreitet, die seinen Mitbürgern nützlich ist, und mit Freuden auf sich nimmt, was auch der Staat ihm zuteilen mag.“ (Marc Aurel: Selbstbetrachtungen. Stuttgart 1973, 138f.).
Marc Aurel lebte in einer Zeit, in der das römische Reich, dessen Bürger und späterer Kaiser er war, das Imperium Romanum, einen Umfang hatte, das den des Kaiserreichs Napoleons weit übertraf. Es reichte „vom schottischen Firth of Forth bis zum Tigris, von Marokko bis zum Kaspischen Meer, vom Schwarzen Meer bis zur Mündung von Rhein und Schelde“ (Marc Aurel, 1973, XXX). Doch die äußere Größe täuscht über die innere Schwäche hinweg. Rom ist ein Koloss auf tönernen Füßen. Edward Gibbon (1737– 1794) hat den Niedergang Roms in seinem Werk The History of the Decline and Fall of
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IV. Monismus – Die Einheit der Natur
the Roman Empire eindringlich beschrieben. Der Verfall betrifft das soziale Leben ebenso wie die Bereiche der Wissenschaften und der Kultur im Allgemeinen. Die Verarmung der Landbevölkerung führte dazu, dass ein arbeitslos gewordenes Proletariat die Stadt bevölkerte und auf Staatskosten ernährt wurde. Dazu kam ein gravierender Rückgang des Bevölkerungswachstums, der dazu führte, dass schon bald der Nachwuchs im Bereich des Militärs fehlte. Die Sicherung der Grenzen des Reichs gegen eindringende Stämme aus dem Norden wurde zunehmend schwieriger. Im Jahre 121 n. Chr. wird Marcus Aurelius Antoninus als Sohn des Marcus Annius Verus, der dem Senatorenstande angehörte, in Rom geboren. Marc Aurel ist noch ein Kind, als seine Tante Faustina Antoninus Pius heiratet. Im Jahre 138 n. Chr. wird Antoninus von Kaiser Hadrian adoptiert und für die Kaisernachfolge bestimmt. Außerdem veranlasst Kaiser Hadrian Antoninus dazu, Marc Aurel zu adoptieren und bestimmt ihn damit ebenfalls für die weitere Thronfolge. Marc Aurel fällt daraufhin in eine tiefe Depression. Er wendet sich schon früh von der ihm zugedachten rhetorischen Bildung ab und der stoischen Philosophie zu. Im Jahre 161 n. Chr. wird Marc Aurel Kaiser. Er übernimmt sein Amt in einer Zeit, die von Kriegen, Epidemien und Wirtschaftskrisen bestimmt ist. Die Völkerwanderung kündigt sich an. Permanente Kriege sind die Folge. „Fünf Jahre, von 161–166, sollte der Krieg im Osten, dreizehn Jahre mit einer kurzen Unterbrechung der Feldzug an der Donau währen. Kein römischer Kaiser hat so sehr unter Waffen gelebt wie derjenige, der jedem offensiven Vorgehen von Grund auf abhold war“ (Mann, 1991, 377).
Marc Aurel, der an den Kriegen teilnimmt, verfasst in den Feldlagern ab 172 n. Chr. in griechischer Sprache Notizen, die den Titel An sich selbst (Ta eis heauton) tragen und später unter dem Titel Selbstbetrachtungen (EA Zürich 1559) veröffentlicht werden. Marc Aurel stirbt 180 n. Chr. während eines Feldzugs gegen die Germanen in Vindobona (Wien) an der Pest (vgl. Rosen, 2004). Das von ihm verfasste Buch hat einen einzigartigen Charakter. Es handelt sich nicht um eine philosophische Abhandlung. An eine Veröffentlichung hat er niemals gedacht. Es trägt autobiographische Züge, ohne eine Autobiographie im strengen Sinne zu sein. Sein Thema ist nicht die Darstellung seines Lebenslaufs; vielmehr hat es einen protreptischen Charakter. Marc Aurel ermahnt jedoch weder einen fiktiven noch einen realen Leser zur Philosophie, sondern sich selbst. Selbstermahnung und Trost bestimmen den Ton seiner gesammelten Aphorismen. Die Grundlage seiner im Ganzen ethisch bestimmten Überlegungen bildet der Begriff der Allnatur, die er in seinem kosmologischen Modell zu denken sucht. Doch seine Aussagen über die Welt haben einen durch und durch ambivalenten Charakter. Er schwankt zwischen zwei gegensätzlichen Alternativen. Es ist zum einen der stoische Gedanke einer vernünftig geordneten Natur des Ganzen und es ist zum anderen das von Epikur vertretene Atommodell. In dem einen Fall ist alles sinnvoll geordnet: Der Mensch ist ein Teil dieser Ordnung und fügt sich in sie ein. In dem anderen Fall ist die Welt ein zusammenhangsloses Konglomerat von Elementen, und der Mensch selbst ist nichts anderes als ein zufällig zusammengewürfelter Haufen von Atomen: das Ganze ein sinnloses Werden und Vergehen.
1. Der Mensch im Kosmos (Marc Aurel)
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Der Zweifel über die wahre Situation des Menschen durchzieht seine Notizen und führt zu einem Schwanken zwischen Zuversicht und Resignation. Immer wieder führt er sich diese Alternative vor Augen. Er sagt: „Ruf dir das Entweder-Oder ins Gedächtnis: ‚Entweder eine Vorsehung oder Atome‘“ (Marc Aurel, 1973, 33). Das heißt: „Entweder gibt es eine wohlgeordnete Welt oder eine bunt zusammengewürfelte Mischung“ (ebd. 41). Schließlich erweitert Marc Aurel die Alternative um ein weiteres Glied. Er führt sie wie folgt aus: „Entweder herrscht der Zwang des Verhängnisses und eine unverbrüchliche Ordnung oder eine gütige Vorsehung oder ein sinnloses Chaos ohne eine lenkende Macht.“ (ebd. 173). Während die erste Alternative als eine kausale Determination allen Geschehens zu verstehen ist, enthält die zweite den Gedanken einer göttlichen Fügung und die dritte den des „Wirrwarrs“ der Atome. In der Regel jedoch verbindet Marc Aurel die erste mit der zweiten Alternative. Die unverbrüchliche Ordnung wird durch eine göttliche Macht garantiert, und diese enthält zugleich eine „gütige Vorsehung“ (vgl. van Ackeren, 2001, 704). In jedem Fall aber stellt sich die Frage: Wie kann sich der Mensch angesichts dieser Alternativen verhalten? Marc Aurel versucht eine Einstellung zu finden, die dem menschlichen Leben Sinn verleiht, unabhängig davon, welche Alternative zutrifft. Den Schlüssel zu dieser Einstellung bietet die Philosophie. Folgende Passage möge zunächst die positive, am Gedanken der Ordnung orientierte Auffassung, beleuchten: „Sich den Kosmos stets als ein Lebewesen vorstellen, das eine einzige Substanz und eine einzige Seele besitzt, und bedenken, wie alles, was geschieht, einem einzigen Bewußtsein, dem dieses Kosmos nämlich, übermittelt wird, und wie er durch einen einzigen Antrieb alles bewirkt und wie alles Mitursache ist von allem, was geschieht, und welcher Art die Verflechtung und Verwebung ist“ (Marc Aurel, 1973, 45).
Das Verhältnis des Menschen zum Kosmos gestaltet sich auf diese Weise nach dem Modell von Mikrokosmos und Makrokosmos. Es ist der Gedanke eines Lebewesens, eines organischen Zusammenhangs, der den Sinn des Ganzen garantiert und die Verbindung mit dem Menschen herstellt. Diesen Gedanken hatte bereits Platon in seinem späten Dialog Timaios entwickelt. Und, ähnlich wie dieser, verbindet auch Marc Aurel diesen Ansatz mit dem Gedanken göttlicher Vorsehung. Marc Aurel bemerkt: „Das Walten der Götter läßt überall die Vorsehung erkennen; das des Zufalls erfolgt nicht ohne die Allnatur oder ohne Verkettung und Verflechtung mit dem Walten der Vorsehung. Alles hat von dort seinen Ursprung. Es wirkt aber auch die Notwendigkeit mit und die Wohlfahrt des ganzen Kosmos, von dem du ein Teil bist. Jedem Teile der Natur aber ist gut, was die Allnatur mit sich bringt und was zu ihrer Erhaltung dient“ (ebd. 13).
Gelegentlich tritt an die Stelle der Götter bei Marc Aurel auch der Begriff des Weltenlenkers auf, ohne dass zwischen beiden Begriffen ein Konkurrenzverhältnis bestünde. Auch diesen Begriff entnimmt er der platonischen Philosophie. Es ist bei Platon der ‚Demiourgos‘, der die Welt gestaltet und lenkt. Marc Aurel verbindet beide Begriffe wie folgt:
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IV. Monismus – Die Einheit der Natur
„Denk daran, wie lange du schon diese Dinge aufschiebst und wie oft du von den Göttern Fristen erhieltest, ohne sie zu benutzen! Du mußt doch endlich einmal begreifen, was das für ein Kosmos ist, von dem du ein Teil bist, und was das für ein Weltenlenker ist, als dessen Ausfluß du ins Dasein tratest!“ (ebd. 13).
Dem Gedanken der Welt als Kosmos steht aber bedrohlich der des Wirbels der Atome entgegen. Marc Aurel erläutert auch diesen; allerdings selten, ohne ihm entgegenzutreten. Er ist für ihn eine zu überwindende Gefahr, so in folgender Passage: „Des Menschenlebens Zeit nur ein Punkt, sein Wesen in ewigem Fluß, die Sinne trübe, des ganzen Leibes Gefüge ein Raub der Fäulnis. Die Seele ein Wirbel; was der Zufall bringt, schwer zu ergründen; unser Ruf etwas Ungewisses. Mit einem Wort, alles: im Bereich des Leibes ein Fluß, in dem der Seele Traum und Rauch. Das Leben ein Kampf und die Wanderschaft eines Fremdlings; der Nachruhm Vergessenheit. Was kann uns da in unserm Innern geleiten? Einzig und allein die Philosophie“ (ebd. 19).
Tatsächlich durchzieht dieser pessimistische Ton durchgängig seine Notizen. Es ist die verzweifelte Auflehnung gegen ihn. Der Gedanke, der ihn dabei leitet, lautet: ‚Der sinnlose Zufall darf nicht das letzte Wort behalten‘! Er veranlasst ihn dazu, zu einer sinnvollen Allnatur, d. h. zu einem Kosmos, seine Zuflucht zu nehmen. Neben dem Gedanken, die Welt als ein Lebewesen zu begreifen, taucht bei ihm auch das Modell des Staates auf. Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass es etwas gibt, das allen Menschen gemeinsam ist, und das ist die Vernunft. Die Vernunft gibt uns das Gesetz des Handelns. Er erläutert den Gedanken so: „Dann ist uns auch das Gesetz gemeinsam. Wenn das der Fall ist, dann sind wir Menschen Bürger. Dann aber haben wir an einer Art Staatsverfassung miteinander teil. Dann ist also der Kosmos gewissermaßen ein Staatswesen. Denn an welcher anderen gemeinsamen Verfassung sollte das gesamte Menschengeschlecht wohl teilhaben?“ (ebd. 34).
Auch dieser Gedanke hat in Platon seinen Vorläufer. Auch für ihn entsprechen sich die natürliche und die politische Ordnung. Indem bei Marc Aurel der Kosmos als ein Staatswesen gedacht wird, wird der Mensch in ihm zu einem ‚Kosmo-Politen‘. Ein Widerspruch zu dem Verständnis des Kosmos als Lebewesen ergibt sich nicht; denn beide werden als ein Organismus begriffen, dessen Teile darauf angelegt sind, zusammenzuwirken. Schließlich ist auf einen letzten Aspekt des Begriffs Kosmos bei Marc Aurel hinzuweisen. Es ist der Gedanke des Kreislaufs allen Geschehens. Das betrifft zunächst den großen Kreislauf der Natur, wie ihn Heraklit dachte und auf den Marc Aurel hinweist, „die periodische Wiedergeburt des Alls“ (ebd. 154). Er bezieht sich zum anderen auf die Kreisläufe des menschlichen Lebens. Illusionslos weist er darauf hin, „daß die nach uns Kommenden nichts Neues erleben werden und die früheren Geschlechter auch nicht mehr gesehen haben, daß vielmehr in gewissem Sinne der Mann von vierzig Jahren, wenn er nur einen Funken Verstand hat, alles Vergangene und alles Künftige gesehen hat, weil es im Grunde ganz gleicher Art ist“ (ebd.).
1. Der Mensch im Kosmos (Marc Aurel)
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Physikalisch gesehen ist die „Allnatur“ zu verstehen als ein großer Stoffwechselprozess, in dem diese, „trotz ihrer Selbstbegrenzung all das, was in ihr zu vergehen und zu altern und unnütz zu sein scheint, in ihre eigene Substanz umwandelt und wieder andere neue Dinge aus eben jenem macht“ (ebd. 117). Der Mensch ist ein Teil dieses Stoffwechsels; und beide, Leib wie Seele, nehmen an diesem großen Kreislauf der Natur teil. Der Leib zerfällt, löst sich in seine Teile auf und schafft Platz für neue Lebewesen. Ebenso geschieht es mit der Seele: „so wandeln sich auch die in das Luftreich übergegangenen Seelen um, nachdem sie noch eine Zeitlang gedauert haben, verflüchtigen sich und werden zu Feuer, indem sie in die zeugungsfähige Allvernunft wieder zurückgenommen werden; und auf diese Weise machen sie für die nach ihnen kommenden Seelen Platz“ (ebd. 39).
Auch hier greift Marc Aurel Gedanken von Heraklit auf. Neben dem dualistischen Konzept gibt es ein dreigliedriges anthropologisches Schema: „Drei Dinge sind es, aus denen du bestehst: Körper, Lebenshauch, Geist“ (ebd. 170). Marc Aurel bemerkt über sie: „Was ich auch sein mag, dies Gebilde hier: es ist ein wenig Fleisch, ein wenig Atem und die herrschende Vernunft (. . .) verachte das elende Fleisch! Kot und Knochen und ein Gewebe aus Sehnen, Venen und Arterien. Bedenk auch, was für ein Ding dein Atem ist. Ein Lufthauch (. . .). Das dritte ist also die herrschende Vernunft. Das nun bedenke: Du bist ein alter Mann; laß sie daher nicht länger Sklavin sein, nicht länger durch selbstische Triebe hin und her gezerrt werden, sich nicht länger über das dir vom Schicksal Verhängte oder über deine jetzige Lage aufregen oder über das Kommende jammern“ (ebd. 12f.).
Obwohl der Mensch Teil der Allnatur ist, ist er ihr doch nicht willenlos ausgeliefert. Vielmehr kommt es Marc Aurel darauf an, den freien Willen des Menschen zu betonen und ihn in ein spezifisches Verhältnis zum Ganzen zu setzen. Der Ursprung der Freiheit liegt in der Fähigkeit der Vernunft zur Reflexivität. Sie beschreibt er wie folgt: „Die eigentümlichen Fähigkeiten der vernünftigen Seele: sie sieht sich selbst, zergliedert sich selbst, formt sich selber nach ihrem Willen, erntet selber die Frucht, die sie trägt“ (ebd. 154). Daher hat der Mensch einen „freien Willen, (. . .) ist doch die herrschende Vernunft eines jeden von uns ihr eigener Herr“ (ebd. 119). Der freie Wille ist es, der, kraft der Herrschaft der Vernunft, in der Lage ist, die Nichtigkeit der menschlichen Triebe zu durchschauen und ihre Wirkungsmacht zu brechen. Marc Aurel vertritt in seiner Kosmologie einen Monismus, der aber nicht eindimensional ist. Der Mensch entwickelt vielmehr zu der Allnatur, von der er ein Teil ist, ein reflexives Verhältnis. Dadurch gewinnt er Freiheit. Er ist dem Prozess der Natur nicht willenlos ausgeliefert, sondern bestimmt seine Stellung in ihm aufgrund eigener Entscheidung und Einsicht. Die Devise des ‚naturgemäßen Lebens‘ ist daher ein Appell an die Freiheit und nicht Ausdruck eines zwangsläufigen Geschehens. Das betrifft auch die Befreiung von der Furcht des Todes. Diesem Thema hat Marc Aurel zahlreiche Aphorismen gewidmet. Die Befreiung von der Todesfurcht gelingt dem
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IV. Monismus – Die Einheit der Natur
Menschen, der einsieht, dass der Tod ein notwendiger und für den Kreislauf der Natur sinnvoller Prozess einer permanenten Umwandlung ist. Die Haltung eines vernünftigen Menschen gegenüber dem Tod ist daher weder durch Furcht, noch durch Verachtung, weder durch Gleichgültigkeit, noch durch Todessehnsucht bestimmt, sondern durch ein geduldiges und gefasstes Erwarten eines notwendigen und natürlichen Ereignisses. Marc Aurel bemerkt: „Verachte nicht den Tod, sondern habe dein Wohlgefallen an ihm, in der Überzeugung, daß auch er zu den Dingen gehört, die die Natur will. Denn ein Vorgang der Art wie Jungsein und Altwerden, Wachsen und Blühen oder wie das Hervorkommen der Zähne, des Bartes, der grauen Haare, das Zeugen, Schwangergehen und Gebären und die übrigen Auswirkungen der Natur sind, alles Dinge, die die Jahreszeiten deines Lebens mit sich bringen – solch ein Vorgang ist gerade auch die Auflösung“ (ebd. 123).
Aber auch wenn Marc Aurel die Todessehnsucht ablehnt, so schließt er, wie andere stoische Philosophen, die Möglichkeit der Selbsttötung nicht aus. Sie ist eine ‚ultima ratio‘. Appelliert wird zunächst an die Fähigkeit des Menschen, in seinem Leben auf dem Wege der Vernunft zu bleiben. Doch das ist oftmals schwer, und so gibt er den Rat: „Wenn du aber merkst, daß du wieder vom Wege abirrst und nicht Sieger bleibst, dann zieh dich getrost in einen Winkel zurück, wo du den Sieg erringst. Oder scheide überhaupt aus dem Leben, aber nicht im Zorn, sondern ohne viel Umstände, aus freiem Entschluß und mit frommen Gedanken. Dann hast du wenigstens das Eine in deinem Leben erreicht: so zu sterben“ (ebd. 141).
Die Ethik Marc Aurels lässt sich am besten aus dem Modell des Kosmos als eines Lebewesens bzw. eines Staates entwickeln. In beiden Fällen ist der Gedanke leitend, dass zur Erhaltung des Ganzen das „organische“ Zusammenwirken seiner Glieder notwendig ist. Jeder Einzelne nimmt in diesem Ganzen einen Platz ein und hat seine Aufgabe zu erfüllen. Auch für diesen Gedanken liefert Platon in seinen Spätdialogen, sowohl im Timaios als auch in den Nomoi, ein Vorbild. Den Leitgedanken bildet für Marc Aurel die Devise des „naturgemäßen Lebens“ (ebd. 3). Es ist ein Leben, das der Ordnung der Natur im Ganzen entspricht, und da der Mensch ein Teil der Natur ist, entspricht dieses Leben auch jeweils der eigenen Natur. Das Leben gemäß der Natur und zum Wohle des Ganzen führt ihn dazu, nicht nur ein Plädoyer für das Modell der Kooperation zu entwickeln, sondern für eins der Menschenliebe. Sie stellt das spezifisch Menschliche dar. Er sagt: „Wenn du verdrossen vom Schlaf erwachst, dann denk daran, daß es deiner Bestimmung und der Natur des Menschen entspricht, Werke der Menschenliebe zu vollbringen; Schlafen dagegen hast du auch mit den unvernünftigen Tieren gemeinsam. Was aber jedem Wesen gemäß seiner Natur ist, das entspricht mehr seiner Eigenart, ist ihm angeboren und daher auch lieber“ (ebd. 106). Ausdruck findet die Menschenliebe im Helfen; denn Helfen „ist eine Handlung gemäß der Natur. Werde daher nicht müde, dir helfen zu lassen, indem du anderen hilfst“ (ebd. 102).
1. Der Mensch im Kosmos (Marc Aurel)
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Das Umgekehrte gilt für das Unrecht: „Wer Unrecht tut, frevelt; es hat doch die Allnatur die vernünftigen Wesen füreinander bestimmt, damit sie einander nach Gebühr helfen, sich aber in keiner Weise schaden“ (ebd. 121). Wie aber begegnet der Einsichtige einem Menschen, der ihm Unrecht tut, gar einem „bösartigen“ Menschen? Marc Aurels Antwort lautet: Er begegnet ihm mit Güte. Ihn leitet die Einsicht, dass „die Güte unbesiegbar ist, wenn sie echt und nicht nur gezwungen oder erheuchelt ist. Denn was kann dir der bösartigste Mensch tun, wenn du bei deiner Güte gegen ihn verharrst und ihn bei Gelegenheit sanft ermahnst und eines Besseren belehrst“ (ebd. 162). Die Philanthropie ist ein zentraler Gedanke der stoischen Ethik und hat, wie zahlreiche Stellen im N.T. belegen, ihre Spuren im Christentum hinterlassen. Daher wäre es falsch, das Gebot der Nächstenliebe und auch das der Feindesliebe als einen spezifisch christlichen Gedanken anzusehen. Marc Aurel hat sein Modell der Menschenliebe auch nicht aus dem Christentum abgeleitet, sondern aus der älteren Stoa. Dem Christentum steht er vielmehr kritisch gegenüber. So kritisiert er die Haltung der Christen gegenüber dem Tod. Sie entwickeln, so seine Meinung, keine Bereitschaft gegenüber der Unausweichlichkeit des Todes, sondern begegnen ihm mit „Trotz“ (ebd. 155). Doch obwohl Marc Aurel sich zum Christentum, auch als Regent, kritisch verhält, hat „die Kirche ihn vereinnahmt“ (Weinkauf, 1994, 41). Marc Aurels geschichtlicher Einfluss lässt sich nur schwer von dem der Stoa insgesamt trennen. In der Neuzeit zeigen sich deutliche Spuren seines Denkens in Spinozas Formel „deus sive natura“, aber auch Nietzsche hat Marc Aurel verehrt und den Gedanken der Einbettung des Menschen in den Kreislauf einer sich ewig wiederholenden Natur in sein Konzept aufgenommen. Im Übrigen geht die Wirkungsgeschichte von Marc Aurel und der Stoa weit über den fachphilosophischen Diskurs hinaus. Sie hat ihren Weg in eine breitere Öffentlichkeit gefunden. Die sprichwörtliche stoische Gelassenheit hat zu dem Bild beigetragen, das man sich von einem ‚Philosophen‘ macht. Der Gedanke einer vernünftigen Allnatur ist dagegen in der weiteren Geschichte durch andere Modelle in seiner Bedeutung eingeschränkt worden. Im Mittelalter trat an seine Stelle der Gedanke der Schöpfungsordnung und in der Neuzeit wurde die Ordnung der Natur erkenntnistheoretisch garantiert durch ein transzendentales Subjekt. Schließlich aber wurde auch das von Marc Aurel erörterte und verworfene Konzept wieder gedacht, bei der Welt könne es sich um eine chaotische Anhäufung von Atomen handeln. Gegenwärtige Konzepte einer Chaostheorie verwerfen zwar nicht den Gedanken einer gesetzhaften Natur, aber sie räumen unvorhersehbaren Strömungsverhältnissen und Turbulenzen einen bedeutenden Platz im Naturgeschehen ein. Sie wenden sich gegen die These, dass es sich bei der Natur um einen berechenbaren und voraussehbaren Prozess handeln könnte. Die Ambivalenz der Naturinterpretation bleibt erhalten.
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IV. Monismus – Die Einheit der Natur
2. ‚Deus sive natura‘ – das pantheistische Konzept (Spinoza) „Jenes ewige und unendliche Seiende, das wir Gott oder Natur (deus sive natura) nennen, handelt vielmehr mit derselben Notwendigkeit, mit der es existiert. (. . .) Nützlich für das Leben ist daher vor allem, den Verstand oder die Vernunft soviel wie möglich zu vervollkommnen. Darin allein besteht des Menschen höchstes Glück oder die Glückseligkeit. Denn die Glückseligkeit ist nichts anderes als die Zufriedenheit des Gemüts, die aus der intuitiven Erkenntnis Gottes entspringt. (. . .) Es gibt darum kein vernünftiges Leben ohne Erkenntnisvermögen. Auch sind die Dinge nur insofern gut, als sie dem Menschen helfen, das Leben des Geistes zu genießen, das durch Erkenntnisvermögen definiert wird. (. . .) Weil aber alles, wovon der Mensch selbst die wirkende Ursache ist, notwendig gut ist, kann folglich dem Menschen nur von äußeren Ursachen Schlechtes widerfahren, insofern er nämlich ein Teil der ganzen Natur ist, deren Gesetzen die menschliche Natur zu gehorchen und der sie beinahe auf unendlich viele Weisen sich anzupassen gezwungen ist. Es ist unmöglich, daß der Mensch kein Teil der Natur ist und ihrer gemeinsamen Ordnung nicht zu folgen hat.“ (Benedictus de Spinoza: Die Ethik. Lateinisch und Deutsch. Stuttgart 1980, 437; 597ff.).
1632 wird Baruch Spinoza in Amsterdam geboren. Seine Familie war wegen Unterdrückung ihrer jüdischen Religion aus Portugal emigriert und in das liberale Holland geflüchtet. 1639–46 besucht Spinoza die Schule der portugiesischen Gemeinde in Amsterdam. 1656 wird er aufgrund seiner religionskritischen Äußerungen mit einem Bannfluch belegt und damit aus der jüdischen Gemeinde ausgestoßen. Er siedelt nach Rijnsburg bei Leiden über. Spinozas Denken findet erste Anhänger. 1668 findet ein Prozess gegen Adriaan Koerbagh, einen überzeugten Spinozisten, statt. Dieser stirbt im Gefängnis. Spinoza zieht im folgenden Jahr nach Den Haag um, wo er bis zu seinem Tode lebt. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Linsenschleifer. 1670 erscheint der von ihm anonym herausgegebene Theologisch-Politische Traktat und löst einen Sturm der Entrüstung aus. 1673 lehnt Spinoza den Ruf auf eine Professur in Heidelberg ab. 1676 besucht Leibniz Spinoza und erörtert mit ihm den Begriff der Substanz. 1677 stirbt Spinoza an einer Lungenkrankheit. Seine Freunde geben seine Opera Posthuma heraus; darunter die 1675 vollendete Ethik. Doch bereits ein Jahr nach seinem Tod werden seine Werke verboten (vgl. de Vries, 1970). Spinozas zentraler Gedanke findet seinen Ausdruck in der griffigen Formel ‚deus sive natura‘ (vgl. Spinoza, 1980, 436), d. h. ‚Gott oder (was dasselbe ist) die Natur‘. ‚Gott‘ und ‚Natur‘ sind alternative Ausdrücke für ein und dieselbe Sache. Sie repräsentieren eine einzige Substanz. Mit dieser Formel versucht Spinoza nicht nur den cartesischen Dualismus zu überwinden, sondern zugleich an das antike Natur- und Kosmosdenken anzuschließen. Schließlich kann seine Formel als der, freilich gescheiterte, Versuch erstanden werden, dem theologischen Gottesbegriff seiner Zeit eine philosophische Begründung zu liefern (vgl. Bartschat, 1992). Descartes, mit dem sich Spinoza sehr gründlich auseinandergesetzt hat, unterschied streng genommen drei Substanzen: die ungeschaffene Substanz Gottes und die beiden geschaffenen Substanzen der ‚res cogitans‘ (Denken) und der ‚res extensa‘ (Ausdeh-
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nung). Spinoza verbindet die drei in einer einzigen. Seine Begründung für die Aufhebung der Differenz von geschaffener und ungeschaffener Substanz besteht darin, dass er den Begriff der Substanz nur für das reservieren möchte, das aus sich selbst heraus besteht (vgl. Spinoza, 1980, 5) und zu seiner Existenz auf kein anderes Seiendes angewiesen ist. Die Substanz ist „causa sui“, d. h. Ursache ihrer selbst. Er definiert sie so: „Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann“ (ebd. 5). Aus diesem Grund kann der Begriff Substanz nicht auf einzelne, geschaffene Dinge angewendet werden; denn sie haben nicht den Grund ihrer Existenz in sich selbst, sondern in einem anderen. Der zweite Unterschied zu Descartes besteht darin, dass Spinoza die Lösung, die jener zur Überbrückung der Kluft von ausgedehnter und denkender Substanz vorschlug, für nicht überzeugend hält. Descartes’ Annahme eines Organs im menschlichen Gehirn, das sowohl Gedanke, Vorstellung und Wille in körperliche Aktionen umwandelt, wie die Umsetzung körperlicher Gefühle wie Hunger und Schmerz in Gedanken, hielt Spinoza für unzureichend (vgl. Kap. III, 2). Das entscheidende Problem ist für ihn, dass es „keinen Vergleich zwischen dem Vermögen und den Kräften des Geistes und denen des Körpers“ gibt (ebd. 625), und deshalb kann es seiner Meinung nach auch kein Organ geben, das beide vermittelt. Der Gedanke der Einheit der Substanz schließt sich daher sehr viel zwangloser an das antike Denken an, in dem das Weltall als Natur gedacht wurde, d. h. als etwas, das von sich aus besteht und dem außerdem das Attribut des Göttlichen zukam. Die Formel „deus sive natura“ lässt sich ebenso an Platons späte Naturphilosophie anschließen wie an Marc Aurels Kosmologie. So schließt z. B. Platon seinen Dialog Timaios mit folgenden Worten, in denen die Identität von Gott und Welt deutlich ausgesprochen wird: „Denn indem diese unsere Welt sterbliche und unsterbliche Lebewesen erhielt und derart mit ihnen erfüllt ward, ist sie ein sichtbares Lebewesen, das die sichtbaren Lebewesen umgibt, als Abbild des nur denkbaren Lebewesens, ein wahrnehmbarer Gott, der größte und beste, schönste und vollkommenste geworden – dieser unser einziger einzigartiger Himmel“ (ebd. 92c).
Und ganz ähnlich formuliert Marc Aurel: „Sich den Kosmos stets als ein Lebewesen vorstellen, das eine einzige Substanz und eine einzige Seele besitzt“ (Marc Aurel, 1973, 45). Der Hiatus zwischen Gott und Welt, der das jüdisch-christliche Denken bestimmt, liegt hier nicht vor, und deshalb findet Spinoza für seine Identitätsformel von Gott und Natur in der Antike den geeigneten Anknüpfungspunkt. Die Verbindung beider Begriffe ergibt sich durch den Gedanken der „causa sui“. Wird in der mittelalterlichen Theologie Gott als dasjenige Wesen gedacht, das Ursache seiner selbst ist, so lässt sich das ebenso für den antiken Naturbegriff sagen. Indem Spinoza beide Begriffe verbindet, ergibt sich für ihn eine schlüssige Definition der Substanz. Ebenso enthält er den traditionellen Gottesbeweis. Nach ihm ist Gott das Seiende, dessen Wesen seine Existenz einschließt. Man hat die Philosophie Spinozas als Pantheismus bezeichnet; aber es ist ein Pantheismus ganz eigener Art. Während für die antike Mythologie der Thales zugeschrie-
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IV. Monismus – Die Einheit der Natur
bene Satz „Alles ist voll von Göttern“ charakteristisch ist, ist der Pantheismus Spinozas streng monotheistisch. Andererseits aber ist der Gott Spinozas, im Unterschied zu der jüdisch-christlichen Auffassung, keine Person. Eine solche Auffassung lehnt er als einen unangemessenen Anthropomorphismus ab. Er ist auch nicht, wie noch bei Platon und Marc Aurel, ein Lebewesen. Am ehesten trifft man seine Auffassung, wenn man sich strikt an die von ihm vertretene Identitätsformel hält: ‚deus sive natura‘. Gott, das ist die Natur, und die Natur ist die eine, unendliche Substanz, die ‚causa sui‘, d. h. die Ursache ihrer selbst ist. Gleichwohl thematisiert der Monismus Spinozas keine homogene, sondern eine in sich differenzierte Einheit. Die unendliche Einheit Gottes bzw. der Natur enthält unendlich viele Attribute, von denen dem Menschen aber nur zwei bekannt sind; nämlich Ausdehnung und Denken. Sie sind keine Substanzen, sondern lediglich wesentliche Merkmale der Substanz, d. h. Attribute. Das bedeutet: Jedes einzelne Seiende, jedes Ding, das als Teil der einen unendlichen Substanz zu denken ist, enthält in sich sowohl das Attribut der Ausdehnung wie das des Denkens. Die Attribute stellen Gesichtspunkte dar, unter denen man die eine ungeteilte Substanz wie auch seine Teile sehen kann. Damit scheint Spinoza allerdings nur einen Austausch von Worten vorgenommen zu haben. Denken und Ausdehnung sind nun keine Substanzen, sondern Attribute der Substanz. Daher bleibt das Problem der Verbindung beider bestehen. Spinoza löst es durch die Annahme eines psycho-physischen Parallelismus. Da es sich um dieselbe Substanz handelt, finden Ereignisse im Bereich der Ausdehnung (des Körpers) und des Denkens (des Geistes) immer zeitgleich statt und entsprechen sich. Ein Organ der Vermittlung wird damit überflüssig. Die zweite Differenzierung betrifft das Verhältnis der unendlichen Einheit der Substanz und seiner endlichen Teile, d. h. der einzelnen Dinge. Diese bezeichnet er als Modi. Die Endlichkeit der Dinge definiert er wie folgt: „Endlich in seiner Art heißt ein Ding, das durch ein anderes von gleicher Natur begrenzt werden kann. Ein Körper z. B. heißt endlich, weil wir stets einen anderen größeren begreifen. Ebenso wird das Denken durch ein anderes Denken begrenzt. Dagegen wird ein Körper nicht durch das Denken noch das Denken durch einen Körper begrenzt“ (ebd. 5).
Das Kriterium der Endlichkeit der Dinge im Gegensatz zu der Unendlichkeit der Substanz führt zu einer entscheidenden Differenzierung im Begriff der Natur. Spinoza unterscheidet zwei Begriffe der Natur: Die ‚natura naturans‘ (schaffende Natur) und die ‚natura naturata‘ (geschaffene Natur). Die Unterscheidung macht die Kluft deutlich, die, trotz der Einheit der Natur, zwischen der Unendlichkeit Gottes bzw. der Natur und der Endlichkeit der Dinge, einschließlich des Menschen, besteht. Er erläutert, „daß wir unter ‚schaffender Natur‘ das zu verstehen haben, was in sich ist und durch sich begriffen wird, oder solche Attribute der Substanz, die ewiges und unendliches Wesen ausdrücken, d. h. Gott, insofern er als freie Ursache betrachtet wird. Unter ‚geschaffener Natur‘ aber verstehe ich alles dasjenige, was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes folgt, d. h. alle Modi der Attribute Gottes, insofern sie als Dinge betrachtet werden, die in Gott sind und ohne Gott weder sein noch begriffen werden können“ (ebd. 75).
2. ,Deus sive natura’ – das pantheistische Konzept (Spinoza)
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In einem weiteren Punkt unterscheidet sich Spinozas Naturauffassung deutlich von der antiken. Gemeinsam mit dem Ansatz der neuzeitlichen Physik bricht er mit allen teleologischen Prinzipien und reduziert den vierfachen Sinn von Ursache in der Antike (Aristoteles) auf eine, die „causa efficiens“, d. h. die Wirkursache. Spinoza bemerkt: „Denn nichts kommt der Natur eines Dinges zu als das, was aus der Notwendigkeit der Natur der wirkenden Ursache folgt; und alles, was aus (. . .) der wirkenden Ursache folgt, geschieht notwendig“ (ebd. 441). Anthropologisch gesprochen heißt das: Es gibt nur eine ‚vis a tergo‘ (Kraft im Rücken) und keine ‚vis a fronte‘ (Kraft von vorne). Die sogenannten Zweckursachen entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als versteckte Wirkursachen. Spinoza erläutert diesen Gedanken an folgendem Beispiel, das zugleich die Konsequenzen seiner Neubestimmung der Substanz für seine Anthropologie deutlich macht: „Die Ursache, die man Zweckursache nennt, ist nichts anderes als der menschliche Trieb selbst; insofern er als der Anfangsgrund oder die primäre Ursache eines Dinges betrachtet wird. Wenn wir z. B. sagen, das Bewohnen sei die Zweckursache dieses oder jenes Hauses gewesen, so verstehen wir doch gewiß nichts anderes darunter, als daß der Mensch darum, weil er sich die Annehmlichkeiten eines häuslichen Lebens vorstellte, den Trieb hatte, ein Haus zu bauen“ (ebd. 439).
Die Wirkursache in einem allgemeinen physikalischen Sinne wird im anthropologischen Kontext zum Trieb. Der Trieb, der den Menschen durchgängig bestimmt, ist der Selbsterhaltungstrieb. Er hat eine zentrale anthropologische Bedeutung, aber darüber hinaus eine allgemein ontologische. Spinoza bemerkt: „Jedes Ding strebt, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu verharren. (. . .) Das Bestreben (conatus), womit jedes Ding in seinem Sein zu verharren (perseverare) strebt, ist nichts anderes als das wirkliche Wesen des Dinges selbst“ (ebd. 273) und das „schließt keine bestimmte, sondern eine unbestimmte Zeit in sich“ (ebd. 275). Indem der Mensch seinem Selbsterhaltungstrieb folgt, gehorcht er einer universalen Notwendigkeit der Natur; denn er ist selbst, wie Spinoza immer wieder betont, „ein Teil der ganzen Natur“. Selbsterhaltung ist ein Gebot der Natur und damit zugleich der Vernunft. Sein Leben selbst zu beenden, widerspricht beiden. Das bedeutet, „daß diejenigen, welche sich selbst das Leben nehmen, in ihrem Gemüt unvermögend sind und daß sie von äußeren Ursachen, die ihrer Natur widerstreben, gänzlich bezwungen werden“ (ebd. 479). Auf der Grundlage des Selbsterhaltungstriebes entwickelt Spinoza eine differenzierte Affektenlehre, die sich jedoch auf drei Affekte zurückführen lässt: Lust (laetitia), Unlust (tristitia) und Begierde (cupiditas) (ebd. 399). Die deutsche Übersetzung schwankt zwischen ‚Freude‘ und ‚Lust‘ für ‚laetitia‘ und ‚Traurigkeit‘ und Unlust‘ für ‚tristitia‘. Für das Prinzip der Selbsterhaltung hat die Lust eine positive Bedeutung, die Unlust eine negative, die der Begierde beide. In einer Fülle von Beispielen ordnet er die menschlichen Affekte diesen drei grundlegenden zu. Zur Lust gehören: Liebe, Zuneigung, Spott, Hoffnung, Zuversicht, Freude (gaudium) und Selbstzufriedenheit. Formen der Unlust sind: Hass, Abneigung, Furcht, Verzweiflung, Gewissensbiss, Mitleid und Niedergeschlagenheit (humilitas). Zu den Begierden zählen: Sehnsucht, Wetteifer, Dank und Dankbarkeit, Wohlwollen, Zorn, Rach-
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sucht, Grausamkeit oder Wut, Scheu, Kühnheit, Ehrgeiz und Ängstlichkeit (vgl. ebd. 401ff.). Für die Lust nimmt die Selbstzufriedenheit, die „Zufriedenheit des Gemüts“ die höchste Stelle ein. Sie ist Ausdruck des „höchsten Glücks“ oder der „Glückseligkeit“. Innerhalb der Unlust sind Spinozas Ausführungen zum Mitleid bemerkenswert. Das Mitleid ist keineswegs ein positiver, sondern ein negativer Affekt, der durch das Leid eines anderen auf uns übertragen wird. Das Leid des anderen „affiziert uns selbst mit gleicher Unlust“ (ebd. 315). Die Frage lautet daher: Wie kann sich der Mensch von dieser Unlust befreien? Spinozas überraschende Antwort lautet: „Einen Gegenstand, den wir bemitleiden, werden wir, soviel wir können, von seinem Elend zu befreien suchen“ (ebd. 315). In ähnlicher Weise geschieht die Umwandlung der Unlust in Lust in folgendem Beispiel: „Der Haß, der durch Liebe gänzlich besiegt wird, geht in Liebe über; und die Liebe ist dann stärker, als wenn ihr der Haß nicht vorausgegangen wäre“ (ebd. 351). Doch wodurch kann ein Mensch dazu veranlasst werden, Liebe an die Stelle von Hass zu setzen? Spinozas Antwort lautet, ähnlich wie bei Marc Aurel: Entscheidend ist die Erkenntnis, die Einsicht in das Ganze. Es ist das Erkenntnisvermögen, das es dem Menschen erlaubt, sich selbst, seine Stellung im Ganzen, den grundlegenden Selbsterhaltungstrieb und alle positiven und negativen Affekte zu durchschauen. Indem er auf die Natur des Ganzen schaut, erkennt er zugleich Gott, d. h. die unendliche Substanz unter dem Gesichtspunkt ihrer Ewigkeit (sub specie aeternitatis). Ohne diese Erkenntnis wird er von seinen negativen Affekten geknechtet. Diesem Gedanken hat Spinoza den vierten Teil seiner Ethik gewidmet, dessen Titel lautet: Über die menschliche Knechtschaft oder die Macht der Affekte. Der fünfte Teil dagegen lautet: Über die Macht des Verstandes oder die menschliche Freiheit. Die Befreiung von der Macht der Affekte gelingt nicht durch den freien Willen, wie die Stoiker glaubten (vgl. ebd. 619), sondern allein durch die Erkenntnis, die „Macht der Vernunft“ (ebd. 619). Die Freiheit ist keine Angelegenheit des Willens, sondern der Erkenntnis. Keineswegs aber unterschätzt Spinoza die Macht der Affekte. Die Macht der Vernunft siegt nicht über sie, indem sie sie bekämpft. Sie stellt sich vielmehr selbst in den Dienst des grundlegenden Selbsterhaltungstriebes und in den Dienst derjenigen Affekte, die ihm dienlich sind. Die Vernunft prüft die Affekte auf ihre Lebensdienlichkeit hin und verzichtet darauf, jenen zu folgen, die der Selbsterhaltung abträglich sind. Das führt aber unter einem ethischen Gesichtspunkt keineswegs zu einem rücksichtslosen Egoismus, nicht zu einem Krieg aller gegen alle, wie bei Hobbes. Im Gegenteil: Durch den richtigen Umgang mit dem Anderen wird dieser zu einer wichtigen Hilfe im Interesse der eigenen Selbsterhaltung. Spinoza entwickelt den Grundgedanken seiner utilitaristischen Ethik, die aber in Wahrheit der antiken Glücksethik entspringt. In einer großen Nähe zu Marc Aurel formuliert er ihren Grundsatz so: „Es gibt also vieles außerhalb unserer selbst, was uns nützlich und daher erstrebenswert ist. Unter diesen Dingen wiederum ist das denkbar Vorzüglichste das, was ganz und gar mit unserer Natur übereinstimmt. Denn wenn z. B. zwei Individuen von ganz gleicher Natur sich miteinander verbinden, so bilden sie ein Individuum, das zweimal so viel vermag wie das einzelne Individuum. Es ist daher dem Menschen nichts nützlicher als der Mensch. Nichts Vorzüglicheres, sage ich, können sich die Menschen zur Erhaltung ihres Seins wünschen, als daß alle in allem dermaßen miteinander übereinstimmen, daß
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gleichsam alle Geister und Körper einen Geist und einen Körper bilden und alle zugleich (. . .) für sich den gemeinsamen Nutzen aller suchen“ (ebd. 479ff.).
Den Gedanken des Zusammenwirkens der Individuen zum gemeinsamen Nutzen überträgt Spinoza auch auf sein, mit der Demokratie sympathisierendes, Staatsmodell, das er im Tractatus Theologico-Politicus von 1670 wie folgt charakterisiert: „Es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen, sondern vielmehr zu bewirken, daß ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, daß sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen und daß sie nicht mit Zorn, Haß und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander gesinnt sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit“ (Spinoza I, 1979, 605).
Die von zahlreichen Kritikern Spinozas geäußerte Behauptung, seine Philosophie sei mit dem Begriff der Freiheit unvereinbar, ist haltlos. Ähnlich wie bei Marc Aurel ist es bei Spinoza die Erkenntnis, die den Menschen aus deterministischer Abhängigkeit befreit. Die Wirkungsgeschichte Spinozas ist komplex. Leibniz, der die Substanzenlehre kritisierte, übernahm gleichwohl den Gedanken des psycho-physischen Parallelismus. Die Leugnung eines persönlichen Gottes führte dazu, Spinoza als Atheisten zu bezeichnen und sein Denken zu verurteilen. Doch schon bald wendete sich das Blatt zugunsten Spinozas. Philosophen und Schriftsteller wie Lessing, Moses Mendelssohn, Jacobi, Herder, Schleiermacher und Goethe bekannten sich zu ihm. Die Ambivalenz der Einstellungen formuliert Novalis im Jahre 1802 wie folgt: „Der Spinozismus ist eine Übersättigung mit Gottheit: während zur Zeit Spinozas selbst die atheistische Tendenz abgestoßen hatte, erscheint jetzt der Spinozismus als der Inbegriff der Religiosität“ (Spinoza, 1976, XXXf.). Im 19. Jh. hat Nietzsche und im 20. Jh. Karl Löwith, beide unter atheistischen Vorzeichen, in Spinoza einen Bundesgenossen gesehen.
3. Autopoiese – Die Selbsterzeugung lebender Systeme (Maturana) „Lebende Systeme sind autonome Entitäten, auch wenn sie für ihre konkrete Existenz und ihren Stoffwechsel ein Medium benötigen; alle mit ihnen zusammenhängenden Erscheinungen sind unabhängig von der Art, in der ihre Autonomie verwirklicht wird. Die Prüfung des gegenwärtigen biochemischen Wissens zeigt, daß diese ihre Autonomie sich daraus ergibt, daß sie als Systeme organisiert sind, die sich ständig selbst erzeugen. (. . .) Francisco Varela und ich haben solche Systeme autopoietische Systeme und ihre Organisation als autopoietische Organisation bezeichnet (. . .)“. Mit dieser Kennzeichnung der Organisation lebender Systeme wird nichts hinsichtlich ihrer Struktur festgelegt, diese kann vielmehr jede Form aufweisen, die der autopoietischen Organisation genügt. Es wird außerdem nichts über das Medium gesagt, in dem ein autopoietisches System existieren kann, noch über seine Interaktionen oder Stoff-
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IV. Monismus – Die Einheit der Natur
wechselprozesse mit dem Medium, die beliebiger Art sein können, solange sie die Bedingungen erfüllen, die durch die Struktur des Systems, durch welche die Autopoiese verwirklicht wird, gegeben sind. Da ein autopoietisches System als Einheit durch seine Autopoiese definiert wird, hat es lediglich die einzige konstitutive Bedingung zu erfüllen, daß alle seine Zustandsfolgen zur Autopoiese führen; in jedem anderen Fall zerfällt das System.“ (Humberto R. Maturana: Biologie der Realität. Frankfurt a. M. 2000, 106f.).
Humberto R. Maturana wird 1928 in Santiago de Chile geboren. Er studiert Medizin und Biologie in London, Harvard und Santiago de Chile. 1958 promoviert er in Biologie an der Harvard Universität. 1960 erhält er den Ruf auf den Lehrstuhl für Biologie an der Fakultät für Medizin der Universidad de Chile in Santiago de Chile. In den Jahren 1970–73 arbeitet er in enger Kooperation mit Francisco J. Varela in Santiago de Chile. Der Schwerpunkt ihrer neurophysiologischen Forschungen liegt im Bereich der Biologie der Erkenntnis. 2009 erhält Maturana die Ehrendoktorwürde der Universidad de Santiago de Chile. Maturanas leitender Gedanke ist bestimmt durch eine Neudefinition des Lebens. Dieses charakterisiert er als ein sich selbst erzeugendes und sich selbst erhaltendes System. Das System stellt eine strukturdeterminierte Einheit dar, die sich in einem „Milieu“ befindet und „in dem es sich verwirklicht und interagiert“ (Maturana / Varela 2010, 105). Für Maturana ist das Leben Teil einer umfassenden „Naturgeschichte“, die mit der Entstehung unseres Planetensystems beginnt, sich mit der Entwicklung des Lebens auf der Erde fortsetzt und mit der Erzeugung erkenntnisfähiger Menschen endet. Entstehung und Entwicklung des Lebens ist Thema der Evolutionstheorie. Die Einheit der Natur realisiert sich im Prozess, d. h. als Naturgeschichte. Bemerkenswert ist jedoch für seinen Ansatz, dass er nicht wie positivistische Naturwissenschaftler des 19. Jh.s den beschriebenen Anfangszustand als Tatsache behauptet und aus ihm mit naturwissenschaftlichen Methoden die weitere Entwicklung, einschließlich der Erkenntnisfähigkeit des Menschen, glaubt ableiten zu können, sondern dass er betont, dass der beobachtende und forschende Wissenschaftler nur im Austausch mit anderen Menschen seine Hypothesen entwickeln kann. Darüber hinaus weist er auf eine zweite, unhintergehbare Voraussetzung hin: Der Forscher muss die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, die er erforschen will, für sich selbst bereits voraussetzen, um forschen zu können. Daraus ergibt sich ein Kreisprozess der Erkenntnis. Ziel dieses Prozesses ist eine biologisch fundierte Erkenntnis der Erkenntnis. Maturana durchläuft dabei die Stufen der Entwicklung des Lebens. Es sind folgende: die Atmosphäre der Urerde und die Entstehung organischer Moleküle, die Entwicklung von Membranen und Zellen, die Zellteilung und die Fortpflanzung, die Entstehung mehrzelliger Lebewesen, die Ausbildung eines Nervensystems und schließlich die Entstehung des Menschen. Da er die gesamte Naturgeschichte skizziert, bilden seine Ausführungen über den Menschen nur einen kleinen, abschließenden Teil. Der Mensch ist für ihn eine Sonderform des Lebens, aber nicht das Ziel der Evolution. Im Unterschied zu Forschern, die davon ausgehen, dass das Leben durch Meteoriten auf die Erde gelangt sei, sieht Maturana die Atmosphäre auf der Urerde als hinreichende Bedingung für die Entstehung von Leben an; denn auf ihr ist in einem „kontinuier-
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lichen Prozeß chemischer Transformation (. . .) eine große Mannigfaltigkeit molekularer Substanzen entstanden“ (ebd. 44). Dabei ist der Moment von besonderer Bedeutung, „in dem die aus Kohlenstoffketten bestehenden Moleküle – die organischen Moleküle – sich anhäuften und diversifizierten. (. . .) Es ist genau diese chemische und morphologische Mannigfaltigkeit der organischen Moleküle, die die Existenz der Lebewesen möglich macht“ (ebd.). Der Übergang von organischen Molekülen zu Lebewesen stellt sich wie folgt dar: „Wegen der nun möglichen Vielfalt und Plastizität im Bereich der organischen Moleküle wurde die Bildung von Netzwerken von molekularen Reaktionen möglich, die wiederum dieselben Klassen von Molekülen, aus denen sie selbst bestehen, erzeugen und integrieren; wobei sie sich im Prozeß ihrer Verwirklichung gleichzeitig gegen den umliegenden Raum abgrenzen. Solche Netze und molekulare Interaktionen, welche sich selbst erzeugen und ihre eigenen Grenzen bestimmen, sind (. . .) Lebewesen“ (ebd. 47).
Die Beschreibung dieses Prozesses ist deswegen so bedeutsam, weil sie zweierlei deutlich macht: Sie enthält zum einen eine Hypothese zur Entstehung von Leben und sie erläutert zugleich die Definition des Lebens als eines autopoietischen Vorgangs. Die ersten Lebewesen sind Bakterien und Algen. Ihre fossilen Spuren wurden in Ablagerungen gefunden, die 3,4 Milliarden Jahre alt sind. Eng verbunden mit dem Prinzip der Autopoiese ist das der Autonomie. Der Zusammenhang besteht darin, dass es den Lebewesen eigentümlich ist, „daß das einzige Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, das heißt, es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis“ (ebd. 56). Zur Autonomie gehört auch die Fähigkeit der Abgrenzung des Lebewesens gegenüber seiner Umgebung. Dies stellt auf der Ebene der allerersten Lebewesen eine besondere Herausforderung dar. Das bedeutet: „Es mußten zum Beispiel Moleküle vorhanden sein, die zur Bildung von ebenso stabilen wie plastischen Membranen fähig waren“ (ebd. 58). Mit der Ausbildung von Membranen entstanden „dynamische Einheiten“, d. h. Zellen, die an „schnellem und ausdauerndem molekularen Austausch mit der Umgebung teilnehmen“ konnten (ebd.). Die Existenz von Zellen, die Bausteine des Lebens, ermöglicht die Zellteilung und mit ihr die Fortpflanzung. Fortpflanzung ist eine Form der Vervielfältigung. Es ist jedoch ratsam, sich unterschiedliche Formen der Vervielfältigung zu vergegenwärtigen, um die biologisch relevante zu erkennen. Im Unterschied zur Replikation eines Gegenstandes, die etwa bei der seriellen Herstellung von Autos eine Rolle spielt, und der Kopie, etwa der Fotokopie, sprechen wir von Reproduktion dann, wenn die durch Teilung entstandenen Einheiten derselben Klasse angehören wie die ursprüngliche Einheit. Sie haben jedoch keine identische Struktur wie eine Kopie. Das heißt: „Obwohl die aus der reproduktiven Teilung resultierenden Einheiten dieselbe Organisation wie die ursprüngliche Einheit und daher ihr ähnliche strukturelle Aspekte haben, haben sie auch von ihr und untereinander verschiedene strukturelle Aspekte“ (ebd. 72). Die Zelle spielt für die Fortpflanzung auch dort eine entscheidende Rolle, wo die Ebene von mehrzelligen Lebewesen erreicht ist. Auch bei der Existenz eines mehrzelligen Individuums „muß ihr Entstehungsbeginn auf eine Zelle zurückgehen“ (ebd. 91). Das
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IV. Monismus – Die Einheit der Natur
gilt auch für die sexuelle Fortpflanzung von vielzelligen Organismen. Hier handelt es sich um die Zygote, die befruchtete Eizelle, aus der sich ein neues mehrzelliges Lebewesen bildet (ebd. 91f.). Die Entwicklung des Lebens auf der Erde mit ihren vielfältigen Formen, wie Pflanzen, Tiere, Pilze und Bakterien bezeichnen wir spätestens seit Lamarck und Darwin als Evolution (vgl. Kap. VIII, 1). Das Thema der Evolution ist nicht die Ontogenese, sondern die Phylogenese, d. h. die Entwicklung von Arten. Darwin hat als Motor der Entwicklung die Selektion ins Spiel gebracht, die eine natürliche Zuchtwahl darstellt. Entsprechend diesem Prinzip überleben nur die jeweils am besten angepassten Arten, während die schlechter angepassten aussterben. Auf diese Weise kann die Evolution als eine Höherentwicklung des Lebens verstanden werden. Es entspricht dieser Logik, den Menschen an die Spitze dieser Entwicklung zu stellen. Maturana nimmt nun hinsichtlich des Gedankens der Evolution eine bemerkenswerte Neuinterpretation vor. Er bestätigt den Begriff der Anpassung eines Lebewesens an sein Milieu als notwendige Existenzbedingung und er akzeptiert den Gedanken der Entwicklung als eine Diversifikation des Lebens, aber er verwirft den Begriff des „Besser-Angepaßt-Seins“ und damit den der Höherentwicklung. Maturana betont: „Es gibt kein ‚Überleben des Angepaßteren‘, sondern nur ein ‚Überleben des Angepaßten‘. Die Anpassung ist eine Frage notwendiger Bedingungen, die auf viele verschiedene Weisen erfüllt werden können, wobei es keine ‚beste‘ gibt, einem Kriterium zu genügen, welches außerhalb des Überlebens zu suchen wäre. Die Unterschiede zwischen den Organismen offenbaren, daß es viele strukturelle Wege der Verwirklichung des Lebendigen gibt und nicht die Optimierung einer Beziehung oder eines Wertes“ (ebd. 125).
Als Beispiel führt er die verschiedenen Bewegungsarten von Tieren an, die im Wasser leben. Der Delphin, der Pinguin, der Fisch und die Seeschlange haben eine sehr unterschiedliche Art der Fortbewegung, doch es gibt kein Kriterium, die eine als besser als die andere zu bezeichnen. Entscheidend ist allein die Fähigkeit des Organismus zu überleben, und das gelingt nur durch Erhaltung der Anpassung an die Umwelt. An die Stelle des Gedankens der Höherentwicklung setzt Maturana sein Konzept, die Evolution als ein „Driften“ zu verstehen. Unter Driften versteht er die natürliche Verzweigung des Lebens, die bestimmt ist durch die Strukturveränderungen in einem lebendigen autopoietischen System im Verhältnis zu der jeweiligen Umwelt. Beide können sich ändern. Der Begriff Fortschritt hat im Kontext der Evolution keinen Sinn. Maturana bemerkt: „Wir sehen die Evolution hier als ein strukturelles Driften bei fortwährender phylogenetischer Selektion. Dabei gibt es keinen ‚Fortschritt‘ im Sinne einer Optimierung der Nutzung der Umwelt, sondern nur die Erhaltung der Anpassung und Autopoiese in einem Prozeß, in dem Organismus und Umwelt in dauernder Strukturkoppelung bleiben“ (ebd. 127).
Es ist bemerkenswert, dass Maturana hier den von Spinoza philosophisch entwickelten Gedanken der Selbsterhaltung in biologischer Weise neu fasst und ebenso wie dieser den der Teleologie verwirft. Leben heißt Selbsterhaltung und nur dies. Ging es in der
3. Autopoiese – Die Selbsterzeugung lebender Systeme (Maturana)
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Antike stets um das gute Leben, setzt sich in der Neuzeit der Gedanke der Selbsterhaltung und des bloßen Überlebens durch. Für die Interaktion von Lebewesen und Umwelt spielt bei mehrzelligen Lebewesen das Nervensystem eine entscheidende Rolle. Dabei sind zwei naheliegende Missverständnisse des Nervensystems zu vermeiden. Maturana bezeichnet das eine als das solipsistische Modell und das andere als das repräsentationistische. Nach dem solipsistischen hat das Nervensystem eine angeborene, festgelegte Struktur. Die Umwelt wird entsprechend dieser starren Struktur wahrgenommen. Nach dem repräsentationistischen Modell ist das Nervensystem wie eine Wachstafel, auf der die Eindrücke der Umwelt sich einprägen. Beide Modelle sind verschiedentlich vertreten worden, und beide sind – so Maturana – falsch. Er betont daher: „Wir werden zeigen, daß für jeden Organismus die Geschichte seiner Interaktionen eine Geschichte von Strukturveränderungen ist, welche eine ganz besondere Geschichte von Transformationen einer Ausgangsstruktur ist, an denen das Nervensystem beteiligt ist, indem es den Bereich der möglichen Zustände ausweitet“ (ebd. 139).
Das Nervensystem hat eine Ausgangsstruktur, aber diese ändert sich durch die Interaktion mit der Umwelt. Dazu ein Beispiel: Ein Lämmchen, das kurz nach seiner Geburt von seiner Mutter entfernt wird und damit von ihr nicht abgeleckt werden kann, lernt auch später nicht mehr, das arttypische Verhalten, wie z.B. das Spielen, zu entwickeln. Durch die Verhinderung der Interaktion zwischen der Mutter und ihrem Jungen geschah ein Strukturwandel des Nervensystems, der Auswirkungen für das weitere Leben hat (vgl. ebd. 140). Welche dramatischen Folgen solche Strukturveränderungen haben können, zeigt das Beispiel von zwei jungen Mädchen, etwa fünf und acht Jahre alt, die 1922 in einem bengalischen Dorf aufgefunden wurden und die offensichtlich von Wölfen großgezogen worden waren. „Als sie gefunden wurden, konnten die Mädchen nicht aufrecht auf zwei Beinen gehen, aber schnell auf vier Beinen laufen. Selbstverständlich sprachen sie nicht, und sie hatten ausdruckslose Gesichter. Sie wollten nur rohes Fleisch essen und wurden nachts aktiv, sie lehnten menschlichen Kontakt ab und zogen die Gesellschaft von Hunden und Wölfen vor. (. . .) Ihre Trennung vom Schoß der Wolfsfamilie führte bei ihnen zu einer tiefen Depression, die beide an den Rand des Todes, eines sogar in den Tod führte“ (ebd. 141).
Auch das überlebende Mädchen wurde von anderen Personen, die es näher kennenlernten, nie „als wirklich menschlich empfunden“ (ebd. 143). Das Beispiel zeigt, wie falsch es ist, den Menschen, und überhaupt ein Lebewesen, nur von seiner genetischen Ausstattung her definieren zu wollen. Nur im Austausch mit einer ihm gemäßen Umwelt entwickelt sich ein Lebewesen in arttypischer Weise und d. h., nur durch die Interaktion mit anderen Menschen wird der Mensch zum Menschen. Die strukturelle Flexibilität des Nervensystems widerlegt nicht nur den behavioristischen Ansatz, sondern auch den gängigen Vergleich des Gehirns mit einem Computer. Es ist vielmehr so, dass das Nervensystem autonom und flexibel auf die Herausfor-
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IV. Monismus – Die Einheit der Natur
derungen der Umwelt antwortet, indem es „spezifiziert, welche Konfigurationen des Milieus Strukturveränderungen in ihm auslösen können“ (ebd. 148). Maturana lässt sich bei seinen Überlegungen von den Forschungen des Biologen Jakob von Uexküll leiten, der bereits in seinem 1909 erschienenen Buch Umwelt und Innenwelt der Tiere den Begriff des „Bauplans“ entwickelte, der für den Funktionskreis von ‚Merkwelt‘ und ‚Wirkwelt‘ entscheidend ist. Maturana setzt an seine Stelle den Begriff der „Strukturdeterminiertheit“. In jedem Fall antwortet das Tier als ein lebendiges System auf die Herausforderungen seiner Umwelt, und dieses System ist wandelbar. Das bedeutet: „Der Plastizitätsreichtum des Nervensystems ist nicht darin begründet, daß es Abbildungen (Engramme) von den Dingen der Welt produziert, sondern in seinem kontinuierlichen Wandel in Einklang mit dem Wandel des Milieus als Resultat der Auswirkungen seiner Interaktionen bleibt“ (ebd. 186).
Doch nicht nur das einzelne Lebewesen ist als ein flexibles, mit seiner Umwelt interagierendes System zu verstehen, sondern auch Populationen. Sie bilden ein soziales System. So bleibt bei einer fliehenden Herde von Antilopen ein Tier an einer exponierten und daher gefährdeten Stelle zurück, um den Feind zu beobachten und den Fluchtweg der Herde abzusichern. Das zeigt eine grundlegende Ambivalenz. Das Individuum ist spezifischer Teil einer in sich flexiblen sozialen Einheit und daher wichtig, zugleich aber austauschbar. Das Verhältnis lässt sich systemtheoretisch so formulieren: „Der Prozeß ist der einer Transformation von Verhalten bedingt durch die Erhaltung des sozialen Systems mittels des Verhaltens seiner Bestandteile“ (ebd. 226). Für die Organisation dieser Transformation, die auch als ein sozialer Prozess zu verstehen ist, verwenden bereits die Tiere Sprache. Die von den Tieren verwendeten sprachlichen Zeichen haben einen spezifischen Sinn; sie dienen der Koordination des Verhaltens. Diese Aufgabe erfüllen sie auch beim Menschen. „So koordiniert das Wort ‚Tisch‘ unsere Handlungen in Hinsicht auf die Handlungen, die wir ausführen, wenn wir mit dem ‚Tisch‘ umgehen“ (ebd. 227). Die Sprache des Menschen geht jedoch darüber hinaus. Maturana bezeichnet das „Reich der Sprache“ als eine spezifisch menschliche Kompetenz und widmet ihm besondere Aufmerksamkeit. Der Schlüssel liegt in der Fähigkeit des Menschen zur Beobachtung. Ein Beobachter ist ein Mensch, der nicht einfach Teil einer Interaktion ist, sondern der diese mit sprachlichen Mitteln beschreibt. Auf diesem Hintergrund entwirft Maturana seinen bemerkenswerten sprachanthropologischen Ansatz. Er sagt: „Mit der Sprache entsteht auch der Beobachter als ein sprachmächtiges Wesen. Indem es in der Sprache mit anderen Beobachtern operiert, erzeugt dieses Wesen das Ich und seine Umstände als sprachliche Unterscheidungen im Rahmen seiner Teilnahme an einem sprachlichen Bereich. Auf diese Weise entsteht Bedeutung (Sinn) als eine Beziehung von sprachlichen Unterscheidungen. Und Bedeutung / Sinn wird Teil unseres Bereiches der Erhaltung der Anpassung. (. . .) Wir menschliche Wesen sind nur in der Sprache menschliche Wesen, und weil wir über die Sprache verfügen, gibt es keine Grenze dafür, was beschrieben, vorgestellt und miteinander in Zusammenhang gebracht werden kann“ (ebd. 228f.).
3. Autopoiese – Die Selbsterzeugung lebender Systeme (Maturana)
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Ebenso gibt es kein Selbstbewusstsein ohne Sprache. „Selbstbewußtsein, Bewußtheit, Geist – das sind Phänomene, die in der Sprache stattfinden“ (ebd. 249). Die Entstehung des Beobachters und des Ichs und der damit verbundenen Grenzüberschreitung wirft die Frage auf, inwiefern der Mensch als ein lebendiges System, das wie alle anderen Lebewesen auch strukturdeterminiert ist, diese Determination überschreiten kann und der Freiheit zugänglich wird. Maturanas Antwort auf diese Frage lautet so: „Der Organismus ist frei, obwohl sein Operieren deterministisch ist, wenn er konsensuelle Bereiche zweiter Ordnung generieren kann; er kann nämlich dann als rekursiver Beobachter seiner Verhältnisse operational voneinander unabhängige konsensuelle Gegenstände generieren“ (Maturana, 2000, 143).
Als Beobachter seiner Verhältnisse ist er ihren Zwängen nicht mehr unterworfen. Er entwickelt Vorstellungen, die über das jeweils Gegebene hinausgehen. Er bewegt sich im Bereich der Phantasie und der Kreativität. Wahrscheinlich hatte Maturana auch die von Pinochet im Jahre 1973 errichtete Diktatur in seinem Lande im Blick, wenn er anfügt: „Daher zielt alle politische Gewaltherrschaft explizit oder implizit darauf, Kreativität oder Freiheit zu reduzieren, indem sie alle sozialen Interaktionen vorschreibt, um Menschen als Beobachter auszuschalten und die eigene Herrschaft zu stabilisieren“ (ebd.). Maturanas Überlegungen zur Ethik nehmen ihren Ausgang von der Erkenntnis der „biologischen und sozialen Struktur des Menschen“ (Maturana / Varela, 1978, 264). Diese Erkenntnis kann uns zu der Einsicht verhelfen, dass wir nur in Kooperation mit anderen eine Welt hervorbringen können, in der ein Zusammenleben möglich ist, das die andere Person nicht negiert. Der „soziale Imperativ“ zielt darauf ab, Konflikte zu überwinden und „Koexistenz“ möglich zu machen. Mehr noch: Als Biologe leitet ihn die Einsicht, „daß es, biologisch gesehen, ohne Liebe, ohne Annahme anderer, keinen sozialen Prozeß gibt“ (ebd. 266), denn „Liebe ist eine biologische Dynamik mit tiefreichenden Wurzeln“ (ebd. 266f.). Daher lautet sein Fazit: „Wir haben nur die Welt, die wir zusammen mit anderen hervorbringen, und nur Liebe ermöglicht uns, diese Welt hervorzubringen“ (ebd. 267f.). Das Hauptproblem der Anthropologie Maturanas besteht in seinen Annahmen zur Entstehung eines ‚sprachmächtigen Beobachters‘, des Ichs, der Freiheit und der Kreativität. Sie wären nur durch einen Kategorienwechsel möglich, und der setzt bereits einen qualitativen Sprung voraus. Die pragmatisch interpretierte ‚Tiersprache‘ des Menschen im Sinne einer Verhaltenskoordination durch Zeichen zum Zweck der Selbsterhaltung reicht dafür nicht aus. Weiterführend ist dagegen seine Annahme eines „sprachmächtigen Wesens“, das in der Lage ist, sich „rekursiv“ und reflexiv zu verhalten und einen kommunikativen Bereich „zweiter Ordnung“ zu generieren. Deutlich wird dabei, dass das nur gelingen kann, wenn der Monismus in seiner Eindimensionalität übersprungen wird. Maturanas Wirkung lässt sich im deutschen Sprachraum bei dem Neurophysiologen Wolf Singer nachweisen und im Bereich der Soziologie in der Systemtheorie von Niklas Luhmann.
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IV. Monismus – Die Einheit der Natur
Kultur und Geschichte
V.
Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell
Im antiken Mythos vergleicht sich der Mensch mit den Göttern und erkennt bei sich ihnen gegenüber einen gravierenden, unaufhebbaren Mangel: seine Sterblichkeit. Zu diesem Kontext gehören alle die Schwächen und Nöte, die das Leben so beschwerlich machen: frühe Hilflosigkeit, Krankheit, Schicksalsschläge, Alter und Tod. Es ist bemerkenswert, dass der Mensch, trotz seiner einzigartigen Stellung in der Welt, immer wieder seine Mängel und Schwächen betont. Auch wenn die besonderen Leistungen des Menschen in einem z.T sogar bewundernden Ton hervorgehoben werden, gibt es, abgesehen von dem Konzept der Subjektivität, im europäischen Denken keine nennenswerte Anthropologie, die nicht zugleich auch die Schwächen und Mängel, die Gebrochenheit des Denkens, die Kränkung und die Tragik des Menschen betonte. Dagegen ließe sich einwenden: Der Mensch vergreift sich eben, wenn er sich mit den Unsterblichen vergleicht. Allerdings ist bei diesem Einwand zu berücksichtigen, dass dieser von ihm inszenierte Vergleich ohnehin nur den Sinn hat, die Mängel des Menschen im Verhältnis zu dem von ihm phantasierten Vollkommenen, aber Unerreichbaren zu betonen. Doch bereits im mythologischen Zeitalter wird der Vergleich der Menschen mit den Göttern abgelöst, oder zumindest ergänzt, durch den Tier-Mensch-Vergleich. Das Erstaunliche ist jedoch, dass der Mensch selbst im Vergleich zum Tier mehr als schlecht abschneidet. Das Tier ist, jedes in seiner Art, vollkommen, d. h. es ist mit dem ausgestattet, was es zum Leben braucht. Nicht so der Mensch. Er ist nicht nur als Säugling von einer einzigartigen Hilflosigkeit, sondern auch als Erwachsener fehlen ihm viele Dinge, die er zum Leben braucht, allem voran die Kleidung. Seine natürliche Ausstattung reicht nicht aus, um ihm ein Überleben zu sichern. Aber der Neid, der sich beim Menschen gegenüber dem Tier einstellt, hat einen tieferen Grund. Er liegt in einer aus einem Bewusstsein der Gespaltenheit und Zerissenheit heraus genährten Verunsicherung seiner selbst. Herder hat ihn deshalb als den ‚Invaliden seiner obern Kräfte‘ bezeichnet. In jedem Fall aber wird es für den Menschen nur möglich zu überleben, wenn er die gravierenden Mängel seiner Existenz ausgleicht. Für diesen Ausgleich bietet das Konzept der Kompensation das geeignete Modell. Die Arten, wie diese Kompensation gedacht wird, sind jedoch verschieden.
V. Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell
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Platon hat die Mängel des Menschen in drei Mythen dargestellt. Sie zentrieren sich um die Götter Eros, Prometheus und Hermes. Thematisiert werden die Bereiche der Liebe, des Handwerks und der Künste, der Beherrschung des Feuers und schließlich der Politik. Bei Herder ist es die Natur, die den Menschen mit den lebensnotwendigen Zusatzausstattungen versieht: Vernunft und Freiheit und, mit der Vernunft unlösbar verbunden, die Sprache; schließlich der Sinn für Gut und Böse. Auch für Gehlen gehören die Mittel der Kompensation natürlicher Mängel der Natur selbst an. Er vereinigt alle diese Mittel unter dem Begriff der Kultur und darf daher als ein führender Vertreter der Kulturanthropologie angesehen werden.
1. Eros, Prometheus und Hermes – Mythen von menschlichen Mängeln (Platon) „Es war einst eine Zeit, wo es Götter zwar gab, sterbliche Geschlechter aber gab es noch nicht; nachdem aber auch für diese die vorherbestimmte Zeit ihrer Erzeugung gekommen war, bildeten die Götter sie innerhalb der Erde aus Erde und Feuer (. . .). Und als sie sie nun ans Licht bringen sollten, übertrugen sie dem Prometheus und Epimetheus, sie auszustatten und die Kräfte unter sie, wie es jedem zukomme, zu verteilen. Vom Prometheus aber erbat sich Epimetheus, er wolle verteilen (. . .). Bei der Verteilung nun verlieh er einigen Stärke ohne Schnelligkeit (. . .), einige bewaffnete er, anderen, denen er eine wehrlose Natur gegeben, ersann er eine andere Kraft zur Rettung (. . .). Wie aber Epimetheus doch nicht ganz weise war, hatte er unvermerkt schon alle Kräfte aufgewendet für die unvernünftigen Tiere; übrig also war ihm noch unbegabt das Geschlecht der Menschen, und er war wieder ratlos, was er diesem tun sollte. In dieser Ratlosigkeit nun kommt ihm Prometheus, die Verteilung zu beschauen, und sieht die übrigen Tiere zwar in allen Stücken weislich bedacht, den Menschen aber nackt, unbeschuht, unbedeckt, unbewaffnet, und schon war der bestimmte Tag vorhanden, an welchem auch der Mensch hervorgehen sollte aus der Erde an das Licht. Gleichermaßen also der Verlegenheit unterliegend, welcherlei Rettung er dem Menschen noch ausfände, stiehlt Prometheus die kunstreiche Weisheit des Hephaistos und der Athene, nebst dem Feuer (. . .) und so schenkt er sie dem Menschen.“ (Platon: Protagoras, 320 c–321 c).
Platon (427–347 v. Chr.) lebte in einer Zeit, in der die großen Gestalten der sophistischen Aufklärung wie Protagoras und Gorgias bereits ihre Wirksamkeit entfaltet hatten. Ein Teil dieser Wirksamkeit bestand darin, die tradierte Sitte, die geltende Rechtsordnung, vor allem aber die Verbindlichkeit der alten Mythen in Frage zu stellen. Mythenkritik, die die Leugnung der Existenz der Götter einschloss, gehörte dazu. Bereits für Sokrates hatte der alte Mythos seine Glaubwürdigkeit verloren, wie der platonische Dialog Euthyphron belegt. An die Stelle des Mythos war mehr und mehr der rational argumentierende, beweisende Logos getreten. Seine Methode ist die Dialektik. Sie hat Platon, ausgehend von den sokratischen Dialogen, weiter entwickelt. Gleichwohl tauchen im Werk Platons immer wieder und mit bedeutsamen Akzentsetzungen Mythen auf. Ihre Funktion ist es, Sachverhalte zur Sprache zu bringen, die dem ratio-
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V. Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell
nalen Logos prinzipiell unzugänglich sind, wie z. B. die Frage nach dem Schicksal der Seele nach dem Tode (vgl. Kap. III,1) oder aber für einen Sachverhalt eine anschauliche, nur symbolisch zu verstehende, Darstellungsweise zu finden. Protagoras, dem Platon die Mythen von Protagoras und Hermes in den Mund legt, fragt seine Zuhörer zuvor, in welcher Weise er die zur Diskussion stehende Frage darstellen solle. Er sagt: „Aber wie soll ich es euch zeigen: indem ich ein Märchen (Mythos) erzähle, wie ältere wohl jüngeren zu tun pflegen oder indem ich eine Abhandlung (Logos) vortrage?“ (ebd. 320 c). Die Entscheidung fällt zugunsten des Mythos aus, denn er ist „anmutiger“. Damit ist der unmittelbare Wahrheitsanspruch des Mythos bereits aufgehoben. Der dargestellte Sachverhalt ließe sich nach dieser Vorbemerkung ebenso gut als Abhandlung (Logos) vortragen. Indirekt ergeht damit an die Zuhörer die Aufforderung, den rationalen Kern des Mythos für sich zu entdecken, d. h. den Mythos zu entmythologisieren. Dieser Ansatz trifft für die drei hier in Frage kommenden Mythen zu. Es ist der Mythos von der Macht des Eros, der sich in Platons Symposion findet, und der Prometheus- und Hermesmythos, die im Dialog Protagoras erzählt werden. Gemeinsames Merkmal dieser Mythen ist es, die gegenwärtig erfahrbare Situation des Menschen als das Ergebnis eines Ereignisses zu erklären, das in einer mythischen Vorgeschichte stattfand. Im Symposion ist es die Darstellung der Macht der Liebe. Die dem Komödiendichter Aristophanes in den Mund gelegte Rede über den Eros ist besonders eindrucksvoll. Er beginnt seinen Mythos so: „Unsere ehemalige Natur war nämlich nicht dieselbe wie jetzt, sondern ganz eine andere“ (ebd. 189 d). Ehemals, so sagt er, gab es nicht zwei, sondern drei Geschlechter: das männliche, das weibliche und das androgyne, d. h. das mann-weibliche. Jedes hatte vier Arme, vier Beine, zwei Gesichter und zwei Schamteile. Auch war die Gestalt des Menschen früher anders, nämlich eine vollkommene Kugelgestalt. Aber auch in anderer Hinsicht waren die Menschen vollkommener als die heutigen. Sie waren „gewaltig an Kräften“ und „groß im Denken“. Aufgrund dieser Vollkommenheit fassten sie schließlich den Plan, sich einen Zugang zum Himmel zu verschaffen und die Götter anzugreifen. In dieser Situation machte Zeus den Vorschlag, die Menschen zwar nicht ganz auszurotten, da die Götter nicht auf ihre Opfergaben und Ehrenbezeugungen verzichten wollten, sie jedoch dadurch zu schwächen, dass jeder in zwei Hälften zerschnitten würde. Sollten die Menschen auch dann noch keine Ruhe geben, sollten sie nochmals geteilt werden, und dann müsste jeder Mensch zusehen, wie er, auf einem Bein hüpfend, fortkäme. Der Plan wurde ausgeführt und Apollon befohlen, jedem Menschen „das Gesicht und den halben Hals herumzudrehen nach dem Schnitte hin, damit der Mensch, seine Zerschnittenheit vor Augen habend, sittsamer würde“ (ebd. 190 e). Nachdem dies geschehen war, sehnte sich jeder nach seiner anderen Hälfte; das männliche Geschlecht zum männlichen, das weibliche zum weiblichen und das androgyne zum jeweils anderen. Treffe nun ein Mensch seine ihm entsprechende Hälfte, so lasse er nicht mehr von ihr ab und begehre, so eng mit ihr zusammen zu sein, als wäre er mit ihr „zusammengeschweißt“. Aristophanes beschließt seinen Mythos mit der Aussage: „Von so langem her also ist die Liebe zueinander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wieder herzustellen, und versucht, aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen“ (ebd. 191 c/d).
1. Eros, Prometheus und Hermes – Mythen von menschlichen Mängeln (Platon)
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Der Mythos erzählt von drei Stadien: das erste bezeichnet die ursprüngliche Vollkommenheit des Menschen, das zweite die durch das Zerschnittensein bedingte Unvollkommenheit und das dritte schließlich die durch den Gott Eros ermöglichte Wiederherstellung der ursprünglichen Natur. Bemerkenswert ist, dass es überhaupt einen ursprünglich vollkommenen Zustand des Menschen gab. Doch der ist durch die Hybris der Menschen, ihre Überheblichkeit, verloren gegangen. Der jetzige Zustand ist daher als gerechte Strafe zu verstehen. Bedeutsam ist ebenso, dass die Götter eifersüchtig über ihre Vorrangstellung wachen und eine Gleichstellung der Menschen ihnen gegenüber nicht dulden können. Ein ähnliches Motiv findet sich im biblischen Paradiesmythos. Hier ist es der Baum des Lebens, der ewiges Leben verspricht, und der als ein göttliches Privileg vor dem Menschen geschützt werden muss (vgl. Kap. II, 1). Interessant ist im platonischen Mythos aber auch die Eitelkeit der Götter, die auf die Ehrenbezeugungen der Menschen nicht verzichten wollen. Mit der Einführung von ursprünglich drei Geschlechtern wird die Existenz der heterosexuellen und, ebenso einleuchtend, die homosexuelle Liebe erklärt. Die Zwanglosigkeit, mit der das geschieht, zeigt, dass die Homosexualität im antiken Griechenland als etwas Selbstverständliches, nur zu Erklärendes, nicht aber zu Verurteilendes angesehen wurde. Die Liebe eines älteren Liebhabers zu seinem jüngeren Geliebten wird an einer anderen Stelle des Dialogs sogar als ein pädagogisches Verhältnis gelobt. Tatsächlich aber ist in vielen Fällen, so z. B. in der Art wie Homer Achills Liebe zu Patroklos darstellt, von einer bisexuellen Beziehung auszugehen. Die Liebe selbst, die Sehnsucht des Menschen nach seiner ihm entsprechenden Hälfte, ist jedoch als ein grundsätzlicher Mangel zu verstehen. Wer liebt, der leidet, und der Zustand des Leidens ist einer der Unvollkommenheit und des Mangels. Das ist eine zentrale Aussage des Mythos. Der Angriff auf die Götter ist mit der Schwächung des Menschen vorerst abgewehrt oder zumindest erschwert; denn die Liebe ist ein Umweg zur ursprünglichen Vollkommenheit. Die Sehnsucht nach Vollkommenheit – und das ist die zweite bedeutsame Aussage des Mythos – bleibt erhalten. Doch ihre Erfüllung kostet Zeit und bindet einen großen Teil der Kräfte des Menschen. Nicht unwichtig ist aber auch der Gedanke, dass es die Götter sind, die beides bewirken: Zerstörung der ursprünglichen Vollkommenheit und Hilfe bei dem Versuch ihrer Wiederherstellung. Im weiteren Verlauf des Dialogs erklärt Sokrates die Philosophie als das vom Eros geleitete Streben nach Vollkommenheit. Der Prometheusmythos ist ein weiteres Beispiel für die Darstellung menschlicher Mängel. Platon konnte für seine Fassung auf eine Vorlage von Hesiod zurückgreifen. Daran sei erinnert (vgl. Kap. I, 2). Bei Hesiod ist der Mythos eingebettet in den Streit der neuen olympischen Götter, zu denen Zeus gehört, mit den alten, matriarchalisch bestimmten, zu denen die Titanen gehören. Einer von ihnen ist Prometheus. Zwar werden die Titanen von den olympischen Göttern besiegt und in die Tiefe verbannt, doch Prometheus, dem menschenfreundlichsten unter ihnen, gelingt es zuvor, den Menschen Vorteile zu verschaffen. Dazu gehört das Geschenk des Feuers. Er stiehlt das Feuer, über das Zeus wacht und das er den Menschen vorenthalten möchte, und schenkt es den Menschen (Hesiod, 1985, V. 567). Doch Zeus lässt diese Schmach nicht auf sich sitzen. Er schafft für die Menschen als Ausgleich für die Wohltat ein Übel. Davon berichtet der Mythos von Pandora. Bei Hesiod ist Prometheus bereits die Gestalt, die den Menschen
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V. Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell
das Feuer bringt, aber es ist nicht die Kompensation für einen Mangel, sondern ein wohltätiges Geschenk. Auch für ihn spielt der Gedanke der Kompensation eine Rolle, aber es ist nicht die Kompensation eines Mangels durch eine Wohltat, sondern umgekehrt die Kompensation einer Wohltat durch bislang nicht gekannte „Übel“. Die Menschen, die bis dahin „weit von Übeln entfernt und ohne drückende Plage“ lebten, sind nun „zahllosen Leiden“ unterworfen. Platon erzählt die Geschichte in seinem Dialog Protagoras völlig neu. Prometheus und sein Bruder Epimetheus sind nun nicht Widersacher von Zeus, sondern seine Gehilfen. Sie führen seine Anweisungen aus. Erzählt wird ein Schöpfungsmythos. Dabei geht es nicht, wie im biblischen Mythos, um die Erschaffung der Welt, sondern um die der Lebewesen. Diese bildeten die Götter „innerhalb der Erde aus Erde und Feuer, auch das hinzumengend, was von Erde und Feuer gemengt ist“ (ebd. 320d; vgl. Text). Die von den Göttern geschaffenen Lebewesen sollen von Prometheus und Epimetheus mit den lebensnotwendigen Fähigkeiten ausgestattet werden. Epimetheus fällt die Aufgabe des Verteilens zu und Prometheus die der Begutachtung. Dabei fällt auf, dass Platon bei der Beschreibung der Tierwelt auf sehr genaue biologische Beobachtungen zurückgreift. Modern gesprochen lässt sich sagen, dass Platon das Prinzip des ökologischen Gleichgewichts beachtet. Das Prinzip der Schöpfung ist die Erhaltung der Art in einer feindlichen Umwelt. Kleinen und schwachen Tieren werden Fluchtmöglichkeiten eröffnet, so z. B. Flügel oder „unterirdische Behausung“; Beutetiere haben zahlreichen Nachwuchs, Raubtiere wenige Nachkommen; Schutz vor Kälte oder Hitze wird durch ein entsprechendes Fell gewährleistet. Nur der Mensch ist in besonderer Weise hilflos. Er ist „nackt, unbeschuht, unbedeckt, unbewaffnet“. Die besondere Hilflosigkeit des Menschen ist im antiken Griechenland schon früh thematisiert worden. So erklärt Anaximander, dass der Mensch sich ohne fremde Hilfe überhaupt nicht am Leben hätte halten können. Daher nimmt er an, dass die ersten Menschen sich in einem Fisch entwickelt hätten und erst, nachdem sie für sich selber sorgen konnten, aus diesem hervorgekommen seien (vgl. DK 12 A 30). Protagoras, der Wortführer in dem gleichnamigen Dialog, geht von der Annahme aus, dass es offensichtlich nur eine bestimmte Anzahl von zu vergebenden Eigenschaften gebe, und die seien bereits an die Tiere verteilt worden, die, ähnlich wie in der Bibel, vor den Menschen geschaffen wurden. Daher ist der Mensch aufgrund seiner ihm zu Teil gewordenen Ausstattung ein Mängelwesen. Es bedarf der Kompensation dieser Mängel. Für sie sorgt Prometheus. Dazu gehört, wie bei Hesiod, das Feuer. Ergänzt wird diese Gabe durch die Künste der Athene und des Hephaistos. Athene, die Schutzgöttin der Stadt, ist zugleich die Schutzgöttin des Handwerks, und Hephaistos ist der Gott des Schmiedehandwerks. Prometheus dringt heimlich in ihr gemeinsames Gemach ein und stiehlt ihnen ihre Künste. Bemerkenswert ist, dass das Feuer als unentbehrlicher Teil der Kunst des Schmiedehandwerks eingeführt wird; „denn unmöglich war, daß sie einem ohne Feuer hätte können angehörig sein oder nützlich“ (ebd. 321 d). Der Gebrauch des Feuers wird also im Zeitalter einer bereits fortgeschrittenen Technik thematisiert und nicht in seiner elementaren Bedeutung als Mittel der Nahrungszubereitung. Platon selbst gibt in seiner Darstellung Hinweise für die Entmythologisierung. Sie besteht darin, den Mythos aus seinem vorgeschichtlichen Gewand zu befreien und
1. Eros, Prometheus und Hermes – Mythen von menschlichen Mängeln (Platon)
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seine aktuelle anthropologische Bedeutung darzustellen. So fällt auf, dass er einerseits die besonderen Mängel des Menschen wie andererseits den Gebrauch des Feuers und die Technik, vor allem die Handwerkskünste, als die entscheidenden „anthropina“, d. h. spezifisch menschlichen Merkmale, herausstellt. Der Gebrauch des Feuers hat, wie der Hinweis auf Hesiod deutlich macht, eine Sonderstellung. Schon früh wurde erkannt, dass jedes Tier das Feuer meidet. Sein Gebrauch durch den Menschen hat zur Voraussetzung, dass er die natürliche Angst aller Lebewesen vor ihm in sich überwindet. Der Beherrschung des Feuers geht daher die Selbstbeherrschung des Menschen voraus. In ihr hat sie ihre Grundlage. Die zentrale Aussage des Prometheus-Mythos lässt sich in die These fassen: Die Technik kompensiert die Mängel, die dem Menschen aufgrund göttlicher Nachlässigkeit anhaften. Ähnlich wie im Paradiesmythos muss die göttliche Schöpfung nachgebessert werden. Erst diese Nachbesserung garantiert das Überleben des Menschen. Der dritte Mythos von einem menschlichen Mangel schließt sich im Text direkt an. Den Übergang bildet der Satz: „Die zum Leben nötige Wissenschaft also erhielt der Mensch auf diese Weise, die bürgerliche (politische) aber hatte er nicht“ (ebd. 321 d). In dem Mythos, der die Entstehung der Politik thematisiert, spielt Hermes, der Götterbote und Dolmetscher, die zentrale Rolle. Die Politik und die Frage der politischen Bildung stehen im Zentrum des Dialogs Protagoras. Ausgangspunkt ist die zwischen Sokrates und Protagoras erörterte Frage, ob die politische Fähigkeit lehrbar sei. Protagoras, der selber als Lehrer der politischen Bildung auftritt, bejaht das, während Sokrates daran zweifelt. Zur Erläuterung seiner Behauptung trägt Protagoras nun einen Mythos vor, der die politische Tüchtigkeit als Geschenk von Hermes an die Menschen darstellt. Zunächst weist er darauf hin, dass der Mensch aufgrund der ihm zuteil gewordenen Künste des Hephaistos und der Athene „göttlicher Vorzüge“ teilhaftig geworden sei und darüber hinaus „wegen seiner Verwandtschaft mit Gott“ als einziges unter allen Tieren an Götter geglaubt und ihnen Altäre und Bildnisse errichtet hätte. Darin, und in der Erfindung von Musik und Dichtung, sind weitere „anthropina“ zu sehen. Schließlich gehören die Erzeugung von Wohnung, Schuhen, Kleidern und Nahrungsmitteln dazu. Protagoras ergänzt den Gedanken wie folgt: „So ausgerüstet wohnten die Menschen anfänglich zerstreut, Städte aber gab es nicht. Daher wurden sie von den wilden Tieren ausgerottet, weil sie in jeder Art schwächer waren als diese, und die verarbeitende Kunst war ihnen zwar zur Ernährung hinreichende Hilfe, aber zum Kriege gegen die Tiere unwirksam“ (ebd. 322 b).
Um sich vor den Tieren zu retten, gründen die Menschen Städte. Doch kaum zusammenlebend, drohte ihnen eine neue Gefahr, diesmal von ihnen selbst; denn „wenn sie sich aber gesammelt hatten, so beleidigten sie einander, weil sie eben die bürgerliche Kunst nicht hatten, so daß sie, wiederum sich zerstreuend, auch bald wieder aufgerieben wurden“ (ebd.). Doch Zeus, der nicht möchte, dass das menschliche Geschlecht ganz zugrunde geht, schickt Hermes mit dem Auftrag zu den Menschen, ihnen „Scham und Recht“ zu bringen. In Frage steht allerdings, ob diese Tüchtigkeit, ähnlich wie die übrigen Künste, an jeweils verschiedene Menschen aufgeteilt werden solle oder an alle gleichmäßig. Zeus befiehlt, dass sie alle erhalten sollen, „denn es könnten keine Staa-
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V. Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell
ten bestehen, wenn auch hieran nur wenige Anteil hätten wie an anderen Künsten“ (ebd. 322 d). Mehr noch, wer unfähig sei, sich „Scham und Recht“ anzueignen, den möge man töten wie einen „bösen Schaden des Staates“ (ebd.). Das Motiv der ursprünglichen, ersten Staatsgründung ist wiederum ein Mangel. Es ist die physische Schwäche des Menschen im Vergleich zu den Tieren. Der Staat stellt daher eine Schutzgemeinschaft dar. Dieses Motiv taucht bei Aristoteles nicht mehr auf. Er definiert den Menschen als ein „zoon politikon“, d. h. als ein Lebewesen, das von Natur aus in Gemeinschaft lebt. Hier im Mythos ist es die äußere Not, die zur Staatsbildung treibt. In seiner Politeia gibt Platon als Motiv der Staatsbildung das Prinzip der Arbeitsteilung an, das sich aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Handwerke ergibt und das zur wechselseitigen Befriedigung der Bedürfnisse beiträgt. Bemerkenswert sind auch die Gründe für das Scheitern des ursprünglichen Staates. Die Menschen vertragen sich nicht. Es herrscht nicht das Prinzip des Gemeinwohls, sondern das des Streits. Der Mensch scheint seiner Natur nach gerade nicht ein politisches Lebewesen zu sein. Das widerspricht der aristotelischen und auch noch der mittelalterlichen Auffassung elementar. Es erinnert vielmehr an den Gedanken von Hobbes, der den „Krieg aller gegen alle“ als Naturzustand bezeichnete. Im platonischen Mythos führte er zum Untergang der Menschheit. Schließlich sind „Recht und Scham“ die notwendigen Tüchtigkeiten, die ein politisches Zusammenleben möglich machen. Sie sind ein göttliches Geschenk. Auch bei ihnen handelt es sich um ein „anthropinon“. Aufschlussreich ist auch hier ein Blick auf Hesiod, der das Prinzip des Rechts in einem Tier-Mensch-Vergleich als menschliche Domäne herausstellt. Das Prinzip des Rechts wird gegen das bei Tieren vorherrschende Prinzip der Gewalt gestellt. Im Dialog Protagoras bleibt die Stellung des Rechts gleichwohl ambivalent. Zum einen ist es zu verstehen als ein Geschenk der Götter an alle Menschen, andererseits aber wird die Möglichkeit erwogen, dass einzelne von ihnen unfähig sind, es sich anzueignen. Die Spannung zwischen der göttlich garantierten „Begabung“ und dem gelegentlichen menschlichen Unvermögen, ihr entsprechend zu handeln, bleibt erhalten. Sie bildet den Anknüpfungspunkt für die Notwendigkeit einer politischen Bildung. Betrachtet man das Verhältnis von Mangel und Kompensation in den drei Mythen, so fällt Folgendes auf: Der Eros-Mythos geht von einer ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen aus, die durch das Verschulden des Menschen verloren geht und mit göttlicher Hilfe tendenziell kompensiert wird. Im Prometheus- und im Hermes-Mythos ist die Ursache der menschlichen Mängel die mangelnde Voraussicht und Weisheit des Gottes Epimetheus. Bemerkenswerterweise bilden hier göttliche Mängel die Ursache für die menschlichen. Diese werden durch göttliche Gaben kompensiert; d. h. die Götter beheben den Schaden, den sie dem Menschen durch Nachlässigkeit zugefügt haben. Bedeutsam ist aber auch, dass die Mängel nur ausgeglichen werden. Der Mensch erlangt durch die Fähigkeit der Kompensation keine Vorrangstellung gegenüber den Tieren. Die Wirkungsgeschichte der platonischen Mythen ist beachtlich. Sie betrifft sowohl die Definition des Menschen als Mängelwesen als auch den Gedanken der Kompensation. Das zeigt der Eros-Mythos. Die Interpretation der Liebe als die Suche nach seiner sogenannten „besseren Hälfte“ ist in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen, auch wenn sein geschichtlicher Ursprung in Vergessenheit geraten ist.
1. Eros, Prometheus und Hermes – Mythen von menschlichen Mängeln (Platon)
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Der Prometheus-Mythos hat bis in die Neuzeit hinein seine Spuren hinterlassen. Der Gedanke, dass Kultur und Technik als Kompensation natürlicher Mängel zu verstehen sind, ist anerkanntes Modell der Kulturanthropologie geworden. Gleichwohl ist auf eine bedeutsame Akzentverschiebung hinzuweisen. In der neuzeitlichen Anthropologie hat der Mensch seine Mängel von Natur aus, in der antiken entstehen diese im Verhältnis des Menschen zu den Göttern. Der Mythos wurde versachlicht. In jüngerer Zeit hat Blumenberg den Mythos als eine eigene, nicht durch die Wissenschaften zu ersetzende, Sinndeutung der Wirklichkeit zu rehabilitieren gesucht (Blumenberg, 1996).
2. Der erste Freigelassene der Schöpfung (Herder) „Die Biene summset, wie sie sauget, der Vogel singt, wie er nistet – aber wie spricht der Mensch von Natur? Gar nicht! so wie er wenig oder nichts durch völligen Instinkt, als Tier tut. Ich nehme bei einem neugebornen Kinde das Geschrei seiner empfindsamen Maschine aus; sonst ist’s stumm; es äußert weder Vorstellungen noch Triebe durch Töne, wie doch jedes Tier in seiner Art; bloß unter Tiere gestellet, ist’s also das verwaisetste Kind der Natur, nackt und bloß, schwach und dürftig, schüchtern und unbewaffnet und, was die Summe seines Elendes ausmacht, aller Leiterinnen des Lebens beraubt. – Mit einer so zerstreueten, geschwächten Sinnlichkeit, mit so unbestimmten, schlafenden Fähigkeiten, mit so geteilten und ermatteten Trieben geboren, offenbar auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise bestimmt – und doch so verwaiset und verlassen, daß es selbst nicht mit einer Sprache begabt ist, seine Mängel zu äußern – Nein, ein solcher Widerspruch ist nicht die Haushaltung der Natur. Es müssen statt der Instinkte andre verborgne Kräfte in ihm schlafen.“ (Herder: Werke in fünf Bänden. Bd. 2. Berlin 1982, 108).
Johann Gottfried Herder wird 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Ab 1762 studiert er in Königsberg zunächst Medizin, dann Theologie und Philosophie. Dort hört er die Vorlesungen des ‚vorkritischen‘ Kant und ist von dessen Lehre und Persönlichkeit fasziniert. Er schließt Freundschaft mit Hamann und wird auf dessen Empfehlung 1764 Lehrer an der Domschule in Riga. Reisen nach Frankreich ermöglichen ihm die Bekanntschaft mit Diderot und d’Alembert. In Hamburg lernt er Lessing kennen, und in Straßburg schließt er Freundschaft mit Goethe. 1771 wird er Konsistorialrat und Hofprediger in Bückeburg und 1776 durch Vermittlung Goethes Generalsuperintendent zu Weimar. 1788/89 unternimmt er eine Italienreise, die jedoch seine Erwartungen enttäuscht. Nach vorübergehender Mitarbeit an Goethes und Schillers Horen kommt es im Jahr 1796 zum Bruch mit der Weimarer Klassik. 1798 schließt er Freundschaft mit Jean Paul. 1799 kritisiert er in seiner Schrift Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft Kants Transzendentalphilosophie. Er stirbt 1803 in Weimar (vgl. Kantzenbach, 1992). Herders Philosophie ist zu verstehen als Ausdruck der Aufklärung und zugleich als deren Kritik. Die ihn leitenden Gedanken lassen sich durch die Begriffe Erfahrung, Entwicklung, Bildung, Natur und Naturgeschichte, Individualität und Sprache charakterisieren. Ausgangspunkt ist für ihn ein naturphilosophischer Ansatz, der sich an Spinoza und Leibniz orientiert. Die Formel ‚deus sive natura‘ wird für ihn ebenso zentral wie der Gedanke einer schöpferischen Natur (natura naturans). Seit seiner ersten
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V. Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell
bedeutenden philosophischen Schrift Über den Ursprung der Sprache aus dem Jahre 1771 lehnt er Metaphysik ab, die, jenseits der Erfahrung, Denken, Sprache und Vernunft aus Begriffen ‚apriori‘ glaubt ableiten zu können. Das Denken ist für ihn ein organisch bedingter Akt der Reflexion und nicht die Leistung eines transzendentalen Subjekts. Innerhalb der Neuzeit, in der die Definition des Menschen als eines Mängelwesens neu belebt wurde, gelten Herder und Gehlen als ihre prominentesten Vertreter (HWP 5, Sp. 712). Herder hat sie in seiner Antwort auf die von der Berliner Akademie der Wissenschaften ausgeschriebene Preisfrage Über den Ursprung der Sprache entfaltet. Die Schrift stellt Herders erste Ausarbeitung seiner Anthropologie dar. Sie ist bestimmt durch den Kontrast, der sich aus den natürlichen Mängeln des Menschen einerseits und deren Kompensation durch die Sprache andererseits ergibt. Die zweite bedeutende Ausarbeitung seiner Anthropologie findet sich in seinem umfangreichen Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, von dem die ersten beiden Teile 1784 erschienen. In ihm werden bedeutsame Modifikationen seines ersten anthropologischen Ansatzes vorgenommen, und daher sind beide Konzepte vorzustellen. In seiner ersten Schrift setzt sich Herder mit gängigen Thesen seiner Zeit über den Ursprung der Sprache auseinander. Nach der einen ist die menschliche Sprache als Fortsetzung der auch bei Tieren anzutreffenden Natursprache zu verstehen. Ihre Basis sind Empfindungslaute: „Diese Seufzer, diese Töne sind Sprache. Es gibt also eine Sprache der Empfindung, die unmittelbares Naturgesetz ist.“ (Herder 2, 92). Diese Empfindungslaute teilt der Mensch mit dem Tier. Zum Verständnis der menschlichen Sprache reicht dieses Konzept nach Herder jedoch nicht aus, denn diese Laute sind situationsabhängig und ihre Bedeutungsbreite ist eng begrenzt. Zwar lassen sich auch jetzt noch in „allen Sprachen des Ursprungs (. . .) Reste dieser Naturtöne“ finden, „nur freilich sind sie nicht die Hauptfäden der menschlichen Sprache“ (ebd. 95). Daher sei der Versuch von Condillac verfehlt, auf ihrer Basis die menschliche Sprache entwickeln zu wollen, da „aus Schällen der Empfindung nimmermehr eine menschliche Sprache wird“ (ebd. 104). Haltlos sei auch der Ansatz, die Sprache konventionell, d. h. als Ergebnis menschlicher Vereinbarungen zu deuten, denn jede Vereinbarung setze bereits Sprache voraus (ebd. 118). Schließlich sei der Gedanke des Theologen Süßmilch falsch, der die menschliche Sprache als ein Geschenk Gottes interpretiert (ebd. 118). Auch hier werde bereits das vorausgesetzt, was erst zu entwickeln sei. Um das Geschenk der Sprache annehmen zu können, müsste der Mensch bereits über die Fähigkeit verfügen, Sprache zu verstehen. Das setze aber bereits Sprachkompetenz voraus. Aus all diesen Aporien zieht Herder die Konsequenz, dass es einen Weg geben muss, die menschliche Sprache als eine eigene menschliche Erfindung zu deuten. Dazu ist es sinnvoll, die spezifische Situation des Menschen im Vergleich zum Tier herauszuarbeiten. Der erste auffällige Unterschied betrifft den Instinkt. Herder bemerkt: „Daß der Mensch den Tieren an Stärke und Sicherheit des Instinktes weit nachstehe, ja, daß er das, was wir bei so vielen Tiergattungen angeborne Kunstfähigkeiten und Kunsttriebe nennen, gar nicht habe, ist gesichert“ (ebd. 105).
Die Herrschaft des Instinkts ist verbunden mit einer eng begrenzten Lebensweise. „Jedes Tier hat seinen Kreis, in den es von der Geburt an gehört, gleich eintritt, in dem es
2. Der erste Freigelassene der Schöpfung (Herder)
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lebenslang bleibet und stirbt“ (ebd. 105). Dazu kommt eine weitere Beobachtung. Je schärfer die Sinne der Tiere sind, desto kleiner ist der Kreis ihrer Tätigkeit. Zwar baut die Biene ihren Korb mit großer Weisheit, „aber außer diesen Zellen und außer ihrem Bestimmungsgeschäft in diesen Zellen ist sie auch nichts. Die Spinne webet mit der Kunst der Minerva, aber alle ihre Kunst ist auch in diesen engen Spinnraum verwebet, das ist ihre Welt. Wie wundersam ist das Insekt und wie enge der Kreis seiner Würkung!“ (ebd. 105f.).
Das Fazit ist: Der Lebenskreis des Tieres ist eng begrenzt, aber innerhalb dieses Kreises verfügt es aufgrund seiner Instinkte über alles, was es zum Leben braucht. Instinkte und Triebe geben ihm Sicherheit und garantieren sein Überleben. Ganz anders ist die Situation des Menschen. „Als nacktes, instinktloses Tier betrachtet, ist der Mensch das elendeste der Wesen. Da ist kein dunkler angeborner Trieb, der ihn in sein Element und in seinen Würkungskreis, zu seinem Unterhalt und an sein Geschäfte zeucht, kein Geruch und keine Witterung, die ihn auf die Kräuter hinreiße, damit er seinen Hunger stille, kein blinder, mechanischer Lehrmeister, der für ihn sein Nest baue! Schwach und unterliegend dem Zwist der Elemente, dem Hunger, allen Gefahren, den Klauen aller stärkern Tiere, einem tausendfachen Tode überlassen, stehet er da, einsam und einzeln, ohn den unmittelbaren Unterricht seiner Schöpferin und ohne die sichere Leitung ihrer Hand, von allen Seiten also verloren“ (ebd. 160).
Bestünde der Unterschied des Menschen zum Tier daher nur in diesen Mängeln, so wäre die Natur „gegen ihn die härteste Stiefmutter, da sie gegen jedes Insekt die liebreichste Mutter“ war (ebd. 109). Der Topos von der ‚natura noverca‘, der stiefmütterlichen Natur, wird fester Bestandteil der Definition des Menschen als eines Mängelwesens. Doch die Mängel werden kompensiert. Gerade die Schwäche der Sinne und der Mangel an Instinkt ist es, der ihm zum Vorteil gereicht. Es bedeutet nämlich Aufhebung der damit verbundenen Zwänge; und eben dadurch verwandeln sich diese Mängel in einen „Vorzug der Freiheit“ (ebd. 110). Indem der Mensch nicht mehr begrenzt ist durch einen engen Wirkungskreis, bekommt er eine „weitere Aussicht. Er hat kein einziges Werk, bei dem er also auch unverbesserlich handle; aber er hat freien Raum, sich an vielem zu üben, mithin sich immer zu verbessern. Jeder Gedanke ist nicht ein unmittelbares Werk der Natur, aber eben damit kann’s sein eigen Werk werden. (. . .) Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung“ (ebd. 110). Das Ensemble dieser „Disposition seiner Kräfte“ heißt „Verstand, Vernunft, Besinnung usw.“ (ebd. 110).
Sie bilden die Grundlage für die Erfindung der menschlichen Sprache. Besinnung und Besonnenheit und mit ihr Reflexion bilden den Ausgangspunkt: „Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfunden“ (ebd. 115). Die Erfindung der Sprache geschieht in einem Akt der Reflexion, in dem sich die Aufmerksamkeit auf das
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V. Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell
spezifische Merkmal einer Empfindung richtet, dieses von allen anderen absondert und es mit einem „innerlichen Merkwort“ verbindet. Herder bemerkt: „Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würket, daß sie in dem Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. (. . .) Er beweiset also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft oder klar erkennen, sondern eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen kann; der erste Actus dieser Anerkenntnis gibt deutlichen Begriff, es ist das erste Urteil der Seele. (. . .) Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden“ (ebd. 115f.).
Die spezifischen Merkmale der Empfindung, die zur Wortbildung anregen, sind bei verschiedenen Gegenständen ganz unterschiedlich. Bei dem Schaf ist es das Blöken (ebd. 117), bei Kräutern der Geruch und der Geschmack (ebd. 166). „Je mehr er nun Erfahrungen sammlet, verschiedne Dinge und von verschiednen Seiten kennenlernt, desto reicher wird seine Sprache“ (ebd. 166). Die Sprachbildung ist jedoch keine Erfindung eines Einzelnen. Menschliches Denken und Sprechen ist auf Dialog angelegt. „Ich kann nicht den ersten menschlichen Gedanken denken, nicht das erste besonnene Urteil reihen, ohne daß ich in meiner Seele dialogiere oder zu dialogieren strebe; der erste menschliche Gedanke bereitet also seinem Wesen nach, mit andern dialogieren zu können“ (ebd. 126).
Ebenso ist der kindliche Spracherwerb nur vom Dialog aus zu begreifen. Er ist nicht durch Nachahmung bestimmt – das könnte auch ein Papagei – sondern dadurch, dass die Kinder im Gebrauch ihrer eigenen Vernunft die Sprache ‚miterfinden‘ (ebd. 120). Anders als im Prometheus-Mythos erfolgt bei Herder die Kompensation der natürlichen Mängel nicht durch den Gebrauch des Feuers und den Erwerb technischer Fertigkeiten, sondern durch Freiheit, Vernunft, Besonnenheit, Reflexion und Sprache. In seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit wählt Herder als Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Anthropologie einen naturphilosophisch-kosmologischen Ansatz. Er beginnt sein Werk mit dem Satz: „Unsre Erde ist ein Stern unter Sternen“ (Herder 4, 17). Dazu gehört, dass die Erde mit „unsichtbaren, ewigen Banden“ an die Sonne als ihren Mittelpunkt gebunden ist, „von der sie Licht, Wärme, Leben und Gedeihen erhält“ (ebd.). Es ist „Mutter Erde“, die das Leben „hervorbringt, trägt, nährt, duldet und zuletzt liebreich in ihren Schoß aufnimmt“ (ebd. 19). An der Stelle von Mutter Erde gebraucht Herder aber im Folgenden sehr häufig den Begriff Natur, aber auch Gott. Herders Sprachgebrauch bewahrt ebenso sehr Anklänge an die antike griechische Mythologie wie an die Philosophie Spinozas. Bereits in der Einleitung hat er sich über seinen Sprachgebrauch wie folgt geäußert: „Die Natur ist kein selbständiges Wesen, sondern Gott ist alles in seinen Werken“ (ebd. 15). Er bevorzuge jedoch den Begriff Natur, um den „hochheiligen Namen“ Gottes durch seinen häufigen Gebrauch nicht zu entweihen. Ebenso spreche er gelegentlich auch „von den organischen Kräften der Schöpfung“ (ebd.). Herders Verständnis der Natur kommt
2. Der erste Freigelassene der Schöpfung (Herder)
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auch in der Überschrift zum Ausdruck, mit dem der zweite Teil beginnt: „Unser Erdball ist eine große Werkstätte zur Organisation sehr verschiedenartiger Wesen“ (ebd. 21). Bemerkenswert ist, dass Herder nun diese Werkstätte mit Worten beschreibt, die sich anhören, als verträte er bereits eine Evolutionstheorie. So erläutert er die Entstehung des Lebens wie folgt: „Das Brennbare der Luft beförderte vielleicht den Kiesel zur Kalkerde, und in dieser organisierten sich die ersten Lebendigen des Meers, die Schalengeschöpfe, da in der ganzen Natur die Materie früher als die organisierte lebendige Form scheinet“ (ebd. 22). Nicht zu bezweifeln ist, dass Herder ein Stufenkonzept vertritt, bei dem die anorganische Materie, Pflanze, Tier und Mensch hierarchisch angeordnet sind. Doch, um von diesem Modell zur Evolutionstheorie zu kommen, sind zwei Zwischenschritte notwendig; der erste besteht darin, dass an die Stelle der hierarchischen Ordnung eine zeitliche Ordnung tritt und der zweite, dass aus dem zeitlichen Nacheinander ein evolutionäres Auseinander wird. Den ersten Zwischenschritt hat Herder vollzogen, den zweiten nicht. Herder erklärt definitiv: „Kein Geschöpf, das wir kennen, ist aus seiner ursprünglichen Organisation gegangen und hat sich ihr zuwider eine andre bereitet, da es ja nur mit den Kräften wirkte, die in seiner Organisation lagen, und die Natur Wege gnug wußte, ein jedes der Lebendigen auf dem Standpunkt festzuhalten, den sie ihm anwies“ (ebd. 34).
Gleichwohl spricht Herder sehr häufig bereits die Sprache der Evolution, und zwar dort, wo er den Übergang der niederen zur höheren Stufe als eine Art Metamorphose darstellt. Auf diese Weise wird ihm die Natur zur „Naturgeschichte“ (ebd. 30). Grundlage hierfür ist der Gedanke, „daß bei aller Verschiedenheit der lebendigen Erdwesen überall eine gewisse Einförmigkeit des Baues und gleichsam eine Hauptform zu herrschen scheine, die in der reichsten Verschiedenheit wechselt. Der ähnliche Knochenbau der Landtiere fällt in die Augen: Kopf, Rumpf, Hände und Füße sind überall die Hauptteile; selbst die vornehmsten Glieder derselben sind nach einem Prototyp gebildet und gleichsam nur unendlich variieret (. . .) und manche rohe Gestalten sind im Inwendigen der Hauptteile dem Menschen sehr ähnlich“ (ebd. 25f.).
Die Variationen sind jedoch nicht im Sinne des Evolutionsgedankens zu verstehen, sondern als Ausdrucksformen einer spielerischen Natur (ebd. 29), die nacheinander die verschiedensten, einander ähnlichen Lebensformen hervorbringt. Um die Sonderstellung des Menschen im Tierreich zu erkennen, biete sich die Methode der „vergleichenden Anatomie“ an. Sie hat folgende Voraussetzung: „Wir setzen also alle Metaphysik beiseite und halten uns an Physiologie und Erfahrung“ (ebd. 31). Vergleicht man den Menschen mit anderen „Landtieren“, so fällt auf, dass er eine mittlere Stellung einnimmt. Er bleibt in der „Feinheit eines Sinnes“, in der „Muskelkraft“, in der „Elastizität der Fibern“ hinter anderen Tieren zurück, und doch hat er mit allen Landtieren „Teile, Triebe, Sinnen, Fähigkeiten, Künste“ zumindest in der Anlage gemein. Er ist ein „Mittelgeschöpf“ auch in dem Sinne, dass er „die ausgearbeitete Form
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V. Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell
sei, in der sich die Züge aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff sammeln“ (ebd. 27). Herder spricht nun nicht mehr vom Mängelwesen. Der Mensch ist vielmehr ein „Mittelgeschöpf“, und das ist dem Tier in seiner ganzen Form überlegen. Die Überlegenheit des Menschen zeigt sich vor allem im aufrechten Gang. Dieser ist nicht zu verwechseln mit dem vorübergehenden bipeden Gang, zu dem viele Vierbeiner in der Lage sind. Er setzt einen vollständigen Gestaltwandel voraus. Um ihn zu verstehen, bietet sich der Vergleich mit dem Affen an, der dem Menschen am nächsten steht; denn „Der Affe (. . .) hat keinen determinierten Instinkt mehr; seine Denkungskraft steht dicht am Rande der Vernunft“ (ebd. 36). Gleichwohl macht eine vergleichende Anatomie die Besonderheit der menschlichen Gestalt unübersehbar. Die wichtigsten Veränderungen sind: Die Stirn tritt hervor, der Schädel wölbt sich, die Nase wird schmaler, die Lippen bilden sich zu einem Mund, das Gesicht wird zu einem Oval: „Und wodurch dies alles? Durch die Formung des Kopfs zur aufrechten Gestalt, durch die innere und äußere Organisation desselben zum perpendikularen Schwerpunkt“ (ebd. 39f.). Mit dem Gestaltwandel vergrößert sich auch die „Gehirnmasse“, doch nicht die Masse ist entscheidend, sondern seine Struktur, seine Organisation, denn „was könnte dies, nach dem Stufengange von Organisationen, den uns die Natur vors Auge gelegt hat, anders sein als der Bau des Gehirns selbst, die vollkommenere Ausarbeitung seiner Teile und Säfte, endlich die schönere Lage und Proportion desselben zur Empfängnis geistiger Empfindungen und Ideen in der glücklichsten Lebenswärme“ (ebd. 42).
Aufrechter Gang, Vergrößerung und Umbildung des Gehirns und schließlich die damit verbundene Fähigkeit geistiger Empfindungen bilden einen organischen Zusammenhang. Herder bringt die besondere Bestimmung und die hervorgehobene Stellung des Menschen gegenüber dem Tier schließlich mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Um die Hoheit dieser Bestimmung zu fühlen, lasset uns bedenken, was in den großen Gaben Vernunft und Freiheit liegt und wie viel die Natur gleichsam wagte, da sie dieselbe einer so schwachen, vielfachgemischten Erdorganisation, als der Mensch ist, anvertraute. Das Tier ist nur ein gebückter Sklave (. . .). Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen“ (ebd. 64).
Mit diesen Überlegungen ist bereits der Bereich der Ethik angesprochen. Herders Ethik ist bestimmt durch den Gedanken der Humanität. Es handelt sich jedoch nicht um eine Pflichtethik, sondern um eine bildende Ethik, und deshalb lautet der ihn leitende Gedanke: Bildung zur Humanität. Herder hat ihn in seiner Sammlung Briefe zur Beförderung der Humanität entwickelt, die er in den Jahren 1793–97 veröffentlichte. Er erläutert zunächst den Begriff Humanität, indem er ihn gegen Mensch, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde und Menschenliebe abgrenzt. Seine Ablehnung der ersten beiden erläutert er folgendermaßen: „Leider aber hat man in unserer Sprache dem Wort ‚Mensch‘, und noch mehr dem barmherzigen Wort ‚Menschlichkeit‘ so oft eine Nebenbedeutung von Niedrigkeit, Schwäche
2. Der erste Freigelassene der Schöpfung (Herder)
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und falschem Mitleid angehängt, daß man jenes nur mit einem Blick der Verachtung, dies mit einem Achselzucken zu begleiten gewohnt ist“ (Herder, 1968, 210).
Der Begriff Humanität entstammt der lateinischen Sprache und dem römischen Recht. Die Römer hatten harte Gesetze gegen Kinder, Sklaven, Schutzbefohlene, Fremde und Feinde. Der römische Bürger, der sich gegenüber seinen Untertanen gerecht und milde verhielt, galt als „humanus“. In Anlehnung an diesen Sprachgebrauch möchte Herder den Begriff Humanität aufgreifen und neu beleben. Mit dem Begriff der Humanität verbindet sich für ihn der Gedanke, der Mensch möge die in ihm liegenden spezifischen Eigenschaften ausbilden. Er erläutert den Gedanken so: „Wie jede Klasse von Naturgeschöpfen ein eignes Reich ausmacht (. . .) so das Menschengeschlecht, mit dem besondern und höchsten Abzeichen, daß die Glückseligkeit aller von den Bestrebungen aller abhängt und in ihm bei der größesten Verschiedenheit in dieser sehr erhabnen Einheit allein stattfinde. Wir können nicht glücklich oder ganz würdig und moralisch gut sein, solange z. B. ein Sklave durch Schuld der Menschen unglücklich ist: denn die Laster und böse Gewohnheiten, die ihn unglücklich machen, wirken auch auf uns oder kommen von uns her“ (ebd. 225).
Herders Wirkungsgeschichte verläuft uneinheitlich. Während Goethe aus seiner Naturphilosophie Anregungen empfing, kritisiert Kant seine „Ideen“ in einer Rezension hart. Wilhelm von Humboldt übernimmt wichtige Gedanken aus seiner Sprachphilosophie. Eine zentrale, zukunftsweisende Bedeutung gewinnt jedoch sein Konzept einer Naturgeschichte. So finden sich in der Evolutionstheorie bei Darwin und bei Portmann Aussagen, die als Fortführungen Herderscher Gedanken erscheinen.
3. Kultur als Kompensation natürlicher Mängel (Gehlen) „Morphologisch ist nämlich der Mensch im Gegensatz zu allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel bestimmt, die jeweils im exakt biologischen Sinne als Unangepaßtheiten, Unspezialisiertheiten, als Primitivismen, d. h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: also wesentlich negativ. Es fehlt das Haarkleid und damit der natürliche Witterungsschutz; es fehlen natürliche Angriffsorgane, aber auch eine zur Flucht geeignete Körperbildung; (. . .) er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten (. . .). Infolge seiner organischen Primitivität und Mittellosigkeit ist der Mensch in jeder wirklich natürlichen und urwüchsigen Natursphäre lebensunfähig. Er hat also den Ausfall der ihm organisch versagten Mittel selbst einzuholen, und dies geschieht, indem er die Welt tätig ins Lebensdienliche umarbeitet. (. . .) Er muß für Witterungsschutz sorgen, seine abnorm lange unentwickelten Kinder ernähren und großziehen und bedarf schon aus dieser elementaren Nötigung heraus der Zusammenarbeit, also der Verständigung. Der Mensch ist, um existenzfähig zu sein, auf Umschaffung und Bewältigung der Natur hin gebaut, und deswegen auch auf die Möglichkeit der Erfahrung der Welt hin: er ist handelndes Wesen, weil er unspezialisiert ist, und also der natürlich angepaßten Umwelt entbehrt. Der
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V. Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell
Inbegriff der von ihm ins Lebensdienliche umgearbeiteten Natur heißt Kultur, und die Kulturwelt ist die menschliche Welt.“ (A. Gehlen: Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt. Wiesbaden 1978, 33; 37f.).
Arnold Gehlen wird 1904 als Sohn eines Verlegers in Leipzig geboren. Nach seiner Promotion im Fach Philosophie in Leipzig habilitiert er sich ebendort mit seiner Arbeit Wirklicher und unwirklicher Geist. Philosophische Untersuchungen in der Methode absoluter Phänomenologie bei seinem Doktorvater Hans Driesch. 1933 wird Gehlen Assistent bei dem Soziologen Hans Freyer, ebenfalls in Leipzig, und erhält 1934 dort als Nachfolger von Driesch eine Berufung zum Professor. Es folgt im Jahre 1938 ein Ruf an die Universität in Königsberg und 1940 nach Wien. 1947 wird er als Professor für Soziologie an die neu gegründete Verwaltungshochschule in Speyer berufen und 1962 für dasselbe Fach an die Technische Hochschule Aachen, an der er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1969 lehrt. Gehlen stirbt 1976 in Hamburg (vgl. Thies, 2017). Gehlens leitender Gedanke lässt sich so formulieren: Der Mensch ist von Natur aus ein Mängelwesen, das nur durch Kultur und Technik sein Überleben sichern kann. Die natürlichen Mängel sind zu verstehen als Unangepasstheiten, als Unspezialisiertheiten und als Primitivismen. Als eine Unangepasstheit ist z. B. das fehlende Haarkleid des Menschen zu verstehen, d. h. der fehlende Witterungsschutz. Unspezialisiert ist z. B. die menschliche Hand, für die keine genaue Verwendungsweise angelegt ist. Primitiv ist auch das menschliche Gebiss. Gehlen bemerkt: Sein „Gebiß z. B. hat eine primitive Lückenlosigkeit und eine Unbestimmtheit der Struktur, die es weder zu einem Pflanzenfresser- noch zu einem Fleischfressergebiß, d. h. Raubtiergebiß machen“ (Gehlen, 1978, 34). Die Primitivismen erwecken den Eindruck, als wäre der Mensch in einem noch unreifen Embryonalstadium zur Welt gekommen. Dazu kommt die außergewöhnlich lange Kindheit und die mit ihr verbundene Hilflosigkeit. Diese Beschreibung nimmt Bezug auf die biologische Forschung seiner Zeit. Sie stimmt gleichwohl in ihrer Grundaussage mit dem Prometheus-Mythos überein, wie ihn Platon erzählt; und Gehlen beruft sich auch wiederholt auf ihn, ebenso wie selbstverständlich auch auf Herder. Es ist jedoch bemerkenswert, dass er als eine weitere Zwischenstation Thomas von Aquin zitiert, der den Gedanken des menschlichen Mangels so formuliert: „‚Die geistige Seele ist die vollkommenste Seele. Wenn nun aber die Körper der anderen Sinnenwesen (d. h. der Tiere) einen natürlich mitgegebenen Schutz, Haare statt der Kleidung und Hufe statt der Schuhe, wie auch von Natur ihre eigenen Waffen besitzen, wie Krallen, Zähne und Gehörn: dann scheint es doch, die geistige Seele hätte nicht mit einem so unvollkommenen Leibe vereinigt werden dürfen, dem solcherart Hilfen ermangeln‘“ (ebd. 35).
Ein weiterer, von Gehlen betonter, Aspekt der Sonderstellung des Menschen besteht in seinem „lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten“. Die Instinktreduktion führt dazu, dass es dem Menschen an einem eingeschliffenen Muster von Reiz und Reaktion fehlt. Es ist gerade die Schnelligkeit und die Sicherheit, mit denen ein Lebewesen auf arttypische Umweltreize reagiert und so Gefahren begegnet und sein Überleben sichert.
3. Kultur als Kompensation natürlicher Mängel (Gehlen)
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Natürlich vorgegebene Verhaltensmuster für wiederkehrende Lebenssituationen fehlen dem Menschen und machen ihn hilflos. Im Unterschied zum Tier, das nur auf die für ihn lebenswichtigen Umweltreize reagiert, hat der Mensch überhaupt keine spezifische Umwelt. Er ist nicht umweltgebunden, sondern weltoffen. Wurde die Weltoffenheit bei Scheler und Heidegger als etwas Positives gesehen, erscheint sie im Ansatz von Gehlen als ein Mangel. Er begründet diesen Gedanken so: Weltoffenheit heißt, dass der Mensch nicht nur auf die für ihn lebenswichtigen Umweltreize reagiert, sondern einer Fülle ungefilterter Reize ausgesetzt ist. Das führt zu einer Reizüberflutung. Gehlen bemerkt: „Denn schon die Weltoffenheit ist, von daher gesehen, grundsätzlich eine Belastung. Der Mensch unterliegt einer durchaus untierischen Reizüberflutung, der ‚unzweckmäßigen‘ Fülle einströmender Eindrücke, die er irgendwie zu bewältigen hat. Ihm steht nicht eine Umwelt instinktiv nahegebrachter Bedeutungsverteilung gegenüber, sondern eine Welt – richtig negativ ausgedrückt: ein Überraschungsfeld unvorhersehbarer Struktur, das erst in ‚Vorsicht‘ und ‚Vorsehung‘ durchgearbeitet, d. h. erfahren werden muß“ (ebd. 36).
Der Begriff der Belastung wird für Gehlen zu einem Schlüsselbegriff. Der Mensch ist aufgrund seiner natürlichen Mängel einerseits und der Reizüberflutung andererseits für den Überlebenskampf schlecht gerüstet. Sein Leben ist riskant und belastet. Überleben kann er nur, wenn es ihm gelingt, sich zu entlasten. Gehlen betont: „aus eigenen Mitteln und eigentätig muß der Mensch sich entlasten, d. h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten“ (ebd. 36). Als Mittel dienen ihm Kultur und Technik. Dabei kommt der Technik eine grundlegende Bedeutung zu. Genau genommen bildet die Technik den Leitfaden für das Verständnis der Kultur. Entscheidend ist nun, dass Gehlen beide nicht als Elemente, Ausdrucksformen oder Werkzeuge des Geistes einführt. Der Grund liegt darin, dass er den Dualismus von Körper und Geist, den er noch bei Scheler feststellt und kritisiert, überwinden möchte. Seine Philosophie hat das Ziel, Kultur und Technik so zu formulieren, dass dabei kein Dualismus auftaucht. Das versucht er am Begriff der Erfahrung zu erläutern. Dabei orientiert er sich nicht an Kant, für den die Erfahrung das Ergebnis der Anwendung der Kategorien des Verstandes auf das Material der Sinne zu verstehen ist, d. h. als Synthese von Sinnlichkeit und Verstand. Er beruft sich vielmehr auf Aristoteles, den er wie folgt zustimmend zitiert: „‚Bei uns Menschen entsteht die Erfahrung aus der Erinnerung, denn die wiederholten Erinnerungen schließen sich in der Verfügbarkeit einer einzigen Erfahrung zusammen, wie denn Erfahrung sowohl der Einsicht wie dem Können ähnlich zu sein scheint‘“ (Gehlen, 1970, 28). Die Aspekte, die Gehlen im aristotelischen Gedanken wichtig sind, lauten ‚Verfügbarkeit‘ und ‚Können‘. Erfahrung ist daher für ihn nicht ein Begriff der theoretischen, sondern der praktischen Philosophie. Der erfahrene Arzt ist daher vorrangig nicht ein Mensch, der Kenntnisse im Bereich der Medizin hat, sondern der in der Lage ist, medizinisch zu handeln. Gehlen stellt den Handlungsbegriff in das Zentrum seiner Überlegungen. Er sagt: „die Existenz eines unspezialisierten und damit weltoffenen Wesens ist auf Handlung, voraussehende praktische Veränderung der Dinge in der Hinsicht auf Mittel gestellt“ (Gehlen, 1978, 44). Er erläutert das an einem Beispiel:
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V. Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell
„Wenn Sie mit einem Schlüssel an einem Schloß herumprobieren, so gibt es eine Folge von sachlichen Veränderungen, die in der Ebene von Schlüssel und Schloß vor sich gehen, wenn es etwa klemmt, und Sie müssen noch etwas hin- und herprobieren. Dabei gibt es eine Serie von Erfolgen oder Mißerfolgen in der Sachebene, die Sie aber sehen und hören und fühlen, die also zurückgemeldet werden, die Sie wahrnehmen; und nach dieser Wahrnehmung wieder verändern Sie die Zugriffsrichtung Ihres Handelns, (. . .) und schließlich kommt dann doch in der Sachebene der Erfolg, und das Schloß schnappt auf. So geht der Vorgang im Kreise, d. h. man kann einen solchen Vorgang als einen einzigen Kreisprozeß beschreiben, der läuft dann aber über psychische Zwischenglieder, die Wahrnehmungen, und über motorische Zwischenglieder, (. . .) in die Sachebene weiter und zurück. / An diesem Beispiel habe ich vielleicht klargemacht, daß man, wenn man von der Handlung spricht, den ganzen Dualismus einfach ausklammert“ (Gehlen, 1970 18f.).
An diesem Beispiel sind drei Momente bedeutsam. Zum einen kann man fragen, ob mit der Darstellung des Verhältnisses der motorischen und der psychischen Zwischenglieder der Dualismus wirklich überwunden wurde; zum anderen ist Gehlens Intention, das Nachdenken, die angeblich störende „Reflexion“, aus diesem Kreisprozess herauszuhalten, problematisch; denn sie verhindert die den Kreisprozess sprengende, aber u. U. durchaus sinnvolle Frage, ob überhaupt der richtige Schlüssel verwendet wurde. Schließlich aber wird deutlich, dass Gehlen einen instrumentellen, d. h. technischen Handlungsbegriff hat. Handeln hat den Charakter eines Verhaltens, das die Beherrschung der Umwelt zum Ziel hat. Erstrebenswert ist ein Handeln, das mit derselben Sicherheit und Schnelligkeit abläuft wie das instinktive Verhalten der Tiere. Das ist aber nur möglich, wenn die „psychischen Zwischenglieder“ ganz ausgeschaltet sind, d. h. das Verhalten automatisiert ist. Die Art und Weise, in der das geschieht, erläutert Gehlen am Beispiel des Laufenlernens des Kindes. Das Kind, das noch nicht laufen kann, ist noch ganz mit der „Aufgabe der Bewegungsvariation“ beschäftigt. Erst später werden die Bewegungsabläufe automatisiert und die Aufmerksamkeit kann sich anderen Dingen zuwenden. Der Gewinn besteht in folgendem: „Das so habitualisierte Verhalten wird eben dadurch, daß es der Intervention des Bewußtseins entgleitet und sich ablagert, auch stabilisiert, es wird kritikfest und einwandsimmun, und so die Basis für ein höheres, auf ihm erwachsendes variables Verhalten“ (Gehlen, 1978, 65). Nicht die Zunahme an Bewusstsein ist das Ziel, sondern seine Ausschaltung. Gehlen zitiert zustimmend Nietzsche, der sagte: „‚Alles vollkommene Tun ist gerade unbewußt und nicht mehr gewollt . . . der Grad der Bewußtheit macht ja Vollkommenheit unmöglich (. . .). Das Bewußtsein ist nur ein Werkzeug des Lebens und in Anbetracht, wie viel Großes ohne Bewußtsein geleistet wird, nicht das nötigste‘“ (ebd. 70). Die Technik erschöpft sich jedoch nicht darin, ein habitualisiertes Verhalten zu ermöglichen. Aufgrund der organischen Mängel des Menschen, geht es der Technik vor allem um eine Kompensation dieser Mängel. Das geschieht in dreifacher Weise: durch Organersatz, Organentlastung und Organüberbietung. Waffen und Feuer sind Beispiele für Organersatz. Der Faustkeil ist ein Beispiel für Organentlastung und -überbietung. Ebenso entlasten und überbieten das Reittier und der Wagen die natürliche menschliche Fortbewegung. Das Flugzeug ersetzt und überbietet diese generell. Schließlich wird das Organische selbst ersetzt durch andere Materialien: Holz durch Eisen, Leder
3. Kultur als Kompensation natürlicher Mängel (Gehlen)
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durch Stahltrosse, Wachslicht durch Gas und Elektrizität, Naturfarben durch synthetische. Besteht die Funktion der Technik in der Kompensation natürlicher Mängel des Menschen, so geht ihre Faszination weit darüber hinaus. Ihr werden geradezu magische Qualitäten zugeschrieben. Den Grund hierfür sieht Gehlen im technischen Prinzip des Automaten, der sich aus sich selbst heraus bewegt. Es ist das Phänomen der Selbstbewegung, in dem sich der Mensch als ein lebendiges Wesen wiedererkennt. Verständlich ist daher, dass das ‚Auto-mobil‘, d. h. das, was sich von selbst bewegt, den Menschen fasziniert. Die Faszination der Technik hat jedoch dazu geführt, dass wir z. Z. in einem technischen Zeitalter leben. Es hat die Lebensgrundlagen der Menschen so grundlegend verändert, wie es zuvor allenfalls im Neolithikum geschah. Daher wäre es auch naiv, die Fortschritte der Technik durch eine Aufforderung der Selbstbegrenzung an die Techniker bremsen zu wollen. Gehlen sieht die Gefahr einer sich verselbständigenden Dynamik des technischen Fortschritts und hält die Kontrolle sowohl durch einzelne Menschen als auch durch einzelne Nationen für illusorisch. Seine Überlegung ist daher: „Deshalb wird, vielleicht nach großen Katastrophen, der technische Fortschritt unter eine Kontrolle genommen werden und mit ihm die Wissenschaft auch, und zwar unter die Kontrolle sozialethischer Normen, die von den Regungen des Einzelgewissens unabhängig sind“ (Gehlen, 1970, 101). Doch die Faszination der Technik gibt es nicht erst seit der Entwicklung der modernen Industrie. Sie ist tief im Wesen des Menschen verankert und bestimmt bereits Magie und Religion. Gehlen beruft sich dabei auf den französischen Religionswissenschaftler Maurice Pradines. Nach ihm „war die Magie ein Unternehmen, ‚Veränderungen zum Vorteil des Menschen hervorzubringen, indem man die Dinge von ihren eigenen Wegen zu unserem Dienst hin ablenkte‘. Das ist aber eine Definition, die sowohl die Magie als die Technik umfaßt“ (ebd. 96). Die moderne Technik wäre nach diesem Verständnis die Fortsetzung und Transformation der Magie mit neuen Mitteln. Auch die Sprache ist zu verstehen im Kontext der Technik. Sie ist für Gehlen ein Mittel der Verständigung, das für das Mängelwesen notwendig ist, weil es sich nur durch Kooperation in einer feindlichen Umwelt behaupten kann (vgl. Text). Die Sprache wird daher auch nicht als Ausdrucksform des Geistes interpretiert, sondern auf der Basis organischer Leistungen. Für diese gibt es fünf Stufen. Die erste Stufe, oder Sprachwurzel, ist das „Leben des Lautes“. Es handelt sich um einen Vorgang „in selbstempfundener Tätigkeit, der zurückgegebene Laut ist zugleich die Anregung des Selbstgefühls der eigenen Tätigkeit, ihn zu wiederholen, und diese Tätigkeit endet in einem wiedergehörten Laut, der so ein neuer Reiz ist“ (Gehlen, 1978, 193f.). Das Leben des Lautes ist die Basis einer gedankenlosen Kommunikation. Die zweite Sprachwurzel liegt in der Offenheit, mit der das Kind Eindrücken der Welt begegnet. Es zeigt ein freudiges Interesse am Gesehenen und äußert sich als „Anplappern“ des Wahrgenommenen. Diese Sprachwurzel setzt Weltoffenheit voraus und ist daher nur beim Menschen anzutreffen. Die dritte Sprachwurzel lässt sich durch die „Lallworte“ bezeichnen. Sie nehmen ihren Ausgangspunkt bei einem Wiedererkennen, das in der Regel mit einer Körperbewegung verbunden ist. Entscheidend ist aber, dass das Lallwort zu einem wieder-
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V. Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell
erkannten Ding in Beziehung steht. Aufgrund dieser Beziehung ist das Kind nun in der Lage, ein von ihm gehörtes Lallwort mit einem Ding zu assoziieren, ohne das Ding selbst, das es erwartet, wahrzunehmen. Dadurch entsteht ein Vermissungserlebnis. Gehlen bemerkt: „In diesem höchst bedeutsamen Vermissungserlebnis faßt sich erst die Intention, die im Sprachlaut vorgreifende Erwartung, selbst. Erst dies ist eigentlich die Geburt des Gedankens: eine Enttäuschung“ (ebd. 201). Der Gedanke ersetzt das durch Worte intendierte, aber nicht real gegebene Ding, d. h. „Denken ist ursprünglich von Sprechen gar nicht trennbar und bedeutet die im Sprachlaut auf ein Ding verlaufende Intention“ (ebd. 201). Die vierte Sprachwurzel liegt im Ruf. Er ist Ausdruck der Bedürfnisse des Kindes und ist auf Antwort bzw. Erfüllung ausgerichtet. Der Ruf intendiert die Behebung einer Unlustsituation. In ihm kommen Erwartung und Vorgriff zum Ausdruck: Er ist an Durchsetzung interessiert. Alle Befehle haben im Ruf ihren Ursprung, möglicherweise auch die Namen. Die fünfte Sprachwurzel hat ihren Ursprung in Lautgesten. Mit ihnen ist der Übergang zu Wortgestalten gegeben, die das Kind zunächst unabhängig von konventionellen Bedeutungen entwickelt. Nach und nach werden sie situativ eingebunden und ermöglichen dem Kind die Teilnahme an der Sprache seiner Umgebung. Gehlen definiert die Sprache so: „Die Sprache ist eine ‚Zwischenwelt‘, die zwischen dem Bewußtsein und der Welt liegt, sie zugleich verbindend und trennend. Sofern das Wort das Ding selbst zu fassen meinte, wird es auf sich zurückgeworfen – reflektiert – . Die Intention, ins Wort gefaßt, wird enttäuscht“ (ebd. 248).
Die Sprache erfüllt ihre wesentliche Aufgabe der Entlastung dadurch, dass diese Zwischenwelt nicht nur Kommunikation und Kooperation erleichtert, sondern den Menschen auch von der unmittelbaren Gegenwart der Dinge befreit und sie gleichwohl seiner gedanklichen Verfügung zugänglich macht. In seinen Überlegungen zur Ethik bleibt Gehlen seinem Grundgedanken treu, dem der Entlastung. Die ethischen Perspektiven lassen sich daher direkt aus seiner Anthropologie ableiten. Da der Mensch über kein instinktiv abgesichertes Verhaltensrepertoire verfügt, muss dieses durch „Erziehung“ und „Zucht“ geformt werden. Schon aus anthropologischen Gründen ist der Mensch ein „Zuchtwesen“. Gehlen formuliert diesen Begriff so: „Diese Bezeichnung umfaßt alles, was man unter Moral verstehen kann, im anthropologischen Aspekt: die Zuchtbedürftigkeit, den Formierungszwang, unter dem ein ‚nichtfestgestelltes Tier‘ steht, und von dem Erziehung und Selbstzucht, auch die Prägung durch die Institutionen, in denen die Aufgaben des Lebens bewältigt werden, nur die auffälligsten Stadien sind“ (Gehlen, 1978, 61).
Das durch die Institutionen vorgegebene Verhaltensmuster hat aber nicht nur einen Zwangscharakter, es befreit auch den Einzelnen von der Überforderung seines moralischen Bewusstseins, seines subjektiven Gewissens und der damit verbundenen Konflik-
3. Kultur als Kompensation natürlicher Mängel (Gehlen)
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te. Gehlen steht mit seinem Konzept der Institutionen ganz in der Nachfolge seines Lehrers Hans Freyer, der in ihnen Gestalten des objektiven Geistes sah, d. h. im Sinne Hegels Darstellungsformen der Vernunft. Doch die Vernunft hat bei Gehlen einen anderen Charakter als bei Hegel. Ihr primäres Ziel ist nicht die Freiheit. Sie ist vielmehr die ‚raison d’être‘, d. h. die Existenzbedingung der Gesellschaft. Kultur hat für Gehlen keine andere Funktion als die, die der Instinkt bei den Tieren leistet, nämlich das Überleben zu sichern. Gehlen erkennt allerdings durchaus die Ambivalenz der Institutionen an. Sie üben auf das Individuum einerseits einen Zwang aus und befreien es andererseits zur Entfaltung eigener Kräfte. Das bedeutet: Wenn „auch die Institutionen uns in gewisser Weise schematisieren, wenn sie mit unserem Verhalten auch unser Denken und Fühlen durchprägen und typisch machen, so zieht man doch gerade daraus die Energiereserven, um innerhalb seiner Umstände die Einmaligkeit darzustellen, d. h. ergiebig, erfinderisch, fruchtbar zu wirken“ (Gehlen, 1970, 72).
Erst die Institutionen geben dem Menschen die Sicherheit, die nötig ist, um sich persönlich frei entfalten zu können. Gehlen argumentiert so: „Man kann anthropologisch den Begriff der Persönlichkeit nur im engsten Zusammenhang mit dem der Institutionen denken, die letzteren geben der Personqualität in einem anspruchsvolleren Sinne überhaupt erst die Entwicklungschance“ (ebd.). Allerdings verbindet sich mit diesem Prozess auch eine eigentümliche Dialektik. Die durch Entlastung durch Institutionen freigesetzten Kräften müssen ja nicht in einem kreativen Sinne gebraucht werden, sie können sich auch als „protestlerische Selbstbetonung“ zerstörerisch gerade gegen die Institutionen wenden, die sie überhaupt ermöglichten. Gehlen hat diese Dialektik gesehen. Sein Ausweg aus diesem Dilemma besteht darin, dass alle freigesetzten Kräfte in neuer Weise institutionell gebunden werden müssen. Das aber wird in einer Zeit, in der die bisher haltgebenden Institutionen an Bedeutung verlieren, zunehmend zu einem Problem. Gehlen sieht darin ein Hauptproblem der gegenwärtigen Gesellschaft. Zur Wirkungsgeschichte Gehlens gehört es, dass gerade seine Institutionenlehre von der Philosophie heftig kritisiert wurde, so z. B. von Adorno, mit dem er darüber ein Streitgespräch führte. Ein Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass Gehlen keine inhaltlichen Kriterien angibt, um die Qualität einer Institution zu überprüfen (vgl. Gehlen, 2004, 91f.). Innerhalb der Soziologie knüpften Schelsky und Luhmann an ihn an.
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V. Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell
Kultur und Geschichte
VI.
Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen
Die Situation des Menschen in der Geschichte ist ihm seit den frühesten Anfängen seines Nachdenkens über sich selbst deutlich gewesen. Das Wissen, dass die Menschen früher anders gelebt haben und in Zukunft anders leben werden, gehört dazu, unabhängig von dem Gedanken einer Konstanz der menschlichen Natur. Und ebenso früh wurde der Geschichte im Ganzen eine bestimmte, typische Charakteristik zugeschrieben. Die früheste in Europa lässt sich als Verfallsgeschichte bezeichnen und geht auf Hesiod zurück. Sehnsüchtig beschwört er das ‚Goldene Zeitalter‘, um dann die Stufen des Verfalls bis zu seiner Zeit zu beschreiben (vgl. Kap. I, 2). Aber auch der biblische Paradiesmythos ist eine Verfallsgeschichte. Es ist der Sündenfall, der die mühselige Gegenwart von dem einstigen, paradiesischen Zustand trennt. Doch jede Verfallsgeschichte enthält auch eine Hoffnung. Einst, und dieses Einst kommt vielleicht in tausend Jahren (Chiliasmus) oder später, wird der verlorene Zustand wiederkommen. Das deutet Hesiod an und das findet sich ebenso im Neuen Testament mit dem Versprechen auf die Wiederkunft Christi. Die Zeit bis dahin macht die Weltgeschichte aus. Sie ist mit Blick auf das ‚Jüngste Gericht‘ zugleich Heilsgeschichte (vgl. Kap. II, 2). In der Neuzeit bahnt sich ein neues Geschichtsverständnis an. Es war Vico, der betonte: ‚Der Mensch macht die Geschichte‘. In der Zeit der Aufklärung gewann die Vorstellung zunehmend an Bedeutung, dass es schon in der Geschichte der Menschheit einen Fortschritt geben könne. Die in der Theologie gepflegte eschatologische Geschichtsauffassung wurde säkularisiert, d. h. durch Weltgeschichte ersetzt (vgl. Löwith, 1983). Es war Kant, der sich der Aufgabe unterzog, die Idee eines möglichen Verlaufs der Weltgeschichte zu entwerfen, die ein vernünftiges Ziel der Menschheit beinhaltet. Zugleich entwarf er drei Typen möglicher Geschichtsverläufe: a) derjenige, nach der die Geschichte sich „im kontinuierlichen Rückgange zum Ärgeren“ befinde (Verfallsgeschichte) oder b) „im beständigen Fortgange zum Besseren“ (Fortschrittsgeschichte) oder schließlich c) „im ewigen Stillstande auf der jetzigen Stufe“, d. h. als „ein beständig wechselndes Steigen, und (. . .) eben so öfteres und tiefes Zurückfallen“ (Kant, VI, 352f.).
VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen
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Die im Folgenden dargestellten Autoren repräsentieren diese drei Arten der Geschichtsauffassung. Kant selbst vertritt das Modell einer Fortschrittsgeschichte. Diese ist zwar nicht theoretisch beweisbar, aber doch eine bislang nicht endgültig vereitelte Idee. An ihr kann sich die menschliche Vernunft orientieren. Er betrachtet als Ziel der Geschichte eine ‚allgemein das Recht verwaltende bürgerliche Gesellschaft‘. In seiner Schrift Zum ewigen Frieden hat er darüber hinaus ein Völkerrecht konzipiert, dessen Ziel ein Völkerbund ist. Dilthey, der einer Strömung des 19. Jh.s angehört, die man als Historismus bezeichnet hat, vertritt ein Geschichtskonzept, nach dem es ganz unmöglich sei, Aussagen über den Verlauf der Geschichte im Ganzen zu machen. Nicht nur vollzieht die Geschichte selbst unvorhersehbare Wendungen, sondern die Sicht des Menschen auf die Geschichte ist ebenfalls fortwährenden Veränderungen unterworfen. Der Mensch ist in seinen Wertungen und Stellungnahmen selbst geschichtlich bedingt. Das macht seine Geschichtlichkeit aus. Heidegger greift auf das geschichtlich älteste Geschichtsmodell zurück, das der Verfallsgeschichte. Seit ihren Anfängen in der Antike, deutlich aber seit Platon, ist, seiner Meinung nach, die Geschichte bestimmt durch eine zunehmende Seinsvergessenheit. Sie manifestiert sich in der Gegenwart in der Dominanz der Technik. Wie jede Verfallsgeschichte ist sie verbunden mit der Hoffnung bzw. „Erwartung“ einer Rückkehr zum Ursprung und der Möglichkeit eines prinzipiellen Neuanfangs.
1. Das Ziel der Weltgeschichte (Kant) „Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß instinctmäßig wie die Thiere und doch auch nicht wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im Ganzen verfahren: so scheint auch keine planmäßige Geschichte (wie etwa von den Bienen oder den Bibern) von ihnen möglich zu sein. Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr Thun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht und bei hin und wieder anscheinender Weisheit im Einzelnen doch endlich alles im Großen aus Thorheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet: wobei man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer auf ihre Vorzüge so eingebildeten Gattung für einen Begriff machen soll. Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei.“ (I. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. AA VIII, 17f.).
Kants Geschichtsphilosophie steht am Wendepunkt des Übergangs des Konzepts der Geschichte als Heilsgeschehen zu dem Konzept einer säkularisierten Weltgeschichte. Welche Position nimmt er ein? Die Antwort lautet: Kants Geschichtsphilosophie nimmt in diesem Prozess eine Zwischenposition ein, die man als eine Verabschiedung der Ge-
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VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen
schichtstheologie bezeichnen kann, wie sie etwa noch bei Leibniz und seinem Konzept einer Theodizee anzutreffen ist (vgl. Kap. IX, 1), und einer Hinwendung zu einer an der Vernunft orientierten Geschichtsphilosophie. Die eigentümliche Zwischenposition, die er einnimmt, zeigt sich z. B. in seiner bemerkenswerten Neuinterpretation des biblischen Paradiesmythos. Er kehrt die traditionelle, theologisch sanktionierte Interpretation um. Es gehört zum Selbstverständnis christlichen Denkens, die Geschichte des Menschen seit seiner Vertreibung aus dem Paradies als Strafe anzusehen. Daher ist der romantisch-bedauernde Blick des Menschen rückwärts gewandt und der sehnsüchtige vorwärts auf eine Wiederherstellung des ehemaligen paradiesischen Zustandes. Noch der gekreuzigte Jesus verspricht einem der mit ihm Gekreuzigten das Paradies (Lk. 23, V. 43). Die Paradiesgeschichte ist eine Verfallsgeschichte. Sie zeigt, wie viel schlechter der Zustand des Menschen seit der Vertreibung ist. Das Leben der Menschen ist voller Elend. Die Geschichte ist eine Strafe. Kant dagegen sieht in dem Paradiesmythos nicht den Beginn einer Verfallsgeschichte, sondern einer Geschichte des Fortschritts. Er stellt sich damit in einem wesentlichen Punkt gegen die christliche Lehre. In seiner Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte beurteilt er bereits den Genuss der dem Menschen sich darbietenden Früchte als eine Sache der menschlichen Vernunft und der Neugier, nicht der Übertretung eines Verbots. Das Verlassen des Paradieses ist der Schritt von einem Naturzustand in einen der Vernunft, der Freiheit und des Fortschritts. Kant stellt seine radikale Neuinterpretation der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies so dar: „Dieser Schritt ist daher zugleich mit Entlassung desselben aus dem Mutterschooße der Natur verbunden: eine Veränderung, die zwar ehrend, aber zugleich sehr gefahrvoll ist, indem sie ihn aus dem harmlosen und sicheren Zustande der Kindespflege, gleichsam aus einem Garten, der ihn ohne seine Mühe versorgte, heraustrieb und ihn in die weite Welt stieß, wo so viel Sorgen, Mühe und unbekannte Übel auf ihn warten. Künftig wird ihm die Mühseligkeit des Lebens öfter den Wunsch nach einem Paradiese, dem Geschöpfe seiner Einbildungskraft, wo er in ruhiger Unthätigkeit und beständigem Frieden sein Dasein verträumen oder vertändeln könne, ablocken. Aber es lagert sich zwischen ihm und jenem eingebildeten Sitz der Wonne die rastlose und zur Entwickelung der in ihn gelegten Fähigkeiten unwiderstehlich treibende Vernunft und erlaubt es nicht, in den Stand der Rohigkeit und Einfalt zurück zu kehren, aus dem sie ihn gezogen hatte“ (AA VIII, 114f.).
Das Paradies ist – so Kant – ein problematisches ‚Geschöpf seiner Einbildungskraft‘. In ruhiger Untätigkeit und friedlicher Einfalt verträumt und vertändelt er sein Dasein. Es ist ein Zustand, der die Kräfte der Vernunft nicht zur Entfaltung kommen lässt. Bemerkenswert ist, dass Kant in seiner Interpretation Gott keine Rolle zuweist, weder im Hinblick auf ein Verbot, vom „Baum der Erkenntnis“ zu essen, noch bei der Vertreibung aus dem Paradies. Für ihn handelt es sich vielmehr um den Übergang von dem ‚paradiesischen Naturzustand‘ in den der Vernunft, und der wird möglich durch den Gebrauch der Freiheit. Es handelt sich um eine Geschichte der Emanzipation des Menschen vom Zustand der Kindheit in den eines vernünftigen Erwachsenen. Kant hat den biblischen Paradiesmythos entmythologisiert, damit zugleich aber die Frage nach dem Sinn, genauer, dem Richtungssinn der menschlichen Geschichte neu gestellt.
1. Das Ziel der Weltgeschichte (Kant)
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Dieser Frage widmet er seine Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Kants Ausgangsfrage lautet: Wie stellt sich die Geschichte dem Blick des Menschen in ihren alltäglichen Geschehnissen dar? Sie ist bei aller gelegentlichen Weisheit im Einzelnen aufs Ganze gesehen eine Mischung aus Torheit, Eitelkeit, Bosheit und Zerstörungssucht (vgl. Text). Keine geradlinige Entwicklung wird sichtbar, sondern ein Vor und Zurück, ein Hin und Her. Die Abläufe der Geschichte ähneln denjenigen, die die Planeten, von der Erde aus beobachtet, nehmen. Der griechische Begriff ‚planetos‘ kennzeichnet ein Umherirren, eine Irrfahrt, einen Landstreicher. Aber durch einen Standpunktwechsel, durch die Wahl eines heliozentrischen Bezugssystems, werden die Zick-Zack-Linien der Planeten plötzlich durch eine wohlgeformte Kurve ersetzt. Könnte es sich bei den Geschichtsverläufen nicht ähnlich verhalten? Und wenn ja, von welchem Standpunkt aus ergäbe sich ein Blick auf einen sinnvollen Geschichtsverlauf? Das ist Kants Frage, und er gibt auch die Richtung ihrer Beantwortung an. Sinnvoll wäre die Geschichte, wenn man in ihr eine Naturabsicht entdecken könnte. So wie sich die Planetenbahnen einem Naturgesetz fügen, so werden die Ereignisse der Geschichte Teil einer Naturabsicht. Doch die scheinbar einleuchtende Parallele täuscht; denn Kant verwendet zwei sehr unterschiedliche Begriffe von Natur. Das Naturgesetz formuliert den Zusammenhang von Ursache und Wirkung im Sinne der ‚causa efficiens‘. Die Naturabsicht folgt einem teleologischen Prinzip und entspricht der ‚causa finalis‘. Das Naturgesetz ist Ausdruck einer Naturnotwendigkeit, die Naturabsicht lässt Freiheit zu. Die Geschichte folgt einer Naturabsicht, nicht einem Naturgesetz. Kant spricht daher auch von der „Weisheit“ der Natur. Bemerkenswert ist auch, dass Kant an die Stelle der Absichten Gottes mit den Menschen, die in der Geschichtstheologie eine Rolle spielen, die Naturabsicht stellt, ohne dass sich damit bei ihm ein Atheismus verbinden würde. Es ist gleichwohl ein nicht zu übersehender Wechsel im Sprachgebrauch. Dazu kommt eine weitere Einschränkung. Gerade weil es kein Naturgesetz der Geschichte gibt, sind theoretische Aussagen über ihren zukünftigen Verlauf nicht möglich. Eine Prognose über den Geschichtsverlauf könnte nur derjenige aufstellen, der sie selbst macht. Aber der Mensch macht nicht die Geschichte, sondern ist in sie verwickelt. Die Geschichte ist ein Gewebe des Handelns und Leidens sehr vieler Menschen. Wenn es keine theoretischen Aussagen über die Geschichte geben kann, so bleibt es nur möglich, eine Idee von ihr zu entwerfen. Der leitende Gedanke dieser Idee betrifft die Frage: Ist es denkbar, dass trotz der sich offenkundig darbietenden Mischung der Geschichte aus Torheit, Eitelkeit und Bosheit, sie im Ganzen auf ein vernünftiges Endziel ausgerichtet ist? Kant versucht in seiner Abhandlung diesen Leitfaden zu finden. Er macht dies in einer Folge von neun Sätzen, denen er Erläuterungen beifügt. Der erste Satz lautet: „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln“ (AA VIII, 18). Der teleologische Ansatz, der bereits in der Tierwelt gilt, trifft auch auf die Menschen zu. Allerdings macht Kant im zweiten Satz sogleich eine bedeutsame Einschränkung: „Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln“ (ebd.). Die Entwicklung der Anlagen ist eine Angelegen-
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VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen
heit der menschlichen Vernunft „frei von Instinct“ und die Begründung lautet so: „Die Natur thut nämlich nichts überflüssig und ist im Gebrauche der Mittel zu ihren Zwecken nicht verschwenderisch. Da sie dem Menschen Vernunft und darauf sich gründende Freiheit des Willens gab, so war das schon eine klare Anzeige ihrer Absicht in Ansehung seiner Ausstattung“ (ebd. 19). Der Mensch soll seine Ziele, allen voran seine „Glückseligkeit“, „aus sich selbst herausbringen.“ Der vierte Satz thematisiert die Mittel, deren sich die Natur bei dem Verfolgen ihrer Absicht bedient: „Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der ANTAGONISM derselben in der Gesellschaft (. . .)“ (ebd. 20). Unter Antagonismus versteht Kant die „ungesellige Geselligkeit des Menschen“, d. h. seinen Hang zur Gesellschaft und seinen ebenso großen Hang, sich zu vereinzeln, da er in der Gesellschaft immer wieder auf Widerstand stößt. „Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann“ (ebd. 21). Es ist dieser Antagonismus, der dazu führt, dass, im Sinne des Prinzips der Konkurrenz, die Kräfte des Menschen sich entwickeln und schließlich als ein Ergebnis, das von keinem Einzelnen gewollt wird, die Gesellschaft in ein „moralisches Ganze“ verwandelt wird. Es ist eine Art List der Natur, die auf dem Umweg über die Anstachelung der „zwar eben nicht liebenswürdigen Eigenschaften“ des Menschen ihr positives Ziel erreicht. Und das macht deutlich, dass dieser Naturabsicht „die Anordnung eines weisen Schöpfers; und nicht etwa die Hand eines bösartigen Geistes“ (ebd. 22) zugrunde liegt. Das Ziel der Geschichte formuliert Kant im fünften Satz: „Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden BÜRGERLICHEN GESELLSCHAFT.“ (ebd. 22) – „Dieses Problem ist zugleich das schwerste und das, welches von der Menschengattung am spätesten aufgelöset wird“ (ebd. 23). Das, was diese Gesellschaft auszeichnet, ist die „größte Freiheit“ ihrer Mitglieder „unter äußeren Gesetzen“. Es ist das Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatsverhältnisses. Kants Geschichtsphilosophie ist weder Geschichtswissenschaft bzw. Geschichtstheorie, noch Ethik. Sie gibt keine Handlungsimperative, sondern entwickelt das vernünftige Endziel der Geschichte als eine Idee, die den möglichen, aber keineswegs gewissen Verlauf erörtert; denn „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden“ (ebd.). Bemerkenswert ist, dass Kant selbst die Kriege, die dies Ziel doch immer wieder zu vereiteln scheinen, in sein Konzept einfügt; denn alle „Kriege sind demnach so viel Versuche (zwar nicht in der Absicht der Menschen, aber doch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zu Stande zu bringen“ (ebd. 24f.). Diese Versuche münden schließlich in einen rechtlichen Zustand ein, und der ist „einem bürgerlichen gemeinen Wesen ähnlich, so wie ein Automat sich selbst erhalten kann“ (ebd. 25). Diese Aussagen stellen keine Rechtfertigung von Kriegen dar, sie beinhalten nur den Gedanken, dass trotz der Kriege und durch sie ein „Völkerbund“ (ebd. 24), in dem das Recht herrscht, als Endziel der Geschichte möglich ist. Die Verurteilung von Kriegen
1. Das Ziel der Weltgeschichte (Kant)
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unter ethischem Gesichtspunkt hat Kant, wie kaum ein anderer, deutlich ausgesprochen: „Denn für die Allgewalt der Natur (. . .) ist der Mensch wiederum nur eine Kleinigkeit. Daß ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen und als eine solche behandeln, indem sie ihn theils thierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, theils in ihren Streitigkeiten gegen einander aufstellen, um sie schlachten zu lassen, – das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst“ (AA VII, 89).
Aber gerade angesichts der immer wieder aufflammenden Gewalt, der Kriege und Rechtsverletzungen, fragt es sich, ob die Idee eines solchen Völkerbundes nicht bloß ein Wunsch ist. Die Frage ist, ob es in der bisherigen Geschichte auch nur einen konkreten Hinweis auf das angestrebte Ziel gibt. Und Kant sieht ein solches ‚Geschichtszeichen‘ in der Französischen Revolution. Er schreibt: „Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greuelthaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemüthern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.“ (AA VII, 85).
Es bleibt schließlich, die von Kant eingenommene Zwischenposition im Prozess der Säkularisierung genauer zu bestimmen. Unstreitig ist, dass Kant der weisen Naturabsicht selbst noch einmal einen „weisen Schöpfer“ zugrunde legt, der zwar nicht bewiesen wird, aber doch eine praktisch relevante Idee ist. Das ist seine Verbindung zu einer Geschichtstheologie. Entscheidend aber ist etwas anderes: Das Endziel der Geschichte wird nicht in ein Jenseits verlagert, sondern als ein sehr konkretes, auf menschliche Vereinbarungen gegründetes, Unternehmen gedacht. Es garantiert nicht die ‚Glückseligkeit‘, wohl aber die Rechtssicherheit und die Freiheit der Bürger in einem gesellschaftlichen Kontext. Das hat eine ‚säkulare‘ Bedeutung. Kants Geschichtsphilosophie formuliert eine Idee der Weltgeschichte. In seiner Schrift Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von 1795 hat Kant in der Form eines Friedensvertrages die völkerrechtlichen Bedingungen genannt, die erfüllt sein müssen, um einen weltbürgerlichen Zustand zu garantieren. Im Vorwort erläutert Kant den Titel seiner Schrift, der sich auf die satirische Aufschrift eines Gasthausschildes, mitsamt der Zeichnung eines Friedhofes, in Holland bezieht. Er fragt sich, für wen der Spruch gelte, für „die Menschen überhaupt, oder besonders die Staatsoberhäupter, die des Krieges nie satt werden können, oder wohl gar nur die Philosophen (. . .), die jenen süßen Traum träumen“ (AA VIII, 343). Kant gliedert seine Schrift in sechs Präliminarartikel, drei Definitivartikel und zwei Zusätze. Der erste Präliminarartikel lautet: „Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht
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VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen
worden“ (ebd.). Diese bereits bei Cicero genannte Bedingung eines Friedens, der diesen Namen verdient, ist deshalb unabdingbar, weil bei einem geheimen Vorbehalt, einer ‚reservatio mentalis‘, der jeweilige Friedensvertrag nur als ein „bloßer Waffenstillstand“ zu bezeichnen wäre. Der Frieden wäre nur aus taktischen Gründen, die vorübergehende Unterlegenheit berücksichtigende Lage, vereinbart worden, während tatsächlich der „böse Wille“ ungebrochen die „erste günstige Gelegenheit“ abwartete, um einen neuen Krieg zu beginnen. Der zweite Präliminarartikel lautet: „Es soll kein für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem andern Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können“ (ebd. 344). Die Begründung hierfür besteht darin, dass ein Staat nicht identisch ist mit dem Boden, auf dem er sich befindet, sondern dass er „eine Gesellschaft von Menschen“ darstellt. Er ist daher keine Sache, sondern eine „moralische Person“ (vgl. Kap. X, 3), über die nicht wie über eine Sache verfügt werden darf. Diesem Grundsatz widerspricht auch die „Verdingung“ von Truppen eines anderen Staates; denn auch dabei werden die „Unterthanen“ als „nach Belieben zu handhabende Sachen gebraucht und verbraucht“ (ebd.). Der dritte Artikel lautet: „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören“ (ebd. 345). Kant weist in seiner Begründung darauf hin, dass durch eine permanente Aufrüstung nicht nur eine ständige Kriegsgefahr entsteht, sondern dass aufgrund der großen Summen, die diese stehenden Heere verursachen, diese selbst „Ursache von Angriffskriegen“ werden. Sie dienen dem Zweck, „diese Last loszuwerden“ (ebd.). Anders verhält es sich dagegen „mit der freiwilligen periodisch vorgenommenen Übung der Staatsbürger in Waffen“, die den Sinn hat, das „Vaterland“ gegen Angriffe von außen zu sichern. Der vierte Präliminarartikel lautet: „Es sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden“ (ebd.). Während Staatsschulden im Bereich der Landesökonomie sinnvoll sein können, haben diese zum Zwecke der Kriegsführung eine katastrophale Wirkung. Sie fördern die Bereitschaft zum Krieg und erhöhen die Gefahr eines Staatsbankrotts, der schließlich auch „manche andere Staaten unverschuldet in den Schaden mit verwickeln muß“ (ebd. 346). Der fünfte Artikel lautet: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewaltthätig einmischen“ (ebd.). Kant schließt diese Einmischung auch für den Fall aus, dass in diesem Staat ein Bürgerkrieg ausgebrochen ist und Anarchie herrscht. Es bedeutete nämlich, dass „äußere Mächte“ die „Rechte eines nur mit seiner innern Krankheit ringenden, von keinem andern abhängigen Volks“ missachten würden (ebd.). Der sechste Artikel schließlich lautet: „Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: als da sind, Anstellung der Meuchelmörder (percussores), Giftmischer (venefici), Brechung der Capitulation, Anstiftung des Verraths (perduellio) in dem bekriegten Staat etc.“ (ebd.). Der Einsatz dieser Mittel ist deshalb verwerflich und daher prinzipiell auszuschließen, weil auch im Krieg ein Mindestmaß an Vertrauen erhalten bleiben muss, das notwendig ist, um später einen Frieden abschließen zu können. Die genannten Mittel sind dagegen Ausdruck einer Feindseligkeit, die schließlich in einen „Ausrottungskrieg“ führt. Zu bedenken ist aber, dass nicht
1. Das Ziel der Weltgeschichte (Kant)
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der „Friedenszustand“ der Naturzustand des Menschen ist, sondern der Krieg. Daher muß der Frieden „gestiftet“ werden. Der Rechtszustand, der sich mit diesem Gedanken verbindet, umfasst die Verfassung und das innere Recht eines Staates ebenso wie das Völkerrecht. Diesem Ansatz entsprechend hat Kant drei Definitivartikel formuliert. Der erste lautet: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“ (ebd. 349). Kant unterscheidet zwei Verfassungs- bzw. Regierungsformen, die republikanische und die despotische, und drei Staatsformen: die Monarchie, die Aristokratie und die Demokratie. Die Begründung für die republikanische Verfassung lautet so: Die einzige Verfassung, „welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muß – ist die republikanische“ (ebd. 350). In der republikanischen Verfassung gibt es eine Gewaltenteilung der Exekutive und der Legislative; im Despotismus gibt es sie nicht. Der Despot vollzieht die Gesetze, die er selbst gegeben hat. Das bedeutet, dass „mithin der öffentliche Wille (. . .) von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird“ (ebd. 352). Da allein die republikanische Verfassung ihren Ursprung in einem reinen Rechtsbegriff hat und außerdem „die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle, oder nicht“ (ebd. 351), ist leicht zu ersehen, dass in einem Staat mit republikanischer Verfassung ein Krieg sehr unwahrscheinlich wird, denn es sind die Staatsbürger selbst, die seine schlimmen Folgen zu tragen haben. Anders sieht es in der Despotie aus, „wo der Unterthan nicht Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist“. In ihr ist der Krieg „die unbedenklichste Sache von der Welt (. . .), weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigenthümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u. d. gl. durch den Krieg nicht das Mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art von Lustpartie“ beschließen kann (ebd.).
Erstaunlicherweise ist es gerade das Prinzip der Gewaltenteilung, das Kant dazu veranlasst, die Demokratie zu verwerfen. Seine Begründung lautet so: „Unter den drei Staatsformen ist die der Demokratie (. . .) notwendig ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (. . .) beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist“ (ebd. 352).
Von den beiden anderen ist die Monarchie der Aristokratie vorzuziehen. Kant betont die Vorzüge der Monarchie seiner Zeit, da ihr Regent, Friedrich II., von sich sagte, „er sei bloß der oberste Diener des Staats“ (ebd.). Der zweite Definitivartikel lautet: „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein“ (ebd. 354). Die Begründung besteht darin, Staaten „wie einzelne Menschen“ zu beurteilen, die aus Gründen der eigenen Sicherheit mit anderen Staaten eine „der bürgerlichen ähnliche“ rechtliche Verfassung ausarbeiten. Das Ergebnis dieser Vereinbarung wäre ein „Völkerbund“, der zwar kein „Völkerstaat“ ist, da es für ihn keine bindende Gesetzgebung gibt, aber doch ein Zustand, in dem Kriege unter-
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VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen
einander verbindlich ausgeschlossen werden. Der Völkerbund wird auf diese Weise ein „Friedensbund“. Der leitende Gedanke eines solchen Bundes ist die „Idee einer Weltrepublik“ (ebd. 357). Der dritte Definitivartikel lautet: „Das WELTBÜRGERRECHT soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein“ (ebd. 357). Unter Hospitalität versteht Kant ein „Besuchsrecht“ jedes Menschen, sich in jedem Land „zur Gesellschaft anzubieten vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der als Kugelfläche sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden müssen“ (ebd. 358). Im ersten Zusatz seiner Schrift weist Kant daraufhin, dass die Natur selbst die Menschen schließlich dazu führt, Zwietracht und Krieg aufzugeben und Grundsätze der Vernunft zu akzeptieren. Es ist das Prinzip der Selbsterhaltung, nicht der Moral, das dazu führt, dass selbst „ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)“, einen Staat errichtet, in dem das Recht gilt. Im Verhältnis der Staaten zu einander setzt Kant auf den „Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt“ (ebd. 368). Im zweiten, „geheimen“, Zusatz macht Kant deutlich, dass Platons Forderung, die Philosophen sollten die Regierenden sein, nicht zu erwarten, aber auch nicht wünschenswert sei, „weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt“ (ebd. 369). Wünschenswert wäre es dagegen, wenn die Regierenden „die Classe der Philosophen nicht schwinden oder verstummen, sondern öffentlich sprechen“ ließen (ebd.). Die Wirkungsgeschichte Kants ist vor allem mit seinem Entwurf zu einem ‚ewigen Frieden‘ verknüpft. Er diente tatsächlich als philosophische Orientierung für die Gründung des Völkerbundes. Kants Geschichtsphilosophie wurde von Hegel aufgegriffen und gleichzeitig transformiert, ebenso bei Marx. In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s wich dieser Ansatz einer historistischen Betrachtung, die wenig Raum ließ für universale Ziele der Geschichte. Skeptische Überlegungen überwogen auch zu Beginn des 20. Jh.s und schließlich wurde die These vertreten, dass die Geschichtsphilosophie als Ganze verabschiedet werden müsse und an ihre Stelle die Anthropologie trete (vgl. HWP 1, Sp. 362; Marquard, 1982, 27).
2. Geschichtliches Verstehen (Dilthey) „Jedes Leben hat einen eigenen Sinn. Er liegt in einem Bedeutungszusammenhang, in welchem jede erinnerbare Gegenwart einen Eigenwert besitzt, doch zugleich im Zusammenhang der Erinnerung eine Beziehung zu einem Sinn des Ganzen hat. Dieser Sinn des individuellen Daseins ist ganz singular, dem Erkennen unauflösbar, und er repräsentiert doch in seiner Art, wie eine Monade von Leibniz, das geschichtliche Universum. (. . .) Die Selbstbiographie ist die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt. Hier ist ein Lebenslauf das Äußere, sinnlich Erscheinende, von welchem aus das Verstehen zu dem vorandringt, was diesen Lebenslauf innerhalb eines bestimmten Milieu hervorgebracht hat. Und zwar ist der, welcher diesen Lebenslauf versteht, identisch mit dem, der ihn hervorgebracht hat. Hieraus ergibt sich
2. Geschichtliches Verstehen (Dilthey)
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eine besondere Intimität des Verstehens. Derselbe Mensch, der den Zusammenhang in der Geschichte seines Lebens sucht, hat in all dem, was er als Werte seines Lebens gefühlt, als Zwecke desselben realisiert, als Lebensplan entworfen hat, was er rückblickend als seine Entwicklung, vorwärtsblickend als die Gestaltung seines Lebens und dessen höchstes Gut erfasst hat – in alledem hat er schon einen Zusammenhang seines Lebens unter verschiedenen Gesichtspunkten gebildet, der nun jetzt ausgesprochen werden soll.“ (W. Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. VII, Göttingen 1968, 199f.).
Dilthey wird 1833 in Biebrich am Rhein geboren. Auf Wunsch seines Vaters studiert er zunächst Theologie und wendet sich, nach theologischem Staatsexamen und kurzzeitiger Tätigkeit als Gymnasiallehrer, der Philosophie und einer akademischen Laufbahn zu. Nach der Promotion im Jahre 1864 über Schleiermachers Ethik und kurz darauf erfolgter Habilitation erhält er bald Professuren in Basel (1867), Kiel (1868) und Breslau (1871), bis er schließlich in Berlin sein endgültiges akademisches Arbeitsfeld findet. Er lehrt dort von 1882–1905. Er stirbt 1911 in Seis (Südtirol) (vgl. Jung, 1996). Diltheys Wirken fällt in die Zeit eines philosophischen und wissenschaftlichen Umbruchs. Es ist Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, wie ihn Karl Löwith in seinem Buch Von Hegel zu Nietzsche im Untertitel treffend charakterisiert hat. Der Bruch ist zu verstehen als der ‚Zusammenbruch des Idealismus‘ und radikaler noch als Absage an jede Metaphysik. Da die Philosophie sich selbst weitgehend als Metaphysik verstand, war mit ihrem Niedergang die Philosophie selbst in Frage gestellt. Die Protagonisten dieser Bewegung waren Feuerbach, Marx, Kierkegaard und Nietzsche. Allerdings waren sie gesellschaftliche Außenseiter und gehörten entweder gar nicht oder nur vorübergehend der akademischen Welt an. Doch auch Dilthey, der ein hochgeachteter akademischer Lehrer und Forscher war, widmete den größten Teil seiner wissenschaftstheoretischen Programmschrift Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) der Kritik der Metaphysik, die er unter dem Titel erörterte: Ihre Herrschaft und ihr Verfall. Die Metaphysik scheitert – so seine These – an der Aufgabe, die sie sich selbst stellte; denn: „Eine inhaltliche Vorstellung des Weltzusammenhangs kann nicht erwiesen werden“ (Dilthey, GS I, 402). Die von ihr angestrebte Objektivität der Erkenntnis bleibt unerfüllt und löst sich auf in die „eingeschränkte Subjektivität des Seelenlebens“ (ebd. 404). Diltheys Metaphysikkritik gipfelt in der Aussage: „Die Verwandlung der Welt in das auffassende Subjekt durch diese modernen Systeme ist gleichsam die Euthanasie der Metaphysik“ (ebd. 405). Doch, was tritt an die Stelle der Metaphysik? Es sind zum einen die Wissenschaften und zum anderen Weltanschauungen, die sich selbst jedoch wissenschaftlich zu begründen versuchen. Bei Dilthey verbinden sich beide Aspekte (vgl. Jung, 1996, 71). Wenn aber die Metaphysik an der „Subjektivität des Seelenlebens“ scheitert, fragt es sich: Wie ist das Seelenleben des Menschen, wie ist der Mensch selbst zu verstehen? Diltheys Antwort darauf ist der Versuch der Etablierung eines Wissenschaftszweigs, der sich ausschließlich mit der Situation des Menschen befasst. Er nennt diesen Zweig Geisteswissenschaften und unterscheidet ihn von den Naturwissenschaften. Er knüpft dabei an Hegels Einteilung der ‚philosophischen Wissenschaften‘ in die ‚Wissenschaft der Logik‘, die ‚Naturphilosophie‘ und die ‚Philosophie des Geistes‘ an. Dilthey unterschei-
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VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen
det die beiden Wissenschaftstypen nicht so sehr nach Maßgabe der Verschiedenheit der Gegenstandsbereiche, sondern aufgrund der unterschiedlichen Methoden, denen sie folgen. Die Naturwissenschaften suchen allgemeine Gesetze für natürliche Ereignisse. Ihre Methode ist das Erklären, d. h. die Aufdeckung von Kausalzusammenhängen, das Aufstellen von Gesetzeshypothesen und schließlich das Erkennen eines allgemeinen Naturgesetzes. Die Methode der Geisteswissenschaften, d. h. der Literaturwissenschaft, der Geschichtswissenschaft, der Jurisprudenz, der Pädagogik, der Ethik, der Soziologie und der Anthropologie, ist das Verstehen. Ihm geht es um das Erfassen von Zielen, konkreter Handlungsabsichten und geschichtlicher Zusammenhänge. Wollte man die von Aristoteles eingeführte Ursachenlehre zu Hilfe nehmen, könnte man sagen, die Naturwissenschaften forschen unter dem Vorzeichen der ‚causa efficiens‘, die Geisteswissenschaften unter dem der ‚causa finalis‘. Im Zuge seiner geisteswissenschaftlichen Forschungen gewannen die geschichtlichen Zusammenhänge eine immer größere Bedeutung für Dilthey. In aller Deutlichkeit kommt dieser Gedanke in dem Entwurf zu einer Rede zum Ausdruck, die er zu seinem siebzigsten Geburtstag im Jahre 1903 gehalten hat: „Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte“ (GS VIII, 224). Diese Einschätzung entspricht der von Marx, der der andere große Geschichtsdenker des 19. Jh.s ist. Gleichwohl ist ihr Geschichtsverständnis radikal verschieden. Während Marx ein Ziel der Geschichte benennt, gibt es für Dilthey nur eine „ruhelose Dialektik“, die die Geschichte von einem Ziel zum nächsten vorantreibt. Deutlich wird das an den großen „Weltanschauungstypen“, die die Geschichte der Philosophie bestimmen. Dilthey unterscheidet drei: den Naturalismus, den Idealismus der Freiheit und den objektiven Idealismus. Der Naturalismus erstreckt sich von Demokrit über Epikur bis zu Hobbes. Das „philosophische Recht des Naturalismus“ besteht in Folgendem: „Wie überwiegend sind doch innerhalb der in unserer Erfahrung gegebenen Wirklichkeit Ausdehnung und Kraft der physischen Massen! Sie umfassen als ein Unermeßliches und kontinuierlich sich Erstreckendes die spärlichen geistigen Erscheinungen“ (ebd. 101).
Aber der Naturalismus kann ein zentrales Problem nicht lösen: Er verfällt nämlich in einen Zirkel, wenn er die eigene Theorie selbst noch einmal aus physischen Erscheinungen ableiten soll. Diese Schwierigkeit treibt „den Naturalismus zu immer neuen Fassungen seiner Stellung zu Welt und Leben“ (ebd. 101). Zum Idealismus der Freiheit gehören nach Dilthey Anaxagoras, Sokrates, Platon, Aristoteles, Kant, Fichte und Bergson. Hier ist es der freie Geist, der sich die Welt nach seinem Bilde schafft. Dilthey betont: „Diese Weltanschauung besitzt in den Tatsachen des Bewußtseins eine allgemeingültige Grundlage“ (ebd. 111). Doch gegen sie spricht: Sie „vermag ihr Prinzip nicht wissenschaftlich allgemeingültig zu definieren und zu begründen. So beginnt auch hier wieder eine ruhelose Dialektik ihr Werk, welche von Möglichkeit zu Möglichkeit vorwärts geht, unfähig doch, zu einer Auflösung ihres Problemes zu gelangen“ (ebd.). Die Weltanschauung des objektiven Idealismus versucht, die Einseitigkeiten der beiden anderen Typen aufzuheben und zu vereinigen. Ihr gehören die meisten Philoso-
2. Geschichtliches Verstehen (Dilthey)
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phen an: Xenophanes, Herakleitos, Parmenides, Giordano Bruno, Spinoza, Shaftesbury, Herder, Goethe, Schelling, Hegel, Schopenhauer und Schleiermacher. Dilthey charakterisiert ihn so: „Alle Erscheinungen des Universums sind zweiseitig; von der einen Seite angesehen, in der äußeren Wahrnehmung, sind sie als sinnliche Gegenstände gegeben und stehen als solche in einem physischen Konnex, dagegen tragen sie, gleichsam von innen aufgefasst, einen Lebenszusammenhang in sich, welcher in dem unseres eigenen Inneren erlebbar wird“ (ebd. 117).
Aber wie soll dieser Zusammenhang als ein ganzer begriffen werden? Religion, Dichtung und Metaphysik sprechen ihn nur symbolisch aus, denn als alles umfassender Zusammenhang ist er selbst „schlechterdings unerkennbar“. Und so gilt auch hier: „Hier entspringt eine neue ruhelose Dialektik, welche von System zu System vorwärtstreibt, bis nach Erschöpfung aller Möglichkeiten die Unauflösbarkeit des Problems erkannt ist“ (ebd.). Alle Weltanschauungen, alle metaphysischen Systeme, die den Versuch machen, endgültige Aussagen über Mensch und Welt zu machen, scheitern. Was ist das Ergebnis? Diltheys Antwort erscheint resignativ: „Alles Geschichtliche ist relativ; halten wir es im Bewußtsein zusammen, so scheint darin eine geheime Wirkung von Auflösung, Skeptizismus, kraftloser Subjektivität enthalten zu sein“ (ebd. 167). Doch das ist nicht sein letztes Wort. Können sich die Systeme auch nicht aus sich selbst heraus begründen, so besteht doch die Möglichkeit, sie als geistige Objektivationen des einen schöpferischen Lebens zu interpretieren. Mit dem Begriff des Lebens erschließt sich Dilthey nicht nur den Bereich einer „Lebensphilosophie“ (vgl. Fellmann, 1993), sondern darüber hinaus die Basis für den Ansatz der Geisteswissenschaften. Dilthey betont: „Geschichtliches Leben ist ein Teil des Lebens überhaupt. Dieses aber ist, was im Erleben und Verstehen gegeben ist. Leben in diesem Sinne erstreckt sich sonach auf den ganzen Umfang des objektiven Geistes, sofern er durch das Erleben zugänglich ist. Leben ist nun die Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Philosophie bilden muß. Es ist das von innen Bekannte, es ist dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann. Leben kann nicht vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden“ (GS VII, 261).
Es ist nicht abwegig, in der ‚Grundtatsache’ des Lebens nicht nur den Ausgangspunkt der Philosophie, sondern den einer neuen Weltanschauung oder einer Metaphysik zu entdecken, einer Metaphysik des Lebens. Mit dem Begriff des ‚objektiven Geistes‘ knüpft Dilthey erneut an Hegel an. Während jedoch Hegel unter objektivem Geist die Ergebnisse der Tätigkeit des Geistes sah, sich in der äußeren Wirklichkeit ein Dasein zu geben und sich so zu verwirklichen, so z. B. in den Institutionen des Staates, des Rechts, des Bildungssystems, ist für Dilthey der Produzent des objektiven Geistes das Leben, das eine „irrationale Faktizität“ (ebd. 288) darstellt. Von dem Leben als der „Grundtatsache“ aus, entwickelt Dilthey nun die spezifischen Kategorien der Geisteswissenschaften. Vorbild ist für ihn das Kategoriensystem, das Kant für Gegenstände der Naturwissenschaften entwarf. Und in Analogie
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VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen
zu Kants Kritik der reinen Vernunft nennt Dilthey sein Unternehmen eine „Kritik der historischen Vernunft“ (ebd. 191). Dabei wird es sich erweisen, dass Dilthey kantische Begriffe aufgreift, sie aber nun im Sinne von geisteswissenschaftlichen Kategorien umdeutet. Das soll an zwei Beispielen gezeigt werden: an der Anschauungsform der Zeit und an der Kategorie der Kausalität. Für Kant ist die Zeit eine transzendentale Anschauungsform. Die charakteristischen Merkmale sind „Gleichzeitigkeit, Aufeinanderfolge, Zeitabstand, Dauer, Veränderung“ (ebd. 193). Es handelt sich – so Dilthey – um „die abstrakten Beziehungen“ der mathematischen Naturwissenschaften. Dagegen geht es den Geisteswissenschaften um das „Erlebnis der Zeit“: „Hier wird die Zeit erfahren als das rastlose Vorrücken der Gegenwart, in welchem das Gegenwärtige immerfort Vergangenheit wird und das Zukünftige Gegenwart. Gegenwart ist die Erfüllung eines Zeitmomentes mit Realität, sie ist Realität im Gegensatz zur Erinnerung oder zu den Vorstellungen von Zukünftigem, die im Wünschen, Erwarten, Hoffen, Fürchten, Wollen auftreten. (. . .) Das Schiff unseres Lebens wird gleichsam auf einem beständig fortrückenden Strom dahingetragen, und Gegenwart ist immer und überall, wo wir auf diesen Wellen sind, leiden, erinnern oder hoffen, kurz wo wir in der Fülle unserer Realität leben“ (ebd.).
Der Unterschied zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem geisteswissenschaftlichen Begriff der Zeit besteht darin, dass jener quantitativ ist und dieser qualitativ. Das Erlebnis der Zeit ist eine qualitativ erfüllte Zeiteinheit, die mathematisch-naturwissenschaftliche Zeit besteht aus ausdehnungslosen Zeitpunkten und ihren quantitativ bestimmbaren Relationen. Das Erlebnis der Zeit hat aber auch deshalb eine zentrale Bedeutung für die Geisteswissenschaften, weil es der Ursprung der Modalbegriffe Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit ist. Dilthey erläutert das so: „Wenn wir auf die Vergangenheit zurückblicken, verhalten wir uns passiv; sie ist das Unabänderliche; vergebens rüttelt der durch sie bestimmte Mensch an ihr in Träumen, wie es anders könnte geworden sein. Verhalten wir uns zur Zukunft, dann finden wir uns aktiv, frei. Hier entspringt neben der Kategorie der Wirklichkeit, die uns an der Gegenwart aufgeht, die der Möglichkeit. (. . .) So bestimmt dies Erlebnis der Zeit nach allen Richtungen den Gehalt unseres Lebens“ (ebd. 193f.).
Ähnlich ist es mit der Kategorie der Kausalität. Dilthey bemerkt dazu: „Es gibt in der geschichtlichen Welt keine naturwissenschaftliche Kausalität, denn Ursache im Sinne dieser Kausalität schließt in sich, daß sie nach Gesetzen mit Notwendigkeit Wirkungen herbeiführt; die Geschichte weiß nur von den Verhältnissen des Wirkens und Leidens, der Aktion und Reaktion“ (ebd. 197).
Hat die Kategorie der naturwissenschaftlichen Kausalität in der geschichtlichen Welt keine Bedeutung, so hat auch die Methode des Erklärens keinen Sinn. An ihre Stelle tritt das Verstehen. Dilthey erläutert: „Das Verstehen und Deuten ist die Methode, welche die Geisteswissenschaften erfüllt. Alle Funktionen vereinigen sich in ihm. Es ent-
2. Geschichtliches Verstehen (Dilthey)
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hält alle geisteswissenschaftlichen Wahrheiten in sich. An jedem Punkt öffnet das Verstehen eine Welt. Auf der Grundlage des Erlebens und des Verstehens seiner selbst, und in beständiger Wechselwirkung beider miteinander, bildet sich das Verstehen fremder Lebensäußerungen und Personen aus“ (ebd. 205). Dilthey unterscheidet elementare und höhere Formen des Verstehens. Zu den elementaren gehört das Verstehen einzelner Lebensäußerungen wie eine Miene, die Freude, Schmerz oder Trauer ausdrückt, aber auch elementare Handlungen wie das Aufheben eines Gegenstandes, das Öffnen einer Tür, das Sägen von Holz u.ä. Es sind Äußerungen und Handlungen, die wir verstehen, weil wir sie an uns selbst kennen. Dabei handelt es sich nicht um einen Analogieschluss, sondern um ein „unmittelbares Verstehen“; es ist ein unmittelbares Wiederfinden des Ich im Du. Die höheren Formen des Verstehens beziehen sich auf komplexe Gebilde wie ein Drama, eine Institution oder eine geschichtliche Epoche, die einen einheitlichen Zusammenhang bilden. Wir verstehen sie, weil sich die darin enthaltenen Lebensäußerungen zu einem Ganzen zusammenschließen. Notwendig ist dafür allerdings, dass sich der Interpret in den jeweiligen Zusammenhang „hineinversetzt“ und das Ganze „nacherlebt“. Gleichwohl stößt selbst die wissenschaftlich geschulte Kunst der Interpretation, d. h. die Hermeneutik, an Grenzen. Zu jeder Interpretation gehört ein Stück „persönliche Genialität“. Der Grund liegt darin, dass es jede Interpretation immer nur mit einer Lebensäußerung zu tun hat, d. h. einer geistigen Objektivation des Lebens, niemals mit dem Leben selbst. Dilthey bemerkt: „So ist in allem Verstehen ein Irrationales, wie das Leben selber ein solches ist“ (ebd. 218). Einen Sonderfall des Verstehens bildet die Autobiographie bzw. die „Selbstbiographie“, wie Dilthey sie nennt. Die Probleme des Fremdverstehens, die Notwendigkeit des Sich-Hineinversetzens und des Nacherlebens tauchen hier nicht auf; denn bei ihr ist es derselbe Mensch, der seinen Lebenslauf hervorgebracht hat und nun versucht, ihn, und d. h. zugleich sich, zu verstehen (vgl. Text). Die Selbstbiographie hat den Charakter einer „Selbstbesinnung“. Aber sie ist nicht eine bloße Verdoppelung der Ereignisse eines Lebens; denn die Perspektive des in seiner Gegenwart Lebenden und Handelnden ist eine andere als die des auf seine Vergangenheit Zurückblickenden. Für den Handelnden stellt sich die Zukunft als eine Fülle von kaum überschaubaren Möglichkeiten dar. Für ihn gibt es ein Zweifeln und Zögern, Irrwege und Umwege. Dagegen hat sich für den Selbstbiographen die verwirrende Fülle sich darbietender Entscheidungen geglättet, und es gibt den einen Lebenslauf. Dilthey erläutert diesen Gedanken an den Selbstbiographien von Augustinus, Rousseau und Goethe und zeigt, dass bei ihnen in jedem Fall eine unterschiedliche Selbstdeutung zugrunde lag. Für Augustinus ist sein Bekehrungserlebnis das entscheidende Ereignis, das seinem bisherigen und seinem zukünftigen Leben einen Sinn verleiht. Auf dies Erlebnis hin werden alle Widerfahrnisse und Handlungen seines Lebens interpretiert. Anders Rousseau: Seine Erinnerungen sind bestimmt durch sein „Abenteurerleben“, durch das er sich von dem streng religiösen Elternhaus befreite, seine erlittenen und eingebildeten Verfolgungen und seine Einsamkeit. Und doch: Er „empfand sich als eine vornehme, edelmütige, mit der Menschheit fühlende Seele, worin doch das Ideal seiner Zeit lag“ (ebd. 199). Und schließlich Goethe: In seinen autobiographischen Reflexionen in Dichtung und Wahrheit „verhält sich ein Mensch universal-historisch zu seiner eigenen Existenz. Er sieht sich durchaus im Zusammenhang mit der literarischen
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VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen
Bewegung seiner Epoche. Er hat das ruhige, stolze Gefühl seiner Stellung in derselben“ (ebd.). Diltheys Aussage: “Jedes Leben hat einen eigenen Sinn“, bildet auch das Motiv seiner Ethik. Sie ist dadurch bestimmt, dass in ihr der Versuch unternommen wird, das im Menschen anzutreffende moralische Gefühl mit Gedanken der kantischen Ethik zu verbinden. Die Vermittlung leistet das „Gefühl der Solidarität“ (GS X, 78). Ausgangspunkt bilden die Gefühle wie „Wohlwollen“, „Mitleid“ und „Mitfreude“. Durch sie erfährt der Mensch „immer mehr die Homogenität aller anderen Menschennaturen mit sich, Verständnis derselben, Solidarität der Interessen treten hervor, in dem anderen pulsieren dieselben Gefühle und die Miterregung läßt mich an denselben teilnehmen (. . .). Im Verband wirken die Willen zusammen, sie erleben die Solidarität ihrer Zwecke (. . .). So bilden sich Respekt oder Achtung vor der anderen Person heraus“ (ebd.).
Diltheys Wirkungsgeschichte hat einen Schwerpunkt im Bereich der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, so z. B. bei Nohl und Spranger. Seine Bedeutung für eine philosophische Hermeneutik ist bei Heidegger unübersehbar und schwer zu überschätzen, und später, durch diesen vermittelt, auch bei Gadamer und Ricœur.
3. Das Seinsgeschick und der Mensch (Heidegger) „Das Weltalter der technologisch-industriellen Zivilisation birgt in sich eine allzuwenig in ihren Grundlagen bedachte, sich steigernde Gefahr: Das tragend Belebende der Dichtung, der Künste, des besinnlichen Denkens wird nicht mehr in seiner aus ihnen selbst sprechenden Wahrheit erfahrbar. Die genannten Bereiche sind zu einem bloßen Instrument des Zivilisationsbetriebes umgefälscht. Ihre in sich selbst ruhende Sprache verschwindet im Flüchtigen der sich überstürzenden Informationen, denen die bleibend prägende Gestaltungskraft fehlt. (. . .) Dabei gilt es vor allem eines in seiner ganzen Tragweite zu erkennen: das, historisch gerechnet, später zum Vorschein kommende Eigentümliche der modernen Technologie ist nicht eine Folge oder gar nur die Anwendung der neuzeitlichen Wissenschaft. Vielmehr ist diese Wissenschaft der Sache nach schon bestimmt durch das zunächst sich verbergende Wesen der modernen Technologie. Dieses wiederum beruht seinerseits auf einer einzigartigen Weise, nach der das Sein des Seienden im Industriezeitalter waltet. / Vermutlich vollzieht die moderne Weltzivilisation den Übergang in die Endphase des epochalen Seinsgeschickes im Sinne der Bestimmung des Seins als der unbedingten Bestellbarkeit alles Seienden, das Menschsein mit inbegriffen.“ (G. Neske/ E. Kettering (Hg.): Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Pfullingen 1988, 275 f.).
Martin Heidegger wird 1889 in Meßkirch geboren. In den Jahren 1909–13 studiert er katholische Theologie, Philosophie, Mathematik und Physik in Freiburg. Seine Promotion erfolgt 1913 mit der Dissertation Die Lehre vom Urteil im Psychologismus und seine Habilitation im Jahre 1915 mit einer Arbeit über Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus. In den Jahren 1918–23 ist er Privatdozent und Assistent von Edmund Husserl. Es folgt 1923–28 eine a. o. Professur in Marburg. 1928 wird er Nach-
3. Das Seinsgeschick und der Mensch (Heidegger)
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folger Husserls in Freiburg. 1933/34 ist er Rektor der Universität. Nach dem Krieg erhält er von 1946–51 Lehrverbot, kann jedoch seine Lehre von 1951–58 wieder aufnehmen. Heidegger stirbt 1976 (vgl. Biemel, 1973). Zur Erläuterung des Lehrverbots sei auf den geschichtlichen Kontext hingewiesen: Heidegger lebte in einer Phase der deutschen Geschichte, die wie kaum eine andere wechselhaft und katastrophenreich war. Im Kaiserreich aufgewachsen, erlebte er den Ersten Weltkrieg und die Abdankung des Kaisers als junger Mann. Er war, wie viele andere, irritierter Zeitzeuge des Scheiterns der Weimarer Republik. Im Nationalsozialismus sah er einen politischen Aufbruch, der mit seinen eigenen Überlegungen zu Heimat und Volk übereinzustimmen schien (vgl. Heidegger, 1988, 84). Sein vergeblicher Versuch, die Autonomie der Universität gegenüber parteipolitischem Einfluss zu verteidigen, führte jedoch 1934 zu seinem Rücktritt als Rektor (vgl. ebd. 92). Der neu entstandenen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg stand er gleichwohl skeptisch gegenüber (ebd. 96). Er sah in ihr nicht die geeignete Regierungsform, um eine angemessene Antwort auf die Herausforderungen des technischen Zeitalters zu finden. Heideggers Denken zeichnet sich durch eine Kritik der Philosophie der Subjektivität, des Bewusstseins und der Metaphysik insgesamt aus. Sein philosophischer Ansatz ist bestimmt durch eine „Destruktion der Geschichte der Ontologie“ im Sinne der klassischen Metaphysik und eine auf neuen Grundlagen zu bauende ‚Fundamentalontologie‘ (Heidegger, 1963, 13). Die Hinwendung zu ontologischen Fragen teilt Heidegger mit seinen philosophischen Zeitgenossen Nicolai Hartmann (1882–1950) und Ernst Bloch (1885–1977). Ontologisch orientiert ist auch der Titel seines Hauptwerkes Sein und Zeit. Aber der Titel macht auch bereits die spezifische Ausrichtung seiner Fragestellung deutlich. Er erörtert die Zeit als den „Horizont des Seins“ (ebd. 437) und gibt damit der Frage nach dem Sein einen neuen, geschichtlichen Sinn. Thematisiert wird nicht ein zeitloses Sein, wie in der klassischen Metaphysik, sondern ein geschichtliches. Heideggers Philosophie ist in ihrem Kern Geschichtsphilosophie. Heidegger schließt sich damit ausdrücklich den Gedanken Diltheys an. Er sagt: „Im Grunde geht es der folgenden Analyse einzig darum, die der heutigen Generation erst noch bevorstehende Aneignung der Forschungen Diltheys an ihrem Teil wegbereitend zu fördern“ (ebd. 377). Zwar hat Heidegger sein Werk Edmund Husserl (vgl. Kap. XII 2) gewidmet und seine Analysen als eine phänomenologische Beschreibung bezeichnet, tatsächlich hat er sich aber in seinem philosophischen Ansatz mehr und mehr von ihm entfernt. Die Idee eines ungeschichtlich gedachten, transzendentalen Subjekts, dessen Forschungsperspektive darin besteht, die konstituierenden Leistungen des Bewusstseins zu beschreiben, ließ sich immer weniger mit einem geschichtlichen und hermeneutischen Fragen verbinden. Die Seinsfrage, die er in allen seinen Werken thematisiert, ist die Frage nach der Geschichte des Seins bzw. des ‚Seinsgeschicks‘. Sie thematisiert den geschichtlichen Sinn von Sein. Heidegger bemerkt: „Und wenn wir nach dem Sinn von Sein fragen, dann wird die Untersuchung nicht tiefsinnig und ergrübelt nichts, was hinter dem Sein steht, sondern fragt nach ihm selbst, sofern es in die Verständlichkeit des Daseins hereinsteht“ (ebd. 152). Thema ist daher ausschließlich das Seinsverständnis.
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VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen
Da aber das menschliche Dasein durch Seinsverständnis ausgezeichnet ist, enthält das Thema einen zweifachen Sinn. Es ist der Schlüssel für die Beantwortung einer anthropologischen Frage, d. h. nach dem Wesen des Daseins; es ist zugleich aber der Schlüssel für die ontologische Frage nach dem „Sein selbst“. In seinem Werk Sein und Zeit ist Heidegger den ersten Weg gegangen. Er begründet diesen Zugang, indem er die Frage stellt: „An welchem Seienden soll der Sinn von Sein abgelesen werden, von welchem Seienden soll die Erschließung des Seins ihren Ausgang nehmen?“ (ebd. 7). Seine Antwort lautet: Ausgangspunkt ist die Analyse „des Seienden, das wir, die Fragenden, je selbst sind“ (ebd.), d. h. die Frage „nach dem Sinn von Sein verlangt eine vorgängige angemessene Explikation eines Seienden (Dasein) hinsichtlich seines Seins“ (ebd.). Damit eröffnet sich ein Untersuchungsbereich, den Heidegger ‚Daseinsanalytik‘ nennt. Zur Durchführung dieser Analytik wählt Heidegger einen Ansatz, der sich an Dilthey anschließt. So wie es ihm darauf ankam, geisteswissenschaftliche Kategorien zu entwerfen, will Heidegger grundlegende Aussageformen des menschlichen Daseins entwickeln. Er bezeichnet sie als Existenzialien. Er hat für die Existenzialien ebenso wenig eine Geschlossenheit und eine Systematik entwickelt wie Dilthey für die geisteswissenschaftlichen Kategorien. Vielmehr steht die gesamte Daseinsanalytik unter dem Vorzeichen einer Erschließung von Existenzialien. Die Daseinsanalytik hat daher den Charakter einer „existenzialen Anthropologie“ (ebd. 301). Ein grundlegendes Beispiel hierfür ist der Begriff Welt. Welt ist weder das „All des Seienden“ noch ein bestimmter Bereich von Gegenständen, er ist auch nicht eine Art Behälter, in dem wir leben, sondern ein „Seinscharakter des Daseins“ (ebd. 64). Das „In-der-Welt-Sein“ des Daseins meint ein ‚Sein-Bei‘ ein ‚Vetraut-Sein-Mit‘, radikaler noch, „’Welt‘ ist (. . .) ein Charakter des Daseins selbst“ (ebd.). Heidegger betont: „Welt bezeichnet (. . .) den ontologisch-existenzialen Begriff der Weltlichkeit“ (ebd. 65). Weltlichkeit ist „das Verweisungsganze der Bedeutsamkeit“ (ebd. 123). Mit dem Existenzial der Weltlichkeit verbindet sich der Gedanke der „Weltoffenheit des Daseins“ (ebd. 137). Der Begriff der Weltoffenheit wird von Heidegger und Scheler nahezu zeitgleich verwendet (vgl. Kap. VII, 2). Mit der existenzialen Interpretation der Welt gibt Heidegger den Gedanken der Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Welt gegenüber dem Dasein auf, d. h. Welt gibt es nur als einen Bedeutungszusammenhang für ein Dasein und niemals als ein an sich Bestehendes. Innerhalb des Bedeutungszusammenhangs, der die Welt ausmacht, begegnet dem Dasein Seiendes in unterschiedlicher Weise. Heidegger unterscheidet Seiendes in der Seinsart der Zuhandenheit von Seiendem in der des Vorhandenen. Das Zuhandene begegnet uns im Alltag in der Art der Gebrauchsdinge („das Zeug“). Es erweist seine Dienlichkeit im Gebrauch. Die Vorhandenheit eines Seienden ist demgegenüber charakterisiert durch eine Distanzierung vom Gebrauch. Dadurch kann es erst zum Gegenstand einer theoretischen Betrachtung werden. Unter der Voraussetzung, dass es diese zwei Arten des Seienden im Bedeutungszusammenhang der Welt gibt, fragt es sich, von welcher Art das Dasein selbst ist. Zunächst ist festzuhalten, dass dabei nicht danach gefragt wird, was das Dasein ist, sondern wer es ist. Die existenziale Frage zielt auf das „Wer des Daseins“ ab. Die Antwort lautet:
3. Das Seinsgeschick und der Mensch (Heidegger)
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„Dasein ist Seiendes, das je ich selbst bin, das Sein ist je meines. (. . .) Das Wer ist das, was sich im Wechsel der Verhaltungen und Erlebnisse als Identisches durchhält und sich dabei auf diese Mannigfaltigkeit bezieht“ (ebd. 114).
Das, was sich im Wechsel der Erscheinungen als Identisches durchhält, wird in der klassischen Metaphysik als Substanz bezeichnet und die ist seit Kant einer gründlichen Kritik unterzogen worden. Umso bemerkenswerter ist Heideggers weitere Charakterisierung des Daseins. Er sagt: „Man mag Seelensubstanz ebenso wie Dinglichkeit des Bewußtseins und Gegenständlichkeit der Person ablehnen, ontologisch bleibt es bei der Ansetzung von etwas, dessen Sein ausdrücklich oder nicht den Sinn von Vorhandenheit behält. Substanzialität ist der ontologische Leitfaden für die Bestimmung des Seienden, aus dem her die Werfrage beantwortet wird. Dasein ist unausgesprochen im vorhinein als Vorhandenes begriffen“ (ebd.).
Damit wird auch das Dasein in die ontologische Wende einbezogen. Es unterscheidet sich vom kantischen Begriff des Subjekts dadurch, dass es nicht wie dieses als der Vollzug von Leistungen verstanden wird, sondern eben als eine Substanz (vgl. Von Herrmann, 2004). Wenn jedoch das Dasein ein Seiendes ist, „das je ich selbst bin“, wird die Frage nach dem Sein des Anderen unumgänglich. In der Philosophie der Subjektivität taucht regelmäßig das Problem der Intersubjektivität auf, d. h. der Erschließung des anderen Subjekts von einem Subjekt aus, das zunächst ‚solus ipse‘ ist. Heidegger versucht dieses Problem dadurch zu vermeiden, dass er das Sein des Anderen als eines „’Mit‘-Vorhandensein innerhalb einer Welt“ und d. h. als eine existenziale Bestimmung des Daseins interpretiert. „Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein“ (Heidegger, 1963, 118). Entscheidend für Heideggers Daseinsanalytik ist ihr Bezug zur Zeit und zur Geschichte. Sie ist daher in besonderer Weise eine geschichtliche Anthropologie. Die Geschichtlichkeit des Daseins erweist sich durch seinen Charakter der Endlichkeit. Diese zeigt sich im Problem des Todes. Dieses gründet in der Sorge um das Dasein als ein Ganzes. Es ergibt sich folgende paradoxe Situation: „Das Erreichen der Gänze des Daseins im Tode ist zugleich Verlust des Seins des Da“ (ebd. 237). Aber der Begriff des Todes hat eine zweifache Bedeutung. Er meint zum einen das „Ableben“ des Menschen in einem „medizinisch-biologischen“ Sinne. Dagegen ist das „Sterben“ in einem existenzialen Sinne zu verstehen. Es ist „die Seinsweise, in der das Dasein zu seinem Tode ist“ (ebd. 247). Das Sterben ereignet sich nicht erst am Ende des Lebens, sondern bestimmt und begleitet das Dasein durchgängig. „Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat. (. . .) In dieser Möglichkeit geht es dem Dasein um sein In-der-Welt-sein schlechthin. Sein Tod ist die Möglichkeit des Nicht-mehr-dasein-könnens. Wenn das Dasein als diese Möglichkeit seiner selbst sich bevorsteht, ist es völlig auf sein eigenstes Seinkönnen verwiesen. So sich bevorstehend sind in ihm alle Bezüge zu anderem Dasein gelöst“ (ebd. 250).
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VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen
Aber die Möglichkeit des Todes gibt dem Dasein zugleich die Freiheit zu seinem eigensten Sein-Können. „Das vorlaufende Freiwerden für den eigenen Tod befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten, so zwar, daß es die faktischen Möglichkeiten, die der unüberholbaren vorgelagert sind, allererst eigentlich verstehen und wählen läßt“ (ebd. 264).
Die faktischen Möglichkeiten, die dem Dasein eine Wahl ermöglichen, verweisen auf die Freiheit des Daseins. Aber die Freiheit hat einen ambivalenten Charakter: „Die Freiheit aber ist nur in der Wahl der einen, das heißt im Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen“ (ebd. 285). An der Wahl und an dem notwendigen Verwerfen von Möglichkeiten hat der Wählende Schuld. Das Schuldigsein ist daher eine unumgängliche Eigenart des Daseins. Es ist aufs Engste verbunden mit dem Gewissen. Das Gewissen besteht darin, dieses Schuldigsein zu akzeptieren. Das Gewissen meldet sich als ein Ruf. In dem Ruf des Gewissens sind der Rufer und der Angerufene identisch. Heidegger betont: „Das Gewissen offenbart sich als Ruf der Sorge: der Rufer ist das Dasein, sich ängstigend in der Geworfenheit (. . .) um sein Seinkönnen. Der Angerufene ist eben dieses Dasein, aufgerufen zu seinem eigensten Seinkönnen“ (ebd. 277). Diese Überlegungen lassen sich weder mit der antiken Glücksethik verbinden noch mit der kantischen Pflichtethik, sie werden von Heidegger überhaupt nicht als Beitrag zu einer Ethik interpretiert, sondern sind das Ergebnis seiner existenzialen Analyse des Daseins. Sie nehmen ihren Ausgangspunkt von der Situation des Daseins, die ein ‚geworfener Entwurf‘ ist, d. h. eine Einheit von Faktizität und Existenz. Die „Faktizität des Daseins“ bedeutet seine „Geworfenheit“, seine „Existenz“ ist bestimmt durch das „Verstehen“. Aus dieser Dialektik ergibt sich ein ganz eigener kategorischer Imperativ. Den erläutert Heidegger so: „Und nur weil das Sein des Da durch das Verstehen und dessen Entwurfcharakter seine Konstitution erhält, weil es ist, was es wird bzw. nicht wird, kann es verstehend ihm selbst sagen: ‚werde, was du bist!‘“ (ebd. 145). Die Ausführungen zeigen gleichwohl, dass sich Heideggers Überlegungen zur Frage von Schuld und Gewissen sowie dem Appell zum „eigensten Seinkönnen“ im Umkreis einer Verantwortungsethik bewegen. In den dreißiger Jahren bahnt sich in Heideggers Denken eine „Kehre“ an, die er selbst so bezeichnet hat. Leitend bleibt die Frage nach dem Sein. Aber nun wird der Zugang zu ihr nicht mehr von einer Analyse des Daseins aus versucht, sondern von der Geschichte des Seins selbst aus. Alle Aussagen über den Menschen sind von ihr aus zu verstehen. Heidegger interpretiert die Seinsgeschichte als eine Geschichte zunehmender „Seinsvergessenheit“ (Heidegger, 1966, 14.) Seine Interpretation der Geschichte gehört damit zu dem Konzept einer „Verfallsgeschichte“ (Löwith, 1984, 124). Die Seinsvergessenheit besteht darin, dass die bisherige Metaphysik zwar nach dem Sein des Seienden gefragt habe, aber nicht nach dem „Sein als solchem“ (Heidegger, 1966, 15). Das Sein als solches bleibt nicht nur verborgen, sondern wichtiger ist, „daß die Vergessenheit des Seins (. . .) selber in die Vergessenheit fällt“ (ebd.).
3. Das Seinsgeschick und der Mensch (Heidegger)
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Die Ausdrücke Vergessenheit und Verborgen-Sein haben einen Bezug zu dem griechischen Wort für Wahrheit, das ‚aletheia‘ lautet. Seine wörtliche Übersetzung heißt das „Unverborgene“, das „Unvergessene“. ‚Lethe‘ ist im Mythos der Strom des Vergessens, in dem jeder, der in ihn steigt, sein bisheriges Leben vergisst. Heidegger übernimmt diesen Sprachgebrauch und versteht Wahrheit als die Unverborgenheit des Seins. Der erste Schritt auf dem Weg zur Wahrheit des Seins ist der Versuch, die Geschichte der Seinsvergessenheit selbst zu erinnern. Notwendig ist es, die Epochen dieser Verfallsgeschichte zu verstehen. Sie beginnt mit dem Denken der Vorsokratiker und ist in der gegenwärtigen technologisch-industriellen Zivilisation noch keineswegs an ein Ende gekommen. Heideggers romantisch-sehnsüchtiger Blick richtet sich auf den Anfang der europäischen Geschichte bei den Griechen. Die Unverborgenheit des Seins zeigt sich im frühen griechischen Denken schon in dem Verständnis des Wortes Sein. „‚Sein‘ besagt im Grunde für die Griechen Anwesenheit“ (ebd. 46). Heraklit gebraucht für diese Anwesenheit des Seins die Begriffe ‚physis‘ und ‚logos‘. ‚physis‘ „meint das aufgehende Sichaufrichten, das in sich verweilende Sichentfalten. In diesem Walten sind aus ursprünglicher Einheit Ruhe und Bewegung verschlossen und eröffnet. (. . .) Dieses Walten aber tritt erst aus der Verborgenheit heraus, d. h. griechisch: ληεια (Unverborgenheit) geschieht, indem das Walten sich als eine Welt erkämpft. Durch Welt wird das Seiende erst seiend“ (ebd. 47).
Doch diese Unverborgenheit wird durch das weitere Denken verdeckt. Die erste Epoche der Seinsvergessenheit beginnt bei Platon, der aus der Wahrheit als der Unverborgenheit des Seins die Richtigkeit des Satzes macht. Aus der Seinswahrheit wird die, an der Richtigkeit der Aussage orientierte, Satzwahrheit. Der wahre Satz (‚logos‘) gilt als das Abbild einer Idee. Der Wandel des Wahrheitsbegriffs ändert auch das, was als Wahres zur Erscheinung kommt. Es sind nicht mehr die Dinge, die sich in ihrem Sein zeigen, sondern Gegenstände. „Das Seiende wird Gegenstand, sei es für das Betrachten (Anblick, Bild), sei es für das Machen, als Gemächte und Berechnung“ (ebd. 48). Wahrheit ist nun nicht mehr die Unverborgenheit des Seins, sondern Richtigkeit, d. h. die Übereinstimmung einer Aussage mit ihrem Gegenstand. Gegenstand ist das, was sich ein Subjekt als Objekt gegenüberstellt. Als ihm Gegenüberstehendes wird es zu einem Gegenstand. Eine neue Epoche ergibt sich in der frühen Neuzeit. Die wissenschaftlichen Gegenstände werden auf ihre Verwendungsmöglichkeiten im Bereich der technischen Herstellung erforscht. „Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, daß es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist“ (Heidegger, 1963 a, 82). Entscheidend für diesen Prozess ist, dass die Technik nicht die bloß nachträgliche Anwendung einer im Übrigen nur theoretischen Wissenschaft wäre, sondern dass die Umwandlung der Dinge in vorstellbare Gegenstände in sich bereits einen technischen Charakter hat. Wissenschaft selbst wird zur Technik. Und weil das so ist, drängt sich jeder Forscher, welcher Fachrichtung er auch angehören mag, „von sich aus notwendig in den Umkreis der Wesensgestalt des Technikers“ (ebd. 78).
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VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen
Die Technik wird zum Signum des „Weltalters“, in dem wir leben (vgl. Text). Sie ist weder ein beliebiges Instrument, das man für gute oder schlechte Zwecke einsetzen kann, noch ist sie ein „Tun“ des Menschen. Die Technik ist die Epoche in der Geschichte der Seinsvergessenheit, in der das Stellen der Natur im Sinne von Herausfordern, Fördern, Herstellen und Bestellen universell wird. Der durchgängige Charakter des Stellens veranlasst Heidegger dazu, die Technik als „Gestell“ zu bezeichnen. Er erläutert das an einem Beispiel: „Das Wasserkraftwerk ist in den Rheinstrom gestellt. Es stellt ihn auf seinen Wasserdruck, der die Turbinen daraufhin stellt, sich zu drehen, welche Drehung diejenige Maschine umtreibt, deren Getriebe den elektrischen Strom herstellt“ (Heidegger, 1962, 15). Mittlerweile bekommt das Stellen zunehmend den Charakter eines Bestellens und das Seiende den des Bestandes. Aus dem ‚Gegenstand‘ wird ein ‚Bestand‘. Die moderne Technik birgt eine bislang nicht erkannte Gefahr: „Sobald das Unverborgene nicht einmal mehr als Gegenstand, sondern auschließlich als Bestand den Menschen angeht und der Mensch innerhalb des Gegenstandlosen nur noch der Besteller des Bestandes ist, – geht der Mensch am äußersten Rand des Absturzes, dorthin nämlich, wo er selber nur noch als Bestand genommen werden soll. Indessen spreizt sich gerade der so bedrohte Mensch in die Gestalt des Herrn der Erde auf. Dadurch macht sich der Anschein breit, alles was begegne, bestehe nur, insofern es ein Gemächte des Menschen sei“ (ebd. 26f.).
Kann der Mensch dieser Gefahr begegnen? Eine Ethik oder gar politische Empfehlungen sucht man bei Heidegger vergeblich. Eine „Rettung“ aus der Gefahr sieht er im Bereich der Dichtung und eines Denkens, das sich der Herabsetzung der Sprache zur bloßen Information widersetzt und wieder das Sein der Dinge zu Wort kommen lässt (vgl. Text). Die entscheidende Rettung aber erwartet er von einem ‚kommenden Gott‘, den er aber strikt von dem des Christentums unterscheidet (vgl. Heidegger, 1988, 99f.). Heideggers Wirkungsgeschichte ist in der Philosophie vor allem im Bereich der Hermeneutik anzusehen. Als ein prominenter Nachfolger dieses Ansatzes wäre Gadamer zu nennen. Noch nicht abzuschätzen ist seine Wirkung im Bereich der Ökologie, in der die Gefahren der modernen Technik inzwischen ansatzweise ein Überdenken des Verhältnisses des Menschen zur Natur zeitigen.
3. Das Seinsgeschick und der Mensch (Heidegger)
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Stufen- und Entwicklungsmodelle
VII.
Das Stufenmodell
Der Gedanke einer unverbrüchlichen Ordnung des Seins reicht weit in die Anfänge der griechischen Philosophie zurück. In Ablösung der Mythologie nahm diese Ordnung den Charakter einer Naturordnung an, die den Gedanken eines Naturgesetzes mit einschloss. Diese Ordnung umfasste zwei Dimensionen, die zeitliche und die räumliche. Für Anaximander gibt es für das Entstehen und Vergehen der Dinge eine ‚Ordnung‘, die er zugleich als eine Rechtsordnung interpretierte. Die andere, räumliche Ordnung orientierte sich an den Begriffen ‚oben‘ und ‚unten‘, die zwar auch in einem anschaulichen Sinne gemeint sein können, etwa als Himmel und Erde – und gelegentlich Unterwelt –, die aber in der Regel metaphorisch zu verstehen sind. Die Ordnung repräsentiert eine Hierarchie. Das Oben stellt das im Rang Höhere dar. Zur Kennzeichnung dieser Hierarchie haben sich drei Modelle bzw. Metaphern entwickelt: ‚Stufen‘, ‚Schichten‘ oder ‚Kette der Wesen‘. Jede Metapher hat, genau betrachtet, eine unterschiedliche Bedeutung. Die Metapher der Stufe wird in der Regel mit dem Begriff der ‚Leiter‘ in einen Zusammenhang gebracht und verbindet sich mit dem Gedanken, dass jedes Ding einen festen Platz auf einer höheren oder tieferen Stufe dieser Leiter hat (scala rerum, scala naturae; vgl. Lovejoy: Die große Kette der Wesen, 1993). Der Metapher der Schichten liegt der Gedanke zugrunde, dass die höheren Schichten die tieferen zur Grundlage haben und ohne diese nicht existieren können (vgl. Nicolai Hartmann: Der Aufbau der realen Welt, 1940). Die Metapher von der ‚Kette der Wesen‘ schließlich enthält den Gedanken, dass alle Dinge miteinander verbunden sind und dass es streng genommen keinen Abstand zwischen den Gliedern der Kette gibt (Leibniz). In sehr vielen Fällen aber werden diese drei Metaphern univok gebraucht. Unter anthropologischem Gesichtspunkt stellen sich diese Modelle in zweifacher Hinsicht dar: Zum einen nimmt der Mensch eine bestimmte Stelle innerhalb der Hierarchie des Seins ein, zum anderen aber umfasst sein Wesen selbst unterschiedliche Schichten oder Stufen. Welche Stelle nimmt der Mensch in der Hierarchie ein? Die Antwort der Tradition ist zwiespältig: In einem absoluten Sinne nur eine mittlere, verglichen mit den übrigen Lebewesen die höchste. So betont Heraklit, dass der Menschen zwischen Gott und Affe stehe (DK 22, B 83), ähnlich Pascal und Kant, der betont, dass die „menschliche
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VII. Das Stufenmodell
Natur (. . .) in der Leiter der Wesen gleichsam die mittelste Sprosse inne hat“ (AA I, 359). Die Mitte kann aber auch den Menschen als Zwitterwesen bezeichnen, der gleichen Abstand und gleiche Beziehung nach oben und unten hat, d. h. nach oben aufsteigen oder nach unten absinken kann, so Plotin und Pico della Mirandola (vgl. Mirandola, 1988, 11). Nicht zu bezweifeln ist aber, dass der Mensch eine Sonderstellung im Bereich des Lebens einnimmt. Von diesem Gedanken lassen sich auch die hier behandelten Autoren leiten: Aristoteles unterscheidet vier Stufen oder besser Schichten des Seins, denn jede höhere Schicht bewahrt die Eigenschaften der tieferen in sich: Es sind die anorganischen Dinge, die Pflanzen, die Tiere, der Mensch. Diesem Konzept folgt Scheler: anorganische Gebilde, Pflanze, Tier, Mensch. Lediglich Plessner nimmt eine weitere Differenzierung vor: erstens, anorganische Körperdinge; zweitens, organische Körperdinge, d. h. Pflanzen; drittens, Tiere mit dezentralistischer Organisation, d. h. ohne Bewusstsein; viertens, Tiere mit zentralistischer Organisation, d. h. mit Bewusstsein; und schließlich fünftens, der Mensch, ausgezeichnet durch Selbstbewusstsein.
1. Pflanze – Tier – Mensch (Aristoteles) „Von den natürlichen Körpern haben die einen Leben, die anderen nicht. (. . .) Nun hat aber das Wort Leben mehrere Bedeutungen, und wenn auch nur eine von ihnen zutrifft, so sprechen wir einem Wesen Leben zu, so bei Geist, Wahrnehmung, Bewegung und Ruhe im Raume, endlich Bewegung im Sinne von Ernährung, Verfall und Wachstum. (. . .) Die Seele ist aber das, mit dem wir primär leben, wahrnehmen und überlegen. (. . .) Von den erwähnten Fähigkeiten der Seele finden sich nun, wie wir sagten, bei einigen Wesen alle, bei anderen einige, bei wieder anderen nur eine. Fähigkeiten nennen wir: Ernährung, Begehren, Wahrnehmen, Ortsbewegung, Überlegung. Die Pflanzen besitzen nur die Ernährung, andere Wesen diese wie auch die Wahrnehmung, und wenn die Wahrnehmung, dann auch das Begehren. Begehren nämlich ist Begierde, Zornmut und Wille; alle Tiere aber haben wenigstens eine der Wahrnehmungen, nämlich das Tasten. Was aber Wahrnehmung hat, hat auch Lust und Schmerz (. . .) und wer dieses hat, hat auch Begierde; denn sie ist Streben nach dem Lustvollen. Sie haben auch Wahrnehmung der Nahrung. Das Tasten nämlich ist Wahrnehmung der Nahrung. (. . .) Einige haben dazu auch das Vermögen der Ortsbewegung, andere noch das Überlegen und den Geist, so wie der Mensch, und falls es anderes gibt von gleichem oder höherem Range.“ (Aristoteles: Von der Seele, 412 a–414 b).
Aristoteles wird 384 v. Chr. in Stagira (Chalkidike) als Sohn des Nikomachos, Leibarzt des Königs von Makedonien Amyntas III., geboren. Er lässt sich 367 in die Akademie Platons aufnehmen und bleibt dort 20 Jahre. Nach dem Tode Platons im Jahre 347 begibt sich Aristoteles auf Einladung des Fürsten Hermias nach Assos (Kleinasien) und heiratet kurz darauf seine Nichte Pythias. 345 verlegt Aristoteles seinen Forschungssitz nach Mytilene auf Lesbos. Dort lernt er Theophrast kennen, der sein Schüler und späterer Nachfolger wird. Auf Veranlassung Philipps II. von Makedonien wirkt Aristoteles 343/42–340 als Erzieher seines Sohnes Alexander, der 336 nach dem Tode seines Vaters dessen Nachfolge antritt. 335/34 kehrt Aristoteles nach Athen zurück und eröffnet dort eine eigene Schule im Gymnasium Lykeion (nach dem dortigen Wandelgang
1. Pflanze – Tier – Mensch (Aristoteles)
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auch Peripatos genannt). Nach dem Tod Alexanders im Jahre 323 verlässt Aristoteles wegen der nun einsetzenden antimakedonischen Strömung Athen und begibt sich nach Chalkis. Er stirbt dort im Jahre 322 (vgl. Höffe, 1996). Während seiner langen Zugehörigkeit zur Akademie Platons hat Aristoteles nicht nur dessen Philosophie studiert und sich mit ihr auseinandergesetzt, sondern sich die gesamte Tradition des griechischen Denkens intensiv angeeignet. Als Ergebnis dieser Studien entwickelt er eigenständige philosophische Forschungsansätze, die in ihrer Fülle und wirkungsgeschichtlichen Bedeutung einzigartig sind. Sie bestimmen die Sprache der Philosophie und der Wissenschaften bis heute. Er begründete die formale Logik, bildete Fachtermini, die Grundlage für die spätere philosophische Schulsprache wurden, wie Substanz und Akzidenz, Stoff und Form, Wirklichkeit und Möglichkeit u.a.m. Schließlich entwickelte er philosophische und wissenschaftliche Fragerichtungen zu eigenständigen Disziplinen fort, wie: Biologie, Psychologie, Ethik, Politik, Poetik und Rhetorik. Ein großer Teil seiner Forschungen betraf den Bereich der Biologie, vor allem der Zoologie. Die biologischen Schriften machen ungefähr ein Drittel seines Gesamtwerks aus (vgl. Meyer, 2015). Aus der Fülle seiner philosophischen Schwerpunkte verdienen drei eine besondere Erwähnung. Es handelt sich um seine Neubestimmung des Verhältnisses des Einzelnen zum Allgemeinen, seinen Lösungsansatz hinsichtlich des Problems der Bewegung und sein Konzept eines Stufenbaus des Seins. Bei der Frage des Verhältnisses des Einzelnen zum Allgemeinen handelt es sich um ein Thema, zu dem bereits Parmenides und Platon bedeutsame Überlegungen vorgelegt hatten. Während für Parmenides das Einzelne überhaupt als ein Nichtseiendes anzusehen ist, erfährt es bei Platon eine gewisse Aufwertung dadurch, dass er es als ein Abbild des Seins betrachtet, das das Allgemeine einer Sache repräsentiert. Es ist nicht ein Nichts, aber doch gegenüber dem Sein selbst ein Weniger an Sein (me on). Aristoteles nun radikalisiert diese Aufwertung des Seins des Einzelnen und erklärt es als eine Substanz. Es ist sogar die ‚erste Substanz‘ (prote ousia). Ihr gegenüber sind Arten und Gattungen zweite Substanz. Ein einzelnes Seiendes ist z. B. Sokrates, der der Art nach ein Mensch ist und der Gattung nach ein Lebewesen. Ohne die Existenz von Sokrates oder eines anderen Seienden dieser Art hätte es keinen Sinn von ‚Mensch‘ zu sprechen. Das einzelne Seiende bildet auch die Substanz, die Grundlage für alle Akzidenzien, d. h. Eigenschaften, die über es, hier also Sokrates, ausgesagt werden können, wie z. B. weißhaarig, von einer bestimmten Körpergröße u.a.m. Das Interesse am einzelnen Seienden eröffnet nun wissenschaftliche Forschungsbereiche in einer bisher nicht gekannten Weise. Im Bereich der Zoologie sind es so viele einzelne Tiere und Tierarten, die Aristoteles erforscht hat, dass sie die Forschungskapazität eines einzelnen Wissenschaftlers zu sprengen scheinen. Zunächst fragt er sich jedoch, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, sich statt wie die bisherige Naturphilosophie mit „jenen ehrwürdigen und göttlichen Substanzen“, wie es das Weltall und die Sterne sind, zu befassen, solch „geringfügige“ und „vergängliche“ Dinge wie „Pflanzen und Tiere“ zu untersuchen. Ohne den Rangunterschied beider Bereiche in Frage zu stellen, haben diese Forschungen seiner Meinung nach im Vergleich zum Weltall einen beachtlichen Vorteil. Er bemerkt: „Betreffs der Erkenntnis der vergänglichen Pflanzen und Tiere dagegen sind wir in viel günstigerer Lage, weil sie ja mit uns zusammen aufwachsen. Denn wenn man sich nur die nötige Mühe geben will, so läßt sich über jede Gat-
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VII. Das Stufenmodell
tung viel Tatsächliches erfassen“ (Aristoteles, 1977, 379). Aristoteles eröffnet mit seinem Interesse am Einzelnen die Perspektive auf eine umfassende Weltkenntnis und Forschungsansätze für empirische Wissenschaften. Empirie in seinem Sinne erschöpft sich jedoch nicht in einer bloßen Registrierung einzelner Fälle, sondern bedeutet, das Einzelne im Hinblick auf das jeweilige Allgemeine zu untersuchen. Der zweite Schwerpunkt betrifft das Problem der Bewegung. Auch hier ist ein Blick auf Parmenides und Platon hilfreich. Während Parmenides die Bewegung prinzipiell leugnete, wird sie bei Platon zumindest in einem Bereich rehabilitiert. Ohne Bewegung gäbe es kein Erkennen, denn Erkenntnis ist Umwendung der Seele von den Sinnen weg und auf die Idee hin. Aristoteles geht auch hier einen Schritt weiter. Er versucht die Bewegung in einem prinzipiellen ontologischen Sinn neu zu definieren. Den Ansatz liefert dafür seine Lehre von dem vierfachen Sinn von Ursache (Höffe, 1996, 112f.). Sie ist die Antwort auf die Frage: Was ist die Ursache für das Wesen eines jeweiligen Seienden? Was ist schuld daran, dass etwas so ist, wie es ist? Die Antwort lautet für einen technisch hergestellten Gegenstand, wie z. B. ein Gebäude, so: Ursache ist zunächst der Zweck, den das Gebäude erfüllen soll, also z. B. einen Raum zum Wohnen zu schaffen. Ursache ist zum Zweiten die Form, die dieses Gebäude haben soll, also z. B. ein Wohnhaus. Ursache ist zum Dritten das Material, der Baustoff, aus dem das Haus gebaut werden soll. Ursache ist schließlich viertens der Handwerker, der den Bau durchführt. Die vier Ursachen haben später die Namen: causa finalis, causa formalis, causa materialis und causa efficiens erhalten. Entscheidend ist, dass die causa finalis die wichtigste ist. Aristoteles überträgt nun dieses Modell auch auf die natürlichen Dinge. Während für das Haus der Zweck nicht in ihm selbst liegt, sondern in dem Architekten, der das Haus plant, liegt es bei den natürlichen Dingen in ihnen selbst. Das Ziel, das im Ding selbst liegt, ist seine Entelechie. Das gilt für alle natürlichen Dinge. Die Flamme eines Feuers strebt stets nach oben, weil das ihrem Wesen entspricht. Der Stein fällt stets zur Erde, weil dieses Ziel in seinem Wesen liegt. Ebenso entwickelt sich jedes Lebewesen so, wie es seinem Wesen entspricht. Der Gedanke der Entelechie hat eine entscheidende Bedeutung für das aristotelische Naturverständnis im Allgemeinen und für das der Lebewesen im Besonderen. Mehr noch: Das philosophische Motiv für das Interesse, das Aristoteles an biologischen Fragen entwickelt, besteht möglicherweise darin, dass am Beispiel von Lebewesen das Prinzip der Entelechie besonders deutlich wird. In einer Fülle von Beispielen zeigt er, wie die Zweckmäßigkeit der Organe eines Lebewesens dessen spezifische Lebensweise ermöglicht. Der dritte Schwerpunkt betrifft das Konzept eines Stufenbaus des Seins. Damit ist nun endgültig das Thema der Anthropologie gegeben. Auch hier liefert Platon einen Anknüpfungspunkt. In seiner Politeia entwickelt er das anthropologische Modell einer Hierarchie seelischer Kräfte. Die Stufen der Seele sind: Begierde (epithymia), Mut (thymos) und Denken (nous). Die Begierde hat ihren Sitz unterhalb des Zwerchfells, der Mut in der Brust und das Denken im Kopf (vgl. Pleger, 2009, 113). Das Stufenmodell von Aristoteles beinhaltet demgegenüber eine ganz neue Variante. Er entwickelt einen Ansatz, der von den unbelebten natürlichen Dingen über die Lebewesen: Pflanze, Tier, Mensch bis in den rein geistigen Bereich des Göttlichen reicht. Er stellt damit erstmals den Menschen in eine Reihe mit Pflanze und Tier. Wie wenig er aber dabei den Phänomenen ein Schema überstülpt, sondern dieses aufgrund der beobachteten Phänomene
1. Pflanze – Tier – Mensch (Aristoteles)
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entwickelt, zeigt sich an seinem Hinweis, dass es Lebewesen gibt, die sich nicht eindeutig einer Stufe zuordnen lassen, so z. B. der Schwamm, der einerseits Merkmale eines Tieres aufweist, andererseits aber durch seine Standortgebundenheit die einer Pflanze (vgl. Aristoteles, 1977, 383). Aber weder dieser Sachverhalt, noch die Tatsache, dass Aristoteles den Gedanken der Bewegung und der Entwicklung stark betont, können darüber hinwegtäuschen, dass sein Stufenkonzept mit einem genetischen Modell unvereinbar ist. Für ihn gilt der Grundsatz der Konstanz der Arten. Der von ihm häufig wiederholte Satz lautet: Ein „Mensch erzeugt einen Menschen“ (Met, 1032 a). Diesem Prinzip entsprechend wird „aus Weizen Weizen und kein Ölbaum: der Grund liegt in der immanenten, zielgerichteten Natur der Wesen selbst“ (gen. corr. 333 b, vgl. Aristoteles, 1997, 12). Der Gedanke der Entelechie garantiert geradezu die Konstanz der Arten, indem aus einem Lebewesen immer das wird, was in seiner Natur liegt. Dieses Prinzip wird nicht einmal durch die Kreuzung von Lebewesen durchbrochen, die verschiedenen Arten angehören, so z. B. die von Fuchs und Hund. Die daraus hervorgehenden „Bastarde“ verlieren sich wieder nach einiger Zeit (Aristoteles, 1977, 392). Aristoteles entwickelt seine am Stufenbau des Lebens orientierte Anthropologie in seiner Schrift Von der Seele (vgl. Buchheim, 2003, 85). Er verfolgt in ihr einen naturwissenschaftlichen Ansatz. Die Begründung hierfür besteht darin, dass er die Seele in den Kontext der Erörterung der Existenz von Lebewesen stellt. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet daher die Unterscheidung der natürlichen Körper in belebte und unbelebte. Das Leben wird zum Kriterium der Existenz von Seele. Aristoteles betont, „daß das Beseelte und das Unbeseelte sich durch das Leben unterscheiden“ (Aristoteles, De anima, 413 a). Er folgt bei seiner Identifizierung von Seele und Leben der griechischen Tradition, die sich bis auf Pythagoras zurückverfolgen lässt. In seiner Definition der Seele erläutert er diesen Zusammenhang so: „Es ergibt sich mit Notwendigkeit, daß die Seele eine Wesenheit sei als die Form eines natürlichen Körpers, der potentiell Leben besitzt“ (ebd. 412 a). Das Wort ‚potentiell‘ deutet an, dass einem natürlichen Körper erst aufgrund der Tätigkeiten der Seele Leben zugesprochen werden kann. Die Seele hält den Körper zusammen und macht ihn zu einer lebendigen Einheit. Sie ist eine Einheit von Stoff und Form. Damit verbietet sich jeder Dualismus. Im Gegensatz zu der Position, die Platon noch im Dialog Phaidon vertritt, betont Aristoteles: „Daß nun die Seele nicht vom Körper abtrennbar ist und ebensowenig gewisse Teile von ihr (. . .) ist offensichtlich“ (ebd. 412 b). Die Unabtrennbarkeit der Seele vom Körper bedeutet aber auch, dass es für die Seele keine Unsterblichkeit geben kann. Das Streben nach Unsterblichkeit, das allem Lebendigen eigen ist, können Lebewesen nur durch den Versuch verfolgen, „ein anderes hervorzubringen wie sie selbst, das Tier ein Tier, die Pflanze eine Pflanze, damit sie, soweit sie es vermögen, am Ewigen und am Göttlichen teilhaben“ (ebd. 415 a). Die Einheit von Körper und Seele erläutert Aristoteles auch anhand seiner Lehre von den vier Bedeutungen von Ursache. Der Körper bildet die materiale Ursache, der Seele dagegen kommt eine dreifache Bedeutung von Ursache zu. Aristoteles bemerkt: „Es ist nun die Seele Ursache und Ursprung des lebenden Körpers (. . .) sie ist Ursache der Bewegung und auch Ursache als Zweck und als Wesen der belebten Körper“ (ebd. 415 b).
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Auch nach dieser Bestimmung kommt der Zweckursache die überragende Bedeutung zu. Aristoteles betont: Also ist die „Seele die ursprüngliche Entelechie eines natürlichen organischen Körpers“ (vgl. Aristoteles, 1977, 151). Die Seele garantiert, dass in jedem Lebewesen die seiner Natur gemäße Lebensweise zur Erfüllung kommt. Das gelingt nur dadurch, dass die Seele durch eine Reihe von Leistungen charakterisiert ist. Aristoteles bringt zur Erläuterung einen Vergleich zwischen einem Handwerkszeug einerseits und einem lebendigen Organ andererseits: Wie die Leistung eines Beils darin besteht, Holz zu spalten, so besteht die Leistung eines Auges darin, zu sehen. Ohne diese Leistung verlören diese Dinge ihr Wesen (vgl. ebd. 412a). Dabei ergibt sich im Ganzen eine Hierarchie von Leistungen, die von Stufe zu Stufe durch weitere ergänzt werden. Die grundlegenden Leistungen der Seele im Bereich der Pflanze und ebenso in dem des Tieres und des Menschen sind: Ernährung, Wachstum, Fortpflanzung und Verfall. Die Ernährung erfolgt bei der Pflanze über die Wurzel, das Wachstum dadurch, dass sie sich nach oben in die Luft und nach unten ins Erdreich ausdehnt, die Fortpflanzung durch die von ihr hervorgebrachten Samen und schließlich der Verfall durch ihr Verwelken. Zur grundlegenden Bedeutung der Ernährung und Fortpflanzung äußert sich Aristoteles so: „Also ist zuerst über Ernährung und Zeugung zu sprechen. Denn die ernährende Seele findet sich auch bei den anderen und sie ist die erste und allgemeinste Fähigkeit der Seele und Grundlage des Lebens für alle. Ihre Leistungen sind Zeugen und die Nahrung gebrauchen“ (ebd. 415 a). Der Zusammenhang von Nahrung und Fortpflanzung besteht darin, dass es sich auch bei der Fortpflanzung um eine Leistung der Seele handelt, ein Lebewesen in seiner Existenz zu erhalten. Aristoteles bemerkt: „So besitzt denn dieses Prinzip der Seele die Fähigkeit, seinen Träger als solchen zu bewahren, und die Nahrung ermöglicht es, tätig zu sein. Der Nahrung beraubt, kann er nicht existieren“ (ebd. 416 b). Über diese Leistungen hinaus gibt es bei den Tieren Wahrnehmung und Ortsbewegung. Die Wahrnehmung verbindet sich mit der Begierde als ein Streben nach dem Lustvollen und wird von Aristoteles mit ihr identifiziert (vgl. ebd. 431 a). Die Wahrnehmung fächert sich auf in die fünf Sinne: Tasten, Schmecken, Hören, Riechen, und Sehen (vgl. ebd. 424 b). Nicht alle Fähigkeiten kommen aber allen Tieren zu. Grundlegend für alle Tiere ist lediglich das Tasten (vgl. ebd. 413 a). Das Tasten hat eine elementare Bedeutung für die Ernährung. Aristoteles bemerkt: „Das Tasten nämlich ist Wahrnehmung der Nahrung. Denn an Trockenem und Feuchtem, Warmem und Kaltem ernähren sich alle Lebewesen. Die Wahrnehmung davon ist das Tasten. Die andern Wahrnehmungsgegenstände nimmt es nur zusätzlich wahr. Denn bei der Nahrung spielen Ton, Farbe, Geruch keine Rolle. Der Geschmack aber gehört zu den Tastungen“ (ebd. 414 a).
Aristoteles entwickelt sehr differenzierte Überlegungen zu den übrigen Sinneswahrnehmungen. So weist er z. B. darauf hin, dass Hören und Sehen stets ein Medium der Übertragung benötigen, das Hören die Luft, die die Schallwellen überträgt, und das Sehen das Licht. Er macht vor allem deutlich, dass Wahrnehmung und Wahrnehmungsgegenstand sich entsprechen. Es muss etwas Hörbares geben, einen Schall, den das
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Gehör aufnimmt und einen sichtbaren Gegenstand im Medium des Lichts, der von den Augen aufgenommen wird. Aufgenommen wird aber nicht die Materie des Gegenstandes, wie noch die Atomisten glaubten, sondern lediglich deren Form (vgl. ebd. 424 a). Aristoteles wechselt bereits in den Bereich der menschlichen Wahrnehmung, wenn er darauf hinweist, dass die Entsprechung von Wahrnehmungsgegenständen und Wahrnehmungsorganen garantiert, dass wir uns hinsichtlich der Faktizität des Wahrnehmungsaktes selbst nicht täuschen, sondern allenfalls in unseren Meinungen über sie. Er betont: „Die Wirklichkeit des Wahrnehmungsgegenstandes und der Wahrnehmung ist eine und dieselbe“ (ebd. 425 b). Eine besondere Stellung kommt der Phantasie zu, der Vorstellung. Er gesteht sie einigen Tieren zu, thematisiert sie jedoch lediglich als eine seelische Fähigkeit des Menschen. Aristoteles siedelt die Vorstellung zwischen der Wahrnehmung und dem Denken an. Einen ersten Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vorstellung sieht Aristoteles in Folgendem: „Ferner sind die Sinneswahrnehmungen immer wahr, die Vorstellungsbilder dagegen zum größeren Teile falsch“ (ebd. 427 b). Dazu kommt, dass wir die Vorstellungen nicht wie die Wahrnehmungen erleiden, sondern selbst erzeugen, „da wir uns etwas vor Augen stellen können wie jene, die Gedächtnisübungen machen und sich Bilder vorstellen“ (ebd. 427 a). Die Produkte der Vorstellung sind auch nicht an die Wirklichkeit gebunden, denn sie erscheinen auch im Traum. Die andere Begrenzung der Vorstellung bildet das Denken. Durch das Denken unterscheidet sich der Mensch vom Tier, und daher ist mit ihm eine neue Stufe erreicht. Das Denken ist eine Angelegenheit des Geistes. Geist ist die Fähigkeit der Seele, zu denken (vgl. ebd. 428 b). Aristoteles unterscheidet zwei Arten des Geistes, den leidenden, d. h. aufnehmenden Geist (nous pathetikos) und den tätigen Geist (nous poietikos). Der leidende Geist hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Wahrnehmung. Aristoteles bemerkt: „Wenn nun das Denken ist wie das Wahrnehmen, so wäre es wohl ein Erleiden durch den Denkgegenstand (. . .). Und wie sich das Sinnesorgan zum Sinnesgegenstand verhält, so muß sich das Denken zum Denkgegenstand verhalten“ (ebd. 428 b). Das, was der Geist im Denken aufnimmt, sind aber nicht die Formen der Wirklichkeit, wie es bei der Wahrnehmung geschieht, sondern die Formen der Möglichkeit (vgl. ebd. 429 a). Indem sich der Geist im Bereich der Möglichkeit bewegt, ergeben sich Entsprechungen zur Vorstellung, die es ja ebenfalls nicht mit der Wirklichkeit, sondern der Möglichkeit zu tun hat. Aristoteles bemerkt daher: „Der denkenden Seele sind die Vorstellungsbilder wie Wahrnehmungseindrücke gegeben. Wenn sie sie als gut oder schlecht bejaht oder verneint, so flieht oder erstrebt sie. Darum denkt die Seele niemals ohne ein Vorstellungsbild“ (ebd. 431 a). Die Orientierung der Wahrnehmung an der Wirklichkeit und des Denkens an der Möglichkeit hat nun eine weitere entscheidende Konsequenz: Die Wahrnehmung hält einer intensiven Einwirkung der Wirklichkeit, wie etwa laute Töne, starke Farben und Gerüche, nicht stand, das Denken sehr wohl. Der Grund liegt darin, dass die Wahrnehmung an die Sinnesorgane gebunden ist, der Geist aber nicht. Dieser Gedanke veranlasst Aristoteles nun zu einer entscheidenden Aussage. Betonte er stets die Einheit von Körper und Seele und aller sich daraus ergebenden Konsequenzen, so kommt dem Geist nun ein Sonderstatus zu. Aristoteles betont: „Das Sinnesorgan existiert nämlich nicht ohne Körper, der Geist aber ist abgetrennt“ (ebd. 429 a).
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Ist aber der Geist vom Körper abgetrennt, dann stellt sich die Frage der Unsterblichkeit neu. Den Ansatzpunkt für diesen Gedanken bietet die Überlegung, dass der Geist nicht nur die denkbaren Gegenstände „wie auf einer Schreibtafel, auf der faktisch noch nichts geschrieben ist“ (ebd. 429 b) aufnimmt, sondern dass er „auch selbst denkbar wie die denkbaren Dinge“ ist (ebd.). Es gibt also den leidenden Geist, der die Denkgegenstände aufnimmt, und den tätigen Geist, der sich selbst denkt. Aus dieser Unterscheidung zieht Aristoteles folgende Konsequenz: „Es gibt also Geist von solcher Art, daß er alles wird, und wiederum einen von solcher, daß er alles bewirkt als ein besonderes Verhalten, wie etwa das Licht. (. . .). Dies ist der abgetrennte Geist, der leidenslos ist und unvermischt und seinem Wesen nach Wirklichkeit. (. . .). Aber erst wenn er abgetrennt ist, ist er das, was er wirklich ist, und nur dieses ist unsterblich und ewig“ (ebd. 430 a).
Das Ergebnis ist: Der einzelne Mensch ist sterblich, der tätige Geist unsterblich. Die prägnantesten und wirkungsgeschichtlich bedeutendsten Definitionen des Menschen von Aristoteles stehen aber nicht in seinem Buch Von der Seele, sondern in der Politik. Die eine Definition lautet: Der Mensch ist von Natur aus ein ‚zoon politikon‘, d. h. ein Lebewesen, das in einer staatlichen Gemeinschaft lebt, nach der anderen ist er ein ‚zoon logon echon‘, d. h. ein Lebewesen, das Sprache hat. Beide Definitionen gehören zusammen, wie die Textstelle belegt. Nachdem Aristoteles erläutert hat, dass Mann und Frau von Natur aus eine Lebensgemeinschaft bilden und sich aus dieser Gemeinschaft die Wohngemeinschaft des Hauses, aus mehreren Häusern das Dorf und schließlich aus mehreren Dörfern der Staat entwickelt, betont er schließlich, „daß der Staat zu den naturgemäßen Gebilden gehört und daß der Mensch von Natur ein staatenbildendes Lebewesen ist (zoon politikon)“ (ebd. 1253 a). Der Staat ist das Ziel aller Gemeinschaftsbildungen. „Er ist das Ziel von jenen, und das Ziel ist eben der Naturzustand. Denn den Zustand, welchen jedes Einzelne erreicht, wenn seine Entwicklung zum Abschluß gelangt ist, nennen wir die Natur jedes Einzelnen“ (ebd.). Die zweite Definition wird mit der ersten verbunden. Er erläutert sie so: „Der Mensch ist aber das einzige Lebewesen, das Sprache besitzt (zoon logon echon)“ (ebd.). Zwar haben auch einige Tiere eine Stimme (phone), mit der sie Schmerz und Lust äußern können, „denn bis zu diesem Punkte ist ihre Natur gelangt (. . .); die Sprache dagegen dient dazu, das Nützliche und Schädliche mitzuteilen und so auch das Gerechte und Ungerechte. Dies ist nämlich im Gegensatz zu den andern Lebewesen dem Menschen eigentümlich, daß er allein die Wahrnehmung des Guten und Schlechten, des Gerechten und Ungerechten und so weiter besitzt. Die Gemeinschaft in diesen Dingen schafft das Haus und den Staat“ (ebd.). Die Zusammengehörigkeit beider Definitionen ist bemerkenswert: Das Zusammenleben der Menschen in einem Staat ist mit der Sprachfähigkeit des Menschen unlösbar verbunden; denn die politische Gemeinschaft kann nicht ohne das Prinzip der Gerechtigkeit existieren, und die Verständigung darüber ist nicht ohne Sprache möglich (Bien, 1980, 120f.). Diese Definitionen bestimmen daher auch zugleich den Rahmen seiner Ethik. In seinem Werk Die Nikomachische Ethik bestimmt Aristoteles das Gute als Ziel allen Handelns. Das höchste aller Güter ist nach allgemeiner Einschätzung das Glück. Doch in
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der konkreten Bestimmung des Glücks gehen die Meinungen auseinander. Aristoteles unterscheidet drei Lebensformen, in denen das Glück gesucht wird. Es ist zum einen das Leben des Genusses (bios apolaustikos), es ist zum Zweiten die politisch-praktische Lebensweise (bios praktikos) und zum Dritten die theoretische Lebensweise (bios theoretikos). Diese Lebensweisen bilden in gewisser Weise eine Hierarchie, denn auch für die theoretische Lebensweise ist es unumgänglich, dass sowohl die notwendigen Lebensmittel vorhanden sind als auch eine staatliche Gemeinschaft existiert. Die Frage lautet daher eher, auf welcher Stufe der Hierarchie das höchste Glück zu finden ist. Aristoteles plädiert für die theoretische Lebensweise. Ein Argument orientiert sich an der Autarkie. In dieser Hinsicht ist festzustellen, dass das Leben des Genusses an das Vorhandensein jener Güter gefesselt ist. Die praktische Lebensweise hat sich davon befreit, aber sie bleibt gebunden an die Erreichung von Ruhm und Ehre. Allein die theoretische Lebensweise ist von beiden Abhängigkeiten frei. Das zweite Argument betrifft den Bereich, dem sich die theoretische Lebensweise zuwendet. Sie orientiert sich an dem Geist, d. h. an dem, was das Eigentümliche und Höchste im Menschen ist, seine Natur ausmacht und daher sein Ziel ist. Aristoteles argumentiert so: „Ist nun der Geist im Vergleich mit dem Menschen etwas Göttliches, so muß auch das Leben nach dem Geiste im Vergleich mit dem menschlichen Leben göttlich sei. Man darf aber nicht auf jene Mahnung hören, die uns anweist, als Menschen nur an Menschliches und als Sterbliche nur an Sterbliches zu denken, sondern wir sollen, soweit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich zu sein und alles zu tun, um nach dem Besten, was in uns ist, zu leben“ (EN 1177 b). Dieser Gedanke stellt eine Fortsetzung und Weiterentwicklung zum Begriff des ‚tätigen Geistes‘ dar, wie er am Schluss des Buches Von der Seele formuliert wurde. Er hat in der aristotelischen Philosophie einen zentralen Platz. Hinsichtlich der Wirkungsgeschichte von Aristoteles mögen einige Hinweise genügen. Die mittelalterliche Theologie hat spätestens seit Thomas von Aquin die Philosophie von Aristoteles zur Grundlage des eigenen scholastischen Lehrgebäudes gemacht. Seine Überlegungen zur Bedeutung des Einzelnen haben im Nominalismus ihren Niederschlag gefunden. Dagegen blieben seine reichen Forschungen zur Biologie lange Zeit unbeachtet. Erst Darwin hat ihre wegweisende Bedeutung angemessen gewürdigt. Das teleologische Denken von Aristoteles wurde in der frühen Neuzeit scharf kritisiert und durch einen mechanistischen Ansatz ersetzt. In der modernen Biologie hat es jedoch eine neue Beachtung gefunden. Der Gedanke der zweckmäßigen Organisation eines Lebewesens, dessen Ziel die Selbsterhaltung ist, wurde durch den Begriff der Teleonomie (Konrad Lorenz) erneuert und rehabilitiert. Selbst der aristotelische Gedanke der Urzeugung von Lebewesen aus lebloser Materie wird z. B. von Maturana mit neuen Argumenten gestützt. Die aristotelische Definition des Menschen als eines vernünftigen Lebewesens (zoon logon echon) blieb lange Zeit unhinterfragt. Erst die Sprachdenker Hamann, Herder und Humboldt haben wieder auf den sprachlichen Charakter der Vernunft aufmerksam gemacht. Der Stufenbau des Lebens, der Teil eines Stufenbaus des Seins ist, ist nicht nur von Scheler und Plessner nahezu unverändert übernommen worden, sondern hat auch über philosophische Fachkreise hinaus breite Anerkennung gefunden.
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2. Die Stufenleiter des Seins: Vom Drang zum Geist (Scheler) „Vier Wesensstufen sind es, in denen alles Seiende in bezug auf sein Inne- und Selbstsein erscheint. Anorganische Gebilde haben ein solches Inne- und Selbstsein überhaupt nicht; sie haben kein Zentrum, das zu ihnen ontisch gehörte (. . .). Dem Gefühlsdrang der Pflanze ist ein Zentrum zu eigen und ein Medium, in das, relativ in seinem Wachstum ungeschlossen, das pflanzliche Lebewesen hineingesetzt ist ohne Rückmeldung seiner verschiedenen Zustände an sein Zentrum; aber ein ‚Innesein‘ überhaupt und damit Beseeltheit besitzt die Pflanze. Im Tiere ist Empfindung und Bewußtsein und damit verbunden eine zentrale Rückmeldestelle der wechselnden Zustände seines Organismus und eine Modifizierbarkeit seines Zentrums durch diese Rückmeldung vorhanden: es ist sich schon ein zweites Mal gegeben. Der Mensch aber ist es kraft seines Geistes noch ein drittes Mal: im Selbstbewußtsein und in der Vergegenständlichung seiner psychischen Vorgänge und seines sensomotorischen Apparates. Die ‚Person‘ im Menschen muß dabei als das Zentrum gedacht werden, das über dem Gegensatz von Organismus und Umwelt erhaben ist. / Ist das nicht, als gäbe es eine Stufenleiter, auf der ein urseiendes Sein sich im Aufbau der Welt immer mehr auf sich selbst zurückbeugt, um auf immer höheren Stufen und in immer neuen Dimensionen sich seiner inne zu werden – um schließlich im Menschen sich selbst ganz zu haben und zu erfassen?“ (M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Bern 1978, 42f.).
1874 wird Max Scheler in München geboren. Er studiert 1895 zunächst Medizin in München und anschließend in Berlin zusätzlich Philosophie und Soziologie bei Dilthey und Simmel. 1896 setzt er sein Studium in Jena fort und promoviert bei Rudolf Eucken. Dort habilitiert er sich auch im Jahre 1899. Im Jahre 1900/01 begegnet er Husserl in Halle, dessen Phänomenologie ihn tief beeindruckt. 1906 habilitiert er sich nach München um und nimmt Kontakte mit dem dortigen Phänomenologenkreis um Geiger, Daubert und Pfänder auf. 1910 verliert er aufgrund privater Verwicklungen seine Dozentur. Er meldet sich 1914 als Kriegsfreiwilliger. 1918 erhält er einen Ruf als Direktor des Instituts für Sozialwissenschaften in Köln und wird dort auch als Professor für Philosophie und Soziologie an die Universität berufen. 1928 erhält er einen Ruf an die Universität Frankfurt, stirbt aber, bevor er die Professur antreten kann (vgl. Mader, 1980). Mit Schelers Philosophie beginnt eine neue Epoche in der Geschichte der philosophischen Anthropologie. Sie ist dadurch charakterisiert, dass nun der Versuch gemacht wird, die Anthropologie zu einer philosophischen Grundlagendisziplin zu entwickeln, von der aus sich alle anderen Fragestellungen als Teildisziplinen ableiten lassen sollten. In der Vorrede zu seinem viel beachteten Buch Die Stellung des Menschen im Kosmos aus dem Jahre 1928 weist er auf seinen persönlichen Zugang zu dem Thema hin: „Die Fragen: Was ist der Mensch, und was ist seine Stellung im Sein? haben mich seit dem ersten Erwachen meines philosophischen Bewußtseins wesentlicher beschäftigt als jede andere philosophische Frage“ (Scheler, 1978, 5). Die Frage nach der Stellung des Menschen im Sein, die er als eine Sonderstellung bezeichnet, erhält dadurch eine Präzisierung, dass für Scheler das Sein gegliedert ist. Es gibt eine Stufenleiter des Seins mit vier „Wesensstufen“: Diese umfassen erstens das anorganische Sein, zweitens die Stufe der Pflanze, drittens die Stufe des Tieres und
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schließlich viertens die des Menschen. Scheler greift dabei ohne bedeutsame Veränderungen auf das Stufenmodell von Aristoteles zurück. Ontologisches Denken, das sich hierin manifestiert, stellt eine Antwort dar auf die Krise des Idealismus und der Philosophie der Subjektivität. Für Scheler und, ihm folgend, Hartmann verbindet sich Ontologie mit der Frage nach dem Aufbau der realen Welt. Ausgangspunkt seiner Anthropologie ist die Feststellung, „daß die Probleme einer Philosophischen Anthropologie heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik in Deutschland getreten sind, und daß auch weit hinaus über die philosophischen Fachkreise Biologen, Mediziner, Psychologen und Soziologen an einem neuen Bilde vom Wesensaufbau des Menschen arbeiten“ (ebd. 6).
Zugleich aber müsse man sagen, „daß zu keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart“ (ebd. 10). Problematisch sei vor allem, dass es keine allgemein anerkannte Definition des Menschen gebe. Es gebe vielmehr drei unterschiedliche anthropologische Gedankenkreise. Während die jüdischchristliche Tradition den Menschen als Schöpfung Gottes betrachte, definiere ihn die griechisch-antike Philosophie im Kontext einer dem All zugrunde liegenden Vernunft, an der auch der Mensch teilhabe. Die moderne Naturwissenschaft und die genetische Psychologie interpretiere den Menschen schließlich als spätes Ergebnis der Entwicklung der Erde, der seine Vorformen in der Tierwelt habe und sich von ihr nur durch einen höheren Grad der Komplexität auszeichne. Daher gebe es eine theologische, eine philosophische und eine naturwissenschaftliche Anthropologie, die aber unvereinbar seien. Eine einheitliche Idee des Menschen gebe es nicht. Für Scheler ergibt sich aus dieser Uneindeutigkeit ein Dilemma, eine Zweideutigkeit im Begriff des Menschen selbst. Zum einen kann man nämlich den Menschen zoologisch charakterisieren und ihn mit Linné (1707–1778) an die Spitze der Säugetierreihe stellen. Dabei zeigt sich, dass der Mensch morphologisch, physiologisch und psychologisch in eine Reihe von Lebewesen gehört, die vom Infusorium über den Affen bis zum Menschen führt. In dieser Perspektive besteht zwischen dem Affen und dem Infusorium ein größerer Unterschied als zwischen dem Menschen und dem Affen. Andererseits aber gibt es – so Scheler – einen „Wesensbegriff“ des Menschen, der ihn von dem gesamten Tierreich radikal unterscheidet. Schelers Ansatz ist nun dadurch ausgezeichnet, dass er beide Perspektiven zu verbinden sucht. Mehr noch: Genau genommen möchte er, wie seine Abhandlung zeigt, eine Synthese der drei Definitionen des Menschen erarbeiten. Dabei kehrt er ihre Reihenfolge um. Er beginnt mit der naturwissenschaftlichen Definition, es folgt die philosophische und zuletzt die theologische. Die Synthese versucht er dadurch zu erreichen, dass er diese drei Definitionen in einen Stufenbau der biopsychischen Welt, also der Welt oberhalb des anorganischen Seins, integriert. Für die Betrachtung der biopsychischen Welt ist für ihn der Gedanke, dass das Lebendige und das Psychische eine Einheit bilden, ebenso leitend wie der, dass das Leben durch eine Stufenfolge psychischer Kräfte bestimmt ist. Sie ist eingefügt in den Stufenbau des Seins. Scheler bestimmt das Leben in doppelter Weise. Es ist von außen betrachtet charakterisiert durch Selbstbewegung, Selbstformung, Selbstdifferenzierung und Selbstbe-
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grenzung in räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Dagegen sind Lebewesen von innen her bestimmt durch ein „Fürsich- und Innesein (. . .), in dem sie sich selber inne werden“ (ebd. 12). Der Gedanke, dass – ganz im Sinne von Aristoteles – das Leben eine biopsychische Einheit ist, bedeutet, dass jedes Lebewesen, auch das pflanzliche, eine psychische Seite hat, und zu dieser gehört das „Fürsich- und Innesein“. In der Stufenfolge von insgesamt vier psychischen Kräften, dem Gefühlsdrang, dem Instinkt, dem gewohnheitsmäßigen Verhalten und der praktischen Intelligenz, bildet der Gefühlsdrang die unterste Stufe. Er ist bewusstlos, empfindungs- und vorstellungslos. Er ist die Tätigkeitsenergie allen Lebens, der „Dampf“, der alles antreibt. Er ist ein bloßes „Hin zu“ und ein „Von weg“, eine „objektlose Lust“ und ein „objektloses Leiden“. In ihm sind Gefühl und Trieb noch nicht geschieden, also auch nicht der Nahrungs- und der Sexualtrieb. Andererseits erstreckt sich seine Tätigkeit im Menschen bis hinauf zu den „reinsten Denkakten“ und den „Akten lichter Güte“. Unterschieden ist er jedoch von den Kraftzentren anorganischer Körper, die über kein „Innesein“ verfügen. Der Gefühlsdrang der Pflanze, ihre Beseeltheit, lässt sich z. B. bei Kletterpflanzen im Zeitraffer sehr gut an ihren Suchbewegungen nach Licht und Halt beobachten. Scheler bemerkt nach der Betrachtung dieses Vorgangs in einem Naturfilm: „Der natürl. Eindruck, die Pflanze sei unbeseelt, verschwindet vollständig“ (vgl. Mader, 1980, 117). Zum Gefühlsdrang der Pflanze gehört auch der Drang zu Wachstum, Fortpflanzung und Tod. Ihre Existenzweise ist ganz nach außen gerichtet, d. h. sie ist ekstatisch. Ihr fehlt daher auch jeder bewusste Innenzustand, jede Rückmeldung, d. h. jede noch so primitive „Reflexion“. Bewusstsein entsteht nämlich erst in der Reflexion der Empfindung, „und zwar stets gelegentlich auftretender Widerstände“; denn – so Scheler – „alles Bewußtsein gründet in Leiden und alle höheren Stufen des Bewußtseins in steigendem Leiden – gegenüber der ursprünglichen spontanen Bewegung. Mit dem Bewußtsein, mit der Empfindung fehlt der Pflanze alle Lebens‚wachheit‘, die ja aus der Wächterfunktion der Empfindung erst herauswächst“ (Scheler, 1978, 15). Aufgrund dieser Mängel hat die Pflanze auch kein Gedächtnis und keine Lernfähigkeit. Dagegen gibt es bei ihr das Phänomen des Ausdrucks. Das belegen die überaus reichen Formen der Pflanze, z. B. ihrer Blätter. Sie weisen auf ein „phantasievoll spielendes und nur ästhetisch regelndes Prinzip in der unbekannten Wurzel des Lebens hin“ (ebd. 16). Das Spielerische im Prozess der Entwicklung macht deutlich, so Scheler, dass das von Darwin betonte Nützlichkeitsprinzip maßlos überschätzt wird. Entscheidend ist nun, dass der Gefühlsdrang, freilich in modifizierter Form, auch beim Menschen anzutreffen ist. Bei ihm verbindet er sich mit dem Widerstandserlebnis. Er ist die Wurzel des Verhältnisses des Menschen zur Wirklichkeit. Dieses ist unlösbar mit dem Erlebnis von Widerstand verbunden. Ebenso transformiert sich der Gefühlsdrang der Pflanze in etwas, was als „vegetatives Nervensystem“ bezeichnet wird. Zu ihm gehört der Rhythmus von Schlafen und Wachen. Die zweite „psychische Wesensform“ ist der Instinkt. Der Zugang zu ihm erfolgt über die Beobachtung des Verhaltens. Das bedeutet, dass der Instinkt zunächst nur von seiner Außenseite interpretiert wird. Allerdings ist zu beachten, dass es sich bei ihm zugleich auch um den Ausdruck psychischer Zustände des Lebewesens handelt. Daher ist ein instinktives Verhalten nur dann richtig gedeutet, wenn auch sein sinnerfüllter, „teleokliner“ Charakter berücksichtigt wird, d. h. wenn es als ein ganzheitliches Gesche-
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hen verstanden wird. Bei dem Instinkt handelt es sich um ein sinngemäßes Verhalten, das der Erhaltung und Fortpflanzung des Lebewesens dient und das nach einem festen Rhythmus abläuft. Der Instinkt ist im Wesentlichen fertig und starr und wird durch Erfahrung nur unwesentlich modifiziert. Er stellt ein vorgegebenes Verhaltensrepertoire dar, mit dem das Lebewesen auf bedeutsame, wiederkehrende Reize der Umwelt reagiert. Instinktives Verhalten lässt sich auch beim Menschen feststellen. Es stellt bei ihm eine Einheit von Vorwissen und Handlung dar. Dieses Vorwissen aber hat nicht den Charakter einer Vorstellung, vielmehr ist es ein „Fühlen wertbetonter und nach Werteindrücken differenzierter, anziehender und abstoßender Widerstände“ (ebd. 24). Das gewohnheitsmäßige Verhalten bildet die dritte psychische Kraft. Es beinhaltet die Aspekte der Assoziation, des bedingten Reflexes und der Reproduktion (Nachahmung). Voraussetzung für die Assoziation sind Probier- und Spielbewegungen, in denen zugleich ein Wiederholungstrieb zum Ausdruck kommt. Damit verbunden ist das Schema von „Erfolg und Irrtum“. Verbindet sich wiederholt ein Reiz mit einer bestimmten, erfolgreichen Reaktion, spricht man von einem bedingten Reflex, dem zweiten Aspekt des gewohnheitsmäßigen Verhaltens. Im Unterschied zum Instinkt spielt beim gewohnheitsmäßigen Verhalten das Lernen eine entscheidende Rolle. Wir sprechen entweder von Selbstdressur oder, wie z. B. bei den Pawlowschen Experimenten, von Fremddressur. Als dritter Aspekt des gewohnheitsmäßigen Verhaltens ist die Nachahmung zu erwähnen. Diese hat ihre Grundlage ebenfalls im Wiederholungstrieb. Besonders Tiere, die in Rudeln leben, geben Verhaltensweisen auf dem Weg der Nachahmung an ihre Jungen weiter. Auf diese Weise bildet sich Tradition. Sie spielt auch beim Menschen eine wichtige Rolle. Gleichwohl kann er sich von der Macht der Tradition befreien, indem er die Geschichte in eine frei bewusste Erinnerung des Vergangenen umwandelt, sie vergegenständlicht und sich damit von der Traditionsgewalt der Vergangenheit befreit. Die vierte psychische Wesensform ist die praktische Intelligenz, die als ein Korrektiv zum assoziativen Gedächtnis und zum gewohnheitsmäßigen Verhalten anzusehen ist. Den Ausgangspunkt für sie bildet die organisch gebundene Wahlfähigkeit. Praktische Intelligenz liegt dann vor, wenn ein Lebewesen ein Bedürfnis ohne ein vorgegebenes Instinktschema und ohne Probierversuche auf eine neue Weise befriedigt oder zu befriedigen versucht. Das betrifft zunächst die äußere, beobachtbare Seite des Verhaltens. Unter dem inneren, dem psychischen Aspekt lässt sich praktische Intelligenz als „plötzlich aufspringende Einsicht in einen zusammenhängenden Sach- und Wertverhalt“ verstehen (ebd. 32). Diese Einsicht hat ihr Fundament einerseits in der Erfahrung, andererseits aber auch „antizipatorisch in der Vorstellung“ (ebd. 33). Seit Wolfgang Köhlers Affenexperimenten ist diese plötzliche Einsicht als „Aha-Erlebnis“ charakterisiert worden. Zu der praktischen Intelligenz gehört der Werkzeuggebrauch ebenso wie primitive Formen von Werkzeugherstellung. Es gehört die erstaunliche Tatsache dazu, dass höhere Tiere in der Lage sind, naheliegende Vorteile zu meiden, um größere, aber zeitlich entferntere oder nur auf Umwegen zu erreichende zu erlangen. Sie macht deutlich, dass das höhere Tier keineswegs nur ein Instinktautomat ist und auch nicht nur durch Trieb-, Assoziations- und Reflexmechanismen bestimmt wird. Allerdings – so Scheler – zwischen Werten, also z. B. zwischen Angenehmem und Nützlichem, selbst eine Wahl zu treffen sind Tiere nicht in der Lage.
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Mit der praktischen Intelligenz stellt sich die Frage nach der Sonderstellung des Menschen neu. Gesteht man sie auch Tieren zu, dann gibt es zwischen höheren Tieren und dem Menschen nur einen graduellen Unterschied. Dann unterscheidet sich ein intelligenter Affe von Edison, „nur als Erfinder betrachtet“, zwar beträchtlich, aber doch nur dem Grad nach. Die These von einem nur graduellen Unterschied von Mensch und Tier vertritt die Evolutionstheorie von Darwin (vgl. Kap. VIII, 1). Scheler lehnt diese Theorie ab und behauptet demgegenüber eine prinzipielle Sonderstellung des Menschen. Dafür ist aber ein spezifisches anthropologisches Kriterium zu benennen. Scheler sieht dieses Kriterium im Geist. Der Geist ist „eine echte neue Wesenstatsache“, die nicht auf die „natürliche Lebensevolution“ zurückgeführt werden kann, die vielmehr dem Leben sogar entgegengesetzt ist. Die Stufen des Lebens werden auf diese Weise begrenzt durch das anorganische Sein auf der einen Seite und durch den Geist auf der anderen. Der Geist umfasst mehr, als die Griechen mit dem Begriff „nous“, d. h. der Vernunft, bezeichneten. Er enthält neben dem Ideendenken auch die Fähigkeit der Anschauung der Urphänomene oder Wesensgehalte sowie eine bestimmte Klasse „volitiver und emotionaler Akte wie Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung, Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung mitumfaßt“ (ebd. 38). Das Aktzentrum des Geistes ist ein „geistiges Wesen“, d. h. eine „Person“. Für sie ist ihre „existentielle Entbundenheit vom Organischen“, einschließlich der triebhaften Intelligenz, charakteristisch. Scheler betont: „Ein ‚geistiges‘ Wesen ist also nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern ‚umweltfrei‘ und, wie wir es nennen wollen, ‚weltoffen‘: Ein solches Wesen hat ‚Welt‘“ (ebd.). Durch den Geist ändert sich das Verhältnis zur Welt radikal. Indem sich der Geist aus dem Triebsystem herauslöst, ergibt sich die Möglichkeit der Sachlichkeit. Das bedeutet: An die Stelle der bloßen Widerständigkeit der Wirklichkeit treten nun Gegenstände, zu denen sich der Mensch als ein „geistiges Wesen“ distanziert verhalten kann. Zwar lebt auch das höhere Tier nicht mehr „absolut ekstatisch in seine Umwelt“ hinein, aber allein der Mensch ist in „unbegrenztem Maße ‚weltoffen’“. Indem er zu sich selbst ein sachliches Verhältnis gewinnt, d. h. sich selbst zum Gegenstand seines Bewusstseins machen kann, erlangt er Selbstbewusstsein. Selbstbewusstsein entsteht im Akt der Reflexion. Mit ihr ist in der Entwicklung des Seins eine neue Stufe erreicht. Im Aufbau der Welt stellt die Reflexion eine Bewegung dar, in der ein urseiendes Sein sich auf sich selbst zurückbeugt, „um schließlich im Menschen sich selbst ganz zu haben und zu erfassen“ (vgl. Text). Mit Hilfe des Geistes werden die Kategorien der Gegenstände gebildet, wie Ding, Substanz, Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Entscheidend ist jedoch, dass der Geist selbst nicht vergegenständlicht werden kann. Er ist pure Aktualität. Das gilt ebenso für die Person als „geistiges Wesen“. Sie ist „ein stetig selbst sich vollziehendes (. . .) Ordnungsgefüge von Akten“ (ebd. 48). Die Tätigkeit des Geistes lässt sich verstehen als „Akt der Ideierung“, d. h. als Wesenserkenntnis. Ein Beispiel kann den Unterschied zur praktischen Intelligenz verdeutlichen. Während es das Ziel der praktischen Intelligenz ist, einen Schmerz zu beseitigen, geht es der Wesenserkenntnis darum, die Frage nach dem Wesen des Schmerzes und seiner Existenz in der Welt überhaupt zu beantworten. So sei Buddha, nachdem er den Palast seines Vaters verlassen habe, beim Anblick eines Ar-
2. Die Stufenleiter des Seins: Vom Drang zum Geist (Scheler)
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men, eines Kranken und eines Toten die essentielle Beschaffenheit der Welt deutlich geworden. Wesenserkenntnis richtet sich auf das Sosein der Dinge und sieht ab von aller empirischen Zufälligkeit. Sie hebt den Wirklichkeitscharakter der Dinge auf, indem sie der Wirklichkeit „ein kräftiges ‚Nein‘“ entgegenschleudert. Die „Entwirklichung“ der Welt durch „Ideierung“ bedeutet Befreiung vom Widerstand der Wirklichkeit und Befreiung vom Lebensdrang. Im Gegensatz zum Tier, das immer nur Ja sagen kann, ist der Mensch ein „Neinsagenkönner“, ein „Asket des Lebens“, der „ewige Protestant“ gegen das bloß Wirkliche. Aus diesem Grunde ist auch der Mensch allein in der Lage, sich das Leben zu nehmen. Schelers Intention ist es jedoch nicht, den Geist nur als Negation des Lebens zu deuten, sondern beide in ein positives Verhältnis zu setzen. Das geschieht durch das Modell der Sublimierung. Sublimierung stellt den Versuch dar, den Lebensdrang und die Energie der Triebe nicht zu brechen, sondern auf positive, geistige Ziele zu lenken. Scheler betont, dass der Geist im Verhältnis zu der Macht der Triebe „ohnmächtig“ ist, wie überhaupt die jeweils höheren Seinsstufen gegenüber den tieferen schwächer sind. Er stimmt ausdrücklich der These von Marx zu, dass sich Ideen, hinter denen keine Interessen und Leidenschaften stünden, in der Geschichte unweigerlich blamierten. Sublimierung gelingt allein dadurch, dass der „idee- und wertgeleitete geistige ‚Wille‘ (. . .) den lauernden Trieben idee- und wertangemessene Vorstellungen gleichsam wie Köder vor Augen stellt“ (ebd. 62), um so die Triebe auf das vom Geist konzipierte Ziel zu lenken. Weder sei der Geist durch Triebverzicht entstanden, noch sei der Mensch in der Lage, durch die Macht des Geistes seine Triebe zu verdrängen. Scheler widerspricht damit sowohl der antiken Theorie von der Macht des Geistes wie auch dem Konzept der Triebverdrängung bei Freud (vgl. Kap. VIII, 2). Unter moralischem Gesichtspunkt bedeutet das, dass der Mensch nicht den aussichtslosen Versuch unternehmen solle, seine Neigungen und Triebe direkt zu bekämpfen, sondern sie auf wertvolle Ziele umzulenken. Scheler weitet den Gedanken der Sublimierung auf das gesamte Weltgeschehen aus. Er interpretiert die Menschwerdung und die Geistwerdung als einen kosmologisch zu deutenden Sublimierungsprozess. Dabei verbindet er seine Kosmologie mit theologischen Überlegungen. Das geschieht dadurch, dass er den Begriff der „Gottheit“ zu dem des „Weltgrundes“ in ein Verhältnis setzt. Bei dem Weltgrund handelt es sich um ein Sein aus sich, das sich von Anfang an in der Spannung von Drang und Geist befindet. Der Geist, also auch Gott, ist nicht als eine „weltschöpferische Kraft“ zu begreifen, vielmehr muss der Geist den Weltprozess, der voller Drang und Drangsale ist, erdulden, um selbst lebendig zu werden. Erst im Weltprozess wird der Drang zunehmend vergeistigt. Dieser Prozess stellt die Selbstverwirklichung Gottes dar. An ihr hat der Mensch einen wesentlichen Anteil; denn dadurch, dass sich der menschliche Geist zu dem Weltgrunde in ein Verhältnis setzt, transzendiert er die Welt. Scheler bemerkt: In „genau dem selben Augenblicke, da sich der ‚Mensch‘ aus der ‚Natur‘ herausstellte und sie zum Gegenstand seiner Herrschaft (. . .) machte, – in ebendemselben Augenblicke mußte der Mensch auch sein Zentrum irgendwie außerhalb und jenseits der Welt verankern“ (ebd. 89). Der Mensch wird dadurch „weltexzentrisch“. Da für Scheler Gott keine weltschöpferische Macht ist, verwirklicht er sich mit dem Geiste, der im Menschen sich selbst durchsichtig geworden ist. Menschwerdung und Gottwerdung bilden
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VII. Das Stufenmodell
auf diese Weise eine Einheit. Allerdings ist Gott kein Gegenstand einer theoretischen Betrachtung. Gottwerdung geschieht vielmehr durch den Einsatz der Person durch Mitvollzug und tätige Identifizierung. Das Fazit ist: Gott ist das Ziel des Weltprozesses, nicht sein Anfang. Scheler entfaltet seine Ethik in seinem Buch Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913 u. 1916). Im Unterschied zu Kant, dem er Formalismus vorwirft, hat seine Ethik ihre Basis im bereits erwähnten Wertfühlen, das sich an einem Reich idealer Werte orientiert. Ihre Verwirklichung geschieht durch die Sublimierung der Triebe und durch den Einsatz der Person. Nur ein Wertfühlen – so sein Argument – motiviert den Menschen zum Handeln, nicht aber abstrakte Imperative einer reinen Vernunft. Scheler betont: Das „Fühlen geht ursprünglich auf eine eigene Art von Gegenständen, eben die ‚Werte‘“ (Scheler, 2000, 263). Wertbestimmte Gefühle sind z. B. „Liebe und Haß“ sowie „Seligkeit und Verzweiflung“ (vgl. ebd. 259 u. 344). Dem Thema Das Ressentiment im Aufbau der Moralen hat er eine eigene Studie gewidmet (Scheler, 2004). Schelers Wirkungsgeschichte ist beachtlich. Der Begriff der Weltoffenheit wird zu einem Schlüsselbegriff der philosophischen Anthropologie des 20. Jh.s. Er findet sich zeitgleich bei Heidegger und bei Plessner und nach ihnen bei Gehlen und Rothacker. Bemerkenswert ist auch, dass der Gedanke, Gott nicht als Schöpfer an den Anfang des Weltprozesses zu stellen, sondern an das Ende einer zunehmenden Vergeistigung der Welt, für den Naturwissenschaftler und Theologen Teilhard de Chardin zentral wird.
3. Der Stufenbau des Lebens (Plessner) „Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte. (. . .) Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus. (. . .) Er erlebt das unmittelbare Anheben seiner Aktionen, die Impulsivität seiner Regungen und Bewegungen, das radikale Urhebertum seines lebendigen Daseins, das Stehen zwischen Aktion und Aktion, die Wahl ebenso wie die Hingerissenheit in Affekt und Trieb, er weiß sich frei und trotz dieser Freiheit in eine Existenz gebannt, die ihn hemmt und mit der er kämpfen muß. Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld. (. . .) Positional liegt ein Dreifaches vor: das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person.“ (H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin 1975, 288 u. 291ff.).
Helmuth Plessner wird 1892 als Sohn eines Arztes in Wiesbaden geboren. Er studiert in den Jahren 1910–16 an den Universitäten in Freiburg, Berlin, Heidelberg und Göttingen zunächst Medizin, dann Zoologie und Philosophie. In Göttingen lernt er Husserl kennen. Er wird 1916 in Erlangen zum Dr. phil. promoviert und habilitiert sich 1920
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bei Scheler und Driesch in Köln. 1926 wird er a.o. Professor in Köln und 1933 wegen der jüdischen Herkunft seines Vaters entlassen. Es erfolgt seine Emigration nach Istanbul. 1934 wird er auf Vermittlung des Biologen Buytendijk auf eine Dozentur für Philosophie in Groningen berufen und 1943 durch den Reichskommissar für die Niederlande entlassen. Plessner lebt untergetaucht in Utrecht und Amsterdam. 1946 wird er Ordinarius für Philosophie in Groningen. Er kehrt 1951 nach Deutschland zurück und wird Professor für Soziologie und Philosophie in Göttingen. 1955 wird er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, 1958 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und 1960 Rektor der Universität Göttingen. 1961 wird er emeritiert. 1962/63 ist er erster Inhaber der Theodor-Heuss-Professur an der New School for Social Research in New York. In den Jahren 1965–72 ist er Lehrbeauftragter für Philosophie an der Universität Zürich. Er stirbt 1985 in Göttingen (vgl. Haucke, 2000). Plessners breit gefächerte wissenschaftliche und philosophische Forschungen lassen sich weder einer Disziplin noch einer bestimmten Denkströmung eindeutig zuordnen. Sein Denkstil ist eigenwillig, seine Problemerörterungen interdisziplinär. Auch dieses hat, unabhängig von den politischen Verhältnissen, die lange Zeit der Aufnahme seines Ansatzes entgegenstanden, dazu beigetragen, dass sein Werk nicht die Beachtung gefunden hat, die es verdient hätte. Besonders zu erwähnen sind seine soziologisch und geschichtlich bedeutsamen Bücher Die Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus aus dem Jahre 1924 und Die verspätete Nation aus dem Jahre 1959. Sein anthropologisches Hauptwerk ist sein Buch Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie aus dem Jahre 1928, das naturwissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Forschungen verbindet. Die Synthese ergibt sich aufgrund eines „naturphilosophischen Ansatzes“, zu dem sich Plessner in seinem Vorwort bekennt (Plessner, 1975). Mit diesem Ansatz unternimmt er den Versuch, nicht nur den cartesianischen Dualismus von ‚res extensa‘ und ‚res cogitans‘ zu überwinden, sondern ebenso den durch Dilthey wissenschaftstheoretisch begründeten von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Wer die Wirklichkeit des Menschen in ihrer Totalität erfassen möchte, muss sich vor jeder Vereinseitigung hüten. Er darf den Menschen weder auf einen Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung reduzieren, noch ihn als ein nur denkendes Subjekt interpretieren. Eine naturphilosophisch ausgerichtete Anthropologie versteht den Menschen daher nicht „als Objekt einer Wissenschaft, nicht als Subjekt seines Bewußtseins, sondern als Objekt und Subjekt seines Lebens d. h. so, wie er sich selbst Gegenstand und Zentrum ist. (. . .) Vom Menschen als personaler Lebenseinheit ist also (. . .) zu handeln“ (ebd. 31f.). Den Schlüssel liefert eine „Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte“ (ebd. 30). Das bedeutet, den Menschen als Lebewesen auf dem Hintergrund des Lebens insgesamt zu erforschen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass sich das Leben in einer Folge von Stufen organisiert. Den philosophischen Anknüpfungspunkt hierfür liefert ein Stufenbau des Seins wie schon bei Scheler, der aber über diesen hinausreicht bis hin zu Aristoteles. Der Stufenbau des Lebens, den Plessner thematisiert, gliedert sich wie folgt:
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VII. Das Stufenmodell
Körperdinge
Anorganische Körperdinge
Organische Körperdinge (Lebewesen)
Lebewesen
Offene Form (Pflanze)
Geschlossene Form (Tier)
Tier
Dezentralistische Organisation (z. B. Seeigel)
Zentralistische Organisation (z. B. Hund)
Mensch
Zentralistische Organisation
und exzentrische Position (Person)
Den Anfang bei der Erörterung der Stufen des Lebens bildet die Unterscheidung organischer Körperdinge von anorganischen. Es geht um die schwierige Definition des Lebens. Charakterisierte noch Arthur Meyer (1850–1922) die „Lebenskennzeichen“ in großer Nähe zu Aristoteles wie folgt: Ernährung (Stoffwechsel), Vermehrung, Entwicklung, Vererbung, Wachstum, Reizbarkeit, Regulation, Bewegung (Energiewechsel) und Struktur, so wird für Plessner ein Ensemble von Begriffen leitend, das er aus dem Verhältnis unbelebter Körper zu belebten entwickelt. Es sind: Doppelaspektivität, Positionalität, Systemcharakter, Organisiertheit und Selbstregulierbarkeit. Für die Erläuterung des ersten Begriffs ist der Gedanke leitend, dass es sich bei Lebewesen um Körperdinge handelt, die wie die anorganischen Körper physikalisch beschreibbar sind, zugleich aber durch ihre Lebewesenhaftigkeit dem Körperding einen neuen Aspekt hinzufügen. Das bedeutet: Ein Lebewesen ist charakterisiert durch „Doppelaspektivität“. Es ist ein Körper in einem physikalischen und in einem biologischen Sinn. Es kann daher sowohl in physikalischen wie in biologischen Kategorien beschrieben werden. Das gilt z. B. für die Kategorien Raum und Zeit. Wie jeder physikalische Körper existiert auch das Lebewesen in Raum und Zeit, es ist räumlich und zeitlich situiert. Als Lebewesen aber realisiert es darüber hinaus ein bestimmtes Verhältnis zu Raum und Zeit. Es ist “raumhaft“, d. h. „raumbehauptend“ und „zeithaft“, d. h. es enthält eine „immanente Teleologie, welche die Einheit der Glieder im Ganzen des organischen Körpers manifestiert“ (ebd. 177). Die Zeithaftigkeit bedeutet, dass die Entwicklung eines Lebewesens in ihm von vornherein angelegt ist. Es gibt für jedes Lebewesen eine typische Lebenskurve, deren Stationen Wachstum, Reife, Altern und Tod sind. Auch der Tod ist Teil seiner immanenten Teleologie. Gleichzeitig aber unterliegt es als pysikalischer Körper nicht nur allgemein dem Gesetz der Entropie, sondern auch der Möglichkeit einer von außen wirkenden zufälligen Zerstörung. Das bedeutet, dass sich auch im Tod die Doppelaspektivität manifestiert. Der zweite Begriff betrifft die Positionalität. Voraussetzung hierfür ist die „These, wonach lebendige Dinge grenzrealisierende Körper sind“ (ebd. 126). Indem ein Lebewesen eine Grenze bildet, durch die es sich gegenüber der Umwelt sowohl abgrenzt wie in Beziehung setzt, entsteht eine Außen-Innenbeziehung. Zu denken ist bei einfachen Lebewesen an die Zellmembran. Plessner bemerkt:
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„Körperliche Dinge der Anschauung, an welchen eine prinzipiell divergente AußenInnenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt, heißen lebendig. (. . .) Es ist nicht zuviel behauptet, wenn man sagt, daß um dieses Problem jede Lebenstheorie im letzten Grund allein bemüht gewesen ist“ (ebd. 89).
Diese Außen-Innenbeziehung hat ein anorganischer Körper nicht. Zwar scheint auch ein Stein durch seine äußere Form begrenzt zu sein und man könnte versucht sein, das Innere des Steins als sein Innen zu bezeichnen, doch der Schein trügt. Der Stein realisiert weder von sich aus seine Grenze noch eine Außen-Innenbeziehung. Das dritte Merkmal von Lebewesen ist ihr Systemcharakter. Er ist eine Konsequenz seiner Außen-Innenbeziehung. Das Verhältnis von Außen und Innen hat nur dann einen Sinn, wenn das Innen eine bestimmte Struktur aufweist. Plessner bemerkt: „Es gibt nur eine Möglichkeit, dieses In ihm Sein am Körper manifest werden zu lassen: der Körper ist auf einen in ihm liegenden Zentralpunkt bezogen, der keine räumliche Stelle hat, wohl aber als Zentrum des umgrenzten Körpergebietes fungiert und damit das Körpergebiet zu einem System macht. Die Beziehung erstreckt sich auf alle den Körper aufbauenden Elemente (Teile) und auf den Körper als Ganzen“ (ebd. 158).
System bedeutet: Das Lebewesen ist ein organischer Körper, dessen Teile eine funktionale Einheit bilden. Der Systemcharakter leitet über zu dem der Organisiertheit. Er verbindet den Gedanken der funktionalen Einheit mit dem der inneren Teleologie. Plessner sagt: „Organisation ist die Daseinsweise des lebendigen Körpers, der sich differenzieren muß und in und mit der Differenzierung jene innere Teleologie herausbringt, nach der er zugleich geformt und funktionierend erscheint“ (ebd. 170). Gleichzeitig warnt er jedoch davor, in dieser inneren Teleologie „die Wirksamkeit körpertranszendenter Ideen oder die baumeisterliche Phantasie Gottes“ (ebd.) zu sehen. Leben ist vielmehr aus sich selbst heraus zu verstehen. Der letzte Aspekt betrifft die „Selbstregulation“. Sie bedeutet die Fähigkeit eines Lebewesens, auf Einwirkungen der Umwelt in einer der Selbsterhaltung dienlichen Weise zu reagieren. Beispiel für Selbstregulation sind Adaptation, Restitution und Anpassung. Plessner warnt davor, diese Fähigkeit mit Begriffen des u.a. von Driesch vertretenen Vitalismus erklären zu wollen. Seiner Meinung nach ist ein Ansatz verfehlt, der hinter den beobachtbaren Phänomenen geheimnisvolle Lebenskräfte glaubt ausmachen zu können. Mit der Evolutionstheorie Darwins erscheint ein biologischer Ansatz, der nicht den genetischen Aspekt in den Mittelpunkt rückt, sondern ein scheinbar statisches Stufenmodell favorisiert, von vornherein überholt. Doch dieser Vorwurf trifft nicht für Plessners Konzept zu. Er bekennt sich nicht nur zu dem Gedanken der Entwicklung des Lebens, sondern auch zu dem der Selektion. Allerdings interpretiert er die Selektion anders. Seiner Meinung nach unterschätzt die Evolutionstheorie von Darwin die in den Lebewesen selbst enthaltenen Möglichkeiten. Er argumentiert so:
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VII. Das Stufenmodell
„Leben heißt an sich schon blind Ausgewähltsein, Selegiertsein. Leben ist notwendiges Versäumnis seiner Möglichkeiten und darin Selektion. Nach der üblichen Anschauung wird die Selektion erst durch lebensfremde Faktoren bewirkt, durch Klima, Ernährung, den Kampf mit den Artgenossen und die Zuchtwahl, als ob das Leben wie eine noch nicht modellierte Masse, ein noch nicht regulierter Strom in aller Ungebundenheit existieren könnte“ (ebd. 216).
Tatsächlich aber gibt es im Leben einen „inneren Mechanismus der Selektion“, der dazu führt, dass bestimmte Möglichkeiten eines Lebewesens nicht verwirklicht werden. Es ist „das Gesetz des kategorischen Konjunktivs“, das dazu führt, dass das Lebewesen notwendigerweise hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Entwicklung vollzieht sich in einem Spannungsverhältnis, das bestimmt ist durch den Gedanken, dass der individuelle Organismus einerseits „die ganze Fülle an Möglichkeiten in sich trägt, wie sie der Spielraum seiner Formidee eröffnet“ und andererseits „dem erzwungenen Entwicklungsweg“ (ebd.) unterworfen ist, den das Individuum tatsächlich aufgrund von Kausalfaktoren nimmt. Plessners alternatives Konzept der Evolution findet eine erste Anwendung bei der Erklärung der Entwicklung von Pflanzen und Tieren. Der „kategorische Konjunktiv“, d. h. die Notwendigkeit der Entscheidung für eine Möglichkeit und die Verwerfung einer anderen, lässt sich beim Übergang von mehrzelligen Lebewesen zu Pflanze oder Tier beobachten. Dieser Zwang liegt bei Einzellern noch nicht vor. „Doch ist mit dem Übergang zur Mehrzelligkeit offenbar der Zwang zur Entscheidung im Sinne der Pflanze oder des Tieres gegeben. Die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, daß in diesem Zwang zur Differenzierung ein Wesensgesetz des Lebens überhaupt manifest wird“ (ebd. 218). Die Differenzierung von Pflanze und Tier besteht in ihrer Form. Plessner unterscheidet die „offene Form“ der Pflanze von der „geschlossenen Form“ des Tieres. Die offene Form der Pflanze definiert Plessner so: „Offen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht“ (ebd. 219). Die Definition der geschlossenen Form macht den Unterschied von Pflanze und Tier deutlich. Sie lautet: „Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht“ (ebd. 226). Die Unselbständigkeit der Pflanze findet in der Regel ihren Ausdruck in ihrer Standortgebundenheit. Sie ist mit ihrer Umgebung verwachsen, oft auch in sie verwurzelt. Das Tier hat sich von dieser engen Bindung gelöst, wird dadurch selbständig und bewegt sich in der Regel von Ort zu Ort. Allerdings weist Plessner, ähnlich wie bereits Aristoteles, daraufhin, dass es zwischen Pflanze und Tier „Übergangsformen“ gibt (ebd. 219). Mit dem Tier ist eine neue Stufe des Lebens erreicht. Zwar weist das Tier gegenüber der Pflanze einen Nachteil auf, da es nicht in der Lage ist, aus anorganischen Bestandteilen Eiweiße, Fette und Kohlehydrate aufzubauen und daher „schmarotzerhaft“ von Lebendem lebt, insgesamt aber gilt: „Geschlossene Form ist Steigerung, denn sie hebt den lebendigen Körper auf ein höheres Existenzniveau“ (ebd. 234). Die Ablösung des
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Organismus gegenüber seiner Umgebung gibt ihm eine größere Selbständigkeit. Doch nicht nur gegenüber der Umwelt gewinnt das Tier eine Distanz, sondern auch zum eigenen Körper. Es entsteht ein Verhältnis zwischen dem Selbst des Tieres und seinem Körper. Plessner drückt das so aus: „Das Selbst, obwohl rein intensive raumhafte Mitte, besitzt jetzt den Körper als seinen Leib“ (ebd. 232) und beherrscht ihn. Die Beherrschung des Körpers ist auch die Voraussetzung für die Aktivierung eines senso-motorischen Funktionskreises, wie er von Uexküll beschrieben worden ist. Es ergibt sich ein Verhältnis von Merkwelt und Wirkwelt. Das Tier nimmt Reize seiner Umwelt wahr und reagiert mit körperlichen Aktionen auf diese Reize. Die Reaktion erfolgt keineswegs nur reflexhaft, unwillkürlich und instinktiv. Zwar ist das Tier aufgrund seiner Bedürftigkeit rastlos, ein Getriebenes seiner Triebe, doch ist es nicht ein Instinktautomat. Es hat bei seinen Reaktionen auf Umweltreize „die Möglichkeit der Wahl“. Wahl bedeutet hier noch nicht Freiheit, sondern Wählen-Können und Wählen-Müssen. „Wählen heißt im Stande des Schwankens sein (. . .). Die Präsenz einer unbestimmten Fülle dieser Möglichkeiten bedeutet im Übergang zum spontanen Akt das Muß, den Zwang der Wahl“ (ebd. 240f.). Indem dem Tier als ein selbständiger Organismus der eigene Körper zum „Medium“ seiner Merkwelt und Wirkwelt wird, eröffnet sich eine neue Möglichkeit und ein neuer Zwang der Differenzierung. Es entsteht nämlich die Frage, ob die Reize der Umwelt von einem einzigen Zentrum aus reguliert werden sollen oder dezentral über mehrere Zentren. Es eröffnen sich „zwei divergente Wege für die tierische Organisation. / Entweder bildet der Organismus unter Verzicht auf zentrale Zusammenfassung einzelne Zentren aus, die im losen Verband miteinander stehen und in weitgehender Dezentralisierung den Vollzug der einzelnen Funktionen vom Ganzen unabhängig machen. (. . .) Oder der Organismus faßt sich streng zentralistisch unter der Herrschaft eines Zentralnervensystems zusammen und sucht den Vollzug der einzelnen Funktionen unter seine Kontrolle zu bringen. Dies ist der Weg (. . .) durch Einschaltung des Bewußtseins. Einen der beiden Organisationswege muß das Leben gehen“ (ebd. 241).
Allerdings ist die Fähigkeit des Bewusstseins eine ambivalente Errungenschaft, denn sie unterbricht den reibungslosen Ablauf des senso-motorischen Kreislaufs. In einer Formulierung, die einer teleologischen Naturauffassung nahekommt, bemerkt Plessner: „Der Antagonismus von Handlung und Bewußtsein ist es, den die Natur im Auge hat, wenn sie, solange es irgend geht, die Bewegungen des eigenen Körpers dem Blick des Bewußtseins entzieht“ (ebd. 251). Die beiden Wege haben nicht nur eine Auswirkung auf die Merkwelt, sondern ebenso auf die Wirkwelt. Plessner zitiert zustimmend Uexküll, der den Unterschied der Lebensweise eines zentralistisch und eines dezentralistisch organisierten Tieres an einem Beispiel so erläutert: „‚Wenn der Hund läuft, so bewegt das Tier die Beine – wenn der Seeigel läuft, so bewegen die Beine das Tier‘“ (ebd. 248). Das Tier beherrscht seinen Körper, das zentralistisch organisierte hat sogar ein zentrales Nervensystem und damit Bewusstsein und stößt doch im Vergleich zum Menschen an eine Schranke: Das Selbst, das es im Verhältnis zu seinem Körper entwickelt, ist ihm nicht selbst gegeben. Pless-
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ner beschreibt die Schranke des Tieres so: „Daß es den Körper beherrschen kann, weil es von ihm abgehoben (. . .) ist, macht den Positionalitätscharakter des Tieres aus, trägt seine Existenz, ist aber nicht selbst wieder gegeben, nicht bemerkbar. Wem sollte es denn gegeben sein?“ (ebd. 239). Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, aber es lebt nicht als Mitte. Das Zentrum seiner Existenz bleibt ihm selbst verborgen. Erst dem Menschen ist die „Zentralität seiner Existenz bewußt geworden. Es hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es Ich, der ‚hinter sich‘ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem möglichen Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen den Zuschauer gegenüber dem Szenarium dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare (. . .) Subjektpol. Zu immer neuen Akten der Reflexion auf sich selber, zu einem regressus ad infinitum des Selbstbewußtseins ist auf dieser äußersten Stufe des Lebens der Grund gelegt“ (ebd. 290f.).
Die zentralen Begriffe, die die Position des Menschen ausmachen, sind hier zusammengestellt: Der Mensch ist ein Ich, er ist ein Zuschauer seiner selbst, er ist Subjekt, er ist fähig zu Akten der Reflexion und er ist bestimmt durch Selbstbewusstsein. Indem der Mensch auf das Zentrum seiner Existenz reflektiert, steht er in gewisser Weise jenseits dieses Zentrums. Tatsächlich steht er jedoch innerhalb und außerhalb seines Zentrums, d. h. er ist „exzentrisch“. Die zentralistische Position bleibt die Voraussetzung für die exzentrische, das Bewusstsein Voraussetzung für das Selbstbewusstsein, das Selbst Voraussetzung für seine Reflexion. Indem er im Akt der Reflexion eine exzentrische Position einnimmt, „steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ‚hinter‘ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts“ (ebd. 292). Genau genommen aber nimmt er eine dreifache Position ein. Er hat zum einen die Position eines lebendigen Körpers, als zentrisch organisiertes Lebewesen hat er zum anderen eine Position in der Mitte seines Körpers und als exzentrisches Lebewesen hat er schließlich eine Position, die es ihm ermöglicht, auf beide zu blicken. Durch diese dreifache Positionierung ist er eine Person (vgl. Text). Als Person entwickelt er sein Verhältnis zur Welt. Plessner unterscheidet dabei die Außenwelt, die Innenwelt und die Mitwelt. In Bezug auf die Außenwelt hat das eine Neubestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Welt der Gegenstände zur Konsequenz. Ist der Mensch aufgrund seiner exzentrischen Position „außerhalb des natürlichen Ortes, außer sich, nichtraumhaft, nichtzeithaft, nirgends gestellt, auf Nichts gestellt, (. . .) so steht auch das Körperding der Umwelt ‚in‘ der ‚Leere‘ relativer Örter und Zeiten“ (ebd. 294). Als exzentrisches Wesen kann er selbst das Koordinatensystem wählen, in das er die Stelle eines Körpers im Raum einträgt. Aus dem natürlich gegebenen Umfeld des Tieres wird auf diese Weise eine Umwelt. Andererseits aber lebt „der Mensch als Leib in der Mitte einer Sphäre, die entsprechend seiner empirischen Gestalt ein absolutes Oben, Unten, Vorne, Hinten, Rechts, Links, Früher und Später kennt“ (ebd.). Im Hinblick auf die Innenwelt ergibt sich ein „Doppelaspekt seiner Existenz als Seele und Erlebnis“ (ebd. 295). Im „Vollzug des Erlebens“ befinde ich mich „im Hier – Jetzt, worin mich keiner ersetzen und wovon mich keiner als der Tod lösen kann“ (ebd. 296). Dagegen können seelische Prozesse, und damit die Seele selbst, objektiviert werden. Im
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Akt der Reflexion werden mir meine Wahrnehmungen und Gefühle, werde ich schließlich mir selbst als wahrnehmendes und fühlendes Ich zum Gegenstand des Nachdenkens, der zu einem „Du, Er, Wir“ in einem realen Verhältnis steht. Das Ensemble der Personen, innerhalb dessen das Ich von sich als erster Person spricht und überhaupt erst sprechen kann, konstituiert die Mitwelt. Erst durch die Mitwelt wird es dem Menschen möglich, von sich als einem Ich zu sprechen. Plessner bemerkt: „Die Existenz der Mitwelt ist die Bedingung der Möglichkeit, daß ein Lebewesen sich in seiner Stellung erfassen kann, nämlich als ein Glied dieser Mitwelt“ (ebd. 302f.). Wie ist aber die Mitwelt dem Menschen gegeben? Plessners Antwort lautet: „Durch die exzentrische Positionsform seiner selbst ist dem Menschen die Realität der Mitwelt gewährleistet“ (ebd. 302). Nicht durch einen Analogieschluss kommt der Mensch zu der Annahme der Existenz einer anderen Person, die wie er zu sich Ich sagen kann, „sondern kraft der Struktur der eigenen Daseinsweise“ (ebd. 300). Zugespitzt kann man daher sagen: „Real ist die Mitwelt, wenn auch nur eine Person existiert, weil sie die mit der exzentrischen Positionsform gewährleistete Sphäre darstellt, die jeder Aussonderung in der ersten, zweiten, dritten Person Singularis und Pluralis zu Grunde liegt“ (ebd. 304). Aufgrund der exzentrischen Position kann sich der Mensch zum Gegenstand seiner Reflexion machen und zugleich in der anderen Person ein ‚alter ego‘ anerkennen. Die Konsequenzen, die sich aus der exzentrischen Position für die Lebensführung des Menschen ergeben, hat Plessner in drei „anthropologischen Grundgesetzen“ formuliert. Es ist das „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“, das „Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit“ und es ist schließlich das „Gesetz des utopischen Standorts“. Seine Überlegungen zum ersten Gesetz führt er so aus: Aufgrund seiner exzentrischen Position fehlt dem Menschen die natürliche Sicherheit der Lebensweise der Tiere. Das heißt: „Der Mensch lebt nur, indem er ein Leben führt“ (ebd. 310). In seine Lebensführung mischt sich daher stets „der Schmerz um die unerreichbare Natürlichkeit der anderen Lebewesen. Ihre Instinktsicherheit ist seiner Freiheit und Voraussicht verloren gegangen“ (ebd.). Weil es für den Menschen keine natürliche Lebensweise geben kann, „braucht er ein Komplement nichtnatürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich“ (ebd.). Das Ensemble der künstlichen Hilfsmittel der Lebensführung ist die Kultur. Plessner kritisiert die gängigen Kulturtheorien. Er verwirft die spiritualistische Kulturtheorie, nach der die Kultur objektiv Ausdruck des Geistes der Götter oder der Menschen ist oder subjektiv eine Sache der menschlichen Intelligenz, des Bewusstseins oder der Seele. Er kritisiert die positive naturalistische Theorie, nach der die Kultur biologisch ein Überlebensvorteil im Kampf ums Dasein ist (Darwin) oder psychologisch ein Mechanismus zur Bewältigung der Angst. Er lehnt schließlich die negative naturalistische Theorie ab, nach der die Kultur physiologisch betrachtet auf einer Hypertrophie der Großhirnentwicklung beruht, die psychologisch als Domestikation zu verstehen ist, d. h. als Sublimation von Trieben (Nietzsche, Freud, Adler) oder ökonomisch als ein Überbauphänomen (Marx). All dies ist Kultur nicht. Angemessen kann die Kultur nur verstanden werden auf dem Hintergrund der exzentrischen Positionsform des Menschen. Das bedeutet: „Der Mensch will heraus aus der unerträglichen Exzentrizität seines Wesens, er will die Hälftenhaftigkeit der eigenen Lebensform kompensieren und das kann er nur mit Dingen erreichen, die
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schwer genug sind, um dem Gewicht seiner Existenz die Waage zu halten“ (ebd. 311). In dieser spezifischen „Bedürftigkeit“ liegt der letzte Grund für seine „mit künstlichen Mitteln arbeitende Tätigkeit, der letzte Grund für (. . .) die Kultur“ (ebd.). Das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit formuliert den Gedanken, dass den „wirklichen Dingen“ der Status einer vermittelten Unmittelbarkeit zukommt. Plessner versucht, am Leitfaden des Begriffs der exzentrischen Position eine Verbindung von ontologischem Realismus mit einem transzendentalen Idealismus im Sinne von Husserl zu schaffen. Plessner betont: „Bewußtseinsidealismus kämpft mit Realismus“ (ebd. 330). Ausgangspunkt ist der Realismus. Für ihn stellt sich die Realität so dar: „Dinge sind ihm gegenständlich gegeben, wirkliche Dinge, die in ihrer Gegebenheit von ihrer Gegebenheit ablösbar erscheinen. Zu ihrem Wesen gehört das Überschußmoment des Eigengewichts, des Für sich Bestehens, des An sich Seins, sonst spricht man eben nicht von wirklichen Dingen“ (ebd. 327). Die Gegenposition, der transzendentale Idealismus, lässt sich nur auf der Grundlage der exzentrischen Position formulieren. Er hat die Reflexivität des Menschen zur Voraussetzung. „So wird er sich der Wahrnehmungsakte, Wissensakte Vollziehende oder seines Bewußtseins bewußt. (. . .) Er entdeckt seine Immanenz. Er sieht, daß er faktisch nur Bewußtseinsinhalte hat und daß, wo er geht und steht, sein Wissen von den Dingen sich als Etwas zwischen ihn und die Dinge schiebt“ (ebd. 329).
Doch Plessner sieht zwischen beiden Positionen keinen Widerspruch. Für ihn schafft vielmehr das Wissen von der Bedingtheit des eigenen Wissens zugleich einen Zugang zu den wirklichen Dingen selbst. Er formuliert das so: „Weil er in seinem Bewußtsein ist und unmittelbar nur Bilder des wirklichen Seins in Natur, Seele und Geist hat, faßt er in und mit diesen Bildern wirkliche Welt auf eine für ihn unmittelbare Weise“ (ebd. 332). Die Verbindung gelingt durch die Einsicht, dass die Immanenz des Bewusstseins des Subjekts (Bewusstseinsidealismus) die Voraussetzung für den Zugang zu dem Ansich-Sein der Dinge (Realismus) ist. Das letzte anthropologische Grundgesetz betrifft den utopischen Standort. Es thematisiert die „konstitutive Wurzellosigkeit“ des Menschen, seinen ‚utopischen Standort‘, d. h. sein Stehen in einem Nicht-Ort, seine Heimatlosigkeit: „Sie gibt ihm das Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit und korrelativ dazu der Nichtigkeit der Welt“ (ebd. 341). Damit entsteht eine radikale Fraglichkeit der eigenen Existenz und der Welt. „So erwacht er zum Bewußtsein der absoluten Zufälligkeit des Daseins und damit zur Idee des Weltgrundes, des in sich ruhenden notwendigen Seins, des Absoluten oder Gottes. Nur ist dieses Bewußtsein nicht von unerschütterlicher Gewißheit. (. . .) Will er die Entscheidung so oder so, – bleibt ihm nur der Sprung in den Glauben“ (ebd. 341f.).
Plessner macht die Alternative deutlich, zwischen denen sich der Mensch zu entscheiden hat: Es ist der Geist oder der Glaube. Er formuliert sie so: „Eins bleibt für alle Religiosität charakteristisch: sie schafft ein Definitivum. Das, was dem Menschen Natur und Geist nicht geben können, das Letzte: so ist es –, will sie
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ihm geben. Letzte Bindung und Einordnung, den Ort seines Lebens und seines Todes, Geborgenheit, Versöhnung mit dem Schicksal, Deutung der Wirklichkeit, Heimat schenkt nur Religion. (. . .) Wer nach Hause will, in die Heimat, in die Geborgenheit, muß sich dem Glauben zum Opfer bringen. Wer es aber mit dem Geist hält, kehrt nicht zurück“ (ebd. 342).
Doch der Glaube ist nicht gegen den Zweifel gefeit. Gegen ihn schützen auch keine Gottesbeweise. Er bricht mit Notwendigkeit immer wieder auf (vgl. Haucke, 2000, 166f.). Der Grund liegt in der exzentrischen Position des Menschen. „Die Exzentrizität seiner Lebensform, sein Stehen im Nirgendwo, sein utopischer Standort zwingt ihn, den Zweifel gegen die göttliche Existenz, gegen den Grund für diese Welt und damit gegen die Einheit der Welt zu richten. Gäbe es einen ontologischen Gottesbeweis, so dürfte der Mensch nach dem Gesetz seiner Natur kein Mittel unversucht lassen, ihn zu zerbrechen“ (Plessner, 1975, 346).
Plessner hat keine Ethik geschrieben. Ansätze zu einer Glücksethik ergeben sich jedoch aus dem konstitutionell bedingten Streben des Menschen nach Gleichgewicht. Plessners lange Zeit politisch beeinträchtigte Wirkungsgeschichte erstreckt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s auf die Bereiche einer philosophischen Anthropologie und der Soziologie.
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VII. Das Stufenmodell
Stufen- und Entwicklungsmodelle
VIII.
Genetische Modelle
Natur und Geschichte bilden seit jeher zwei unterschiedliche Seinsbereiche. Dabei weist schon Aristoteles Aussagen über die Geschichte im Vergleich zu denen über die Natur eine geringere wissenschaftliche Dignität zu. Während es die Natur mit dem SichGleichbleibenden, Allgemeinen, Gesetzhaften zu tun hat, ist die Geschichte bestimmt durch einmalige Ereignisse, und die können so oder anders stattfinden. In ihnen spielt nicht das Gesetz eine Rolle, sondern der Zufall. Wilhelm Windelband, bedeutender Vertreter des Neukantianismus, hat gegen Ende des 19. Jh.s in einer vielbeachteten Rede Geschichte und Naturwissenschaft diese wie folgt unterschieden: “Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die andern Ereigniswissenschaften; jene lehren, was immer ist, diese, was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist (. . .) in dem einen Falle nomothetisch, in dem andern idiographisch“ (Windelband, 1915, 145). Was bedeutet das für die Anthropologie? Nun, sofern der Mensch ein Teil der Natur ist, haben die Aussagen über ihn einen nomothetischen Charakter, sofern es um ihn als geschichtliches Wesen geht, einen idiographischen. Der Mensch im Stufenbau des Lebens betrachtet ist daher Gegenstand einer Wissenschaft von der Natur, und die hat eine allgemeine, gesetzhafte Struktur. Aus diesem Grunde hat das Stufen- oder Schichtenmodell einen im Wesentlichen statischen Charakter. Nun ist aber das 19. Jh. durch einen Siegeszug der Geschichtswissenschaften ausgezeichnet, der sich nicht nur darin zeigt, dass in ihm bedeutende Historiker wirkten wie Droysen und Mommsen, sondern dass der Gedanke der Geschichtlichkeit sich auch auf andere Lebensbereiche ausdehnte, so auch auf den der Natur. Der Gedanke einer Naturgeschichte, von Kant und Herder bereits im 18. Jh. formuliert, wurde in einer Radikalität in Angriff genommen, die bis dahin undenkbar war. Das Konzept einer unveränderlichen Natur wurde in Frage gestellt und mit ihm auch das von der Konstanz der Arten. Um dem Gedanken der Geschichte im Bereich der Natur jedoch Eingang zu verschaffen, waren Zeiträume in den Blick zu nehmen, die über die, mit denen es die Geschichtswissenschaft zu tun hat, weit hinausgingen. Die Naturgeschichte bekam im Bereich der belebten Natur den Charakter einer Entwicklungsgeschichte, die die strikte Unterscheidung von Naturwissenschaften und Geschichtswissenschaften auflöste.
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Nachdem bereits Lamarck die These von der Konstanz der Arten in Frage gestellt hatte, war es Darwin, der den Gedanken der Entwicklung der Arten zu einer allgemeinen Evolutionstheorie erweiterte und in diese auch den Menschen einbezog. Der Gedanke der Entwicklung des Menschen aus niederen, vormenschlichen Arten, hat das Selbstverständnis des Menschen in einem Maße revolutioniert, wie es zuvor allenfalls durch die Ersetzung des geozentrischen durch das heliozentrische Weltbild erfolgte. Freud thematisiert, ausgehend von naturwissenschaftlichen Fragen, die Entwicklung des Kindes als Prozess der Differenzierung von Es, Ich und Über-Ich. Ichentwicklung und Ichstärkung bilden dabei einen Zusammenhang, bei dem theoretische und praktische Aspekte ineinander greifen. Portmann untersucht die frühkindliche Entwicklung im ersten Lebensjahr unter einem Gesichtspunkt, der deutlich macht, dass der Mensch, verglichen mit anderen höheren Säugetieren, ein Jahr zu früh auf die Welt kommt. Er bezeichnet dieses Jahr als die ‚extra-uterine Frühzeit‘.
1. Die Evolution des Menschen (Darwin) „Sobald irgend ein Glied in der langen Reihe der Primaten dazu kam, weniger auf Bäumen zu leben, sei es infolge einer Veränderung der Art und Weise, seinen Lebensbedarf zu erlangen, oder sei es infolge einer Veränderung in den Verhältnissen seines Heimatlandes, so wird auch seine gewöhnliche Fortbewegungsart modifiziert worden sein; es mußte entweder durchaus zum Vierfüßler werden, oder zu einem Zweifüßler. Paviane bewohnen bergige oder felsige Gegenden und klettern nur notgedrungen auf hohe Bäume; sie haben daher auch fast die Gangart eines Hundes angenommen. Der Mensch allein ist ein Zweifüßler geworden; und wir können, wie ich glaube, zum Teil einsehen, wie er dazu gekommen ist, die aufrechte Stellung anzunehmen, welche eines seiner auffallendsten Merkmale bildet. Der Mensch hätte seine jetzige herrschende Stellung in der Welt nicht ohne seine Hände erreichen können, welche so wunderbar geeignet sind, seinem Willen gemäß tätig zu sein.“ (Ch. Darwin: Die Abstammung des Menschen. Stuttgart 1982, 59).
Charles Darwin wird 1809 in Shrewsbury (England) geboren. Er studiert in den Jahren 1825–31 Medizin und Theologie in Edinburgh und Cambridge. 1831–36 unternimmt er mit dem Forschungsschiff ‚Beagle‘ eine Reise nach Südamerika und zu den GalapagosInseln (Darwin, 2008 a). Ab 1842 lebt er auf seinem Landsitz Down House in Kent. Dort verarbeitet er die Ergebnisse seiner Forschungsreise und verfasst seine wissenschaftlichen Werke. 1859 erscheint sein Hauptwerk On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl). 1871 erscheint sein Werk The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (Die Abstammung des Menschen). Darwin stirbt 1882 in Down (Kent). Er wird in der Westminster Abbey beigesetzt (vgl. Hemleben, 2009). Darwins Hauptleistung im Bereich der Biologie besteht darin, dass er die traditionelle Lehre von der Konstanz der Arten durch die der Evolution ersetzt hat. Der Gedanke der Konstanz der Arten war bis ins 19. Jh. hinein Allgemeingut, in der Philosophie ebenso wie in der Theologie. Für die Philosophie ist auf Aristoteles hinzuweisen.
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Bei ihm kommt dieser Gedanke in der Aussage zum Ausdruck: „Ein Mensch zeugt einen Menschen“ (Met. 1032 a). Für die Theologie ist die Lehre von der Konstanz der Arten eingebunden in den Kontext der Schöpfungslehre. Ansätze zu evolutionärem Denken, das es bereits bei Anaximander und bei Empedokles gab, konnten sich nicht durchsetzen. Einen Vorläufer einer evolutionären Denkweise fand Darwin jedoch in dem Konzept von Jean-Baptiste de Monet, Chevalier de Lamarck (1744–1829), der nicht nur eine systematische Einteilung der Tiere vornahm, sondern der die Entstehung der Arten auf die Vererbung des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs von Organen zurückführte und damit die Lehre von der Konstanz der Arten in Frage stellte. Der nach ihm benannte Lamarckismus, d. h. die Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften, wurde von Darwin aufgegriffen und als ein wesentlicher Bestandteil in sein neues Konzept integriert. Wenn sich auch die These von Lamarck als falsch erwiesen hat, so entstand damit doch das Modell einer Naturgeschichte. Darwins These lautet in diesem Sinne: Auch die Natur ist geschichtlich zu interpretieren und die Evolution liefert dafür einen Beweis. Einen ersten Hinweis auf den Gedanken einer Naturgeschichte erhielt Darwin von einem Geologen seiner Zeit, C. Lyell, der aufgrund seines Studiums von Gesteinsschichten und Verwerfungen den Gedanken einer Erdgeschichte konzipiert hatte. Darwins Frage war: Wie lässt sich der Gedanke der geschichtlichen Entwicklung im Bereich von Lebewesen nachweisen? Um den Gedanken des Übergangs einer Art in eine andere plausibel zu machen, erschien es ihm notwendig, nach Gemeinsamkeiten zwischen den Arten zu suchen. Das erfolgversprechendste Feld dieser Gemeinsamkeiten fand er im Bereich der Embryologie. Nicht nur zwischen den Embryonen verschiedener Säugetiere besteht eine verblüffende Ähnlichkeit, sondern auch zwischen den Säugetieren und dem Menschen; und zwar nicht nur zwischen dem Embryo eines Affen und dem eines Menschen, sondern z. B. auch zwischen dem eines Hundes und dem eines Menschen (vgl. Darwin, 1982, 9). Diese frappierenden Ähnlichkeiten waren es, die Darwin die Zugehörigkeit des Menschen zum Tierreich unbezweifelbar machten. Doch die Embryologie lehrt noch ein Weiteres. Vergleicht man die Entwicklung eines Embryos mit dem Tierreich insgesamt, so lässt sich feststellen, dass ein Lebewesen in seiner Ontogenese Formen durchläuft, die bei niedrigeren Arten anzutreffen sind, so z. B. die Rudimente einer Kiemenspalte von Fischen. Damit ist nicht nur die Verwandtschaft höherer Säugetiere belegt, sondern die Verwandtschaft des Tierreichs insgesamt. Auf der Grundlage dieser Gemeinsamkeiten nun bekommt der Gedanke der Entstehung der Arten einen neuen Akzent. Der Wechsel von einer Art zur anderen erscheint weniger dramatisch. Es handelt sich nicht mehr um einen Sprung, sondern um eine Modifikation auf der Grundlage einer breiten Gemeinsamkeit. Aber welche Faktoren sind für die Entstehung neuer Arten maßgeblich? Auf die vier wichtigsten sei hingewiesen. Der erste Faktor sind veränderte Lebensbedingungen. Auch das Klima und die Nahrung werden von Darwin als mögliche Faktoren genannt. Allerdings: Eine eindeutige, quantitativ erfassbare Relation zwischen den verschiedenen Umweltfaktoren und der Vererbung konnte zu seiner Zeit nicht nachgewiesen werden. Der zweite von Darwin erwähnte Faktor sind die „Wirkungen des vermehrten Gebrauchs und Nichtgebrauchs
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der Teile“ (ebd. 35). Hierzu zählt Darwin die Tatsache, dass die Europäer über schwächer entwickelte Sinneswerkzeuge verfügen als z. B. Indianer. Und dies sei „ohne Zweifel die gehäufte und vererbte Wirkung eines in vielen Generationen verminderten Gebrauches“ (ebd. 37). Der dritte Faktor betrifft Entwicklungshemmung, Rückschlag und korrelative Veränderung. Damit ist gesagt, dass bereits im Embryonalstadium bestimmte organische Anlagen sich nicht ausbildeten und das Individuum auf einer niederen Entwicklungsstufe bleibt. Darwin erläutert diesen Sachverhalt am Beispiel eines mikrozephalen Menschen. Das, was unter ontogenetischem Standpunkt als Entwicklungshemmung anzusehen ist, stellt sich unter phylogenetischem oft als ein Rückschlag dar, so z. B. wenn das Gehirn dieses Menschen Ähnlichkeiten mit dem eines Affen hat. Unter korrelativer Veränderung spricht man, wenn sich zwei Merkmale, also z. B. muskulöser Bau und stark ausgebildeter Oberaugenbogen, nur gemeinsam verändern. Der für Darwin wichtigste Faktor der Veränderung der Art ist der vierte, die natürliche Zuchtwahl (‚natural selection‘). Darwin stieß auf diesen Faktor bei der Lektüre eines Buches von Robert Malthus (1766–1834). In seiner Autobiographie beschreibt Darwin sein Schlüsselerlebnis so: „Im Oktober 1838, fünfzehn Monate nachdem ich mit meiner Untersuchung begonnen hatte, las ich zufällig zum Vergnügen Malthus’ Buch über Population, und weil ich durch meine lange Beobachtung der Verhaltensweisen von Tieren und Pflanzen wohl darauf vorbereitet war, anzuerkennen, daß ein Kampf ums Dasein überall stattfindet, wurde mir sofort deutlich, daß unter solchen Bedingungen vorteilhafte Variationen eher erhalten bleiben und unvorteilhafte eher vernichtet werden. Das Ergebnis dieser Tendenz mußte die Bildung neuer Arten sein. Jetzt hatte ich endlich eine Arbeitshypothese“ (Darwin, 2008, 129).
Deutlich wird, dass Darwin noch nicht die Bedeutung der Mutation für die Evolution erkennt, wohl aber die der Variation. Im Übrigen interpretiert er Malthus wie folgt: Wenn – wie Malthus behauptet – sich die Bevölkerung in geometrischen Proportionen vermehrt, die Nahrungsmittelproduktion aber nur in arithmetischen, dann haben bei den daraus resultierenden Hungerkatastrophen nur die kräftigsten Individuen eine Chance, zu überleben und sich fortzupflanzen. Und dieser Gedanke lässt sich verallgemeinern. Überall hat bei schwierigen Lebensbedingungen das Lebewesen die größten Überlebenschancen, das an seine Umwelt am besten angepasst ist. Die Formeln, die sich für die Bezeichnung dieses Sachverhalts durchsetzten, lauten: „struggle for life“ (Kampf ums Dasein) und „survival of the fittest“ (Überleben der am besten angepassten Lebewesen). Außer der natürlichen Zuchtwahl kennt Darwin noch die sexuelle und die methodische. Die methodische Zuchtwahl ist die des Züchters, der bestimmte Eigenschaften eines Haustieres schätzt und Individuen, die über diese Eigenschaften verfügen, sich fortpflanzen lässt. Das Prinzip, das dabei zur Geltung kommt, ist das der Variation. Dabei unterscheidet Darwin aber noch nicht zwischen einer erblichen Variation (Mutation) und einer nicht erblichen (Modifikation). Die sexuelle Zuchtwahl bedeutet, dass das Weibchen bei der Wahl des Männchens ebenfalls bestimmte Eigenschaften bevorzugt. Die methodische Zuchtwahl scheidet bei der Entstehung des Menschen aus,
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da der Mensch sich nicht selbst methodisch gezüchtet hat, die sexuelle akzeptiert Darwin als eine begleitende. Der entscheidende Faktor liegt aber in der natürlichen Zuchtwahl. Darwin nimmt an, dass sich der Mensch aus „affenähnlichen Vorfahren“ entwickelt hat, die er zu den Primaten rechnet. Deren Lebensraum war der Wald. Die Menschwerdung ist damit verbunden, dass dieser Lebensraum verlassen wird. Die nun einsetzende Entwicklung des Menschen geschieht in folgenden Schritten: Aufrechter Gang; das Freiwerden der Hände; Ausbildung der Hände zu einem universalen Instrument des Werkzeuggebrauchs und der Werkzeugherstellung, einschließlich der Zunahme ihrer Sensibilität; Umbildung des Fußes zu einem Standfuß; Verlust der Greiffähigkeit des Fußes und Ausbildung echter Bipedie, d. h. Fortbewegung ausschließlich auf den Füßen (vgl. Darwin, 1982, 59f. u. Text). Darwin beschreibt mit großer Klarheit den Gestaltwandel vom „affenähnlichen Vorfahren“ zum Menschen unter dem Gesichtspunkt der Anpassung an ein Leben in der Ebene. Mit seiner Hochschätzung der Leistungsfähigkeit der menschlichen Hand steht er in einer ehrwürdigen Tradition. Schon in der Antike, bei Anaxagoras und danach bei Aristoteles, wurde der überlegene Gebrauch der Hand, dieses „Werkzeugs aller Werkzeuge“, als das dem Menschen Eigentümliche herausgestellt. Erklärungsbedürftig bleibt aber, inwiefern der an die Ebene angepasste, bipede Mensch, eine beherrschende Stellung gegenüber seinen „affenähnlichen Vorfahren“ erringen konnte. Diese Frage beantwortet Darwin so: „Wenn es ein Vorteil für den Menschen war, fest auf seinen Füßen zu stehen und seine Hände und Arme frei zu haben, woran nach seinem so hervorragendem Erfolg im Kampf ums Dasein kein Zweifel besteht, dann sehe ich keinen Grund, warum es für die Vorfahren des Menschen nicht vorteilhaft gewesen sein soll, mehr und mehr aufrecht oder zweifüßig zu werden. Sie wurden dadurch mehr und mehr befähigt, sich mit Steinen und Keulen zu verteidigen, oder ihre Beute anzugreifen, oder auf andere Weise Nahrung zu erlangen. Die am besten gebauten Individuen werden im Laufe der Zeit den meisten Erfolg gehabt haben und in größerer Zahl am Leben geblieben sein“ (ebd. 60).
Hier ist das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl in aller Deutlichkeit ausgesprochen. Der aufrechte Gang und die Fortentwicklung der Hand zu einem universalen Werkzeug verschaffen dem Menschen gegenüber seiner Umwelt einen Überlebensvorteil. Sie bedingen sich gegenseitig und begünstigen weitere Veränderungen, die insgesamt einen bedeutsamen Gestaltwandel des Menschen in Gang setzen. Dazu gehören die Veränderung der Gestalt des Schädels und die Entwicklung des Gehirns. Darwin zeichnet diese Entwicklung wie folgt nach: Der Gebrauch der Arme und Hände entlastet das Gebiss des Menschen, das durch kräftige Kinnbacken und große Eckzähne ausgezeichnet war. Das Gebiss wird kleiner, während das Volumen des Schädels sich vergrößert und der Vergrößerung und Entwicklung des Gehirns Platz gibt. Darwin bemerkt: „Niemand, denke ich, zweifelt daran, daß im Verhältnis zu seinem Körper die bedeutende Größe des Gehirns des Menschen verglichen mit den Verhältnissen beim Gorilla oder Orang, in enger Beziehung zu seinen höheren geistigen Kräften steht“ (ebd. 63). Bei der Betrachtung der geistigen Fähigkeiten des Menschen legt Darwin Wert darauf, die Differenzen zwischen Mensch
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und Tier abzuschwächen und überall nachzuweisen, dass im Tier bereits Vorläufer der geistigen Fähigkeiten des Menschen anzutreffen sind. Es sind insgesamt fünf Bereiche, in denen er die geistigen Fähigkeiten untersucht: Der erste Bereich umfasst Abstraktion, allgemeine Ideen, Selbstbewusstsein und geistige Individualität. Der zweite Bereich thematisiert die Sprache, der dritte den Schönheitssinn, der vierte die Religion und der fünfte die sozialen Institutionen und die Moral. In welcher Weise Darwin versucht, dem Tier geistige Fähigkeiten zuzuschreiben, wird bereits beim ersten Aspekt, dem Selbstbewusstsein, deutlich. Darwin relativiert das menschliche Monopol darauf, indem er fragt: Wer will behaupten, dass ein „alter Hund mit einem ausgezeichneten Gedächtnisse und etwas Einbildungskraft (. . .) niemals über die vergangenen Freuden und Leiden auf der Jagd nachdenkt? Dies wäre aber eine Art Selbstbewußtsein“ (ebd. 104f.). Andererseits – so seine erstaunliche, durch ethnozentrische Vorurteile seiner Zeit motivierte Aussage – gibt es unter den „australischen Wilden“ Menschen, die „nur sehr wenige abstrakte Worte“ gebrauchen und nicht ihr „Selbstbewußtsein betätigen“ (ebd.). Darwin nimmt an, dass sich „wilde“ und „zivilisierte“ Völker und „Rassen“ (ebd. 118) intellektuell auf sehr unterschiedlich hohen Stufen der Entwicklung befinden. Andererseits ist er davon überzeugt, dass bereits „Tiere das Bewußtsein ihrer psychischen Individualität bewahren“ (ebd. 105). Auch hinsichtlich des zweiten Bereichs, der Sprache, kommt es Darwin darauf an, genau zu differenzieren. Dass Tiere über ein Lautrepertoire verfügen, um Artgenossen Mitteilungen zu machen, steht für ihn außer Frage. Mehr noch: „Papageien und andere Vögel besitzen die Fähigkeit (. . .) bestimmte Laute mit bestimmten Ideen zu verbinden“ (ebd. 107). Der entscheidende Unterschied zwischen Tier- und Menschensprache besteht seiner Meinung nach darin, dass der beständige Gebrauch der artikulierten Sprache dem Menschen eigentümlich ist, wenngleich einzuräumen ist, dass der Mensch auch in unartikulierten Lauten Gedanken und Empfindungen zum Ausdruck bringt. Auch im Bereich der Sprache besteht der Unterschied zwischen Tier und Mensch nicht in einem qualitativen Sprung, sondern in einer bedeutsamen graduellen Abstufung. Darwin betont: „Von den Tieren unterscheidet sich der Mensch bloß durch seine unendlich größere Fähigkeit, die verschiedenartigsten Laute und Ideen zu assoziieren, und dies hängt offenbar von der hohen Entwicklung seiner geistigen Fähigkeiten ab“ (ebd. 107). Über die Frage der Entstehung der menschlichen Sprache stellt er zwei Hypothesen auf. Zum einen sagt er, „daß der Urmensch, oder vielmehr ein sehr früher Stammvater des Menschen, seine Stimme wahrscheinlich dazu benutzte, echt musikalische Kadenzen hervorzubringen, d. h. also zum Singen, wie es heutigen Tages einer der Gibbons tut“ (ebd. 109). Dieses Singen erfüllt seine Funktion „während der Werbung der beiden Geschlechter“. Der andere Ursprung der Sprache besteht im Trieb, gehörte Laute nachzuahmen, eine Neigung, die bei Affen, „mikrozephalen Idioten“ und „barbarischen Menschenrassen“ eine große Rolle spielt. Könnte daher nicht „irgend ein ungewöhnlich gescheites, affenähnliches Tier darauf verfallen sein, das Heulen eines Raubtieres nachzuahmen, um dadurch seinen Mitaffen die Natur der zu erwartenden Gefahr anzudeuten? Dies würde ein erster Schritt zur Bildung einer Sprache gewesen sein“ (ebd. 109 f.). Bei der weiteren Sprachentwicklung ist anzunehmen, dass der fortgesetzte Gebrauch der Sprache und die Entwicklung des Gehirns korrelativ vonstatten gingen. Eine lange
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Gedankenreihe durchzudenken ist ohne ausgebildete Sprache ebenso wenig möglich wie eine lange Rechnung ohne den Gebrauch von Zahlen. Schließlich bringt Darwin für die Entwicklung einer Sprache mit ihrem spezifischen Wortschatz und ihrer spezifischen Grammatik das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl zur Geltung. „Das Überleben oder die Beibehaltung gewisser bevorzugter Wörter im Kampf ums Dasein ist natürliche Zuchtwahl“ (ebd. 114). Hinsichtlich des dritten Bereichs, des Schönheitssinns, bemerkt er, dass dieser im Tierreich einen festen Platz innerhalb der geschlechtlichen Zuchtwahl einnimmt, und Ähnliches ist auch beim Menschen anzunehmen. Allerdings gibt es eine große Variationsbreite des Geschmacks und offensichtlich auch eine unterschiedliche Höhe der Geschmacksentwicklung bei „wilden“ und „zivilisierten“ Völkern (vgl. ebd. 117). Der religiöse Glaube als anthropologischer Sachverhalt wird von Darwin unterschieden von der Frage der Existenz eines Weltschöpfers. Zu dieser bemerkt er vorsichtig, dass sie „von einigen der größten Geister“ positiv beantwortet worden sei. Als anthropologischer Sachverhalt gibt es das religiöse Gefühl in Abstufungen, die bei Tieren und Menschen anzutreffen sind. Er gesteht die primitivste Stufe der Religion bereits einem Hund zu. Sie lässt sich in der völligen Unterwerfung unter seinen Herrn deutlich machen. Die höheren Formen „religiöser Ergebung“ sind dagegen „sehr kompliziert“. Sie setzen sich zusammen aus „Liebe, vollkommener Unterwerfung unter ein erhabenes, geheimnisvolles Etwas, einem starken Abhängigkeitsgefühl, Furcht, Ehrfurcht, Dankbarkeit, Hoffnung auf ein Jenseits und vielleicht noch anderen Elementen.“ Und er fährt fort: „Kein Wesen, dessen intellektuelle und moralische Fähigkeiten nicht mindestens auf einer mäßig hohen Stufe stehen, könnte eine so komplizierte Gemütserregung an sich erfahren“ (ebd. 120). Die höheren Formen der Religiosität sind daher dem Menschen vorbehalten. Innerhalb der Religion sieht er eine Höherentwicklung an, die vom Fetischismus über den Polytheismus bis hin zum Monotheismus reicht. Eine besondere Stellung innerhalb der geistigen Fähigkeiten des Menschen und der Tiere nehmen die sozialen Instinkte und die Moralität ein. Mit ihr ist der Bereich der Ethik erreicht. Ausgangspunkt für die Entwicklung des moralischen Gefühls beim Menschen ist für Darwin die These, „daß der Mensch ein soziales Wesen ist“ (ebd. 136). Als ein solches verfügt er über soziale Instinkte, zu denen die Elternliebe und die Kindesliebe gehören; aber auch die Sympathie. Der Grund der Sympathie liegt in der Nachwirkung früherer Unlustgefühle. Der Anblick eines leidenden Mitmenschen weckt in uns die Erinnerung an eigenes Leiden und ruft in uns unangenehme Empfindungen hervor. Die unvermeidlich auftauchende Sympathie führt dazu, zu helfen. „So werden wir veranlaßt, die Leiden der anderen zu erleichtern, damit unsere eigenen peinlichen Empfindungen beseitigt werden“ (ebd. 133). Darwin folgt dabei der Argumentation Spinozas. Die Entstehung des sozialen Instinkts ist für Darwin ebenfalls das Ergebnis einer natürlichen Zuchtwahl; „denn diejenigen Verbände, in denen die größte Zahl der Mitglieder sich durch gegenseitige Sympathie auszeichneten, konnten am besten gedeihen und die größte Anzahl von Nachkommen erzielen“ (ebd. 134). Der Gedanke, dass Moralität das Ergebnis natürlicher Zuchtwahl sei, gibt der These vom Kampf ums
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Dasein eine neue, beachtliche Wendung. Sie verlagert die These „the fittest survives“ von einer individualtheoretischen Betrachtungsweise auf eine sozialtheoretische. Individualtheoretisch betrachtet ist eine Sympathie für andere hinderlich, wenn nicht gar kontraproduktiv; denn sie ermöglicht das Überleben von Konkurrenten im Kampf ums Dasein; im Übrigen aber auch von schwächeren Artgenossen. Darwins sozialethisches Konzept ist anders. Da der Mensch als ein „soziales Tier“ nur innerhalb einer intakten und starken Gruppe überleben kann, hängt die Überlebenschance des Individuums von dem Überleben der Gruppe ab. Eine Gruppe mit starken sozialen Instinkten ist einer Anzahl unkoordiniert agierender Individuen überlegen. Auf diese Weise gewinnt die Gruppe mit sozialen Verhaltensweisen gegenüber Individuen und Gruppen, in denen die sozialen Instinkte gar nicht oder nur schwach entwickelt sind, einen Fortpflanzungsvorteil. Gleichzeitig erhöht sich der Anteil der sozialen Instinkte in der gesamten Art. Gruppen mit einem starken sozialen Verhalten haben also nicht nur ein stärker entwickeltes moralisches Gefühl, sondern sie sind auch im Überlebenskampf erfolgreicher. Wie hoch aber auch der soziale Instinkt entwickelt sein mag, er steht in Konkurrenz und nicht selten im Konflikt zu dem der Selbsterhaltung, ja zu dem der Selbstsucht. Dieser ist in der Regel im Moment der stärkere. Wie also kann der Sozialinstinkt sich gegenüber dem der Selbsterhaltung und der Selbstsucht Geltung verschaffen? Der Anspruch sozialer Verhaltensweisen wird durch die Gemeinschaft selbst repräsentiert. Als soziales Tier ist der Mensch auf Anerkennung dieser Gemeinschaft angewiesen. Selbst wenn der soziale Instinkt im Moment der Handlung in den Hintergrund tritt, so ist der Mensch doch in der Lage, den Anspruch der Gemeinschaft in sich zur Geltung zu bringen. Aufgrund welcher Fähigkeit kann er das? Darwins Antwort lautet: Der Mensch kann es, weil er ein moralisches Wesen ist. Und er fährt fort: „Moralisch nennen wir ein Wesen, das imstande ist, seine früheren und künftigen Handlungen oder Motive zu vergleichen und sie zu billigen oder zu verwerfen.“ Und dann trifft er die bemerkenswerte Aussage: „Wir haben keinen Beweis zugunsten der Annahme, daß irgendein Tier diese Fähigkeiten besitzt“ (ebd. 140). Diese spezifisch menschlichen Fähigkeiten sind verbunden mit weiteren intellektuellen. Zu ihnen gehören Gedächtnis und Phantasie, d. h. die Fähigkeit, sich zukünftige Handlungen und deren Folgen vorstellen zu können. Diese Fähigkeiten sind es, die es dem Menschen ermöglichen zu „reflektieren“ und zu einem begründeten Urteil über Motive und Handlungen zu kommen. Sie gehen über das momentane Wirken konkurrierender Instinkte hinaus. Auf der Grundlage dieser Überlegungen kommt Darwin zu dem Urteil, dass der Mensch „allein mit Bestimmtheit als moralisches Wesen zu bezeichnen ist“ (ebd. 140). Die Phantasie als Ursprung des moralischen Urteils ist es auch, die die Entstehung des Gewissens beim Menschen verständlich macht. Darwin erläutert den Ursprung des Gewissens so: „Im Augenblick der Tat wird der Mensch zweifellos bereit sein, dem stärkeren Impuls zu gehorchen; und obgleich er dabei gelegentlich auch zu den edelsten Handlungen veranlaßt wird, wird er doch viel häufiger seinen selbstsüchtigen Motiven auf Kosten anderer Menschen folgen. Wenn aber dann nach ihrer Befriedigung die früheren, jetzt
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schwächer gewordenen Eindrücke an dem immer gegenwärtigen sozialen Instinkt gemessen und in Gedanken dem Urteil der Gefährten unterbreitet werden, so wird sich bei seiner großen Empfänglichkeit für die gute Meinung seiner Mitmenschen die Reue sicher einstellen. Er wird Gewissensbisse, Reue, Bedauern oder Scham empfinden; das letztere Gefühl bezieht sich fast ausschließlich auf das Urteil anderer. Er wird den mehr oder weniger festen Entschluß fassen, in Zukunft anders zu handeln, und dies ist Gewissen; denn das Gewissen schaut zurück und dient zugleich als Führer in der Zukunft“ (ebd. 143).
Der Mensch als moralisches Wesen weist eine komplexe Struktur auf. Phantasie, Reflexion, Scham, Reue, Gewissen, aber auch soziale Instinkte und Selbstsucht spielen zusammen. Gleichwohl darf nicht vergessen werden, dass all diese Aspekte ihre biologische Basis in der natürlichen Zuchtwahl haben. Dazu gehört die schlichte Einsicht: „Kein Stamm könnte ferner mehr zusammenhalten, wenn Mord, Raub, Verrat an der Tagesordnung wären“ (ebd. 148). Das Recht ist eine Überlebensbedingung einer menschlichen Gemeinschaft. Gegen die biologische Fundierung der Moral sind gleichwohl Einwände möglich; und die erörtert Darwin selbst. Zum einen ist die von ihm skizzierte Moral bislang immer nur eine Gruppen- oder Stammesmoral gewesen. Die Überlebenschance einer Gruppe oder eines Stammes erhöht sich, wenn die Gruppe ihre sozialen Verhaltensweisen stärkt. Aber lässt sich der Gedanke verallgemeinern? Darwin ist hier optimistisch. Er sagt: „Wenn der Mensch in der Kultur fortschreitet und kleine Stämme zu größeren Gemeinwesen sich vereinigen, so führt die einfachste Überlegung jeden Einzelnen schließlich zu der Überzeugung, daß er seine sozialen Instinkte und Sympathien auf alle, also auch auf die ihm persönlich unbekannten Glieder desselben Volkes auszudehnen habe. Wenn er einmal an diesem Punkte angekommen ist, kann ihn nur noch eine künstliche Schranke hindern, seine Sympathien auf die Menschen aller Nationen und aller Rassen auszudehnen“ (ebd. 155).
Darwin geht sogar noch einen Schritt weiter. Die Sympathie erstreckt sich schließlich auf das „Wohlwollen über die Schranken der Menschheit hinaus, d. h. Menschlichkeit gegen die Tiere“ (ebd. 156). Sie hat ihr Ziel in der „Idee der Humanität“ (ebd.). Deutlich wird bei diesen Überlegungen, dass Darwin hier das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl überschreitet; denn das hat seinen Sinn ja nur im Kampf ums Dasein mit konkurrierenden Lebewesen entfaltet. Es gibt einen zweiten Punkt, der die Geltung des Prinzips der natürlichen Zuchtwahl für die Begründung der Moral in Frage stellt. Er lässt sich an drei Beispielen verdeutlichen. Ein Genie der Mitmenschlichkeit, das sich im Dienst dem anderen Menschen aufopfert, selbst aber kinderlos bleibt, kann seine positiven moralischen Eigenschaften nicht vererben. Darwin bemerkt hierzu, dass dieser Mensch gleichwohl auf dem Umweg der Wirkung als Vorbild für die Gemeinschaft in dieser selbst Verhaltensweisen einführt, die tradiert und schließlich vererbt werden. Das zweite Beispiel betrifft die Negativauslese im Krieg. Es sind gerade die jungen, gesunden und starken Männer, die geopfert werden, während die untauglichen, körperlich oder geistig schwachen ausgemustert werden und eher die Chance haben zu überleben und sich fortzupflanzen. Umgekehrt bieten wir „alle Geschicklichkeit auf, um das Leben der Kranken so lange
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als möglich zu erhalten“ (ebd. 171). „Infolgedessen können auch die schwachen Individuen der zivilisierten Völker ihre Art fortpflanzen“ (ebd. 172). Moralische Gefühle ersetzen so das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl. Darwin bemerkt: „Die Hilfe, die wir dem Hilflosen schuldig zu sein glauben, entspringt hauptsächlich dem Instinkt der Sympathie, die ursprünglich als Nebenform des sozialen Instinkts auftrat, aber in der schon früher angedeuteten Weise allmählich feiner und weitherziger wurde. Jetzt können wir diese Sympathie nicht mehr unterdrücken, selbst wenn unsere Überlegung es verlangte, ohne daß dadurch unsere edelste Natur an Wert verlöre“ (ebd.).
Die Wirkungsgeschichte Darwins geht über den Bereich der Biologie weit hinaus. Er hat das Verständnis des Menschen grundlegend revolutioniert. Die Evolutionstheorie hat sich, obwohl Darwin das Prinzip der Mutation nicht angemessen berücksichtigt hat, in seinen Grundzügen durchgesetzt. Der Sozialdarwinismus und die Rassenideologie können sich, trotz gewisser ethnozentrischer Vorurteile Darwins, nicht auf ihn stützen. Das belegen seine ethischen Reflexionen, die bestimmt sind von dem Plädoyer für eine die Menschheit umfassende Sympathie, für Humanität und dem Gedanken eines allgemeinen Fortschritts der Kultur (vgl. Voss, 2008, 185). Die gegenwärtige Biologie arbeitet an einer weiteren Differenzierung seines theoretischen Ansatzes, dessen Grundannahmen bislang nicht erschüttert wurden (vgl. Kap. VIII, 3).
2. Ichentwicklung und Ichstärkung (Freud) „Wir nehmen an, daß das Seelenleben die Funktion eines Apparates ist (. . .). Zur Kenntnis dieses psychischen Apparates sind wir durch das Studium der individuellen Entwicklung des menschlichen Wesens gekommen. Die älteste dieser psychischen Provinzen oder Instanzen nennen wir das Es; sein Inhalt ist alles, was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammenden Triebe, die hier (im Es) einen ersten uns in seinen Formen unbekannten psychischen Ausdruck finden. Unter dem Einfluß der uns umgebenden realen Außenwelt hat ein Teil des Es eine besondere Entwicklung erfahren. Ursprünglich als Rindenschicht mit den Organen zur Reizaufnahme und den Einrichtungen zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine besondere Organisation hergestellt, die von nun an zwischen Es und Außenwelt vermittelt. Diesem Bezirk unseres Seelenlebens lassen wir den Namen des Ichs.“ (S. Freud: Abriss der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1994, 42).
Sigmund Freud wird 1856 in Freiberg (Mähren) geboren. Ab 1873 studiert er in Wien Medizin. Seine Lehrer sind der Physiologe von Brücke und der Gehirnanatom Meynert. Nach seinem Militärdienst schließt er 1881 sein Studium ab. 1885 wird er Privatdozent für Nervenkrankheiten. Während seines anschließenden Studienaufenthalts bei dem Psychiater Jean-Marie Charcot an der Salpêtrière in Paris lernt er dessen Methode der Therapie von Hysterie kennen. 1886 eröffnet Freud in Wien eine Praxis für Nervenkrankheiten. 1895 veröffentlicht er zusammen mit seinem Kollegen Josef Breuer seine Studien über Hysterie. In den Jahren 1901/02 unternimmt er Reisen nach Rom und
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Neapel, 1904 nach Athen. 1909 hält er Vorlesungen an der Clark University (Worcester, Mass., USA). 1910 wird die ‚Internationale Psychoanalytische Vereinigung‘ gegründet. 1930 erhält Freud den Goethepreis der Stadt Frankfurt, doch bereits 1933 werden Freuds Schriften von den Nationalsozialisten verbrannt. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im Jahre 1938 siedelt Freud nach London über. Dort stirbt er im Jahre 1939 (vgl. Mannoni, 1972; Jones, 1984). Ausgangspunkt für die von Freud entwickelte Psychoanalyse bilden seine Erfahrungen mit der Therapie von Hysterie. Einen besonderen Erfolg hatte sein Kollege Josef Breuer mit der Anwendung eines von ihm sogenannten kathartischen Verfahrens. Bei ihm wurden die Patienten in Hypnose versetzt und ihnen wurde aufgetragen, sich an das erste Auftauchen ihrer Krankheitssymptome zu erinnern und davon zu erzählen. Dies geschah in der Regel unter einer großen emotionalen Beteiligung. Eine Patientin, die eine unüberwindliche, lebensbedrohliche, Abneigung entwickelt hatte, Flüssigkeit zu sich zu nehmen, erzählte in der Hypnose von ihrer Gesellschafterin, die ihrem Hund erlaubt hatte, aus einem Glas zu trinken. Dieses Erlebnis hatte in ihr einen Ekel gegen jede Art von Trinken ausgelöst. Nach ihrer Erzählung war das Symptom verschwunden; die Patientin geheilt (vgl. Freud, 1985, 30f.). Sie erfand für die Therapie den Ausdruck „talking cure“. Da sich jedoch nicht alle Patienten für die Hypnose eigneten und manche Aspekte der Krankheit auch nicht hinreichend erfasst werden konnten, ersetzte Freud diese Methode durch ein Verfahren, bei dem er die Patienten „eine bequeme Rückenlage auf einem Ruhebett einnehmen läßt, während er selbst, ihrem Anblick entzogen, auf einem Stuhle hinter ihnen sitzt“ (Freud, 1975, 102). Dann bittet er sie, ihm ihre Krankengeschichte zu erzählen und fordert sie auf, „alles mit zu sagen, was ihnen dabei durch den Kopf geht, auch wenn sie meinen, es sei unwichtig oder es gehöre nicht dazu, oder es sei unsinnig. Mit besonderem Nachdrucke aber wird von ihnen verlangt, daß sie keinen Gedanken oder Einfall darum von der Mitteilung ausschließen, weil ihnen diese Mitteilung beschämend oder peinlich ist“ (ebd. 103).
Gerade die peinlichen Erlebnisse sind es, die in der Regel „verdrängt“ und daher „vergessen“ werden. In der Auffüllung dieser Erinnerungslücken besteht gerade das Ziel der Therapie. Aus der kathartischen Methode Breuers entwickelte sich auf diese Weise die Psychoanalyse Freuds. Freud machte nun die Erfahrung, dass die Erinnerungslücken sich in vielen Fällen auf traumatische Erlebnisse in der Kindheit beziehen. Die Einbeziehung des gesamten Lebensverlaufs in die Therapie veranlasste ihn dazu, Überlegungen zu einer eigenen Anthropologie zu entwickeln, die theoretisch stimmig war und die die Grundlage seiner therapeutischen Bemühungen liefern konnte. Bemerkenswert ist nun, dass Freud seine Fülle von anthropologischen Überlegungen nicht zu einem einzigen Konzept verbindet. Es lassen sich bei ihm vielmehr Ansätze zu insgesamt fünf Modellen finden, die er, je nach seiner Aussageabsicht, kombiniert. Er greift dabei auf anthropologische Modelle zurück, die in der Geschichte des europäischen Denkens eine wichtige Rolle gespielt haben, deren Ursprung er aber nicht erwähnt. Es sind die folgenden: Das erste ist das mechanische Modell. Freud sagt: „Wir nehmen an, daß das Seelenleben die Funktion eines Apparates ist, dem wir räumliche
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Ausdehnung und Zusammensetzung aus mehreren Stücken zuschreiben, den wir uns also ähnlich vorstellen wie ein Fernrohr, ein Mikroskop u. dgl.“ (Freud, 1994, 42). Gelegentlich beschreibt er ihn auch als „einen Kessel, voll brodelnder Erregungen“ (Freud, 1997, 511). Der Apparat stellt einen Mechanismus dar, der durch „Energien oder Kräfte“ in Bewegung gesetzt wird. Seelische Probleme haben den Charakter von „Funktionsstörungen“ (Freud, 1994, 78). Vorläufer hierfür sind die Maschinenmodelle von Descartes, Leibniz und La Mettrie. Das zweite Konzept ist das „topische“ Modell (ebd. 57). In ihm spielen „Provinzen“ (ebd. 42) eine Rolle, Bereiche, die zueinander in Beziehung stehen, so die „Außenwelt“ (ebd.), das „Es“ und die zwischen beiden vermittelnde „Rindenschicht“ (ebd.) eines Individuums. Vorläufer sind Epiktet und Augustinus, für deren Anthropologie das Verhältnis von Außen und Innen wichtig war. Das dritte Konzept ist das Herrschaftsmodell. In ihm haben „Instanzen“ (ebd. 42) eine Bedeutung, die die Tendenz haben, Anteile der Seele zu unterdrücken und sich zu unterwerfen. Ihnen gegenüber hat sich das Ich zu behaupten. Vorläufer wäre das platonische Staatsmodell, nach dem die Herrschaft in einem Staat vergleichbar ist mit der Herrschaft des oberen Seelenteils über die niederen. Das vierte Konzept ist ein Modell der „Ökonomik“ (ebd. 52). Nach ihm gibt es eine Art Seelenhaushalt, der ausgeglichen oder unausgeglichen ist. In ihm spielt der Ausgleich von Spannungen und „quantitativen Disharmonien“ (ebd. 78) eine Rolle. Zu erinnern wäre an die Säftelehre von Hippokrates und an den Gedanken der ‚ataraxia‘, der Ausgeglichenheit der Seele bei Epikur. Das fünfte Konzept ist das genetische Modell, das im Folgenden den Leitfaden für die Darstellung der Anthropologie Freuds bilden soll. Ausgangspunkt ist hier eine ursprüngliche Einheit, die sich in der weiteren Entwicklung immer weiter differenziert. Vorbild hierfür ist die Embryologie, aber auch die Evolutionstheorie von Darwin. Eine gedrängte Zusammenfassung seiner durch die Psychoanalyse motivierten Anthropologie gibt Freud in seinem zur Zeit seiner Emigration nach England verfassten Abriss der Psychoanalyse aus dem Jahre 1938. Freud beginnt seine Überlegungen mit dem Hinweis, dass die Psychoanalyse eine „Grundvoraussetzung“ macht, „deren Diskussion philosophischem Denken vorbehalten bleibt, deren Rechtfertigung in ihren Resultaten liegt“ (ebd. 41). Er beschreibt diese Voraussetzung so: „Von dem, was wir unsere Psyche (Seelenleben) nennen, ist uns zweierlei bekannt, erstens das körperliche Organ und Schauplatz desselben, das Gehirn (Nervensystem), anderseits unsere Bewußtseinsakte, die unmittelbar gegeben sind und uns durch keinerlei Beschreibung nähergebracht werden können. Alles dazwischen ist uns unbekannt, eine direkte Beziehung zwischen beiden Endpunkten unseres Wissens ist nicht gegeben. Wenn sie bestünde, würde sie höchstens eine genaue Lokalisation der Bewußtseinsvorgänge liefern und für deren Verständnis nichts leisten“ (ebd. 41).
Unbekannt ist auch die Verbindung der individuellen Körperorganisation zu ihrer phylogenetischen Basis (ebd. 97). Freud transformiert das Leib-Seele-Problem in das des Verhältnisses von körperlicher Organisation und Bewusstsein. Die Psyche, das Seelenleben, unterhält Beziehungen zu beiden Seiten hin, doch bleiben die Verbindungslinien, besonders die zur körperlichen Organisation hin, rätselhaft. Die Psyche
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umfasst im Wesentlichen drei „Provinzen oder Instanzen“, die eine entwicklungsgeschichtliche Einheit bilden. Es sind: Das Es, das Ich und das Über-Ich. Das Es bildet die älteste psychische Instanz. Sie repräsentiert das Erbgut des Menschen, seine Konstitution und die „aus der Körperorganisation stammenden Triebe“ (ebd. 42). Freud charakterisiert das Es wie folgt: „Die Macht des Es drückt die eigentliche Lebensabsicht des Einzelwesens aus. Sie besteht darin, seine mitgebrachten Bedürfnisse zu befriedigen. (. . .) Die Kräfte, die wir hinter den Bedürfnisspannungen des Es annehmen, heißen wir Triebe. Sie repräsentieren die körperlichen Anforderungen an das Seelenleben“ (ebd. 44).
Worin aber besteht die eigentliche Lebensabsicht, die durch „das dunkle Es“, das den „Kern unseres Wesens bildet“, repräsentiert wird? Freuds Antwort ist eindeutig: „Das Es gehorcht dem unerbittlichen Lustprinzip“ (ebd. 94). Unmissverständlich erklärt er: Es sind die „Lust-Unlustempfindungen“, die „die Abläufe im Es mit despotischer Gewalt beherrschen“ (ebd.). Freuds Trieblehre hat im Laufe der Zeit eine erhebliche Veränderung erfahren. Unterschied er ursprünglich noch zwischen einem Selbsterhaltungs- und einem Arterhaltungstrieb, so fasste er später beide unter einen einzigen zusammen, den er Eros nannte. Als seinen Gegenspieler konzipierte er ab 1920, möglicherweise auch auf dem Hintergrund der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, den Destruktions- oder Todestrieb. Den Zusammenhang beider Triebe beschreibt Freud so: „Nach langem Zögern und Schwanken haben wir uns entschlossen, nur zwei Grundtriebe anzunehmen, den Eros und den Destruktionstrieb (. . .). Das Ziel des ersten ist, immer größere Einheiten herzustellen und so zu erhalten, also Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören. Beim Destruktionstrieb können wir daran denken, daß als sein letztes Ziel erscheint, das Lebende in den anorganischen Zustand zu überführen. Wir heißen ihn darum auch Todestrieb“ (ebd. 45).
Das Ziel des Todestriebes ist es, das Lebende wieder in den Zustand zurückzuversetzen, aus dem es sich einst entwickelte. Als Beispiele für das Zusammenspiel beider Triebe nennt er die biologische Funktion des Essens und den Sexualakt. „So ist der Akt des Essens eine Zerstörung des Objekts mit dem Endziel der Einverleibung, der Sexualakt eine Aggression mit der Absicht der innigsten Vereinigung. Dieses Mitund Gegeneinanderwirken der beiden Grundtriebe ergibt die ganze Buntheit der Lebenserscheinungen“ (ebd. 45).
Freud nimmt darüber hinaus an, dass beide Grundtriebe in Analogie stehen „zu dem im Anorganischen herrschenden Gegensatzpaar von Anziehung und Abstoßung“ (ebd.). Der Eros repräsentiert eine Energie, die Freud als Libido bezeichnet (ebd. 46). Die Libido repräsentiert das Lustprinzip. Die Libido hat somatische Quellen, bezieht sich auf bestimmte Körperstellen, die sogenannten „erogenen Zonen“ und hat als Triebziel die
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Sexualerregung. Durch sie entsteht eine „Reizspannung“, die als Unlust, während „deren Herabsetzung als Lust empfunden“ wird (ebd. 43). Freud überlegt, ob das Lustprinzip nicht möglicherweise sogar in einer Beziehung zum Todestrieb steht. Er sagt: „Die Erwägung, daß das Lustprinzip eine Herabsetzung, im Grunde vielleicht ein Erlöschen der Bedürfnisspannungen (Nirwana) verlangt, führt zu noch nicht gewürdigten Beziehungen des Lustprinzips zu den beiden Urkräften, Eros und Todestrieb“ (ebd. 94). Im Unterschied zu Freuds Libidotheorie stieß seine Annahme eines Destruktionstriebes auch bei seinen Anhängern auf viel Ablehnung (vgl. Fromm, 1977). Freud äußert sich über die Kritiker des Destruktionstriebes ironisch so: „Denn die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum ‚Bösen‘, zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird“ (Freud, 1974, 247f.). Das Es und die mit ihm verbundenen Grundtriebe bestimmen den Menschen während seines ganzen Lebens. Gleichwohl ist das Es nicht in der Lage, die Existenz des Menschen zu garantieren. Es unterliegt einem entscheidenden Mangel. Freud formuliert ihn so: „Eine Absicht, sich am Leben zu erhalten und sich durch die Angst vor Gefahren zu schützen, kann dem Es nicht zugeschrieben werden“ (Freud, 1994, 44). Die Erhaltung des Lebens muss von einer anderen Instanz übernommen werden, die aber erst entwickelt werden muss. Die Voraussetzung hierfür liegt in den körperlichen „Organen zur Reizaufnahme“, den Sinnesorganen, die das Es gebildet hat. Mit ihnen nimmt es Kontakt mit der Außenwelt auf. Sie bilden eine Art „Rindenschicht“ und vermitteln zwischen Es und Außenwelt. Freud definiert: „Diesem Bezirk unseres Seelenlebens lassen wir den Namen des Ichs“ (ebd. 42, vgl. Text). Dem Ich kommt eine zentrale Rolle für den Menschen zu. Seine vornehmliche Aufgabe besteht in der Selbsterhaltung. Diese kann es nur erfüllen, wenn das Ich sich selbst behaupten kann, sowohl gegenüber den Herausforderungen und Gefahren der Außenwelt, aber auch gegen die Triebansprüche des Es. Die vielfältigen Leistungen, die das Ich zu vollbringen hat, beschreibt Freud so: „Infolge der vorgebildeten Beziehung zwischen Sinneswahrnehmung und Muskelaktion hat das Ich die Verfügung über die willkürlichen Bewegungen. Es hat die Aufgabe der Selbstbehauptung, erfüllt sie, indem es nach außen die Reize kennenlernt, Erfahrungen über sie aufspeichert (im Gedächtnis), überstarke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Reizen begegnet (durch Anpassung) und endlich lernt, die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu verändern (Aktivität); nach innen gegen das Es, indem es die Herrschaft über die Triebansprüche gewinnt, entscheidet, ob sie zur Befriedigung zugelassen werden sollen, diese Befriedigung auf die in der Außenwelt günstigen Zeiten und Umstände verschiebt oder ihre Erregungen überhaupt unterdrückt“ (ebd. 42f.).
Die Selbstbehauptung gelingt aber nur, wenn das Ich flexibel handelt. In Bezug auf die Außenwelt bedeutet das, dass es sich an ihre Eigenarten entweder anpasst oder sie zu seinem Vorteil verändert; in Bezug auf das Es, dass es die Triebansprüche entweder befriedigt, sie aufschiebt oder ganz unterdrückt. Das erfordert ein hohes Urteilsvermögen, und um das zu schulen, ist im Gedächtnis gespeicherte Erfahrung notwendig. Bei seiner Vermittlungstätigkeit misst das Ich der Realität der Außenwelt, d. h. der „Realitätsprüfung“ (ebd. 95), eine größere Bedeutung bei als den Triebansprüchen des Es. Das Ich vertritt gegenüber dem Es das „Realitätsprinzip“ (ebd.). Denn während das Es „keine
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Fürsorge für die Sicherung des Fortbestandes, keine Angst“ (ebd. 94) kennt, hat sich das Ich „die Aufgabe der Selbsterhaltung gestellt“ (ebd. 95). Mit der Kontrolle des Ichs über Es und Außenwelt ist aber die Entwicklung des Ichs noch nicht abgeschlossen. Zu einem Teil der Außenwelt, nämlich seinen Eltern, entwickelt das Ich ein spezifisches Verhältnis. Im Verhältnis zu ihnen bildet sich das ÜberIch. Freud beschreibt diesen Entwicklungsschritt so: „Als Niederschlag der langen Kindheitsperiode, während der der werdende Mensch in Abhängigkeit von seinen Eltern lebt, bildet sich in seinem Ich eine besondere Instanz heraus, in der sich dieser elterliche Einfluß fortsetzt. Sie hat den Namen des Über-Ichs erhalten. Insoweit dieses Über-Ich sich vom Ich sondert oder sich ihm entgegenstellt, ist es eine dritte Macht, der das Ich Rechnung tragen muß“ (ebd. 43).
Freud betont, dass im Elterneinfluss nicht nur „das persönliche Wesen der Eltern“ zum Ausdruck kommt, sondern ebenso die Einflüsse der Tradition der Familie, des Volkes, der „Rasse“ und des sozialen Milieus. „Ebenso nimmt das Über-Ich im Laufe der individuellen Entwicklung Beiträge von seiten späterer Fortsetzer und Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher, öffentliche Vorbilder, in der Gesellschaft verehrter Ideale“ (ebd.). Die wesentlichen Strukturen des Über-Ichs bilden sich in den ersten fünf Lebensjahren. In ihnen findet aber auch die entscheidende psycho-sexuelle Entwicklung des Kindes statt. Freud betont, dass es ein Fehler sei, die frühkindliche Sexualität zu leugnen und anzunehmen, sie beginne erst mit der Pubertät. Zudem sei es notwendig, den Begriff der Sexualität zu erweitern. Er bezieht sich keineswegs nur auf den Gebrauch der Geschlechtsorgane, sondern umschließt alle Formen des Lustgewinns, die sich aus der körperlichen Organisation des Menschen ergeben. Auf der Grundlage dieses erweiterten Begriffs von Sexualität beschreibt Freud vier Phasen der psycho-sexuellen Entwicklung des Kindes. Es sind: die orale Phase, die sadistisch-anale, die phallische und, nach einer längeren „Ruhepause“, die genitale. Freud hat mit dieser Theorie, ähnlich wie mit seiner Theorie der Destruktivität, auch unter seinen Anhängern heftige Kritik hervorgerufen (vgl. Horney, 1997). Er hielt gleichwohl an ihr fest, weil nur sie die Entwicklung des Über-Ichs verständlich zu machen schien. Die erste, die orale, Phase beschreibt Freud so: „Das erste Organ, das als erogene Zone auftritt und einen libidinösen Anspruch an die Seele stellt, ist von der Geburt an der Mund. Alle psychische Tätigkeit ist zunächst darauf eingestellt, dem Bedürfnis dieser Zone Befriedigung zu schaffen. Diese dient natürlich in erster Linie der Selbsterhaltung durch Ernährung, aber man darf Physiologie nicht mit Psychologie verwechseln. Frühzeitig zeigt sich im hartnäckig festgehaltenen Lutschen des Kindes ein Befriedigungsbedürfnis, das – obwohl von der Nahrungsaufnahme ausgehend und von ihr angeregt – doch unabhängig von Ernährung nach Lustgewinn strebt und darum sexuell genannt werden darf und soll“ (ebd. 49).
Die zweite, die sadistisch-anale, charakterisiert er wie folgt: „Schon während dieser oralen Phase treten mit Erscheinen der Zähne sadistische Impulse isoliert auf. In viel größerem Umfang in der zweiten Phase, die wir die sadistisch-anale
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heißen, weil hier die Befriedigung in der Aggression und in der Funktion der Exkretion gesucht wird. Wir begründen das Recht, die aggressiven Strebungen unter der Libido anzuführen, auf die Auffassung, daß der Sadismus eine Triebmischung von rein libidinösen mit rein destruktiven Strebungen ist, eine Mischung, die von da an nicht aufhören wird“ (ebd. 50).
Die dritte, die phallische Phase, verläuft beim Knaben und beim Mädchen sehr unterschiedlich. Die „Zweiheit der Geschlechter“ ist für Freud eine „biologische Tatsache“, die unserer Erkenntnis trotzt und daher in ihrer „großen Rätselhaftigkeit“ zu akzeptieren ist (ebd. 83). Psychologisch bedeutet diese Phase Folgendes: Der Knabe und das Mädchen haben zunächst ein intellektuelles Interesse an der Erkundung der Sexualität. Beide „gehen von der Voraussetzung des Allgemeinvorkommens des Penis aus. Aber jetzt scheiden sich die Wege der Geschlechter. Der Knabe tritt in die Ödipusphase ein, er beginnt die manuelle Betätigung am Penis mit gleichzeitigen Phantasien von irgendeiner sexuellen Betätigung desselben an der Mutter, bis er durch Zusammenwirkung einer Kastrationsdrohung und dem Anblick der weiblichen Penislosigkeit das größte Trauma seines Lebens erfährt, das die Latenzzeit mit allen ihren Folgen einleitet. Das Mädchen erlebt nach vergeblichem Versuch, es dem Knaben gleichzutun, die Erkenntnis ihres Penismangels (. . .) mit dauernden Folgen für die Charakterentwicklung; infolge dieser ersten Enttäuschung in der Rivalität häufig mit erster Abwendung vom Sexualleben überhaupt“ (ebd. 50f.).
Wie unterschiedlich die Entwicklung von Knaben und Mädchen in dieser dritten Phase auch ablaufen mag, in einem stimmen sie überein: Sie beenden im Alter von ca. fünf Jahren die erste Phase der psycho-sexuellen Entwicklung und leiten die Latenzperiode ein, die eine „Ruhepause“ darstellt. Es ist bemerkenswert, dass Freud die Latenzphase nicht biologisch, sondern psychologisch begründet. Sie endet mit der Pubertät. Mit ihr beginnt die vierte Phase, die genitale. Während in den früheren Phasen die Partialtriebe unabhängig voneinander Lusterwerb anstrebten, werden diese in der Pubertät durch die volle Organisation der Sexualfunktionen in ein allgemeines Luststreben eingeordnet. Die psycho-sexuelle Entwicklung ist eingebettet in den Kontext der Eltern-KindBeziehung. Jede dieser Phasen ist Teil der Erziehung und als solche bestimmt durch Gebote und Verbote. In ihnen artikuliert sich das Über-Ich. Das gilt für die orale Phase, in der die gewährte oder vorenthaltene Nahrung die entscheidende Rolle spielt, ebenso wie für die sadistisch-anale, in die der Schwerpunkt der Reinlichkeitserziehung fällt. Von besonderer Bedeutung ist aber die phallische Phase, in der Gebote und Verbote sich mit Drohungen und Enttäuschungen verbinden. Das Motiv des Kindes, seinen Eltern zu gehorchen, ist „die Angst vor dem Liebesverlust“ (ebd. 96). Sie erreicht in der dritten Phase ihren Höhepunkt. Freud bringt sie daher mit der Entstehung des Über-Ichs in einen direkten Zusammenhang. Er sagt: „In der Tat ist das Über-Ich der Erbe des Ödipuskomplexes und wird erst nach der Erledigung desselben eingesetzt“ (ebd. 101). An die Stelle des reinen Lustprinzips tritt in immer stärkerem Maße das Über-Ich. Die Entwicklung des Über-Ichs aber geht noch weiter. Identifiziert das Kind bis zu seinem fünften Lebensjahr die Gebote und Verbote, denen es folgt, mit seinen Eltern, beginnt anschließend eine Phase, in der diese durch Identifizierung „ins Ich aufgenommen,
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also ein Bestandteil der Innenwelt“ werden. Durch diese Identifizierung wird aus dem Über-Ich das „Gewissen“ (ebd. 101). Die innere Stimme des Gewissens ersetzt die tatsächlich von den Eltern ausgesprochenen Gebote und Verbote. Es geschieht aber noch mehr. Bedeutsam ist, dass das zum Gewissen gewordene Über-Ich „häufig eine Strenge entfaltet, zu der die realen Eltern nicht das Vorbild gegeben haben. Auch daß es das Ich nicht nur wegen seiner Taten zur Rechenschaft zieht, sondern ebenso wegen seiner Gedanken und unausgeführten Absichten, die ihm bekannt zu sein scheinen“ (ebd. 101). Es ist die übergroße Strenge des Über-Ichs, die, in der Verbindung mit den übrigen Herausforderungen der Innenwelt und der Außenwelt, zu einer Schwächung des Ichs und in vielen Fällen auch zu psychischen Erkrankungen führen. Freud beschreibt die Situation des geschwächten Ichs wie folgt: „Dieses Ich kann die Aufgabe, welche ihm die Außenwelt einschließlich der menschlichen Gesellschaft stellt, nicht mehr erfüllen. Es verfügt nicht über all seine Erfahrungen, ein großer Teil seines Erinnerungsschatzes ist ihm abhanden gekommen. Seine Aktivität wird durch strenge Verbote des Über-Ichs gehemmt, seine Energie verzehrt sich in vergeblichen Versuchen zur Abwehr der Ansprüche des Es. Überdies ist es infolge der fortgesetzten Einbrüche des Es in seine Organisation geschädigt, in sich gespalten, bringt keine ordentliche Synthese mehr zustande, wird von einander widerstrebenden Strebungen, unerledigten Konflikten, ungelösten Zweifeln zerrissen“ (ebd. 76).
Psychoanalyse als Therapie hat es mit dem geschwächten, dem kranken Ich zu tun. Bemerkenswerterweise ist es die seit der Antike bekannte und empfohlene Devise der Selbsterkenntnis, die für Freud zum Ausgangspunkt der Therapie wird. Er sagt: „Unser Weg, das geschwächte Ich zu stärken, geht von der Erweiterung seiner Selbsterkenntnis aus. Wir wissen, dies ist nicht alles, aber es ist der erste Schritt. Der Verlust an solcher Kenntnis bedeutet für das Ich Einbuße an Macht und Einfluß, er ist das nächste greifbare Anzeichen dafür, daß es von den Anforderungen des Es und des ÜberIchs eingeengt und behindert ist. Somit ist das erste Stück unserer Hilfeleistung eine intellektuelle Arbeit von unserer Seite und eine Aufforderung zur Mitarbeit daran für den Patienten“ (ebd. 72).
Das Ziel der Ichstärkung ist es, den Patienten in die Lage zu versetzen, auf die drei großen Herausforderungen, denen er sich täglich zu stellen hat, eine angemessene Antwort zu finden: der Herausforderung der realen Außenwelt, den Triebansprüchen des Es und den Geboten des Über-Ichs. Die angemessene Antwort bedeutet weder kritiklose Unterwerfung unter diese Ansprüche, noch ebenso kritiklose Abweisung. Es kommt vielmehr darauf an, sie zu prüfen und unter dem Gesichtspunkt der Selbstbehauptung des Ichs miteinander zu vermitteln. Freud sagt: „Eine Handlung des Ichs ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß“ (ebd. 43). Schematisch lässt sich die Entwicklung und die Stellung des Ichs im Verhältnis zum Es, zur realen Außenwelt und zum Über-Ich, von unten nach oben gelesen, so darstellen:
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Außenwelt – Realität Physische Außenwelt
Außenwelt - Realität Eltern u.a. moralische Instanzen; Über-Ich
(Leistung des Ichs: Anpassung an die physische Realität und ihre Veränderung)
(Leistung des Ichs: Identifizierung mit dem Über-Ich (Gewissen) und Selbstbehauptung ihm gegenüber) Ich – Innenwelt Realitätsprinzip: Selbsterhaltung und modifiziertes Lustprinzip (Leistung des Ichs: Herrschaft über die Ansprüche des Es) Es (Lustprinzip) Haupttriebe: Eros und Destruktion Körperorganisation Ursprung der Triebe Phylogenetische Basis
Unter dem Gesichtspunkt der Ethik stellen sich Freuds Überlegungen zum Über-Ich und zum Gewissen wie folgt dar: Seine Darstellung ist als eine Genealogie der Moral unter therapeutischem Gesichtspunkt zu verstehen. Im Interesse der Gesundheit des Ichs erfolgt keine inhaltliche Überprüfung der moralischen Ansprüche, sondern lediglich eine quantitative. Diese müssen bei einem geschwächten Ich gesenkt werden. Die therapeutisch motivierte Ich-Stärkung ist aber auch kein Selbstzweck. Ziel ist es vielmehr, einen, der Gesundheit des Ichs dienenden, Ausgleich zu schaffen zwischen dem Ich, dem Es, der physischen Außenwelt und den moralischen Ansprüchen der Gesellschaft. Freuds Überlegungen thematisieren nicht mehr, wie noch bei Kant, ein starkes Ich, das tendenziell seine Ansprüche unangemessen ausdehnt und dem daher durch einen kategorischen Imperativ Grenzen gezogen werden müssen, sondern ein bedrohtes und geschwächtes Ich, das um Selbsterhaltung und Selbstbehauptung kämpfen muss. Freuds Überlegungen dienen daher nicht einer imperativischen Ethik, sondern einer therapeutischen. Freuds Wirkungsgeschichte hat ihr Zentrum in der Verbreitung der Psychoanalyse als Therapie und in den ihr verwandten Therapieformen, wie z. B. der Gesprächspsychotherapie. Seine Hauptwirkung liegt im Bereich der klinischen Psychologie und weniger in seinen theoretischen Entwürfen. Der Destruktionstrieb und der Ödipuskom-
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plex sind schon früh kritisiert worden, andere Theorieelemente sind noch in der Diskussion. Gleichwohl hat sein Ansatz das Denken verändert. Begriffe wie „Verdrängung“ oder der sogenannte „Freudsche Versprecher“ sind ebenso Allgemeingut geworden wie der „Ödipuskomplex“. Die einflussreiche Psychologie von Piaget thematisiert zwar auch Stufen der moralischen Entwicklung des Kindes, verwendet aber andere Methoden und andere Begriffe.
3. Die Bildung der menschlichen Gestalt (Portmann) „Vergleichen wir nun die Entwicklungsweise des Menschen mit den (. . .) wichtigsten Zügen der Ontogenese höherer Säuger. Da fällt als bedeutendster Gegensatz auf, daß der neugeborene Mensch weder in Bewegungsart noch in der Körperhaltung oder in seiner Kommunikationsweise den artgemäßen Typus der Reifeform erreicht hat. Statt bis zu dieser Ausbildungsstufe im Mutterschoße heranzureifen, zu einem Jungtier der höchstentwickelten Säugerform, wird das kleine Menschenwesen auf einer viel früheren Stufe bereits aus dem Mutterleibe entlassen und ‚zur Welt gebracht‘. (. . .) Die Zeit, die der Mensch, als echtes Säugetier aufgefaßt, noch im Mutterleibe verbringen müßte, (. . .) entspricht (. . .) etwa dem ersten Lebensjahr nach der Geburt. Diese Periode erscheint durch den Gegensatz zu tierischer Norm in einem besonderen Lichte. Wir nennen sie die ‚extra-uterine Frühzeit‘ (. . .).“ (A. Portmann: Zoologie und das neue Bild vom Menschen. Basel 1969, 88f.).
Adolf Portmann wird 1897 in Basel geboren. Er studiert dort Zoologie. In den Jahren 1922–24 folgen Studienaufenthalte in München, auf Helgoland, in Berlin, Paris und Banyuls-sur-mer. 1926 wird er Privatdozent in Basel und von 1931 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1968 ist er dort Ordinarius und Direktor des Zoologischen Instituts. 1947 wird er Rektor der Universität Basel. In den folgenden Jahren wird er Mitglied und Ehrenmitglied zahlreicher, nationaler und internationaler, wissenschaftlicher Gesellschaften. 1965 erhält er den Sigmund-Freud-Preis der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und 1976 den Goethe-Preis für Kunst und Wissenschaft der Goethe-Stiftung Zürich sowie die Goldmedaille der Humboldtgesellschaft. Er stirbt 1982 in Basel (vgl. Illies, 1981). Für Adolf Portmann stellt die Evolutionstheorie den Rahmen seiner eigenen zoologischen Forschungen dar. Er sagt: „Die Anerkennung der erdgeschichtlichen Entfaltung der Organismenwelt als Vorgang einer Selbstdifferenzierung des Lebens ist als ‚Allgemeine Evolutionstheorie‘ wohl eine Grundannahme der gegenwärtigen Lebensforschung“ (Portmann, 1979, 39). Die noch offenen Fragen beziehen sich auf Detailfragen. Die Evolutionstheorie umfasst drei Phasen: Die erste Phase ist der Darwinismus selbst, die zweite der Neodarwinismus und die dritte eine Allgemeine Evolutionstheorie. Grundvoraussetzung der Evolutionstheorie ist die Annahme, dass sich aus „anorganischer Substanz früheste Formen des Lebendigen gebildet hätten“ (ebd. 24). Unbeantwortet ist die Frage: „War das ein einmaliges Geschehen in ferner Urzeit oder geschieht es gar heute noch?“ (ebd.). Um diese Frage zu beantworten, sind zahlreiche Versuche unternommen worden, Bedingungen für die Entstehung von Leben unter Laborbedingungen zu erzeugen. „Das Ergebnis ist der Nachweis, daß bei sorgfältiger Kontrolle
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aller Ausgangsstoffe (. . .) tatsächlich einfache organische Verbindungen wie Essigsäure, Aminosäuren u.a. in beträchtlichem Ausmaß entstehen“ (ebd. 27). Allerdings gilt auch: „Der Übergang aber zu einem sich selbst erhaltenden und selbst vermehrenden organischen Wesen auch einfachster Art ist nach wie vor eine andere Frage“ (ebd. 29). Eine erste bedeutsame Differenz innerhalb des Lebens ergibt sich aus dem Unterschied einzelliger und mehrzelliger Lebenseinheiten. Das charakteristische Merkmal der einzelligen Lebenseinheit ist, dass die „Vermehrung der Lebenseinheiten durch Teilungen“ erfolgt, „in denen die selbstvermehrenden Elemente jeweils an zwei Tochtergebilde weitergegeben werden“ (ebd. 16). Das bedeutet, „daß es in dieser Lebenssphäre keinen echten Tod gibt“ (ebd.). Wichtig ist auch die Erkenntnis, „daß die ersten Lebensstufen weder Pflanzen noch Tiere genannt werden können“ (ebd. 31). Gegenüber dieser „protovitalen“ Lebensstufe sind die minimalen Anforderungen, die an ein „‚erstes‘ Lebewesen“ gestellt werden, höher. Es hat eine komplexe Struktur und ist ein System. „Eine solche bereits höhermolekulare Struktur, welche sich dank ihren Systemeigenschaften im Austausch von Stoffen mit der Umgebung selbst erhält und sich fortpflanzt, muß das Gefüge ihrer selbstreproduzierbaren Komponenten gegen außen in einer offenen Weise abschließen. Eine Grenzmembran wird daher ein wichtiges Organ des einfachsten Organismus“ (ebd. 31 f.).
Die Bedingungen der Fortpflanzung von Lebewesen bilden nun den Ausgangspunkt der Evolutionstheorie Darwins. Entgegen der verbreiteten Annahme, Darwin habe für die Entwicklung von Arten lediglich die Selektion verantwortlich gemacht, ist zu betonen, dass das Zusammenwirken von drei Faktoren bei ihm eine wichtige Rolle spielt. Es sind: erbliche Variation, Selektion und Isolation. Darwin erwähnt wiederholt das Prinzip der Variation. Es bedeutet, dass die Nachkommen eines Lebewesens unterschiedlich ausfallen. Er unterschied aber noch nicht zwischen den erblichen und den nicht erblichen Variationen. Schließlich spielt neben der Selektion der Faktor der Isolation eine wichtige Rolle. Er bedeutet, dass durch „räumliche Sonderung oder durch zeitliche Verschiebung der Fortpflanzungstätigkeit“ (ebd. 38) sich ein Überlebensvorteil eines bestimmten Typus ergeben kann. Die Grenze des Ansatzes von Darwin besteht darin, dass er der Mutation keinen angemessen Platz in seinem Konzept einräumte. Die Wiederentdeckung der von Gregor Mendel (1822–1884) gefundenen Erbgesetze bedeutete eine entscheidende Ergänzung der Theorie Darwins. Zunächst schien es allerdings so, als wären durch diese Gesetze die Annahmen Darwins widerlegt; denn die „ursprüngliche Vererbungsforschung führte zu konservativen Gedankengängen“, da sie „doch in eindrücklichster Weise gerade das Wirken jener Faktoren, denen die Bewahrung, die Konstanz der Organisation anvertraut ist“, betonen (ebd. 36). Doch zu Beginn des 20. Jh.s wird die „revolutionäre“ Seite der Vererbung entdeckt: „1909 findet man die ersten erblichen, sprunghaften Veränderungen im Laboratorium und beginnt nun, für Pflanzen und Tiere solche ‚Mutationen‘ genauer zu erforschen. 1927 gelingt die Provokation derartiger bleibender Veränderungen durch Strahleneinwirkungen, und zu Beginn des Zweiten Weltkrieges kennen wir auch bereits die Möglichkeit chemischer Auslösung von Erbänderungen“ (ebd. 36).
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Bald wird das Prinzip der Mutation auch in größeren Verbänden von Organismen erforscht. Es entwickelt sich die Populationsgenetik. All diese Forschungsergebnisse verändern den Ansatz von Darwin in so gravierender Weise, dass für die erweiterte Theorie der Evolution der Name Neodarwinismus eingeführt wird. Von nun an werden Selektion und Mutation als die entscheidenden Konstrukteure der Evolution angesehen. Beide werden jedoch lediglich unter funktionalem Gesichtspunkt, d. h. unter Beachtung lebenserhaltender, zweckmäßiger Strukturen, interpretiert. Eine Allgemeine Evolutionstheorie – so Portmann – darf jedoch dabei nicht stehen bleiben. Sie übersähe nämlich einen dritten wichtigen Faktor der Evolution, und der besteht in der nur sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung von Gestalten. Die Bedeutung des „Gestaltphänomens“ wird sinnenfällig deutlich auf der Ebene der Differenzierung der Geschlechter. Die Ausbildung typischer Geschlechtsmerkmale wird unter funktionalem Gesichtspunkt als Fortpflanzungsvorteil interpretiert. Dabei wird jedoch übersehen, dass jede Auslese nur bereits Vorhandenes, „mindestens in Anfängen Vorhandenes betreffen“ kann, d. h. es wird die Existenz der Merkmale vorausgesetzt, die erst den „späteren Selektionswert“ ausmachen sollen. Nicht der Selektionswert ist das Kriterium der Ausbildung geschlechtstypischer Merkmale – so Portmann – sondern die Gestalt. Er betont: „Nun beobachten wir aber, daß die ausgelesenen Merkmale, so etwa Farbmuster, Gehörne, Geweihe oder auch Gesang, alle Gestaltcharakter haben, was auf geordnete Komplexe von Ursachen zurückweist. Die Formen, die wir im Dienste der Sexualität vorfinden, sind Teil von viel umfassenderen Gestaltphänomenen“ (ebd. 44). Evolution darf daher nicht nur als Selektionsprozess im Dienste der Arterhaltung verstanden werden, sondern als eine ganz eigenständige, zweckfreie, Hervorbringung von Gestalten. Diese haben einen ästhetischen Charakter. Mit der Betonung der ästhetischen und morphologischen Aspekte von Lebewesen steht Portmann in der Tradition der Naturforschung von Goethe und Alexander von Humboldt. Portmann sieht es als eine wesentliche Aufgabe der Lebensforschung an, die Gestaltcharaktere von Lebewesen zu erfassen. Er erläutert diesen Ansatz am Beispiel des Verhältnisses von Blüte und Blatt beim Tulpenbaum. Er sagt: „Niemand wird die natürliche Ordnung des Ranges verkennen, welche die Pflanze selber uns lehrt: den Vorrang der Blütengestalt. Aber wir werden auch mit innerster Teilnahme den Gestaltbeziehungen nachgehen, welche die Form der Blüte mit den Blättern verbinden und auf eine innige Verwandtschaft der Anlagen hinweisen“ (Portmann, 1978, 48).
Portmann nennt zwei weitere Faktoren, um die die Evolutionstheorie zu erweitern ist. Es sind „die zwei obersten Kennzeichen des Lebendigen“: „Innerlichkeit des Welterlebens und Selbstdarstellung in der Gestalt“ (Portmann, 1979, 68f.). Den ersten Aspekt erläutert er am Beispiel der Betrachtung eines Waldkauzes. Dabei wird deutlich, wie sehr Portmann seinen naturwissenschaftlichen Ansatz mit einem umfassenderen Verständnis der Natur zu verbinden sucht, das er „Naturkunde“ nennt (ebd. 73). Sie ist bestimmt durch Respekt vor dem Leben. Portmanns Reflexion bei der Betrachtung eines Waldkauzes lautet so:
3. Die Bildung der menschlichen Gestalt (Portmann)
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„Der Blick in die großen Augen des Waldkauzes, das Versenken in die Ausdrucksmacht dieses Kopfes, dieses Hauptes, mahnt uns daran, was das höhere Tierleben bedeutet. Hier blickt uns ein Wesen an, das sein eigenes Welterleben hat, das Raum und Zeit nach eigenem Artgesetz erlebt. Allem nachzuspüren, was von dieser Innerlichkeit zeugt, von der Struktur des Nervensystems und der Sinnesorgane bis zur Eigenart des Verhaltens, ist eine der großen Aufgaben der zoologischen Arbeit“ (Portmann, 1978, 288).
Schließlich ist das Prinzip der Selbstdarstellung zu erläutern. Portmann weist als Beispiel, diesmal in anthropologischer Perspektive, auf jene jugendlichen Motorradfahrer hin, für die der „Lärm der Motorräder (. . .) nicht ohne weiteres ein schwer vermeidliches Übel bedeutet“, sondern eine Form der „Selbststeigerung“ und „Selbstdarstellung“ (Portmann, 1979, 101). Gestaltphänomene, Innerlichkeit als Welterleben und Selbstdarstellung sind die zweckfreien Formen, unter denen die Entwicklung der Natur, im Sinne einer wesentlichen Ergänzung der Evolutionstheorie, zu betrachten ist. Portmanns Anthropologie lässt sich von diesen Aspekten leiten. Er betrachtet den Menschen als eine spezifische Gestalt des Lebens. Um die Sonderstellung des Menschen zu beschreiben, greift auch er auf den Tier-Mensch-Vergleich zurück. Er tritt jedoch der tradierten Auffassung entgegen, den Menschen pauschal als ein Mängelwesen zu bezeichnen. Es kommt ihm vielmehr darauf an, diese These zu prüfen und dabei auf bislang übersehene Aspekte aufmerksam zu machen. Das gilt z. B. für die Nacktheit des Menschen, die generell als ein Mangel angesehen wurde. Portmann erläutert dagegen: Unsere „nackte Haut ist ein reich mit Sinnesorganen versehenes Gebilde geworden. (. . .) Entsprechend spielt auch das Betasten und Begreifen des eigenen Leibes beim Kleinkind eine noch zu wenig beachtete große Rolle beim Entstehen alles Welterlebens. Dieses Zusammenspiel von Bewegungen und Hautstruktur ist aber nur möglich im Verein mit einer bereits gegebenen hohen Zentralorganisation, das heißt bei großer zentraler Repräsentation der Hautgebiete und ausgedehnter Disposition zu Handbewegungen. So ist denn auch die oft nur als Hilflosigkeit beurteilte Körperlage des Neugeborenen viel mehr als Hilflosigkeit, nämlich eine besondere Form der Freiheit, einer gebundenen Freiheit, die sehr wohl ein Gleichnis für unsere ganze Lebensform sein könnte“ (Portmann, 1978, 56f.).
Während das Affenkind, festgekrallt im Fell seiner Mutter, an ihren abenteuerlichen Sprüngen teilnimmt und damit gegenüber der hilflosen Rückenlage des Säuglings im Vorteil zu sein scheint, verbindet sich bei genauer Prüfung die durch die mit reichen Sinnesorganen ausgestattete Hand mit einer Fähigkeit, die dem Säugling ein Begreifen der Dinge im wörtlichen und übertragenen Sinne möglich macht und der des Affenkindes weit überlegen ist. Die Sonderstellung des Menschen zeigt sich bereits bei der Geburt. Die besondere Hilflosigkeit ist seit jeher betont worden, aber immer nur als ein Mangel gedeutet worden. Portmann kommt es dagegen darauf an, in ihr den notwendigen Ausgangspunkt der spezifischen Entwicklung des Menschen vom Säugling zum Kleinkind zu sehen. Verglichen mit den nächstverwandten höheren Säugetieren ist der Säugling eine „physiologische Frühgeburt“. Portmann wählt zu seiner Charakterisierung die paradoxe Formulierung: „sekundärer Nesthocker“. Sie ist erläuterungsbedürftig. Der Ausdruck „Nesthocker“ entstammt der Vogelwelt und meint dort diejenigen Vögel, die nicht sofort flügge sind, sondern eine längere Zeit im Nest bleiben, wie z. B. Singvögel und
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VIII. Genetische Modelle
Spechte, im Gegensatz zu den Nestflüchtern, wie Hühnern, Enten, Schnepfen u. a. Vögeln (vgl. Portmann, 1969, 28f.). Diese Unterscheidung hat man dann auch auf andere Tiergruppen übertragen, so auf Säugetiere. Bei ihnen zeigt sich dieses Merkmal als eine unterschiedliche Höhe der Entwicklung. Ein Vergleich macht das deutlich: Die Nesthocker, „von wenig spezialisiertem Körperbau und geringer Entwicklung des Gehirns sind meist auch ausgezeichnet durch kurze Tragzeiten, durch hohe Nachkommenzahl in jedem Wurfe und durch den hilflosen Zustand des Jungtieres im Geburtsmomente. Diese Jugendstadien sind meist unbehaart, ihre Sinnesorgane sind noch verschlossen, und die Temperatur ihres Körpers ist noch von äußerer Wärme völlig abhängig (Insektenfresser, viele Nager, Kleinraubtiere, besonders die Marder). (. . .) Ein ganz anderes Bild der Entwicklung zeigen die höheren Organisationsstufen der Säuger, deren Körperbau spezialisierter ist und deren Gehirn eine reichere Ausbildung aufweist (Huftiere, Robben, Wale, Halbaffen und Affen). Bei ihnen dauert die Entwicklung im Mutterleibe sehr lange, die Nachkommenzahl bei einem Wurf ist meist auf zwei oder eins reduziert, und die Neugeborenen sind weit entwickelt, den Alten in Gestalt und Gebaren schon recht ähnlich“ (ebd.).
Sie sind die typischen Nestflüchter. So stellt sich das Fohlen nach der Geburt selbständig auf seine Beine und folgt seiner Mutter. Legt man diese Merkmale für die Beurteilung der Situation des Menschen zugrunde, so fällt auf, dass der menschliche Säugling einerseits eindeutig den höheren Säugetieren zuzurechnen ist, wozu auch die relativ lange Schwangerschaft der Mutter und die geringe Zahl der Nachkommen gehört, andererseits in seiner Hilflosigkeit Merkmale der Nesthocker aufweist. Dieser paradoxe Sachverhalt veranlasst Portmann dazu, beim Menschen von einem „sekundären Nesthocker“ zu sprechen. Die Zeit, die beim Menschen notwendig wäre, um den Reifezustand eines vergleichbaren höheren Säugetiers bei der Geburt zu erreichen, beträgt ein ganzes Jahr (vgl. Text). Eine um zwölf Monate verlängerte Schwangerschaft wäre aus biologischen Gründen durchaus möglich. So beträgt die Tragezeit bei Elefanten 21 bis 22 Monate. Auffällig sind weitere Eigenarten des Menschen, so z. B. das Geburtsgewicht. Während die Fötalzeit beim Menschen mit ca. 280 Tagen ähnlich ist wie die bei den Menschenaffen, ist das Geburtsgewicht erheblich höher. Es liegt bei Menschenaffen zwischen 1500 bis 1800 Gramm beim Menschen aber bei ca. 3200 Gramm, und zwar unabhängig vom Gewicht der Mutter. Noch markanter ist das unterschiedliche Gewicht des Gehirns, das bei Menschenaffen zwischen 180 und 200 Gramm beträgt, beim Menschen dagegen 370 Gramm. Diese Diskrepanz nimmt im Erwachsenenalter noch zu, obwohl dann das Körpergewicht annähernd gleich ist. Ebenso unterschiedlich verhält es sich mit den Proportionen der Gliedmaßen der Menschenaffen und des menschlichen Säuglings. Während die Affenkinder in ihren körperlichen Proportionen weitgehend denen ihrer Eltern gleichen, sie also verkleinerte Abbilder ihrer Eltern sind, gibt es beim Menschen die typischen Säuglingsproportionen. Das zeigt sich besonders deutlich beim Längenwachstum der Beine. In der Reifeform betragen die Länge der Beine beim Schimpansen das 1,69-fache, beim Menschen dagegen das 3,94-fache.
3. Die Bildung der menschlichen Gestalt (Portmann)
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Unter der Voraussetzung, dass der Mensch ein ganzes Jahr benötigt, um den Reifezustand eines vergleichbaren höheren Säugetiers zu erreichen, stellt sich die Frage nach der Entwicklung des Säuglings, die er nicht im Uterus vollzieht, sondern außerhalb, d. h. „extra-uterin“. Portmann bezeichnet das erste Lebensjahr des Säuglings als das „extra-uterine Frühjahr“. Es findet in einem sozialen Umfeld statt, das den Charakter eines „sozialen Uterus“ hat. Sozial ist der Uterus insofern, als in ihm tatsächlich die biologisch vorbestimmten Reifeprozesse stattfinden, die für den Menschen arttypisch sind. Dies geschieht jedoch in einer kulturell sehr unterschiedlichen und daher durch Plastizität ausgezeichneten Umwelt. Innerhalb des extra-uterinen Frühjahres entwickelt der Mensch drei entscheidende menschliche Kompetenzen: den aufrechten Gang, die Sprache und, mit ihr verbunden, das einsichtige Handeln. Kein Mensch entwickelt den aufrechten Gang ohne menschliche Hilfe. In vereinzelten Fällen, in denen Säuglinge von Wölfen aufgezogen wurden, bewegten sich diese später auf allen Vieren. Die Bipedie des Menschen ist gleichwohl keine nur durch Erziehung erworbene Fähigkeit, sondern bereits in den Keimen angelegt. So ist die „Ausbildung der Wirbelsäule zur künftigen tragenden und federnden Gestalt (. . .) bereits im zweiten Fötalmonat“ angelegt (Portmann, 1979, 81). Gleichwohl ist die Wirbelsäule beim Säugling zunächst noch ganz gestreckt und entwickelt ihre arttypische s-förmige Gestalt erst durch das Sich-Aufrichten und Laufen-Lernen. Der Mensch ist also bereits von seinen biologischen Anlagen her auf ein soziales Lernen hin angelegt. Portmann formuliert diese Besonderheit wie folgt: „Kein einziges unter den Säugetieren erreicht seine artgemäße Haltung so wie der Mensch durch aktives Streben und erst längere Zeit nach der Geburt“ (Portmann, 1969, 89). Das Ineinander von Entwicklung und sozialer Umwelt lässt sich am Erwerb des aufrechten Gangs nachzeichnen. Folgende Schritte sind typisch: „2.–3. Monat Beherrschung der Kopfhaltung; 5.–6. Monat Erstreben und Erreichen des Aufsitzens; 6.–8. Monat Aufrichten des ganzen Körpers mit Hilfe der Erwachsenen und durch Stützen an Gegenständen; 11.–12. Monat erstes freies Stehen und selbständige Schritte, anschließend rasches Erlernen des freien Stehens und Laufens; 11.–13. Monat Erlernen des Aufrichtens aus der Bauchlage“ (ebd. 90).
Unzutreffend wäre jedoch die Annahme, dass die komplizierte Bewegung des Gehens sich nicht im Uterus entwickeln könne. Dagegen spricht die Tatsache, dass die Fähigkeit des Laufens und Fliegens bei Vögeln, z. B. bei Wachteln, ohne vorherige Übung heranreift. Das Ineinander von Anlage und Umwelt trifft ebenso auf die zweite menschliche Kompetenz zu: die Sprache. Es stellt eine grobe Verkürzung dar, wenn man die Sprachkompetenz auf die Fähigkeit der Lauterzeugung reduzierte. Zwar verfügt bereits der Säugling über ein erheblich reicheres Lautrepertoire als etwa der Schimpanse, aber entscheidend ist ein anderer Aspekt. Sucht man bei Tieren nach einer der menschlichen Sprache entsprechenden Fähigkeit, so fällt das Ergebnis negativ aus: „Nirgends aber findet sich die Möglichkeit, ein Wort als ‚Zeichen‘, abgelöst von einer bestimmten Situation, in freier Verfügung zu verwenden“ (ebd. 96). Auch für den Spracherwerb lässt sich eine typische Entwicklung feststellen. Ausgangspunkt ist „die Fähigkeit
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VIII. Genetische Modelle
zum Schreien, Brummen, Quieken oder Schnalzen“ (ebd. 94). Diese Lautäußerungen erweitern sich in den ersten sechs Monaten zu einer Phase des Lallens, „zu eigentlichen Lallmonologen, mit denen das kleine Wesen ein wahres Arsenal von Lautgebilden produziert, darunter viele, die es in seiner späteren Muttersprache nie mehr verwenden wird“ (ebd.). Entscheidend ist die nächste Phase, die mit neun oder zehn Monaten einsetzt. In ihr werden Worte der Umgebung nachgeahmt. Portmann erläutert den Sachverhalt so: „Es werden Worte nachgebildet, die mit Sachverhalten in Beziehung stehen und die am Anfang auch sehr verschiedene, komplexe Tatbestände bedeuten können. Die Worte meinen Wünsche, Strebungen ebensosehr wie Feststellungen, sie vertreten gleichsam ganze Sätze“ (ebd. 95). Doch Sprachentwicklung geschieht nicht nur auf dem Wege der Nachahmung: Indem das Kind Wünsche äußert und Feststellungen trifft, geht sein Sprechen über die bloße Nachahmung hinaus und wird zu einem produktiven geistigen Akt. Das, was das Kind im Laufe seiner Sprachentwicklung erlernt, ist die Fähigkeit des „beherrschten Ausdrucks“, die nach Portmann das Wesen der menschlichen Sprache ausmacht. Das einsichtige Handeln entwickelt sich ebenfalls in Stufen. Am Beginn steht ein instinktives Verhalten, das mit der Zeit von dressurmäßigen Nachahmungen überformt wird. Bereits Nachahmungen sind begleitet von „momentanen Akten der Einsicht“, dem berühmten Aha-Erlebnis, das auch als eine der „interessantesten Grenzleistungen des Schimpansen“ beobachtet wurde. „Das Entscheidende beim Menschenkinde ist aber das endgültige Überschreiten dieses Stadiums etwa im 9.–10. Monat des ersten Jahres, das Erreichen einer Stufe, wo Einsicht, Verstehen von Sinnzusammenhängen, zum typischen Element unseres Verhaltens wird. Dieses einsichtige Handeln fängt mit dem Erfassen von Werkzeugzusammenhängen, mit technischer Intelligenz an. Es beginnt mit der Übertragung des Einfalls einer Problemlösung auf analoge, aber doch weit abweichende Situationen, womit das Kind vom Feldverhalten, vom subjektiven zum objektiven Erfassen voranschreitet“ (ebd. 96f.).
Die Entwicklung des einsichtigen Handelns umfasst drei Momente: technische Intelligenz, Erkenntnis analoger Situationen zum Zwecke einer Problemlösung und das Verstehen von Sinnzusammenhängen. Die Entwicklung des Kindes vom ersten Lebensjahr bis zur Pubertät wird häufig als eine „relativ autonome physiologische Retardation“ angesehen. Doch diese Einschätzung ist falsch. Angesichts der Herausforderungen, die an das sich entwickelnde Kind gestellt werden, „das in komplizierten Lernprozessen ein gewaltiges Traditionsgut aufnehmen muß“ (Portmann, 1979, 82), ist die Bedeutung dieses Abschnitts kaum zu überschätzen. Gleichwohl beginnen mit der Pubertät ein neuer Lebensabschnitt und ein neues Welterleben. Der Wechsel ist bestimmt durch das „Vorangehen der Imagination“ beim Kinde und der „Dominanz“ des Rationalen mit Beginn der Pubertät. Das Welterleben des Kindes lässt sich so beschreiben: „Wir wachsen heran in den ersten Jahren mit einem Übergewicht der gefühlsmäßigen Beziehungen zur Umwelt und zum eigenen individuellen Sein. Diese Kindheit lebt im Vertrauen auf die Wahrheit der Sinneseindrücke, wie wir sie unmittelbar erfahren. Es formt sich das Bild einer Welt, die wir die primäre nennen müssen: die Welt der ruhenden Erde, über der sich der Himmel wölbt, die Welt, in der die Sonne täglich auf- und untergeht, die
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reiche, wunderbare Welt der Sinne, aus der zeitlebens alle Kunst, alle Dichtung lebt. Es ist die Welt, in der auch die Wahrheit des Traumes gilt, in der wir selig die Wirklichkeit der Märchen und Mythen erleben“ (ebd. 83f.).
Dieses Welterleben wird in der Pubertät abgelöst oder zumindest überformt durch die rationale Weltsicht der Erwachsenen. An die Stelle der unmittelbaren Wahrheit der Wahrnehmung von Rot, Grün und Gelb tritt nun die Erkenntnis, dass es sich bei Farben um elektromagnetische Wellen handelt, deren Frequenz einer quantitativen Erfassung zugänglich ist (vgl. ebd. 84). Portmann spricht sich dafür aus, dass die erste Weltsicht nicht völlig zugunsten der zweiten aufgegeben wird und bewegt sich mit dieser Empfehlung bereits im Bereich der Ethik. In seinem Buch Das Tier als soziales Wesen hat er die Ergebnisse seines Studiums des tierischen Verhaltens kenntnisreich dokumentiert (vgl. Portmann, 1962). Gleichwohl erliegt er nicht der Versuchung, tierisches Verhalten auf menschliches zu übertragen. Er sagt: Das Studium tierischer Sozialformen liefert uns keine Rezepte, „eine Form unseres Zusammenlebens als die ‚richtige‘, etwa als die biologisch fundierte, herauszuheben“ (Portmann, 1979, 97). So sei es völlig unhaltbar, aus dem sogenannten „Kampf ums Dasein“ eine Sozialethik ableiten zu wollen. Eine solche Ableitung verkennt den prinzipiellen Unterschied von Mensch und Tier, der darin besteht, dass beim Menschen, trotz erblicher Anlagen, die „Weltbeziehung weitgehend offen und der Entscheidung freigestellt“ (ebd. 96), dagegen selbst bei höheren Tieren erblich festgelegt ist. Für den Menschen ergibt sich das Problem der Ethik aus seiner Freiheit. Portmann formuliert ihre Aufgabe so: „Die Offenheit unserer Anlagen der Zuwendung stellt jeden einzelnen, jede Generation wieder neu vor die Aufgabe, die Lösung für die sozialen Beziehungen zu finden, die Synthese von relativ konstanten Naturgegebenheiten und der jeweils einmaligen historischen Situation zu suchen. (. . .) Das Finden wie das Bewahren sozialer Gestalten ist beim Menschen eine stetige geistige Aufgabe“ (ebd. 97).
Die politische Aufgabe seiner Zeit sieht er in einem Ausgleich zwischen den Ansprüchen des Individuums und denen des Staates, seine Aufgabe als Wissenschaftler hingegen darin, „auf das Unheil hinzuweisen, welches der planende Mensch (. . .) in seinen Lebensräumen anrichtet, wo er seine Existenzbasis zu vernichten im Begriff ist, wo er seine Atemluft und das Wasser des Lebens verpestet, das grüne Kleid der Erde bedroht, das uns nährt, wo er gewaltige Lebensformen ausrottet, die ebenso wie wir selbst das Werk eines verborgenen, geheimnisvollen Geschehens sind“ (ebd. 130f.).
Portmanns Wirkungsgeschichte ist aufs engste verbunden mit dem Wirken des EranosKreises. Es handelt sich um eine lose Vereinigung von internationalen Wissenschaftlern, die regelmäßig Tagungen in der Nähe von Ascona am Lago Maggiore abhielten. Ihr Ansatz war interdisziplinär. Die dort gehaltenen Vorträge wurden in dem periodisch erscheinenden Eranos-Jahrbuch veröffentlicht (vgl. Illies 1981, 223ff.).
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VIII. Genetische Modelle
Individuum und Person
IX.
Der Mensch als Individuum
Das Wort ‚individuum‘ entspricht dem von Cicero ins Lateinische übersetzten griechischen Wort ‚atomon’ und bezeichnet das ‚Unteilbare‘. Das griechische Wort hat seine zentrale Stellung in der Atomtheorie Leukipps und Demokrits und meint die kleinsten unteilbaren Elemente der Materie. Zwar ist die Seele in Platons Phaidon unteilbar, es wäre aber weder ihm noch Aristoteles in den Sinn gekommen, den Menschen insgesamt als ein Atom zu bezeichnen. Gleichwohl spielt Aristoteles in der Geschichte des Individualitätsbegriffs eine schwer zu überschätzende Rolle. Sie besteht darin, dass er in einer bis dahin nicht vorstellbaren Weise den Blick auf das Einzelne gelenkt hat; mehr noch: für ihn wird das einzelne Ding zu einer ‚ersten Substanz‘, der sogenannten ‚prote ousia‘. Und als Beispiel hierfür führt er – vielleicht nicht zufällig – einen einzelnen Menschen an (Aristoteles: Metaphysik 1017 b–1018 a). Alle allgemeinen Begriffe sind demgegenüber ‚zweite Substanz‘. Sie haben nur dann einen Sinn, wenn es eine erste Substanz gibt, auf die sie sich beziehen. Der Begriff Mensch hat eine Bedeutung, wenn es ein ‚Dieses da‘ gibt, wie z. B. dieser ‚Sokrates‘ „in diesem Fleisch und diesen Knochen“ (Met. 1034 a). Ohne die neue Interpretation, die Aristoteles dem Einzelnen gegeben hat, wäre die Geschichte des Individuums und der Individualität als Ausdruck der Hochschätzung des einzelnen Menschen schwer vorstellbar. Gleichwohl ist die Übersetzung von ‚Atom‘ in ‚Individuum‘, gerade wegen ihrer gleichen Wortbedeutung, keineswegs selbstverständlich. Das Wort ‚Atom‘ war und blieb ein Begriff der Physik, auch dann noch, nachdem die Physik des 20. Jh.s das Atom theoretisch und technisch in noch kleinere Teilchen aufgespalten hat; der Begriff des Individuums dagegen ist seit der Neuzeit zu einem Zentralbegriff der philosophischen Anthropologie geworden. Die einzige Brücke, die das Atom mit dem Individuum verbindet, besteht darin, dass es sich um etwas Einzelnes handelt. Wichtiger ist jedoch der Unterschied: Das Atom ist bestimmt durch seine Unteilbarkeit, das Individuum durch seine Einzigartigkeit. Leibniz hat diesen Unterschied zur Grundlage seiner Philosophie der Individualität gemacht. Er unterscheidet die physikalischen Atome, die als ausgedehnte Körper zu verstehen sind – und denen aus diesem Grunde wahre Unteilbarkeit gar nicht zukommt –
IX. Der Mensch als Individuum
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von den metaphysischen Atomen, die er Monaden nennt. Monaden sind Individuen, die in einzigartiger Weise die Welt spiegeln. Wilhelm von Humboldt darf im Anschluss an Leibniz als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Vertreter einer Theorie der Individualität bezeichnet werden. Sie ist der höchste Zweck des Menschen. Ihre theoretische Entfaltung ist Ziel seiner Anthropologie, seiner politischen Philosophie, seiner Bildungstheorie und seiner Sprachphilosophie. Während bei Humboldt Individuum und Gesellschaft miteinander vermittelt sind und sich gegenseitig bereichern, sieht Schopenhauer im Prinzip der Individualität nur das Moment der Herauslösung des Einzelnen aus dem Allgemeinen. Das ‚principium individuationis‘, das Absonderung und Vereinzelung zur Konsequenz hat, führt notwendig zum Leiden und ist deswegen zu überwinden. Nietzsche, der zunächst Schopenhauer gedanklich folgt, wendet sich jedoch schon bald gegen ihn. Er wird zu einem entschiedenen Verfechter des Prinzips der Individualität und ist bereit, das damit verbundene Leiden zu akzeptieren. Nietzsche interpretiert das Individuum als Ausdruck eines „Willens zur Macht“.
1. Das Individuum als Monade (Leibniz) „Die Monade, von der wir hier sprechen werden, ist nichts anderes als eine einfache Substanz, die in die zusammengesetzten eingeht; einfach, das heißt ohne Teile. (. . .) Jede Monade muß sogar von jeder anderen verschieden sein. Denn es gibt niemals in der Natur zwei Seiende die einander vollkommen gleich wären und bei denen es nicht möglich wäre, einen inneren oder auf einer inneren Bestimmung beruhenden Unterschied zu finden. (. . .) Diese Verknüpfung nun oder diese Anpassung aller erschaffenen Dinge an jedes einzelne von ihnen und jedes einzelnen an alle anderen bewirkt, daß jede einfache Substanz in Beziehungen eingeht, die alle anderen ausdrücken und daß sie folglich ein dauernder lebendiger Spiegel des Universums ist. / Und wie eine und dieselbe Stadt, die von verschiedenen Seiten betrachtet wird, als eine ganz andere erscheint und gleichsam auf perspektivische Weise vervielfacht ist, so geschieht es in gleicher Weise, daß es durch die unendliche Vielheit der einfachen Substanzen gleichsam ebenso viele verschiedene Universen gibt, die jedoch nur die Perspektiven des einen einzigen gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade sind.“ (G.W. Leibniz: Philosophische Schriften. Bd.1. Hg. u. übers. von H. H. Holz. Darmstadt 1965, 439; 443 u. 465).
Gottfried Wilhelm Leibniz wird 1646, zwei Jahre vor Ende des ‚Dreißigjährigen Krieges‘ in Leipzig geboren. In aller Deutlichkeit erlebt er die Folgen dieses Krieges, zu denen die konfessionellen und politischen Spaltungen in seinem Land gehören. Er ist das, was man ein Wunderkind nennt und beginnt als kaum achtjähriger als Autodidakt mit der Lektüre lateinischer Texte. Ihm wird als Professorensohn vorzeitig die Immatrikulation in die Universität Leipzig gestattet; als kaum 21-Jähriger schließt er sein Studium mit der Promotion in den Rechtswissenschaften ab. Sein weiteres Leben vollzieht sich als eine rastlose Tätigkeit in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen, diplomatischen und technischen Bereichen. Seine wissenschaft-
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IX. Der Mensch als Individuum
lichen Kontakte, die er durch Reisen und durch eine schier unglaubliche Zahl von Briefen pflegt, verbinden ihn mit der gelehrten Welt Europas. Viele seiner Projekte scheitern oder kommen zu keinem Ende, so sein Unternehmen, die Geschichte des Welfenhauses zu verfassen, für das er ausgedehnte Reisen zwecks Quellenstudiums unternimmt. Ein anderes, ebenfalls gescheitertes, Projekt betrifft seine Pläne zur Wiedervereinigung der beiden Konfessionen (vgl. Huber, 1951, 156ff.). Lediglich die Gründung der ‚Sozietät der Wissenschaften‘ (Akademie) in Brandenburg, für die die englische Royal Society und die französische Académie des Science als Vorbilder dienen, kann er erreichen. Im Jahre 1700 wird er ihr erster Präsident. Anregungen zur Gründung einer Akademie in Petersburg gehen auf seine Kontakte mit dem Zaren Peter I. zurück. Ähnlich facettenreich sind seine philosophischen und wissenschaftlichen Forschungen. Im Bereich der Mathematik ist die Erfindung der Infinitesimalrechnung zu nennen, die er parallel zu Newtons Fluxionsmethode entwickelt; doch setzt sich die von Leibniz entwickelte Formelsprache durch (vgl. Seidel, 1979, 74ff.). Zu erwähnen ist auch die von ihm entworfene Rechenmaschine, die man als einen Vorläufer in der Geschichte der Computertechnik bezeichnen darf. Im Bereich der Philosophie ergeben sich eine Fülle fruchtbarer Ansätze, die es schwer machen, einen unter ihnen auszuzeichnen. Dazu kommt, dass es kaum möglich ist, sie voneinander zu isolieren; denn sie bilden eine spekulative Einheit. Leibniz stirbt 1716 in Hannover (vgl. Finster/Heuvel, 1990). Leitend für seinen Gedanken der Individualität ist seine Monadologie, d. h. seine Lehre von den Monaden. Die Monade definiert er als eine „einfache Substanz, die in die zusammengesetzten eingeht; einfach, d. h. ohne Teile“. Während Leibniz noch in seiner Metaphysischen Abhandlung aus dem Jahre 1686 in der Regel von der „individuellen Substanz“ spricht (Leibniz I, 73ff.), tritt in seiner Monadologie aus dem Jahre 1712/14 an ihre Stelle der Begriff „Monade“. Beide Ausdrücke besagen dasselbe. Die Monade ist eine einfache, „individuelle Substanz“. Das bedeutet: Die Monade ist ein Individuum, das Individuum eine Monade (vgl. Cassirer, 1962, 384ff.). Die Monadologie beinhaltet die Entfaltung seiner Theorie der Individualität (vgl. HWP 4, Sp.311). Sie weist eine hohe gedankliche Komplexität auf. Vier Aspekte lassen sich unterscheiden: Als Individuum ist die Monade erstens Teil einer prästabilierten Harmonie von Körper und Seele; sie ist zweitens ein erkennendes Subjekt; sie ist drittens als ein Mikrokosmos ein lebendiger Spiegel der Welt, die selbst ein Makrokosmos ist, und sie ist viertens bestimmt durch Einzigartigkeit und Freiheit. Alle vier Aspekte bilden eine Einheit. Keiner lässt sich ohne die anderen verstehen. Der erste Ansatz betrifft den Dualismus von Körper und Seele, der trotz des Einheitsgedankens eine entscheidende Relevanz hat. Er basiert darauf, dass es nicht nur ebenso viele Substanzen gibt wie Monaden, sondern zwei strukturell verschiedene Arten, die einfachen und die zusammengesetzten. Die einfachen Substanzen sind die Monaden, und die lassen sich unterscheiden in Entelechien, Seelen und Geister. Die zusammengesetzten Substanzen sind die materiell verfassten Körper. Die einfachen Substanzen sind unteilbar, d. h. individuell, die zusammengesetzten sind nicht nur teilbar, sondern de facto unendlich geteilt. Einfache und zusammengesetzte Substanzen sind einander zugeordnet wie der ausdehnungslose Kreismittelpunkt zu den ausgedehnten Radien des Kreises. Sie entsprechen sich, aber sie gehören einer unterschiedlichen begrifflichen Ordnung an. Die ausgedehnte, zusammengesetzte Substanz und die nicht
1. Das Individuum als Monade (Leibniz)
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ausgedehnte, einfache Substanz bilden einen Dualismus. Im Menschen stellt er sich dar als das Verhältnis von Seele und Körper. Mit dem Dualismus verbindet sich das Problem der Vermittlung beider Bereiche. Leibniz verwirft das von Descartes angenommene Vermittlungsorgan im Gehirn des Menschen ebenso wie den Occasionalismus von Geulincx und Malebranche, nach dem Gott „gelegentlich“ eingreift, um Körper und Seele zu koordinieren. Beide Modelle verletzen seiner Meinung nach die Naturgesetze. Die von Leibniz entwickelte Lösung des Problems besteht in seinem Konzept der prästabilierten Harmonie. Um dieses Modell zu verstehen, ist es notwendig, sich klar zu machen, dass es nicht darum geht, zwei starre Substanzen zu vermitteln, sondern zwei unterschiedlich strukturierte Ereignisreihen. Es handelt sich um eine physische – der Naturordnung zugehörige – Ereignisreihe von Körpern einerseits und um eine seelisch-geistige Ereignisreihe andererseits (vgl. Finster/Heuvel, 1990, 64ff.). Leibniz greift dabei auf die Lehre von dem vierfachen Sinn von Ursache bei Aristoteles zurück (vgl. VII, 1). Deren lateinische Termini lauten: causa formalis, causa materialis, causa efficiens und causa finalis. Leibniz greift die letzten beiden auf, die Wirkursache und die Zweckursache, wohingegen die Physik seiner Zeit die Zweckursache verwarf und nur die Wirkursache akzeptierte. Leibniz gesteht, dass auch er zunächst von den Lehren der Physiker seiner Zeit fasziniert war. Er sagt: „Ihre schöne Art, die Natur mechanisch zu erklären, entzückte mich“ (Leibniz, 1933, 105). Dann jedoch erkannte er, dass eine physikalische Auffassung, nach der es nur materielle Atome gibt, nicht in der Lage ist „die Prinzipien für eine wirkliche Einheit zu finden“, und er fährt fort: „Ich mußte also die heute so verrufenen substantiellen Formen wieder herbeiholen und sie gleichsam rehabilitieren (. . .). Aristoteles nennt sie erste Entelechien. Ich nenne sie, vielleicht verständlicher, ursprüngliche Kräfte“ (ebd. 106f.). Das Ergebnis der Rehabilitierung ist, dass Leibniz nun keineswegs die Physik seiner Zeit völlig verwirft, sondern zwei Arten von Kausalreihen unterscheidet: die der Wirkursache und die der Zweckursache und jene dem Körper, diese der Seele zuordnet. Leibniz bemerkt: „Die Seele folgt ihren eigenen Gesetzen und der Körper ebenso den seinen; und sie treffen sich vermöge der prästabilierten Harmonie zwischen allen Substanzen, weil sie alle Darstellungen desselben Universums sind. / Die Seelen handeln gemäß den Gesetzen der Zweckursachen durch Strebungen, Ziele und Mittel. Die Körper handeln gemäß den Gesetzen der Wirkursachen oder der Bewegungen. Und die zwei Reiche, das der Wirkursachen und das der Zweckursachen, stehen miteinander in Harmonie“ (Leibniz I, 475ff.).
Doch wie ist diese Harmonie zu erklären? Die Antwort von Leibniz lautet: Bei der Erschaffung der Welt hat Gott beide Kausalreihen so angeordnet, dass sie im Weltverlauf immer miteinander harmonieren. Ein „gelegentliches“ Eingreifen Gottes wird damit ebenso überflüssig, wie ein besonderes Organ der Vermittlung. Die „prästabilierte Harmonie“ garantiert folgenden, erstaunlichen Sachverhalt: Wenn „ich den Arm heben will, dann geschieht es gerade in dem Augenblick, in dem im Körper alles für diese Wirkung bereit ist, so daß sich der Körper kraft seiner eigenen Gesetze bewegt“ (Leibniz, 1933, 78). Die beiden Kausalreihen bilden einen psycho-physischen Parallelismus, und zwar so, wie ihn bereits Spinoza angenommen hatte (vgl. Kap. IV, 2).
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IX. Der Mensch als Individuum
Der zweite Aspekt seiner Monadologie betrifft sein Konzept der Subjektivität. Zu Recht gilt Descartes’ Denken als Anfang der neuzeitlichen Philosophie der Subjektivität. Das denkende Ich stellt für ihn eine autonome Instanz dar, die weder von Gott, noch der Welt abhängig ist. Er fasst den Begriff Denken so weit, dass auch Fühlen, Wollen und Vorstellen darunter fallen. Auch Leibniz versteht das Subjekt am Leitfaden seiner Erkenntnisakte. Diese befinden sich aber nicht auf einer Ebene, sondern sind hierarchisch gestuft. Sie reichen von dunklen und verworrenen Perzeptionen über deutliche Perzeptionen bis hin zu den reflexiven Akten der Apperzeption. Da aber jede Perzeption mit der Monade als einer Substanz verbunden ist, ist jede Monade zugleich Subjekt und Substanz. Substanziell sind sie gestuft in Entelechien, d. h. einfache oder ‚nackte‘ Monaden, in Seelen und Geister. Diesen Stufen der Substanz entsprechen Erkenntnisstufen. Der Stufe der ‚nackten‘ Substanz entspricht eine dunkle oder verworrene Vorstellung, die Stufe der Seele verbindet sich mit der deutlichen Perzeption, und der Stufe des Geistes ist der reflexive Akt der Apperzeption vorbehalten. Er tritt erst beim Menschen auf. Leibniz folgt dabei dem Ansatz von Platon, der ebenfalls Seinsstufen und Erkenntnisstufen in Beziehung setzte. Philosophiegeschichtlich bedeutsam ist, dass bei Leibniz das Konzept der Substanz in ein Modell des Subjekts transformiert wird, das sich durch Erkenntnisleistungen definiert. Es findet einen Höhepunkt in Kants Begriff eines transzendentalen Subjekts. Der dritte Aspekt betrifft das kosmologische Modell des Verhältnisses von Mikrokosmos und Makrokosmos. Auch hierfür gibt es einen Vorläufer in Platons Naturphilosophie, aber auch bei Nikolaus von Kues. Der Grundgedanke besteht darin, „daß jeder Materieabschnitt das ganze Universum“ ausdrückt und spiegelt. Für Leibniz ist die Materie nicht nur „bis ins Unendliche teilbar (. . .), sondern auch tatsächlich ohne Ende unterteilt“ (Leibniz I, 471). Das von dem Niederländer Leeuwenhoek (1632–1723) entwickelte Mikroskop hatte es möglich gemacht, kleinste Lebewesen in einem Wassertropfen sichtbar zu machen. Diese Entdeckung war es wohl auch, die Leibniz zu folgender Aussage veranlasste: „Daraus sieht man, daß es in dem kleinsten Materieabschnitt eine Welt von Geschöpfen, Lebewesen, Tieren, Entelechien, Seelen gibt. / Jeder Materieabschnitt kann als ein Garten voll von Pflanzen verstanden werden; und als ein Teich voll von Fischen. (. . .) / So gibt es im Universum nichts Unbebautes, nichts Unfruchtbares, nichts Totes, kein Chaos, keine Verworrenheit“ (Leibniz I, 471).
Das bedeutet: Jede Monade ist eine Lebenseinheit und spiegelt in sich das ganze Universum wieder. Der Urheber der Ordnung des Universums ist Gott. Leibniz erläutert den Gedanken so: „Aus der Vollkommenheit des höchsten Urhebers folgt auch, daß nicht allein die Ordnung des ganzen Weltalls die vollkommenste ist, die es geben kann, sondern auch daß jeder lebendige Spiegel, der das All gemäß seinem Gesichtspunkt (point de vue) darstellt, das heißt jede Monade, jedes substantielle Zentrum seine Perzeptionen und Strebungen auf die beste Weise geregelt haben muß, so daß es mit allen übrigen verträglich ist“ (ebd. 431).
1. Das Individuum als Monade (Leibniz)
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Leibniz’ Thesen von dem vollkommenen Schöpfergott, der besten aller möglichen Welten, der prästabilierten Harmonie und der Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos durch Spiegelung der Welt in jeder Monade verbinden sich hier zu einer gedanklichen Einheit. Diese findet ihre Vollendung in dem vierten Aspekt, nach dem die Monade als ein Individuum durch Einzigartigkeit und Freiheit bestimmt ist. Sie werden deutlich durch die Unterscheidung des Begriffs des Individuums von dem des Atoms (vgl. HWP 4, Sp. 299f.). Die antike Atomtheorie fand in der Physik der frühen Neuzeit ein neues Interesse. Doch die Monaden, d. h. die Individuen, sind für Leibniz keine physikalischen, sondern metaphysische Atome. Sie unterscheiden sich prinzipiell. Er betont: Die „Monaden sind die wahrhaften Atome der Natur“ (Leibniz I, 439). Sie bilden den Leitfaden seines Gedankens der Individualität. Während das physikalische Atom ausgedehnt und austauschbar ist, ist die Monade als ein metaphysisches Atom, d. h. als ein Individuum, unausgedehnt und einzigartig. Während das physische Atom der Wirkursache unterworfen ist, folgt das Individuum teleologischen Prinzipien, d. h. es stellt eine Entelechie dar. Ein hervorstechendes Merkmal des Individualitätsgedankens bei Leibniz besteht darin, dass er die Einzigartigkeit des Individuums betont. So berichtet er, dass er bei einem Spaziergang seinen fürstlichen Begleiter gebeten habe, zwei identische Blätter zu finden. Das war ihm nicht möglich. In einem Brief an Clarke (1675–1729), englischer Theologe und Philosoph, erzählt er von diesem Ereignis und kommentiert es wie folgt: „Il n’y a point deux individus indiscernables“ (Leibniz, 1978, 372; vgl. Janke, 1963, 77). Diese Episode war für Leibniz ein weiterer Beleg dafür, dass es in der Natur niemals „zwei Seiende“, d. h. „zwei Individuen“ gibt, „die einander vollkommen gleich wären“ (Leibniz I, 443). Das bedeutet, dass jedes Individuum von jedem anderen verschieden ist. Allerdings: Diese Verschiedenheit birgt auch eine Gefahr. Es ist die Gefahr der Vereinzelung und der Trennung von allen anderen; denn – so Leibniz: „Die Monaden haben keine Fenster“ (ebd. 441). Doch das Konzept der Individualität von Leibniz erliegt nicht dieser Gefahr; denn es gibt ein entscheidendes Gegengewicht. Es besteht darin, dass jedes Individuum ein Spiegel der Welt ist, und zwar der einen und für alle identischen Welt. Die Welt stellt sich jedoch für jedes Individuum unterschiedlich dar, gemäß der ihm eigenen Sicht auf die Welt. Jedes Individuum sieht die Welt gemäß seinem Gesichtspunkt, seinem „point de vue“, verschieden. Leibniz erläutert diesen Gedanken am Beispiel einer Stadtansicht, die von verschiedenen Standpunkten aus unterschiedlich erscheint. Man mag dabei an die Stadtansichten von Merian (1593–1650) denken, die schon bald eine große Berühmtheit erlangten. Sie können auf exemplarische Weise das Modell von Leibniz verdeutlichen. Jede Stadtansicht repräsentiert ein spezifisches Ensemble von Gebäuden, d. h. eine spezifische Konfiguration von Objekten. Gleichzeitig aber ermöglicht jede Stadtansicht die Rekonstruktion des Punktes des Betrachters, dem sich die Stadt von dieser Perspektive aus in dieser Weise darstellt. Es handelt sich bei ihr um die subjektive Ansicht des Betrachters. Beides aber gehört zusammen. Übertragen auf den Gedanken der Individualität bedeutet das, dass das Individuum in seiner Weltansicht Subjektivität und Objektivität verbindet. Auf diese Weise wird es möglich, dass sich die vielen Weltansichten der Individuen ergänzen und dass die
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IX. Der Mensch als Individuum
Welt als eine Einheit der auf sie möglichen Ansichten gedacht wird. Die Gefahr des Solipsismus, d. h. der Vereinzelung, wird auf diese Weise gebannt. Das Individuum ist für die Erkenntnis der Welt geradezu auf Ergänzung seiner Perspektive durch andere angewiesen. Die Verbindung von Subjektivität und Objektivität im Individuum ergibt sich für Leibniz nicht nur durch die Spiegelmetapher, sondern auch durch eine logische Überlegung. Nach der traditionellen Logik bildet das Einzelne und das Allgemeine einen Gegensatz. Für Leibniz verbindet sich jedoch im Individuum Einzelnes und Allgemeines. Das Individuum ist nämlich nichts anderes als die spezifische Kombination einer Fülle von allgemeinen Begriffen. Seine These lautet: Die Prädikate sind im Subjekt enthalten (praedicatum inest subjecto). Verbindet man z. B. alle Prädikate, die man über Sokrates aussagen kann, also z. B. Alter, Größe, Herkunft, Geschlecht, Nationalität, Familienstand, Beruf usw., miteinander, so gibt es schließlich nur noch ein einziges Subjekt, auf das alle diese Begriffe gemeinsam zutreffen. Die Einzigartigkeit des Individuums besteht aber nicht nur darin, dass es sich zu einem bestimmten Zeitpunkt von allen anderen Individuen unterscheidet, sondern auch in seinem zeitlichen Verlauf. Jedes Individuum hat eine einzigartige Biographie. Bereits in seiner Metaphysischen Abhandlung aus dem Jahre 1686 formuliert Leibniz diesen Gedanken so: „Wir haben gesagt, daß der Begriff einer individuellen Substanz ein für allemal alles das einschließt, was ihr jemals zustoßen kann“ (I, 85ff.). Das bedeutet, dass jeder „individuelle Begriff jeder Person“ ihre Geschichte einschließt (ebd.). Aufgrund der prästabilierten Harmonie alles Geschehens bedeutet das aber auch, dass zu jedem Zeitpunkt der weitere Verlauf des Lebens bereits festliegt; denn Gott hat bei der Erschaffung der Welt den Gang der Ereignisse vorausbestimmt. Leibniz formuliert den Gedanken der Determination alles Geschehens in einer seiner deutschen Schriften so: „Daß alles durch ein festgesteltes verhängniß herfür bracht werde, ist ebenso gewiß als daß dreymahl drey Neun ist, denn das verhängniß besteht darinn, daß alles an ein ander henget wie eine Kette, und ebenso unfehlbar geschehen wird, ehe es geschehen, als ohnfehlbar es geschehen ist, wenn es geschehen. (. . .) Und diese Kette bestehet in dem verfolg der ursachen und der würckungen“ (Leibniz, 1978, 117f.). Den Anfang dieser Kette bildet Gott, denn er ist die erste Ursache und der zureichende Grund allen Geschehens. Leibniz drückt diesen Gedanken auch so aus: Die „Gegenwart geht schwanger mit der Zukunft, die Zukunft lässt sich in der Vergangenheit lesen“ (Leibniz I, 431). Das bedeutet, dass für jedes Individuum seine Zukunft feststeht. So gehört es bereits zum Zeitpunkt seiner Geburt zur Individualität von „Cäsar“, zu einem bestimmten Zeitpunkt „den Rubikon zu überschreiten“ (ebd. 91). Mit dem Konzept der prästabilierten Harmonie, durch das nicht nur zwei Ereignisreihen aneinandergekettet sind, sondern jede für sich in ihrem zeitlichen Verlauf von Beginn an festgelegt ist, scheint nun jedoch der Gedanke der Freiheit des Individuums nicht vereinbar zu sein. Erstaunlicherweise aber hat Leibniz das Prinzip der Freiheit nicht nur verteidigt, sondern sogar in den Titel eines seiner bekanntesten Werke aufgenommen. Er lautet: Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels. In dem Vorwort zu diesem Werk weist er auf die grundlegende Bedeutung des Prinzips der Freiheit hin. Er sagt:
1. Das Individuum als Monade (Leibniz)
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„Es gibt zwei berüchtigte Labyrinthe, in denen sich unsere Vernunft häufig verirrt: das eine betrifft die große Frage nach Freiheit und Notwendigkeit, vor allem bezüglich der Hervorbringung und des Ursprunges des Übels; das andere besteht in der Erörterung der Stetigkeit und der unteilbaren Dinge (. . .). Das erste bringt fast das ganze Menschengeschlecht in Verlegenheit, das andere befaßt nur die Philosophen“ (Leibniz II, 1, 13ff.).
Die Argumentation hinsichtlich des Problems des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit ist bemerkenswert. Leibniz relativiert weder das Prinzip der Determination noch das der Freiheit, sondern versucht ihre Koexistenz zu beweisen. Dabei greift er auf eine Denkfigur von Boethius zurück. Dieser unterschied zwischen der Voraussicht eines Geschehens und dessen Verursachung. So ist das Voraussehen des Aufpralls eines fallenden Steins nicht dessen Ursache. Allerdings reicht dieser Gedanke für Leibniz nicht aus, denn Gott ist ja tatsächlich die Ursache alles Geschehens. Seine Argumentation lautet so: Gott, der die beste aller möglichen Welten schuf, musterte vor deren Erschaffung alle Möglichkeiten, wobei er die freien Handlungen der Menschen ebenfalls voraussah. Dann wählte er unter ihnen diejenige Welt, in der nicht nur die Harmonie der beiden unterschiedlichen Kausalreihen gewährleistet war, sondern die überhaupt in ihrer Entwicklung die beste sein würde. Leibniz formuliert diesen Gedanken in der Theodizee so: „Und da alles in der Welt weise miteinander verknüpft ist, so ist klar, daß Gott in Voraussicht dessen, was freiwillig geschehen würde, auch die übrigen Dinge im voraus danach geordnet hat, oder – was dasselbe ist – er hat jene mögliche Welt erwählt, in der alles in dieser Weise geordnet war“ (Leibniz II, 1, 287). Nach diesem Konzept ist das Individuum nicht in einer illusionären Weise frei, sondern tatsächlich, da Gott seine freien Entscheidungen bei der Erschaffung der Welt respektiert und berücksichtigt hat. Für die Ethik von Leibniz spielen der Gedanke des Übels einerseits und der des Glücks andererseits die entscheidenden Rollen. Das Problem des Übels ist Teil der Theodizee und beinhaltet die Frage: Wie kann ein weiser, allmächtiger und gütiger Gott die Übel in der Welt zulassen? Zur Lösung nimmt Leibniz zunächst eine Unterscheidung der Übel in drei Arten vor: das metaphysische Übel, das physische Übel und das moralische Übel. Das metaphysische Übel besteht in der Unvollkommenheit der Dinge. Diese Unvollkommenheit musste Gott in Kauf nehmen, weil eine Vollkommenheit aller Dinge, d. h. der Welt, eine Verdoppelung der Vollkommenheit Gottes bedeutet hätte und damit zu einem zweiten in sich selbst nicht unterscheidbaren Gott geführt hätte. Die beiden übrigen Übel, die physischen, z. B. Naturkatastrophen, und die moralischen Übel, die böse Handlungen von Menschen beinhalten, sind nur scheinbar ein Übel, denn sie sind ein notwendiges Mittel, um ein noch größeres Übel zu vermeiden. Allerdings fehlt dem Menschen in vielen Fällen die Erkenntnis dieses Zusammenhangs und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass das scheinbare Übel durch Gott an anderer Stelle ausgeglichen wird. Leibniz folgt hier im Wesentlichen der Argumentation von Augustinus, der bereits bemerkte: „Gott würde ja keinen Menschen geschaffen haben (. . .), dessen künftige Schlechtigkeit er vorausgesehen hätte, wüßte er nicht ebenso, wie er sich ihrer zum Nutzen der Guten bedienen und so das geordnete Weltganze wie ein herrliches Gedicht gewissermaßen mit allerlei Antithesen ausschmücken würde“ (Augustinus, 1991, 29).
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Im Hinblick auf die Kategorie des Glücks verfolgt Leibniz folgenden Gedanken. Er definiert das Glück bzw. die Glückseligkeit als Vollkommenheit. Diese definiert er so: „Vollkommenheit nenne ich alle Erhöhung des Wesens; denn wie die Krankheit gleichsam eine Erniedrigung ist und ein Abfall von der Gesundheit, also ist die Vollkommenheit etwas, so über die Gesundheit steiget, die Gesundheit aber selbst bestehe im Mittel und in der Waage und leget den Grund zur Vollkommenheit“ (Leibniz I, 393).
Die höchste Vollkommenheit besteht in der Nachahmung Gottes: „Die rechte Frucht und wahres Kennzeichen der Liebe Gottes ist die Liebe des Nebenmenschen oder ein ungefärbter Eifer zu Beförderung des allgemeinen Besten. Es ist eine Nachahmung Gottes, so viel an uns; weil Gott alles wohl und aufs beste gemacht, wollen wir auch, so viel wir können, alles bestmöglichst einrichten“ (ebd. 396).
Der Weg dahin aber führt – wie bei Spinoza (vgl. Kap. IV, 2) – nur über „die Erkenntnis Gottes“. Die Wirkungsgeschichte von Leibniz ist zwiespältig. Seine optimistische Annahme, wir lebten in der besten aller Welten, geriet ins Wanken, als das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 eine europaweite Erschütterung auslöste und die Theodizee zum Gegenstand heftiger Kontroversen machte. Die Frage wurde seitdem Thema theologischer und philosophischer Erörterungen. Kants Schrift Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee aus dem Jahre 1791 beendete zwar die philosophische, nicht aber die theologische Diskussion (Marquard, 1982, 57ff.). Eine theologisch argumentierende Lösung des Problems wurde darin gesehen, nicht die Weisheit und die Güte Gottes zu bezweifeln, wohl aber seine Allmacht (Schiwy, 1996). Unbestritten bedeutsam bleiben zwei Bereiche des Denkens von Leibniz: der Bereich der Mathematik und Logik einerseits und sein grundlegender Beitrag zur Entwicklung und Verbreitung des Gedankens der Individualität andererseits.
2. Die Bildung der Individualität (W. v. Humboldt) „Der höchste und lezte Zwek jedes Menschen ist die höchste und proportionirlichste Ausbildung seiner Kräfte in ihrer individuellen Eigenthümlichkeit. (. . .) Die individuellen Charaktere sollen so ausgebildet werden, dass sie eigenthümlich bleiben, ohne einseitig zu werden, dass sie der Erfüllung der allgemeinen Foderungen an allgemeine idealische Vortreflichkeit keine Hindernisse in den Weg legen, nicht bloss durch Fehler und Extreme eigenthümlich sind, aber dagegen ihre wesentlichen Gränzen nicht überschreiten, und in sich consequent bleiben. In dieser innern Consequenz und äussern Congruenz mit dem Ideal sollen alsdann alle gemeinschaftlich zusammenwirken. / Denn nur gesellschaftlich kann die Menschheit ihren höchsten Gipfel erreichen, und sie bedarf der Vereinigung vieler nicht bloss um durch blosse Vermehrung der Kräfte grössere und dauerhaftere Werke hervorzubringen, sondern auch vorzüglich um durch grössere Mannigfaltigkeit der Anlagen ihre Natur in ihrem wahren Reichthum und ihrer ganzen Ausdehnung zu zeigen. (. . .) Das Ideal der Menschheit aber stellt soviele und mannigfaltige
2. Die Bildung der Individualität (W. v. Humboldt)
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Formen dar, als nur immer mit einander verträglich sind. Daher kann es nie anders, als in der Totalität der Individuen erscheinen.“ (W. v. Humboldt: Werke in fünf Bänden. Bd. I. Darmstadt 1969, 224; 339f.).
Wilhelm von Humboldt wird 1767 in Potsdam geboren; zwei Jahre später sein Bruder Alexander. In den Jahren 1787–89 studiert er in Frankfurt/Oder und in Göttingen Jura und andere Fächer. Nach seinem Referendariat am Kammergericht zu Berlin steht er 1790–91 im juristischen Staatsdienst. 1797–1801 lebt er mit seiner Familie in Paris und unternimmt Reisen nach Spanien und ins Baskenland. In den Jahren 1802–08 ist er Preußischer Resident beim Päpstlichen Stuhl in Rom. 1809 erfolgt seine Ernennung zum geheimen Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Inneren. Er ist maßgeblich beteiligt an der Gründung der Universität in Berlin (heute Humboldt-Universität). 1810 erfolgt seine Ernennung zum preußischen Staatsminister und Gesandten. Diese Funktion übt er u.a. beim Wiener Kongress 1814 und bei den Friedensverhandlungen in Paris 1815 aus. 1819 wird er preußischer Minister für Ständische Angelegenheiten in Berlin, wird aber wegen seiner Bedenken gegen die restaurative preußische Politik zum Ende des Jahres entlassen. Die Zeit von 1820 bis zu seinem Tode im Jahre 1835 verbringt er als Privatgelehrter auf seinem Schloss in Tegel (vgl. Berglar, 1970; Borsche, 1990). Humboldts breit gefächertes Denken wird geleitet von dem Prinzip der Entwicklung und Bildung der Individualität. Die Individualität bezeichnet den Charakter, die Eigentümlichkeit des Individuums. Das Individuum ist für ihn das Einzelne, das im Unterschied zum Begriff, der stets das Allgemeine bezeichnet, in der Wirklichkeit gegeben ist. Während Hegel, sein Zeitgenosse, betont, dass die Idee selbst die bestimmende Wirklichkeit darstellt, treten bei Humboldt Wirklichkeit und Idee auseinander. Sie bilden ein Spannungsverhältnis. Sein Interesse am Individuum verbindet sich mit dem an der Wirklichkeit. Mit seiner Thematisierung des Prinzips der Individualität überschreitet Humboldt den philosophischen Ansatz der Aufklärung und wendet sich dem der Romantik zu. Er vermeidet jedoch jede Einseitigkeit und versucht, Impulse aus beiden Denkströmungen zu verbinden. So ist sein Denken bestimmt durch das Prinzip der Vermittlung. Das betrifft die Vermittlung des Individuellen mit dem Idealen und des Empirischen mit dem Spekulativen. Ist das Individuum zwar dadurch ausgezeichnet, dass es in der Erfahrung gegeben ist, so enthält es andererseits in sich selbst bereits spekulative Elemente. Das belegt seine Definition: Das Individuum ist zu verstehen als ein Ensemble von Kräften. Der Charakter des Individuums, d. h. seine Individualität, ist durch das Vorherrschen spezifischer Kräfte bestimmt, die die Tendenz haben, sich zu entwickeln. Das Individuum stellt daher eine teleologische Einheit dar, deren Ziel die Entfaltung der in ihr angelegten Kräfte ist. In ihrer vollendeten Entwicklung verwirklicht sich das Ideal der Menschheit, das als eine harmonische „Totalität der Individuen“ zu verstehen ist. Entwicklung und Bildung der Individualität werden für Humboldt zum Leitfaden seines Denkens. Der spekulative Gehalt des Prinzips der Individualität wird aber noch durch einen weiteren Gedanken gestützt. Zwar ist jedes Individuum durch seine Einzigartigkeit ausgezeichnet und unterscheidet sich daher von allen anderen, aber die damit verbundene Mannigfaltigkeit wird dadurch wieder in einer höheren Einheit aufgehoben, dass sich „die Welt in
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verschiedenen Individuen spiegelt“ (Humboldt I, 239). Humboldt folgt bei seinem Gedanken der Individualität der Metaphysik von Leibniz. Durch diese Metaphysik entgeht Humboldt einer Gefahr, die dem Individualitätsdenken droht. Ist nämlich jedes Individuum von allen anderen völlig verschieden, könnte es zwischen den Individuen keine Gemeinsamkeit geben. Das Individuum wäre völlig isoliert. Auf der menschlichen Ebene bedeutete das, dass Verständigung zwischen den Individuen ebenso unmöglich würde wie die Anerkennung gemeinsamer Handlungsmaßstäbe. Lediglich die metaphysische Annahme, in einer gemeinsamen Welt zu leben und diese in einer Fülle von Variationen individuell zu spiegeln, hebt diese Gefahr auf. Mehr noch: Das Ideal der Menschheit kann überhaupt nur gesellschaftlich erreicht werden. Zwar hat Humboldt seinem Ansatz entsprechend auf die Grenzen des Verstehens des anderen selbst aufmerksam gemacht, doch innerhalb dieser Grenzen gibt es für ihn ein breites Feld der Gemeinsamkeiten. Es auszuloten ist Thema seiner späten sprachphilosophischen Schriften. Der Begriff des Individuums hat zunächst einen logischen und ontologischen Sinn. Er bezeichnet das Einzelne im Unterschied zum Allgemeinen. Ein Individuum ist ‚dieser Stein‘, ‚dieses Blatt‘. ‚dieser Mensch‘, aber auch ‚der Mann‘ im Unterschied zu ‚der Frau‘ in einem geschlechtsspezifischen Sinne, ferner ‚die Nation‘, ‚die Kultur‘, ‚die Sprache‘ usw. Im Zentrum der Überlegungen Humboldts steht der Mensch im weitesten Sinne, d. h. die Welt des Menschen. Dazu gehören neben der Individualität des Menschen, einschließlich seiner Unterschiedenheit in Mann und Frau, der Bereich der Bildung, der Sprache, des Staates und des Rechts. Sein Denken thematisiert Anthropologie im weitesten Sinne. In seiner Abhandlung Plan einer vergleichenden Anthropologie aus dem Jahre 1797 hat er „das Studium des Menschen“ (ebd. 337) als sein zentrales Thema herausgestellt. Einen besonderen Akzent erhält seine Anthropologie dadurch, dass es ihm nicht darauf ankommt, den allgemeinen „Gattungs-Charakter des Menschen“ zu bestimmen, sondern „nur seine individuellen Verschiedenheiten“ aufzusuchen (ebd.). Dabei werden die wesentlichen von den bloß zufälligen unterschieden, ihre Ursachen untersucht und ihre weitere Entwicklung erwogen. Die Wichtigkeit einer vergleichenden Anthropologie ergibt sich nicht nur aus einem theoretischen Interesse. Tatsächlich gibt es – so Humboldt – kein „praktisches Geschäft“ im Leben der Menschen, das nicht auf Menschenkenntnis angewiesen wäre, und zwar gerade in der Kenntnis des individuellen Menschen, „wie er vor unseren Augen erscheint“. Allerdings ist es nicht einfach, sich dabei von einem Begriff des Individuums leiten zu lassen, der weder zu eng noch zu weit ist. Während der Philosoph dazu neigt, einen zu weiten Begriff zu entwickeln und den Menschen nur nach seinen möglichen Anlagen beurteilt, neigt derjenige, der praktischen Geschäften verpflichtet ist, dazu, das Individuum nur in seinen zufälligen Beschränkungen zu betrachten. Beide Gefahren zu vermeiden ist Aufgabe einer vergleichenden Anthropologie. Humboldt entfaltet seinen Plan mit folgenden Worten: „Um zugleich den Menschen mit Genauigkeit zu kennen, wie er ist, und mit Freiheit zu beurtheilen, wozu er sich entwickeln kann, müssen der praktische Beobachtungssinn und der philosophirende Geist gemeinschaftlich thätig seyn. Diese Verbindung aber wird
2. Die Bildung der Individualität (W. v. Humboldt)
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beträchtlich erleichtert, wenn die individuelle Charakterkenntniss in einer vergleichenden Anthropologie zu einem Gegenstande des wissenschaftlichen Nachdenkens erhoben wird“ (ebd. 338).
Die Kenntnis des individuellen Charakters ist für jeden Menschen von Bedeutung, vornehmlich aber für den Gesetzgeber, der den Charakter einer Nation studiert haben muss, um auf sie einwirken zu können. Geht es um das Ideal der Menschheit, so ist auch noch über den Bereich der einzelnen Nation hinauszudenken und das Verhältnis der Nationen zueinander zu bedenken. Dabei zeigt es sich, dass auch die Nationen eine Totalität von Individuen bilden, innerhalb derer jede einzelne ihren Beitrag zu dieser Totalität leistet. Fehlte auch nur eine einzige, so nähme das Ganze Schaden. Humboldt erläutert diesen Gedanken am Beispiel der Schweiz. Er bemerkt: Innerhalb der „Europäischen Nationen“ hat sie „keinen im Ganzen sehr beträchtlichen Antheil an der Kultur und den Fortschritten dieses Welttheils genommen“. Sie hat sich aber die „Einfalt der Sitten“ bewahrt und die „Zahl seiner Bedürfnisse auf so wenige beschränkt“, „dass niemand seine Eigenthümlichkeiten anders als mit innigem Mitgefühl untergehn sehen könnte“ (ebd. 340). Der für Humboldt entscheidende Gedanke ist, dass sich das Ideal der Menschheit nur in der Entwicklung der Individuen zu einer Totalität verwirklichen lässt. Für den einzelnen Menschen bedeutet das: „Der Mensch soll seinen Charakter, den er einmal durch die Natur und die Lage empfangen hat, beibehalten, nur in ihm bewegt er sich leicht, ist er thätig und glücklich. Darum soll er aber nicht minder die allgemeinen Foderungen der Menschheit befriedigen und seiner geistigen Ausbildung keinerlei Schranken setzen. Diese beiden einander widersprechenden Foderungen mit einander verbinden und beide Aufgaben zugleich lösen soll der praktische Menschenkenner“ (ebd. 340 f.).
Die Individualität des einzelnen Menschen und die der Nation stehen in einem Wechselverhältnis. Einerseits bilden die vereinigten Kräfte der einzelnen Menschen erst den Charakter der Nation, andererseits aber ist es die Nation, die die Voraussetzung bildet für die Leistungen einzelner Menschen; denn „der NationalCharakter wird sich in allen Einzelnen spiegeln“ (ebd. 346) und sie in ihrer Tätigkeit inspirieren. Aufgabe des Individuums ist es, die Verhältnisse, in denen er sich befindet, auf sich einwirken zu lassen und keinen Einfluss zurückzuweisen, in seiner Tätigkeit aber diese Einflüsse nach „objectiven Principien“ umzuarbeiten. Auf diese Weise entsteht ein fruchtbares Wechselverhältnis in der Bildung des individuellen Menschen und der Nation, der er angehört. Zur Verwirklichung des Ideals der Menschheit ist das Individuum auf alle anderen angewiesen; denn der „Mensch ist allein genommen schwach, und vermag durch seine eigne kurzdauernde Kraft nur wenig“ (ebd.). Daher ist „zu erforschen, wie die idealische Vollkommenheit, die Einem Individuum unerreichbar ist, sich in mehreren gesellschaftlich ausdrückt“ (ebd. 355). Bei seinem Studium der Verschiedenheit der menschlichen Individuen stößt Humboldt schließlich auf die „hauptsächlichste Thatsache“, die eine vergleichende Anthropologie zu thematisieren hat.
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„Diese Thatsache ist der Unterschied der Geschlechter, welche die Natur zu einer so unverkennbaren Eigenthümlichkeit eines jeden für sich, und einer sich so scharf entgegengesetzten Verschiedenheit bestimmt hat, dass vernünftiger Weise auch nicht einmal der Gedanke entstehen kann, den Charakter des einen mit dem des andern zu vertauschen, oder die Individualität beider durch eine dritte zu vertilgen“ (ebd. 363f.).
Innerhalb der philosophischen Anthropologie gehört Humboldt zu den wenigen Denkern, die das Verhältnis der Geschlechter thematisieren. In den Blick rückt es bei ihm durch den Gedanken der Individualität. Auf diese Weise wird die Individualität der Geschlechter zu einem zentralen Thema einer vergleichenden Anthropologie. Bemerkenswert ist auch, dass Humboldt nicht, wie üblich, als Leitfaden für den Vergleich der Geschlechter den Mann wählt, sondern die Frau. Für seinen Vergleich wählt er vier Kriterien: den Körperbau, die intellektuellen Fähigkeiten, den ästhetischen Charakter und schließlich das Empfindungsvermögen und den Willen. Mit Blick auf das erste Kriterium bemerkt er: Der Körperbau der Frau ist „kleiner, schwächer und zarter; ihre Knochen feiner und biegsamer; die Muskelkraft mehr zum langsamen Ausdauern, als zur plötzlichen Anstrengung geschickt; ihre Gestalt von weichen, fliessenden Umrissen begränzt, voll Fülle und Anmuth (. . .) ihre physische Organisation endlich durch eine überwiegende Reizbarkeit und Thätigkeit des Nervensystems, und eine gewisse Passivität, vermöge welcher sie Uebeln länger widerstehn, und leichter grosse Veränderungen erleiden kann, ausgezeichnet“ (ebd. 364).
Mit Blick auf die intellektuellen Fähigkeiten zeichnet sich die Frau durch eine starke Neigung zur unmittelbaren Betrachtung der Natur aus: Sie wenden sich – so Humboldt – bei der Beobachtung von Objekten immer unmittelbar an die Wirklichkeit selbst und lassen diese auf sich wirken, ohne sie jedoch im Detail aufzudecken und zu „zerlegen“; vielmehr knüpfen sie an dieselbe „ihre subjective Vorstellungsart an“ und „führen in ihr, wie in ihrem eigenthümlichsten Elemente, nur ihr eignes inneres Leben fort“ (ebd. 365). Humboldt fasst die spezifische intellektuelle Leistung des weiblichen Geschlechts so zusammen: „Das Höchste und Beste in der allgemeinsten Geistesthätigkeit überhaupt, das Umfassen eines mannigfaltigen Reichthums, das treue Anhalten an die Natur und den unmittelbaren Gehalt, das Streben, alles und überall zu verknüpfen, das Bedürfniss, das eigne Ich und die umgebende Welt nicht nur immer auf einander zu beziehn, sondern auch durchaus in Eins zu verschmelzen, ist unmittelbar durch seine Natur selbst gegeben“ (ebd. 366).
Während der Mann dazu neigt, die Dinge in ihre Einzelteile zu zerlegen, erfasst die Frau stets den Zusammenhang des Ganzen. Gerade diese Fähigkeit ist aber für den Erkenntnisprozess von besonderer Bedeutung. Daher ist es nicht erstaunlich, wenn Humboldt bemerkt: „Darum wirkt gerade der weibliche Geist so wohlthätig auf den männlichen“ (ebd.). Hinsichtlich des ästhetischen Charakters kommt es auf eine spezifische Fähigkeit an. Bei ihm muss sich die „Energie des Geistes“ in einer mittleren Ebene bewegen „zwi-
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schen der Thätigkeit der Sinnlichkeit und der des reinen Verstandes“ (ebd. 367), d. h. zwischen der bloßen Materie einerseits und dem Begriff andererseits. Diesen Zwischenbereich nimmt die „Gestalt“ ein. Im Blick auf diese Fähigkeit ist die Frau dem Mann überlegen. Humboldt bemerkt: „Diesem Verbinden heterogener Gemüthskräfte, diesem mittleren Schweben zwischen der Wirklichkeit und der reinen Geistigkeit ist nun die ganze intellectuelle Anlage der Frauen in hohem Grade günstig. Sie sind bei gleichen Graden der Kultur durchaus mehr als der Mann auf das Höchste und Idealische gerichtet“ (ebd. 367). Eine Einschränkung, die Humboldt bei der Auszeichnung des ästhetischen Charakters der Frau vornimmt, besteht darin, dass die Frau in der Gefahr steht „ihrer Beurtheilung vielleicht eine zu einseitige, zu sehr aus ihrer Individualität entlehnte Erfahrung zum Grunde zu legen“ (ebd. 369). In Frage steht auch, ob die Frau im Bereich der künstlerischen Produktion in der Lage ist, sich in der Phantasie von jedem fremden Gesetz loszumachen, sich selbst das Gesetz zu geben und „eine Gestalt so hinzustellen, dass sie sich durchaus über die Natur erhebt, und doch ganz und gar Natur ist“ (ebd. 370). Schließlich ist die Individualität der Geschlechter hinsichtlich des Empfindungsvermögens und des Willens zu beurteilen. Folgender Unterschied ist festzustellen: „Wie bei den Männern der Geist, so ist bei den Frauen die Gesinnung am meisten rege und thätig“ (ebd. 371). Das hat eine wichtige Konsequenz: „Denn indess der Geist, wenigstens seinen letzten Zwecken nach, immer im Gebiet der Allgemeinheit und Nothwendigkeit und die Phantasie im Reiche der Möglichkeit verweilt, gehört dem Gefühl und der Gesinnung nur die individuelle Gegenwart an“ (ebd.). Das bedeutet, dass der Geist des Mannes dazu tendiert, sich nicht nur im Bereich der Notwendigkeit, sondern auch in dem der Phantasie und der Möglichkeit aufzuhalten. Der Frau ist dagegen eine „entschiedene und beständige Richtung nach der Wirklichkeit eigen“ (ebd.). Humboldt führt zur Begründung eine bemerkenswerte Überlegung ein. Sie besteht in der Mutterrolle des weiblichen Geschlechts. „Um Leben und Daseyn zu geben und zu erhalten, muss es der Natur und der Wirklichkeit treu bleiben, und sich streng an sie binden“ (ebd.). Der Wirklichkeitssinn der Frau hat eine natürliche, biologische Grundlage. In seiner Theorie der Bildung des Menschen, die allerdings ein Fragment blieb, hat Humboldt den Gedanken der Entwicklung und Bildung der Individualität des Menschen um einen Aspekt bereichert. Die Kräfte des Individuums kommen nur dann zur Entfaltung, wenn sie einen Gegenstand in der Welt haben, an dem sie sich erproben können. Er formuliert diesen Gedanken so: „Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will. Da jedoch die blosse Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die blosse Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt ausser sich“ (ebd. 235).
Auf diese Weise treten Ich und Welt auseinander, um in der Tätigkeit zugleich sich wieder zu verbinden. Die Vermittlung von Ich und Welt geschieht durch Bildung. Der Bil-
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dung kommt dabei eine doppelte Funktion zu: Indem sich der Mensch in seiner Tätigkeit bildet, bildet er zugleich Gegenstände in der Welt. Er prägt selbst der leblosen Natur seinen eigenen Charakter auf und verschafft damit zugleich seinem eigenen Dasein ein bleibendes Fortdauern. Humboldt räumt der Bildung eine zentrale Bedeutung für den Menschen ein. Er sagt: Ohne diese Bildung „wäre das Daseyn des Menschen vergänglicher, als das Daseyn der Pflanze, die, wenn sie hinwelkt, wenigstens gewiss ist, den Keim eines ihr gleichen Geschöpfs zu hinterlassen“ (ebd. 236). Wichtig ist allerdings, dass der Mensch bei aller Hingabe an den Gegenstand seiner bildenden Tätigkeit „in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er ausser sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohlthätige Wärme in sein Innres zurückstrale“ (ebd. 237). Gelänge ihm dies, dann entspräche die äußere Bildung der inneren und der äußere Erfolg seiner Tätigkeit „zeigte sich uns hier, wie in einem zugleich erhellenden und versammelnden Spiegel, in unmittelbarer Beziehung auf unsre innere Bildung“ (ebd. 238). In diesem wechselseitigen Prozess der Bildung entsteht eine „eigne und neue Ansicht der Welt“ (ebd. 239). Die Bildung einer eigenen Weltansicht ist auch das Thema von Humboldts sprachphilosophischen Schriften. Für ihn „liegt in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltansicht“ (Humboldt III, 434). Das bedeutet: Auch der Sprache kommt Individualität zu, und das in einem doppelten Sinne. Die Begründung lautet so: „Denn so wundervoll ist in der Sprache die Individualisirung innerhalb der allgemeinen Uebereinstimmung, dass man ebenso richtig sagen kann, dass das ganze Menschengeschlecht nur Eine Sprache, als dass jeder Mensch eine besondere besitzt“ (ebd. 424). In der Sprache artikuliert sich ein wechselseitiges Verhältnis von Ich und Welt. Während der Mensch auf der einen Seite Eindrücke der Welt empfängt, ist es auf der anderen Seite „die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen“ (ebd. 418). Mit dieser Formulierung definiert Humboldt die Sprache: Sprache ist die Artikulation der Gedanken, die der Mensch aufgrund seiner Auseinandersetzung mit der Welt bildet. Das bedeutet: Die Leistung der Sprache besteht darin, die Eindrücke zu gliedern und sie durch Wörter und Sätze im Rahmen einer für die jeweilige Sprache eigentümlichen grammatischen Struktur zu artikulieren, d. h. zu gliedern. Bedeutsam aber ist, dass die Sprache nicht als lexikalischer Wortschatz, der in Wörterbüchern gesammelt vorliegt, zu verstehen ist, sondern nur im jeweiligen individuellen Akt des Sprechens zum Leben erweckt wird. Schließlich aber erfüllt die Sprache die Aufgabe der Vermittlung zwischen den individuellen Sprechern, ohne dabei die Unterschiede ihrer Gedanken zu verwischen. Humboldt entwickelt die dabei sich entfaltende Dialektik so: „Es lässt sich auch nicht behaupten, dass die Sprache, als allgemeines Organ, diese Unterschiede mit einander ausgleicht. Sie baut wohl Brücken von einer Individualität zur andren und vermittelt das gegenseitige Verständniss; den Unterschied selbst aber vergrössert sie eher, da sie durch die Verdeutlichung und Verfeinerung der Begriffe klarer ins Bewusstseyn bringt, wie er seine Wurzeln in die ursprüngliche Geistesanlage schlägt“ (ebd. 558f.).
2. Die Bildung der Individualität (W. v. Humboldt)
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Auf diese Weise leistet die Sprache einen entscheidenden Beitrag dazu, die mannigfaltigen Unterschiede zwischen den Individuen nicht zu beseitigen, sondern in der Totalität der Individuen zu bewahren. Die Entfaltung einer „freien Individualität“ bildet auch den Kern der staatstheoretischen Überlegungen Humboldts. Er hat sie in seiner Schrift Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen aus dem Jahre 1792 erörtert. Sie stellt den Versuch dar, auf dem Hintergrund der Gedanken der Aufklärung und der Französischen Revolution dem absolutistischen Staat Grenzen zu ziehen. Der ‚citoyen‘, d. h. der Staatsbürger, soll die Möglichkeit haben, innerhalb eines durch den Staat nach Außen und Innen gesicherten Gebiets, seine eigenen Zwecke ungehindert verfolgen zu können. Mit Nachdruck betont er „dass die wahre Vernunft dem Menschen keinen andren Zustand, als einen solchen wünschen kann, in welchem (. . .) jeder Einzelne der ungebundensten Freiheit geniesst, sich aus sich selbst, in seiner Eigenthümlichkeit, zu entwikkeln“ (Humboldt I, 69). Die Entfaltung der indivuellen Freiheit wird jedoch beeinträchtigt, wenn „die überlegene Macht des Staats das freie Spiel der Kräfte hemmt“ (ebd. 72). Das bedeutet z. B., dass sich der Staat aus dem Bereich der Erziehung ebenso herauszuhalten hat wie aus dem der Religion. Es ist auch nicht seine Aufgabe, „positiv auf die Sitten zu wirken“. Ein solcher Versuch liegt „ausserhalb der Gränzen der Wirksamkeit des Staats“. Seine Aufgabe besteht darin, die innere Sicherheit zu gewährleisten und es den Bürgern zu ermöglichen, Verträge auf freiwilliger Basis zu schließen. Innerhalb des Strafrechts ist es Aufgabe des Staats „für die Sicherheit der Bürger Sorge zu tragen“ (ebd. 156) und die Übertretung von Gesetzen zu bestrafen. Man hat Humboldts Staatstheorie als Plädoyer für einen Nachtwächterstaat interpretiert, dabei aber die spezifische geschichtliche Situation verkannt. Sein Hauptanliegen war es, gegenüber einem absolutistischen Staat die Rechte des Staatsbürgers allererst zu erkämpfen. Humboldts Gedanken zur Ethik und Rechtsphilosophie sind ebenfalls von dem Gedanken der Individualität inspiriert. Durch ihn erhält der in der Aufklärung entwickelte Grundsatz der allgemeinen Menschenrechte einen neuen Akzent. Betont das Naturrecht, dass jeder Mensch als Exemplar seiner Gattung dasselbe Menschenrecht hat, so gibt es für Humboldt ein allgemeines Recht des Menschen, als Individuum anerkannt zu werden. Nicht die Berufung auf ein Allgemeines bestimmt seinen ethischen Impuls, nicht die Unterordnung des Einzelnen unter dieses Allgemeine ist für ihn das Entscheidende, sondern die jedem Menschen zustehende Anerkennung seiner Individualität. In seiner Schrift Über den Entwurf zu einer neuen Konstitution für die Juden aus dem Jahre 1809 führt er den Gedanken wie folgt aus:
„Auch soll der Staat nicht gerade die Juden zu achten lehren, aber die inhumane und vorurtheilsvolle Denkungsart soll er aufheben, die einen Menschen nicht nach seinen eigenthümlichen Eigenschaften, sondern nach seiner Abstammung und Religion beurtheilt, und ihn, gegen allen wahren Begriff von Menschenwürde, nicht wie ein Individuum, sondern wie zu einer Race gehörig und gewisse Eigenschaften gleichsam nothwendig mit ihr theilend ansieht. Dies aber kann der Staat nur, indem er laut und deutlich erklärt, dass er keinen Unterschied zwischen Juden und Christen mehr anerkennt“ (Humboldt IV, 97).
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IX. Der Mensch als Individuum
Humboldts Wirkungsgeschichte erstreckt sich zunächst auf den Bereich der Pädagogik. Er entwickelte das neuhumanistische Bildungsideal, das im Bereich der Schule und der Universität leitend wurde. Als wirkungsvoll erwies sich aber auch sein liberales Staatsverständnis. Schließlich hat seine Sprachphilosophie deutliche Spuren in der Transformationsgrammatik von Noam Chomsky hinterlassen.
3. Das Individuum als ‚Wille zur Macht‘ (Nietzsche) „Welcher Grad von Widerstand beständig überwunden werden muß, um obenauf zu bleiben, das ist das Maß der Freiheit, sei es für einzelne, sei es für Gesellschaften: Freiheit nämlich als positive Macht, als Wille zur Macht angesetzt. Die höchste Form der Individual-Freiheit, der Souveränität wüchse demnach, mit großer Wahrscheinlichkeit, nicht fünf Schritt weit von ihrem Gegensatze auf, dort wo die Gefahr der Sklaverei gleich hundert Damoklesschwertern über dem Dasein hängt. Man gehe daraufhin durch die Geschichte: die Zeiten, wo das ‚Individuum‘ bis zu jener Vollkommenheit reif, das heißt frei wird, wo der klassische Typus des souveränen Menschen erreicht ist: o nein! das waren niemals humane Zeiten! Man muß keine Wahl haben: entweder obenauf – oder unten, wie ein Wurm, verhöhnt, vernichtet, zertreten. Man muß Tyrannen gegen sich haben, um Tyrann, d. h. frei zu werden. Es ist kein kleiner Vorteil, hundert Damoklesschwerter über sich zu haben: damit lernt man tanzen, damit kommt man zur ‚Freiheit der Bewegung‘.“ (F. Nietzsche: Werke in drei Bänden. Bd. III. München 1956, 798f.).
Nietzsche wird 1844 in Röcken bei Lützen (Sachsen) geboren. 1864 beginnt er sein Studium der Theologie und klassischen Philologie in Bonn und setzt es 1865 in Leipzig fort. Er liest Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung und ist von ihm sehr beeindruckt. 1868 lernt er Richard Wagner kennen. 1869 wird er auf eine außerordentliche Professur für klassische Philologie in Basel berufen. Er nimmt 1870 freiwillig als Krankenpfleger am Deutsch-Französischen Krieg teil und erkrankt schwer. 1872 erscheint seine Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. Aus gesundheitlichen Gründen muß er 1879 sein Lehramt aufgeben. Nietzsche hält sich von nun an vorwiegend in Norditalien auf. 1883 erscheint der erste Teil von Also sprach Zarathustra, 1886 Jenseits von Gut und Böse und 1887 die Genealogie der Moral. 1889 erfolgt sein geistiger Zusammenbruch in Turin. Er kommt zunächst in die Nervenklinik in Basel, dann in Jena. Ab 1890 pflegt ihn seine Mutter bis zu ihrem Tode, ab 1897 seine Schwester. Nietzsche stirbt 1900 in Weimar (vgl. Frenzel, 1980; Gerhardt, 1982). Nietzsches Denken zentriert sich um den Begriff des Willens, an dessen Geschichte erinnert werden mag. Ein zentrales Thema war dieser Begriff in der Philosophie der Stoa. Sie unterschied zwischen den Dingen, die sich außerhalb von uns befinden und der Notwendigkeit unterworfen sind, und unserem Inneren, in dem wir frei sind. Zu ihm gehört neben Vorstellung, Meinung und Denken, der Wille. Das Konzept des freien Willens (liberum arbitrium) durchzieht die Philosophiegeschichte bis zu Kant und Hegel. Es wird auch in der Theologie vertreten, mit Ausnahme von Augustinus und Luther. Mit Schelling beginnt jedoch eine Neubestimmung des Begriffs. In seiner Philosophie der Offenbarung löst er den Willen aus dem anthropologischen Kontext
3. Das Individuum als ,Wille zur Macht‘ (Nietzsche)
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und macht ihn zu einem ontologischen Grundbegriff. Er sagt: „Wille ist überall und in der ganzen Natur von der tiefsten bis zur höchsten Stufe. Wollen ist die Grundlage aller Natur“ (Schelling, 1856–61. Bd. 13, 213). Diesem Ansatz folgt Schopenhauer. In seinem Werk Die Welt als Wille und Vorstellung unterscheidet er, ähnlich wie Kant, das Ding an sich von dem Bereich der Erscheinung. Für ihn ist jedoch das Ding an sich die Welt, deren Charakter ein blinder Wille ist. Die Erscheinungen, auf die sich die Vorstellungen beziehen, sind Objektivationen des Willens. Objektivationen sind zugleich Individuationen des Willens, den wir in unserer eigenen Körperwahrnehmung intuitiv erkennen. Die Objektivationen des Willens finden auf immer höheren Stufen statt, von den Himmelskörpern bis zu den individuellsten Gestalten des Bewusstseins. Geleitet werden sie von dem Selbsterhaltungstrieb. Damit treten sie jedoch in einen Gegensatz zueinander und in einen Kampf miteinander. Das Ergebnis des Kampfes der Individuen gegeneinander ist Leid. Die Vermeidung des Leids ist nur möglich durch die Aufgabe des ‚principii individuationis‘, des Prinzips der Individualität. Schopenhauer nennt hierfür drei Wege: die Ästhetik, die Ethik und die Askese. In der interesselosen Betrachtung eines Kunstwerks, besonders in dem Hören von Musik, findet eine vorübergehende Aufgabe des Willens statt. In der Ethik sind es die Prinzipien der Gerechtigkeit und des Mitleids, die dasselbe bewirken. Gerechtigkeit bedeutet, niemandem zu schaden (‚neminem laede‘). In besonderer Weise aber wird durch das Mitleid nicht nur der Kampf zwischen den Individuen beendet, sondern überhaupt ihre Differenz aufgehoben. Das Mitleid bewirkt, dass der Mensch „nicht mehr den egoistischen Unterschied zwischen seiner Person und der fremden macht, sondern an den Leiden der andern Individuen so viel Antheil nimmt, wie an seinen eigenen“ (Schopenhauer, 1988, 488). Der dritte Weg ist bestimmt durch Askese, d. h. Resignation. Das bedeutet: „Der Wille wendet sich nunmehr vom Leben ab: ihm schaudert jetzt vor dessen Genüssen, in denen er die Bejahung desselben erkennt. Der Mensch gelangt zum Zustande der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenslosigkeit“ (ebd. 488f.). In der Auseinandersetzung mit Schopenhauer entwickelt Nietzsche seine eigene Philosophie. Die Begriffe Wille, Individualität, Leben, Mitleid und Askese werden darin zu leitenden Themen. Doch die Art ihrer Erörterung wechselt. Es lässt sich eine kurze Zeit vor der Bekanntschaft mit dem Werk Schopenhauers von einer Epoche unterscheiden, in der sich Nietzsche seinen Ansatz zu eigen macht, und schließlich die Phase der entschiedenen Gegnerschaft und der Entwicklung seines Konzepts eines Willens zur Macht. Der ersten Phase gehört eine frühe Abhandlung Nietzsches an, die er im Jahre 1862 unter dem Titel Willensfreiheit und Fatum verfasste. In ihr klingen in erstaunlicher Weise bereits all die Themen an, die sein weiteres Denken bestimmen werden. Zum Verhälnis von Individuum und Wille äußert er sich so: „In der Willensfreiheit liegt für das Individuum das Princip der Absonderung, der Lostrennung vom Ganzen, der absoluten Unbeschränktheit; das Fatum aber setzt den Menschen wieder in organische Verbindung mit der Gesammtentwicklung, und nöthigt ihn, indem es ihn zu beherrschen sucht, zur freien Gegenkraftentwicklung; die fatumlose, absolute Willensfreiheit würde den Menschen zum Gott machen, das fatalistische Princip zu einem Automaten“ (Nietzsche, 1994, Bd. 2, 62).
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IX. Der Mensch als Individuum
Kurz: Individualisierung setzt Willensfreiheit voraus. Sie ist ein Prozess der Absonderung vom Ganzen und der eigenen Kraftentwicklung. Ihr letztes Ziel ist die Apotheose des Individuums. Das Individuum ist ein Absolutes. Nietzsche beschreibt hier vorausgreifend den Gedanken des Individuums als eines Willens zur Macht. Doch dieser Ansatz wird unterbrochen durch Nietzsches Aneignung der Philosophie Schopenhauers. Das zeigt sich in seiner ersten Arbeit, mit der er nach seiner Berufung als Professor der klassischen Philologie an die Öffentlichkeit tritt: Es ist seine Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. Nietzsche vertritt darin die These, dass sich die griechische Tragödie aus zwei Stilelementen zusammensetze, dem Dionysischen und dem Apollinischen. Das Apollinische vertritt das Traumhafte, die Welt der Bilder und den schönen Schein, das Dionysische dagegen den Rausch und die Ekstase. Bedeutsam ist nun jedoch, dass Nietzsche einen Schritt weiter geht. Apoll vertritt das ‚principium individuationis‘, Dionysos dagegen dessen Auflösung. Nietzsche betont, „man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des ‚Scheines‘ (. . .) zu uns spräche“ (Nietzsche, 1980, 1, 28). Den Gegensatz dazu bildet Dionysos. Nietzsche weist daraufhin, dass dem Rausch immer auch ein Grausen beigemischt ist. Er sagt: „Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird“ (ebd.).
Wenngleich die Tragödie durch beide Elemente bestimmt ist, so lässt Nietzsche keinen Zweifel daran, dass für ihn das Dionysische von größerer Bedeutung ist. Unmissverständlich betont er: „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. (. . .) jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder ‚freche Mode‘ zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins“ (ebd. 29).
In der Tragödie wird deutlich „dass wir also den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten“ (ebd. 72). Doch gegen die Auflösung der Individualität im Rausch steht die strenge Forderung Apollos. Nietzsche bemerkt: „Apollo aber tritt uns wiederum als die Vergöttlichung des principii individuationis entgegen (. . .). Diese Vergöttlichung der Individuation kennt (. . .) nur Ein Gesetz, das Individuum d. h. die Einhaltung der Grenzen des Individuums, das Maass im hellenischen Sinne. Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den Seinigen das Maass und, um es einhalten zu können, Selbsterkenntniss“ (ebd. 39 f.).
3. Das Individuum als ,Wille zur Macht‘ (Nietzsche)
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In der Tragödie ergibt sich das Zusammenspiel beider Momente aus dem Zusammenwirken des Chores, der das Musikalische, Dionysische vertritt, mit dem Dramatischen, der Handlung, die das Dialogische und Rationale, das Apollinische, ausmacht. In der Geschichte der griechischen Tragödie gewann das Dramatische, der rationale Dialog, eine immer größere Bedeutung im Verhältnis zum Musikalischen. An dieser Vorherrschaft des Rationalen ging schließlich die Tragödie „zu Grunde“ (ebd. 75). Sokrates, der dem Konzept des rationalen Dialogs zum Durchbruch verhalf, hatte dabei den entscheidenden Anteil (vgl. ebd. 83). Der Gegensatz, den Nietzsche hier thematisiert, ist der von Rationalität und Rausch, der von Vernunft und Leben. Mit anderen Denkern seiner Zeit verbindet Nietzsche ein großes Misstrauen gegenüber der Vernunft. Es führt zu einem Bruch nicht nur mit dem Idealismus Hegels, sondern zu einem Bruch mit der Metaphysik und der Theologie. An ihre Stelle tritt die Suche nach der Wirklichkeit, und die ist für die Hegelkritiker dieser Zeit der einzelne Mensch, wie bei Kierkegaard oder die gesellschaftliche Wirklichkeit wie bei Marx. Nietzsche findet die maßgebliche Wirklichkeit im Leben. Das verbindet ihn mit Dilthey. Wie dieser ist Nietzsche davon überzeugt, dass das Leben nicht vor den „Richterstuhl der Vernunft“ gezogen werden könne und dass das Leben durch ein Irrationales bestimmt sei. Bei allen Unterschieden können Nietzsche wie Dilthey, der übrigens wie jener eine Zeit lang Professor in Basel war, der Lebensphilosophie (Fellmann, 1993) zugerechnet werden. Für Nietzsche verbindet sich der Begriff des Lebens mit dem des Willens zur Macht, dessen Konzept er nach seinem Bruch mit der Philosophie Schopenhauers entwickelte (vgl. Frenzel, 1980, 123). Er interpretiert alle zentralen Begriffe von Schopenhauer neu, und zwar im Verhältnis zu ihm im genau entgegengesetzten Sinn. An die Stelle der Resignation tritt die Lebensbejahung, an die der Willensverneinung der Wille zur Macht, an die der Aufhebung des ‚principii individuationis‘ das Prinzip der Individualität und schließlich an die Stelle des Mitleids die Propagierung der Härte gegen sich und andere. Wille zur Macht und Leben bilden für ihn eine unhintergehbare Einheit. Er sagt: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein. (. . .) Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht!“ (Nietzsche, 1980, 4, 147ff.). Das Leben und der Wille zur Macht bilden nicht nur eine Einheit, sie sind auch beide ontologisch fundiert. Das Leben ist nicht nur eine biologische, sondern vor allem eine ontologische Kategorie. Er sagt: „Das Sein – wir haben keine andere Vorstellung davon als ‚leben‘. – Wie kann also etwas Totes ‚sein‘?“ (Nietzsche III, 483). Daraus folgt: Da alles Leben ist, kann es keinen Willen zum Leben geben, sondern nur einen Willen des Lebens. Dieselbe ontologische Fundierung gilt für den Willen zur Macht. Er sagt: Jedes „Atom wirkt in das ganze Sein hinaus, – es ist weggedacht, wenn man diese Strahlung von Machtwillen wegdenkt. Deshalb nenne ich es ein Quantum ‚Wille zur Macht‘“ (Nietzsche, 1980, 13, 258). Daraus entwickelt sich der Ansatz einer neuen Physik, deren Grundbegriff der ‚Wille zur Macht‘ ist. Nietzsche entwickelt den Gedanken so: „Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper darnach strebt, über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen (– sein Wille zur Macht:) und Alles
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IX. Der Mensch als Individuum
das zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt. Aber er stößt fortwährend auf gleiche Bestrebungen anderer Körper und endet, sich mit denen zu arrangiren (‚vereinigen‘), welche ihm verwandt genug sind: – so conspiriren sie dann zusammen zur Macht. Und der Prozeß geht weiter. . .“ (ebd. 13, 373f.).
Damit wird deutlich, dass für Nietzsche der ‚Wille zur Macht‘ zur Grundlage einer eigenen Weltanschauung wird. Er formuliert ihr Prinzip so: „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ (Nietzsche III, 917). Im Bereich der Anthropologie geht die Willensbejahung einher mit dem Bekenntnis zum Prinzip der Individualität. Nietzsche stimmt mit Schopenhauer darin überein, dass jede Individualisierung mit einer Zunahme an Leid verbunden ist. Es war jedoch gerade das Beispiel der antiken Tragödie, das ihn in ihrer Neubewertung zu der Einsicht geführt haben mag, dass das Leid zum menschlichen Leben gehört und dass die Leidvermeidung sich jedenfalls nicht mit dem Lebenskonzept eines tragischen Helden verbinden lässt. Nietzsche entwickelt auf diesem Hintergrund das Modell einer tragischen Anthropologie, die nichts zu tun hat mit dem von Schopenhauer konzipierten Pessimismus. Individualität bedeutet bei Nietzsche Machtsteigerung, Akzeptierung des Leids, Verachtung des Glücks und Bereitschaft zur Vereinzelung und Einsamkeit. Wie sehr Nietzsche Schopenhauer umkehrt und sich damit zugleich auch von seiner bisherigen Interpretation der griechischen Tragödie distanziert, belegt folgende Aussage: „Das Individuum ist etwas ganz Neues und Neuschaffendes, etwas Absolutes, alle Handlungen ganz sein Eigen. / Die Werte für seine Handlungen entnimmt der einzelne zuletzt doch sich selber: weil er auch die überlieferten Worte sich ganz individuell deuten muß“ (III, 913). Bemerkenswert ist, dass Nietzsche das Individuum aus einer geschichtlichen Entwicklung begreift. Es ist keineswegs in jeder Zeit als geschichtlicher Akteur anzutreffen, sondern das Ergebnis eines langen und mühevollen geschichtlichen Prozesses, in dem die Menschheit sich disziplinierte, und „mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar“ wurde (Nietzsche 1980, Bd. 5, 293). Doch nicht die Sittlichkeit der Sitte ist das Ziel der Entwicklung der Menschheit, sondern nur das Mittel, um etwas hervorzubringen, das über diesen Zustand hinausgeht: das Individuum. Nietzsche beschreibt das Ziel so: „Stellen wir uns dagegen an’s Ende des ungeheuren Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt, wo die Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zu Tage bringt, wozu sie nur das Mittel war: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum“ (ebd.).
Das souveräne Individuum ist nicht mehr an die Sitte gebunden, sondern schafft seine eigenen Werte aus sich heraus. Es ist ‚legibus absolutus‘, d. h. den Gesetzen nicht unterworfen. Es ist autonom; es ist ein Absolutes. Das Ziel kann es daher auch nicht sein, das Individuum zu einem bloßen Exemplar der Gattung Mensch zu machen. Die Frage lautet vielmehr:
3. Das Individuum als ,Wille zur Macht‘ (Nietzsche)
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„Sollte nicht umgekehrt jedes Individuum der Versuch sein, eine höhere Gattung als den Menschen zu erreichen, vermöge seiner individuellsten Dinge? Meine Moral wäre die, dem Menschen seinen Allgemeincharakter immer mehr zu nehmen und ihn zu spezialisiren, bis zu einem Grade unverständlicher für die Anderen zu machen (und damit zum Gegenstand der Erlebnisse, des Staunens, der Belehrung für sie)“ (ebd. Bd. 9, 237).
Das Individuum, das über die bisherige Gattung des Menschen hinausgeht, bezeichnet Nietzsche als den Übermenschen. In seinem Werk Also sprach Zarathustra hat er dieses Konzept entfaltet. In einer Rede an das „Volk“ legt er Zarathustra folgende Worte in den Mund: „Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden? / Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden?“ (ebd. Bd. 4, 14).
Mit diesem Konzept der Entwicklung des Menschen sieht sich Nietzsche in einem deutlichen Kontrast zur Evolutionstheorie Darwins. Seine Kritik entzündet sich vor allem an dem Ausdruck ‚Kampf ums Dasein‘. Nietzsche argumentiert ideologiekritisch, wenn er bemerkt: „Um den ganzen englischen Darwinismus herum haucht Etwas wie englische Uebervölkerungs-Stickluft, wie Kleiner-Leute-Geruch von Noth und Enge. Aber man sollte als Naturforscher, aus seinem menschlichen Winkel herauskommen: und in der Natur herrscht nicht die Nothlage, sondern der Ueberfluss, die Verschwendung, sogar bis in’s Unsinnige. Der Kampf um’s Dasein ist nur eine Ausnahme, eine zeitweilige Restriktion des Lebenswillens; der grosse und kleine Kampf dreht sich allenthalben um’s Uebergewicht, um Wachsthum und Ausbreitung, um Macht, gemäss dem Willen zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist“ (ebd. Bd. 3, 585f.).
Nietzsche wendet sich gegen den Gedanken, das Ziel der Evolution sei die Arterhaltung. Es geht aber – so Nietzsche – bei der Entwicklung nicht um Erhaltung, sondern um Machtsteigerung. Zum anderen aber steht in ihrem Zentrum auch nicht die Gattung, sondern das Individuum. Nicht Arterhaltung, sondern Individuation ist das Ziel der Evolution. Nietzsche erläutert diesen Gedanken so: „Die Individuation, vom Standpunkt der Abstammungstheorie beurteilt, zeigt das beständige Zerfallen von eins in zwei und das ebenso beständige Vergehen der Individuen auf den Gewinn von wenig Individuen, die die Entwicklung fortsetzen: die übergroße Masse stirbt jedes Mal ab (‚der Leib‘). / Das Grundphänomen: unzählige Individuen geopfert um weniger willen: als deren Ermöglichung.– Man muß sich nicht täuschen lassen: ganz so steht es mit den Völkern und Rassen: sie bilden den ‚Leib‘ zur Erzeugung von einzelnen wertvollen Individuen, die den großen Prozeß fortsetzen“ (Nietzsche III, 897).
Ebenfalls im Gegensatz zu Darwin sieht Nietzsche die Sexualität keineswegs nur in ihrer Bedeutung für die Gattung, sondern als ein individuelles Ereignis. Er sagt:
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IX. Der Mensch als Individuum
„Die ungeheure Wichtigkeit, mit der das Individuum den geschlechtlichen Instinkt nimmt, ist nicht eine Folge von dessen Wichtigkeit für die Gattung, sondern das Zeugen ist die eigentliche Leistung des Individuums und sein höchstes Interesse folglich, seine höchste Machtäußerung (natürlich nicht vom Bewußtsein aus beurteilt, sondern von dem Zentrum der ganzen Individuation)“ (ebd. 898).
Im Bereich der Ethik bildet das Individuum ebenfalls den zentralen Bezugspunkt der Überlegungen Nietzsches. Das autonome Individuum ist es, das sich nicht einer vorgegebenen Moral unterordnet, sondern das sich selbst Gesetze gibt und neue Werte schafft. Doch die Entwicklung eines autonomen Individuums ist an bestimmte geschichtliche Bedingungen geknüpft, denn die Moral ist selbst ein geschichtliches Phänomen. Nietzsche hat die Entwicklung der Moral in zwei Schriften thematisiert: in Jenseits von Gut und Böse aus dem Jahr 1886 und in Genealogie der Moral von 1887. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der Gegensatz von zwei Typen von Moral. Er sagt: „Es giebt Herren-Moral und Sklaven-Moral“ (Nietzsche 1980, 5, 208). Zwischen beiden Typen gibt es jedoch auch Mischformen und Versuche der Vermittlung. In ihrer reinen Form ist die Herren-Moral durch folgende Merkmale ausgezeichnet: Es sind die Herrschenden, die den Begriff ’gut‘ definieren. Mit ihm ist der erhobene Zustand der Seele des „vornehmen Menschen“ charakterisiert. Mit dem Wort ‚vornehm‘ werden Rangunterschiede bezeichnet. Der vornehme Mensch bewahrt gegenüber Menschen niederen Rangs einen Abstand. Ihn zeichnet ein „Pathos der Distanz“ (vgl. Gerhardt, 1988) aus. „Der vornehme Mensch trennt die Wesen von sich ab, an denen das Gegentheil solcher gehobener stolzer Zustände zum Ausdruck kommt: er verachtet sie“ (Nietzsche, 1980, 5, 209). Den Gegensatz zu dem Begriff ‚gut‘ bildet der Begriff ‚schlecht‘. Der Gegensatz von ‚gut‘ und ‚schlecht‘ ist identisch mit dem von ‚vornehm‘ und ‚verächtlich‘. Verächtlich sind nach der Herren-Moral folgende Menschen: „Verachtet wird der Feige, der Ängstliche, der Kleinliche, (. . .) der Sich-Erniedrigende, die Hunde-Art von Mensch, welche sich misshandeln lässt, der bettelnde Schmeichler, vor Allem der Lügner“ (ebd.). Die Herren-Moral betrifft nicht in erster Linie Handlungen, sondern charakterisiert Menschen. Es sind die Aristokraten. „Die vornehme Art Mensch fühlt sich als werthbestimmend (. . .). Alles, was sie an sich kennt, ehrt sie: eine solche Moral ist Selbstverherrlichung. Im Vordergrunde steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung (. . .). Der vornehme Mensch ehrt in sich den Mächtigen, auch Den, welcher Macht über sich selbst hat, (. . .) der mit Lust Strenge und Härte gegen sich übt und Ehrerbietung vor allem Strengen und Harten hat. (. . .) Eine solche Art Mensch ist eben stolz darauf, nicht zum Mitleiden gemacht zu sein“ (ebd.).
Der „vornehme Mensch“ begegnet dem Ideal der Selbstlosigkeit mit Feindschaft und Ironie und dem Mitgefühl und dem ‚warmen Herzen‘ mit Geringschätzung. Im Gegensatz dazu steht die Sklaven-Moral. Ähnlich wie bei der Herren-Moral ist es ein bestimmter Typus Mensch, der ihr zugehört. Es sind die „Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien, Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden“ (ebd. 211). Diese Menschen werfen einen pessimistischen Blick auf die Welt. Sie haben einen
3. Das Individuum als ,Wille zur Macht‘ (Nietzsche)
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Argwohn gegen die Lage des Menschen im Allgemeinen und tendieren dazu, den Menschen selbst zu verurteilen. Ihr Verhältnis zu den Mächtigen ist durch Misstrauen bestimmt und durch den Zweifel, dass deren Glück echt ist. „Umgekehrt werden die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier kommt das Mitleiden, die gefällige hülfbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit zu Ehren –, denn das sind hier die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeits-Moral“ (ebd. 211).
Die Sklaven-Moral bezeichnet die genannten Eigenschaften als gut und alles was diesen Tugenden entgegensteht als böse. Nicht nur das Christentum, sondern die gesamte Kultur seiner Zeit sieht Nietzsche unter der Vorherrschaft der SklavenMoral. Was aber sind die Bedingungen für die Entwicklung eines souveränen, autonomen Individuums? Nietzsche beschreibt sie so: Voraussetzung ist eine aristokratische Gesellschaft, die „im beständigen Kampfe mit den Nachbarn oder mit den aufständischen oder Aufstand drohenden Unterdrückten“ in sich Tugenden groß gezüchtet hat, die es ihr ermöglicht, ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten: „Sie thut es mit Härte, ja sie will die Härte; jede aristokratische Moral ist unduldsam“ (ebd. 215). Schließlich aber ist die Herrschaft gesichert, „die ungeheure Spannung lässt nach; es giebt vielleicht keine Feinde mehr unter den Nachbarn, und die Mittel zum Leben, selbst zum Genusse des Lebens sind überreichlich da“ (ebd.). In diesem Moment aber hat sich die aristokratische Moral, die nur aus der Herrschaftssicherung heraus entstanden ist, überlebt. Es entsteht ein Wendepunkt in der Geschichte: „Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt; das ‚Individuum‘ steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung“ (ebd. 216). Nietzsches Individualismus gipfelt in einer Apotheose des Machtmenschen, die weltanschauliche Züge trägt. Als Beispiele nennt er im antiken Griechenland die Sophisten, die das „Recht des Stärkeren“ vertraten, den RenaissanceFürsten Cesare Borgia und für sein Jahrhundert Napoleon (vgl. Frenzel, 1980, 125). Die Gesellschaft ist jedoch diesen Individuen nicht gewachsen. Sie versucht, sie zu bekämpfen und ihnen gegenüber eine andere Art Mensch durchzusetzen, nämlich die „Mittelmässigen“ (Nietzsche, 1980, Bd. 5, 217). Einen politischen Ausdruck finden diese – so Nietzsche – z. B. in den Forderungen nach Demokratie und Sozialismus. Nietzsches Wirkungsgeschichte hält unvermindert an. Sie ist jedoch nicht geradlinig verlaufen. Nachdem er mit seiner Schrift über die Tragödie eine kurze, aber heftige fachwissenschaftliche Auseinandersetzung hervorgerufen hatte, blieben seine weiteren philosophischen Veröffentlichungen weitgehend unbeachtet. Eine Ausnahme bildete der dänische Literaturhistoriker Georg Brandes, der im Jahre 1888 an der Universität Kopenhagen Vorlesungen „über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche“ hielt. Zu Beginn des 20. Jh.s entstand eine Phase der weltanschaulichen Vereinnahmung, die im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreichte. Zu nennen
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IX. Der Mensch als Individuum
wäre Alfred Baeumler, der auch Texte von Nietzsche herausgab. Reale Anknüpfungspunkte fanden diese Versuche in Nietzsches Konzept einer ‚Herren-Moral‘ und in dem unter Mitwirkung von Nietzsches Schwester herausgegebenen Buch Der Wille zur Macht. Ausgeblendet wurde Nietzsches Kritik des Antisemitismus und des Nationalismus, der sich in Deutschland nach der Reichsgründung entwickelte (vgl. Mann, 1966, 479f.). Parallel dazu fand eine fachphilosophische Rezeption statt. Nietzsche wurde im Kontext der Metaphysikgeschichte interpretiert. Zu nennen wären Karl Löwith (1935), Karl Jaspers (1936) und Martin Heidegger (1936ff.). Bei ihnen blieben weltanschauliche Aspekte im Werk Nietzsches weitgehend unberücksichtigt. Das gilt auch für philosophische Interpretationen in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s. Angemessen wäre es jedoch, beide Aspekte seines Denkens in Beziehung zu setzen. In der französischen Philosophie entfalteten die lebensphilosophischen Aspekte eine beachtliche Wirkung.
3. Das Individuum als ,Wille zur Macht‘ (Nietzsche)
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Individuum und Person
X.
Zum Begriff der Person
Der lateinische Begriff ‚persona‘ ist eine Übersetzung des griechischen Wortes ‚prosopon‘, das soviel wie ‚Maske‘ bedeutet. Masken fanden in griechischen Kulten ihre Verwendung als Schutzmaske, die feindliche Mächte abwehren, oder als magische Maske, die dem Träger die Kraft der dargestellten Dämonen geben sollte (Lesky, 1984, 46ff.). In der griechischen Tragödie bekam sie eine neue, zentrale Bedeutung. Sie wurde nun von einem Schauspieler (hypokrites) getragen und repräsentierte die Rolle in einem Drama, das zu Ehren des Gottes Dionysos aufgeführt wurde. Die in Griechenland entstandene Tragödie ist in ihrer Bedeutung für die europäische Geschichte kaum zu überschätzen. Im Unterschied zu rein rituellen öffentlichen Handlungen von Priestern, z. B. Opferhandlungen, stellt sie den Versuch dar, das Schicksal von Menschen nur durch Schauspieler aufzuführen und den Zuschauern in einer erschütternden und beispielhaften Weise nahe zu bringen. Das aufgeführte Drama konfrontierte jeden, der es verfolgte, mit seiner eigenen Situation. Es ist diese prinzipielle Bedeutung, die die Voraussetzung dafür wurde, dass bei der Übersetzung des Begriffs ‚prosopon‘ in ‚persona‘ eine weitgehende Bedeutungserweiterung stattfand. Die erste besteht darin, dass die Bedeutung von Person im Sinne von ‚Maske eines Schauspielers‘ erweitert wurde und zur allgemeinen Kennzeichnung des Menschen genommen wurde. Dazu war es nötig, die Bühne und die Schauspieler auf ihr als Metapher für die Situation des Menschen in der Welt zu nehmen. Der Gedanke ist, dass die ganze Welt eine Bühne ist und die Menschen die Schauspieler auf ihr. Im römischen Sprachgebrauch gewannen drei Bedeutungen von ‚persona‘ zunehmend an Bedeutung: a) als Rolle, b) als Personalpronomen und c) als Rechtssubjekt. Cicero kommt das Verdienst zu, den Begriff der Person zur Grundlage einer neuen anthropologischen Definition gemacht zu haben: Der Mensch ist Person. Doch das ist er in zweifacher Hinsicht: zum Einen dadurch, dass er eine Rolle spielt und zum Zweiten als einzelner Mensch mit singulären Eigenschaften, d. h. als individuelle Person. Im Neuen Testament hat der Begriff der Person ausschließlich die Bedeutung von Rolle. Für die Kirchenväter Tertullian und Augustinus gewinnt der Begriff der Person eine besondere Bedeutung innerhalb der Überlegungen zur göttlichen Trinität.
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X. Zum Begriff der Person
Boethius, Anhänger der antiken Philosophie und Christ, verbindet zwei der von Cicero genannten Aspekte miteinander: Die der Vernunft und die der Individualität. Merkwürdigerweise gerät bei ihm dabei das zugrundeliegende Rollenmodell ganz aus dem Blick. Gleichwohl gibt seine Definition der Person als einer vernunftbegabten, individuellen Substanz dem weiteren theologischen und philosophischen Denken eine neue Richtung, so z. B. bei Thomas von Aquin. In der Neuzeit entwickelt Locke seine Definition der Person im Kontext der Philosophie der Subjektivität. Es handelt sich um die vermittelte Identität des Selbstbewusstseins. Derjenige ist Person, der sich im Akt des Wahrnehmens seiner selbst als eines wahrnehmenden Subjekts bewusst ist. Kant entwickelt den Begriff der Person im Verhältnis zu dem des Ichs. Das Ich als Subjekt gehört seiner Transzendentalphilosophie an, das Ich als Person einer sich davon unterscheidenden anthropologischen Fragestellung. Der Begriff der Person hat eine zentrale Stellung in seiner Anthropologie, seiner Ethik und seiner Rechtsphilosophie.
1. Der Mensch als Person (Cicero) „Auch muß man einsehen, daß wir von der Natur gleichsam mit zwei Rollen (personis) ausgestattet sind: die eine davon ist eine gemeinsame daher, weil wir alle teilhaftig sind der Vernunft und des Vorzugs, durch den wir uns auszeichnen vor den Tieren, (. . .) die andere aber eine, die in besonderem Sinne den einzelnen zugeteilt ist (quae proprie singulis est tributa). Wie es nämlich bei den Körpern sehr große Unterschiede gibt – die einen, so sehen wir, sind durch Schnelligkeit im Laufen, die anderen durch ihre Kraft zum Ringen gut, und ebenso haben andere in ihrer Erscheinung Würde, wieder andere Schönheit –, so zeichnen sich im Geist noch größere Verschiedenheiten ab. (. . .) Und zu den zwei Rollen (personis), die ich oben besprochen habe, fügt sich eine dritte, die irgendein Zufall oder ein Zeitumstand auferlegt, ferner eine vierte, die wir uns selbst aufgrund unseres persönlichen Urteils zumessen. Die Stellung von Königen und Feldherren, Adel, Ehrenstellen, Reichtum und Machtmittel, und was dem entgegengesetzt ist, werden – dem Zufall anheimgestellt – von den Umständen bestimmt. Welche Rolle (personam) wir aber selbst spielen wollen, das hängt von unserem Wollen ab. Deshalb wenden sich die einen der Philosophie, andere dem Bürgerrecht, andere der Beredsamkeit zu, und jeder will sich lieber gerade in einer anderen Tüchtigkeit auszeichnen.“ (Cicero: De officiis / Vom pflichtgemäßen Handeln (lat. / deutsch), Stuttgart 1992, 95 u.101).
Cicero, der dem Ritterstande entstammt, wird 106 v. Chr. in Arpinum geboren. Schulbildung und Studium der Jurisprudenz, der Rhetorik und der Philosophie erfolgen bis zum Jahre 82 v. Chr. in Rom. Für das Jahr 81/80 ist sein erstes Auftreten als Gerichtsredner belegt. 79–77 folgen Bildungs- und Studienreisen nach Griechenland. 75 übt er eine Quästur in Lilybaeum (Sizilien) aus. Mit dem erfolgreichen Prozess gegen Verres erfolgt sein Durchbruch zum ‚ersten Redner Roms‘. 63 wird er Konsul. Seine Tätigkeit ist bestimmt durch die Abwehr der politischen Umsturzversuche Catilinas und die Hin-
1. Der Mensch als Person (Cicero)
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richtung der Catilinarier. Diese Aktionen werden jedoch schon bald heftig kritisiert und so erfolgt 58/57 seine Verbannung und sein Exil in Griechenland. Es entstehen erste philosophische Werke. Im Bürgerkrieg, in den Jahren 49–47, befindet er sich auf Seiten der Pompeianer und in Gegnerschaft zu Caesar. Im Jahre 47 erfolgt seine Begnadigung durch ihn. In den folgenden Jahren entstehen weitere philosophische Werke. Nach Caesars Ermordung im Jahre 44 erlangt er erneut eine Autoritätsstellung im Senat. Seine öffentlichen Angriffe gegen ehemalige Anhänger Caesars führen jedoch zu seiner Ermordung durch sie im Jahre 43 (vgl. Stroh, 2010). Ciceros Wirken beinhaltet die Bereiche der Rhetorik, der Politik und der Philosophie. Seine Lebenszeit fällt philosophiegeschichtlich in die Epoche des Hellenismus, „den Zeitraum der letzten drei vorchristlichen Jahrhunderte“ (Hossenfelder, 1985, 13). Zu ihm gehören die Stoa, der Epikureismus und die Skepsis. In seiner Erkenntnistheorie vertritt Cicero einen gemäßigten Skeptizismus. Seine Devise besteht darin, nach Prüfung der Argumente und Gegenargumente, sich für die wahrscheinlichste Aussage zu entscheiden. In seiner Ethik vertritt er weitgehend stoische Positionen unter Einbeziehung platonischer und aristotelischer Gedanken. Im Einklang mit Lehren der Stoa betont er: Da „nach Auffassung der Stoiker alles, was auf der Erde entsteht, zum Nutzen der Menschen geschaffen wird, die Menschen aber um der Menschen willen da sind, damit sie sich gegenseitig nützlich sein können, sind wir verpflichtet, darin der Führung der Natur zu folgen und den gemeinsamen Nutzen durch gegenseitige Pflichterfüllung, durch Geben und Nehmen in den Mittelpunkt unserer Interessen zu stellen“ (Cicero, 2008, I, 19). Wichtige Motive seines Denkens klingen hier an: die Allnatur, die die Grundlage des menschlichen Lebens bildet, die Devise, mit ihr im Einklang zu leben, und der Gedanke der Pflichterfüllung im Interesse des Gemeinwohls. Der Ethik kommt daher in seiner Philosophie die entscheidende Bedeutung zu. Alle theoretischen Erkenntnisse erhalten ihren Sinn durch ihre praktische Bedeutung. Diesem Ansatz folgt auch seine eigene, weitgehend der Politik gewidmete, Lebensführung. Philosophiegeschichtlich bedeutsam ist Cicero jedoch durch einen anderen Aspekt geworden. Er hat aufgrund seines intensiven Studiums der griechischen Philosophie sich ihre Begrifflichkeit angeeignet und diese ins Lateinische übersetzt. So ist er zum Tradenten, Interpreten und Dolmetscher der griechischen Philosophie in den lateinischen Westen geworden. In den Kontext der Übertragung der griechischen Sprache ins Lateinische gehört auch die Übersetzung des griechischen Begriffs ‚prosopon‘ für Maske in lateinisch ‚persona‘. Nun gehört das Wort ‚prosopon‘ der Theatersprache an und ist daher kein philosophischer Begriff. Umso bedeutsamer ist es, dass er nicht zuletzt durch Cicero zu einem solchen wird. Er ist maßgeblich daran beteiligt, dass der Begriff der Person zu einem neuen Grundbegriff der philosophischen Anthropologie wird, der eine weit verzweigte Wirkungsgeschichte entfaltet. Um seine Entwicklung zu verstehen, ist seine komplexe Vorgeschichte zu berücksichtigen. Sie umfasst folgende Aspekte: Erstens die Person als Rolle in einem Drama, zweitens als anthropologische Metapher, drittens als Personalpronomen und viertens als Rechtssubjekt. Für den Aspekt der Rolle ist darauf hinzuweisen, dass ausgehend vom griechischen Drama die Römer im ersten vorchristlichen Jahrhundert, also zur Zeit Ciceros, auch in ihren Tragödien und Komödien die Schauspieler mit Masken auftreten ließen (Wilpert,
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X. Zum Begriff der Person
1969, 472). Die Maske zeigt die Rolle und verbirgt den Schauspieler hinter ihr. Zwischen ihm und seiner Maske entwickelt sich das Verhältnis des Schauspielers zu seiner Rolle. Das Schauspiel thematisiert tragische und komische Situationen des Lebens. Es repräsentiert in exemplarischer Weise menschliche Dramen. Daher liegt es nicht fern, die Welt selbst als eine Bühne zu begreifen und die auf ihr handelnden Menschen als Schauspieler. Die Person, die er darstellt, wird zu einer anthropologischen Metapher für die Rolle, die jeder Mensch auf der großen Weltbühne spielt. Als einer der ersten, der diesen Vergleich zog, wird Pythagoras erwähnt, und bemerkenswerter Weise ist es Cicero, der darüber berichtet. Auf die Frage nach dem Wesen des Philosophen habe Pythagoras geantwortet, „das Leben der Menschen scheine ihm gleich zu sein wie jener Markt, der im ganzen Glanz der Spiele und in der Anwesenheit ganz Griechenlands abgehalten zu werden pflege“ (Cicero 2008, I, 438). Bei diesen Wettkampfspielen träten die einen als Wettkämpfer auf und andere als Händler, die ihre Waren anböten. „Es gebe aber einige seltene, die alles Andere verachteten und die Natur der Dinge aufmerksam betrachteten. Diese nennten sich Liebhaber der Weisheit, eben Philosophen“ (ebd. 438f.). Die Geschichte ist ein Beispiel für die Wahl einer Lebensweise (bios) auf dem Markt des Lebens und mit ihr entscheidet sich der Mensch für eine Rolle, die er auf ihm zu spielen gedenkt. Platon greift den Gedanken der freien Wahl des eigenen Lebensloses in seinem Schlussmythos in der Politeia auf. Bei Aristoteles schließlich werden in Fortführung der Pythagoras zugeschriebenen Erzählung ebenfalls drei Lebensweisen, zwischen denen man sich zu entscheiden hat, erläutert. Es ist die am Genuss orientierte Lebensweise (bios apolaustikos), die politisch-praktische Lebensweise (bios praktikos) und die theoretische Lebensweise (bios theoretikos), die, analog zur philosophischen bei Pythagoras, als die höchste dargestellt wird. Der dritte Aspekt betrifft die Person in einem grammatisch-rhetorischen Kontext. Der römische Grammatiker Varro (geb. 116 v. Chr.), ein älterer Zeitgenosse Ciceros, entwickelt das Konzept der Personalpronomina im Kontext der Rhetorik. Nach ihm gibt es drei Sprecherrollen, „da es dreierlei Personen gibt, den, der spricht, den, zu dem, und den, von dem gesprochen wird“ (HWP 7, Sp. 272). Der Ausdruck ‚persona‘ im Kontext der Grammatik kann als ‚Sprecherrolle’ verstanden werden, aber auch als erste, zweite, dritte Person‘. Den vierten Aspekt thematisiert Cicero, der sich nicht nur als Redner und Politiker einen Namen gemacht hat, sondern der auch als Rechtsanwalt tätig war, selbst. Person ist die Rolle, die jemand in einem Prozess einnimmt. Er beschreibt seine Rolle als Anwalt so: „Ich für meine Person bemühe mich gewöhnlich darum, dass jeder mich selbst über seine Angelegenheit informiert und dass niemand anderes anwesend ist, damit er umso freimütiger spricht. Gewöhnlich vertrete ich dabei den Standpunkt des Prozessgegners, damit er seinen eigenen vertritt und alles offen vorbringt, was er sich über seine Angelegenheit gedacht hat. Und so übernehme ich, wenn er weggegangen ist, in höchster Gemütsruhe drei Rollen in einer Person: meine eigene, die des Prozessgegners und die des Richters“ (Cicero IV, 138).
1. Der Mensch als Person (Cicero)
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Die weitere Geschichte des römischen Rechts bestätigt dieses Konzept: Das Rechtssubjekt ist die Person und erstaunlicherweise nicht der Mensch, lat. homo. Der Grund ist folgender: Das „Wort ‚homo‘ (eigentlich ‚Mensch‘) wiederum bezeichnete bei den Juristen oft den Sklaven und war daher wenig geeignet als allgemeiner Ausdruck für den einzelnen Menschen zu dienen“ (HWP 7, Sp. 273). Der Begriff ‚persona‘ erhält die Bedeutung von Person im Sinne der allgemeinen Bezeichnung eines einzelnen Menschen (vgl. ebd.). Damit haben die Grammatik und die Jurisprudenz einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung des Begriffs ‚persona‘ in der Bedeutung von Person. Zusammenfassend kann die Entwicklung des Begriffs Person wie folgt dargestellt werden: Zunächst bedeutet ‚persona‘ die Maske des Schauspielers. Dann wird dieser Ausdruck zu einer anthropologischen Metapher, d. h. der Mensch ist ein Rollenspieler. Schließlich wird der Ausdruck ‚persona‘ zu einem allgemeinen Begriff, der den einzelnen Menschen bezeichnet. Der Mensch ist nun Person in einem substantiellen Sinne. Allerdings verschwindet die metaphorische Bedeutung nicht. Das heißt, dass ‚persona‘ von Fall zu Fall Rolle oder ‚einzelner Mensch‘ meint. In dieser zweifachen Bedeutung wird der Ausdruck bei Cicero verwendet. Das belegen seine Überlegungen zum Begriff der Person, die er in seinem abschließenden philosophischen Werk De officiis (Vom pflichtgemäßen Handeln) aus dem Jahre 44 v. Chr. entwickelt. Zunächst macht er deutlich, dass es die Natur ist, die den Menschen mit dem Prädikat ‚persona‘ ausstattet. Es ist die weise, die vernünftige Allnatur, die das tut, und zwar offensichtlich zum Wohl des Menschen. Zum Zweiten wird deutlich, dass dem Mensch von der Natur nicht nur eine Rolle zugewiesen wird, sondern vier. Damit verbindet sich das Konzept der Rollenvielfalt. Jeder einzelne Mensch hat vier Rollen zu erfüllen. Die erste Rolle besteht in seiner Begabung mit Vernunft. Dadurch zeichnet sich der Mensch vor dem Tier aus. Der Mensch ist im Unterschied zum Tier das vernünftige Lebewesen. Diese aristotelische Definition des Menschen bekommt nun unter dem Vorzeichen der Rolle einen neuen Charakter. Die Vernunft ist nicht mehr nur ein Wesenscharakter des Menschen, ein Merkmal seiner unveränderlichen Natur, sondern als Rolle wird sie im Rollenspiel selbst realisiert. Vernünftig ist der Mensch nur, wenn er die ihm zugewiesene Rolle erfüllt. Das ist aber nicht garantiert. Menschen, die sich hemmungslos ihren „Vergnügungen“ hingeben, verlieren ihre „Würde“ und setzen ihre Rolle als vernünftiges Wesen, durch die sie sich vom Tier unterscheiden, aufs Spiel. Sie sind dann „nämlich nicht der Sache nach, sondern nur dem Namen nach Menschen“ (Cicero 2008, I, 58). Die zweite Bedeutung von ‚persona‘ betrifft die dem einzelnen Menschen zugeteilten Eigenschaften, wie körperliche Merkmale und Fähigkeiten, ihre ‚würdevolle‘ Erscheinung, ihre Schönheit und in besonderem Maße ihre geistigen Kompetenzen. Alle diese Eigenschaften sind dem Menschen von Natur aus zugewiesen, und zwar jedem Einzelnen in besonderer Weise („quae proprie singulis est tributa“). Es sind die unverwechselbaren Merkmale, die ihn zu einem einzigartigen Menschen machen. Durch sie wird er zu einem ‚Individuum‘. Cicero knüpft an diese Erkenntnis eine moralische Devise: „Jeder Einzelne soll seine individuelle Begabung erkennen und sich als strenger Richter über seine guten und schlechten Eigenschaften erweisen“ (ebd. 61f.). An dieser Stelle stößt das Verständnis von ‚persona‘ als Rolle an eine Grenze; denn der einzelne Mensch spielt nicht seine Eigenschaften, sondern er hat sie; er ist durch sie definiert.
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X. Zum Begriff der Person
Dem sich entwickelnden Sprachgebrauch des römischen Rechts entsprechend, bezeichnet ‚persona‘ bereits hier den einzelnen Menschen. Der einzelne Mensch mit seinen singulären Eigenschaften ist Person. Aus diesem Grunde ist eine Interpretation, nach der der Begriff ‚persona‘ bei Cicero lediglich die „perpetuierte soziale Rolle“ (HWP 7, Sp. 271) umfasse, ebenso unhaltbar wie die weitere, der Begriff Person sei, soweit er die „Persönlichkeit, Individualität“ beinhalte, erst „eine Schöpfung der christlichen Tradition“ (HWP 7. Sp. 269; vgl. auch Kobusch, 1993, 23). Die dritte Bedeutung von ‚persona‘ umfasst die Stellung des Menschen in der Gesellschaft. Sie wird ihm durch Zufälle und Zeitumstände zugewiesen. Einige von ihnen bringt er bereits bei seiner Geburt mit, wie Adel und gelegentlich Reichtum; andere erwirbt er im Laufe seines Lebens, wie eine Stellung als König, als Feldherr und andere Ehrenstellen, dazu die notwendigen Machtmittel. Bemerkenswert ist, dass Cicero im Kontext der dritten Bedeutung die Zufälle und die Zeitumstände für die Stellung des Menschen in der Gesellschaft verantwortlich macht und nicht die eigene Tüchtigkeit. Entscheidend ist aber, dass erst hier der Begriff ‚persona‘ soziale Rolle meint. Die vierte Bedeutung von ‚persona’ beinhaltet schließlich die Ziele, die wir selbst in unserem Leben verfolgen. Es ist die Rolle, die wir in der Gesellschaft zu spielen anstreben. Cicero denkt dabei vornehmlich an Berufsrollen. Er nennt drei Tätigkeiten, die mit diesen Rollen verbunden sind: die Philosophie, das Bürgerrecht, d. h. die Tätigkeit des Rechtsanwaltes, und die Beredsamkeit, d. h. den Beruf des Redners. Es sind Beispiele nicht nur für Berufe, sondern auch für Lebensweisen. Von Bedeutung ist der Gedanke, dass jeder Einzelne sich für eine Lebensweise entscheiden muss. Er entscheidet sich als dieser einzelne Mensch, d. h. als Person. Die Rollenwahl ist zugleich die Wahl eines Lebenswegs, und die verlangt eine besondere Überlegung. Cicero erläutert diesen Gedanken am Beispiel der bei Xenophon erzählten Geschichte von ‚Herakles am Scheideweg‘. Nach ihm war Herakles „in das Alter gekommen (. . .), das die Natur dazu bestimmt hat, Entscheidungen darüber zu treffen, welchen Lebensweg jeder Einzelne gehen will“ (Cicero 2008, I, 63). Cicero macht deutlich, dass diese Entscheidung zwar in den meisten Fällen durch Übernahme vorgegebener Rollenerwartungen erfolgt, „doch einige finden mit einem gewissen Glück oder durch ihre guten natürlichen Anlagen unabhängig von der Erziehung ihrer Eltern den richtigen Lebensweg“ (ebd. 64). Deutlich wird, dass unabhängig von den Erwartungen der Gesellschaft, sich der Einzelne für seinen Lebensweg entscheiden muss. Es steht außer Frage, dass Cicero auch bei dem vierten Aspekt die zentrale Bedeutung des Einzelnen unmissverständlich herausstellt. Die Person ist der einzelne Mensch, der sich zu entscheiden hat und für seine Entscheidung auch in einem rechtlichen Sinne Verantwortung trägt. Ciceros Begriff der Person umfasst daher die wesentlichen Aspekte, die in der weiteren Geschichte von zentraler Bedeutung sind: Person als vernünftiges Lebewesen, als einzelner Mensch mit individuellen Eigenschaften, als Inhaber einer sozialen Rolle und als individuelle Ziele verfolgender und verantwortlich handelnder Mensch. Ciceros Ethik orientiert sich an dem Gedanken eines naturgemäßen Lebens. Dieses muss nicht befohlen werden. Das Streben dazu gehört zur Natur des Menschen; an erster Stelle die Selbsterhaltung. Cicero erläutert: „Zunächst ist es einem Lebewesen jeder Art von Natur aus gegeben, dass es sich, sein Leben und seinen Körper schützt und alles, (. . .) was zum Leben notwendig ist, sucht und sich verschafft, wie Nahrung,
1. Der Mensch als Person (Cicero)
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Unterschlupf und so weiter“ (ebd. 14). An zweiter Stelle steht die Fortpflanzung: „Gemeinsam ist allen Lebewesen auch noch die Antriebskraft (appetitus) zu geschlechtlicher Vereinigung, um sich fortzupflanzen, und eine ausgeprägte Fürsorge für die Nachkommen“ (ebd.). Der dritte Aspekt betrifft die Lebensplanung, die der Mensch im Unterschied zum Tier, das an die Gegenwart gebunden ist, durchführt: „Weil der Mensch aber über die Vernunft verfügt, mit der er die Folgen seiner Taten wahrnimmt, die Ursachen seines Handelns sieht (. . .), Ähnlichkeiten vergleicht und zukünftige mit gegenwärtigen Verhältnissen verbindet und verknüpft, überblickt er ohne Weiteres den Verlauf seines ganzen Lebens und bereitet alles vor, was dazu erforderlich ist, dieses Leben zu führen“ (ebd.).
Der vierte Aspekt betrifft die Bildung von Gemeinschaften: „Mit Hilfe der Vernunft verbindet dieselbe Natur den Menschen mit dem Menschen zu einer Sprach- und Lebensgemeinschaft (. . .) und treibt ihn dazu an, (. . .) für alles zu sorgen, was zu einer anspruchsvollen Lebensgestaltung und zum Lebensunterhalt beiträgt“ (ebd. 14f.). Der fünfte Aspekt betrifft das Streben nach Wahrheit: „Ein besonderes Merkmal des Menschen ist sein Suchen und Aufspüren der Wahrheit. (. . .) Daraus ist ersichtlich, dass alles, was wahr, einfach und rein ist, dem Wesen des Menschen am meisten entspricht“ (ebd. 15). Der sechste Punkt betrifft das Streben nach Überlegenheit und Autonomie. Es ist einsichtig, „dass ein von der Natur gut ausgestatteter Geist niemandem gehorchen will außer dem, der entweder gute Ratschläge gibt oder belehrt oder um des Nutzens willen gerechte und gesetzmäßige Weisungen erteilt“ (ebd.). Schließlich gibt es ein nur dem Menschen eigentümliches Streben nach Ordnung und Schönheit. Es ist „keine unwesentliche Wirkung der Natur und der Vernunft, dass der Mensch als einziges Lebewesen empfindet, was Ordnung ist, was angemessen und was in Worten und Taten das Maß ist. Schon deshalb empfindet kein anderes Lebewesen bei allem, was mit dem Gesichtssinn wahrgenommen wird, Schönheit, Anmut und Harmonie der Teile“ (ebd.).
Alle diese Strebungen zusammengenommen ergeben das Moralische: „Aus diesen naturgegebenen Voraussetzungen erwächst und bildet sich das, was wir suchen: das Moralische (honestum)“ (ebd. 16). Zwar gibt es auch ein Streben nach eigenem Vorteil, doch zwischen ihm und dem Moralischen besteht nur scheinbar ein Widerspruch, denn auf lange Sicht erweist sich stets das Moralische als der größere Vorteil (vgl. ebd. 105). Neben diesen elementaren moralischen Strebungen entwickelt Cicero eine Art Kasuistik, in der er die moralischen Aspekte in einer Vielzahl von Einzelfällen erörtert. Einige wirkungsgeschichtlich bedeutsame Beispiele seien erwähnt. Beim ersten Beispiel handelt es sich um das Problem der Verpflichtung zur Rückgabe eines anvertrauten Gutes an einen inzwischen wahnsinnig gewordenen Eigentümer. Cicero greift dabei auf Platons Politeia zurück und kommt zu demselben Ergebnis. Eine Verpflichtung besteht nicht, da es eine höhere Verpflichtung gibt und die lautet: niemandem zu
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X. Zum Begriff der Person
schaden. Jede Verpflichtung ist situationsgebunden, d. h.: „Wenn sich die Umstände verändern, verändert sich auch die Pflicht und bleibt nicht dieselbe“ (ebd. 23). Eine eher allgemeine Maxime betrifft die Vermeidung von Krieg und die Erhaltung des Friedens. Für ihn gibt es darüber hinaus eine besondere Bedingung: „Meiner Meinung nach muss man immer für einen Frieden sorgen, der keine heimlichen Absichten erwarten lässt“ (ebd. 25; vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, 1. Präliminarartikel). Bemerkenswert sind auch seine Überlegungen zur Behandlung der Sklaven. Zwar plädiert er nicht für eine Abschaffung der Sklaverei, aber für eine humane Behandlung: „Wir wollen aber nicht vergessen, dass auch den Niedrigsten Gerechtigkeit zuteil werden muss. Die niedrigste Stellung haben aber die Sklaven; diejenigen, die dazu raten, sie so zu behandeln wie Lohnarbeiter, geben keine schlechte Empfehlung: Man verlange von ihnen Leistung und gebe ihnen angemessenen Lohn“ (ebd. 29).
Cicero bezieht nicht nur die Sklaven in seine ethischen Überlegungen ein, sondern sprengt sogar die nationalen Grenzen und entwickelt das Konzept einer universalen Ethik. Er sagt: „Wir müssen die allumfassende natürliche Zusammengehörigkeit und die enge Gemeinschaft der gesamten Menschheit pflegen, schützen und erhalten“ (ebd. 78). Cicero wird damit zu einem Mitbegründer der Ethik einer universalen Humanität (vgl. Cicero, 1989, I, 333 u. HWP 3. Sp. 1216). Die Wirkungsgeschichte von Cicero ist nachhaltig und verzweigt. Hinsichtlich des Begriffs ‚persona‘ sind zwei Bedeutungen zu unterscheiden: ‚persona‘ als Rolle verstanden und als Bezeichnung für den einzelnen Menschen mit seinen singulären Eigenschaften, d. h. als Person. Es ist die Bedeutung, die sich auch in den Bereichen der Grammatik und der Juriprudenz durchsetzte. Bemerkenswert ist, dass beide Bedeutungen eine getrennte Wirkungsgeschichte durchliefen. Die wichtigsten Stationen mögen erwähnt werden. Für die erste Bedeutung sei auf Epiktet (55–135) hingewiesen, einen stoischen Philosophen des ersten und zweiten nachchristlichen Jahrhunderts. Er erläutert die Situation des Menschen unter Rückgriff auf die metaphorische Bedeutung von ‚persona‘. Er sagt: „Merke: du hast eine Rolle zu spielen in einem Schauspiel, das der Direktor bestimmt. Du mußt sie spielen, ob das Stück lang oder kurz ist. Gibt er dir die Rolle eines Bettlers, so mußt du diese dem Charakter der Rolle entsprechend durchführen; ebenso wenn du einen Krüppel, einen Herrscher oder einen Philister spielen sollst. Deine Aufgabe ist einzig und allein, die zugeteilte Rolle gut durchzuführen; die Rolle auszuwählen, steht nicht bei dir“ (Epiktet, 1984, 29).
Die Stoa hat deutliche Spuren in der Entwicklung des frühen Christentums in Palästina, damals römische Provinz, hinterlassen. Daher ist es kein Wunder, dass in ihm auch der Begriff ‚persona‘ auftaucht. Ein Beispiel hierfür ist der Apostel Paulus, der das römische Bürgerrecht besaß und neben seiner theologischen über eine breite hellenistische Bildung verfügte. Seine Schriften bilden die älteste Quelle des Neuen Testaments und damit des Christentums. In seinem Brief an die Römer verwendet er den Begriff
1. Der Mensch als Person (Cicero)
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‚persona‘ wie folgt: „Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott“ („non enim est acceptio personarum apud deum“. Röm. 2, 11). Der Kontext macht deutlich, dass der Begriff Person hier als Rolle zu verstehen ist. Paulus argumentiert so: Entscheidend ist nicht die Frage, ob jemand Grieche oder Jude oder Heide ist; denn auch die Heiden, die nicht das (mosaische) Gesetz haben, können nach dem Gesetz leben, „denn sie beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihrem Herzen, da ja ihr Gewissen es ihnen bezeugt“ (ebd. V. 15). Die Person ist die äußerlich wahrnehmbare Rolle, die jemand spielt, seine gesellschaftliche Stellung, seine Nationalität, sogar seine Religionszugehörigkeit. Den Gegensatz hierzu bildet das Innere, das „Herz“, das „Gewissen“. Wie Paulus verwendet Matthäus den Begriff ‚persona‘ zur Bezeichnung der äußerlichen Stellung und des Ansehens, das jemand genießt. Er sagt: „Meister, wir wissen, daß du wahrhaftig bist (. . .) denn du achtest nicht das Ansehen der Menschen“ („non enim respicis personam hominum“ Mt. 22, 16); ähnlich Lukas (Lk. 20, 21). Das Fazit ist: Der Begriff ‚persona‘ hat im Neuen Testament, dem Gründungsdokument des Christentums, die Bedeutung von ‚sozialer Rolle‘. Sie ist das nur Äußerliche, das im Gegensatz zu dem Inneren des Menschen keine Beachtung verdient. Es finden sich auch nicht ansatzweise Hinweise für ein Verständnis des Begriffs ‚persona‘ im Sinne von ‚der einzelne Mensch‘ oder von ‚Individualität‘ oder gar ‚Persönlichkeit‘. Die Übersetzung der zitierten Paulusstelle mit der Formulierung: ‚Denn es ist kein Ansehen des einzelnen Menschen vor Gott‘ – wäre abwegig. Das Verständnis von ‚persona‘ im Sinne von Rolle wird auch von dem Kirchenvater Tertullian (um 160–220 n. Chr.) übernommen. Für ihn bietet der Begriff ‚persona‘ die Möglichkeit, ein schwerwiegendes Problem des frühen Christentums zu lösen. Es ist das Problem, den monotheistischen Charakter der christlichen Religion, trotz der drei göttlichen Instanzen: Vater, Sohn und Heiliger Geist zu erhalten. Den Ansatz für eine Lösung sah er im Rückgriff auf das grammatikalische Konzept der Sprecherrollen. Die von ihm maßgeblich vorbereitete trinitarische Formel lautet: “Drei Rollen – eine Substanz“ („tres personae – una substantia“, HWP 7, Sp. 276). Für Augustinus (354–430 n. Chr.), der von der verlorengegangenen Schrift Ciceros Hortensius tief beeindruckt war, wird jedoch die trinitarische Formel erneut zu einer Frage. Es ist ein dogmatisches Problem, nicht ein exegetisches, denn so Augustinus: „Wir finden aber auch nirgends in der Schrift drei Personen erwähnt“ (Brasser, 1999, 43). Die Formel wird für ihn deshalb fraglich, weil ihm die ursprüngliche Bedeutung der Person im Sinne von Rolle nicht mehr präsent war. Er versteht ‚persona‘ als eine Substanz und steht daher vor der Alternative, entweder von drei Substanzen und drei Personen oder aber von einer Substanz und einer Person zu sprechen. Die Formel ‚eine Substanz und drei Personen‘ erscheint ihm dagegen paradox. Er fragt sich daher, „warum spricht man dann wegen derselben Einheit des Wesens statt von ‚drei Substanzen‘ beziehungsweise ‚drei Personen‘ nicht auch von einer Substanz und einer Person?“ (ebd. 43). Angesichts dieses Dilemmas bekennt er schließlich: „Was bleibt also (anderes) übrig als zuzugeben, daß diese Formeln unter dem Zwange, (überhaupt) zu reden, geschaffen wurden“ (ebd.). Für Boethius (480–524 n. Chr.), den gebildeten Römer und angesehenen Staatsmann, der, obwohl Christ, nach seiner Verurteilung zum Tode im Gefängnis seinen Trost in der Philosophie suchte und nicht im Glauben, verbindet sich der Begriff ‚persona‘ endgül-
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X. Zum Begriff der Person
tig mit Substanz. Er kommt zu folgender Definition: „Person ist die individuelle Substanz einer rationalen Natur“ („persona est naturae rationabilis individua substantia“, HWP 7, Sp. 280). Boethius greift dabei die ersten beiden Bestimmungen des Begriffs ‚persona‘ von Cicero auf und vereinigt sie in dem Begriff der Substanz. Diese Definition macht sich Thomas von Aquin (1225–1274) zu eigen und versucht, sie gegen mögliche Einwände zu verteidigen. Ein Haupteinwand besteht darin, dass es unmöglich sei, von der individuellen Substanz eine Wesensbestimmung zu geben, denn diese sei nur von einem Allgemeinen möglich: „Denn kein Einzelding wird in seinem Wesen bestimmt. Person aber bezeichnet ein Einzelding“ (Brasser, 1999, 57). Thomas begegnet diesem Einwand im Rückgriff auf Aristoteles, der das einzelne Ding als eine erste Substanz bezeichnete. Erste und zweite Substanz verbinden sich in der Person in einer einzigartigen Weise. Thomas erläutert: „Doch in einer noch einzigartigeren und vollkommeneren Weise findet sich das Besonderte und Vereinzelte in den vernunftbegabten Substanzen, die Herrschaft haben über ihr Tun (. . .). Die Tätigkeiten aber gehören den Einzelwesen zu. Und so haben unter den übrigen Substanzen die Einzelwesen von vernunftbegabter Natur auch einen besonderen Namen, und dieser Name ist Person“ (ebd. 58).
Deutlich lassen sich die Wirkungen Ciceros auch in der Ethik von Thomas nachweisen, so in seinem Konzept eines naturgemäßen Strebens im Menschen. Auch Kant (1724–1804) steht mit seinem Begriff der Person in der Tradition, die von Cicero, der römischen Grammatik und der Jurisprudenz ihren Ausgang nahm. Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus der Einfluss Ciceros auf Kants Ethik. Zentrale Gedanken von Ciceros Schrift Vom pflichtgemäßen Handeln (De officiis) haben in ihr ihren Niederschlag gefunden.
2. Die Identität der Person (Locke) „Nachdem wir dies vorausgeschickt haben, müssen wir, um festzustellen, worin die Identität der Person besteht, zunächst untersuchen, was Person bedeutet. Meiner Meinung nach bezeichnet dieses Wort ein denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann (a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider it self as it self). Das heißt es erfaßt sich als dasselbe Ding, das zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt. Das geschieht lediglich durch das Bewußtsein, das vom Denken untrennbar ist und, wie mir scheint, zu dessen Wesen gehört. Denn unmöglich kann jemand wahrnehmen, ohne wahrzunehmen, daß er es tut. Wenn wir etwas sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, überlegen oder wollen, so wissen wir, daß wir das tun. Das gilt jederzeit hinsichtlich unserer gegenwärtigen Sensationen und Wahrnehmungen; jeder wird dadurch für sich selbst zu dem, was er sein eigenes Ich nennt. (. . .) Soweit nun dieses Bewußtsein rückwärts auf vergangene Taten oder Gedanken ausgedehnt werden kann, so weit reicht die Identität dieser Person. Sie ist jetzt dasselbe Selbst wie damals; jene Handlung wurde von demselben Selbst ausgeführt, das jetzt über sie nachdenkt.“ (J. Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. I. Berlin 1968, 419 f.).
2. Die Identität der Person (Locke)
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John Locke wird 1632 in Wrington/Somerset (England) geboren. 1652 tritt er in das Christ Church College in Oxford ein. Nach dem Erwerb des Magistergrades (1658) wird er dort ab 1660 Greek Lecturer, 1662 Lecturer on Rhetoric und ab 1663 Censor of Moral Philosophy. 1667 wird er in London Sekretär, Leibarzt und Vertrauter von A. A. C. Earl of Shaftesbury. Er bekleidet verschiedene öffentliche Ämter und wird 1668 Mitglied der Royal Society. 1671 beginnt er mit der Niederschrift seines Werks Essay Concerning Human Understanding, das 1689 erscheint. 1674 erwirbt er den Bachelor in Medizin. Aus gesundheitlichen Gründen hält er sich ab 1675 vier Jahre in Frankreich auf und nutzt die Zeit zu einem intensiven Studium der cartesianischen Philosophie. Als Shaftesbury nach einem Hochverratsverfahren England verlässt, folgt ihm Locke. Er verbringt die Jahre 1683–89 in Holland. Nach seiner Rückkehr nach England veröffentlicht er 1690 sein Buch Two Treatises of Government. Er stirbt 1704 in Oates (Essex) England (vgl. Euchner, 2011). Ein Kennzeichen der Philosophie der Neuzeit ist die Interpretation des Menschen als eines Subjekts, das in Abgrenzung zu Gott als dem absoluten Subjekt zunehmend zum Bezugspunkt der menschlichen Erkenntnis wird. Damit geht ein neu erwachendes Interesse an einer Erforschung der menschlichen Verstandeskräfte einher, die in Abgrenzung zum ‚intellectus divinus‘ in ihrer eigentümlichen Leistung und ihren Grenzen untersucht werden. Dieses Interesse findet seinen Niederschlag in Descartes’ Schriften Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, in seiner Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und in seinen Meditationen. Locke knüpft mit seinem Werk An Essay concerning Human Understanding in der Intention, wenn auch nicht im Ergebnis, hieran an und Leibniz wiederum antwortet darauf mit Neue Abhandlung über den menschlichen Verstand. Es folgen Humes Abhandlung Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand und schließlich Kants Kritik der reinen Vernunft. Im mittelalterlichen Sprachgebrauch geht es um eine genauere Untersuchung des ‚lumen naturale‘ des Menschen, neuzeitlich formuliert, um die Erkenntniskräfte des menschlichen Subjekts. Allerdings: Descartes bezeichnet das Subjekt noch als eine Substanz, wenn auch als eine denkende Substanz (res cogitans). Der Sache nach erhält diese Substanz die Charaktere eines Subjekts; denn sie existiert durch Tätigkeit, die Tätigkeit des Denkens. Aus diesem Grunde fragt sich Descartes bereits, ob diese Substanz auch dann noch existiert, wenn das Ich – z. B. im Schlaf – nicht denkt. Locke entwickelt im Kontext einer Philosophie der Subjektivität den Begriff der Person, die keine Substanz ist. Er geht aber noch einen Schritt weiter und lehnt generell die Annahme angeborener Ideen des Verstandes ab. Er sieht in der Erfahrung die entscheidende menschliche Erkenntnisquelle und entwickelt damit im Gegensatz zum kontinentaleuropäischen Rationalismus das Konzept des angelsächsischen Empirismus. Sein Motiv für die Untersuchung des menschlichen Verstandes begründet er wie folgt: „Da es der Verstand ist, der den Menschen über alle übrigen empfindenden Wesen erhebt und ihm die ganze Überlegenheit und Herrschaft verleiht, die er über sie besitzt, so ist er sicherlich ein Gegenstand, der eben durch seine hohe Würde die Mühe einer Untersuchung lohnt“ (Locke, 1968 I, 22). Allerdings ist der Verstand – so Locke – tätig, „ohne doch dabei seiner selbst gewahr zu werden, und es erfordert Kunst und Mühe, um einen gewissen Abstand von ihm zu gewinnen“ (ebd.). Seine Methode sieht er da-
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X. Zum Begriff der Person
rin, den Ursprung der Ideen zu untersuchen, „die der Mensch in seinem Geist wahrnimmt“ (ebd. 24). Den Begriff Idee fasst er sehr weit. Die Idee ist jedes „Objekt des Verstandes“. Dazu gehören „Phantasma, Begriff, Vorstellung, oder was immer es sei, das den denkenden Geist beschäftigen kann“ (ebd. 28). Die Untersuchung des menschlichen Verstandes hat das Ziel, seine Reichweite zu untersuchen und zu erkennen, „in welchem Umfang er die Fähigkeiten besitzt, Gewißheit zu erlangen, und in welchen Fällen er nur urteilen und vermuten kann“ (ebd. 24). Anders als Descartes hat Locke nicht den Ehrgeiz, ein unerschütterliches Fundament (fundamentum inconcussum) zu finden, auf dem die Wissenschaften neu errichtet werden könnten. Für ihn steht der Verstand im Dienst des praktischen Lebens. Daher sollte man auch nicht „unbedingt in maßloser Weise einen Beweis verlangen und Gewißheit fordern, wo nur Wahrscheinlichkeit zu erlangen ist, die ausreicht, um alle unsere Angelegenheiten zu besorgen“ (ebd. 26). Andererseits bewahrt die Erkenntnis des Wahrscheinlichen vor „einem vollständigen Skeptizismus“, für den alles fraglich ist und der Entscheidungen unmöglich macht. Locke beginnt seine Untersuchung mit der These, dass es, bis auf wenige Ausnahmen, keine angeborenen Ideen gibt. Er erörtert diese These in den Bereichen der „spekulativen“ und der „praktischen Prinzipien“. Nicht durch angeborene Ideen erlangen die Menschen Erkenntnis, sondern „allein durch den Gebrauch ihrer natürlichen Fähigkeiten“ (ebd. 29). So entsteht die Erkenntnis der Farbe nicht durch eine angeborene Idee, sondern ausschließlich durch den dem Menschen verliehenen Gesichtssinn. Das gilt aber auch für abstraktere Prinzipien, so z. B. für den Satz der Identität und den Satz vom Widerspruch, ebenso für Sätze der Mathematik, einschließlich der Geometrie. Sein Argument lautet: Diese Sätze sind nicht allen Menschen bekannt und Kindern und Schwachsinnigen sogar unverständlich. Das müssten sie aber, wenn sie angeboren wären; denn sonst entstünde die paradoxe Situation, dass einem Menschen ein Wissen unterstellt wird, von dem er nichts weiß. Die Ideen, die nicht angeboren sind, sind erworben. Locke erläutert die Entstehung der Erkenntnis auf der Grundlage natürlicher Fähigkeiten so: „Zunächst lassen die Sinne partikulare Ideen ein und richten das noch leere Kabinett ein. Wenn dann der Geist allmählich mit einigen davon vertraut wird, werden sie im Gedächtnis untergebracht und mit Namen versehen. Später, nachdem der Geist weiter vorgeschritten ist, abstrahiert er sie und erlernt allmählich den Gebrauch allgemeiner Namen. Auf diese Weise wird der Geist mit Ideen und mit einer Sprache ausgestattet, die das Material bilden, woran er seine diskursive Fähigkeit üben kann“ (ebd. 38).
Der Verstand ist zunächst ein „leeres Kabinett“, gelegentlich auch ein „weißes Papier“ (ebd. 76). Die Aufnahme der Ideen erfolgt durch die Sinne, ihre Speicherung im Gedächtnis. Entscheidend ist die Fähigkeit der Abstraktion, durch die sie mit allgemeinen Namen, d. h. Begriffen, verbunden werden. Durch die Sprache werden diese Namen in einem diskursiven Verfahren miteinander verknüpft. Locke verwendet hier statt Begriff „allgemeine Namen“ und macht damit seinen streng nominalistischen Ansatz deutlich. Seine Beschreibung der Entstehung von Erkenntnis bildet den Rahmen seiner Erkenntnistheorie. Locke unterscheidet zwei Erfahrungsquellen: die äußere Wahrnehmung
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(sensation) und die innere (reflection). Mit Hilfe der Sinne nimmt der Verstand die einfachen Ideen auf, die vom Verstand zu komplexen Ideen verbunden werden. Dazu gehört auch seine Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten der Materie. Die primären betreffen Festigkeit (solidity), Ausdehnung, Gestalt und Beweglichkeit (ebd. 147), die sekundären Eigenschaften sind solche, die „vermittels ihrer primären Qualitäten (. . .) verschiedenartige Sensationen in uns zu erzeugen, wie z. B. Farben, Töne, Geschmacksarten usw.“ (ebd. 148). Die praktischen Prinzipien sind ebenfalls nicht angeboren. Locke zählt eine Reihe auf. Als erstes nennt er das Prinzip der Gerechtigkeit und das Gebot der Vertragstreue. Beide Prinzipien sind zwar weit verbreitet, aber sie sind nicht angeboren, sondern „Regeln der Zweckmäßigkeit“ (ebd. 54). Für die weitere Erörterung des Problems angeborener praktischer Prinzipien ist seine Aussage, dass selbst die Idee Gottes, die als der Garant aller praktischen Prinzipien anzusehen ist, nicht angeboren ist. Dagegen sprechen schon die sehr unterschiedlichen Gottesvorstellungen in den verschiedenen Religionen. Gleichwohl vertritt Locke keinen Atheismus. Die Existenz Gottes ergibt sich für ihn aus dem Kausalprinzip, denn „die sichtbaren Anzeichen einer außerordentlichen Weisheit und Macht treten so klar in allen Werken der Schöpfung hervor, daß keinem vernünftigen Wesen, das nur ernsthaft über sie nachdenken will, die Entdeckung einer Gottheit entgehen kann“ (ebd. 87). Das bedeutet, „daß die Entdecker derselben von ihrer Vernunft den rechten Gebrauch gemacht, über die Ursachen der Dinge reiflich nachgedacht und diese bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgt hatten“ (ebd.). Wenn aber schon die Idee Gottes nicht angeboren ist, dann gilt das erst recht für andere, weit verbreitete, moralische Prinzipien. Ihre allgemeine Anerkennung erfolgt in vielen Fällen aus Angst vor der „Hölle“ (ebd. 58). Auch das Gewissen ist nicht angeboren, sondern ist „nichts anderes als unsere eigene Meinung“ (ebd.). Da aber die Gewissensbildung bei Kindern in einer Zeit erfolgt, „ehe noch ihr Gedächtnis begann“, wird das Gewissen schließlich als angeboren betrachtet. Allerdings: Locke macht bei seiner Kritik der Annahme angeborener praktischer Ideen einige bemerkenswerte Ausnahmen. Er sagt: „Die Natur hat, das gebe ich zu, dem Menschen ein Verlangen nach Glück und eine Abneigung vor dem Unglück eingepflanzt; dies sind in der Tat angeborene praktische Prinzipien, die (wie es bei praktischen Prinzipien sein muß) tatsächlich dauernd auf all unsere Handlungen einwirken und sie beeinflussen“ (ebd. 54f.).
Allerdings betont er sogleich – und möchte damit den Schein eines Widerspruchs vermeiden: Das „sind Neigungen des Begehrens des Guten, nicht dem Verstande eingeprägte Wahrheiten“ (ebd. 55). In denselben Kontext gehören die bei neugeborenen Kindern anzutreffenden „schwachen Ideen von Hunger, Durst, Wärme und gewissen Schmerzen, die sie im Mutterleibe empfunden haben mögen“ und die sie „mit sich auf die Welt bringen“ (ebd. 80). Eine besondere Bedeutung kommt der Idee der Substanz zu. Locke betont, dass es sich dabei um eine Idee handele, „deren Besitz für die Menschen von allgemeinem Nutzen sein würde“ (ebd. 95) und deren Existenz daher auch allgemein angenommen wird. Tatsächlich aber ist sie weder angeboren noch durch die Erfahrung erworben. Locke
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X. Zum Begriff der Person
konstatiert: „Es ist die Idee der Substanz, die wir durch Sensation oder Reflexion weder besitzen noch erlangen können“ (ebd.). Aus diesem Grunde müssen wir uns eingestehen, dass wir „von der Substanz überhaupt keine klare Idee besitzen und darum mit diesem Wort lediglich die ungewisse Annahme von etwas uns selbst Unbekanntem bezeichnen, das heißt von etwas, wovon wir keine (besondere, deutliche, positive) Idee besitzen und das wir als Substrat oder Träger der uns bekannten Ideen ansehen“ (ebd. 95).
Andererseits aber hätte der Verzicht auf die Idee der Substanz schwerwiegende Konsequenzen; denn mit ihr verlören die Dinge ihre Grundlage, ihre Konstanz in der Zeit und damit zugleich ihre Identität. Die Idee der Substanz ist, obgleich sie weder eine angeborene Idee ist, noch in der Erfahrung fundiert, eine notwendige Annahme des Verstandes, ohne die das Sprechen über identische Dinge unmöglich würde. Bemerkenswerterweise ist es das Problem der Identität, an das Locke seine Überlegungen zur Anthropologie knüpft. Es ist das Problem der Identität der Person. Den Ausgangspunkt bilden seine Überlegungen zum Begriff der Identität in einem allgemeinen Sinne. Die von Körpern ist von der von Lebewesen zu unterscheiden. Die Identität von Körpern besteht darin, dass in ihnen eine bestimmte Anzahl von Partikeln der Materie, d. h. Atomen, verbunden ist. Entscheidend ist dabei nicht die Form ihrer Anordnung, sondern ihre Anzahl. Anders verhält es sich bei Lebewesen, d. h. bei lebendigen Körpern: „Eine Eiche, die sich vom Pflänzchen zum großen Baum entwickelt hat (. . .), ist noch dieselbe Eiche“ (ebd. 413). Es ist die Art der Organisation, die ihre Identität garantiert. Sie „macht das individuelle Leben aus“ (ebd. 414). Ähnlich verhält es sich bei Tieren. Auch hier ist die zweckmäßige Organisation das Entscheidende. Im Unterschied aber zu einer Maschine, z. B. einer Taschenuhr, die auch als eine zweckmäßige Organisation zu verstehen ist, kommt beim Tier die Bewegung von innen, bei der Maschine von außen (vgl. ebd. 415). Entsprechendes gilt für die Identität des Menschen. „Sie besteht nämlich offenbar in nichts anderem als in der Teilnahme an demselben Leben, welches durch beständig in Fluß befindliche Partikel der Materie fortgesetzt wird, die in ihrer Aufeinanderfolge mit demselben organisierten Körper lebensfähig verbunden sind“ (ebd.). Die Idee des Menschen ist zu verstehen als „ein Geschöpf von seiner eigenen Gestalt oder Bildungsweise“ (ebd. 416). Aus diesem Grunde wäre ein vernünftig sprechender Papagei, wenn es ihn gäbe, nicht als Mensch zu bezeichnen, wohl aber ein „stumpfsinniger unvernünftiger Mensch“ (ebd. 417). Denn – so Locke – „nicht die Idee eines denkenden oder vernünftigen Wesens allein macht (. . .) die Idee des Menschen aus, sondern die Idee eines damit verbundenen Körpers von bestimmter Gestalt“ (ebd. 419). Von diesen Überlegungen zu unterscheiden ist die Frage nach der Identität der Person; denn „dieselbe Substanz“, „derselbe Mensch“ und „dieselbe Person“ bezeichnen nicht dieselbe, sondern drei verschiedene Ideen (ebd. 416). Die Identität der Person wird durch das Bewusstsein bestimmt und dieses zunächst durch die Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung gebildet. Durch sie wird jeder „für sich selbst zu dem, was er sein eigenes Ich nennt. Hierbei kommt es in diesem Falle nicht darauf an, ob dasselbe Selbst in derselben oder in verschiedenen Substanzen weiter-
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besteht. Denn da das Bewußtsein das Denken stets begleitet und jeden zu dem macht, was er sein Selbst nennt und wodurch er sich von allen anderen denkenden Wesen unterscheidet, so besteht hierin allein die Identität der Person, das heißt das Sich-SelbstGleich-Bleiben eines vernünftigen Wesens“ (ebd. 420).
Die Identität der Person wird ausschließlich durch das Bewusstsein garantiert und nicht durch eine der Person zugeordnete Substanz; denn „verschiedene Substanzen werden durch dasselbe Bewußtsein (. . .) ebenso zu einer Person vereinigt, wie verschiedene Körper durch dasselbe Leben zu einem Lebewesen vereinigt sind, dessen Identität beim Wechsel der Substanzen durch die Einheit eines fortdauernden Lebens gewahrt wird“ (ebd. 421).
Allerdings: Das Bewusstsein ist störanfällig. Es wird unterbrochen durch den Schlaf und beeinträchtigt durch das Vergessen. Gegen diese Einwände betont Locke: Das Bewusstsein ist in der Lage, zeitlich getrennte Handlungen und damit verbundene Bewusstseinszustände im gegenwärtigen Bewusstsein wieder zu vereinigen und Vergessenes durch Erinnerung zu aktualisieren. „Denn dasselbe Bewußtsein vereinigt die getrennten Handlungen zu ein und derselben Person, gleichviel welche Substanzen auch immer zu ihrem Zustandekommen beigetragen haben“ (ebd.). Wie wenig z. B. die Substanz für die Identität der Person von Bedeutung ist, kann man auch daran erkennen, dass die Amputation eines Körperteils diese nicht aufhebt. „Denn die Identität der Person steht außer Frage, mögen auch die Glieder, die eben noch einen Teil von ihr bildeten, abgehauen sein“ (ebd. 422). Andererseits gibt es eine enge Beziehung des Bewusstseins einer Person zu seinem Körper, der eine Substanz bildet. Locke kommentiert diese Beziehung so: „So bildet jeder Teil unseres Körpers, der mit dem, was in uns Bewußtsein hat, lebensfähig verbunden ist, einen Teil unseres Selbst“ (ebd. 435). Das Bewusstsein „begleitet“ die eigene körperliche Substanz ebenso wie die eigenen Wahrnehmungen und Handlungen. Allgemein gesagt gilt: „Dasjenige, womit sich das Bewußtsein dieses gegenwärtig denkenden Wesens vereinigen kann, macht dieselbe Person aus und bildet mit ihm, und mit nichts anderem, dasselbe Ich. Es schreibt sich somit alle Handlungen jenes Wesens selber zu und erkennt sie als seine eigenen soweit an, wie jenes Bewußtsein reicht, aber auch nicht weiter“ (ebd. 428).
Dieser Gedanke schließt auch die Erinnerung ein, die Teil des Bewusstseins ist. Für den Fall einer totalen Amnesie würde die Person ihrer früheren Existenz beraubt. Das hat zur Konsequenz, dass sie „gleichsam von einem neuen Zeitpunkt an eine neue Rechnung beginnt, fortan über diesen neuen Zustand nicht hinausreichen kann (. . .). Die Identität der Person erstreckt sich also nicht weiter als das Bewußtsein“ (ebd. 424f.). Diese Überlegungen haben eine weitgehende, vor allem juristische, Konsequenz. Es stellt sich nämlich die Frage, inwieweit jemand für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden kann, die seinem Bewusstsein nicht zugänglich sind. Locke unterscheidet hier mehrere Fälle. Der erste Fall betrifft die Handlungen von Wahnsinnigen oder wahnsinnig Gewordenen. Die Gerichte unterscheiden in diesem Fall
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X. Zum Begriff der Person
die Zurechenbarkeit von Handlungen eines Vernünftigen von der Unzurechenbarkeit eines Wahnsinnigen. „Sie machen somit zwei verschiedene Personen aus dem Menschen“ (ebd. 430). Anders verhält es sich bei Straftaten im Zustand der Trunkenheit oder des Schlafwandelns. Hier urteilen die Gerichte zuungunsten des Angeklagten. „Denn wir können in diesen Fällen nicht sicher unterscheiden, was wirklich und was Verstellung ist. Darum gilt Unwissenheit im trunkenen Zustand und im Schlaf nicht als Entschuldigung“ (ebd. 431f.). Allerdings darf jeder zu Unrecht Verurteilte darauf hoffen, dass „an jenem großen Tag, da die Geheimnisse aller Herzen offenbar werden, niemand für etwas zur Rechenschaft gezogen werden wird, wovon er nichts weiß“ (ebd.). Die Identität der Person kann einem Menschen daher auch nicht durch eine andere Person zugeschrieben werden, sondern nur durch ihn selbst. Garantiert wird sie durch das eigene Bewusstsein, das immer ein Selbstbewusstsein ist. Allerdings ist das Bewusstsein nicht nur die Vereinigung gegenwärtiger und im Gedächtnis aufbewahrter bzw. erinnerter vergangener Bewusstseinszustände. Es ist maßgeblich bestimmt durch seine Ausrichtung auf die Zukunft, und die ist motiviert durch ein Interesse am Glück. In ihm finden alle Bewusstseinszustände und alle Handlungen ihr leitendes Motiv. Er sagt: „Das alles beruht auf einem Interesse am Glück, das die unvermeidliche Begleiterscheinung des Bewußtseins ist; denn das Wesen, das sich der Freude und des Schmerzes bewußt ist, wünscht, daß dieses bewußte Selbst glücklich sei“ (ebd. 436). Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Person ist keine Substanz. Die Identität der Person wird vielmehr durch die Einheit des Bewusstseins gebildet, die erstens das gegenwärtige Bewusstsein umfasst, einschließlich der eigenen Körperwahrnehmung, zweitens die der Person jeweils verfügbaren Erinnerungen und drittens die interessegeleitete Erwartung der Zukunft. Diese Einheit modifiziert sich offensichtlich im Laufe der Zeit und mit ihr die Identität der Person. Auch sind Wahrnehmung, Erinnerung und Zukunftserwartung nicht vor Täuschung gefeit. Die Frage der Identität der Person muss daher von der Wahrheitsfrage getrennt werden. Lockes Überlegungen zur Ethik beziehen sich vor allem auf den Bereich der Politik. Der Begriff der Person hat in ihr eine zentrale Stellung. In seinen Zwei Abhandlungen über die Regierung entwickelt er eine moderne Vertragstheorie. Ausgangspunkt ist bei ihm, ähnlich wie bei Hobbes, ein Naturzustand. Anders jedoch als bei diesem ist dieser Zustand nicht bestimmt durch einen Krieg aller gegen alle. Es ist vielmehr ein Rechtszustand. Locke beschreibt ihn so: „Es ist ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint (. . .). Es ist darüber hinaus ein Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein anderer: Nichts ist einleuchtender, als daß Geschöpfe von gleicher Gattung und von gleichem Rang, die ohne Unterschied zum Genuß derselben Vorteile der Natur und zum Gebrauch derselben Fähigkeiten geboren sind, ohne Unterordnung und Unterwerfung einander gleichgestellt leben sollen“ (Locke, 1977, 201f.).
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Dieser Rechtsstatus macht den einzelnen Menschen zur Person. Locke sagt daher: „Der Mensch hat in diesem Zustand eine unkontrollierbare Freiheit, über seine Person und seinen Besitz zu verfügen“ (ebd. 203). Das von Locke geschilderte Naturrecht ist zugleich Vernunftrecht und ein Gebot Gottes. Es bezieht sich nicht nur auf den einzelnen Menschen, sondern auf die ganze Menschheit. Das bedeutet: „Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit (. . .), daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll. Denn alle Menschen sind das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers“ (ebd.). Nach dem Naturrecht soll der Mensch sich und „nach Möglichkeit auch die übrige Menschheit erhalten“ (ebd.). Das Recht und die Pflicht der Selbsterhaltung berechtigen den Einzelnen allerdings auch, sich gegenüber jedem Angriff auf seine Person und sein Eigentum wirkungsvoll zu verteidigen. Das schließt das Recht auf Tötung des Angreifers ausdrücklich ein (vgl. ebd. 206). Im Naturzustand vertritt jede Person die Rolle des noch nicht existierenden Staates. Jeder handelt als Richter in eigener Sache. Der Angegriffene rächt daher nicht ein Unrecht, sondern bestraft. Das bedeutet: „Jedes Verbrechen, das im Naturzustand begangen werden kann, darf im Naturzustand genauso und mit derselben Strenge wie in einem Staate bestraft werden“ (ebd. 207). Überall dort, wo das Naturrecht missachtet wird, wo die Freiheit, Leben und Eigentum bedroht werden, verändert sich der Naturzustand in einen Kriegszustand. Das heißt: „Das Fehlen eines gemeinsamen, mit Autorität ausgestatteten Richters versetzt alle Menschen in einen Naturzustand: Gewalt ohne Recht, gegen die Person eines anderen gerichtet, erzeugt einen Kriegszustand“ (ebd. 211f). Gleichwohl gibt es bereits im Naturzustand das Recht auf Bildung von Eigentum. Die naturrechtliche Begründung des Eigentums bei Locke ist bemerkenswert. Sie stellt einen engen Zusammenhang her zwischen Person, Arbeit und Eigentum. Locke erläutert ihn so: „Obwohl die Erde und alle niederen Lebewesen allen Menschen gemeinsam gehören, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner eigenen Person. Auf diese hat niemand ein Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind, so können wir sagen, im eigentlichen Sinne sein Eigentum. Was immer er also dem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat, hat er mit seiner Arbeit gemischt und ihm etwas eigenes hinzugefügt. Er hat es somit zu seinem Eigentum gemacht“ (ebd. 216f.). Der Mensch, der Beeren sammelt, eignet sich durch diese Arbeit die Gegenstände der Natur an und bedarf für diese Tätigkeit nicht der Zustimmung anderer; denn sie dient seiner Selbsterhaltung. Dasselbe gilt für die Kultivierung und Bewirtschaftung von Land. Hier allerdings gibt es eine natürliche Grenze. Jeder darf sich nur soviel Land aneignen, wie er zur Sicherung seines Lebensunterhalts benötigt. Zu vermeiden ist, dass ein produzierter Überschuss verdirbt. Allerdings wird dieses Prinzip mit der Einführung von Geld aufgehoben; denn nun gibt es die Möglichkeit, unbegrenzt haltbares Eigentum aufzuhäufen. Mit der Vermehrung des Reichtums vergrößern sich allerdings auch die Rechtsstreitigkeiten. Mit ihnen wächst das Bedürfnis, den Naturzustand zu verlassen und ein politisches Gemeinwesen zu schaffen. Das ist aber nur möglich, wenn der Einzelne bereit ist, seine eigene „natürliche Gewalt“ aufzugeben und sie einer „bürgerlichen Gesellschaft“ zu übertragen. Das bedeutet:
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X. Zum Begriff der Person
„Diejenigen, die zu einem einzigen Körper vereinigt sind, eine allgemeine feststehende Gesetzgebung und ein Gerichtswesen haben, das sie anrufen können und das genügend Autorität besitzt, die Streitigkeiten unter ihnen zu entscheiden und Verbrecher zu bestrafen, bilden zusammen eine bürgerliche Gesellschaft“ (ebd. 253f.).
Das bürgerliche Staatswesen unterscheidet sich aber auch von der absolutistischen Monarchie, die Locke mit scharfen Worten verurteilt. Ihr entscheidender Fehler besteht darin, dass die Bürger in ihr nicht vor Willkür und Unrecht des Herrschers geschützt sind (ebd. 255f.). Das bürgerliche Staatswesen ist dagegen verpflichtet, „nach festen, stehenden Gesetzen zu regieren, die dem Volk verkündet und bekanntgemacht wurden, und nicht nach Beschlüssen des Augenblicks; durch unparteiische und aufrechte Richter, die Streitigkeiten nach jenen Gesetzen entscheiden müssen. (. . .) Und all dies darf zu keinem anderen Ziel führen als zum Frieden, zur Sicherheit und zum öffentlichen Wohl des Volkes“ (ebd. 281).
Allerdings ist auch in einem bürgerlichen Staatswesen, trotz der von Locke befürworteten Teilung der Gewalten in Legislative und Exekutive, Machtmissbrauch nicht völlig auszuschließen. Sollte der Staat in eklatanter Weise das Recht missachten, ist Widerstand gegen ihn berechtigt. Locke betont daher: „Es verbleibt dem Volk (. . .) die höchste Gewalt, die Legislative abzuberufen oder zu ändern, wenn es der Ansicht ist, daß die Legislative dem in sie gesetzten Vertrauen zuwiderhandelt“ (ebd. 294). Die Wirkungsgeschichte von Locke lässt sich im 18. Jh. in England, Frankreich und in Nordamerika nachweisen. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung tauchen zentrale Gedanken seiner politischen Philosophie auf, so z. B. die der Gleichheit aller Menschen und die „unveräußerlichen Rechte“ auf „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“. Auch haben seine Ideen die politische Diskussion vor und während der Französischen Revolution mit bestimmt. Das gegenwärtige Verständnis einer repräsentativen Demokratie mit einem parlamentarischen System, der Gedanke der Volkssouveränität, das Prinzip der Gewaltenteilung und das Widerstandsrecht sind maßgeblich durch Lockes Denken beeinflusst worden. In Deutschland hat Lockes Erkenntnistheorie, stärker noch als seine politischen Gedanken, die philosophische Diskussion angeregt, so z. B. bei Leibniz und Kant. Seine Theorie lieferte auch Ansatzpunkte für den logischen Empirismus. Schließlich hat sein Konzept der Person die Diskussion des Begriffs in der angelsächsischen Philosophie des 20. Jh.s stark beeinflusst, so z.B. bei Peter Strawson.
3. Die Person als Zweck an sich selbst (Kant) „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und, vermöge der Einheit des Bewußtseins, bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Tiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen; selbst wenn er das Ich noch nicht sprechen kann; weil er es doch in Gedanken
3. Die Person als Zweck an sich selbst (Kant)
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hat: wie es alle Sprachen, wenn sie in der ersten Person reden, doch denken müssen, ob sie zwar diese Ichheit nicht durch ein besonderes Wort ausdrücken. Denn dieses Vermögen (nämlich zu denken) ist der Verstand. Es ist aber merkwürdig: daß das Kind, was schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät (vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt, durch Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Person sprach (Karl will essen, gehen u.s.w.), und daß ihm gleichsam ein Licht aufgegangen zu sein scheint, wenn es den Anfang macht durch Ich zu sprechen; von welchem Tage an es niemals mehr in jene Sprechart zurückkehrt. – Vorher fühlte es bloß sich selbst, jetzt denkt es sich selbst. – Die Erklärung dieses Phänomens möchte dem Anthropologen ziemlich schwer fallen.“ (I. Kant: Werke in sechs Bänden. Bd. VI. Darmstadt 1983, 407).
In seiner Logikvorlesung unterscheidet Kant den Schulbegriff der Philosophie von ihrem Weltbegriff. Nach dem ersten ist Philosophie „das System der philosophischen Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen. (. . .) Nach dem Weltbegriffe ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft. Dieser hohe Begriff gibt der Philosophie Würde, d. i. einen absoluten Wert“ (Kant: Werke III, 446). In Erläuterung dieses Begriffs fährt er fort: „Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? – 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen“ (ebd. 447 f.).
Die Anthropologie bildet also das letzte Ziel allen Philosophierens. Bemerkenswerterweise aber unternimmt Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht nicht den Versuch, diesem umfassenden Anspruch gerecht zu werden, sondern erörtert sie nur als eine eigene philosophische Disziplin. Tatsächlich aber durchziehen anthropologische Fragestellungen in unterschiedlichen Kontexten sein Gesamtwerk. Es lassen sich sogar Ansätze zu unterschiedlichen anthropologischen Modellen bei ihm finden, die sich allerdings nicht widersprechen. So interpretiert Kant den Menschen zum einen in einem dualistischen Sinne als „Bürger zweier Welten“ (vgl. Kap. III, 3) und zum anderen als ein geschichtliches Wesen (vgl. Kap. VI, 1). Ein weiteres anthropologisches Konzept zentriert sich um den Begriff der Person. Er ist Thema sowohl seiner theoretischen wie seiner praktischen Philosophie. Eine anthropologische Bedeutung bekommt die Kritik der reinen Vernunft dadurch, dass sie die Seele, die das Thema der rationalen Psychologie innerhalb der klassischen Metaphysik war, transzendentalphilosophisch prüft. Die Prüfung ergibt, dass sich die rationale Psychologie in Widersprüche verwickelt. Sie gilt es aufzuheben. Der Widerspruch besteht bei Descartes z. B. darin, dass er das „Ich denke“ einerseits als eine Substanz bezeichnet, die als einfache, unsterbliche Substanz der Seele zu verstehen ist, andererseits aber als reine Tätigkeit des Denkens, Vorstellens, Wollens, Fühlens usw. Da auch Kant den Ausdruck „Ich denke“ zur Grundlage des Verstandesgebrauchs macht, wird für ihn das Problem ihrer Interpretation als Substanz dringlich. Unzweifelhaft ist, dass das „Ich den-
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X. Zum Begriff der Person
ke“ das Subjekt der Erkenntnis ist; fraglich aber, ob es sich dabei um eine Substanz handelt. Dem Beweis für die Substanzialität der Seele lag folgender Syllogismus zugrunde: „Was nicht anders als Subjekt gedacht werden kann, existiert auch nicht anders als Subjekt, und ist also Substanz. / Nun kann ein denkendes Wesen, bloß als ein solches betrachtet, nicht anders als Subjekt gedacht werden. / Also existiert es auch nur als ein solches, d. i. als Substanz“ (Kant: Werke II, 348).
Dieser Syllogismus ist aber deshalb nicht schlüssig, weil über das „Ich denke“ als Subjekt einer Tätigkeit gesprochen wird wie über einen Gegenstand. Bezogen auf das Problem der Person stellt sich der Fehlschluss (Paralogismus) wie folgt dar: „Was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewußt ist, ist so fern eine PERSON: / Nun ist die Seele etc. / Also ist sie eine Person“ (ebd. 370). Kant erläutert den Vordersatz so: „Denn er sagt wirklich nichts mehr, als in der ganzen Zeit, darin ich mir meiner bewußt bin, bin ich mir dieser Zeit, als zur Einheit meines Selbst gehörig, bewußt (. . .). Die Identität der Person ist also in meinem eigenen Bewußtsein unausbleiblich anzutreffen“ (ebd. 371).
Ein Fehler kommt in diese Aussage dann, wenn die Identität der Person als eine in der Zeit anzutreffende beharrliche Substanz interpretiert wird. Sie macht das Subjekt und sein Bewusstsein dann zu einem äußerlichen Gegenstand. Für das Selbstbewusstsein des Subjekts stellt sich die Situation anders dar, denn „wir selbst können aus unserem Bewußtsein darüber nicht urteilen, ob wir als Seele beharrlich sind, oder nicht, weil wir zu unserem identischen Selbst nur dasjenige zählen, dessen wir uns bewußt sein, und so allerdings notwendig urteilen müssen: daß wir in der ganzen Zeit, deren wir uns bewußt sein, eben dieselbe sind“ (ebd. 372).
Das Bewusstsein der Identität der Person als eine einfache, beharrliche Substanz in der Zeit ist ein notwendiger Schein, der nur dann trügerisch wird, wenn er als eine objektive Aussage verstanden wird. Aus diesem Grunde haben die Begriffe der Substanz, der Einfachheit und der Persönlichkeit ihre relative Berechtigung. Sie sind zum „praktischen Gebrauche nötig und hinreichend“ (ebd. 373). Kant steht mit seinen Aussagen zur Identität der Person in der Linie der Transformation der Metaphysik der Substanz in eine Philosophie der Subjektivität, der auch Locke zugehört. Die Anthropologie als systematische Disziplin unterscheidet Kant in zwei Hinsichten. Sie kann unter einer physiologischen Perspektive abgefasst werden oder unter einer pragmatischen. „Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll“ (Kant: Werke VI, 399). Die physiologische Anthropologie aber trägt zur praktischen Menschenkenntnis nichts bei, denn derjenige, der sich mit ihr beschäftigt und über sie z. B. Aufschluss über die Funktionsweise des Gedächtnisses erwartet,
3. Die Person als Zweck an sich selbst (Kant)
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„kann über die im Gehirn zurückbleibenden Spuren von Eindrücken, welche die erlittenen Empfindungen hinterlassen, hin und her (. . .) vernünfteln; muß aber dabei gestehen: daß er in diesem Spiel seiner Vorstellungen bloßer Zuschauer sei, und die Natur machen lassen muß, indem er die Gehirnnerven und Fasern nicht kennt, noch sich auf die Handhabung derselben zu seiner Absicht versteht: mithin alles theoretische Vernünfteln hierüber reiner Verlust ist“ (ebd.).
Derjenige aber, der sein Gedächtnis schult und es „dazu benutzt, um es zu erweitern“, handelt in einer erfolgversprechenden pragmatischen Perspektive. Er versteht den Menschen als ein „freihandelndes Wesen“. In diesem Verständnis entwickelt Kant seine Anthropologie. Er beginnt seine Überlegungen mit der Definition des Menschen als Person. Person ist der Mensch dadurch, dass er in seiner Vorstellung das Ich haben kann. Im Anschluss an die Ausführungen in der Kritik der reinen Vernunft sagt Kant zur Identität der Person: Der Mensch ist „vermöge der Einheit des Bewußtseins, bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person“ (ebd. 407). Die Identität der Person wird nicht durch eine sich gleichbleibende, unveränderliche Substanz garantiert, sondern durch die einheitsstiftende Leistung des Bewusstseins. Bemerkenswert ist aber ein weiterer Aspekt. Kant verbindet den Gedanken der Vorstellung des Ichs mit dem der Sprachentwicklung des Kindes. Diesen Überlegungen kommt eine besondere Bedeutung zu. Es ist selbst im Bereich der philosophischen Anthropologie ausgesprochen selten, dass die Situation des Kindes und seine Entwicklung thematisiert werden. Die zahlreichen anthropologischen Definitionen bestimmen den Menschen als einen Erwachsenen. Wenn überhaupt über das Kind gesprochen wird, dann über seine Mängel, d. h. über das, was ihm zum Menschsein im vollen Sinne des Wortes fehlt. So fehlt dem Kind nach Aristoteles die Vernunft, weshalb es auch nicht fähig ist, das Glück zu erlangen, denn das ist ohne Vernunft nicht möglich. Im römischen Verständnis ist das Kind „infans“, d. h. das Nichtsprechende. Das Kind wird generell als ein Mängelwesen dargestellt. Wird der Mensch selbst als ein Mängelwesen definiert, ist es das Kind in potenzierter Weise. Die Frage, wie sich ein Kind zum Erwachsenen entwickelt und welchen Beitrag z. B. die Erziehung dazu leistet, wird in der Regel ausgeklammert. Platon, Kant und Wilhelm von Humboldt bilden hier bemerkenswerte Ausnahmen. Kant greift nun einen entscheidenden Aspekt in der kindlichen Sprachentwicklung heraus, nämlich den Übergang des Sprechens in der dritten Person hin zur Verwendung der ersten Person Singular. Er sieht diesen Übergang als einen entscheidenden Schritt nicht nur der Sprachentwicklung an, sondern als einen Schritt hin zur Entwicklung des Selbstverständnisses des Kindes als Person. Dem Kind ist – so Kant – sobald es für sich selbst das Wort Ich verwendet, „gleichsam ein Licht aufgegangen“. Kant behauptet auch, dass es sich dabei nicht um eine zufällige und daher auch möglicherweise wechselnde Wortwahl handelt, sondern um eine neue Stufe des Bewusstseins, hinter die das Kind, wenn sie einmal erreicht ist, nicht wieder zurückfällt. Entscheidend ist, dass Kant das Kind nicht als einen defizienten Modus des Menschseins interpretiert, sondern dessen Entwicklungspotential herausstellt. Es ist die Entwicklung des Kindes von einem Zustand, in dem es sich selbst fühlt, zu einem, in dem es sich selbst denkt. Unter systematischer Perspektive heißt das für die Definition des Menschen als Person Folgendes:
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X. Zum Begriff der Person
Person ist der Mensch dadurch, dass er in seiner Vorstellung das Ich haben kann, aber er verwirklicht diese Möglichkeit dadurch, dass er das Wort Ich in seine Sprache aufnimmt und für sich in Anspruch nimmt. Kant, der während der langen Zeit seiner Hauslehrertätigkeit reiche pädagogische Erfahrungen machen konnte, hat in seiner Vorlesung Über Pädagogik der Erziehung des Kindes eine kaum zu überschätzende Bedeutung beigemessen. Sie macht ein spezifisches Merkmal des Menschen deutlich: Es ist seine Erziehungsbedürftigkeit. Kant betont: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß“ (Kant VI, 697). Ohne die Einbeziehung des Begriffs der Erziehung ist daher ein angemessenes Verständnis des Menschen nicht möglich und seine Definition bliebe unvollständig. Anthropologisch formuliert heißt das: Der Mensch ist, im Unterschied zu dem durch Instinkte gesteuerten Verhalten der Tiere, ein erziehungsbedürftiges Wesen. Das bedeutet: Ohne Erziehung, die selbst nur durch Menschen erfolgen kann, wird das Kind kein Mensch. Das heißt: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht. Es ist zu bemerken, daß der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Menschen, die ebenfalls erzogen sind“ (ebd. 699). Daher ist der jeweilige Zustand der Gesellschaft maßgeblich abhängig von der Fähigkeit der Erzieher. Kant sieht in der Erziehung aber nicht nur die notwendige Bedingung der Menschwerdung des einzelnen Menschen, sondern verbindet sie mit den höchsten Erwartungen für die Entwicklung der Menschheit insgesamt. Er führt den Gedanken wie folgt aus: „Vielleicht, daß die Erziehung immer besser werden, und daß jede folgende Generation einen Schritt näher tun wird zur Vervollkommnung der Menschheit; denn hinter der Edukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur. (. . .) Dies eröffnet uns den Prospekt zu einem künftigen glücklichern Menschengeschlechte“ (ebd. 700).
Die Vollkommenheit besteht darin, dass „alle Naturanlagen des Menschen proportionierlich und zweckmäßig entwickelt“ (ebd. 702) werden. Wegen der überragenden Bedeutung der Erziehung für den einzelnen Menschen und die Menschheit insgesamt, muss der bisher in der Erziehung vorherrschende „Mechanismus“ vermieden und die „Erziehungskunst (. . .) in Wissenschaft verwandelt werden“ (ebd. 704). Die Anforderungen an den Pädagogen sind entsprechend hoch: „Bloß durch die Bemühung der Personen (. . .), die Anteil an dem Weltbesten nehmen, und der Idee eines zukünftigen bessern Zustandes fähig sind, ist die allmähliche Annäherung der menschlichen Natur zu ihrem Zwecke möglich“ (ebd. 706). Eine besondere Bedeutung kommt der moralischen Erziehung zu. Kant definiert ihr Ziel so: „Sie ist Erziehung zur Persönlichkeit, Erziehung eines frei handelnden Wesens, das sich selbst erhalten, und in der Gesellschaft ein Glied ausmachen, für sich selbst aber einen innern Wert haben kann“ (ebd. 712). Den inneren Wert des Menschen verbindet Kant mit dem Begriff der Würde. Es ist die Würde der Menschheit, die jeder einzelne Mensch als Person in sich repräsentiert. Sie zu wahren ist eine Pflicht, die er gegen sich selbst zu erfüllen hat. Sie bedeutet, „daß der Mensch in seinem Innern eine gewisse Würde habe, die ihn vor allen Geschöpfen adelt, und seine Pflicht ist es, diese
3. Die Person als Zweck an sich selbst (Kant)
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Würde der Menschheit in seiner eignen Person nicht zu verleugnen“ (ebd. 749). Person und Persönlichkeit bilden die zentralen Begriffe der Pädagogik Kants. In seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hat Kant eine Ethik entwickelt, in deren Zentrum der ‚Kategorische Imperativ‘ steht. Aus ihm leitet sich die Pflicht des Menschen ab, sein Handeln darauf hin zu überprüfen, ob es der besondere Fall eines allgemeinen Gesetzes sein kann. Er schreibt nicht einzelne Handlungen vor, wie etwa die ‚Zehn Gebote‘, sondern ist eine Prüfungsinstanz, die die Maxime einer Handlung, d. h. ihre subjektive Allgemeinheit, auf ihre Gesetzeskonformität hin untersucht. Die spezifischen Handlungsziele, die dem allgemeinen Glücksbedürfnis des Menschen unterworfen sind, im Einzelnen aber, entsprechend der individuellen Interpretation des Glücks, sehr unterschiedlich sein können, bleiben der freien Wahl des Handelnden überlassen. Sie werden vom kategorischen Imperativ nicht definiert. Er hat daher einen formalen Charakter. Die am Gesetzesbegriff orientierte Ethik ist daher formal. Teleologische Prinzipien scheinen in ihr keinen Platz zu haben. Doch der Schein trügt. Bemerkenswert ist bereits, dass sich Kant nicht mit der Formulierung des kategorischen Imperativs zufrieden gibt, der die bloße Gesetzeskonformität zum Inhalt hat und deren Kriterium die Widerspruchsfreiheit ist, sondern dass er insgesamt vier Formulierungen entwickelt, die unterschiedliche Akzente setzen (vgl. Kap. III, 3). Die zweite Formulierung etwa befiehlt dem Handelnden zu prüfen, ob die Maxime seiner Handlung durch seinen Willen zu einem „allgemeinen Naturgesetze werden sollte“. Dabei wird deutlich, dass Kant die Natur nicht nur als einen kausalen Mechanismus versteht, sondern als eine zweckmäßige Natur, die vernünftige Absichten verfolgt. Dies zeigt sich bei der Prüfung der Frage, ob es sich mit dem kategorischen Imperativ vereinbaren lässt, wenn jemand seine Talente verkümmern lässt. Kants Antwort macht deutlich, dass er den Begriff der Natur in einem zweifachen Sinne verwendet, in einem eingeschränkt kausalen und in einem erweiterten teleologischen. Er sagt: „Da sieht er nun, daß zwar eine Natur nach einem solchen allgemeinen Gesetze immer noch bestehen könne, (. . .) allein er kann unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde (. . .). Denn als ein vernünftiges Wesen will er notwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind“ (Kant IV, 53f.).
Die Vermögen sind dem Menschen zum Zwecke ihrer Ausbildung von der Natur gegeben, und die Natur, die dies tut, kann selbst nur als eine gedacht werden, die vernünftige Zwecke verfolgt. Der Begriff des Zwecks wird in der dritten Formulierung des kategorischen Imperativs ausdrücklich betont. Sie lautet: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (ebd. 61). Diese Formulierung bringt einen völlig neuen Gedanken in den kategorischen Imperativ. Thema ist nicht die formale Struktur eines Gesetzes, sondern ein Inhalt, und dieser Inhalt ist der Mensch als Person. Die Annahme, Kants Ethik sei nur formal und sehe von allen Inhalten ab – sie müsse deshalb durch eine materiale Ethik ersetzt werden, wie Scheler meinte, – ist nicht halt-
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X. Zum Begriff der Person
bar. Der Mensch selbst repräsentiert einen Inhalt von ethischer Relevanz. Kant drückt dies unmissverständlich aus: „Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden“ (ebd. 59f.).
Im Unterschied zu Sachen, die Mittel zu beliebigen Zwecken sind, sind dagegen „vernünftige Wesen Personen“, d. h. „Zwecke an sich selbst“ (ebd. 60). Der kategorische Imperativ, dessen Thema die Person ist, ist gleichwohl erläuterungsbedürftig. Kant bezeichnet den Menschen als ein vernünftiges Wesen und der Imperativ befiehlt, die Menschheit in der Person zu respektieren. Das hat Konsequenzen. Zwar hat jeder Mensch die Handlungen eines anderen Menschen als Willensäußerungen einer Person zu respektieren, kriminelle Handlungen fallen aber nicht darunter. Außerdem meint der Begriff Menschheit nicht ‚alle Menschen‘, sondern das Menschsein der Person, und das ist zu definieren als ‚vernünftiges Wesen‘ (vgl. Kaulbach, 1988, 77). Ein zweiter Aspekt ist von Bedeutung. Kant sagt nicht, dass die Person nicht auch als ein Mittel betrachtet werden darf, sondern nur, dass er jederzeit zugleich als Zweck respektiert werden müsse. Kant trägt dabei der Tatsache Rechnung, dass der Mensch im gesellschaftlichen Verkehr den anderen auch als Mittel gebraucht, den Kaufmann als Lieferanten für Lebensmittel, den Arzt als medizinischen Helfer. Ein Widerspruch zum kategorischen Imperativ stellt sich dann ein, wenn die eine Person die andere nicht zugleich auch als ein vernünftiges Wesen in ihren eigenen Zwecken respektiert. Ist für Kant schon der Mensch ein Zweck an sich selbst, so betont der Begriff der Person den Menschen als ein handelndes, seine Zwecke verfolgendes, vernünftiges Wesen. Ein dritter Aspekt ist in der zitierten Formel des kategorischen Imperativs von Bedeutung. Er befiehlt nicht nur, die Selbstzweckhaftigkeit der anderen Person zu beachten, sondern auch die Menschheit in der eigenen Person. Er enthält daher ein Gebot der Selbstachtung. Doch auch hier gilt die entsprechende Präzisierung. Zu achten ist die eigene Person nicht in ihren zufälligen und möglicherweise gar unmoralischen Motiven und Handlungen, sondern als ein vernünftiges Wesen. Der Gedanke der Selbstachtung verbindet sich daher mit dem der Selbstverpflichtung, in seinen Handlungen der Definition des Menschen als eines vernünftigen Wesens gerecht zu werden. Hieraus ergibt sich ein Kriterium, die von Kant erläuterten Beispiele für vollkommene und unvollkommene Pflichten zu verstehen: das Verbot des Selbstmords und das lügenhafte Versprechen als Beispiele für vollkommene Pflichten, die Entwicklung der eigenen Talente und die Hilfeleistung gegenüber anderen als unvollkommene Pflichten. Derjenige, der im Begriff ist, sich zu töten, sollte sich fragen, „ob seine Handlung mit der Idee der Menschheit, als Zwecks an sich selbst, zusammen bestehen könne“. Kants Antwort ist eindeutig: „Wenn er, um einem beschwerlichen Zustande zu entfliehen, sich selbst zerstört, so bedient er sich einer Person, bloß als eines Mittels (. . .). Der Mensch aber ist keine Sache,
3. Die Person als Zweck an sich selbst (Kant)
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mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden. Also kann ich über den Menschen in meiner Person nichts disponieren, ihn zu verstümmeln, zu verderben, oder zu töten“ (Kant IV, 61).
Gibt jemand ein lügenhaftes Versprechen, so ist es unmittelbar einsichtig, „daß er sich eines andern Menschen bloß als Mittels bedienen will, ohne daß dieser zugleich den Zweck in sich enthalte“ (ebd. 62). Noch deutlicher wird die Missachtung der Selbstzweckhaftigkeit der anderen Person bei „Angriffen auf Freiheit und Eigentum“ (ebd.). Im Hinblick auf die Vernachlässigung der Talente äußert sich Kant so: „Nun sind in der Menschheit Anlagen zu größerer Vollkommenheit, die zum Zwecke der Natur in Ansehung der Menschheit in unserem Subjekt gehören; diese zu vernachlässigen, würde allenfalls wohl mit der Erhaltung der Menschheit, als Zwecks an sich selbst, aber nicht der Beförderung dieses Zwecks bestehen können“ (ebd.).
Die Beförderung des Zwecks der Menschheit gehört zweifellos in ein teleologisches Konzept von Ethik. Schließlich ist viertens die Hilfeleistung als eine „verdienstliche Pflicht“ zu erwähnen. Kant bemerkt dazu: „Nun würde zwar die Menschheit bestehen können, wenn niemand zu des andern Glückseligkeit was beitrüge, (. . .) allein es ist dieses doch nur eine negative und nicht positive Übereinstimmung zur Menschheit, als Zweck an sich selbst, wenn jedermann auch nicht die Zwecke anderer, so viel an ihm ist, zu befördern trachtete“ (ebd. 63).
Kant entwirft schließlich eine Idee, nach der jede Person ihr Handeln auf die Beförderung des Zwecks der Menschheit ausrichtet. Aus dem Zusammenwirken aller Personen, die sich an dieser Idee orientieren, ergäbe sich ein „Reich der Zwecke“. Kant eröffnet einen Blick auf sie mit folgenden Worten: „Nun ist auf solche Weise eine Welt vernünftiger Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke möglich, und zwar durch die eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder“ (ebd. 72). Daraus ergibt sich eine vierte Formulierung des kategorischen Imperativs. Sie lautet: „handle nach Maximen eines allgemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reiche der Zwecke“ (ebd. 73). In seiner Kritik der praktischen Vernunft unterscheidet Kant zwischen Person und Persönlichkeit. Diese Unterscheidung wirft ein neues Licht auf den Begriff der Person. Es wird nämlich deutlich, dass mit dem Begriff Person keineswegs nur das seiner selbst bewusste, moralische Subjekt zu verstehen ist, sondern dass Person auch „als zur Sinnenwelt gehörig“ verstanden werden kann. Die Persönlichkeit dagegen ist das, „was den Menschen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt“ (ebd. 209). Auf diese Weise treten Person und Persönlichkeit in einen Gegensatz. Die Persönlichkeit steht noch über der Person. Das bedeutet, dass „die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, so fern sie zugleich zur intelligibelen Welt gehört; da es denn nicht zu verwundern ist, wenn der Mensch, als zu beiden Welten gehörig“ anzusehen ist (ebd. 210). Die Persönlichkeit ist das Wesen der Person. Sie ist
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X. Zum Begriff der Person
das, was Kant als die Menschheit in der Person bezeichnet hat. In diesem Sinne ist daher auch seine Aussage zu verstehen: „Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein“ (ebd.). Insofern der Mensch als Person ein vernünftiges Wesen ist, ist er „nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit“ (ebd.). Die Persönlichkeit ist eine „Achtung erweckende Idee“, die geeignet ist, einen Menschen von einer unmoralischen Tat abzuhalten und ihn davor zu bewahren, dass er „sich in Geheim in seinen eigenen Augen“ verachten muss (ebd. 211). Als Person hat der Mensch in sich den Widerstreit der beiden Welten auszutragen. Der Begriff der Freiheit der Person bildet auch die Grundlage von Kants Rechtsphilosophie, seiner Metaphysik der Sitten. Für die rechtliche Beurteilung einer Handlung spielt die freie Willkür eine entscheidende Rolle. Kant definiert sie so: „Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein“ (ebd. 318). Während der Begriff der Freiheit der theoretischen Vernunft „transzendent“ ist, da für ihn keine Beispiele der Erfahrung gegeben werden können und er daher nur ein regulatives Prinzip ist, wird seine „Realität“ im praktischen Gebrauch dadurch belegt, dass die Gesetze „der reinen Vernunft“ „die Willkür bestimmen und einen reinen Willen in uns beweisen“ (ebd. 327). Kant unterscheidet die moralische Beurteilung einer Willkürhandlung von ihrer rechtlichen. Moralisch ist eine Handlung dann zu nennen, wenn ihr Motiv auf den kategorischen Imperativ zurückzuführen ist, rechtlich dann, wenn sie gesetzeskonform erfolgt. Kant erläutert diese Unterscheidung wie folgt: „Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität (Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben“ (ebd. 324).
Ethische wie rechtliche Prinzipien haben ihre gemeinsame Grundlage in der praktischen Vernunft. Aufgrund der Differenzierung von Moral und Recht, ist es jedoch notwendig, das Prinzip des Rechts in einer eigenen Formulierung auszusprechen. In Analogie zum kategorischen Imperativ lautet der rechtliche Imperativ so: „handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“ (ebd. 338). Dieser rechtliche Imperativ hat eine naturrechtliche Grundlage, da er auf dem „Prinzip der angebornen Freiheit“ (ebd. 346) beruht. In ihr ist die „angeborne Gleichheit“ (ebd. 345) mit eingeschlossen. Von der naturrechtlichen Grundlage ist das positive Recht, d. h. die in einem Land jeweils gültigen Gesetze, zu unterscheiden. Diese lassen sich unterscheiden in Verbote, Gebote und gegebenenfalls Erlaubnisgesetze. Im Unterschied zu ethischen Geboten gehört es zum positiven Recht, dass seine Einhaltung erzwungen werden kann. Das heißt: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei“ (ebd. 340). Das Recht betrifft daher den Menschen ebenso sehr als „physische Person“ wie als „moralische Person“ (ebd. 386).
3. Die Person als Zweck an sich selbst (Kant)
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Da im Recht nur die Tat, d. h. die äußerlich feststellbare Seite einer Handlung beurteilt wird, kann ihr Urheber auch aufgrund äußerer Kriterien festgestellt werden. Es wird angenommen, dass die Tat das Ergebnis der „Freiheit seiner Willkür“ war. Das Subjekt einer Tat im rechtlichen Sinne heißt Person. Kant bemerkt: „Der Handelnde wird durch einen solchen Akt als Urheber der Wirkung betrachtet, und diese, zusamt der Handlung selbst, können ihm zugerechnet werden, wenn man vorher das Gesetz kennt, kraft welches auf ihnen eine Verbindlichkeit ruhet. / Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“ (ebd. 329).
Kant greift hier den Begriff von Person auf, der im römischen Recht seinen Ursprung hat. Person ist das rechtliche Subjekt. In diesen Kontext gehört auch die Unterscheidung von Person und Sache. Dementsprechend definiert Kant ‚Sache‘ so: „Sache ist ein Ding, was keiner Zurechnung fähig ist. Ein jedes Objekt der freien Willkür, welches selbst der Freiheit ermangelt, heißt daher Sache“ (ebd. 330). Doch so einleuchtend diese Unterscheidung auch sein mag, sie versagt in bestimmten Fällen. Diese Fälle betreffen die Rechtsstellung der Kinder. Kant macht zunächst darauf aufmerksam, dass mit der Geburt eines Kindes eine „Person“, d. h. ein „mit Freiheit begabtes Wesen“, das Licht der Welt erblickt hat. Abzuweisen ist die Vorstellung, das Kind wäre ein „durch eine physische Operation“ der Eltern Gemachtes, gleichsam „ihr Gemächsel“ (ebd. 394). Richtig ist vielmehr, dass die Eltern durch den Akt der Zeugung „eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben; für welche Tat auf den Eltern nun eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen“ (ebd.). Deshalb gehört es zur Pflicht der Eltern, nicht nur für Ernährung und Pflege des Kindes zu sorgen, sondern auch für seine Bildung, und zwar solange, bis es aus der Obhut der Eltern entlassen werden und für sich selber sorgen kann. Deshalb hat das Kind eine eigene Rechtsstellung. Aus ihr ergibt sich, „daß, da die Kinder nie als Eigentum der Eltern angesehen werden können, aber doch zum Mein und Dein derselben gehören (weil sie gleich den Sachen im Besitz der Eltern sind, und aus jedes anderen Besitz, selbst wider ihren Willen, in diesen zurückgebracht werden können), das Recht der ersteren kein bloßes Sachenrecht, mithin nicht veräußerlich (. . .) aber auch nicht ein bloß persönliches, sondern ein auf dingliche Art persönliches Recht ist“ (ebd. 395). Kant betont, dass die Rechtslehre durch diese Kategorie erweitert werden müsse. Kants Wirkungsgeschichte lässt sich auch mit Blick auf seine Definition des Begriffs Person erläutern. Das Verständnis der Person als eine Einheit des Selbstbewusstseins, als Sprecher in der ersten Person Singular, als Persönlichkeit, als Zweck an sich selbst, als Rechtssubjekt und schließlich als physische und als moralische Person haben Anknüpfungspunkte für eine Vielzahl von philosophischen Strömungen, wissenschaftlichen Disziplinen und politisch-rechtlichen Weiterentwicklungen geboten. Innerhalb der Philosophie sei lediglich auf Fichte, Humboldt, Hegel und schließlich Scheler hingewiesen.
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X. Zum Begriff der Person
Determinierte Materie und Freiheit des Subjekts
XI.
Materialistische Anthropologie
Der lateinische Ausdruck ‚materia‘ ist die Übersetzung des griechischen Wortes ‚hyle‘ und bedeutet: Holz, Baustoff, Stoff. Der Begriff und das Problem der Materie reichen weit in das antike Denken zurück. Es verbindet sich im vorsokratischen Denken mit dem Modell, nach dem die Welt aus einer Vielzahl kleinster unteilbarer Teilchen, den Atomen, zusammengesetzt sei. Leukipp, der Begründer dieser These, nahm an, die Wirklichkeit bestehe aus den Atomen und dem leeren Raum, in dem sie sich bewegen. Entgegen der vorherrschenden mythologischen Annahme, die Erde und die Gestirne seien Lebewesen, hielt er sie für rein materielle Körper, die sich durch mechanische Kraft aus der unendlichen Materie abgespalten hätten. Dieser Lehre folgte sein Schüler Demokrit, ein älterer Zeitgenosse Platons. Platon hat sich in seinem Dialog Sophistes mit dem Problem des Materialismus auseinandergesetzt, ohne allerdings Demokrit zu erwähnen. Er weist darauf hin, dass es eine Gigantomachie, einen riesigen Streit zwischen den Anhängern der Lehre gebe, die annehmen, das Sein bestünde nur aus Körpern, an denen man sich stoßen und die man betasten könne, und den Ideenfreunden, die annehmen, dass unkörperliche, nur dem Denken zugängliche, Ideen das wahre Sein repräsentierten (vgl. Platon: Sophistes 246 a/b). Gegen die Vertreter der ersten Lehre zu argumentieren sei nur dann möglich, wenn sie zugäben, dass es außer den Körpern auch Wörter gebe, mit denen man über die Körper sprechen könne. Sie müssten sich also auf die Ebene des vernünftigen Sprechens begeben. Doch auch gegen die Annahme von Ideen, die angeblich an sich existieren, sind Einwände zu machen. Platon hat sie in seinem Dialog Parmenides erhoben. Er weist darauf hin, dass das, was an sich ist, darum nicht für uns existiert und deshalb auch von uns nicht erkannt werden kann (vgl. Platon: Parmenides 134 b). Sein Fazit ist: Die Annahme von Ideen ist ebenso problematisch, wie andererseits unverzichtbar; denn ohne Ideen hätten wir nichts, worauf sich unsere Rede beziehen könnte. Platon gibt mit seinen Dialogen das Thema an, das als Streit zwischen Idealismus und Materialismus bezeichnet werden kann. Dieser Streit wird durch die Philosophie von Aristoteles insofern entschärft, als für ihn das einzelne Ding eine Einheit ist von Stoff und Form, wobei die Form das repräsentiert, was Platon als Idee bezeichnete. Es gibt für ihn keine Idee ohne ein Einzelnes,
XI. Materialistische Anthropologie
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auf das sie sich bezieht und umgekehrt kein Einzelnes, ohne eine sie bestimmende Idee oder Form. Diese Lösung des Problems wurde erst in der Neuzeit mit der Rehabilitierung der antiken Atomtheorie und dem Siegeszug des mechanischen Denkens verworfen. Sie gingen einher mit der Kritik an der aristotelischen Philosophie. Damit war der Boden bereitet für einen mechanischen Materialismus, wie ihn in prägnanter Weise La Mettrie vertrat. Gut hundert Jahre später erneuerte Engels den ‚Riesenstreit‘ zwischen Idealismus und Materialismus. Er richtete sich jedoch nicht gegen Platon, sondern gegen Hegel, der der Idee eine wirklichkeitsbestimmende Macht zugeschrieben hatte. Doch Engels vertrat nicht mehr einen mechanischen, sondern einen dialektischen Materialismus, der die Natur als einen materiellen Zusammenhang von Bewegungen interpretierte, der eine Entwicklung einschließt. Karl Marx schließlich glaubte in den materiellen Produktionsverhältnissen der Gesellschaft einen gesetzmäßigen Bewegungsablauf erkennen zu können, in dem das Ziel der Geschichte sich mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes verwirklicht. Er ist der führende Repräsentant eines historischen Materialismus.
1. Der Maschinenmensch (La Mettrie) „Es bedarf wohl kaum weiterer Ausführungen (. . .), um zu beweisen, daß der Mensch nichts anderes ist als ein Tier bzw. eine Maschinerie von Triebfedern, die sich gegenseitig spannen, ohne daß sich dabei sagen ließe, an welchem Punkt des menschlichen Kreises die Natur den Anfang gemacht hat. Wenn diese Triebfedern sich voneinander unterscheiden, dann nur durch ihre Lage im Körper und ihre Stärke, nie aber durch ihr Prinzip. Folglich ist die Seele nichts anderes als ein Bewegungsprinzip bzw. eine empfindsame, materielle Partie des Gehirns, die man aber mit Sicherheit als die hauptsächliche Triebfeder der gesamten Maschine betrachten kann, denn sie hat einen offensichtlichen Einfluß auf alle anderen und scheint auch als erste entstanden zu sein. Alle anderen Triebfedern wären somit nur Emanationen aus ihr, was man auch aus einigen Beobachtungen an Embryonen verschiedener Art schließen kann (. . .). Diese natürliche Eigenschwingung, mit der sich unsere Maschine als ganzes sowie jede ihrer Fasern und Unterfasern bewegt, kann, wie die des Pendels, nicht permanent sein. Man muß sie gelegentlich im Maße ihres Nachlassens anstoßen, muß ihr Kraft zuführen, wenn sie schwächer wird, und sie dämpfen, wenn zu viel zugeführte Kraft und Energie sie ins Stocken bringt.“ (Julien Offray de La Mettrie: Der Mensch als Maschine. Nürnberg 1985, 77).
Julien Offray de La Mettrie wird 1709 in Saint-Malo (Bretagne) geboren. 1728–33 studiert er Theologie und Medizin in Paris und 1733 Medizin bei Boerhaave in Leiden. Er übernimmt dessen iatromechanische, d. h. kausal-mechanische, Erklärung von Krankheiten. 1734–42 übt er seinen Arztberuf in Saint-Malo aus und praktiziert 1743–45 als Feldarzt auf französischer Seite im österreichischen Erbfolgekrieg. Nach dem Erscheinen seines philosophischen Erstlingswerks Histoire naturelle de l’âme (Naturgeschichte der Seele) im Jahre 1745 wird er als Militärarzt entlassen, da sein Buch als religionsfeindlich eingeschätzt wird. Aus seiner neuen Stellung als Inspekteur von Armeehospitälern wird er aufgrund seiner 1746 als Buch veröffentlichten Ärztekritik
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XI. Materialistische Anthropologie
jedoch ebenfalls nach kurzer Zeit entlassen. Er flieht noch im selben Jahr nach Leiden. Nach dem Erscheinen seines philosophischen Hauptwerks L’homme machine 1748 (tatsächlich 1747) muss er erneut fliehen. Auf Vermittlung seines Freundes und Landsmanns Maupertuis gelangt er an den Hof Friedrichs des Großen in Potsdam. Dort stirbt er im Jahre 1751 an einer Lebensmittelvergiftung (Schuchter, 2018). La Mettries leitender Gedanke ist bestimmt durch das Konzept eines mechanischen Materialismus. Als Arzt wird für ihn dieser Ansatz zum Leitfaden seines Verständnisses des Menschen. Die Anregungen, die er von Boerhaave erhält, vervollständigt er in der Weise, dass er den Menschen als Ganzes als eine Maschine betrachtet. Der Ursprung dieses Gedankens liegt jedoch weiter zurück. Er findet sich bereits bei Descartes in seinem Discours de la methode aus dem Jahre 1637. Descartes argumentiert so: Wenn schon der Mensch in der Lage ist, aufgrund seiner Geschicklichkeit Maschinen zu erfinden, die hochkomplizierte Bewegungen ausführen, um wie viel mehr ist es dann der Weisheit Gottes möglich, Organismen zu erzeugen, die mit ihrer Vielzahl von Knochen, Muskeln, Nerven, Arterien und Venen in der Lage sind, die Bewegungen auszuführen, die wir bei Tieren antreffen. Er geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er folgende Überlegung anstellt: Gäbe es eine Maschine mit den Organen und der Gestalt eines Affen, so wären wir nicht in der Lage, diese von einem wirklichen Affen zu unterscheiden. Nur ein Mensch – so Descartes – kann niemals mit einer Maschine verwechselt werden (vgl. Kap. III, 2). Der Versuch, einen Maschinenmenschen zu konstruieren, scheitert an der menschlichen Sprache. Zwar könne man sich vorstellen, dass dieser Maschinenmensch, auf Druck an einer bestimmten Stelle, Laute hervorbringt oder gar schreit, aber er wird niemals in der Lage sein, Worte zu sinnvollen Sätzen zusammenzustellen, die eine Bedeutung haben. Der Grund hierfür liegt darin, dass die menschliche Vernunft, ohne die es keine Sprache gibt, im Unterschied zu den einzelnen Funktionen der Organe ein „Universalinstrument“ ist, das variabel eingesetzt werden kann. Die Tätigkeit der Vernunft ist aber eine Angelegenheit der Denksubstanz und die ist von der ausgedehnten Substanz des Körpers zu unterscheiden. La Mettrie hat das Modell von Descartes genau studiert und es gewürdigt. Die Kritik, die er gleichwohl an ihm übt, besteht in der Annahme einer zweiten Substanz und der Rolle der „esprits animaux“, d. h. der Lebensgeister, in ihr. Descartes und die Cartesianer haben seiner Meinung nach folgenden Fehler gemacht: „Sie haben im Menschen zwei verschiedene Substanzen angenommen, so als ob sie diese gesehen und regelrecht gemessen hätten“ (La Mettrie, 1985, 18). Auch Leibniz hat in seiner Monadologie aus dem Jahre 1714 das Maschinenmodell aufgegriffen und, ähnlich wie Descartes, den organischen Körper eines Lebewesens als eine unendlich komplizierte Maschine verstanden, die alle menschlichen Maschinen in ihrer Kunstfertigkeit weit überragt, da in ihr nicht nur eine bestimmte Anzahl von Teilen eine Funktionseinheit bilden, sondern die Teile selbst, bis ins Unendliche gegliedert, selbst noch Maschinen sind. Jedes Lebewesen ist für ihn eine Art „göttlicher Maschine“. La Mettrie hat sich auch mit diesem Modell beschäftigt und es verworfen: „Leibniz und seine Anhänger haben mit ihren Monaden eine Hypothese aufgestellt, die schlicht unverständlich ist. Sie haben eher die Materie spiritualisiert als die Seele materialisiert“ (ebd. 17). La Mettries eigener Ansatz ist dadurch bestimmt, dass er das Gesamtgefüge des Menschen als eine Maschine interpretiert. Der Unterschied zu Descartes besteht darin, dass
1. Der Maschinenmensch (La Mettrie)
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er nicht von zwei Substanzen ausgeht, sondern von einer einzigen. La Mettrie übernimmt damit im Prinzip den Ansatz von Spinoza, ohne ihn jedoch zu erwähnen. Er verwendet auch nicht dessen Formel „deus sive natura“, sondern identifiziert die Natur vielmehr mit der Materie. Seine Grundannahme ist, „daß die organisierte Materie mit einem Bewegungsprinzip ausgestattet ist, das allein sie von der nicht organisierten unterscheidet (. . .) und daß bei Tieren alles von der Verschiedenheit ihrer Organisation abhängt (. . .). Denn das reicht aus, um sowohl das Rätsel der Substanzen als auch das des Menschen zu lösen. Man sieht: es gibt im ganzen Universum nur eine Substanz, und der Mensch ist ihre vollkommenste Form“ (La Mettrie, 1985, 83).
La Mettrie gesteht, dass seine Grundannahme, die Natur als Materie zu interpretieren, selbst nicht mehr begründet werden könne. Die Frage, wie der Mechanismus der Materie sich entwickelt hat, bleibt für ihn unbeantwortbar. Er sagt: „Es wäre unsinnig, sich mit der Suche nach dem Mechanismus jener Entwicklung zu befassen. Das Wesen der Bewegung ist uns so unbekannt wie das der Materie“ (ebd. 82). Er unterstellt allerdings, dass es eine Entwicklung gegeben hat, in der „Materie sich aus ihrem einfachen und trägen Zustand in den komplexen und aktiven der Organe verwandelt“ hat (ebd.). Die Schritte der Evolution sind uns jedoch ebenso unbekannt wie „die anderen unbegreiflichen Wunder der Natur“. So ist es z. B. für ihn völlig rätselhaft, „wie das Empfindungsund Denkvermögen in einem Wesen entsteht, das aus unserer beschränkten Sicht einst nur ein bißchen Schleim gewesen zu sein scheint“ (ebd. 82f.). Der Grund für die engen Grenzen seiner Erkenntnis führt er selbst darauf zurück, dass er als einzige Quelle der Erkenntnis lediglich die Erfahrung akzeptiert und alle metaphysische und theologische Spekulation ablehnt, die der Erfahrung widerspricht. Die Erfahrung liefert das Kriterium, an dem auch theologische Aussagen sich messen lassen müssen. Seine bemerkenswerte Begründung lautet so: „Wenn es einen Gott gibt, dann ist er Schöpfer sowohl der Natur als auch der Offenbarung. Er gab uns diese, um uns jene zu erklären, dazu den Verstand, um beide im Zusammenhang zu sehen. / Argwohn gegen wissenschaftliche Erkenntnisse zu hegen, die Lebewesen betreffen, bedeutet, Natur und Offenbarung als unvereinbare Gegensätze zu betrachten, d. h. sich die Behauptung der Absurdität zu erlauben, daß Gott sich in seinen verschiedenen Werken widerspreche und uns täusche“ (ebd. 18).
Die Begründung ist deshalb bemerkenswert, weil La Mettrie in Übereinstimmung mit der kirchlichen Tradition den Gedanken von den beiden Büchern aufgreift, in denen sich Gott uns mitteilt; dem „liber naturae“, d. h. dem Buch der Natur und der Offenbarungswahrheit der Heiligen Schrift. Während jedoch für das scholastische Denken des Mittelalters der Vorrang der Heiligen Schrift vor dem Studium der Natur unbestreitbar war, kehrte sich in der frühen Neuzeit das Verhältnis um. So vertritt Galilei das heliozentrische Weltbild, obwohl es im Gegensatz zu den Aussagen der Bibel steht. Diesem Ansatz folgt La Mettrie. Mit seiner Argumentation bekennt er sich nicht offen zum Atheismus, sondern greift theologische Begründungsmuster auf. Zur Frage
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nach dem Ursprung und dem Sinn des Menschen sowie der Existenz Gottes vertritt La Mettrie einen agnostischen Standpunkt. Diesen erläutert er so: „Wer weiß im übrigen, ob der Sinn des menschlichen Daseins nicht in diesem Dasein selbst liegt? Vielleicht ist der Mensch per Zufall an irgendeinem Punkt der Erdoberfläche erschienen, ohne daß man sagen könnte, wie und warum. Sagen läßt sich nur, daß er leben und sterben muß – gleich den Pilzen, die von einem Tag auf den anderen erscheinen, oder den Blumen, die aus den Rissen alter Gemäuer wuchern. / Verlieren wir uns nicht in Spekulationen über das Unendliche! Wir sind nicht in der Lage, uns auch nur im entferntesten eine Vorstellung von ihm zu machen; und es ist uns auch völlig unmöglich, auf den Ursprung aller Dinge zurückzugehen. Im übrigen ist es für unseren Seelenfrieden ganz gleichgültig, ob die Materie ewig ist oder ob sie erschaffen wurde; ob es einen Gott gibt oder nicht“ (ebd. 60f.).
Die Annahme der Existenz eines Gottes ist im Übrigen für das Verständnis der Welt keineswegs zwingend. Im Gegensatz zu Spinoza, der die Ausdrücke Gott und Natur synonym gebraucht, stellen sie für La Mettrie eine Alternative dar. Seine Sympathie gilt der Natur. Der Gedanke einer Welt, die von Natur ist, d. h., die aus sich selbst heraus sich entwickelt hat, ist für ihn keineswegs abwegig. Er sagt: „Weshalb sollte es dann absurd sein zu denken, daß es physikalische Ursachen gibt, aus denen heraus alles entstanden ist und mit denen alle Dinge der Welt so notwendig verbunden sind, daß nichts von dem, was sich ereignet, sich nicht ereignen könnte?“ (ebd. 63). Es ist jedenfalls zur Erklärung der Welt keineswegs zwingend, „zu einem Gott Zuflucht“ zu nehmen. Die Leugnung Gottes bedeutet auch nicht, alles dem Zufall zu überlassen, „denn es kann ja etwas anderes geben, das weder Zufall ist noch Gott: ich meine die Natur“ (ebd. 64). Für das Studium der Natur gibt es aber keine bessere Erkenntnisquelle als die Erfahrung. Grundlage seiner Anthropologie sind für ihn die empirischen Erkenntnisse, die er während seiner Tätigkeit als Arzt erworben hat und sein Versuch, diese im Kontext des Maschinenmodells zu erklären. Das mechanische Denken, das dem Maschinenmodell zugrunde liegt, hat mehrere Ebenen. Es beinhaltet zunächst die Interpretation der materiell gedachten Natur am Leitfaden der ‚causa efficiens‘; d. h. das Verhältnis von Ursache und Wirkung tritt an die Stelle der Zweckursachen. Auf dieser Basis werden sodann Maschinen entwickelt, die die menschlichen Kräfte ersetzen und die Energien der Natur ausnutzen, z. B. in Windund Wassermühlen. Es beinhaltet schließlich die Erfindung von Automaten, die, einmal in Gang gebracht, aufgrund eines komplizierten Mechanismus sich selbst regulieren. Beispiel hierfür ist die Uhr. Für La Mettrie ist der menschliche Körper eine Maschine, die am ehesten der Uhr gleicht. Er sagt: „Der menschliche Körper ist eine Uhr, aber eine so ungeheuer komplizierte und mit so viel Geschick und Raffinement konstruierte, daß im Falle, wenn das Sekundenrad stehenbleibt, das Minutenrad weiterhin seine Aufgabe erfüllt (. . .). Oder ist es etwa nicht so, daß die Verstopfung einiger Gefäße keineswegs ausreicht, um das Zentrum der Bewegung, das dem Antriebsteil der Maschine gleicht und im Herzen liegt, lahmzulegen?“ (ebd. 83f.).
1. Der Maschinenmensch (La Mettrie)
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Allerdings: Der menschliche Automat ist kein ‚perpetuum mobile‘. Seine Bewegungen bedürfen der Energiezufuhr von außen, um in Gang gehalten zu werden, und der Drosselung bei Überaktivität (vgl. Text). Die Energiezufuhr für die Maschine erfolgt im Wesentlichen über die Nahrung: „Die zugeführte Nahrung sorgt dafür, daß sie in Gang bleibt. Ohne Nahrung verliert die Seele zunehmend an Kraft, bis sie sich noch einmal kurz aufbäumt und dann an Entkräftung stirbt“ (ebd. 26). Bemerkenswert ist bei La Mettrie, dass sein materialistischer Ansatz ihn keineswegs dazu verleitet, die Existenz der Seele zu leugnen. Im Gegenteil: Die Seele hat in seinem Modell sogar einen privilegierten Platz. Im Unterschied zu Descartes ist die Seele bei La Mettrie eine „empfindsame, materielle Partie des Gehirns“ (ebd. 77). Als Teil der Maschine ist sie „die hauptsächliche Triebfeder der gesamten Maschine“. Sie hat nicht nur einen entscheidenden Einfluss auf alle Funktionen des Körpers, sondern ist vermutlich auch als erste entstanden. La Mettrie geht sogar noch einen Schritt weiter: Alle anderen Triebfedern sind aus ihr entstanden. In einem erstaunlichen Rückgriff auf die Sprache des Neuplatonismus bezeichnet La Mettrie alle übrigen körperlichen Triebfedern als „Emanationen“ der Seele. Das Studium der Entwicklung des Embryos soll das belegen. Im entwickelten Organismus übernimmt die Seele zwar eine zentrale Funktion, sie dominiert aber keineswegs alle anderen. La Mettrie legt vielmehr großen Wert darauf, die Interdependenz zwischen der Seele und den übrigen Funktionen des Körpers zu belegen. Er sagt: „Die verschiedenen Zustände der Seele stehen also immer in Wechselbeziehung zu denen des Körpers“ (ebd. 32). In vielen Fällen haben seelische Haltungen eine organische Ursache. So hatte z. B. die Furchtlosigkeit eines Seneca beim Herannahen des Todes ihren Grund in einer „Störung der Milz oder der Leber, eines Staus in der Pfortader. Warum? Weil mit den körperlichen Organen zugleich auch die seelischen gestört werden. Hier haben auch all die merkwürdigen Erscheinungen manischer und depressiver Zustände ihre Ursache“ (ebd. 23). Ebenso versorgt eine gute Mahlzeit nicht nur den Körper mit Energie, sondern versetzt ein „betrübtes Herz“ in „Heiterkeit“. Umgekehrt haben seelische Zustände einen maßgeblichen Einfluss auf den Körper. So „kann ein Mensch, der von Eifersucht, Haß, Habsucht oder Ehrgeiz zerfressen wird, nirgends Ruhe finden“ (ebd. 24). Leidenschaften dieser Art zerstören seine Seele und rauben ihm den Schlaf. Es sind Körper und Seele, die nicht zur Ruhe kommen. Dem Schlaf kommt ohnehin eine besondere Bedeutung zu. La Mettrie bemerkt: „Seele und Körper fallen zusammen in den Schlaf. In dem Maße, in dem die Bewegung des Blutes sich beruhigt, breitet sich ein wohliges Gefühl von Friede und Ruhe in der ganzen Maschine aus. Die Seele spürt, wie sie mit den Augenlidern schwerer und mit den Gehirnfasern schlaffer wird. So wird sie zusammen mit den Muskeln des Körpers allmählich gleichsam gelähmt. Die Muskeln können das Gewicht des Kopfes nicht mehr tragen, und die Seele kann die Mühe des Denkens nicht mehr auf sich nehmen, denn sie ist im Schlaf so gut wie nicht mehr da“ (ebd. 24).
Doch die Qualität des Schlafes ist sehr unterschiedlich. Während der übermüdete Soldat selbst beim größten Kanonendonner nichts mehr wahrnimmt, führt eine zu heftige Zirkulation des Blutes bei einem anderen dazu, dass er aus dem Schlaf aufschreckt.
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XI. Materialistische Anthropologie
Daneben gibt es das Phänomen des Halbschlafs. Es ist ein Zustand, der zeigt, „daß die Seele zum Einschlafen nicht immer auf den Körper wartet“, sondern in ihrer Wahrnehmung und Konzentration nachlässt, „während zugleich zahllose verschwommene Ideen sozusagen als Wolken den geistigen Himmel bedecken“ (ebd. 25). Wie stark körperliche und seelische Funktionen miteinander verknüpft sind, belegen auch Reizstoffe, die dem Körper zugeführt werden. Kaffee, Wein und Drogen spielen dabei eine wichtige Rolle. „Das Opium als schlaferzeugendes Mittel kann hier nicht unerwähnt bleiben. Wie z. B. Wein oder Kaffee hat es eine von Fall zu Fall verschiedene und von der Dosierung abhängige berauschende Wirkung. Es beglückt den Menschen dadurch, daß es ihn in einen Zustand versetzt, der eigentlich, da er ein Abbild des Todes ist, als das Ende allen Empfindens erscheinen müßte. Doch wie süß ist die Benommenheit, die es erzeugt! Die Seele möchte, daß sie ewig währt. Zuvor war sie heftigsten Schmerzen ausgeliefert; jetzt empfindet sie nur noch das angenehme Gefühl der Leidlosigkeit und wunderbarsten Seelenruhe“ (ebd. 25).
Kein Wunder, dass das Opium auch den Willen des Menschen bricht. Aber bereits der normale Zustand des Körpers hat einen entscheidenden Einfluss auf den Willen, ebenso Krankheit und Alter. Willentlich handeln kann jeder nur „soweit die Verfassung des Körpers es ihm erlaubt“ (ebd. 76). Aus diesem Grund ist es kein Wunder, „wenn die Philosophen, um die Gesundheit der Seele zu erhalten, sich immer auf die des Körpers konzentrierten“ (ebd. 76). Die zentrale Funktion der Seele besteht in der Imagination, die man auch als die innerste Empfindung, den Geist, das Genie oder die Urteilskraft des Menschen bezeichnen kann. Die Imagination eines Individuums ist „der wundersame Teil des Gehirns, dessen Wesen und Wirkungsweise uns unbekannt ist“ (ebd. 43). Ihre Leistungen sind jedoch beträchtlich. Sie ist es, die in der Lage ist, Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten von Ideen festzustellen und uns dazu befähigt wahrzunehmen. Sie ist es, „die alle Objekte mit den sie kennzeichnenden Worten und Figuren verknüpft, und (. . .) als Geist bzw. Seele anzusehen ist, denn sie übt deren sämtliche Funktionen aus. Durch sie und ihre menschlichen Fähigkeiten erhält das dürre Skelett der Vernunft erst lebendiges Fleisch und Blut; durch sie blühen die Wissenschaften und die Künste“ (ebd. 44).
Die Kraft der Imagination ist so groß, „daß der Fötus das Temperament der mütterlichen Imagination mitempfindet (wie weiches Wachs auch jeden Eindruck aufnimmt), und daß intensive Eindrücke der Mutter sich auf diese Weise auf den Fötus übertragen können“ (ebd. 74). Einen besonderen Akzent legt La Mettrie auf die Darstellung des Zusammenhangs von Mensch und Tier. Seine Intention ist es dabei, die erstaunlichen, menschenähnlichen Fähigkeiten der Tiere nachzuweisen. Mehr noch: Gemäß der Definition des Menschen als eines Mängelwesens betont La Mettrie: „Die Natur hat uns also unter den Tieren stehend geschaffen“ (ebd. 51). Daher ist es in Wirklichkeit „eine Ehre“ für den Menschen, mit dem Tier in einer Kategorie zu stehen, denn „er bringt weniger Instinkt
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mit auf die Welt“ (ebd. 50). Als Beleg für seine These nennt er folgende Beispiele: Ein kleines Kind greift, im Gegensatz zum Tier, in eine Flamme und verbrennt sich; es schützt sich nicht vor dem Sturz in einen Abgrund; ins Wasser gefallen, ertrinkt es; von seinen Eltern verlassen, ist es völlig orientierungslos. Dazu kommt seine stark verzögerte Geschlechtsreife. Um sich in der Welt orientieren und erhalten zu können, bedarf der Mensch der Erziehung. Sie allein kompensiert die natürlichen Mängel. Mit dem Gedanken der Erziehung verbindet sich der der Ethik. Sie kommt – so La Mettrie – nach einer verbreiteten, aber falschen, Meinung nur dem Menschen zu. „Es gäbe, so sagt man, im Menschen ein Natürliches Gesetz, ein Wissen um gut und böse, das dem Herzen des Tieres nicht eingeprägt ist“ (ebd. 51). Zu dem natürlichen Gesetz gehören die Dankbarkeit, das Gefühl der Reue, das Prinzip der Nächstenliebe und schließlich das der Feindesliebe. Doch weder kann man leugnen, dass dieses Gesetz auch bei den Tieren anzutreffen ist, noch behaupten, dass alle Menschen danach handeln. So zeigt der Hund, der seinen Herrn gebissen hat, anschließend Reue. Tiere empfinden Freude, Leidenschaften und Schmerzen wie wir, „mehr oder weniger intensiv, je nach Ausmaß der Imagination und Feinheit der Nerven“ (ebd. 53). La Mettrie resümiert: „Und da sie uns deutliche Zeichen sowohl ihrer Reue als auch ihrer Intelligenz geben: Wie kann da noch die Annahme für absurd gehalten werden, daß Lebewesen, die fast so vollkommene Maschinen sind wie wir, auch fähig sind wie wir, zu denken und die Natur zu empfinden?“ (ebd.). Umgekehrt ist zu bedenken, dass nicht nur die Tiere, sondern ebenso die Menschen zu unglaublicher Grausamkeit fähig sind. Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die ihren Drang zu stehlen nicht beherrschen können, gehört zu den harmloseren Verbrechen. Sie sind steigerbar und reichen über Totschlag, Mord und Krieg bis zum Kannibalismus. Der Materialist jedoch – so La Mettrie –, der „überzeugt ist, nichts anderes zu sein als Maschine bzw. Tier, wird er seinesgleichen nie Schaden zufügen (. . .). Kurz gesagt: Er folgt dem Natürlichen Gesetz, das allen Tieren innewohnt, und will anderen nicht zufügen, was er selbst nicht zugefügt haben will“ (ebd. 94). Er liebt das Leben, ist voller Achtung gegenüber der Natur, „weil er je nach den von ihr empfangenen Empfindungsfähigkeiten und Talenten voller Dankbarkeit, Sympathie und Zuneigung ihr gegenüber ist; weil er, kurz gesagt, einfach glücklich ist, sie zu empfinden und an dem bezaubernden Schauspiel dieser Welt teilzunehmen“ (ebd. 93f.).
Hinsichtlich des Todes lässt sich nichts aussagen; denn über ihn gibt es keine Erfahrung. Es gibt zwei Alternativen: Entweder ist der Tod die völlige Auflösung oder eine Metamorphose, wie wir sie bei der Umwandlung der Raupe zum Schmetterling kennen. Daher gilt: „Man sollte von keiner Maschine bzw. keinem Tier behaupten, daß sie bzw. es nach dem Tode völlig vergeht oder auch eine andere Gestalt annimmt, denn darüber wissen wir absolut nichts“ (ebd. 93). Die Wirkungsgeschichte von La Mettrie ist eingebettet in den Kontext des mechanischen Materialismus im Allgemeinen und des Modells des Maschinenmenschen im Besonderen. Der Ausdruck Maschinenmensch hat zwei Bedeutungen: Er meint zum einen, dass der Mensch wie eine Maschine gebaut ist und funktioniert. Er meint zum
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anderen, und das ist die Konsequenz aus der ersten, dass menschenähnliche Maschinen konstruiert werden können. Seit dem 17. Jh. bezeichnet man diese als Androiden (Drux, 1988, X). Sie wurden schon gebaut, bevor La Mettrie sein Modell des Menschen entwarf. Er selbst erwähnt in seinem Buch (ebd. 83) den französischen Erfinder Vaucanson, der im Jahre 1737 einen Flötenspieler konstruierte, bei dem mit Hilfe von Blasebälgen ein Luftstrom erzeugt wurde, der durch den Mund und über die Zunge an das Mundstück der Flöte gelangte und dort einen Ton erzeugte, den die Finger, die auf den entsprechenden Klappen der Flöte lagen, vorgegeben hatte (vgl. Paulinyi/Troitzsch, 1997, 213). Wenig später baute er eine Ente, die auf einem Podest stand, watschelte, schnatterte und mit den Flügeln schlug. Darüber hinaus konnte sie scheinbar auch fressen, verdauen und sichtbar ausscheiden, sodass sie, sogar aus der Nähe betrachtet, für echt gehalten wurde. Während der Gedanke, den Menschen im Sinne des mechanischen Materialismus als eine Maschine zu verstehen, mit der Zeit verblasste, erlebte das Konzept des Androiden im Zuge der sich entwickelnden Technik eine zunehmende Attraktivität. Zunächst jedoch beflügelte das Modell eines Maschinenmenschen die Phantasie der Schriftsteller der Romantik, so z. B. E. T. A. Hoffmann und Jean Paul. Doch diese lieferten nur die Vorlagen für technisch realisierte Automaten. Diese reichen vom elektrischen Klavier bis zum Schachcomputer. Innerhalb der industriellen Revolution hielt das Modell des Automaten Einzug in die Fabriksäle. Aus dem Androiden wurde der Roboter. Nachdem R. J. Wensley 1927 den ersten, ‚Televox‘ genannten, Roboter angefertigt hatte, verfügen die Industrieroboter der zweiten und der dritten Generation seit den 60er Jahren über Sensoren für Tast- und Sehfunktionen. Sogenannte intelligente Roboter, die auf der Basis der künstlichen Intelligenz produziert wurden, zeichnen sich darüber hinaus durch Lernfähigkeit aus, d. h. sie wiederholen keine Fehler. Neben den Industrierobotern gibt es, der Tradition der Androiden folgend, den Bau menschenähnlicher Gebilde, die spielerisch menschliche Bewegungen nachahmen, wie z. B. Fußballspielen. Doch La Mettries Phantasie ging weiter. Seine technische Utopie überschritt sogar die Grenze, die Descartes jeder Maschine gesetzt hatte, die Sprache. Er dachte bereits an die Konstruktion eines „Sprechers“, „denn eine solche Maschine kann heute als Werk eines neuen Prometheus nicht mehr für unmöglich gehalten werden“ (La Mettrie, 1985, 83).
2. Materialistische Dialektik (Engels) „Bei Hegel ist die Dialektik die Selbstentwicklung des Begriffs. (. . .) Wir faßten die Begriffe unsres Kopfs wieder materialistisch als die Abbilder der wirklichen Dinge, statt die wirklichen Dinge als Abbilder dieser oder jener Stufe des absoluten Begriffs. Damit reduzierte sich die Dialektik auf die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußern Welt wie des menschlichen Denkens (. . .). Der große Grundgedanke, daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserm Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen, in der bei aller scheinbaren Zufälligkeit und trotz aller momentanen Rückläufigkeit schließlich eine fortschreitende
2. Materialistische Dialektik (Engels)
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Entwicklung sich durchsetzt – dieser große Grundgedanke ist, namentlich seit Hegel, so sehr in das gewöhnliche Bewußtsein übergegangen, daß er in dieser Allgemeinheit wohl kaum noch Widerspruch findet. Aber ihn in der Phrase anerkennen und ihn in der Wirklichkeit im einzelnen auf jedem zur Untersuchung kommenden Gebiet durchführen, ist zweierlei.“ (Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. MEW Bd. 21. Berlin 1962, 292 f.).
Friedrich Engels wird 1820 in Barmen geboren. Nach einer kaufmännischen Lehre im elterlichen Betrieb in den Jahren 1837–41 und dem Militärdienst in Berlin 1841–42 kommt er dort mit Vertretern des Linkshegelianismus in Kontakt. 1842 übersiedelt er nach Manchester, wo er im elterlichen Betrieb arbeitet. Er verfasst erste Studien zur ökonomischen Situation Englands und veröffentlicht sie in den von Ruge und Marx herausgegebenen Deutsch-Französischen Jahrbüchern. Nach seiner Rückkehr aus England im Jahre 1844 schließt er Freundschaft mit Marx. Gemeinsam verfassen sie in den Jahren 1844–48 die Schriften Die heilige Familie, Die deutsche Ideologie und das Manifest der kommunistischen Partei. Seine propagandistische Tätigkeit und seine Teilnahme an den badischen Unruhen zwingen Engels 1850 ins Exil. Er geht zunächst nach Manchester und 1870 nach London. Dort wird er Mitglied des ‚Generalrats der Internationalen Arbeiter-Assoziation‘. Er unterstützt Marx materiell und gibt nach dessen Tod (1883) den zweiten und dritten Band seines Werks Das Kapital heraus. Seine eigenen philosophischen Studien thematisieren Fragen zur Dialektik der Natur. Aufgrund dieser Studien wird er zum Begründer des später zum Lehrgebäude erklärten dialektischen Materialismus. Engels stirbt 1895 in London (vgl. Hirsch, 1993). Engels’ leitender Gedanke einer materialistischen Dialektik umfasst drei Theorieelemente: die Ersetzung des Idealismus durch den Materialismus, das Konzept einer Naturgeschichte und die Formulierung der Grundgesetze einer „materialistischen Dialektik“ (MEW 21, 293). In seiner Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie würdigt Engels Feuerbach als den Philosophen, der „den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron erhob“ (MEW 21, 272). Der Materialismus erteilt nicht nur dem Idealismus eine deutliche Absage, sondern auch der Religion. Im Anschluss an Feuerbach formuliert Engels die wiedergewonnene materialistische Einsicht so: „Die Natur existiert unabhängig von aller Philosophie; sie ist die Grundlage, auf der wir Menschen, selbst Naturprodukte, erwachsen sind; außer der Natur und den Menschen existiert nichts, und die höhern Wesen, die unsere religiöse Phantasie erschuf, sind nur die phantastische Rückspiegelung unsers eignen Wesens“ (ebd.).
Mit dem Materialismus wird die Grundfrage der Philosophie, die nach dem Verhältnis von Denken und Sein, neu gestellt und eindeutig beantwortet. Sie lässt sich auch so formulieren: „Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur?“ (ebd. 275). An ihr scheiden sich Idealismus und Materialismus. Für den Materialismus hat die Natur den absoluten Vorrang und der Geist ist nur eine Spiegelung der Natur im Menschen; mehr noch: Der Geist ist selbst nur ein Produkt der materiell verfassten Natur. Der Materialist ist davon überzeugt,
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„daß die stoffliche, sinnlich wahrnehmbare Welt, zu der wir selbst gehören, das einzig Wirkliche, und daß unser Bewußtsein und Denken, so übersinnlich es scheint, das Erzeugnis eines stofflichen, körperlichen Organs, des Gehirns ist. Die Materie ist nicht ein Erzeugnis des Geistes, sondern der Geist ist selbst nur das höchste Produkt der Materie“ (ebd. 277f.).
Doch der Geist ist ein sehr spezielles Produkt der Materie. Durch ihn wird nämlich die materielle Welt im Kopf des Menschen widergespiegelt. Engels formuliert diesen Gedanken so: „Die Einwirkungen der Außenwelt auf den Menschen drücken sich in seinem Kopf aus, spiegeln sich darin ab als Gefühle, Gedanken, Triebe, Willensbestimmungen, kurz, als ‚ideale Strömungen‘, und werden in dieser Gestalt zu ‚idealen Mächten‘“ (ebd. 282). Versteht man daher die „idealen Mächte“ als das Ergebnis eines materiellen Prozesses, dann fällt es dem Materialisten nicht schwer, sich selbst zugleich als einen Idealisten zu bezeichnen. Das gilt umso mehr, wenn man mit Idealismus die Überzeugung meint, „daß die Menschheit, augenblicklich wenigstens, sich im ganzen und großen in fortschreitender Richtung bewegt“ (ebd.). Tatsächlich aber vertreten diese Überzeugung keineswegs nur die Idealisten, die sich selbst so bezeichnen, sondern die „französischen Materialisten hatten diese Überzeugung in fast fanatischem Grad“ (ebd.). Denker wie Diderot haben dieser Überzeugung und der „‚Begeisterung für Wahrheit und Recht‘“ ihr ganzes Leben geweiht. Doch, trotz aller Anerkennung für die Bestrebungen der französischen Materialisten, sieht sich Engels nicht in ihrer Tradition. Der Grund liegt darin, dass ihr Ansatz als ein mechanischer Materialismus zu verstehen ist. Die Bewegungen, die in ihm thematisiert werden, sind rein mechanischer Art. Das, was dem mechanischen Materialismus fehlt, ist der Gedanke der Entwicklung. Für die von Engels vertretene materialistische Dialektik ist der Gedanke leitend, dass „die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen“. Entscheidend ist jedoch, dass bei aller „scheinbaren Zufälligkeit“ und trotz gelegentlicher „Rückläufigkeit“, „schließlich eine fortschreitende Entwicklung sich durchsetzt“ (vgl. Text). Engels sieht es als die wesentliche Errungenschaft seines Jahrhunderts an, das Konzept einer unveränderlichen Natur durch den Gedanken der Naturgeschichte ersetzt zu haben. Der erste Anstoß hierzu erfolgte jedoch nicht durch einen Naturwissenschaftler, sondern durch einen Philosophen, nämlich Kant, der bereits im Jahre 1755 mit seiner Schrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels eine „erste Bresche in diese versteinerte Naturanschauung (. . .) geschossen“ hatte (MEW 20, 316). Die wesentlichen Fortschritte wurden jedoch erst im 19. Jh. erreicht. Engels bemerkt: „Die Physiologie, die die Vorgänge im pflanzlichen und tierischen Organismus untersucht, die Embryologie, die die Entwicklung des einzelnen Organismus vom Keim bis zur Reife behandelt, die Geologie, die die allmähliche Bildung der Erdoberfläche verfolgt, sie alle sind Kinder unseres Jahrhunderts“ (MEW 21, 294).
Inzwischen fügen sich die Einzelerkenntnisse zu einem Bild zusammen, das den „Zusammenhang der Naturprozesse“ deutlich macht. Engels nennt dafür drei Beispiele: Es ist zum Ersten die Erforschung der Zelle, ihre Vervielfältigung und Differenzierung,
2. Materialistische Dialektik (Engels)
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die Entwicklung und Wachstum ermöglichen und darüber hinaus zur Bildung neuer Organismen führen. Es ist Zweitens die Erkenntnis über die Verwandlung der Energie, die Transformation der mechanischen Kraft in die sogenannte potentielle Energie wie Wärme, Strahlung, Licht, Elektrizität, Magnetismus und chemische Energie. Durch sie wird deutlich, dass die verschiedenen Energieformen ineinander umgewandelt werden können, „so daß die ganze Bewegung der Natur sich auf diesen unaufhörlichen Prozeß der Verwandlung aus einer Form in die andre reduziert“ (ebd. 295). Drittens ist schließlich auf die grundlegende Entdeckung Darwins hinzuweisen, der den Nachweis erbracht hat, „daß der heute uns umgebende Bestand organischer Naturprodukte, die Menschen eingeschlossen, das Erzeugnis eines langen Entwicklungsprozesses aus wenigen ursprünglich einzelligen Keimen ist und diese wieder aus, auf chemischem Weg entstandenem, Protoplasma oder Eiweiß hervorgegangen sind“ (ebd.). Allerdings: Ein Problem der Entwicklung bleibt, „die Entstehung des Lebens aus der unorganischen Natur zu erklären. Das heißt auf der heutigen Stufe der Wissenschaft nichts andres als: Eiweißkörper aus unorganischen Stoffen herzustellen. Dieser Aufgabe rückt die Chemie immer näher. Sie ist noch weit von ihr entfernt“ (MEW 20, 468 f.). So, wie sich die Naturgeschichte als eine Entwicklung darstellt, gilt dieses auch für die menschliche Geschichte. Hier besteht die Aufgabe darin, „die allgemeinen Bewegungsgesetze zu entdecken, die sich in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft als herrschende durchsetzen“ (MEW 21, 296). Zwar scheint auf den ersten Blick ein großer Unterschied zwischen den Prozessen der Natur und der Geschichte zu bestehen. In der Natur herrschen „lauter bewußtlose blinde Agenzien“, in der Geschichte „sind die Handelnden lauter mit Bewußtsein begabte“ Menschen. Doch der Schein trügt; denn auch in der Geschichte ist das Ergebnis stets ein anderes als das vom Menschen verfolgte Ziel. Die Geschichte erscheint auf den ersten Blick als eine Ansammlung von Zufälligkeiten. Es bedarf daher eines genauen Studiums, um zu erkennen, „daß der Lauf der Geschichte durch innere allgemeine Gesetze beherrscht wird“ (ebd. 296). Es kommt darauf an, „die treibenden Mächte“ zu erkennen, die „hinter den Beweggründen der geschichtlich handelnden Menschen stehn“ (ebd. 298). Engels betont, dass auch hier in seiner Gegenwart ein großer Fortschritt erzielt sei. Er begründet ihn so: „Während aber in allen früheren Perioden die Erforschung dieser treibenden Ursachen der Geschichte fast unmöglich war – wegen der verwickelten und verdeckten Zusammenhänge mit ihren Wirkungen –, hat unsre gegenwärtige Periode diese Zusammenhänge so weit vereinfacht, daß das Rätsel gelöst werden konnte. Seit der Durchführung der großen Industrie, also mindestens seit dem europäischen Frieden von 1815, war es keinem Menschen in England ein Geheimnis mehr, daß dort der ganze politische Kampf sich drehte um die Herrschaftsansprüche zweier Klassen, der grundbesitzenden Aristokratie (. . .) und der Bourgeoisie“ (ebd. 298f.).
Materialistische Geschichtswissenschaft tritt auf diese Weise an die Stelle einer spekulativen Geschichtsphilosophie. Schließlich stellt Engels die gesamte Geschichte, die der Natur wie die der menschlichen Gesellschaft, in einen umfassenden Kontext der Geschichte des Weltalls. Engels bemerkt: „Und so sind wir denn wieder zurückgekehrt zu der Anschauungsweise der
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großen Gründer der griechischen Philosophie, daß die gesamte Natur, vom Kleinsten bis zum Größten, (. . .) in ewigem Entstehen und Vergehen (. . .) ihr Dasein hat“ (MEW 20, 320). Er erläutert den Gedanken so: „Es ist ein ewiger Kreislauf, in dem die Materie sich bewegt, ein Kreislauf, der seine Bahn wohl erst in Zeiträumen vollendet, für die unser Erdenjahr kein ausreichender Maßstab mehr ist (. . .). Aber wie oft und wie unbarmherzig auch in Zeit und Raum dieser Kreislauf sich vollzieht (. . .); wie lange es auch dauern mag, bis in einem Sonnensystem nur auf Einem Planeten die Bedingungen des organischen Lebens sich herstellen; wie zahllose organische Wesen auch vorhergehn und vorher untergehn müssen, ehe aus ihrer Mitte sich Tiere mit denkfähigem Gehirn entwickeln und für eine kurze Spanne Zeit lebensfähige Bedingungen vorfinden, um dann auch ohne Gnade ausgerottet zu werden – wir haben die Gewißheit, daß die Materie in allen ihren Wandlungen ewig dieselbe bleibt, daß keins ihrer Attribute je verlorengehn kann, und daß sie daher auch mit derselben eisernen Notwendigkeit, womit sie auf der Erde ihre höchste Blüte, den denkenden Geist, wieder ausrotten wird, ihn anderswo und in andrer Zeit wieder erzeugen muß“ (ebd. 327).
Grundlage der Geschichte der Natur, der Gesellschaft und schließlich des Weltalls sind die Bewegungsgesetze der Materie. Zwar ist die „Materie als solche (. . .) eine reine Gedankenschöpfung und Abstraktion“ (MEW 20, 519), d. h. sie ist ein Begriff, „nichts Sinnlich-Existierendes“, ihre Bewegungsgesetze lassen sich gleichwohl formulieren. Das ist die Aufgabe der Dialektik. Voraussetzung hierfür ist die Überzeugung, „daß in der Natur dieselben dialektischen Bewegungsgesetze im Gewirr der zahllosen Veränderungen sich durchsetzen, die auch in der Geschichte die scheinbare Zufälligkeit der Ereignisse beherrschen; dieselben Gesetze, die, ebenfalls in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Denkens den durchlaufenden Faden bildend, allmählich den denkenden Menschen zum Bewußtsein kommen“ (ebd. 11).
Auf der Grundlage dieser Überzeugung definiert Engels den Begriff der Dialektik bündig so: „Die Dialektik ist aber weiter nichts als die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens“ (ebd. 131f.). Engels nennt drei Gesetze der Dialektik, die aus der „Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft (. . .) sowie des Denkens selbst“ „abstrahiert“ (ebd. 348) werden. Andererseits aber können sie als ein Denkmodell verstanden werden, das sich in der Erfahrung zu bewähren hat. Er sagt: „Die Natur ist die Probe auf die Dialektik“ (ebd. 20, 22). Es handelt sich um „das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt; das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze; das Gesetz von der Negation der Negation“ (ebd. 348). Der Umschlag von Quantität in Qualität und umgekehrt geschieht z. B. bei dem Verdampfen von Flüssigkeiten und bei der Kondensation, so hat „jede Flüssigkeit ihren bei bekanntem Druck feststehenden Gefrier- und Siedepunkt (. . .) so endlich auch jedes Gas seinen kritischen Punkt, wo Druck und Abkühlung es tropfbar flüssig machen“ (ebd. 351).
2. Materialistische Dialektik (Engels)
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Das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze erläutert Engels am Beispiel der Elektrizität wie folgt: „Auch finden wir bei genauerer Betrachtung, daß die beiden Pole eines Gegensatzes, wie positiv und negativ, ebenso untrennbar voneinander wie entgegengesetzt sind, und daß sie trotz aller Gegensätzlichkeit sich gegenseitig durchdringen“ (ebd. 21). Das Gesetz der Negation der Negation findet seine Bestätigung im Bereich der Biologie, z. B. in der Entwicklung eines Gerstenkorns von der Keimung über Wachstum, Reife und Frucht. Er sagt: „Als Resultat dieser Negation der Negation haben wir wieder das anfängliche Gerstenkorn, aber nicht einfach, sondern in zehn-, zwanzig-, dreißigfacher Anzahl“ (ebd. 126). Immer wieder betont er, dass die materialistische Dialektik nicht wie die idealistische als ein fertiges Schema an die Wirklichkeit herantritt, sondern aus der Erfahrung abstrahiert wird. Doch mit einem materialistischen Ansatz stellt sich das Problem der Wahrheit in spezifischer Weise. Die Frage ist: Woher weiß man, dass das Denken, das selbst ein Produkt natürlicher Prozesse des Gehirns ist, zu wahren Aussagen über ebendiese Prozesse kommen kann? Engels Antwort lautet so: Bewusstsein und Denken sind „Produkte des menschlichen Hirns und (. . .) der Mensch selbst ein Naturprodukt, das sich in und mit seiner Umgebung entwickelt hat; wobei es sich dann von selbst versteht, daß die Erzeugnisse des menschlichen Hirns, die in letzter Instanz ja auch Naturprodukte sind, dem übrigen Naturzusammenhang nicht widersprechen, sondern entsprechen“ (ebd. 33).
Die klassische Korrespondenztheorie erfährt hier eine genetische Begründung, lässt allerdings die Frage unbeantwortet, wie falsche Aussagen überhaupt möglich sind und wie sie von wahren unterschieden werden können. Trotz dieser prinzipiellen Bedenken spricht für Engels, dass er sich gegenüber einem dogmatischen Wahrheitsanspruch kritisch verhält. Das verbietet schon seine Betonung der geschichtlichen Bedingheit aller Prozesse. Er sagt daher: „Geht man aber bei der Untersuchung stets von diesem Gesichtspunkt aus, so hört die Forderung endgültiger Lösungen und ewiger Wahrheiten ein für allemal auf; man ist sich der notwendigen Beschränktheit aller gewonnenen Erkenntnis stets bewußt, ihrer Bedingtheit durch die Umstände, unter denen sie gewonnen wurde“ (MEW 21, 293).
Die Entwicklungsgeschichte bildet ohnehin den Leitfaden für die Anthropologie von Engels. Er schließt sich der Evolutionstheorie von Darwin an (vgl. Kap. VIII, 1) und verbindet sie mit dem bereits bei Hegel anzutreffenden zentralen Gedanken der Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit. Das Ergebnis dieser Synthese sind seine Überlegungen zu dem Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. Engels schildert in seiner Skizze die Entwicklung des Menschen von seinem Ursprung aus einem „Geschlecht menschenähnlicher Affen“ bis zur kapitalistischen Gesellschaft seiner Zeit. Seine Grundthese ist: Die Arbeit ist nicht nur die Quelle allen Reichtums, sondern „erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens (. . .). Sie hat den Menschen selbst geschaffen“ (MEW 20, 444). Die Stufen der Entwicklung folgen im Wesentlichen der von Darwin beschriebenen. Der erste Schritt zur Menschwerdung erfolgt durch den
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XI. Materialistische Anthropologie
aufrechten Gang und das damit verbundene Freiwerden der Hand. Die Hand wird zum ersten universalen Werkzeug, das im Gebrauch mit der Zeit diese selbst veränderte. „So ist die Hand nicht nur das Organ der Arbeit, sie ist auch ihr Produkt“ (ebd. 445). Die Organisation der Arbeit führte zu Formen der Geselligkeit der Menschen und diese zur Entwicklung der Sprache. So „trug die Ausbildung der Arbeit notwendig dazu bei, die Gesellschaftsglieder näher aneinanderzuschließen, indem sie die Fälle gegenseitiger Unterstützung, gemeinsamen Zusammenwirkens vermehrte und das Bewußtsein von der Nützlichkeit dieses Zusammenwirkens für jeden einzelnen klärte. Kurz, die werdenden Menschen kamen dahin, daß sie einander etwas zu sagen hatten“ (ebd. 446).
Ein weiterer beachtlicher Schritt der Entwicklung, an dem die Arbeit maßgeblich beteiligt war, erfolgte durch die Ergänzung der Nahrung durch Fleisch. Sie verlieh dem Menschen größere Körperkraft. Wesentlicher aber war „die Wirkung der Fleischnahrung auf das Gehirn, (. . .) der Mensch ist nicht ohne Fleischnahrung zustande gekommen“ (ebd. 449). Die weitere Entwicklung, die mit einer Ausweitung geplanter und bewusster Handlungen einherging, führte zur endgültigen Herrschaft der Menschen über die Tiere. Es war den Menschen vorbehalten, „der Erde den Stempel ihres Willens aufzudrücken“ (ebd. 452). Allerdings: Der Sieg des Menschen über die Natur entwickelte auch seine Schattenseiten; denn für „jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns“ (ebd.). Dafür spricht folgendes Beispiel: Die Landstriche, deren Wälder ausgerottet wurden, um neues Land urbar zu machen, verödeten. Engels entwickelt den Gedanken der Ausbeutung der Natur unter ökologischem Gesichtspunkt und mit ihm die Einsicht in die Notwendigkeit, zu ihr ein neues Verhältnis zu entwickeln. Er sagt: „Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können. (. . .) Je mehr dies aber geschieht, desto mehr werden sich die Menschen wieder als Eins mit der Natur nicht nur fühlen, sondern auch wissen“ (ebd. 453).
Schließlich schildert er die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft am Leitfaden des Begriffs der Arbeit seit der Erfindung der Dampfmaschine. Er beschreibt die durch sie entstandene revolutionäre Situation so: „Die Männer, die im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert an der Herstellung der Dampfmaschine arbeiteten, ahnten nicht, daß sie das Werkzeug fertigstellten, das mehr als jedes andre die Gesellschaftszustände der ganzen Welt revolutionieren und namentlich in Europa durch Konzentrierung des Reichtums auf Seite der Minderzahl, und der Besitzlosigkeit auf Seite der ungeheuren Mehrzahl, zuerst der Bourgeoisie die soziale und politische Herrschaft verschaffen, dann aber einen Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat erzeugen sollte, der nur mit dem Sturz der Bourgeoisie und der Abschaffung aller Klassengegensätze endigen kann“ (ebd. 454).
2. Materialistische Dialektik (Engels)
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Engels Überlegungen zur Anthropologie zeigen in exemplarischer Weise seinen Ansatz einer materialistischen Dialektik. Sie betonen die Naturgeschichte des Menschen ebenso wie die dialektische Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Engels hat keine Ethik geschrieben, wohl aber bei seiner Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse den Begriff der Sittlichkeit in einer der Rechtsphilosophie Hegels analogen Weise gebraucht. In seiner Schrift Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie aus dem Jahre 1844 erläutert er in einer Reihe von Beispielen die Unsittlichkeit der in der Gesellschaft herrschenden nationalökonomischen Prinzipien. Schon der Handel ist der „legale Betrug“ (MEW 1, 503), da der Verkauf einer Ware stets mit einer systematischen Täuschung des Käufers über ihren tatsächlichen Wert verbunden ist. Unsittlich ist das Fabriksystem, da es die „Gütergemeinschaft der Familie“ (ebd. 505) untergräbt und bereits neunjährige Kinder als eigenständig Erwerbstreibende ihren Eltern entfremdet. Unsittlich ist die „Selbstverschacherung“ der Erde, „die unser Eins und Alles, die erste Bedingung unsrer Existenz ist“ (ebd. 511). Unsittlich ist der Zinsverleih, ein System „des Empfangens ohne Arbeit“ (ebd. 511); unsittlich ist schließlich das Privateigentum, da es die Menschen in ein feindseliges Konkurrenzverhältnis treibt (vgl. ebd. 513). Zu beenden sind – so Engels – diese unsittlichen Zustände nur durch eine Revolution, durch die die Produktion in die öffentliche Hand gelegt wird. Danach ist es die Aufgabe der „Gemeinde“ zu berechnen, „was sie mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln erzeugen kann, und nach dem Verhältnis dieser Produktionskraft zur Masse der Konsumenten bestimmen, inwieweit sie die Produktion zu steigern oder nachzulassen, inwieweit sie dem Luxus nachzugeben oder ihn zu beschränken hat“ (ebd. 516). Engels Wirkungsgeschichte ist unlösbar verbunden mit der Entwicklung des Marxismus zu einer Weltanschauung, die die herrschende Lehre der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten von 1917–1991 war und als solche bis heute in China und z. B. in Kuba und Nordkorea, wenn auch in modifizierter Weise, vertreten wird.
3. Historischer Materialismus (Marx) „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. (. . .) Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat. (. . .) Die wesentlichste Bedingung für die Existenz und für die Herrschaft der Bourgeoisklasse ist die Anhäufung des Reichtums in den Händen von Privaten, die Bildung und Vermehrung des Kapitals; die Bedingung des Kapitals ist die Lohnarbeit. Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich. Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“ (K. Marx: Frühe Schriften. Bd. II. Darmstadt 1971, 817f., 832).
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XI. Materialistische Anthropologie
Karl Marx wird 1818 in Trier als Sohn des Rechtsanwalts Heinrich Marx geboren, der, um als Anwalt am Gericht zugelassen zu werden, vom Judentum zum Protestantismus hin konvertiert war. Er studiert in Bonn und Berlin Jura, Philosophie und Geschichte. 1841 promoviert er in Jena mit einer Dissertation über das Thema Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie. Seit 1842 arbeitet er als Redakteur der ‚Rheinischen Zeitung‘. 1843 zieht Marx nach Paris um, wird von dort ausgewiesen und führt von da an das ruhelose Leben eines Emigranten, bis er im Jahre 1849, inzwischen staatenlos geworden, in London sein endgültiges Exil findet. Hier entsteht sein Hauptwerk Das Kapital. In London wird auch 1864 die ‚Erste Internationale‘ gegründet, in der er bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1873 eine führende Rolle spielt. Marx stirbt 1883 (vgl. Blumenberg 1972; Fetscher o. J.). Der leitende Gedanke von Marx ist dadurch charakterisiert, dass er den Materialismus in eine geschichtlich-gesellschaftliche Perspektive rückt. Er wird damit zum führenden Repräsentanten des später sogenannten historischen Materialismus (vgl. HWP 5, Sp. 859f.). Folgende Aussage macht das deutlich: „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte“ (Marx II, 15). Sie entstammt dem Entwurf des Buchs Die Deutsche Ideologie, das Marx zusammen mit Engels veröffentlichte. Diesem Schwerpunkt seines Denkens sind die weiteren Themen, wie Religionskritik, Gesellschaft, Politik und Ökonomie, zuzuordnen. Die Frage, ob es sich bei seinem Schwerpunkt um Geschichtswissenschaft oder Geschichtsphilosophie handelt, soll im Folgenden erörtert werden. Den Ausgangspunkt seiner philosophischen Überlegungen nach seiner Dissertation über Demokrit und Epikur bildet die Religionskritik von Feuerbach. In seinem Buch Das Wesen des Christentums hatte Feuerbach sich nicht mit der Widerlegung eines Gottesbeweises begnügt, wie er von Kant her bekannt war, vielmehr kam es ihm darauf an, die Theologie in Anthropologie umzuwandeln. Das bedeutete, die Religion als eine das menschliche Denken auszeichnende Größe zu interpretieren. Dabei unterschied er religiöse Elemente, die dem Menschen förderlich sind, so das Gebot der Nächstenliebe, von solchen, die dem Menschen schaden, wie der Glaube, der zu Intoleranz und Krieg aufstachelt. Marx greift den anthropologischen Ansatz von Feuerbach auf und fragt nach der gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedeutung der Religion. Mit Feuerbach vertritt er die These, dass der Mensch seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche auf Gott hin projiziert hat. Nun komme es darauf an, diese Projektion rückgängig zu machen. Marx formuliert diesen Gedanken so: „Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine wahre Wirklichkeit sucht und suchen muß“ (MEW 1, 378).
Die Projektion der menschlichen Wünsche auf Gott ist ein Ausdruck für die elende Situation des Menschen in seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit. „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt
3. Historischer Materialismus (Marx)
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einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks“ (ebd.). Für Marx ergibt sich aus dieser Interpretation Folgendes: Es reicht nicht aus, die Religion als ein illusionäres Wunschdenken zu entlarven, vielmehr kommt es darauf an, die gesellschaftlichen Zustände, in denen ein religiöses Wunschdenken nötig ist, zu kritisieren und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen. Er formuliert diesen Gedanken so: „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (ebd. 385). Dabei taucht aber die Frage auf, wie aus der Kritik heraus der Impuls erfolgen kann, tatsächlich ‚die Verhältnisse umzuwerfen‘. Der Übergang von einer Kritik, die in der Theorie bleibt, zu einer gesellschaftlich revolutionären Praxis geschieht nach Marx so: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“ (ebd.). Sie ergreift die Massen, sobald die Kritik die wirkliche Situation der Menschen erfasst. Die Arbeiten von Marx lassen sich als Versuch verstehen, die konkrete Situation des Menschen zu erkennen. Dabei lassen sich zwei Aspekte unterscheiden. Der eine besteht darin, das Wesen des Menschen zu erfassen, und der andere, die gesellschaftliche Situation, in der sich der Mensch befindet, zu analysieren. Dabei wird es sich erweisen, dass das Wesen des Menschen durch die gesellschaftliche Situation korrumpiert wird. Bei der Bestimmung der „wahren Wirklichkeit“ des Menschen, d. h. seines Wesens, greift Marx auf Motive Feuerbachs zurück, der die Zugehörigkeit des Menschen zur Natur betont hatte. Marx sagt: „Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen“ (Marx, 1971, 274). Als Naturwesen verfügt er einerseits über bestimmte Anlagen und Fähigkeiten, die ihm Tätigkeiten ermöglichen, zum anderen aber ist er als ein leiblich bedingtes Lebewesen bestimmten Bedürfnissen unterworfen, z. B. dem Hunger. Marx betont: „Der Hunger ist das gegenständliche Bedürfnis eines Leibes nach einem außer ihm seienden, zu seiner Integrierung und Wesensäußerung unentbehrlichen Gegenstande“ (ebd.). Die menschlichen Fähigkeiten ermöglichen es dem Menschen, seine Bedürfnisse zu befriedigen, die durch seine natürliche, leibliche Situation bedingt sind. Die Tätigkeit, durch die das geschieht, ist die Arbeit. Arbeit ist die spezifisch menschliche Antwort auf die Situation der natürlichen Bedürftigkeit. Der Begriff Arbeit wird zu einem Schlüsselbegriff seiner Anthropologie. Marx versteht Arbeit als ‚Selbsterzeugung des Menschen‘. Er greift bei dieser Definition auf Hegel zurück, der, wie Marx anerkennend betont, „die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt (. . .) er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift“ (ebd. 269f.). Allerdings habe Hegel nur die „geistige“ Arbeit erfasst, nicht die körperliche. Marx definiert die Arbeit als eine „freie“, „bewusste“ und „universelle“ Lebenstätigkeit, durch die sich der Mensch zum Zweck der Lebenserhaltung und der Selbsterzeugung in einem umfassenden Sinn die Gegenstände der Natur aneignet. Zu dieser Art von Lebenstätigkeit ist das Tier nicht fähig. Das Tier ist unfrei und ohne Wissen, d. h. es ist instinktgebunden und beschränkt auf eine bestimmte Umwelt.
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XI. Materialistische Anthropologie
Stellt die Arbeit in dem genannten Sinne die Möglichkeit der Entfaltung der Wesenskräfte des Menschen dar, so sind die Arbeitsbedingungen in der konkreten gesellschaftlichen Situation dadurch ausgezeichnet, dass in ihr sich diese Kräfte nicht entfalten können, sondern korrumpiert werden. Die Arbeitsbedingungen sind bestimmt durch die Kapitaleigner, die die Bedingungen der Produktion festsetzen. Marx bezeichnet die Korruption des Menschen aufgrund der ihm auferlegten Arbeitsbedingungen als Entfremdung (vgl. Israel, 1972), ein Begriff, der ihm von Hegel her vertraut war. Er unterscheidet vier Aspekte der Entfremdung: Der erste ist die Entfremdung von der Natur als dem Gegenstand der Arbeit. Sie beinhaltet den Gedanken, dass durch die Umwandlung der Natur in Produkte der Arbeiter a) Gegenstände zukünftiger Arbeit verliert und dass damit zugleich b) die Natur als unmittelbare Lebensgrundlage verschwindet. „Je mehr also der Arbeiter die Außenwelt, die sinnliche Natur, durch seine Arbeit sich aneignet, um so mehr entzieht er sich Lebensmittel nach der doppelten Seite hin, erstens, daß immer mehr die sinnliche Außenwelt aufhört, ein seiner Arbeit angehöriger Gegenstand, ein Lebensmittel seiner Arbeit zu sein; zweitens, daß sie immer mehr aufhört, Lebensmittel im unmittelbaren Sinn, Mittel für die physische Subsistenz des Arbeiters zu sein“ (Marx I, 562f.).
Der zweite Aspekt der Entfremdung bedeutet, dass die Art der Arbeit dem Arbeiter aufgezwungen wird, d. h., „daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d. h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. (. . .) Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit“ (ebd. 564).
Der dritte Aspekt bedeutet die Entfremdung des Arbeiters von seinem „Gattungswesen“. Durch die Art der Arbeit entstehen Zwänge, die das Wesen der Arbeit als einer freien, bewussten und universellen Lebenstätigkeit einerseits ausnutzen und zugleich in ihrem Sinn umkehren. Marx führt den Gedanken so aus: „Die bewußte Lebenstätigkeit unterscheidet den Menschen unmittelbar von der tierischen Lebenstätigkeit. (. . .) Nur darum ist seine Tätigkeit freie Tätigkeit. Die entfremdete Arbeit kehrt das Verhältnis dahin um, daß der Mensch, eben weil er ein bewußtes Wesen ist, seine Lebenstätigkeit, sein Wesen nur zu einem Mittel für seine Existenz macht“ (ebd. 567).
Der vierte Aspekt der Entfremdung bedeutet schließlich „die Entfremdung des Menschen von dem Menschen“ (ebd. 569). Das bedeutet, dass sich der Arbeiter durch seine Arbeit nicht nur seinem mit ihm arbeitenden Menschen entfremdet, der sein Konkurrent ist; vielmehr erzeugt er zugleich die Produktionsverhältnisse, in denen sich Arbeiter und Kapitalist gegenüberstehen; denn: „Das Verhältnis des Arbeiters zur Arbeit erzeugt das
3. Historischer Materialismus (Marx)
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Verhältnis des Kapitalisten zu derselben, oder wie man sonst den Arbeitsherrn nennen will“ (ebd. 571). Marx hat an dem zentralen Gedanken der Entfremdung festgehalten, auch wenn sich seine Wortwahl mit der Zeit verändert. Seinem Hauptwerk Das Kapital hat er den Untertitel gegeben: Kritik der politischen Ökonomie. Er will damit deutlich machen, dass er nicht die Perspektive der klassischen Nationalökonomie einnimmt. Während die Nationalökonomie die ökonomischen Prozesse unter dem Aspekt der Kapitalbildung betrachtet, d. h. der Bildung materiellen Reichtums, geht die politische Ökonomie, so wie Marx sie versteht, darüber hinaus. Sie thematisiert auch die Situation des Arbeiters. Sie fragt nach den konkreten Arbeitsbedingungen, unter denen dieser Reichtum geschaffen wird. Dazu gehört z. B. die Theorie der Entfremdung. Aber Marx nimmt auch die nationalökonomische Perspektive ein und analysiert den Prozess der Akkumulation des Kapitals. Um den Prozess der Erzeugung materiellen Reichtums zu verstehen, ist es notwendig, das leitende Interesse des Kapitalisten zu erkennen. Es ist ausgerichtet auf die Vermehrung von Geld. Die Produktion von Waren und ihr Verkauf stellen dabei nur einen Umweg dar, um dieses Ziel zu erreichen. Der erste Schritt bei der Analyse dieses Umwegs ist die Unterscheidung der Ware in ihren Gebrauchswert und ihren Tauschwert. Marx greift dabei auf eine entsprechende Unterscheidung von Aristoteles zurück, die er in seiner Politik traf (vgl. 1257 a). Der Gebrauchswert bezeichnet den Nutzen, den eine Ware für den ‚Verbraucher‘ hat, der Tauschwert dagegen den Geldwert, den eine Ware beim Tausch erzielt, d. h. seinen Marktwert. Bezogen auf den Tauschwert werden auf diese Weise so qualitativ unterschiedliche Dinge wie Weizen, Tabak oder Bücher quantitativ vergleichbar. Für den Tauschwert gibt es ein Äquivalent an Geld, und daher ist der Kapitalist immer nur am Tauschwert einer Ware interessiert und nicht an ihrem Gebrauchswert. Marx bezeichnet den an Geldreichtum interessierten Kapitalisten ironisch als „Schatzbildner“ und charakterisiert ihn psychologisch so: „Der lebendige Trieb der Schatzbildung ist daher der Geiz, für den nicht die Ware als Gebrauchswert, sondern der Tauschwert als Ware Bedürfnis ist. (. . .) Der Schatzbildner verachtet die weltlichen, zeitlichen und vergänglichen Genüsse, um dem ewigen Schatz nachzujagen, den weder die Motten noch der Rost fressen, der ganz himmlisch und ganz irdisch ist“ (MEW 13, 106f.).
Der ‚Schatzbildner‘ ist mit dem für ihn typischen „Asketismus“ und „tatkräftiger Arbeitsamkeit“ seiner religiösen Zugehörigkeit nach „wesentlich Protestant und mehr noch Puritaner“ (ebd. 108). Die Frage ist: Wie kann mit Hilfe des Tauschwertes einer Ware diese in Reichtum umgewandelt werden. Die naheliegende Antwort lautet: durch einen Handel, in dem Ware gegen Geld und Geld gegen Ware getauscht wird. Der Gedanke ist dabei, dass ein Händler bei dem Verkauf einer Ware mehr Geld erzielt, als er selbst bei ihrem Kauf investiert hat. Aber dieser Gedanke ist falsch; denn in der gesamten Zirkulationssphäre von Geld und Waren gleichen sich die Gewinne des einen mit den Verlusten des anderen aus. „Die Gesamtheit der Kapitalistenklasse eines Landes kann sich nicht selbst übervorteilen. (. . .) Die Zirkulation oder der Warenaustausch schafft keinen Wert“ (Marx IV, 160).
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XI. Materialistische Anthropologie
Wenn aber der bloße Tausch von Waren keinen höheren Wert, d. h. keinen Mehrwert schafft, entsteht die Frage, ob dies durch den Gebrauch einer Ware möglich ist. Aber welche Ware könnte das sein? „Um aus dem Verbrauch einer Ware Wert herauszuziehen, müßte unser Geldbesitzer so glücklich sein, innerhalb der Zirkulationssphäre, auf dem Markte, eine Ware zu entdecken, deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit wäre, daher Wertschöpfung. Und der Geldbesitzer findet auf dem Markte eine solche spezifische Ware vor – das Arbeitsvermögen oder die Arbeitskraft“ (ebd. 164f.). Die Bildung von Mehrwert oder „Wertschöpfung“ durch den Verbrauch der Ware Arbeitskraft ist dadurch möglich, dass ihr Gebrauchswert über dem Tauschwert liegt. Das bedeutet, dass der Arbeiter durch Verausgabung seiner Arbeitskraft einen größeren Wert schafft, als er an Lohn erhält. „Der Umstand, daß die tägliche Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Arbeitstag kostet, obgleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken, arbeiten kann, daß daher der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tages schafft, doppelt so groß ist als ihr eigener Tageswert, ist ein besonderes Glück für den Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer“ (ebd. 198f.).
Es ist einsichtig, dass dieser Satz aus der Perspektive der Nationalökonomie gesagt wird, nicht aus der der politischen Ökonomie, denn für sie ist es durchaus ein Unrecht. Das ungeheure Potential, das in der auf diese Weise gewonnenen Wertschöpfung liegt, führt zu einem Konzentrationsprozess des Kapitals. Einer immer geringeren Zahl von ‚Kapitalmagnaten‘ steht eine immer größere Zahl von Arbeitern gegenüber, die eine „industrielle Reservearmee“ bilden. Es entsteht eine Entwicklung, die schließlich zum Zusammenbruch des kapitalistischen Systems führt. Bereits in der Programmschrift Das Manifest der kommunistischen Partei hatte Marx das Ende der Bourgeoisie prognostiziert, indem er behauptete: „Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich“ (vgl. Text) und als Ziel der Geschichte eine klassenlose Gesellschaft benannt, die er wie folgt beschrieb: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (ebd. II., 843). In beiden Punkten bleibt sich Marx treu: in der Prognose des unvermeidlichen Untergangs der Bourgeoisie und in dem Ziel einer klassenlosen Gesellschaft. Im Kapital formuliert Marx diese Gedanken so: „Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten (. . .) wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle.
3. Historischer Materialismus (Marx)
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Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert. (. . .) die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation“ (Marx IV, 926f.).
Was steht am Ende dieses Prozesses? Es ist das „Reich der Freiheit“. Marx unterscheidet zwei Formen der Freiheit. Die eine hat ihren Ort innerhalb des Gebietes der materiellen Produktion, die andere, das „wahre Reich der Freiheit“, jenseits derselben. Marx beschreibt den Unterschied, indem er mit dem ersten Gebiet beginnt: „Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann“ (MEW 25, 828).
Seine Prognose ist – so Marx – keine Utopie, sondern strenge Wissenschaft. Doch die Prognose hat sich nicht erfüllt. Der Sozialismus in der Sowjetunion und in den von ihr abhängigen Staaten entwickelte sich nicht aus einem Industrieproletariat heraus, das es dort nicht gab. Der Zusammenbruch der Zarenherrschaft und erst recht der des sowjetischen Sozialismus erfolgte nicht nach dem von Marx entworfenen Modell. Gescheitert ist Marx an der irrigen Annahme, es gäbe für die Geschichte einen gesetzmäßigen Verlauf, der wissenschaftlich fundierte Prognosen ermögliche. Indem Marx glaubte, der Geschichte die „Notwendigkeit eines Naturprozesses“ zuschreiben zu können, verbindet sich sein Konzept eines historischen Materialismus mit dem Gedanken einer determinierten Materie. Die Freiheit steht für ihn erst am Ende der Geschichte, sie ist kein konstitutiver Faktor der Geschichte selbst. Die Wirkungsgeschichte von Marx verläuft unterschiedlich. Während in Russland Lenin die Werke von Marx und Engels aufgreift und zur Grundlage der für die spätere Sowjetunion verbindlichen Weltanschauung macht, werden in den westeuropäischen Ländern vor allem Motive der Frühschriften von Marx rezipiert und in den Kontext einer kritischen Theorie der Gesellschaft gestellt. Zu nennen wären im deutschsprachigen Raum Adorno, Horkheimer, Marcuse, Habermas und Bloch; in Frankreich Garaudy, Sartre und Althusser, in Italien Gramsci und Labriola. Im Zuge der Globalisierung und der mit ihr verbundenen Probleme des Missverhältnisses von ökonomischer und politischer Macht bekommen die Überlegungen von Marx zur Kritik der politischen Ökonomie eine neue Aktualität. Zur Diskussion steht nichts weniger als die Wiederherstellung des Primats der Politik, den Hegel in seiner Rechtsphilosophie noch verteidigte (vgl. Reheis 2016).
260
XI. Materialistische Anthropologie
Determinierte Materie und Freiheit des Subjekts
XII.
Das absolute Ich – Das Konzept der Subjektivität
Das lateinische Wort ‚subiectum‘ ist die Übersetzung des griechischen Wortes ‚(h)ypokeimenon‘ (das ‚Zugrundeliegende‘). In der Antike und im M.A. wird es in dreifachem Sinn gebraucht: a) ontologisch als Träger von Eigenschaften im Sinne des Verhältnisses von Substanz und Akzidenz, b) logisch als Satzsubjekt und c) als Thema oder Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung. Diese ‚substanzielle‘, ‚objektive‘ Bedeutung von Subjekt hat sich in der Neuzeit völlig verändert. Nun wird das Subjekt vornehmlich als das ‚erkennende und denkende Ich‘ interpretiert. Es wird zum autonomen Subjekt, das sich von der Welt der Gegenstände, d. h. streng genommen von der Welt überhaupt, unterscheidet und sich ihr entgegensetzt. Der erstaunliche Wechsel hat jedoch eine geschichtliche Vermittlungsstufe, und die findet sich im Mittelalter. In der Theologie des 13. Jh.s wird Gott zum vornehmsten und alles bestimmenden Subjekt (HWP 10, Sp. 375). Die Welt hat in Gott nicht nur ihren Ursprung und ihre substanzielle Grundlage, vielmehr ist es der göttliche Geist, der ‚intellectus divinus‘, der die Welt geschaffen hat. Gott, als das absolute Subjekt, ist intellektueller und faktischer Schöpfer der Welt. Mit Gott wird die Substanz zum Subjekt. Um die neuzeitliche Subjektivität zu verstehen, ist es notwendig, diese Vorgeschichte zu kennen. Nur so wird die einzigartige Stellung, die dem Subjekt nun zugeschrieben wird, verständlich. Das neuzeitliche Subjekt ist im Verhältnis zur Welt so absolut und autonom, wie es bisher nur von Gott behauptet wurde. Der Gedanke liegt nahe, in ihm eine Säkularisierung des göttlichen Subjekts zu sehen. Das Verhältnis des Subjekts zur Welt zeigt sich in der Neuzeit wie folgt: Für Descartes ist das ‚denkende Ich‘ zunächst einmal eine eigene Substanz (vgl. Kap. III, 2). Aber sie hat als ‚denkende Substanz‘ eine Besonderheit. Sie existiert mit Gewissheit nur im Akt des Denkens. Die Substanz existiert als Subjekt ihrer Denkakte, in denen sie sich als sich reflektierende Substanz erkennt. Bei Leibniz (vgl. Kap. IX, 1) wird die Identität von Substanz und Subjekt manifest. Die Monade ist eine Substanz, die in ihren Bewusstseinsakten die Welt spiegelt, d. h. reflektiert und zugleich konstituiert. In der Philosophie Kants (vgl. Kap. III, 2) löst sich das Subjekt von aller substanziellen Gebundenheit und wird zu einem Ensemble von
XII. Das absolute Ich – Das Konzept der Subjektivität
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Bewusstseinsakten. Das ‚transzendentale Subjekt‘ ist bestimmt durch ein Kategoriensystem, mit dessen Hilfe die Welt der Gegenstände der Erfahrung konstruiert werden können. Für Fichte besteht die schöpferische Leistung des Ichs darin, dass das absolute Ich in einem Akt freier Setzung sich selbst die Welt als ein Nicht-Ich entgegenstellt. Hegel bezeichnet in seiner Philosophie des Geistes, die den subjektiven, den objektiven und den absoluten Geist thematisiert, den Menschen als subjektiven Geist. Dessen Tätigkeit besteht darin, dass die Seele sich ihren Leib aneignet, bildet und sich in ihm zum Ausdruck bringt. Die Phänomenologie Husserls zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr, in Anlehnung an den kantischen Sprachgebrauch, sich das transzendentale Ich von dem natürlichen Ich in einer Art ‚Ich-Spaltung‘ unterscheidet und in Beziehung setzt. In den Bewusstseinsakten des ‚reinen ego‘ wird das ‚transzendentale Ich‘ zum Zuschauer seiner selbst. Für Sartre ist die Freiheit der Schlüssel für das Verständnis des Menschen als Subjekt. Ist dem Menschen seine Existenz durch seine Geburt und alle Umstände der Situation, in denen er sich jeweils befindet, vorgegeben, so ist die Essenz seines Lebens ein subjektiver Entwurf. Thematisiert werden im Folgenden die Konzepte von Fichte, Husserl und Sartre.
1. Ich und Nicht-Ich (Fichte) „Unsere Welt ist schlechthin nichts anderes, als das Nicht-Ich, ist gesetzt, lediglich um die Beschränktheit des Ich zu erklären, und erhält sonach alle ihre Bestimmungen nur durch Gegensatz gegen das Ich. Nun soll unter anderen, oder vielmehr vorzugsweise, dem Ich das Prädikat der Freiheit zukommen; es muß sonach ja wohl auch durch dieses Prädikat das Entgegengesetzte des Ich, die Welt, bestimmt werden. Und so gäbe der Begriff des Freiseins ein theoretisches Denkgesetz ab, das mit Notwendigkeit herrschte über die ideale Tätigkeit der Intelligenz. / (. . .) Weil ich frei bin, setze ich die Objekte meiner Welt als modifikabel, schreibe ich mir einen Leib zu, der durch meinen bloßen Willen nach meinem Begriffe in Bewegung gesetzt wird, nehme ich Wesen meinesgleichen außer mir an, u. dgl. (. . .) Dieses Gesetz (. . .) ließe sich auch so ausdrücken: handle deiner Erkenntnis von den ursprünglichen Bestimmungen (den Endzwecken) der Dinge außer dir gemäß. Z. B. theoretisch fließt aus dem Begriffe meiner Freiheit der Satz: jeder Mensch ist frei. Derselbe Begriff, praktisch betrachtet, gäbe das Gebot: du sollst ihn schlechthin als freies Wesen behandeln.“ (J. G. Fichte: System der Sittenlehre. Hamburg 1963, 67f.).
Johann Gottlieb Fichte wird 1762 als Sohn eines Handwerkers in Rammenau in der Oberlausitz geboren. Ein adliger Gönner ermöglicht ihm in den Jahren 1780–84 ein Studium der Theologie in Jena und Leipzig. Es folgt eine Tätigkeit als Hauslehrer in Leipzig und Zürich. Sein Studium der kantischen Philosophie veranlasst ihn, Kant im Jahre 1791 in Königsberg zu besuchen. Fichtes Erstlingswerk Versuch einer Kritik aller Offenbarung erscheint durch Vermittlung Kants. Fichte ist mit einem Schlag berühmt, nachdem bekannt wird, dass der Autor der anonym erschienen Schrift nicht,
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XII. Das absolute Ich – Das Konzept der Subjektivität
wie vermutet Kant, sondern Fichte ist. 1794 erhält er eine Professur für Philosophie in Jena. An seinem 1798 erschienen Aufsatz Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung entzündet sich der sogenannte Atheismusstreit, der zu seiner Entlassung aus dem Amt führt. Fichte zieht nach Berlin und hält dort Privatvorlesungen. Nach der preußischen Niederlage von 1806 und der Besetzung Berlins durch die Truppen Napoleons zieht er vorübergehend nach Königsberg und Kopenhagen, kehrt aber 1807 nach Berlin zurück. 1810 wird er Dekan der philosophischen Fakultät an der neugegründeten Universität in Berlin und 1811 ihr erster gewählter Rektor. 1814 stirbt er aufgrund einer Typhusinfektion (vgl. Rohs 1991; Jacobs 1998). Fichte versteht seine Philosophie, die er als transzendentalen Idealismus bezeichnet und als ein System entwickelt, als Fortsetzung und Vollendung der Philosophie Kants. Er betont: „Ich habe von jeher gesagt, und sage es hier wieder, daß mein System kein anderes sei als das Kantische: das heißt: es enthält dieselbe Ansicht der Sache, ist aber in seinem Verfahren ganz unabhängig von der Kantischen Darstellung“ (Fichte 1967, 6). Sein Ansatz ist wie der kantische Transzendentalphilosophie, die sich an einem transzendentalen Subjekt orientiert. Ebenso ist der Gedanke für ihn leitend, dass dieses Subjekt nicht, wie noch bei Descartes, als eine Substanz zu denken ist, sondern als Inbegriff einer Denktätigkeit. Kants Grundsatz der „ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption“, der die Struktur des transzendentalen Subjekts zum Ausdruck bringt, lautet: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“ (Kant II, 136). Er wird von Fichte ebenso übernommen wie der Gedanke, dass die Verbindung der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen zu einer Einheit „nicht etwa durch Wahrnehmung“ möglich wird, sondern „allein eine Verrichtung des Verstandes“ ist (ebd. 138). Allerdings beziehen sich die Kategorien des Verstandes bei Kant nur auf die formale Struktur eines Gegenstandes der Erfahrung, nicht auf seinen Inhalt. Dieser wird durch die Sinne gegeben (vgl. Kap. III, 2). Die Gegenstände der Erfahrung sind dem Subjekt als Erscheinung gegeben. Er kann sie nicht schaffen. Hinter der Erscheinung des Gegenstandes gibt es bei Kant ein unerkennbares „Ding an sich“ (ebd. 30), dessen Eigenständigkeit der menschliche Verstand, der endlich ist und nicht schöpferisch, zu respektieren hat. Es ist der Gedanke eines Dings an sich, an dem sich die Auseinandersetzung Fichtes mit Kant entzündet. Die wesentlichen Gedanken hierzu finden sich in seiner Wissenschaftslehre, zu der er mehrere Fassungen erarbeitet hat. Die hier zitierte stammt aus dem Jahre 1794. Fichte hält das Ding an sich für eine unerträgliche und überflüssige Begrenzung der Freiheit des Denkens. Mehr noch: Der Gedanke des Dings an sich ist für ihn Ausdruck eines dogmatischen Denkens, der die Eigenständigkeit der Materie akzeptiert und daher eine Form von Materialismus ist. Der Dogmatiker, der hierin die Grundlage aller Erfahrung sieht, täuscht sich, denn das Ding an sich ist überhaupt kein Gegenstand der Erfahrung. Mit Entschiedenheit betont Fichte daher: Das „Ding an sich ist eine bloße Erdichtung, und hat gar keine Realität. Es kommt nicht etwa in der Erfahrung vor: denn das System der Erfahrung ist nichts anderes, als das mit dem Gefühle der Notwendigkeit begleitete Denken, und kann selbst von dem Dogmatiker, der es, wie jeder Philosoph, zu begründen hat, für nichts anderes ausgegeben werden“ (Fichte, 1967, 14).
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Den Gegensatz zum Dogmatiker stellt der Idealist dar. Für ihn bildet die Freiheit des Ichs den Ausgangspunkt aller Überlegungen. Fichte charakterisiert den Denkansatz des Dogmatikers im Unterschied zu dem des Idealisten, wie folgt: „Er leugnet die Selbständigkeit des Ich, auf welche der Idealist baut, gänzlich ab, und macht dasselbe lediglich zu einem Produkte der Dinge, zu einem Akzidens der Welt; der konsequente Dogmatiker ist notwendig auch Materialist“ (ebd. 17). Daher gibt es einen grundsätzlichen Streit zwischen dem Idealisten und dem Dogmatiker. Der Dogmatiker opfert die Selbständigkeit des Ichs auf zugunsten der Selbständigkeit des Dings, der Idealist die Selbständigkeit des Dings zugunsten der Selbständigkeit des Ichs (vgl. ebd. 18). Wodurch endet der Streit? Nach Fichte dadurch, dass das Konzept der Dogmatiker scheitert, denn den „Übergang vom Sein zum Vorstellen sollten sie nachweisen; dies tun sie nicht, noch können sie es tun“ (ebd. 24). Es ist der vergebliche Versuch, „einen stetigen Übergang von der Materie zum Geiste“ (ebd. 18) nachzuweisen. Die Absurdität des Übergangs käme einer Ersetzung des mechanischen Prinzips der Materie durch das der Freiheit des Denkens gleich. Das dogmatische Denken repräsentiert für Fichte sogar eine tiefere Stufe der Menschheit. Indem der Dogmatiker den Vorrang und die Selbständigkeit der Dinge betont, macht er sich selbst zum Ding. Fichte erläutert die Denkweise der Dogmatiker so: „Einige, die sich noch nicht zum vollen Gefühl ihrer Freiheit, und absoluten Selbständigkeit erhoben haben, finden sich selbst nur im Vorstellen der Dinge; (. . .) Ihr Bild wird ihnen nur durch die Dinge, wie durch einen Spiegel, zugeworfen; werden ihnen diese entrissen, so geht ihr Selbst zugleich mit verloren; sie können um ihrer selbst willen, den Glauben an die Selbständigkeit derselben nicht aufgeben: denn sie selbst bestehen nur mit jenen. Alles, was sie sind, sind sie wirklich durch die Außenwelt geworden. Wer in der Tat nur ein Produkt der Dinge ist, wird sich auch nie anders erblicken“ (ebd. 20).
Wie aber lässt sich der Idealismus begründen? Den Ansatzpunkt bildet eine Reflexion. Einzige Aufgabe des Idealisten ist es, auf die Tätigkeit des Bewusstseins im Akt des Denkens zu achten. Indem der Denkende auf den Akt seines Denkens reflektiert, wird er sich dessen bewusst, dass er selbst es ist, der denkt. Jedes Denken ist daher ein: Ich denke. Im Akt des Denkens konstruiert sich das Ich als Subjekt der jeweiligen Denkakte. Das heißt: „Jenes sich selbst konstruierende Ich ist kein anderes, als sein eigenes. Er kann den angegebenen Akt des Ich nur in sich selbst anschauen, und um ihn anschauen zu können, muß er ihn vollziehen. Er bringt ihn willkürlich und mit Freiheit in sich hervor“ (ebd. 46). Das Ich ist kein Sein, keine Substanz, die den jeweiligen Denkakten zugrunde läge, vielmehr setzt sich das Ich im absoluten Akt des Denkens selbst (vgl. Schulz, 1994, 49ff.). Die Anschauung des Ichs im Vollzug ihrer Denkakte bezeichnet Fichte als intellektuelle Anschauung: Er erläutert das so: „Dieses dem Philosophen angemutete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Aktes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellektuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewußtsein, daß ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es tue“ (Fichte 1967, 49).
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Die intellektuelle Anschauung ist ein „Faktum des Bewußtseins“, genau genommen aber keine „Tatsache“, sondern eine „Tathandlung“. Fichte betont: „Die intellektuelle Anschauung ist der einzige feste Standpunkt für alle Philosophie“ (ebd. 53). Der mittelalterliche „intellectus divinus“ wird dabei zur intellektuellen Anschauung des transzendentalen Subjekts. Der Grundsatz des Idealismus lautet daher: „Ich soll in meinem Denken vom reinen Ich ausgehen, und dasselbe absolut selbsttätig denken, nicht als bestimmt durch die Dinge, sondern als die Dinge bestimmend“ (ebd. 53). Wie aber bestimmt das reine Ich die Dinge? Um diese Frage zu beantworten ist zu erkennen, dass in jedem Denkakt ein Zweifaches geschieht: Es ist das Sich-selbstDenken und das Etwas-Denken. Das heißt: „Man kann gar nichts denken, ohne sein Ich, als sich seiner selbst bewusst, mit hinzu zu denken; man kann von seinem Selbstbewusstseyn nie abstrahiren“ (Fichte, 1971, 97). In dem Moment, in dem das Ich etwas denkt, denkt es sich zugleich selbst als ein Ich. Das reine Ich spaltet sich daher in gewisser Weise auf in das denkende Ich und das im Denkakt gedachte Ich. Das heißt: das Ich ist Subjekt und Objekt zugleich, ein Subjekt-Objekt (vgl. Fichte, 1967, 89). Dazu kommt das Ding, das gedacht wird. Es ist ein Nicht-Ich. Das Nicht-Ich repräsentiert die Dinge der Welt, d. h. die Welt insgesamt (vgl. Text). Konkret bedeutet das: „Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen“ (Fichte, 1971, 110). Das reine Ich, das Fichte auch als ein absolutes bezeichnet, ist die Ursache des Nicht-Ich, das es setzt. Fichte bemerkt: „Das absolute Ich soll demnach Ursache vom Nicht-Ich seyn, insofern dasselbe der letzte Grund aller Vorstellung ist, und dieses insofern sein bewirktes“ (ebd. 250). Die Setzung des Nicht-Ichs durch das Ich ist universal. Sie betrifft nicht nur die Dinge der Außenwelt, sondern auch den Bereich der Gefühle, also auch das die Erfahrung begleitende „Gefühl der Notwendigkeit“. Es ist aber das absolute Ich, das die Ursache des Nicht-Ichs ist, und nicht ein empirisches Ich. Aus diesem Grunde sind seine Setzungen auch nicht willkürlich, sondern folgen einer eigenen Notwendigkeit. Das hat eine entscheidende Konsequenz: „Stimmen die Resultate einer Philosophie mit der Erfahrung nicht überein, so ist diese Philosophie sicher falsch; denn sie hat ihrem Versprechen, die gesamte Erfahrung abzuleiten, und aus dem notwendigen Handeln der Intelligenz zu erklären, nicht Genüge geleistet“ (Fichte, 1967, 34). Das gilt auch für den transzendentalen Idealismus, wie Fichte ausdrücklich betont. Das Streben der Erkenntnis dient der Aufdeckung der apriorischen Struktur aller Erfahrung, es dient dem Nachweis, dass das Nicht-Ich immer schon durch das Ich gesetzt wurde. Dazu kommt ein weiterer Gedanke. Indem das Ich sich das Nicht-Ich, d. h. die Welt, entgegensetzt, schränkt es sich selbst ein. Das heißt: „Das Ich kann das Nicht-Ich nicht setzen, ohne sich selbst einzuschränken“ (Fichte, 1971, 251). Mit der Welt setzt sich das Ich selbst eine Schranke. Die Welt bildet das vom Ich selbst gesetzte Gegengewicht zu sich, wodurch zwischen Ich und Welt ein Gleichgewicht entsteht (vgl. Fichte, 1971, 285). Die Rückbindung des Ichs an die Erfahrung, die der Notwendigkeit zugeordnet wird, ist eine Garantie dafür, dass die Setzungen des Ichs keine bloßen Phantasiegebilde sind. In seinem Buch Die Bestimmung des Menschen aus dem Jahre 1800 entwickelt Fichte seine Anthropologie. Das Thema des Buches ist die konkrete Situation eines
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einzelnen Menschen, der es unternimmt, sich zu bestimmen und der zugleich nach seiner Bestimmung, d. h. nach seinem Ziel, sucht. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil trägt die Überschrift „Zweifel“, der zweite „Wissen“, der dritte „Glaube“. Im ersten Teil wird der Mensch als ein Naturwesen bestimmt, im zweiten als ein geistiges Wesen und im dritten als ein moralisch-praktisches Wesen. Die Natur wird im ersten Teil unter dem Gesichtspunkt strenger Notwendigkeit betrachtet. Fichte folgt dabei den Gedanken Spinozas, greift Überlegungen von Leibniz auf und formuliert parallel zu Schelling Ansätze einer Naturphilosophie. Er vereinigt sie im Wesentlichen zu dem Konzept eines spekulativen, naturphilosophisch inspirierten Materialismus. Ausgangspunkt ist der unbefangene Blick auf die Gegenstände der Natur. Dabei lässt sich folgendes feststellen: „Ich bin von Gegenständen umgeben, die ich als für sich bestehende, und gegenseitig voneinander geschiedene Ganze anzusehen mich genötigt fühle: Ich erblicke Pflanzen, Bäume, Tiere“ (Fichte, 1954, 7). Die Gegenstände lassen sich durch eindeutige Merkmale unterscheiden und bestimmen. Durch ein einziges Ereignis in der Natur sind alle anderen eindeutig determiniert. Nicht nur verändert sich durch die Lage eines einzigen „Sandkörnchens“ alles Übrige, auch jeder einzelne Moment innerhalb der Zeit „ist bestimmt durch alle abgelaufenen Momente, und wird bestimmen alle künftigen Momente“ (ebd. 14). Gesteht sich der Mensch ein, dass auch er dieser Natur zugehört, ergibt sich folgende Konsequenz: „Ich selbst mit allem, was ich mein nenne, bin ein Glied in dieser Kette der strengen Naturnotwendigkeit“ (ebd. 15). Auch das Selbstbewusstsein des Menschen ist das Produkt einer natürlichen Entwicklung. Ebenso verhält es sich mit dem Denken. „Es ist die Naturbestimmung der Pflanze, sich regelmäßig auszubilden, die des Tiers, sich zweckmäßig zu bewegen, die des Menschen, zu denken“ (ebd. 15). Eine Ableitung des Denkens aus der Natur ist jedoch ebenso wenig möglich wie die Erklärung der Entwicklung von Leben aus toter Materie. Zu akzeptieren ist vielmehr: „Das Denken ist nun einmal, es ist schlechthin, so wie die Bildungskraft der Natur nun einmal ist (. . .); denn das Denkende entsteht und entwickelt sich nach Naturgesetzen: es ist sonach durch die Natur. Es gibt eine ursprüngliche Denkkraft in der Natur, wie es eine ursprüngliche Bildungskraft gibt“ (ebd. 16). Zu ihr gehört auch, sie als eine „menschenbildende Naturkraft“ zu verstehen. Sie ist es, die im Menschen sein Ich und seine Person ausbildet (vgl. ebd. 19). Die Freiheit ist dagegen nur ein Schein. Stattete man einen Baum mit Bewusstsein aus, – so Fichte – so würde er sich „frei finden“, solange er nur unbeschränkt „Blätter, Knospen, Blüten, Früchte“ hervorbringen könnte. Dasselbe gilt für den Menschen: „Im unmittelbaren Selbstbewußtsein erscheine ich mir als frei; durch Nachdenken über die ganze Natur finde ich, daß Freiheit schlechterdings unmöglich ist“ (ebd. 20). Doch diese Einsicht hat nichts Bedrückendes. Sie ermöglicht dem Menschen vielmehr die Erkenntnis, dass er „nicht mehr jener Fremdling in der Natur, dessen Zusammenhang mit einem Sein so unbegreiflich ist“ (ebd. 20).
Der Mensch, der sich als Teil der Natur versteht, gewinnt ein ganz neues Verhältnis zur Natur insgesamt. Er sieht in ihr eine Stufenfolge, die von der „rohen Materie“ ihren Ausgang nimmt, um sich als Pflanze zu gestalten und als Tier zu bewegen. Im Men-
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schen aber, „als ihrem höchsten Meisterstücke, kehrt sie in sich zurück, um sich selbst anzuschauen, und zu betrachten: sie verdoppelt sich gleichsam in ihm und wird aus einem bloßen Sein, Sein und Bewußtsein in Vereinigung“ (ebd. 20f.). Die Bildungskraft der Natur ist umso mehr zu bewundern, als sie individuell wirkt. Das heißt: „In jedem Individuum erblickt die Natur sich selbst aus einem besondern Gesichtspunkte“ (ebd. 22). Das Bewusstsein jedes Menschen ist so individuell wie sein Wille. Doch auch für ihn gilt: „Ein Wollen ist das unmittelbare Bewußtsein der Wirksamkeit einer unserer innern Naturkräfte“ (ebd. 23). Das heißt, dass bei Willensäußerungen jedes Mal die jeweils stärkere Naturkraft in mir siegt. Daher verliert auch der Begriff der Handlung seine Bedeutung; „denn ich handle ja überhaupt nicht, sondern in mir handelt die Natur“ (ebd. 25). Aus diesem Grund haben auch „Verschuldung und Zurechnung (. . .) keinen Sinn“ (ebd.). Doch nach diesen schlüssigen, aber rein verstandesmäßigen Überlegungen regen sich im sich selbst bestimmenden Menschen ein Widerstand und ein Widerwille. Das Ergebnis ist nicht akzeptabel. Die Bestimmung des Menschen durch die Natur bedeutet eine unerträgliche Fremdbestimmung. Der eigene freie Wille äußert sich so: „Ich selbst, dasjenige, dessen ich mir als meiner selbst, als meiner Person bewußt bin (. . .) will selbständig, – nicht an einem andern, und durch ein anderes, sondern für mich selbst Etwas sein; und will, als solches, selbst der letzte Grund meiner Bestimmungen sein. (. . .) Ich will der Herr der Natur sein, und sie soll mein Diener sein; ich will einen meiner Kraft gemäßen Einfluß auf sie haben, sie aber soll keinen haben auf mich. (. . .) Ich will frei sein, (. . .) ich selbst will mich machen, zu dem, was ich sein werde“ (ebd. 27ff.).
Der zweite mit Wissen betitelte Abschnitt entwickelt die Position des Idealismus. Er beginnt mit einer Besinnung auf den eigenen Verstand. Sie gestaltet sich als ein Gespräch zwischen den Personen Ich und Geist. Der Geist fordert das Ich auf, die Quelle seiner Erkenntnisse zu nennen, und dieses beruft sich auf die Sinneswahrnehmungen. Aber schnell wird klar, dass das Ich bei aller Wahrnehmung „zunächst“ nur sich selbst wahrnimmt (ebd. 37). Das Ich betont jedoch, dass es die Dinge sind, deren Eigenschaften die Sinne affizieren. Genau genommen – so der Einwand des Geistes – wird aber nicht das Ding selbst wahrgenommen, sondern es wird hinzugedacht. Allerdings – so das Ich – die Affektionen müssen einen Grund haben, und der liegt im Ding. Der Geist macht aber deutlich, dass die Annahme eines Dings als Grund der Affektion die Annahme der Geltung eines Satzes vom Grund zur Voraussetzung hat, und der ist ein Satz des Denkens. Das bedeutet: „Ich gelange durch den Satz des Grundes erst zu Dingen außer mir“ (ebd. 55). Damit wird ersichtlich, dass das Ding selbst ein Erzeugnis des Denkens ist. Der Geist fasst das bisherige Ergebnis so zusammen: „Du siehst sonach ein, daß alles Wissen lediglich ein Wissen von dir selbst ist, daß dein Bewußtsein nie über dich selbst hinausgeht, und daß dasjenige, was du für ein Bewußtsein des Gegenstandes hältst, nichts ist als ein Bewußtsein deines Setzens eines Gegenstandes, welches du nach einem inneren Gesetze deines Denkens mit der Empfindung zugleich notwendig vollziehst“ (ebd. 58).
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Das Ding, dessen Existenz als außer mir liegend angenommen wurde, befindet sich in Wahrheit in mir selbst. Doch das Ich fragt: „Wie kommt das Ding herein in mich? Welches ist das Band zwischen dem Subjekte, Mir, und dem Objekte meines Wissens, dem Dinge?“ (ebd. 61). Die Antwort, die sich das Ich selbst gibt, lautet: „Ich habe das Wissen in mir selbst, denn ich bin Intelligenz. Was ich bin, davon weiß ich, weil ich es bin (. . .). Es bedarf hier keines Bandes zwischen Subjekt und Objekt; mein eigenes Wesen ist dieses Band. Ich bin Subjekt und Objekt: und diese SubjektObjektivität, dieses Zurückkehren des Wissens in sich selbst, ist es, die ich durch den Begriff Ich bezeichne“ (ebd. 61).
Das Ding ist als das Objekt des Denkens Teil des Ichs, und deshalb sagt der Geist zu dem Ich: „Du selbst bist dieses Ding“ (ebd. 64). Sind die Dinge aber nicht außerhalb des Ichs, sondern in ihm, so gibt es auch keinen Grund mehr, sich vor der Fremdbestimmung des Ichs durch die Dinge zu fürchten (vgl. ebd. 76). Bis zu diesem Punkt folgt die Argumentation im Wesentlichen dem Gedankengang der Wissenschaftslehre. Doch nun macht das Ich einen entscheidenden Einwand. Das Ich formuliert ihn gegenüber dem Geist so: Durch das Denken werden aus den Dingen bloße Vorstellungen, d. h. aus einem Sein wird ein Nichts. Das heißt: „Du befreist mich, es ist wahr: du sprichst mich von aller Abhängigkeit los; indem du mich selbst in Nichts, und alles um mich herum, wovon ich abhängen könnte, in Nichts verwandelst. Du hebst die Notwendigkeit auf, dadurch, daß du alles Sein aufhebst, und rein vertilgst“ (ebd. 76). Die Begründung lautet so: Durch das Denken verschwinden nicht nur die Dinge, „diese Körperwelt außer mir“, sondern „nach allem bisherigen verschwinde ich selbst nicht minder denn sie; gehe ich selbst über in ein bloßes Vorstellen ohne Bedeutung und ohne Zweck“ (ebd. 77). Vorstellungen sind Bilder des Seins. Gibt es aber kein Sein, dann bleiben Bilder übrig, die Bilder von nichts sind. Das Ich entwirft folgendes düsteres Szenario: „Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: – Bilder, die vorüberschweben, ohne daß etwas sei, dem sie vorüberschweben (. . .) ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. – Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum“ (ebd. 81).
Ein letztes Mal meldet sich der Geist zu Wort. Er gibt dem Ich Recht und bestätigt seinen Einwand wie folgt: „Die Realität, die du schon erblickt zu haben glaubtest, eine unabhängig von dir vorhandene Sinnenwelt, deren Sklav du zu werden fürchtetest, ist dir verschwunden; denn diese ganze Sinnenwelt entsteht nur durch das Wissen, (. . .) aber Wissen ist nicht Realität, eben darum, weil es Wissen ist“ (ebd. 82). Das Fazit ist: Nicht durch das Wissen gelangt das Ich zur Realität, sondern durch ein „anderes Organ“. Mit dem dritten Teil betritt Fichte den Bereich der praktischen Philosophie. Sie umfasst die Ethik, die Rechtsphilosophie und schließlich die Religion. Das neue Organ, von dem am Ende des zweiten Teils die Rede war, ist der Glaube. Er beginnt dort, wo das Wissen scheitert. Fichte erläutert den Übergang so:
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„Nicht das Wissen ist dieses Organ; kein Wissen kann sich selbst begründen und beweisen; jedes Wissen setzt ein noch Höheres voraus, als seinen Grund, und dieses Aufsteigen hat kein Ende. Der Glaube ist es; dieses freiwillige Beruhen bei der sich uns natürlich darbietenden Ansicht, weil wir nur bei dieser Ansicht unsere Bestimmung erfüllen können; er ist es, der dem Wissen erst Beifall gibt, und das, was ohne ihn bloße Täuschung sein könnte, zur Gewißheit, und Überzeugung erhebt“ (ebd. 89).
Der Glaube ersetzt nicht einfach das Wissen, sondern deckt die ihm bislang selbst nicht deutlich gewordene Triebkraft auf, die zur Erkenntnis führte. Diese Triebkraft ist der Wille. Durch den Willen verändert sich das Verhältnis des Erkennenden zum Erkannten. Die Gewissheit des Erkannten beruht nun nicht mehr auf einem Wissen, „sondern ich glaube es, weil ich will“ (ebd. 92). Die neue Instanz, die nun das Kriterium der Wahrheit ist, ist das „Gewissen“ (ebd. 91). Es ist eine Instanz der praktischen Vernunft. Sie ist es, die nun in einer umfassenden Weise den Zugang des Menschen zur Welt eröffnet. Das Gewissen verbindet in sich den Glauben als eine Weise des Für-wahr-Haltens, als auch den Willen, der auf ein Tun gerichtet ist. Das Gewissen ist jene „Stimme in meinem Innern, der ich glaube, und um deren willen ich alles andere glaube, was ich glaube“ (ebd. 94); und im Hinblick auf das Handeln heißt es: „Sie, diese Stimme meines Gewissens, gebietet mir in jeder besondern Lage meines Daseins, was ich bestimmt in dieser Lage zu tun, was ich in ihr zu meiden habe“ (ebd.). Durch das Gewissen wird der Verlust der Realität, der im Prozess des Wissens eingetreten war, wieder rückgängig gemacht. Fichte betont: „Durch diese Gebote des Gewissens allein kommt Wahrheit und Realität in meine Vorstellungen. (. . .) Ich kann daher der Realität, die sie herbeiführen, den Glauben nicht versagen, ohne gleichfalls meine Bestimmung zu verleugnen“ (ebd. 95). Es ist der durch das Gewissen geleitetete Glaube an die Realität, der dazu führt, gewisse „Erscheinungen im Raume“ als „Wesen meinesgleichen“ anzuerkennen und nicht bloß „als Produkte meiner Vorstellung“. Es ist die Stimme des Gewissens und nicht das bloße Denken, die mir gebietet: „hier beschränke deine Freiheit, hier vermute und ehre fremde Zwecke“ (ebd. 96). Es ist auch nicht das begriffliche Denken, dem bestimmte sinnliche Gegenstände Speise und Trank sind, sondern es sind Hunger und Durst, die mich dazu nötigen „an die Realität dessen zu glauben, das meine sinnliche Existenz bedroht“ (ebd. 96). Doch auch hier tritt das Gewissen hinzu, gebietet die Nahrungsaufnahme einerseits, „denn es ist im Plane der Vernunft“, und beschränkt sie zugleich so, dass auch andere „deinesgleichen“ den ihnen zustehenden Anteil an Nahrung erhalten. Im Übergang vom Wissen zum Gewissen artikuliert sich der Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen. Fichte formuliert ihn so: „Von jenem Bedürfnisse des Handelns geht das Bewußtsein der wirklichen Welt aus, nicht umgekehrt vom Bewußtsein der Welt das Bedürfnis des Handelns; dieses ist das erste, nicht jenes, jenes ist das abgeleitete. Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind; die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft“ (ebd. 99).
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Die praktische Vernunft bildet nun auch den Leitfaden für den Blick auf die Weltgeschichte. Sie zielt ab auf die „absolute Forderung einer bessern Welt“ (ebd. 101). Drei Aspekte gewinnen dabei an Bedeutung: Es ist zum ersten der Bereich der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen. Der Grund ist: „Noch erringet mit Mühe unser Geschlecht seinen Unterhalt und seine Fortdauer von der widerstrebenden Natur. Noch ist die größere Hälfte der Menschen ihr Leben hindurch unter harte Arbeit gebeugt, um sich und der kleinen Hälfte, die für sie denkt, Nahrung zu verschaffen“ (ebd. 102f.). Doch Missernten, „Wasserfluten, Sturmwinde, Vulkane“ und andere Katastrophen vereiteln die Anstrengungen des Menschen immer wieder. Fichte entwirft eine technische Utopie, wenn er sagt: „So soll uns die Natur immer durchschaubarer, und durchsichtiger werden bis in ihr geheimstes Innere, und die erleuchtete und durch ihre Erfindungen bewaffnete menschliche Kraft soll ohne Mühe dieselbe beherrschen“ (ebd. 104). Der zweite Aspekt betrifft die innere Verfassung des Staates. Fichte entwirft das Modell einer Vertragstheorie. Nicht die Feudalherren, sondern nur die Staatsbürger selbst können „einen wahren Staat begründen, in welchem jeder einzelne durch die Sorge für seine eigene Sicherheit unwiderstehlich gezwungen wird, die Sicherheit aller andern ohne Ausnahme zu schonen“ (ebd. 109f.). Der dritte Aspekt betrifft das Völkerrecht. Die Überlegung Fichtes hierzu ist folgende: Ist der Staat erst eine Angelegenheit seiner Bürger geworden, wird auch der Krieg aufhören; denn dass „eine ganze Nation beschließen solle, des Raubes halber ein benachbartes Land mit Kriege zu überziehen, ist unmöglich, indem in einem Staate, in welchem alle gleich sind, der Raub nicht die Beute einiger wenigen werden, sondern unter alle sich gleich verteilen müßte, dieser Anteil des einzelnen aber ihm nimmermehr die Mühe des Krieges lohnen würde“ (ebd. 110f.).
Die Sorge um die eigene Sicherheit wird schließlich dazu führen, dass sich freie Staaten überall bilden und sich Kultur, Freiheit und allgemeiner Frieden ausbreiten und „allmählich den ganzen Erdball umschlingen“ (ebd. 111). Aber so utopisch dies Ziel auch zu sein scheint, es bleibt ein irdisches Ziel. Damit aber will sich Fichte nicht zufrieden geben. Der Zweck eines vernünftigen Wesens reicht über den Zweck der irdischen Welt hinaus, d. h., „es muß sonach eine überirdische Welt geben, für deren Zweck er diene“ (ebd. 117). Unser Handeln selbst, sofern es seine Pflicht erfüllt, die ihm die Vernunft auferlegt, ist selbst bereits orientiert an einem überirdischen, ewigen Ziel. Fichte formuliert diese Beziehung so: „Was ist denn nun doch das eigentlich, und rein Wahre, das wir in der Sinnenwelt annehmen, und an welches wir glauben? Nichts anderes, als daß aus unsrer treuen, und unbefangenen Vollbringung der Pflicht in dieser Welt ein unsre Freiheit, und Sittlichkeit förderndes Leben in alle Ewigkeit sich entwickeln werde“ (ebd. 138). Derjenige, der sich in seinem Handeln an der Ewigkeit orientiert, lebt „schon jetzt in ihr“ (ebd. 119). In Wirklichkeit ist es aber der „ewige Wille“, der „Weltschöpfer“, der handelt; „in unsern Gemütern erschafft er eine Welt“ (ebd. 139). Daher wird schließlich beim späten Fichte aus dem absoluten Ich wieder der absolute Gott. Letzte Orientierung für den Menschen bietet „Gott selbst, d. i. das innere Wesen des Absoluten“ (Fichte, 1954a, 122).
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Fichtes Wirkung erstreckt sich nicht nur auf Hegel und Schelling und die Entwicklung des deutschen Idealismus. Ihm kommt vielmehr eine zentrale Bedeutung zu für die weitere Geschichte der Philosophie der Subjektivität. Zu ihr gehören vor allem Husserl und Sartre.
2. Das natürliche und das transzendentale Ich (Husserl) „Aber was macht dann den abgrundtiefen Unterschied zwischen phänomenologischen Urteilen über die Erfahrungswelt und den natürlich-objektiven? Die Antwort kann so gegeben werden: Als phänomenologisches ego bin ich zum reinen Zuschauer meiner selbst geworden, und nichts habe ich in Geltung als was ich als von mir selbst unabtrennbar, als mein reines Leben und als von diesem selbst Unabtrennbares finde, und zwar genau so, wie ursprüngliche, anschauliche Reflexion mich für mich selbst enthüllt. Als natürlich eingestellter Mensch, wie ich vor der Epoché war, lebte ich naiv in die Welt hinein; erfahrend galt mir ohne weiteres das Erfahrene, und daraufhin vollzog ich meine weiteren Stellungnahmen. (. . .) So besteht die phänomenologische Einstellung mit ihrer Epoché darin, daß ich den denkbar letzten Erfahrungs- und Erkenntnisstandpunkt gewinne, auf dem ich zum unbeteiligten Zuschauer meines natürlich-weltlichen Ich und Ich-Lebens werde (. . .). So vollzieht sich mit der phänomenologischen Reduktion eine Art Ich-Spaltung: Der transzendentale Zuschauer stellt sich über sich selbst, sieht sich zu und sieht sich auch als dem vordem welthingegebenen Ich zu (. . .).“ (E. Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Husserliana Bd. I. Haag 1963, 15f.).
Edmund Husserl wird 1859 in Proßnitz (Mähren) geboren. Er studiert Mathematik, Physik, Astronomie und Philosophie in Leipzig, Berlin und Wien und wird dort 1883 mit einer mathematischen Dissertation zum Dr. phil. promoviert. In den Jahren 1883–86 setzt er sein Philosophiestudium bei dem Philosophen und Psychologen Franz Brentano in Wien fort. Er habilitiert sich 1887 in Halle in Philosophie mit einer Arbeit Über den Begriff der Zahl. Psychologische Analysen. 1901–1916 lehrt er als Professor an der Universität in Göttingen ernannt. 1916–28 ist er ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Freiburg. Wegen seiner jüdischen Herkunft erfolgt 1933 die vorübergehende und 1936 die endgültige Aberkennung seines Professorentitels. Husserl stirbt 1938 in Freiburg (vgl. Prechtl 1990). Husserl ist der Begründer der Phänomenologie, der er im Unterschied zum Wortgebrauch bei Kant aber auch bei Hegel einen neuen Sinn verlieh. Für Husserl ist die Phänomenologie ein transzendentaler Idealismus, dessen Thema die Beschreibung von Bewusstseinsakten eines transzendentalen Subjekts ist. Um ihn zu verstehen, ist es sinnvoll, den spezifischen wissenschaftlichen Werdegang Husserls zu berücksichtigen, für den die Mathematik eine ebenso große Bedeutung hatte wie die Psychologie. Husserl versucht, die sie bestimmenden Denkweisen zu verbinden. Sein erster Versuch, den er in seiner Habilitationsschrift unternimmt, mathematische Urteile psychologisch zu begründen, scheitert. Gottlob Freges entschiedene, aber sachliche Kritik wird von Husserl übernommen. In seinem ersten Hauptwerk Logische Untersuchungen aus dem
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Jahre 1900 macht er sich die Psychologismuskritik Freges zu eigen. Hatte noch John Stuart Mill die Gültigkeit des Widerspruchsprinzips auf angeborene Strukturen unseres Verstandes zurückgeführt, so betont Husserl nun: „Mills psychologische Interpretation des Prinzips ergibt kein Gesetz, sondern einen völlig vagen und wissenschaftlich nicht geprüften Erfahrungssatz“ (Hua XVIII, 91). Psychologie als Erfahrungswissenschaft kann keine Aussagen über die Gültigkeit mathematischer oder logischer Sätze machen. Es handelt sich bei diesen nicht um empirische, sondern um ideale Gegenstände, die einer eigenen, immanenten Notwendigkeit gehorchen. Andererseits aber bewegt sich Husserls Phänomenologie nicht mehr in den Bahnen der fachwissenschaftlichen Mathematik, wie sie für ihn vorbildlich sein Lehrer Weierstraß vertreten hat, noch in den Bahnen der Logik Freges. Es war seine Begegnung mit dem Philosophen und Psychologen Brentano, die seinem Denken eine entscheidende Wende gab. Brentano war bei seinem Studium des Bewusstseins zu der Überzeugung gekommen, dass jeder Bewusstseinsakt auf einen Gegenstand gerichtet ist. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas; Bewusstsein ist Gegenstandsbewusstsein. Die Ausrichtung des Bewusstseins auf einen Gegenstand macht seine Intentionalität aus. Für Husserl wird der Gedanke der Intentionalität des Bewusstseins zum leitenden Motiv seiner Philosophie. Die Thematisierung des Bewusstseins ist nun allerdings auch Aufgabe der Psychologie. Es entsteht also die Frage: Wie unterscheidet sich die Phänomenologie als eine Philosophie des Bewusstseins von der Psychologie? Husserls Antwort lautet so: Die Phänomenologie thematisiert nicht empirische Gegenstände für ein empirisches Subjekt, sondern das Wesen eines Gegenstandes für ein transzendentales Subjekt. Phänomenologie befasst sich mit Wesensschau. Das bedeutet, dass es sich bei dem von der Phänomenologie zu thematisierenden Gegenstandsbewusstsein um Idealisierungen in zweifacher Hinsicht handelt, nämlich hinsichtlich des Gegenstandes, d. h. des Objekts des Bewusstseins einerseits, und hinsichtlich des Subjekts des Bewusstseins andererseits. Das Objekt ist nicht ein empirischer Gegenstand, sondern das Wesen des Gegenstandes, und das Subjekt nicht ein empirisches Ich, sondern „mein reines Ich“, d. h. ein transzendentales Subjekt. Thema der Phänomenologie ist daher die Frage: Wie denkt „mein reines Ich“ das von mir Gedachte? Wie ist das „ego cogito cogitatum“ zu verstehen? In dieser Fragestellung sieht sich Husserl in einer großen Übereinstimmung mit Descartes, der ja die Selbstgewissheit des ‚Ich denke‘ zum unerschütterlichen Fundament allen Wissens erklärte. Auch Husserl sucht nach einem absoluten Fundament und möchte Philosophie aus einer Position unmittelbarer und evidenter Selbstgewissheit heraus entwickeln. Im Jahre 1929 hielt Husserl in Paris zwei Vorträge, in denen er seine Phänomenologie in Anknüpfung an Descartes und zugleich in Abgrenzung ihm gegenüber erläuterte. Folgende Aspekte werden dabei von ihm erörtert: Der Rückgang auf die Selbstgewissheit des ‚ego cogito‘, der Gedanke der Epoché, d. h. der Urteilsenthaltung gegenüber dem Seinsanspruch der Welt, der Begriff des transzendentalen Subjekts, der Gedanke der Intentionalität, das Konzept der Korrelation von Subjektpol und Objektpol, das Problem des Dings an sich und schließlich das Verhältnis zwischen einem solipsistischen Subjektivismus und einer transzendentalen Intersubjektivität. Die Vorträge erschienen 1931 in französischer Sprache unter dem Titel Méditations Cartésien-
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nes und deutsch 1950 im ersten Band der Werkausgabe. Husserl weiß sich mit Descartes darin einig, dass der Weg zu einer absoluten Gewissheit nur durch einen „Rückgang auf das philosophierende ego“ gelingen kann. Die Selbstgewissheit des „ego cogito“ garantiert die Evidenz des Ichs und seiner „selbst in ursprünglicher Erfahrung und Einsicht“ (Hua I, 6). Mit Descartes ist dem philosophierenden Ich das Dasein der Welt nicht mehr selbstverständlich gegeben. Der universale Boden der Welterfahrung verliert seine Gültigkeit. „Das Sein der Welt darf nicht mehr für uns selbstverständliche Tatsache sein, sondern selbst nur ein Geltungsproblem“ (ebd. 7). Das Sein der Welt, die Welterfahrung bildet nicht mehr den Boden für unsere Urteile. Stattdessen aber findet das Ich in der transzendentalen Subjektivität einen neuen, „apodiktisch gewissen und letzten Urteilsboden“ (ebd. 7). Aus dem naiven, in natürlicher Welterfahrung unterstellten Seinsglauben ist ein bloßer Seinsanspruch geworden, „kurzum die ganze konkrete Welt ist für mich statt seiend nur Seinsphänomen“ (ebd. 7). Im Rückgang auf die transzendentale Subjektivität enthalte ich mich jeder Stellungnahme hinsichtlich des Seins der Welt, setze ich die naive Seinsgeltung der Welt außer Kraft. Diese Urteilsenthaltung bezeichnet Husserl unter Rückgriff auf einen Begriff der antiken Skepsis als Epoché. In ihr bedeutet sie die Urteilsenthaltung bei zwei gleich starken, aber entgegengesetzten Argumenten. Für Husserl wird der Begriff zum methodischen Leitfaden der Phänomenologie. Er sagt: „Also dieses universale Inhibieren aller Stellungnahmen zur objektiven Welt, das wir die phänomenologische Epoché nennen, wird gerade zum methodischen Mittel, wodurch ich mich als dasjenige Ich rein erfasse und dasjenige Bewußtseinsleben, in dem und durch das die gesamte objektive Welt für mich ist und ist, wie sie eben für mich ist“ (ebd. 8).
Durch die Epoché verliert das Ich zwar seinen naiven Seinsglauben an die Welt, aber es gewinnt dafür das überaus reiche Bewusstsein von Welt, ein Bewusstsein in einer Fülle von Modifikationen. Die Welt bekommt einen neuen Sinn. Husserl bemerkt: „Alles Weltliche, alles raum-zeitliche Sein ist für mich dadurch, daß ich es erfahre, wahrnehme, mich seiner erinnere, daran irgendwie denke, es beurteile, es werte, begehre usw.“ (ebd. 8). Das Bewusstseinsleben eröffnet ein ungeheures Forschungsfeld für die Phänomenologie. Allerdings: Das reine Ich ist zwar der letzte Urteilsboden für alle Bewusstseinsakte, aber es ist „nicht etwa ein Stück Welt“, das nach der Epoché übrigbliebe. Gerade darin besteht – so Husserl – der entscheidende Fehler von Descartes. Indem er „das ego zur substantia cogitans“ erklärte, leistete er der Annahme Vorschub, „als ob wir in unserem apodiktisch reinen ego ein kleines Endchen der Welt gerettet hätten“ (ebd. 9). Damit verfehlte er aber das Ziel des von ihm eingeschlagenen Weges und gelangte nicht in den Bereich des transzendentalen Idealismus, sondern wurde „zum Vater des widersinnigen transzendentalen Realismus“ (ebd. 9). Indem Descartes die ‚res cogitans‘ von der ‚res extensa‘ unterscheidet und damit eine Denksubstanz und eine ausgedehnte Substanz annimmt, verbleibt er in den Bahnen der mittelalterlichen Substanzmetaphysik und hat damit den Gedanken einer transzendentalen Subjektivität verfehlt. Das transzendentale Subjekt, mein reines Ich, ist nichts anderes als die Fülle seiner Bewusstseinsakte und nicht ein diesen Akten zugrundeliegendes, von ihm abgesondertes Sein.
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Jeder Bewusstseinsakt richtet sich auf etwas, er hat ein „Vermeintes“, auf das er sich bezieht. Zu jedem „cogito“ gehört ein „cogitatum“, zu jeder Wahrnehmung ein Wahrgenommenes. Husserl bezeichnet diesen Sachverhalt im Anschluss an Brentano als die Intentionalität des Bewusstseins. Er macht sie am Beispiel der Wahrnehmung eines Hauses deutlich: „Die Hauswahrnehmung, auch wenn ich mich der Betätigung des Wahrnehmungsglaubens enthalte, ist, genommen wie ich sie erlebe, eben Wahrnehmung von diesem und gerade diesem, so und so erscheinenden, (. . .) von der Seite, in der Nähe oder Ferne zeugenden Haus. Ebenso die klare oder vage Erinnerung Erinnerung von dem vage oder klar vorstelligen Haus, das noch so falsche Urteil Urteilsmeinung von dem und dem vermeinten Sachverhalt usw. (. . .) Zu diesem Was des Bewußtseins gehören auch die Seinsmodi wie daseiend, vermutlich seiend, nichtig seiend, aber auch die Modi des Schein-seiend, gut-, wert-seiend usw.“ (ebd. 13).
Thema der phänomenologischen Reflexion ist stets das, was in der unmittelbaren transzendentalen Erfahrung sich dem Bewusstsein darbietet. Fern zu halten sind alle theoretischen Konstruktionen oder logischen Schlüsse. Das Beispiel der Hauswahrnehmung macht aber zugleich einen weiteren Aspekt der phänomenologischen Beschreibung deutlich. In der Reflexion der Bewusstseinsakte tauchen nämlich zwei unterschiedliche Arten auf. Es sind zum einen die objektbezogenen Bewusstseinsakte, die sich um den Objektpol zentrieren. Dazu gehört z. B. die Tatsache, dass das Objekt, hier das Haus, immer nur von einer Seite gesehen werden kann und sich die anderen z. B. erst durch ein Herumgehen erschließen, dass es in einer bestimmten Entfernung wahrgenommen wird usw. Zu dem Subjektpol gehört, dass das Subjekt das Haus aktuell wahrnimmt, sich seiner erinnert, es als daseiend oder vermutlich seiend beurteilt usw. Die Hauswahrnehmung ist ein Bewusstseinsakt, in dem sich Subjektpol und Objektpol entsprechen. Zwischen beiden besteht eine Korrelation. Husserl bezeichnet die Phänomenologie daher auch als Korrelationsforschung. Ichbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein bilden eine Einheit. Husserl bemerkt: „Die Stücke und Phasen der Wahrnehmung sind nicht äußerlich aneinandergeklebt, sie sind einig, wie eben Bewußtsein und wieder Bewußtsein einig ist, und zwar einig im Bewußtsein von demselben. Nicht sind erst Dinge und werden dann in das Bewußtsein hineingesteckt, (. . .) sondern Bewußtsein und Bewußtsein (. . .) verbinden sich zu einem beide einigenden cogito“ (ebd. 17).
Genauso wie Fichte wendet sich Husserl gegen das Konzept eines Dings an sich. Die Phänomenologie – so sein Argument – ist ein transzendentaler Idealismus, aber „nicht ein Kantischer Idealismus, der mindestens als Grenzbegriff die Möglichkeit einer Welt von Dingen an sich glaubt offenhalten zu können“ (ebd. 33). Gibt es aber keine Dinge an sich, sondern nur Bewusstseinsakte, taucht ein Problem auf, mit dem jeder Idealismus sich auseinanderzusetzen hat. Es betrifft die Frage: Wie lassen sich Sein und Schein noch trennen, wie die Wirklichkeit von der bloßen Phan-
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tasie? Husserl versucht, das Problem mit den Mitteln der Bewusstseinsakte selbst zu lösen. Er sagt: „Ein Gegenstand existiert für mich, das ist, er gilt mir bewußtseinsmäßig. Aber diese Geltung ist für mich nur solange Geltung, als ich präsumiere, daß ich sie bestätigen könnte, daß ich für mich gangbare Wege, das ist frei tätig zu durchlaufende Erfahrungen und sonstige Evidenzen, herstellen könnte, in denen ich bei ihm selbst wäre, ihn als wirklich da verwirklicht hätte“ (ebd. 23).
Wirklichkeit wird für ihn zu einer Folge von Bewusstseinsakten im „Modus fortschreitender Bewährung“ (ebd.). Entscheidend ist jedoch, „daß diese Bewährungswege und ihre Zugänglichkeit zu mir als transzendentaler Subjektivität selbst gehören“ (ebd.). Mit der Aussage: ‚Das Haus, das ich wahrnehme, ist wirklich da‘ – überschreitet das Subjekt nicht das Bewusstsein auf ein Ding hin, noch gelangt ein Ding durch die Wahrnehmung in mein Bewusstsein. Die Aussage ist vielmehr das Ergebnis einer fortschreitenden Bewährung innerhalb des Bewusstseins selbst. Nun treffen Wahrnehmungen, Erinnerungen, Vermutungen und Urteile auch auf das natürliche Ich zu, und daher entsteht die Frage, wodurch sich das natürliche Ich vom transzendentalen unterscheidet. Der Unterschied besteht in folgendem: „Als natürlich eingestellter Mensch (. . .) lebte ich naiv in die Welt hinein; erfahrend galt mir ohne weiteres das Erfahrene“ (ebd. 15). Für das transzendentale Subjekt gilt das nicht. Es ist zum reinen Zuschauer seiner selbst geworden. Aus diesem Grund findet in der phänomenologischen Epoché eine „Art Ich-Spaltung“ statt (vgl. Text). Husserl spricht aber bewusst von einer „Art Ich-Spaltung“, denn bereits für den natürlichen Menschen gilt, dass das Ich in ihm letztlich transzendental ist „aber davon nichts weiß“ (ebd. 16). Erst in der phänomenologischen Reflexion erschließt sich dem natürlichen Ich sein transzendentales. Dadurch wird es „auf sein absolutes ego zurückgeführt“ (ebd. 27). Absolut ist das Ich dadurch, dass es die Totalität der Welt als Inbegriff möglicher Bewusstseinsakte immer schon in sich enthält. Sie ist ihm „mit den Altvordern zu reden“ „eingeboren“. Das „absolute ego“, in dem die Totalität der Bewusstseinsakte der Welt eingeboren ist, bezeichnet Husserl in Anlehnung an Leibniz als Monade (vgl. Kap. IX, 1). Gleichzeitig aber taucht mit diesem Gedanken ein neues Problem auf, das der Intersubjektivität. Die Monade ist eine in sich geschlossene Einheit des Bewusstseins. Sie hat nach Leibniz „keine Fenster“. So entsteht die Frage: „Wenn ich, das meditierende Ich, mich durch Epoché auf mein absolutes ego reduziere (. . .) bin ich dann nicht zum solus ipse geworden, und ist so diese ganze Philosophie der Selbstbesinnung nicht ein purer, wenn auch transzendental-phänomenologischer Solipsismus?“ (ebd. 34; vgl. Waldenfels, 1971, 1).
Husserl thematisiert damit ein prinzipielles Problem einer Philosophie der Subjektivität. Es ist die Frage nach der Existenz des anderen Subjekts; es ist das Problem der Intersubjektivität. Auch wenn eine Theorie des Subjekts bereit ist, die Selbständigkeit der Dinge zu brechen und sie als bloße Modifikationen des Bewusstseins, als Eigentum
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des Subjekts zu betrachten, so stellt die Existenz eines anderen Subjekts eine besondere Herausforderung dar. Husserl hat sich dieser Herausforderung gestellt und ihr umfangreiche Studien gewidmet (vgl. Hua XIII–XV). Gleichwohl bleibt sein Ergebnis ambivalent. Die Lösung, die er in den Pariser Vorträgen anbietet, lautet so: „Alles eigene Bewußtseinsleben kann ich direkt und eigentlich erfahren als es selbst, nicht aber das fremde: fremdes Empfinden, Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Wollen. Aber in mir selbst wird es in einem sekundären Sinn, in der Weise einer eigentümlichen Ähnlichkeitsapperzeption miterfahren, konsequent indiziert, sich dabei einstimmig bewährend“ (Hua I, 35).
In erneuter Anlehnung an den Sprachgebrauch von Leibniz betont Husserl: „In meiner Originalität als meiner apodiktisch gegebenen Monade spiegeln sich fremde Monaden, und diese Spiegelung ist eine sich konsequent bewährende Indikation“ (ebd.). Doch der Begriff der Spiegelung schafft ein neues Problem. Es betrifft die Autonomie des Subjekts, den Anspruch jeder Monade, ein „absolutes ego“ zu repräsentieren. In diesem Dilemma schwankt Husserl zwischen zwei Interpretationen des anderen Subjekts. Zum einen betont er, ganz dem Sprachgebrauch Fichtes folgend: Das „transzendentale ego setzt in sich nicht willkürlich, sondern notwendig ein transzendentales alter ego“ (ebd.). Das bedeutet, dass das „erste ego“ den Anfang und Ausgangspunkt bildet für das andere Ich und dieses nur eine Setzung des ersten ist. Diesem Ansatz entsprechend betont Husserl, „daß für den philosophierend Meditierenden sein ego das ursprüngliche ego ist und daß die Intersubjektivität dann in weiterer Folge für jedes erdenkliche ego als alter ego wieder nur denkbar ist als in ihm sich spiegelnde“ (ebd.). Andererseits aber bezeichnet Husserl das andere Ich nicht als eine Setzung des Ichs, sondern als das Ergebnis einer „transzendentalen Leistung der Einfühlung“ (ebd. 34). Wie sehr Husserl bei der Frage, ob die Phänomenologie ein transzendentales Subjekt oder aber eine transzendentale Intersubjektivität zugrunde legt, schwankt, mögen zwei Aussagen belegen, die er, nur durch wenige Sätze voneinander getrennt, trifft. Die eine lautet: „Der Ordnung nach wäre die an sich erste der philosophischen Disziplinen die solipsistisch beschränkte Egologie, dann erst, in Erweiterung, die intersubjektive Phänomenologie“ (ebd. 38). Die zweite lautet: „Das an sich erste Sein, das jeder weltlichen Objektivität vorangehende und sie tragende, ist die transzendentale Intersubjektivität, das in verschiedenen Formen sich vergemeinschaftende All der Monaden“ (ebd.; vgl. Landgrebe, 1963, 97; Prechtl, 1991, 87). In den dreißiger Jahren bekommt ein neues Thema eine zentrale Bedeutung. Es ist das Problem der Lebenswelt. Vorbereitet wurde es durch seine schon früh einsetzende Kritik an dem zu seiner Zeit vorherrschenden Wissenschaftsverständnis. Husserl versteht Phänomenologie und Philosophie allgemein selbst als eine „strenge Wissenschaft“. Ihr Ziel ist es, alle naiven Vormeinungen über Dinge, Gegenstände und Gegenstandsbereiche einer Kritik zu unterziehen und nur das gelten zu lassen, was in einer ursprünglichen Evidenz, d. h. unmittelbaren Selbstgegebenheit des Bewusstseins, ausgewiesen ist. Bereits in seinem 1910 erschienenen Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft versucht Husserl zu zeigen, dass weder die Naturwissenschaften noch
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die Geisteswissenschaften diese Forderung erfüllen. Während die Naturwissenschaften einen Positivismus propagieren, der völlig naiv glaubt, in den Tatsachen der Welt die Grundlage aller Erkenntnis gefunden zu haben, verlieren sich die Geisteswissenschaften in Relativismus und Weltanschauung. Phänomenologie als „Erste Philosophie“ unternimmt es demgegenüber, die Voraussetzungen und unhinterfragten Vorannahmen der Wissenschaften zu problematisieren. Husserls Einsicht führt ihn zu der Frage nach dem vorwissenschaftlichen Leben, aus dem heraus sich wissenschaftliche Fragestellungen und Methoden entwickeln. Einen ersten Impuls für diese Überlegungen empfing Husserl von Richard Avenarius, der in seinem umfangreichen Werk Kritik der reinen Erfahrung (1888–90) die These vertrat, dass Wissenschaft und Philosophie nur die Umwandlung eines naiv-realistischen Anschauens sind und dass der „natürliche Weltbegriff“ der Ursprung aller sich daraus entwickelnden Theoriebildung ist (vgl. Bernet u. a., 1996, 199). Dieser Ansatz wird für Husserl zum Ausgangspunkt seiner Philosophie der Lebenswelt. Er hat sie in seinem Werk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie ausgearbeitet. Husserl sieht im vorherrschenden Positivismus den Beleg dafür, dass die Wissenschaften überhaupt in eine Krise gekommen sind. Die Reduktion der Wissenschaft auf Tatsachenwissenschaft führt dazu, dass die „brennenden“ Fragen nicht beantwortet werden können, nämlich „die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins“ (Hua VI, 4). Der universale Anspruch der Vernunft, den die griechische Antike entwickelte, sei verloren gegangen. Daher komme es darauf an, im Sinne eines „erneuerten ‚Platonismus‘ (. . .) das soziale Dasein der Menschheit aus freier Vernunft, aus den Einsichten einer universalen Philosophie neu zu gestalten“ (ebd. 6). Diese Aussage enthält im Kern Husserls Ethik. Um diesen Neuanfang erfolgreich zu entwickeln, ist es notwendig – so Husserl –, sich zu fragen, wie der gegenwärtig vorherrschende Typus von Wissenschaft geschichtlich entstanden ist. Er macht das am Beispiel der Geometrie deutlich. Ausgangspunkt ist auch hier die Welt, wie sie „vorwissenschaftlich in der alltäglichen sinnlichen Erfahrung subjektiv-relativ gegeben“ ist (ebd. 20). Wir leben in einer „anschaulichen Umwelt“, in der „nicht geometrisch-ideale Körper, sondern eben die Körper, die wir wirklich erfahren“ (ebd. 22), gegeben sind und mit denen wir einen praktischen Umgang haben. Zu dieser Umwelt gehören z. B. für den Bauern im alten Ägypten auch die Felder, die er bearbeitet und die nach den jährlich stattfindenden Überschwemmungen neu vermessen werden müssen. Aus diesen praktischen Notwendigkeiten entwickelte sich eine „Feldmeßkunst“ (ebd. 25). Ihr wissenschaftlicher Name lautet Geometrie. Der Übergang der praktischen Feldmesskunst in die Geometrie als eine mathematische Disziplin erfolgte dadurch, dass an die Stelle sinnlich erfahrbarer Begrenzungslinien idealisierte geometrische Größen traten. Husserl beschreibt diesen Übergang so: „So versteht sich, daß im Gefolge des wach gewordenen Strebens nach einer ‚philosophischen‘, einer das ‚wahre‘, das objektive Sein der Welt bestimmenden Erkenntnis, die empirische Meßkunst und ihre empirisch-praktisch objektivierende Funktion, unter Umstellung des praktischen in ein rein theoretisches Interesse, idealisiert wurde und so in das rein geometrische Denkverfahren überging. Die Meßkunst wird also zur Wegbereiterin der schließlich universellen Geometrie und ihrer ‚Welt‘ reiner Limesgestalten“ (ebd. 25).
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Die weitere wissenschaftliche Entwicklung ist dadurch bestimmt, dass schließlich die Geometrie selbst mit ihren gezeichneten, aber sinnlich darstellbaren Figuren, auf reine Zahlengrößen reduziert wurde. Es erfolgte eine, durch Galilei maßgeblich bestimmte, „Arithmetisierung der Geometrie“ (ebd. 44). Verwissenschaftlichung bedeutet Abstraktion, Überführung einer sinnlich praktischen Lebenswelt in ein System idealer mathematischer Größen. Die Wissenschaften ersetzen nun in zunehmendem Maße „die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt – unsere alltägliche Lebenswelt“ (ebd. 49). Die Wissenschaften werfen der Lebenswelt ein „Ideenkleid“ über und halten die so verkleidete Wirklichkeit für die wahre. Die Lebenswelt wird dadurch verdeckt. Sie ist das „vergessene Sinnesfundament“ aller Wissenschaften. Dieses gilt es durch eine universale Besinnung wieder freizulegen. Es kann aber nicht durch einen „eigens auftretenden Akt der Seinssetzung“ geschaffen werden, sondern existiert im „Modus der Glaubensgewißheit“. Husserl folgt der Argumentation Fichtes, wenn er betont: „Dieser universale Boden des Weltglaubens ist es, den jede Praxis voraussetzt, sowohl die Praxis des Lebens als auch die theoretische Praxis des Erkennens“ (Husserl, 1964, 25). Gleichwohl stellt sich die Frage: Wie entsteht aus der „Praxis des Lebens“ die „theoretische Praxis“ der neuzeitlichen Wissenschaft und was leistet sie? Husserl beantwortet diese Frage, indem er, wiederum ähnlich wie Fichte, die Intention der Wissenschaften aus den praktischen Einstellungen der Lebenswelt heraus entwickelt. Er bemerkt: „Diese wirklich anschauliche, wirklich erfahrene und erfahrbare Welt, in der sich unser ganzes Leben praktisch abspielt, bleibt, als die sie ist, in ihrer eigenen Wesensstruktur (. . .). Sie wird also auch nicht dadurch geändert, daß wir eine besondere Kunst, die geometrische und Galileiische Kunst erfinden, die da Physik heißt. Was leisten wir durch sie wirklich? Eben eine ins Unendliche erweiterte Voraussicht. Auf Voraussicht, wir können dafür sagen, auf Induktion beruht alles Leben“ (Hua VI, 51).
Deshalb verfolgt die moderne Wissenschaft nur die praktischen Intentionen, die in der Lebenswelt bereits angelegt waren. Diese werden nur in unermesslicher Weise gesteigert. Husserl charakterisiert den neuzeitlichen physikalischen Rationalismus so: „Mit der fortwachsenden und immer vollkommeneren Erkenntnismacht über das All erringt der Mensch auch eine immer vollkommenere Herrschaft über seine praktische Umwelt (. . .). Darin beschlossen ist auch die Herrschaft über die zur realen Umwelt gehörige Menschheit, also auch über sich selbst und die Mitmenschheit“ (ebd. 67).
Husserls Intention ist es nicht, den Prozess der Wissenschaft rückgängig zu machen. Er verfolgt nicht das romantische Ideal eines ursprünglichen, natürlichen Lebens. Seine Philosophie der Lebenswelt ist nicht zu verwechseln mit der zu seiner Zeit in Mode gekommenen Lebensphilosophie. Sein Ziel ist es, die „allgemeine Struktur“ der Lebenswelt in einer phänomenologischen Besinnung aufzudecken. Mit Blick auf die Ethik ist dieses Unternehmen bedeutsam, weil nur so das im „europäischen Menschen-
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tum“ enthaltene „Telos“ aufgedeckt und seiner Vollendung näher gebracht werden kann (ebd. 14). Husserls Wirkungsgeschichte ist umfassend. Er hat eine phänomenologische Schule gegründet und zahlreiche Philosophen beeinflusst, so Scheler, Heidegger und Sartre. In der Soziologie ist der Begriff der Lebenswelt aufgegriffen und variiert worden, so z. B. bei dem deutsch-amerikanischen Soziologen Alfred Schütz.
3. Die Freiheit des Subjekts (Sartre) „Der atheistische Existentialismus, den ich vertrete, ist kohärenter. Er erklärt: wenn Gott nicht existiert, so gibt es zumindest ein Wesen, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und dieses Wesen ist der Mensch (. . .). Der Mensch, wie ihn der Existentialist versteht, ist nicht definierbar, weil er zunächst nichts ist. Er wird erst dann, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Folglich gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, sie zu ersinnen. Der Mensch (. . .) ist nichts anderes als das, wozu er sich macht. Das ist das erste Prinzip des Existentialismus. Das ist es auch, was man Subjektivität nennt und uns unter ebendiesem Namen vorwirft. Aber was wollen wir damit anderes sagen, als daß der Mensch eine größere Würde hat als der Stein oder der Tisch? Wir wollen sagen, daß der Mensch erst existiert, das heißt, daß der Mensch erst das ist, was sich in eine Zukunft wirft, und was sich bewußt ist, sich in die Zukunft zu entwerfen. Der Mensch ist zunächst ein sich subjektiv erlebender Entwurf (. . .). / Wenn tatsächlich die Existenz dem Wesen vorausgeht, ist nichts durch Verweis auf eine gegebene und unwandelbare menschliche Natur erklärbar; anders gesagt, es gibt keinen Determinismus, der Mensch ist frei, der Mensch ist die Freiheit.“ (J.-P. Sartre: Philosophische Schriften I, Bd. 4. Hamburg 1994, 120f. u.125).
Jean-Paul Sartre wird 1905 in Paris geboren. 1924–29 studiert er an der École Normale Supérieure. 1931–33 ist er Gymnasiallehrer in Le Havre. Als Stipendiat studiert er in den Jahren 1933–34 die deutsche Phänomenologie und Existenzphilosophie, so z. B. Husserl, Heidegger, Jaspers und Scheler in Berlin. Anschließend ist er wieder Gymnasiallehrer in Le Havre, Laon und Paris. 1939 wird er zum Kriegsdienst einberufen und gerät 1940/41 in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Befreiung beteiligt er sich am Widerstand gegen die deutsche Besatzung und gründet mit Merleau-Ponty den intellektuellen Widerstandskreis ‚Socialisme et liberté‘. 1943 erscheint sein philosophisches Hauptwerk Das Sein und das Nichts. Seit 1945 lebt er als freier Schriftsteller in Paris. Im Zuge der Entwicklung des Kalten Krieges erklärt sich Sartre 1952 zu einem kritischen Weggefährten der Kommunisten, kritisiert jedoch 1956 scharf die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn durch die Sowjetunion. Mit einer Gruppe von Intellektuellen publiziert er 1960 ein Manifest gegen den Kolonialismus und engagiert sich für die politische Autonomie Algeriens. 1964 lehnt er den ihm zuerkannten Literatur-Nobelpreis ab. Ab 1966 nimmt er am Russel-Tribunal teil, das die Verurteilung amerikanischer Kriegsverbrechen in Vietnam zum Ziel hat. Anlässlich des ‚Prager Frühlings‘ im Jahre 1968 kommt es zum endgültigen Bruch mit der kommunistischen Partei. Er engagiert sich für die studentische Protestbewe-
3. Die Freiheit des Subjekts (Sartre)
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gung vom Mai 1968 und sympathisiert mit der maoistischen Linken. Sartre stirbt 1980 in Paris (vgl. Levy 2002; Hackenesch 2007). Das durchgängige Thema der Philosophie Sartres ist die Freiheit des Subjekts. Entscheidend ist dabei, dass er die Freiheit gegenüber der idealistischen Tradition, für die Freiheit ebenfalls ein zentraler Begriff war, neu interpretiert. So betont Kant, dass jedes Lebewesen, das unter der Idee der Freiheit handelt, darum in praktischer Hinsicht frei ist. Sartre verwirft das Konzept, nach der die Freiheit eine Idee ist. Für ihn ist die Freiheit ein Faktum. Um die spezifische Faktizität der Freiheit zu verstehen, ist es sinnvoll, Sartres Unterscheidung des Seins der Dinge und des Seins des Menschen nachzuvollziehen. Die Dinge sind durch ihr An-sich-Sein bestimmt, der Mensch durch ein Für-sich-Sein. Sartre rehabilitiert damit das im Idealismus Fichtes und Husserls verworfene An-sich-Sein der Dinge. Das An-sich-Sein der Dinge besagt, dass diese etwas bloß Vorhandenes, etwas Gegebenes sind. Sie sind das, was sie sind. Das Für-sich-Sein des Menschen ist dadurch charakterisiert, dass der Mensch nicht das ist, was er ist, sondern dass er das Gegebene negieren kann, dass er sich immer schon in einem Reich der Möglichkeiten bewegt und dass er innerhalb dieser Möglichkeiten sich selbst entwirft. Entscheidend ist nun, dass er nicht nur zwischen den verschiedenen Möglichkeiten wählen kann, sondern zwischen ihnen wählen muss. Die Wahlmöglichkeiten machen seine Freiheit aus. Da die Wahlmöglichkeiten das Für-sich-Sein des Menschen bestimmen und diese identisch sind mit Freiheit, ist der Mensch in seinem Für-sich-Sein Freiheit. Es ist unmöglich, dass er nicht frei ist. Sartre betont: „Tatsächlich sind wir eine Freiheit, die wählt, aber wir wählen nicht, frei zu sein: wir sind zur Freiheit verurteilt (. . .). Das ist die Faktizität der Freiheit“ (Sartre, 1994, 838). Die Freiheit ist daher ambivalent. Sie eröffnet ein weites Feld von Wahlmöglichkeiten, aber sie schließt eine aus, nämlich die Negation der Freiheit. Dieses Konzept der Freiheit ist einer Reihe von Einwänden ausgesetzt. Die wichtigsten sollen thematisiert werden. Die erste, von Sartre selbst zugestandene, Einschränkung besteht darin, dass die Wahlmöglichkeiten nicht unbegrenzt sind. Sie sind begrenzt durch die Situation. Sartre erläutert das an einem Beispiel. Er sagt: „Wir sagen also nicht, daß ein Gefangener immer frei ist, das Gefängnis zu verlassen, was absurd wäre (. . .), sondern daß er immer frei ist, auszubrechen zu versuchen (. . .), er kann seinen Ausbruch entwerfen und sich selbst über den Wert seines Entwurfs durch einen Handlungsbeginn unterrichten“ (ebd. 837).
Freiheit in Situationen bedeutet, dass alle Handlungen mit Blick auf die Gegebenheiten der Situation entworfen werden. Die Gegebenheiten sind gelegentlich günstig; in vielen Fällen aber stellen sie sich dem Handelnden als Widrigkeiten in den Weg. Sartre spricht von dem „Widrigkeitskoeffizienten der Dinge“. An ihnen scheint die Freiheit zu scheitern. Doch Sartre argumentiert anders. Er sagt: „Besonders der Widrigkeitskoeffizient der Dinge kann kein Argument gegen unsere Freiheit sein, denn durch uns, das heißt durch die vorherige Setzung eines Zwecks, taucht dieser Widrigkeitskoeffizient auf“ (ebd. 834). Nur für denjenigen, der einen Berg besteigen will, dem seine Kräfte nicht gewachsen sind, ist der Berg unbezwingbar. Es ist der Bergsteiger selbst, der
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XII. Das absolute Ich – Das Konzept der Subjektivität
einen für ihn unbezwingbaren Berg gewählt hat. Anders und überspitzt ausgedrückt, heißt das: „Und in gewissem Sinn bin ich es, der seinen Körper als schwächlichen wählt, indem ich ihn vor Schwierigkeiten stelle, die ich entstehen lasse (Bergsteigen, Radfahren, Sport)“ (ebd. 845). Wie aber steht es mit den Gegebenheiten der Vergangenheit? Stellen sie nicht unabänderliche und unbezwingbare Notwendigkeiten dar, mit denen ich mich abzufinden habe? Sartres Antwort lautet: Die Vergangenheit ist uns gegeben in der Weise der Erinnerung und diese ist für uns nicht manipulierbar. Entscheidend ist aber etwas anderes. Sartre bemerkt: „Es gibt zwar eine ‚reine‘ Materie der Erinnerung, (. . .) aber wenn sie sich manifestiert, dann immer in einem Entwurf (. . .). Die Bedeutung der Vergangenheit ist also streng abhängig von meinem gegenwärtigen Entwurf“ (ebd. 860). Die gegenwärtige Situation eines Menschen ist zwar auch durch seine Vergangenheit zu charakterisieren und diese ist nicht mehr zu ändern, falsch aber wäre es, in ihr ein endgültiges Schicksal zu sehen. Sartre bemerkt: „Für uns ist der Mensch vor allem durch das Überschreiten einer Situation gekennzeichnet, durch das, was ihm aus dem zu machen gelingt, was man aus ihm gemacht hat“ (Sartre, 1971, 75). Der Materialismus, der von der Determiniertheit allen Geschehens ausgeht, stellt einen weiteren Einwand gegen die Freiheit dar. Sartre unterscheidet den zu seiner Zeit erörterten dialektischen Materialismus von dem historischen Materialismus. Der dialektische Materialismus unterscheidet sich von dem älteren mechanischen dadurch, dass er die Materie als einen Prozess versteht, in dem die Quantität in Qualität umschlägt. In seinem Aufsatz Materialismus und Revolution aus dem Jahre 1946 setzt sich Sartre mit diesem Materialismus auseinander. Er zitiert Engels, der den Umschlag von Quantität in Qualität bei dem Übergang des erhitzten Wassers vom flüssigen in den gasförmigen Zustand glaubt feststellen zu können (vgl. Sartre, 1994 a, 165). Für Sartre jedoch gleicht dieser Vorgang nicht „im geringsten einem dialektischen Prozeß“ (ebd. 167). Das erhitzte Wasser erhöht z. B. den Druck im Kessel, treibt einen Kolben an und wird wieder zu Wasser. Das ist ein Kreislauf, aber keine Dialektik. Sie verbleibt im Bereich der Äußerlichkeit, der Exteriorität. Sartre fragt: „Wie soll man in dieser Exteriorität Platz finden für die absolute Interioritätsbewegung, wie sie die Dialektik darstellt?“ (ebd. 169). Tatsächlich aber schwankt der dialektische Materialismus selbst in seiner Auffassung, wenn es sich z. B. um die Erklärung der Entstehung des Lebens aus Materie handelt. Sartre charakterisiert die widersprüchlichen Argumente der Materialisten so: „So werden sie Ihnen mit derselben Gelassenheit das einemal sagen, Leben sei nichts als eine komplexe Verkettung physikalisch-chemischer Erscheinungen, und ein andermal, es sei ein nichtreduzierbares Moment der natürlichen Dialektik“ (ebd.). Nicht anders verhält es sich mit dem historischen Materialismus. Sartre zitiert Stalin, der die These vertritt, dass die materiellen Bedingungen der Gesellschaft, die in ihr vertretenen Ideen determinieren, während diese die Bedingungen widerspiegeln (ebd. 171). Andererseits aber entstehen nach Stalin neue Ideen dadurch, dass die Gesellschaft in ihrer Entwicklung vor „neue Aufgaben“ gestellt wird (ebd. 172). Das Fazit ist: Die Leugnung der Freiheit durch den Materialismus überzeugt deshalb nicht, weil er in sich selbst nicht konsistent ist. Sartre fasst seine Kritik am Materialismus so zusammen:
3. Die Freiheit des Subjekts (Sartre)
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„Jeder Materialismus hat zur Folge, daß die Menschen, die eigene Person eingeschlossen, als Objekte behandelt werden, das heißt als eine Gesamtheit determinierter Reaktionen, die durch nichts unterschieden ist von einer Gesamtheit von Eigenschaften und Erscheinungen, die einen Tisch oder einen Stuhl oder einen Stein konstituieren. Wir aber wollen das Reich des Menschen als eine Gesamtheit von Werten konstituieren, die sich vom Reich des Materiellen unterscheiden“ (ebd. 133).
In einer ganz anderen Weise wird das Prinzip der Freiheit durch die von Freud entwickelte Lehre des Unbewussten in Frage gestellt (vgl. Kap. VIII, 2). Deutlich genug spricht Freud von der Determiniertheit unseres Seelenlebens und weist darauf hin, dass der Mensch nicht Herr im eigenen Hause ist. Das Unbewusste, das weder eine körperlich bestimmte Ursache hat, noch eine im Bewusstsein liegende, stellt eine eigene Kraft dar, die unsere Handlungen bestimmt. Sie äußert sich z. B. in Fehlleistungen, d. h. unbewussten, gefühlsmäßig gesteuerten Handlungen. Sartres Einwand gegen die Existenz des Unbewussten, die das Bewusstsein und damit die Freiheit des Menschen bedroht, besteht darin, dass er den Menschen für seine Gefühle verantwortlich macht. Sartre erläutert diesen Gedanken am Gefühl der Traurigkeit. Sie zeigt sich so: „Sie ist der Sinn dieses trüben Blicks, den ich auf die Welt werfe, dieser gebeugten Schultern, dieses Kopfes, den ich hängen lasse, dieser Schlaffheit meines ganzen Körpers“ (Sartre, 1994, 142). Doch das Gefühl determiniert nicht eindeutig diese Darstellungsformen. Ein Fremder tritt ein, und sofort ändere ich mein Verhalten. Daher fragt Sartre: „Ist übrigens diese Traurigkeit nicht selbst ein Verhalten, ist es nicht das Bewußtsein, das sich selbst mit Traurigkeit affiziert als magischer Zuflucht gegen eine zu bedrängende Situation? Und heißt in diesem Fall traurig sein nicht zunächst sich traurig machen“ (ebd. 143). Dasselbe gilt für die Leidenschaften. Leidenschaften sind keine den Menschen fremdbestimmende Macht. Sartre betont: „Der Existentialist glaubt nicht an die Macht der Leidenschaft. Er wird nie meinen, eine schöne Leidenschaft sei eine alles mitreißende Flut, die den Menschen schicksalhaft zu bestimmten Taten zwingt und daher eine Entschuldigung ist. Er meint, der Mensch ist für seine Leidenschaft verantwortlich“ (Sartre, 1994 a, 125).
Der Mensch ist weder durch seine Gefühle und Leidenschaften determiniert noch durch das Unbewusste, das von ihnen gesteuert wird. Sartre entwickelt als Alternative zur Psychoanalyse Freuds das Konzept einer ‚existentiellen Psychoanalyse‘ (vgl. Sartre, 1994, 956). In ihr wird der Begriff des Unbewussten ersetzt durch den der „Unaufrichtigkeit“ (ebd. 119), der ein Akt des Bewusstseins ist. Wenn also der Mensch frei ist und nicht determiniert, dann ist er es selbst, der das ist, „wozu er sich macht“, der so sein wird, „wie er sich geschaffen haben wird“ (Sartre, 1994 a, 120f.). Zu dem Konzept des Menschen als Schöpfer seiner selbst steht aber das religiöse Modell eines Schöpfergottes in Konkurrenz. Wer die Freiheit des Menschen behauptet, kann es nicht akzeptieren. Sartre argumentiert gegen die Idee eines Schöpfergottes so:
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XII. Das absolute Ich – Das Konzept der Subjektivität
„Wenn wir einen Schöpfer-Gott annehmen, ist dieser Gott meistens einem höheren Handwerker vergleichbar (. . .). So ist der Begriff des Menschen im Geiste Gottes dem Begriff des Brieföffners im Geiste des Produzenten vergleichbar; und Gott schafft den Menschen (. . .) genauso wie der Handwerker einen Brieföffner (. . .) herstellt“ (ebd. 120).
Das, was der Mensch ist, sein Wesen, wäre damit bereits bei seiner Geburt festgelegt. Das widerspricht allerdings dem Konzept, dass es der Mensch selbst ist, der sich in Freiheit zu dem macht, was er ist. Mit Emphase betont Sartre die schöpferische Kraft des Menschen. In seinem Aufsatz Die cartesianische Freiheit aus dem Jahre 1945 charakterisiert er die „schöpferische Freiheit“ des Menschen in einer an Fichte erinnernden Formulierung so: Der „Mensch ist das Wesen, dessen Auftreten bewirkt, daß eine Welt existiert“ (ebd. 116). Der Mensch schafft sich, indem er sich selbst wählt. Das ist der Grundgedanke der Anthropologie Sartres. Der Mensch wählt sich, indem er handelt. Die Handlungen sind nicht Äußerungen eines ihnen zugrundeliegenden Seins, vielmehr erschafft der Mensch durch seine Handlungen erst sein Sein. Sartre erläutert das an einem Beispiel: „Beobachten wir einen Kellner im Café. Er hat lebhafte und eifrige Bewegungen, etwas allzu präzise, etwas allzu schnelle (. . .). Er spielt, es macht ihm Spaß. Aber was spielt er? Man braucht ihn nicht lange zu beobachten, um sich darüber klar zu werden: er spielt Kellner sein“ (Sartre, 1994, 139f.).
Falsch wäre der Gedanke, dass dieses Spiel durch seine Berufsrolle bedingt sei und er zuhause diese Rolle ablegen und er selbst sein könne; denn zuhause spielt er andere Rollen: den treusorgenden Familienvater, den griesgrämigen Ehemann oder den menschenscheuen Misanthropen. Ein ganz anderes Beispiel der Selbstwahl erörtert Sartre in seinem Essay Betrachtungen zur Judenfrage aus dem Jahre 1945. Hier findet die Selbstwahl des Subjekts in einer feindseligen, durch Antisemitismus bestimmten, Umwelt statt. Sartre charakterisiert die Ideologie des Antisemitismus dadurch, dass er zeigt, dass der Antisemit stets bemüht ist, irgendwelche objektiven Kriterien für seine Ablehnung der Juden aufzuführen. Irgendeine schlechte Erfahrung mit einem Juden wird als Beleg für die Berechtigung des Antisemitismus genommen. Doch alle Begründungen sind fadenscheinig. Tatsächlich handelt es sich beim Antisemitismus um folgenden Sachverhalt: „Es zeigt sich, daß der Antisemitismus des Antisemiten von keinem äußeren Faktor herstammen kann. Der Antisemitismus ist eine selbstgewählte Haltung der ganzen Persönlichkeit, eine Gesamteinstellung nicht nur dem Juden gegenüber, sondern auch den Menschen im allgemeinen, der Geschichte und der Gesellschaft gegenüber. Er ist gleichzeitig eine Leidenschaft und eine Weltanschauung“ (Sartre, 1980, 113).
Es sind also die Antisemiten, die den Juden zwingen, sich mit seiner Situation auseinanderzusetzen und sich selbst zu wählen. Dabei eröffnen sich ihm mehrere Möglichkeiten. Er kann die ihm zugeschriebene Sonderrolle ablehnen und sich auf allgemein
3. Die Freiheit des Subjekts (Sartre)
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gültige Menschenrechte berufen. Er kann versuchen, sein Judentum zu verleugnen oder es akzeptieren und sich öffentlich dazu bekennen. Tut er dies, so ergeben sich wiederum zumindest zwei Möglichkeiten: Er tut es demutsvoll und unterwürfig oder aber, indem er selbstbewusst sein Bild vom Judentum der Gesellschaft präsentiert. Für welche der verschiedenen Handlungsalternativen er sich auch entscheidet, er wählt mit der von ihm ausgeführten Handlung zugleich sich selbst. Alles Handeln geschieht in einem zwischenmenschlichen Kontext. Der andere Mensch wird daher für das handelnde Subjekt zu einem Problem. Mit ihm verbindet sich eine prinzipielle Frage. Sie lautet: Woher weiß das Subjekt, dass der andere Mensch ebenfalls ein Subjekt ist? Mit dieser Frage ist das Problem der Intersubjektivität angesprochen, dem Sartre intensive Studien gewidmet hat. Die Frage lautet: Wie unterscheidet sich ein Mensch von einem Ding, wie ein Subjekt von einem Objekt? In einem Kapitel seines Werks Das Sein und das Nichts, das überschrieben ist mit ‚Der Blick‘, schildert Sartre die entscheidende Wende im Denken des Subjekts, die dazu führt, den Anderen nicht als einen Gegenstand, sondern als ein Subjekt anzusehen. Er sagt: „Die Frau, die ich auf mich zukommen sehe, der Mann, der auf der Straße vorübergeht, der Bettler, den ich von meinem Fenster aus singen höre, sind für mich Gegenstände, daran besteht kein Zweifel“ (Sartre, 1994, 457). Betrachte ich die Gegenstände genauer, ihre Formen, ihre Bewegungen, so könnte ich sie für Puppen halten. Wie komme ich dazu, diese Puppen als Subjekte anzusehen? Nach Husserl geschieht das durch eine Art Analogieschluss, durch eine „Ähnlichkeitsapperzeption“. Sartre geht einen anderen Weg. Er schildert in einem Gedankenexperiment folgende Situation: Jemand schaut aus Eifersucht oder Neugier durch ein Schlüsselloch. Er ist in seinem Bewusstsein nur auf den Gegenstand seines Interesses gerichtet, nicht auf sich. Aus diesem Grunde wird er auch sein eigenes Verhalten nicht beurteilen. Nun aber bemerkt er, dass er von einem Anderen gesehen wird. Schlagartig wird er sich dessen bewusst, dass er selbst zum Objekt eines fremden Beobachters geworden ist, und in diesem Moment wird es ihm möglich, auf sich und seine Handlung zu reflektieren. Das, was sich dabei einstellt, ist Scham. Sartre bemerkt: Die „Scham oder der Stolz enthüllen mir den Blick des Andern und mich selbst am Ziel dieses Blicks, sie lassen mich die Situation eines Erblickten erleben“ (ebd. 471). Es ist der Blick eines anderen Subjekts und nur der eines Subjekts, der mir meine eigene Subjektivität und die des Anderen enthüllt; denn nur beim Erblicktwerden durch ein anderes Subjekt stellt sich Scham ein. Nur ein anderes Subjekt kann mich zum Objekt einer Beurteilung machen, die ich ablehne oder akzeptiere. In jedem Fall aber wird durch die Existenz des anderen Subjekts nicht nur die eigene Subjektivität aufgedeckt, sondern zugleich der Bereich der Intersubjektivität. Sartre erläutert diesen Sachverhalt so: „Um zu irgendeiner Wahrheit über mich zu gelangen, muß ich durch den anderen gehen. Der andere ist für meine Existenz unentbehrlich, wie übrigens auch für die Kenntnis, die ich von mir selbst habe. Unter diesen Bedingungen entdeckt mir die Entdeckung meines Innersten zugleich auch den anderen, als eine mir gegenüberstehende Freiheit, die nur für oder gegen mich denkt und will. So entdecken wir sofort eine Welt, die wir InterSubjektivität nennen werden, und in dieser Welt entscheidet der Mensch darüber, was er ist und was die anderen sind“ (Sartre, 1994 a, 133).
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XII. Das absolute Ich – Das Konzept der Subjektivität
Sartres Konzept der Intersubjektivität unterscheidet sich von dem Husserls dadurch, dass nicht das „absolute ego“ das andere Subjekt in einem Akt der transzendentalen Reflexion „setzt“, sondern dass sich das Subjekt erst im Kontext der Intersubjektivität in seiner eigenen Subjektivität entdeckt. Das Subjekt ist bei Sartre daher auch keine Monade wie bei Husserl und auch nicht im strengen Sinne ein Individuum. Sartre betont: „Die Subjektivität, die wir so als Wahrheit ausmachen, ist jedoch keine streng individuelle, denn wir haben nachgewiesen, daß man im cogito nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen entdeckt (. . .). Er wird sich dessen bewußt, daß er nichts sein kann (. . .), wenn nicht die anderen ihn als solchen anerkennen“ (ebd.).
Das Verhältnis des einen Subjekts zum anderen ist ein wechselseitiger Kampf um Anerkennung. Die Freiheit des einen Subjekts steht der des Anderen gegenüber. Anerkennung durch Andere bedeutet aber keineswegs in jedem Fall, sich dem Urteil der Anderen zu unterwerfen, sondern lediglich die wechselseitige Behauptung der Freiheit. Das Konzept der Intersubjektivität im Sinne einer wechselseitigen Anerkennung von Freiheit ist auch Thema seiner Überlegungen zum Verhältnis des Schriftstellers zu seinem Leser. In seinem Buch Was ist Literatur? hat Sartre in bemerkenswerter Weise das Modell einer kooperativen Intersubjektivität entworfen. Er unterscheidet zunächst den Schriftsteller von dem Dichter. Der Dichter weigert sich, die Worte als Mittel zur Mitteilung eines Inhalts zu gebrauchen. Die Worte haben für ihn selbst den Charakter von Dingen mit einem eigenen Wert und einer eigenen Würde. Der Schriftsteller dagegen teilt einen Inhalt mit und er ist mit seinen Worten an diesen Inhalt gebunden; er ist engagiert. Entscheidend ist jedoch, dass Sartre die Literatur weder unter dem Aspekt der Produktionsästhetik, noch unter dem der Rezeptionsästhetik thematisiert. Die Vorstellung, der Künstler sei der Produzent eines Kunstwerkes, das zunächst aus sich heraus als Kunstwerk existiere und das dann, in einem zweiten Akt, vom Rezipienten aufgenommen würde, ist falsch. Sartres Überlegungen zur Ästhetik haben in dem Gedanken ihr Zentrum, dass dem Leser keineswegs nur die passive Rolle des Aufnehmens zukommt, sondern dass das Kunstwerk überhaupt erst im Zusammenspiel von Schriftsteller und Leser entsteht. Der Schriftsteller richtet mit seinem Werk einen Appell an den möglichen Leser, und es liegt in der Freiheit des Lesers, diesen Appell aufzugreifen und ihm durch den Akt des Lesens eine eigene Gestalt zu geben. Sartre sagt: „Wenn ich an meinen Leser appelliere, daß er das Unternehmen, das ich begonnen habe, zu Ende führe, so betrachte ich ihn selbstverständlich als reine Freiheit, reines schöpferisches Vermögen, unbedingte Tätigkeit; ich könnte mich also in gar keinem Fall an seine Passivität wenden“ (Sartre, 1986, 43).
Das literarische Kunstwerk existiert als Kunstwerk nur durch die gemeinsame Anstrengung von Schriftsteller und Leser. Daher sagt Sartre: „Aber der Vorgang des Schreibens schließt den des Lesens ein als sein dialektisches Korrelat, und diese beiden zusammen-
3. Die Freiheit des Subjekts (Sartre)
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hängenden Handlungen erfordern zwei verschiedene Handelnde. Die gemeinsame Anstrengung von Autor und Leser wird jenen konkreten und imaginären Gegenstand auftauchen lassen, der das Werk des Geistes ist. Kunst gibt es nur für und durch andere“ (ebd. 39). Das Kunstwerk entsteht in dem kooperativen Zusammenspiel der Intersubjektivität. In seinem zweiten philosophischen Werk Kritik der dialektischen Vernunft, das 1960 erschien mit dem einleitenden Essay Marxismus und Existenzialismus aus demselben Jahr, erörtert Sartre das Problem der Intersubjektivität im Kontext der Geschichte. Dort entwickelt er eine alternative Geschichtsauffassung zum historischen Materialismus. Der Hauptvorwurf, den er dem orthodoxen Marxismus macht, besteht darin, dass dieser reduktionistisch vorgeht. Er nivelliert und gliedert ein. Das Individuum ist für ihn nur der Vertreter einer bestimmten Klasse. Er glaubt, dass er es hinreichend bestimmt hat, wenn er die allgemeinen Merkmale der Klasse aufzählt. Sartre erläutert den Mangel der bisherigen marxistischen Geschichtsbetrachtung am Beispiel des Schriftstellers Flaubert. Er bemerkt: „Der Marxismus gliedert ein, aber er entdeckt sonst weiter nichts: er läßt andere, der Prinzipien ermangelnde Disziplinen die genauen Lebensumstände und persönlichen Momente festlegen und macht sich dann sogleich an den Nachweis, daß seine Schemata sich einmal mehr bewahrheitet haben: unter den vorliegenden Umständen und bei dieser oder jener Form des Klassenkampfes mußte Flaubert, der dem Bürgertum angehörte, leben, wie er gelebt hat, und schreiben, was er geschrieben hat. Was man jedoch gerade mit Schweigen übergeht, ist die Bedeutung dieser drei Worte: ‚dem Bürgertum angehören‘“ (Sartre, 1971, 49).
Sartres Ansatz, in dem er Existenzialismus und Marxismus zu verbinden sucht, besteht in dem Versuch, am Beispiel Flauberts zu zeigen, wie genau sich Flaubert als Subjekt in dem intersubjektiven Geflecht der Geschichte entwickelte, durch das er selbst zu einem konstitutiven Teil in ihr wurde. Das Konzept, das Sartre für sein Geschichtsverständnis entwarf, nennt er die „progressiv-regressive Methode“. Unter dem Aspekt der Regression sind die Momente zu erwähnen, die das Signum der Epoche ausmachen, der er angehörte. Dazu gehören auch die konkreten Lebensumstände seiner Familie, einschließlich der Einschätzungen und Erwartungen, denen er ausgesetzt war. Aber mit der Aufzählung dieser Momente ist Flaubert als Schriftsteller und Person nicht hinreichend interpretiert. Entscheidend ist vielmehr, und das macht den progressiven Aspekt aus, in welcher Weise er auf die ihm zugeschriebene Rolle eines bedächtigen und intellektuell eher schwerfälligen Kindes antwortete. Er wurde zum Schriftsteller und zum Autor des Werkes Madame Bovary. Die Interpretation dieses Werks zeigt den „Schwung, der von den erlebten Dunkelheiten aus zur endgültigen Objektivierung führt, mit einem Wort, zu dem Entwurf, durch den sich Flaubert, um dem Kleinbürgertum zu entgehen, durch verschiedene Möglichkeitsbereiche auf die entfremdete Objektivation seiner selbst stürzte und sich absolut und unabweisbar zum Autor der ‚Madame Bovary‘ und zu diesem Kleinbürger machte, der zu sein er sich weigerte“ (ebd. 117).
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XII. Das absolute Ich – Das Konzept der Subjektivität
Geschichte ist nicht – so Sartre – ein vorgefertigtes Schema, nach dem die Ereignisse und Personen verrechnet werden könnten, sondern ein offener, dialektischer Prozess, in dem eine intersubjektive Totalität von Relationen erzeugt, zerstört und neu erzeugt wird. Die marxistische Geschichtsanalyse liefert einen wichtigen Beitrag zum Verständnis dieses Prozesses, aber sie gibt nur die halbe Wahrheit. Sie muss ergänzt werden durch die subjektiven Entwürfe, ohne die es keine Geschichte im menschlichen Sinne geben könnte. Am Ende seines Werks Das Sein und das Nichts kündigt Sartre ein neues Buch an, in dem er die „moralischen Perspektiven“ des Existenzialismus auszuführen gedenkt. Er hat dazu Notizen angefertigt, die inzwischen als Nachlass veröffentlicht worden sind (vgl. Sartre 2005). Ein Grundmotiv seiner ethischen Überlegungen besteht darin, dass es keine metaphysisch vorgegebenen Normen des Handelns gibt. Der Mensch ist frei, und mit seinem Handeln entwirft er sich selbst. Gleichwohl hat sein Handeln keineswegs nur eine Bedeutung für ihn als individuelles Subjekt, sondern eine allgemeine. Die zentrale Aussage hierzu lautet: „Wenn wir sagen, der Mensch wählt sich, verstehen wir darunter, jeder von uns wählt sich, doch damit wollen wir auch sagen, sich wählend wählt er alle Menschen. In der Tat gibt es für uns keine Handlung, die, den Menschen schaffend, der wir sein wollen, nicht auch zugleich ein Bild des Menschen hervorbringt, wie er unserer Ansicht nach sein soll“ (Sartre, 1994 a, 121).
Das bedeutet: Die Verbindlichkeit bekommt eine Handlung nicht dadurch, dass sie aus einer allgemeinen vorgegebenen Handlungsnorm abgeleitet werden könnte, sondern dadurch, dass mit jeder einzelnen Handlung ein allgemeiner Maßstab mit erzeugt wird, an dem sich der Handelnde auch selbst messen lassen muss. Dadurch lastet auf dem Handelnden eine außerordentliche Verantwortung; denn er muss sich stets fragen, ob seine Handlung dem Gedanken allgemeiner Verbindlichkeit standhält. Jedes Handeln geschieht mit Blick auf die ganze Menschheit. Aber es gilt auch das Umgekehrte. Sartre formuliert den Gedanken so: „Alles geschieht so, als ob bei jedem Menschen die ganze Menschheit den Blick auf sein Handeln gerichtet hätte, und sich nach seinem Handeln richten würde. Und jeder Mensch muß sich sagen: bin ich auch der, der das Recht hat, so zu handeln, daß die Menschheit sich nach meinen Taten richten kann?“ (ebd. 123). Die Wirkungsgeschichte Sartres enthält mehrer Aspekte. Als Autor zahlreicher Dramen hat er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der europäischen Diktaturen das Bewusstsein der Freiheit und eines politischen Neuanfangs wesentlich mitbestimmt. Sein politisches Engagement hat zu einer Sensibilisierung für die unterschiedlichen, weltweiten Formen alter und neuer Unterdrückung beigetragen. Im Bereich der Philosophie bildete der von ihm vertretene Existenzialismus ein Korrektiv zur marxistischen Ideologie, aber auch zur marxistischen Philosophie. Innerhalb der Medizin fand sein Konzept einer existentiellen Psychoanalyse bei den britischen Psychiatern David G. Cooper und Ronald D. Laing große Beachtung.
3. Die Freiheit des Subjekts (Sartre)
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Epilog: Natur – Freiheit – Vernunft. Zur Situation der Person
Die Situation eines Menschen zu bestimmen, verbindet sich mit der Aufgabe, Aussagen zu seiner Existenz in der Welt zu machen; denn ‚Situation‘ bedeutet nichts anderes als das konkrete In-der-Welt-Sein des Menschen. Jede Definition des Menschen impliziert daher den Weltzusammenhang, von dem der Mensch ein Teil ist. Das trifft für alle der hier dargestellten Konzepte zu; allerdings mit einer Ausnahme: Sie betrifft die Philosophie der Subjektivität. Sofern mit ihr nicht nur die Fähigkeit der Reflexion eines weltgebundenen Menschen gemeint ist, sondern der Mensch als Ganzes als Subjekt verstanden wird, ist dieses jenseits der Welt. Es ahmt die Position nach, die in der Theologie Gott zugedacht wurde. Bemerkenswert jedoch ist, dass die Autoren, die diese extreme Auffassung vertreten haben, wie etwa Fichte, Husserl und Sartre, sich im Laufe ihres Denkens korrigiert haben, die Haltlosigkeit des Gedankens eines absoluten Ichs erkannten und die vorrangige Existenz der Welt rehabilitierten (vgl. Kap. XII). In allen anderen Konzepten schließt die Definition des Menschen seine Situation in der Welt selbstverständlich ein. Aber das Selbstverständliche wird vielfach selbst nicht mehr problematisiert. Vielmehr wird nicht selten der Mensch als ein Seiendes unter anderen verstanden, von ihnen unterschieden, in seinen besonderen Merkmalen untersucht und auf diese Weise isoliert betrachtet. Der Weltbezug wird weitgehend ausgeblendet und wird nicht konstitutiver Teil der Definition des Menschen selbst. Im Unterschied dazu soll im Folgenden die konkrete Situation des Menschen in der Welt thematisiert werden. Das wird in vier Schritten erfolgen: In einem ersten Schritt soll gezeigt werden, dass der Mensch, wie jedes andere Lebewesen auch, ein Teil der Natur ist, in ihr jedoch eine besondere Stellung einnimmt; der zweite zeichnet die Entwicklung des Kindes zur Person nach; der dritte erläutert die praktische Freiheit der Person am Leitfaden des Begriffs Handlung und im letzten Schritt soll die pragmatische Vernunft als die maßgebliche Weltorientierung aufgewiesen werden, die für die Bildung der Identität der Person von Bedeutung ist. Leitend ist bei diesen Überlegungen der Gedanke, dass der Mensch den Bereich des natürlich bedingten Verhaltens überschreitet. Ihm eröffnet sich als Person ein Spielraum der Freiheit. Die in ihm erfolgenden Handlungen finden in der pragmatischen Vernunft eine Orientierung. Das Ziel der Handlungen ist die Identität der Person. We-
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Epilog: Natur – Freiheit – Vernunft. Zur Situation der Person
sentliche Einsichten einiger der im Hauptteil des Buches behandelten Autoren, z. B.. die von Platon, Aristoteles und Kant, aber auch die von Darwin, Plessner und Portmann werden dabei berücksichtigt. Die folgenden Ausführungen stellen daher zum Teil eine Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse ihrer Positionen am Leitfaden des Begriffs der Person dar.
1. Die Stellung des Menschen in der Natur Wir verdanken die grundlegende Bedeutung des Begriffs Natur den Griechen. Er wurde für sie zum Leitgedanken ihres Verständnisses der Welt. Das griechische Wort für Natur lautet ‚physis’. Es verbindet sich in elementarer Weise mit dem Lebendigen. Seine Grundbedeutung umfasst das Spektrum der Begriffe: „Erzeugung“, „Geburt“, „Abstammung“, „Herkunft“, „Ursprung“. Das Wort beschreibt die Beschaffenheit eines Dings, das ‚von sich aus’ da ist. Den Gegensatz bildet alles Gemachte und vom Menschen Hergestellte. Die Merkmale der ‚physis‘ schrieben die Griechen nun auch der Welt im Ganzen zu, die sie als eine von sich aus bestehende Ordnung, als einen durch Schönheit ausgezeichneten „Kosmos“, interpretierten. Die grundlegenden Kennzeichen des Begriffs ‚physis‘ blieben auch erhalten, als die römischen Schriftsteller dieses Wort ins Lateinische übersetzten. Das Wort ‚natura‘, von dem das deutsche Wort ‚Natur‘ abgeleitet ist, meint: „Geburt“, „Beschaffenheit“, „Wesen“, „Charakter“, „Weltordnung“ und „Weltall“, um nur die wichtigsten Bedeutungen zu nennen. Die Begriffe ‚physis‘ und ‚natura‘ umfassen drei Aspekte: zum einen meinen sie das, was von sich aus da ist, im Unterschied zu allem Gemachten und zweitens, die stets aus ihrem Gewordensein, ihrem Ursprung, ihrer Geburt herkommende Beschaffenheit eines Dings, das Wesen einer Sache, und drittens die als eine Ordnung gedachte Welt im Ganzen. Die Interpretation der Welt als Kosmos, d. h. als eine natürliche, von sich her bestehende Ordnung, ist nicht selbstverständlich. Sie widerspricht der biblischen Auffassung, nach der die Welt eine Schöpfung Gottes ist mit einem bestimmten Anfang und einem bestimmten Ende. Als solche ist sie ein geschichtlich zu denkender „Äon“, der vergeht und nicht ein natürlicher „Kosmos“, der ungeschaffen und beständig ist. Dass der Mensch ein Lebewesen ist, das, wie andere auch, ein Teil der natürlichen Welt ist, die mit ihren immer wiederkehrenden Abläufen den verlässlichen Rahmen bildet für alles was ist, also auch für den Menschen, gehört zu den frühen Einsichten der Griechen. Homer vergleicht das menschliche Geschlecht mit den Blättern des Waldes, die hervorsprossen, sich entfalten, welken, zu Boden fallen und vergehen. Sehr bald wurde jedoch deutlich, dass der Mensch, selbst im Vergleich mit den Tieren, gravierende Mängel aufweist. Der Mensch ist, wie der Promeutheusmythos erläutert, nackt, „unbeschuht“ und „unbewaffnet“ (vgl. Kap. V, 1). Doch diese Mängel werden kompensiert durch Fähigkeiten, die die Götter den Menschen verleihen: das Feuer, Wissenschaft und Künste. Von besonderer Bedeutung ist, wie Aristoteles betont, die Sprache und – mit ihr verbunden – die Grundsätze der Gerechtigkeit, ohne die das Zusammenleben in der ‚polis‘ nicht möglich wäre. Ohne die Sprache, jenes, wie Platon bereits im Dialog Kratylos erörterte, frei vereinbarte System von Zeichen, wäre Verständigung nicht möglich und daher auch keine Einrichtung einer politischen Ordnung. Die von den Bürgern ver-
1. Die Stellung des Menschen in der Natur
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einbarte politische Ordnung mag sich die Naturordnung – wie Platon meinte – zum Vorbild nehmen, sie ist selbst aber keine natürliche Ordnung. Der Mensch folgt in seiner Lebenstätigkeit nicht einfach einer vorgegebenen Naturordnung, sondern entwickelt über ihr seine eigene. Zwischen beiden besteht eine Differenz. Man kann sie als die, dem Menschen eigentümliche, anthropologische Differenz bezeichnen. Unter biologischen Gesichtspunkten zeigt sich diese Differenz als Instinktreduktion. Darauf haben bereits Kant und, nach ihm, Herder nachdrücklich hingewiesen. Kant betont, dass die Natur selbst dem Menschen den Freiraum gegeben habe, der es ihm ermöglicht, sein Leben nach eigenen Prinzipien zu gestalten. Er denkt dabei an eine Natur, die keineswegs nur als ein naturgesetzlich bestimmter Kausalzusammenhang zu verstehen ist, sondern an eine solche, die „weise Absichten“ verfolgt. Die Freiheit, die den Menschen vom Tier unterscheidet, wird auch für Herder zum entscheidenden Kriterium, das die Sonderstellung des Menschen deutlich macht (vgl. Kap. V, 2). Der Mensch ist der „erste Freigelassene der Schöpfung“, der aufgrund seiner Freiheit nicht nur die Sprache erfindet, sondern über Vernunft verfügt und zwischen dem „Guten und Bösen“ eine Wahl treffen kann. Für Herder ist es eine spielende Natur, die gleichursprünglich ihre verschiedenen Lebensgestalten hervorbringt. Eine Genealogie, die einen Übergang von einer Form in eine andere annimmt, lehnt er ab. Dieser Ansatz entstand erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der streng naturwissenschaftlich abgeleitete Gedanke der Evolution erfährt erst bei Darwin seinen, die Auffassung vom Menschen revolutionierenden, Durchbruch (vgl. Kap. VIII, 1). Das Konzept einer Naturgeschichte, von Kant bereits in astronomischen Zusammenhängen gedacht, wird nun auf die Entwicklung des Lebens übertragen. Die wirklich provozierende These von Darwin besteht darin, dass er nicht nur die Natürlichkeit des Menschen betont, sondern die Kluft zwischen Mensch und Tier zu überbrücken sucht, ihre enge Verwandtschaft aufzeigt und mehr noch, die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich beweist. Damit hat er nicht nur den kirchlichen Schöpfungsglauben in Frage gestellt, sondern auch die Sonderstellung des Menschen relativiert. Auffallend sind für ihn vor allem die großen Ähnlichkeiten, die zwischen tierischen und menschlichen Embryonen bestehen. Beim Studium ausgewachsener Tiere zeigt sich die Verwandtschaft des Menschen mit dem Tierreich vor allem bei den großen Menschenaffen. Darwin legt dar, dass die Menschen „affenähnliche Vorfahren“ haben. Der Übergang zum Menschen erfolgte dadurch, dass diese Vorfahren den Wald als ihren gewohnten Lebensraum verließen und sich in die Savanne begaben. Die Fortbewegungsart musste der Ebene angepasst werden. Das provozierte einen erheblichen Gestaltwandel. Der Greiffuß veränderte sich so, dass ein bipedes Gehen möglich wurde. Damit einhergehend entwickelte sich der aufrechte Gang. Eine entscheidende Bedeutung kam der Umformung des Schädels zu. Das Gebiss trat zurück, das Volumen des Gehirns vergrößerte sich beträchtlich. Die Hände wurden zu Greifwerkzeugen. Als Hauptmotor der Evolution stellt Darwin die natürliche Selektion heraus. Darwins Ausgangsthese lautet: Alles Leben kann sein Überleben nur dadurch garantieren, dass es kämpft. Das Leben ist bestimmt durch einen Kampf ums Dasein. Das bedeutet, dass in schwierigen Situationen das Lebewesen am ehesten überlebt, das seiner Umgebung am besten angepasst ist. Bei der Anpassung an die Umwelt spielen zwei Faktoren eine
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Epilog: Natur – Freiheit – Vernunft. Zur Situation der Person
wichtige Rolle. Den einen Faktor hat Darwin von Lamarck übernommen. Er besteht in der Vererbung erworbener Eigenschaften. Das betrifft nicht nur erworbene körperliche Eigenschaften, sondern sogar moralisch relevante Verhaltensweisen. Der zweite Faktor besteht in den zufälligen Variationen im Bereich der Fortpflanzung. Das gesunde und starke Jungtier hat eine größere Überlebenschance als sein schwächliches Geschwister. Das, was der Tierzüchter mit seinen eigenen Züchtungszielen bewusst vornimmt, erfolgt in der außermenschlichen Natur durch das Prinzip der natürlichen Selektion. Obgleich Darwin mit seinem Ansatz der Evolutionstheorie zum Durchbruch verholfen hat, haften ihr zwei Mängel an: Zum einen ist die These von der Vererbung erworbener Eigenschaften falsch und zum anderen hat er das von Mendel entdeckte Prinzip der Mutation nicht zur Kenntnis genommen. Hinsichtlich des Tier-Mensch-Vergleichs ist Darwin bemüht, in allen relevanten Aspekten den Unterschied des Menschen zum Tier möglichst gering zu halten. Überall betont er, dass es zwischen Mensch und Tier nur graduelle Unterschiede gebe. Das betrifft bereits das Selbstbewusstsein, das Darwin in Ansätzen bereits Hunden zubilligt. Es betrifft die Sprache, die er bis zu einem gewissen Grad bereits bei „Papageien und anderen Vögeln“ glaubt entdecken zu können. Das dritte ist der Schönheitssinn, der innerhalb der geschlechtlichen Zuchtwahl auch bei Tieren eine Rolle spielt. Sogar der religiöse Sinn ist bei den Tieren in primitiven Formen bereits anzutreffen. Er besteht in der Bereitschaft sich einem anderen, höheren Wesen, vollständig zu unterwerfen. Für den Hund ist der Mensch dieses Wesen. Den letzten Bereich bildet der Bereich des Sozialen. Das Verhalten der Tiere, besonders der Herdentiere, wird gelenkt durch einen „sozialen Instinkt“, der das Überleben der Population garantiert. Diesen sozialen Instinkt gibt es auch beim Menschen. Er ist das Ergebnis einer natürlichen Zuchtwahl. Eine Gruppe, die gemeinsam handelt, hat eine größere Überlebenschance als das isoliert agierende Individuum. Insofern scheint die menschliche Moral nur eine Verlängerung des tierischen „sozialen Instinkts“ zu sein. Doch hier macht Darwin einen entscheidenden Unterschied. Nur der Mensch ist ein moralisches Wesen. Die moralische Instanz ist das Gewissen, das nur bei Menschen anzutreffen ist. Das Gewissen ist die Fähigkeit, das eigene Handeln zu reflektieren, es seinem eigenen Urteil und dem seiner Gruppenmitglieder zu unterwerfen und dabei, aufgrund der spezifisch menschlichen Fähigkeit der Phantasie, zukünftiges Handeln zu antizipieren. Es ist die Moral, die schließlich im Menschen zur Idee der Humanität führt und die sich zu einer globalen Empathie für alles Lebendige erweitert, selbst unter Missachtung des Prinzips der natürlichen Selektion. Mit dem Hinweis auf die Moral hat Darwin schließlich, trotz seines Versuchs der Annäherung von Mensch und Tier, die Sonderstellung des Menschen deutlich herausgestellt. Gleichwohl bleibt der Mensch über eine breite Gemeinsamkeit mit allem Lebendigen verbunden. Das zeigt sich deutlich, wenn man den Menschen als ein besonderes Lebewesen im Stufenbau des Lebens betrachtet. Das Stufenmodell hat seine Ursprünge bei Platon, der im Menschen selbst drei Stufen der Seele unterschied: Die unterste Stufe bildet die Begierde, die unterhalb des Zwerchfells angesiedelt ist. Der Brustbereich wird dominiert durch den mutartigen Seelenteil, der auch Anstand, Ehrliebe und Ehrgeiz umfasst. Der höchste Seelenteil, der im Kopf zuhause ist, bleibt dem Denken und der menschlichen Vernunft vorbehalten. Aristoteles hat dieses Stufenmodell erweitert, in-
1. Die Stellung des Menschen in der Natur
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dem er es auf alle natürlichen Dinge ausdehnte. Die unterste Stufe bilden die anorganischen Körper, die zweite die Pflanzen, die dritte die Tiere und die vierte der Mensch. Dieses Modell findet sich unverändert noch im 20. Jahrhundert bei Scheler wieder. Die reifste Gestalt dieses naturphilosophischen Ansatzes wird von Plessner entwickelt (vgl. Kap. VII, 3). Auch für ihn gibt es vier Stufen. Es sind: Körperding, Lebewesen, Tier und Mensch. Doch innerhalb dieser Stufen nimmt er weitere bedeutsame Differenzierungen vor. So sind die Körperdinge zu unterscheiden in anorganische und organische, d. h. Lebewesen. Bei den Lebewesen unterscheidet er die offene Form, die der Pflanze zugeordnet wird, von der geschlossenen des Tieres. Während die Pflanze mit ihren Wurzeln in der Regel standortgebunden ist, ist das Tier in seinen Bewegungen frei. Innerhalb der Tiere unterscheidet Plessner zwischen der dezentralistischen Organisationsform, z. B.. der des Seeigels, und der zentralistischen, z. B.. der des Hundes. Nur die zweite verfügt über ein zentrales Nervensystem, d. h. über Bewusstsein. Der Mensch repräsentiert zwei Organisationsformen, die zentralistische und die exzentrische, d. h. er verfügt über Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Der Logik des Stufenbaus folgend kann man sagen: Der Mensch ist zunächst ein Körperding; er hat als Lebewesen die geschlossene Form des Tieres; er besitzt als höheres Tier die zentralistische Organisationsform, d. h. er hat Bewusstsein und als Mensch darüber hinaus die spezifische Kompetenz des Selbstbewusstsein, mit dessen Hilfe er zum Denken und zur Reflexion fähig ist. Aufgrund des Selbstbewusstseins und der Fähigkeit der Reflexion ist er – so Plessner – eine Person. Die Person nimmt eine exzentrische Position ein und überschreitet damit die „Stufen des Organischen“ selbst. Das zeigen die drei anthropologischen Grundgesetze, die Plessner entwickelt: Es ist das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit, das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit und das Gesetz des utopischen Standorts. Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit bedeutet, dass dem Menschen eine natürliche Lebensweise versagt bleibt. Er muss sein Leben unter Verwendung technischer und praktischer Hilfsmittel führen. Das Ensemble dieser Hilfsmittel macht die Kultur aus. Der Mensch ist von Natur aus auf Kultur angewiesen. Die in Abständen in der Geschichte auftauchende Devise: ‚Zurück zur Natur!‘ lässt sich nicht befolgen. Gleichwohl ist das Ziel aller Kultur, dem Menschen zumindest vorübergehend ein Gleichgewicht zu geben. Das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit bedeutet, dass der Mensch zwar weiß, dass er die Dinge nur vermittelt durch sein Bewusstsein erfährt und doch zugleich die Dinge unmittelbar erfährt. Das Gesetz des utopischen Standorts schließlich macht deutlich, dass der Mensch als Person Teil der Welt bleibt und doch zugleich ihre Existenz problematisiert. Diese Situation bildet die Grundlage für Fragen der Religion, die aber keine endgültigen Antworten finden. Als ein geistiges Wesen stellt er, aufgrund seiner exzentrischen Position, jede scheinbar letztgültige Antwort wieder in Frage. Das Fazit ist: Der Mensch gehört als Lebewesen der Natur an und teilt mit allen anderen ihre Bedürftigkeit. Aber indem er diese Natur und damit sich selbst in Frage stellt, transzendiert er sie zugleich. Im fragenden Denken, in der Fähigkeit der Distanzierung von allen Dingen der Welt, einschließlich seines Verhältnisses zu sich selbst, d. h. aufgrund seiner Weltoffenheit, wird der Mensch zu einer Person. Das heißt: Mit dem Menschen taucht in der Welt ein Lebewesen auf, das sich selbst als Person begreift.
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Epilog: Natur – Freiheit – Vernunft. Zur Situation der Person
2. Die Entwicklung der Person Neben der Geschichte der Evolution, die zum Auftauchen des Menschen und mit ihm der Person geführt hat, ist die Entwicklung des Kindes vom Säugling zur sprechenden und handelnden Person von besonderer Bedeutung. Der neugeborene Mensch befindet sich, wie vielfach hervorgehoben, in einer extremen Hilflosigkeit. Ohne fremde Hilfe könnte er nicht überleben. Er trägt den Namen Säugling, weil die Nahrungsaufnahme durch das Saugen einen wesentlichen Aspekt seiner Existenz beschreibt, nämlich seine Bedürftigkeit. In einigen sehr seltenen Fällen wird davon berichtet, dass das Säugen und die Aufzucht ein Tier, z. B.. eine Wolfsmutter übernommen habe (vgl. Kap. IV, 3). Doch deutlich wird auch darauf hingewiesen, dass das auf diese Weise aufgezogene Menschenkind im späteren Kontakt mit Menschen nie als wirklich menschlich empfunden wurde. Um ein Mensch zu werden, braucht der heranwachsende Mensch einen anderen Menschen, der ihn versorgt. Um jedoch eine Person zu werden, reicht die bloße Versorgung nicht aus. Die Personalisation, d. h. die Entwicklung des Menschen zur Person, erfolgt nur im Kontakt mit einer anderen Person. Die andere Person ist die Bedingung der Möglichkeit der Personalisation. Sie erfolgt dadurch, dass der Uterus der Mutter, der die Entwicklung des Embryos garantierte, ersetzt wird durch den sozialen Uterus nach der Geburt. Der soziale Uterus ist deshalb notwendig, weil der Mensch, wie Portmann gezeigt hat, verglichen mit anderen höheren Säugetieren, ein Jahr zu früh auf die Welt kommt (vgl. Kap. VIII, 3). Er bedarf schon aus biologischen Gründen eines besonderen Schutzraums der Nachreifung. In ihm wird die „psychische Geburt des Menschen“ vorbereitet (vgl. Mahler u.a. 1993). Er ist ein Raum, der die weitere Entwicklung des Menschen vom Säugling zur Person ermöglicht. Der Säugling befindet sich mit der Person, die ihn versorgt und mit ihm in einen Dialog tritt, in einem symbiotischen Verhältnis. Diese Person ist in der Regel die Mutter. Mutter und Kind bilden eine Mutter-Kind-Dyade. Es gibt zwischen ihnen einen kommunikativen Austausch, der ebenso sehr durch die Versorgung mit Nahrung wie durch körperlichen Kontakt, durch Blicke, durch Lächeln und Minenspiel, durch Gesten und Sprechen geprägt ist. Es ist ein Dialog, der nicht bestimmt ist durch Reiz und Reaktion, sondern durch Ansprache und Antwort. Fehlt er, so wird die Entwicklung des Menschen zur Person in gravierender Weise beeinträchtigt, in den schlimmsten Fällen sogar vereitelt. Wie entscheidend das scheinbar Selbstverständliche der Entwicklung des Kindes zur Person ist, wird erst deutlich, wenn es fehlt. Das belegen vor allem die Studien über Hospitalismus bei Säuglingen und Kleinkindern, die René Spitz durchgeführt hat. Sie bilden die Negativfolie für die normale Entwicklung der Person, die keineswegs etwas Natürliches ist, sondern im Kontext sozialen Handelns geschieht. Fehlt es, sind die Folgen dramatisch. Der fehlende persönliche Kontakt in den ersten Lebensmonaten führt zu einer schweren Entwicklungsstörung. Die Stadien verlaufen wie folgt: Im ersten Monat wird das Kind weinerlich, versucht aber sich an jede sich ihm nähernde Person anzuklammern. Im zweiten Monat geht das Weinen in ein Schreien über. Es verliert an Gewicht und sein Entwicklungsquotient steigt nicht mehr. Im dritten Monat verweigern die Kinder den Kontakt; sie liegen in ihrem Bett auf dem Bauch; es beginnt Schlaflosigkeit und Anfälligkeit für Krankheiten. Die Bewegungen verlangsamen sich, der Gesichtsausdruck wird starr; das Weinen
2. Die Entwicklung der Person
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wird durch ein Wimmern ersetzt, die motorische Verlangsamung geht über in Lethargie. Das Ergebnis ist eine anaklitische Depression (vgl. Spitz 1987, 282f.). Doch selbst sie kann überwunden werden, wenn das Kind innerhalb von drei bis fünf Monaten die notwendige emotionale und d. h. zugleich personale Zuwendung erfährt. Geschieht dies nicht und kommt es zu einem totalen Entzug an persönlicher Zuwendung, entwickelt sich das Krankheitsbild des Hospitalismus. Das bedeutet, dass das Kind völlig passiv wird. Es liegt auf dem Rücken, der Gesichtsausdruck ist leer, es ist nicht in der Lage sich in die Bauchlage zu drehen oder sich aufzurichten, und es ist geistig zurückgeblieben. Das Ganze ist, wohlgemerkt, nicht das Ergebnis einer physischen, sondern einer sozialen, d. h. personalen Vernachlässigung. Das Fazit ist: Der Mensch ist, um Person zu werden, auf den Dialog mit einer anderen Person angewiesen. Spitz bemerkt dazu: „Daher ist der Dialog der Beitrag der Umwelt zur Entstehung, Entwicklung und schließlich Festigung von Ich, Selbst, Charakter und Persönlichkeit“ (Spitz 1976, 25). Gelingt jedoch der Dialog, dann gehört es zum Prozess der Personalisation, dass sich das Kind nach und nach aus dem symbiotischen Verhältnis zur Mutter löst und sich als individuelle Person entwickelt. Doch dieser Loslösungsprozess verläuft nicht linear, sondern in einem ständigen Wechsel von Phasen der Distanzierung und der Wiederannäherung (vgl. ebd. 324). Es ist ein Prozess der Erkundung der Welt und der Selbsterkundung. In ihm werden Erkenntnisse erworben, die zu einer Differenzierung von Ich und Welt führen. Wichtige Schritte sind dabei das Erlernen der aufrechten Körperhaltung, der Spracherwerb und das einsichtige Handeln (vgl. Kap. VIII, 3). Ist das Kind bereits im Krabbelalter in der Lage, sich von seiner primären Bezugsperson zu entfernen, so erweitert sich mit dem Laufenlernen der Aktionsspielraum. Entscheidend ist aber, dass das Kind das Gefühl hat, sich in einem geschützten Spielraum zu bewegen und selbst die Distanz bestimmen kann. Es ist ein gravierender Unterschied, ob sich das Kind vorübergehend von der Mutter entfernt oder die Mutter vom Kind. Der zweite Fall kann, wenn er zu plötzlich erfolgt, zu erheblicher Verunsicherung führen. Distanzierung ist nur möglich auf der Grundlage eines stabilen Vertrauensverhältnisses. Eine besondere Bedeutung für die Personalisation kommt dem Spracherwerb zu. Er ist eingebettet in einen situativen Kontext, in dem Sprechen und Handeln eine Sinneinheit bilden. Wortgrammatik und Handlungsgrammatik gehören zusammen. Das wird deutlich, wenn das Kind nach einer Phase des Nachahmens und Experimentierens mit Lauten, der sogenannten Lallphase, die Stufe der Holophrase, d. h. der des Einwortsatzes erreicht hat. Das Wort ‚Mamma‘, das ein anderthalb Jahre altes Kind äußert, ist nicht als eine Bezeichnung zu verstehen, sondern als Wunsch, als Frage, als Bitte oder möglicherweise als Befehl. Je nach dem situativen Kontext bedeutet es daher: „Komm zu mir!“, „Wo bist du?“ oder „Gib mir!“. Mit achtzehn Monaten beginnt die Zweiwortphase, wie „Buch da!“, „Kaffee nein!“ u.ä. Während die Zweiwortphase einem bestimmten Entwicklungsabschnitt zuzuordnen ist, folgt die Erweiterung des Satzes nicht mehr strengen Regeln. Eine Dreiwortphase gibt es nicht (vgl. Zimmer 1986, 32 ff.). Einen wichtigen Einschnitt in der Entwicklung der Person bildet das Sprechen in der ersten Person Singular. Der Zeitpunkt, an dem dies geschieht, ist unterschiedlich. Mahler berichtet aufgrund ihrer systematischen Beobachtungen der Entwicklung von Kleinkindern über ein erstes Auftreten im Alter von 19 Monaten (vgl. Mahler 1993, 184) und
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Epilog: Natur – Freiheit – Vernunft. Zur Situation der Person
einem späten gegen „Ende des 3. Lebensjahres“ (ebd. 212). Auf diese Weise dokumentiert Sprachentwicklung zugleich die Ich-Entwicklung des Kindes. Sie ist verbunden mit der Ich-Abgrenzung. Zu ihr gehört die Aufnahme zweier weiterer Wortgruppen in den Wortschatz des Kindes. Es sind Negationen und die Possessivpronomina „Mein“ und „Dein“. Es sind Worte der Ein- und Abgrenzung, der Unterscheidung von Sphären der Person. Ihr gehäufter Gebrauch tritt im 2. bis 4. Lebensjahr auf, die als die eigentliche Trotzphase bezeichnet wird. Sie ist eine erste große Bewährungsprobe sowohl für das Kind wie für den Erzieher. Während das Kind den Versuch unternimmt, sich als eine selbständige Person zu behaupten, stellt sich für den Erzieher die Aufgabe, diesen Vorgang so zu begleiten, dass die individuelle Personalisation und die interpersonelle Verständigung sich vereinbaren lassen. Heinrich Roth bemerkt unter pädagogischem Aspekt zu dieser Phase: „Das ‚Trotzen‘ der Kinder in der sogenannten Trotzphase bietet die ausdrückliche Versuchung, den ‚Trotz zu brechen‘ und damit unter Umständen die Aktivität des Trotzenden, seinen Drang zur Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung zu schädigen, statt seinen Trotz in produktive Aktivitäten umzusteuern“ (Roth 1971, 306). Das bedeutet: Personalisation ist nur auf dem Weg der Ich-Abgrenzung möglich. Diese ist von den erwachsenen Bezugspersonen verständnisvoll zu begleiten. Das Kind lernt die Welt auf dem Weg über eine Person kennen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass seine Weltauffassung selbst personale Züge trägt. Das kleine Kind lebt in einer Märchenwelt, in der die Dinge belebt sind, freundlich oder feindlich wie die Personen um es herum. Der in einem Märchen von einem Brot im Backofen geäußerte Wunsch ‚Nimm mich heraus!‘ kommt ihm ganz natürlich vor. Die antike mythische Auffassung, nach der die Bereiche der Welt mythische Mächte repräsentieren, die personale Qualitäten haben, entspricht der des Kindes. Die Kälte ist grimmig, ein Ort ist lieblich, die Sonne freundlich u.a.m. Spuren mythologischen Denkens finden sich auch noch in der Alltagssprache der Erwachsenen. Beispiele sind die Ausdrücke ‚Rechtsverletzung‘ und ‚Materialermüdung‘. Die Eigenschaften der Dinge haben eine persönliche Anmutungsqualität. Dass Kinder zu Tieren, besonders Haustieren, ein persönliches Verhältnis entwickeln, versteht sich beinahe von selbst. Erst im Alter von 8 –10 Jahren wird das ausschließlich personale Weltverhältnis aufgegeben. Der Anspruch der Sachlichkeit macht sich geltend. Das Kind beginnt, zwischen Person und Sache zu unterscheiden. Es entwickelt eine in zunehmender Weise realistische Haltung gegenüber den Dingen. Diese Haltung führt auch zu einer sachlichen Einstellung sich selbst gegenüber. Es lernt, dass der Husten, von dem es „gequält“ wird, nicht „böse“ ist, auch wenn er so bezeichnet wird, sondern ein Sachverhalt, der mit geeigneten sachlichen Hilfsmitteln zu behandeln ist. Es lernt durch Einsicht und Übung, die Gefahren im Straßenverkehr realistisch einzuschätzen und sich entsprechend zu verhalten. Es nimmt schließlich zur Kenntnis, dass jeder Mensch einmal sterben muss, auch wenn dieses Einmal für das Kind selbst in einer unüberschaubaren zeitlichen Ferne angesiedelt und daher nahezu bedeutungslos ist. Eine realistische Einschätzung der Zeit entwickelt sich nur langsam, ebenso das Verständnis für Kausalität (vgl. Piaget 1974). Das Kind lernt, dass das Spektrum der Personalpronomina über das primäre Ich-DuVerhältnis hinausgeht und die Differenzierungen der dritten Person einschließt. Diese
2. Die Entwicklung der Person
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Einsicht ermöglicht es dem Kind, nicht nur zu einer Person zu sprechen, sondern über eine dritte anwesende oder nicht anwesende. Es spricht schließlich in der ersten Person Plural und identifiziert sich damit mit einer Gruppe, der es sich selbst zugehörig fühlt. Es grenzt die eigene Gruppe von der anderen ab und beweist damit seine Fähigkeit zur Abstraktion. Es unterscheidet schließlich auch sprachlich die Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft und findet damit die Koordinaten für unterschiedliche Situationen von Personen und Sachverhalten. Eine besondere Bedeutung kommt der Personalisation bei der Moralentwicklung des Kindes zu. Den Stufen der Moralentwicklung entsprechen Stufen der Urteilsbildung. Jede folgende Stufe hat die vorherige zur Voraussetzung. Andererseits fällt das moralische Handeln in konflikthaften Situationen häufig hinter das bereits erreichte Niveau der Urteilsbildung zurück. Es kommt zu Regressionen. Das zeigen die Studien der genetischen Psychologie von Freud (Freud 1994), Piaget (Piaget 1973) und Kohlberg (Kohlberg 1995). Habermas hat diese Forschungen mit seinem Ansatz einer Diskursethik verbunden (Habermas 1983). In Anlehnung an diese Ansätze lassen sich drei Hauptstufen unterscheiden: a) die Stufe der Bedürfnisbefriedigung und der Lust, b) die Stufe der Tradition und der Konvention und c) die Stufe universaler ethischer Prinzipien. Die erste Stufe hat ihre Grundlage in der physischen Bedürftigkeit des Menschen. Als ‚gut‘ wird alles empfunden, was der Befriedigung elementarer Bedürfnisse dient, als schlecht, was sie beeinträchtigt. Die Befriedigung elementarer Bedürfnisse geht einher mit dem Gefühl der Lust, ihre Verweigerung mit Unlust. Zu den elementaren Bedürfnissen gehören Nahrung, die richtige Außentemperatur, zu deren Regulierung der kindliche Organismus nur unzureichend in der Lage ist, der körperliche Kontakt mit der Mutter oder einer anderen Person, die ihre Stelle einnimmt, und die Kommunikation, d. h. eine persönliche Ansprache. In der weiteren Entwicklung tritt der Besitz von Objekten, der gegenüber anderen verteidigt wird, in den Umkreis des kindlichen Interesses. Belohnungen werden als lustvoll, Strafen als unlustvoll empfunden. Durch sie werden die natürlichen Grundlagen dieser Stufe der Moralentwicklung zwar nicht aufgehoben, aber sozial nachhaltig beeinflusst. Diese erste Stufe wird nicht abgelöst, sondern überformt von der zweiten, der traditionellen oder konventionellen Stufe. Ihr entspricht ein Regelbewusstsein und das erfordert eine höhere Urteilsfähigkeit, die durch Abstraktion und der Berücksichtigung eines Sachverhalts im Allgemeinen ausgezeichnet ist. Voraussetzung ist die Fähigkeit des Kindes, sein Ich von einem anderen Ich zu unterscheiden und in Beziehung zu setzen. Es ist die Stufe, die ein Selbstbewusstsein als Person zur Bedingung hat. Mit dem Konzept der Person verbindet sich ein Rollenbewusstsein. Das Kind lernt, dass es in einem sozialen Gefüge eine Rolle spielt, und dass diese Rolle mit bestimmten erwarteten Handlungsweisen verbunden ist. Rollen- und Regelbewusstsein sind eng miteinander verbunden. Das Kind lernt seine Rolle, die es innerhalb der Familie einnimmt, und die der übrigen Familienmitglieder kennen. In dem Maße, in dem sich der soziale Raum erweitert, werden auch das Rollenmodell und das Regelbewusstsein komplexer. Es lernt, dass Verstöße gegen die Regeln geahndet werden, und internalisiert sie als Norm. Die Begründung dieser Normen erfolgt entweder mit dem Hinweis auf die Tradition oder aber auf eine Vereinbarung. Die Normen entstammen dem Brauch und der Sitte, der Religion und den Gesetzen. Nach dem Konzept von Freud findet auf dieser Stufe der
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Epilog: Natur – Freiheit – Vernunft. Zur Situation der Person
Übergang von dem Über-Ich zum Gewissen statt. Das bedeutet: Das Kind macht sich die Regeln zu eigen und verteidigt sie gegen jede Form der Missachtung. Allerdings ist es selbst nicht völlig gegen Regelverstöße gefeit, und zwar dann, wenn die Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse gefährdet ist. Die zweite Stufe der Moralentwicklung bestimmt auch das Leben der Erwachsenen und charakterisiert weitgehend die moralische Verfassung einer Gesellschaft. Sie lässt sich zwanglos mit der Anerkennung des jeweiligen Rechtssystems verbinden. Die Stufe der universalen Ethik bedeutet einen weiteren Schritt in der Moralentwicklung. Auf ihr spielt nicht mehr das Einüben und Erlernen von Verhaltensregeln eine entscheidende Rolle, sondern ihre Reflexion. Das Thema der Ethik ist die Moralbegründung. Diese wird dann aktuell, wenn sich zwischen den Möglichkeiten der Befriedigung elementarer Bedürfnisse und dem Regelsystem einer Gesellschaft manifeste Widersprüche ergeben oder das Regelsystem selbst als überholt erscheint. Schon der Blick in andere Gesellschaften macht die Relativität der eigenen gesellschaftlichen Normen deutlich. Mit der Einsicht in die gesellschaftliche und geschichtliche Bedingtheit von Normensystemen und der Unzufriedenheit mit dem eigenen wächst das Bedürfnis nach einer verlässlichen Grundlage. Unbezweifelte Normen können in Frage gestellt werden, so eine hierarchische Gesellschaftsordnung ebenso wie das Bestehen von Privilegien für bestimmte Gruppen oder die Diskriminierung von Minderheiten. Damit eröffnet sich das Feld unterschiedlicher ethischer Konzepte. Piaget, Kohlberg und Habermas kommen darin überein, dass die höchste Stufe der Moralentwicklung durch eine universalistische Ethik repräsentiert wird. Das bedeutet, dass jeder Handelnden weiß, dass er als Urheber seiner Handlungen für sie verantwortlich ist und sie gegenüber jedermann vertreten können muss. Sie orientiert sich an den Prinzipien der Vernunft.
3. Praktische Freiheit – Die Handlungen der Person Die lateinische Grammatik unterscheidet das Aktiv vom Passiv, das im Deutschen als der Unterschied von Handeln und Leiden wiedergegeben werden kann. Beide stellen im Kontext der realen Situation der Person eine Notwendigkeit dar. Sowohl Handeln als auch Leiden sind in einem weiten Sinne zu verstehen. Auch zur Bezeichnung desjenigen, der geehrt oder beschenkt wird, verwendet man grammatikalisch das Passiv. Handeln und Leiden entsprechen sich. Dem Leiden kommt dabei eine Priorität zu. Alles Handeln ist eine Antwort auf ein Leiden oder, was dasselbe besagt, auf die Erfahrung einer realen Situation. Das Handeln ist ebenfalls in einem weiten Sinn zu verstehen. Handeln ist, im Unterschied zu einer weit verbreiteten Meinung, keineswegs nur ein Tun, sondern ebenso ein Lassen (vgl. Hartmann 1962, 134). Handeln ist ein bewusstes Tun und Lassen. Das Lassen kann ein Zulassen oder ein Unterlassen sein. Im ersten Fall verhindert der Handelnde nicht das Tun eines Anderen, im zweiten vermeidet er ein eigenes Tun. Alles Handeln ist ethisch und in vielen Fällen auch rechtlich relevant. Der Lehrer, der Gewalt unter seinen Schülern zulässt, handelt zumindest pädagogisch fragwürdig. Ähnliches gilt für das Handeln durch Unterlassen. Einem schwer Verletzten nicht erste Hilfe zu leisten oder sich zumindest nicht umgehend um professionelle Hilfe zu bemühen,
3. Praktische Freiheit – Die Handlungen der Person
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erfüllt den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Einen Säugling, für den eine Betreuungspflicht besteht, absichtlich und ohne Not verhungern zu lassen, kann sogar den Straftatbestand ‚Mord durch Unterlassen‘ erfüllen. Ebenso ist jedes bewusste Tun ein Handeln und als solches ethisch und rechtlich relevant. Dagegen ist ein Tun im Zustand der Bewusstlosigkeit, des Schlafes oder bei einer anderen gravierenden Störung des Bewusstseins kein Handeln. Jedes Handeln ist ein Bewirken oder genauer, die Verwirklichung einer Möglichkeit. Der Handelnde wählt unter den von ihm erkannten Möglichkeiten eine bestimmte aus und verwirft damit zugleich alle anderen. Die Wahl erfordert Überlegung und Entscheidung. Wahlmöglichkeiten, die erkannt werden, bedeuten Freiheit. Der Handelnde kann zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten wählen, und er muss wählen. Die Person kann nicht nicht handeln (ebd. 134). Eine Wahlmöglichkeit bedeutet Freiheit erst dann, wenn sie erkannt wird. Eine unentdeckt gebliebene Möglichkeit verhindert das Wählen-Können. Freiheit als erkannte Wahlmöglichkeit unterscheidet sich von dem traditionellen Verständnis der Willensfreiheit. Diese hat ihre geschichtliche Grundlage in der Stoa. Sie lautet im Lateinischen ‚liberum arbitrium‘ und bedeutet streng genommen Urteilsfreiheit. Sie beinhaltet den Gedanken, dass wir nicht die Dinge außer uns verändern können, denn sie unterliegen einer strengen Notwendigkeit, wohl aber uns selbst, unsere Einstellung, unsere Haltung, unser Urteil und unseren Willen. In der antiken, griechischen Philosophie wurde die Freiheit anders verstanden. Für sie gab es keine Willensfreiheit, ja streng genommen nicht einmal einen Willen, sondern zielorientierte Strebungen. Für Aristoteles besteht Freiheit in einer Vorzugswahl (prohairesis), die das Ergebnis eines Vorziehens und Auswählens zwischen verschiedenen Möglichkeiten ist. Sie hat eine ontologische Fundierung und eine modallogische Struktur. Sie bietet den geeigneten Ansatzpunkt für eine Neuformulierung des Freiheitsbegriffs. In jeder Situation eröffnen sich verschiedene Möglichkeiten, die von der Person erkannt und durch Handeln verwirklicht werden können. Sicher gibt es auch Möglichkeiten, die die Person nicht erkennt und zweifellos ist die Person aufgrund von Einschränkungen, die in ihr selbst liegen, in vielen Fällen nicht in der Lage, die von ihr erkannte Möglichkeit zu verwirklichen. Das bedeutet: Die Freiheit ist nicht absolut, sondern situationsabhängig. Für jede Person ergibt sich in ihrer einzigartigen Situation ein spezifisches Spektrum von Wahlmöglichkeiten. Möglichkeiten, die sich der einen Person in ihrer Situation bieten, können einer anderen Person auch prinzipiell verschlossen bleiben. Dazu gehören z. B.. die geschlechtsspezifischen, biologisch fundierten, unterschiedlichen Möglichkeiten von Männern und Frauen hinsichtlich von Zeugung und Geburt. Die Freiheit ist so begrenzt wie die realen Möglichkeiten, die sich aus einer spezifischen Situation ergeben. Das Handeln ist die Antwort auf eine problematische Situation. Die Situation ist problematisch, weil die Person mit der Situation, in der sie sich befindet, keine unvermittelte Identität bildet. Vielmehr entwickelt sie zu ihr ein Verhältnis. In ihr treten natürliche Bedürfnisse, praktische Interessen und theoretische Fragen auf. Sie bilden ein Spektrum von Problemen. Daher stellt jedes Handeln den Versuch einer Problemlösung dar. Eine problematische Situation stellt eine Herausforderung für die Person dar. Ihr Handeln ist die Antwort darauf. Indem eine Person handelt, wählt sie nicht nur unter verschiedenen Handlungsmöglichkeiten eine aus und entscheidet sich für diese, sie
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Epilog: Natur – Freiheit – Vernunft. Zur Situation der Person
wählt und bestimmt zugleich sich selbst. Das Ich als Subjekt der Person ist streng genommen „die Reihe seiner Handlungen“ (Hegel 1970, Bd. 7, 233). In jedem Fall aber gibt es eine Dialektik von Handlungswahl und Selbstwahl. Durch die Ausführung einer Handlung bestimmt sich eine Person in ihrem Selbst. Da Handeln als Antwort auf eine problematische Situation zu verstehen ist, ergibt sich die Frage ihrer näheren Bestimmung. Auf vier Problembereiche sei hingewiesen. Es handelt sich zum ersten um die Probleme, die sich aus der natürlichen Bedürftigkeit der Person ergeben. Es sind die Probleme der Erhaltung und der Gestaltung des Lebens. Sie lassen sich als technisch-künstlerische Probleme charakterisieren. Der zweite und der dritte Problembereich sind eng miteinander verbunden. Es handelt sich um Probleme, die sich zum einen aus dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zum anderen aus dem Zusammenleben der Person mit anderen Menschen ergeben. In beiden Fällen sind es praktisch-ethische Probleme. Schließlich ist viertens das Problem der Weltorientierung zu erwähnen; sie hat einen theoretisch-logischen Charakter. Die natürliche Bedürftigkeit hat ihren Grund darin, dass die Person als Lebewesen sich nur durch die Gewährleistung eines Stoffwechselprozesses mit der sie umgebenden Natur erhalten kann. Als Lebewesen benötigt der Mensch nicht nur anorganische Stoffe wie Wasser, Luft und Mineralien, sondern ebenso organische Stoffe. Der Mensch als Lebewesen lebt und ernährt sich von anderem Leben. Die Beschaffung von Nahrung gehört daher zu den grundlegenden Tätigkeiten der Person als Lebewesen. Ihre Organisation erfordert Überlegung, Planung und Geschick. Ihre Durchführung hat den Charakter von Arbeit. Als ein überlegtes Tun ist die Arbeit ein Handeln, das der Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse dient. Zu ihr gehören nicht nur die Nahrungsbeschaffung und die Herstellung von Kleidung und Wohnung, sondern die Produktion der Arbeitswerkzeuge selbst. Die Arbeit ist kein natürlicher Vorgang, sondern erfordert Technik. Die Technik ist ein Wissen davon, wie man etwas macht. Sie ist bestimmt durch ein Wissen und ein Können. Durch dieses Können wird sie zu einer Kunst. Technik und Kunst sind so alt wie der Mensch. Bilden Technik und Kunst noch bis in die Zeit der Renaissance eine Einheit, so wird diese in der Neuzeit aufgelöst. Technik bekommt in zunehmendem Maße den Charakter von Naturbeherrschung, während es die Kunst ausschließlich mit der Produktion und Rezeption von Gestalten zu tun hat. Diese Aufspaltung in zwei konträre Ansätze lässt sich bereits bei Leonardo da Vinci, dem bedeutenden Maler und zugleich Konstrukteur utopischer Maschinen, feststellen. Doch eine auf diese Weise von der Kunst abgelöste Technik hat fatale Konsequenzen. Sie führt nicht nur zu einer rücksichtlosen Naturausbeutung, sondern schließlich zu einer Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen. Gefordert ist daher ein ökologisches Verhältnis zur Natur, das nicht die Naturbeherrschung zum Ziel hat, sondern eine Vermittlung von Mensch und Natur. Der zweite und dritte Problembereich betrifft das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu anderen, die zwischenmenschlichen Verhältnisse. Beide gehören zusammen. Das Selbstverhältnis umfasst ein breites Spektrum von Aspekten: Das Verhältnis zum eigenen Körper, seine Entwicklung, die Befriedigung elementarer Bedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung, Wohnung, u.a.m. Es betrifft aber auch das umfängliche Reich der Gefühle, der Stimmungen und Erwartungen, einschließlich des in jedem Menschen anzutreffenden Glücksbedürfnisses.
3. Praktische Freiheit – Die Handlungen der Person
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Das Selbstverhältnis entwickelt sich in einem interpersonellen Kontext. Damit ist der dritte Problembereich angesprochen. Nur im Verhältnis zu anderen Personen wird der Mensch, wie erläutert, eine Person. In ihm ergeben sich alle Aspekte seiner Personalisation, ebenso aber auch alle interpersonellen Probleme. Diese Ambivalenz ist in der europäischen Geschichte schon früh gesehen worden. Platon weist in einem Mythos darauf hin, dass sich die Menschen ohne das ihnen von einem Gott verliehene Recht gegenseitig töten würden und er beschreibt den Tyrannen als einen Menschen, der auf Kosten seiner Mitmenschen seinen Vorteil sucht. Gleichzeitig aber macht er deutlich, dass das Glück, das doch alle suchen, nur auf dem Weg der Gerechtigkeit zu erreichen ist. Aristoteles geht noch einen Schritt weiter. Er definiert den Menschen als ein Wesen, das von Natur aus nach Gemeinschaft strebt. Gleichzeitig aber betont auch er, dass ohne Recht keine Gemeinschaft existieren kann und dieses in ihr ausgehandelt werden müsse. Der Anspruch der Gemeinschaft und der des Einzelnen bilden ein ambivalentes Verhältnis. Als ein interpersonelles Geschehen stellt sich dieser Sachverhalt so dar: Der Mensch bedarf zu seiner Personalisation der anderen Person. Andererseits aber gehört zu ihr unabdingbar die Ich-Abgrenzung. Die Person ist daher stets mit dem Problem interpersoneller Konflikte konfrontiert. Sie antwortet auf dieses Problem mit einem Handeln, das der Konfliktlösung dient. Die Maßstäbe dieses Handelns, das im Verhältnis der Person zu sich und zu anderen seinen Ausdruck findet, bilden das Thema der Ethik. Den vierten Problembereich stellt die Frage der Orientierung der Person in der Welt dar. Der Versuch der Weltorientierung erfolgt stets von der Situation aus, in der sich die Person befindet. Sie bedeutet ebenso Erkenntnis der Situation als auch die Ausrichtung der Person auf ein Ziel des Handelns. Beide Aspekte der Weltorientierung gehören zusammen. Drei Arten der Weltorientierung mögen erwähnt werden. Die ältesten stellen Mythen und Religionen dar. Trotz ihrer Vielfalt liegt ihnen der gemeinsame Gedanke zugrunde, dass die Welt von göttlichen Mächten bestimmt wird. Das menschliche Handeln wird als Antwort auf ihr Wirken und ihre Forderungen verstanden. Es verbindet sich zu einem Ensemble von Gebeten und einem relativ geschlossenen Konzept von rituellen Handlungen. Eine andere Form der Weltorientierung stellt die Weltanschauung dar. Sie hat in der Regel einen säkularen Charakter, ist aber, wie die religiöse Weltorientierung, durch eine begrenzte Anzahl dogmatischer Grundannahmen über die Existenz der Welt ausgezeichnet und eröffnet der Person ein Handlungsziel. Beispiele hierfür sind die materialistische Weltanschauung und der naturwissenschaftlich konzipierte Monismus. Schließlich verdient das im griechischen Denken entwickelte Konzept der Theorie eine besondere Beachtung. Leitend ist dabei die Erkenntnis der unveränderlichen Struktur der Welt. Theorie ist eine Wissenschaft von dem sich gleichbleibenden Aufbau der Welt. Die Orientierung an einer ewigen, vernünftigen Ordnung der Welt eröffnet zugleich die Perspektive für das menschliche Handeln. Die theoretische Lebensweise ist für Aristoteles daher zugleich die ethisch bedeutsamste. Doch bereits Platon hat darauf aufmerksam gemacht, dass sie dem Menschen immer nur ansatzweise möglich ist. Diese Einschränkung macht das Wesen der Philosophie aus. Philosophie, die man nach Hegel zu Recht als „Weltweisheit“ bezeichnen kann (Hegel 1970, Bd. 18, 81), stellt ein überholbares, im Dialog zu prüfendes, handlungsleitendes Wissen von Personen dar.
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Epilog: Natur – Freiheit – Vernunft. Zur Situation der Person
Philosophische Weltorientierung ist daher der Versuch, unter Einbeziehung fortschreitender, sich überholender wissenschaftlicher Erkenntnisse, zu einer Bestimmung der Situation des Menschen in der Welt zu gelangen und d. h., der Person Selbstbestimmung zu ermöglichen. Sie hat eine logische und d. h. sprachliche Struktur. Sie artikuliert sich weder in Gebeten und Ritualen, noch in dogmatischen Behauptungen, sondern in Aussagen und Argumenten, die dem Einspruch offenstehen.
4. Pragmatische Vernunft – zur Identität der Person In Anlehnung an ihren Ursprung im Bereich des Theaters (vgl. Kap. X, 1) ist die Person durch drei Kompetenzen ausgezeichnet: durch die Fähigkeit der Sprache, des Handelns und der Selbstbestimmung. Sprechend und Handelnd antwortet die Person auf die Herausforderungen einer problematischen Situation und bestimmt dabei sich selbst. Das Verhältnis von Herausforderung und Antwort unterscheidet sich prinzipiell von dem von Reiz und Reaktion. Während ein bestimmter Reiz eine eindeutige Reaktion auslöst, erfolgt eine Antwort zwar als Entsprechung auf eine Herausforderung, aber nicht in eindeutiger, voraussehbarer Weise, sondern aufgrund von Überlegung und Entscheidung. Jedes Problem stellt eine Herausforderung dar, und diese hat die Struktur einer Frage. Es stellt bereits eine bestimmte Leistung der Person dar, ein sich dem Bewusstsein aufdrängendes Problem in eine beantwortbare Frage zu transformieren. Indem aus dem Problembewusstsein eine Frage wird, ergibt sich in vielen Fällen bereits ein Horizont von Antwortmöglichkeiten. Als Urheber einer Handlung ist die Person für diese verantwortlich. Ebenso richtig ist die Aussage, dass die Person nur für die Handlungen verantwortlich ist, deren Urheber sie zweifelsfrei ist. Schließlich gilt, dass nur Personen handeln können, und das bedeutet umgekehrt, dass dort, wo von einer Handlung die Rede ist, eine Person als ihr Urheber angenommen werden muss. Als Urheber einer Handlung ist die Person nicht nur für diese verantwortlich, sondern hat sie auch gegenüber anderen Personen zu verantworten. Das Verantworten einer Handlung geschieht durch die Angabe von Motiven und Gründen. Ihr Ziel ist es, eine Handlung zu rechtfertigen, d. h. zu beweisen, dass sie zu Recht geschah. Zu fragen ist, ob jede Person berechtigt ist, eine andere zur Verantwortung zu ziehen. In einem engeren rechtlichen Sinne ist es nur ein Vorgesetzter oder ein Richter, in einem weiteren moralischen, prinzipiell jede Person, im weitesten Sinn die ganze Menschheit. Der entscheidende Handlungsmaßstab ist die Vernunft. In den Offenbarungsreligionen ist der Gedanke zuhause, dass in einem endgültigen Sinne Gott allein, der selbst als eine höchste Person gedacht wird, den Menschen als Person zur Verantwortung ziehen kann (vgl. Weischedel 1972, 47). Besonders die protestantische Rechtfertigungslehre beruht auf diesen Überlegungen. In der Neuzeit, seit Descartes, wird die christlich verstandene Verantwortung vor Gott zur Verantwortung vor dem eigenen Gewissen umgedeutet. Hierin kann man einen Vorgang der Säkularisierung sehen (vgl. Picht 1969, 318 ff.). Höher noch als jedes weltliche Gericht gilt ihr daher das Gewissen als die Instanz, vor der Handlungen verantwortet werden müssen. Doch das Gewissen folgt nur individuellen Einschätzungen. Um deren Allgemeingültigkeit behaupten zu können, muss es das Prinzip der Individualität überschreiten
4. Pragmatische Vernunft – zur Identität der Person
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und sich an der Vernunft orientieren. Die Person muss in der Lage sein, die eigenen Interessen, Neigungen und Gefühle mit dem Anspruch der Vernunft in Übereinstimmung bringen zu können. Die Fähigkeit, von eigenen Bedürfnissen und Gefühlen absehen zu können, hat Freiheit zur Voraussetzung. Das Prinzip der Freiheit der Person wird jedoch in neuerer Zeit von Neurobiologen in Frage gestellt, die sich intensiv der Hirnforschung widmen. Sie vertreten einen naturwissenschaftlichen Reduktionismus. So betont Wolf Singer, „daß die Hirnforschung auf dem Weg ist, ihren reduktionistischen Ansatz auf alle relevanten Ebenen lückenlos auszudehnen“ (Singer 2002, 32). Dieser Ansatz stellt das traditionelle Selbstverständnis des Menschen radikal in Frage. Geht man von diesem Ansatz aus, so entstehen nach Singer die Fragen: „Wie verhält es sich dann mit unserer Erfahrung, daß wir frei entscheiden können? Wie verhält es sich mit Schuldzuschreibungen und unserem Kulturgut der Verantwortlichkeit?“ (ebd.). Singer betont, dass alle diese im „geisteswissenschaftlichen“ Kontext entwickelten Begriffe wie Freiheit, Verantwortung, Schuld und schließlich Geist ihre traditionelle Bedeutung verlieren, wenn die „Dichotomie von Geist und Körper, von Leib und Seele“ in einem reduktionistischen Verfahren aufgegeben wird und wir uns „anschicken, das eine auf das andere zurückzuführen“ (ebd. 33). Seine Lösung des Problems besteht darin, dass er diese, dem traditionellen Selbstverständnis des Menschen als Person zugehörigen Begriffe zwar als die „höchsten Hervorbringungen unserer Gehirne“ ansieht, die „Erfahrung“ hingegen, „autonome, selbstbestimmte Agenten zu sein“, seien „vermutlich“ nichts anderes als „kulturelle Konstrukte“ (ebd. 62). In einem naturwissenschaftlich reduktionistischen Ansatz gibt es für ein autonomes Ich keinen Platz. Er bringt seinen Zweifel an seiner Existenz in folgenden Fragen zum Ausdruck: „Wie sollen wir uns vorstellen, daß ein willentlicher Entschluß gefasst wird, der dann auf unser Gehirn einwirkt, damit dieses, dem willentlichen Impuls gehorchend, diese oder jene Aktion ausführt? Wo sollen wir das selbstbestimmte Ich verorten, das wir wahrnehmen, als sei es von Hirnfunktionen losgelöst und ihnen gegenübergestellt?“ (ebd. 33). Seine Antwort auf diese Fragen ist eindeutig: Anzuerkennen sei die neurobiologische „Erkenntnis“, „daß in unserem Gehirn kein Konvergenzzentrum auszumachen ist, wo allein Entscheidungen fallen, wo Handlungspläne entworfen werden und das Bewußtsein seinen Sitz hat“ (ebd. 33). Das Fazit dieser Argumentation ist: Man kann von der Existenz eines selbstbestimmten Ichs nur dann sprechen, wenn man es im Gehirn „verorten“ kann, und da es in ihm nachweislich diesen Ort nicht gibt, ist seine Existenz nicht zu halten. Singer folgt dabei der positivistischen Argumentation von Ernst Mach, der bereits 1886 kategorisch erklärt hatte: „Das Ich ist unrettbar“ (Mach 1991, 20). Doch dabei erliegen die Vertreter des Reduktionismus einem Widerspruch. Die Aussagen, die sie über die neurophysiologischen Vorgänge eines Gehirns machen, setzen ein reflektierendes, sprechendes Ich voraus, für dessen Existenz es aber in ihrem reduktionistischen Ansatz keinen Platz gibt. Doch auch bei der Annahme eines reflexiven Ichs ist das begriffliche Ensemble von Person, Handlung, Freiheit und Verantwortung Einwänden ausgesetzt. Der Begriff der Freiheit hat keine absolute, sondern immer nur eine situative Bedeutung. Freiheit ist an die Erkenntnis einer realen Wahlmöglichkeit in einer konkreten Situation gebunden.
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Epilog: Natur – Freiheit – Vernunft. Zur Situation der Person
Verantwortlich ist eine Person für eine Handlung nur dann, wenn diese die Antwort auf eine erkannte Wahlmöglichkeit ist. Nur in diesem Fall können ihr die Handlung zugerechnet und in einem rechtlichen Sinne von Schuld gesprochen werden. Unsere Rechtsordnung thematisiert bei der Frage der Schuld sehr genau die konkrete Situation der Person. Sie verwirft den Gedanken eines naturwissenschaftlichen Reduktionismus, in dem die Freiheit keinen Ort hat, ebenso wie einen absoluten Freiheitsbegriff. Aus diesem Grund kommt dem juristischen Verständnis von Freiheit, Verantwortung und Schuld eine zentrale Bedeutung zu. Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit hängen von der Situation der Person ab. Im Strafrecht bedeutet die Schuldunfähigkeit, die früher als Unzurechnungsfähigkeit bezeichnet wurde, die mangelnde Fähigkeit eines Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Sie hat Straflosigkeit zur Folge. Die Frage der Schuldunfähigkeit bezieht sich auf zwei Fallgruppen. Die erste betrifft Kinder und Jugendliche. Dabei spielt der Gedanke eine Rolle, dass sich das Kind erst zur Person entwickelt und daher auch erst im Laufe der Zeit Schuldfähigkeit entwickelt. Aus diesem Grunde sind Kinder unter 14 Jahren generell schuldunfähig (§ 19 StGB). Für Jugendliche im Alter von 14 –17 Jahren gilt das Jugendstrafrecht. In ihm spielen nicht die Strafe, sondern Erziehungsmaßregeln eine maßgebliche Rolle. Die volle Schuldfähigkeit wird im Allgemeinen mit dem vollendeten 18. Lebensjahr angenommen. Allerdings kommt z. T. auch für den Heranwachsenden im Alter von 18 –20 Jahren das Jugendstrafrecht zur Anwendung, wenn der Täter zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand. Die zweite Gruppe umfasst Personen, die bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, geistiger Behinderung oder einer anderen schweren seelischen Abartigkeit (z. B.. Psychopathien oder Triebstörungen) unfähig sind, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln (§ 20 StGB). Bei erheblich verminderter Schuldfähigkeit, z. B.. bei einem hohen Blutalkoholwert kann auch eine „Rauschtat“ vorliegen, die unter gesonderten Gesichtspunkten beurteilt wird. Eine Rauschtat liegt dann vor, wenn durch vorsätzlichen oder fahrlässigen Genuss alkoholischer Getränke oder anderer Rauschmittel die Schuldunfähigkeit herbeigeführt wurde. In diesem Fall wird die Rauschtat bestraft, nicht aber das im Vollrausch begangene Delikt. Bereits Aristoteles ließ den Rausch nicht als Schuldauschließungsgrund gelten. Er argumentierte ähnlich wie das moderne Recht. Zwar sei der Täter nicht verantwortlich für die im Rausch begangene Tat, wohl aber für die Herbeiführung des Rausches. Täter, die aufgrund einer Persönlichkeitsstörung schuldunfähig sind, von denen aber auch in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, können vorübergehend oder auf Dauer in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht werden. Ein wichtiges Ergebnis dieser juristischen Sachverhalte ist die Erkenntnis: Verantwortlich und damit schuldfähig ist nur eine Person, die in der Lage ist, aufgrund von Einsicht zu handeln. Damit wird deutlich, dass die Einsicht – und nicht der Wille – den Schlüssel für das Verständnis von Verantwortung und Schuld darstellt. Die Überlegungen zur Frage der Schuldfähigkeit zeigen die Grenzen der Verantwortung der Person. Sie machen deutlich, dass die Person nicht losgelöst von der Situation, in der sie sich befindet, verstanden werden kann. Die Freiheit der Person und damit ihre Verantwortlichkeit sind situationsabhängig.
4. Pragmatische Vernunft – zur Identität der Person
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Die Situationsabhängigkeit und der unterschiedliche Grad der Handlungskompetenz der Person hat aber nicht nur eine strafrechtliche, sondern eine allgemeine Bedeutung. Sie wirft Fragen auf für alle Fälle, in denen ein Mensch noch nicht oder vorübergehend nicht oder endgültig nicht in der Lage ist, als Person verantwortlich zu handeln. Das betrifft zunächst die Situation des Säuglings und des unmündigen Kindes. Für sie handeln die Erziehungsberechtigten stellvertretend. Sie sind für das Kind verantwortlich. Dieses Handeln ist notwendig. Es lässt sich rechtfertigen, wenn es zum Wohle des Kindes geschieht. In anderer Weise gibt es ein stellvertretendes Handeln, wenn eine Person vorübergehend nicht in der Lage ist, für sich selbst Entscheidungen zu treffen und Verantwortung für sich zu übernehmen. Das ist z. B.. bei krankheitsbedingter oder unfallbedingter Bewusstlosigkeit der Fall. In diesen Fällen ist der mutmaßliche Wille der Person, für die gehandelt wird, zu berücksichtigen und, wenn dieser nicht bekannt ist, das wohlverstandene Interesse des Patienten. Den schwierigsten Fall stellt das endgültige Ende der Handlungskompetenz eines Menschen dar, wie z. B.. bei Komapatienten. Hier stellt sich das Problem der Aufrechterhaltung lebensverlängernder Maßnahmen. Gibt es keine eindeutige Patientenverfügung, dann ist auch hier das wohlverstandene Interesse der Person, die ihre Handlungskompetenz verloren hat, der leitende Gesichtspunkt. In allen genannten Fällen übernimmt eine Person die Verantwortung für einen anderen Menschen. Mit dem Begriff der Verantwortung verbindet sich der Gedanke einer Verantwortungsethik. Sie steht in einer Konkurrenz zu anderen traditionellen Konzepten der Ethik. Die vier wichtigsten seien genannt (vgl. Pleger 2017). Zeitlich an erster Stelle, und möglicherweise auch dem Rang nach, ist die antike Glücksethik zu nennen. Sie hat eine anthropologische Grundlage. In ihr wird, nach Platon und Aristoteles, das Glück als das bestimmt, wonach alle Menschen streben. Eine Transformation der Glücksethik stellt die religiöse Ethik dar. Sie interpretiert den Menschen als Geschöpf Gottes. Ihr Ziel ist das Glück im Sinne der ewigen Seligkeit. Als ein weiteres Konzept wäre die Pflichtethik Kants zu nennen. Sie versteht den Menschen als ein vernünftiges Lebewesen, das dem Anspruch der Vernunft zu genügen hat und in der Lage ist, von eigenen Neigungen abzusehen. Schließlich ist der Utilitarismus zu erwähnen, der das Glück quantitativ zu erfassen sucht. Er nimmt die Glücksbedürftigkeit des Menschen an und orientiert sich am Ziel des ‚größten Glücks der größten Zahl‘ (vgl. Bentham 1975). Im Unterschied zu diesen Konzepten hat die vernunftorientierte Verantwortungsethik einen eigentümlichen Sonderstatus. Sie versteht die Person als einen Menschen, der sich als Urheber seiner Handlungen begreift und daher für sie verantwortlich ist. Als solcher nimmt er Freiheit für sich in Anspruch. Er verantwortet und rechtfertigt seine Handlungen mit vernünftigen Argumenten. Eine Verantwortungsethik verdient nur dann Anspruch auf Anerkennung, wenn sie sich an den universalistischen Prinzipien der Vernunft orientiert. Allerdings handelt es sich bei ihr nicht um eine Pflichtethik, die die Pflicht gegen die Neigung ausspielt. Die Neigungen und Interessen der Person, kurz das Glücksbedürfnis des Menschen, haben in ihr einen wichtigen Platz. Sie orientiert sich an der Identität der Person in einem umfassenden Sinne. Ihr Handlungsmaßstab ist, in den Worten Kants, nicht die „reine praktische Vernunft“, sondern eine pragmatische Vernunft, wie er sie in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht entwickelt hat. Überlegungen hierzu finden sich bereits bei Platon, der betont, dass auf
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Epilog: Natur – Freiheit – Vernunft. Zur Situation der Person
lange Sicht der Mensch nur dann glücklich werden kann, wenn er sich von der Vernunft leiten lässt. Ziel einer vernunftorientierten Verantwortungsethik ist die Identität der Person. Sie kann erreicht werden kann, wenn der Mensch als Person in der Lage ist, die in den vier genannten Problembereichen auftauchenden Ansprüche und Herausforderungen mit seinem eigenen Anspruch auf Identität zu vermitteln. Schematisch lässt sich dieser Vermittlungsprozess wie folgt darstellen:
Weltorientierung (theoretisch und praktisch) Herausforderungen durch das eigene körperliche und seelische Selbst (Bedürfnisse, Gefühle, Glücksstreben)
Person als Instanz der Vermittlung mit dem Ziel der Ich-Identität
Ansprüche anderer Personen, der Gesellschaft und des Staats (moralisch, politisch, rechtlich)
Herausforderungen der natürlichen Umwelt (technisch und künstlerisch)
Das Fazit ist: Der Begriff der Person ist geeignet, wesentliche Aspekte der tradierten Konzepte der Anthropologie zu integrieren. Dazu gehören die mythologische Weltdeutung mit ihrer Betonung der Sterblichkeit des Menschen ebenso wie die Konzepte im Bereich der Kultur und der Geschichte, die Stufen- und Entwicklungsmodelle, das Konzept der Individualität und das des Subjekts. Die Situation des Menschen in der Welt ist problematisch. Er hat – wie das Schema deutlich macht – auf vierfache Weise auf Herausforderungen zu antworten, mit denen er in seinem Leben konfrontiert wird. Er tut dies, indem er sich gleichzeitig zur Person entwickelt und als Person handelt. – Die Person ist als Mensch ein Lebewesen, das wie alle anderen auch, durch seine natürlichen Bedürfnisse ausgezeichnet ist. Aufgrund seiner Sonderstellung in der Natur, die bestimmt ist durch Denken, Sprache, Selbstbewusstsein und Freiheit, befriedigt er sie jedoch nicht wie die Tiere auf natürliche Weise, sondern mit Hilfe von Kunst und Technik. Dazu gehört auch ein bestimmtes Maß an Naturbeherrschung. Doch die ist nach Maßgabe einer pragmatischen Vernunft nicht das letzte Ziel. Es kommt vielmehr darauf an, dass der Mensch sein Bedürfnis der Erhaltung und Gestaltung seines Lebens mit den Herausforderungen und Möglichkeiten der Natur so vermittelt, dass die Bildung seiner personalen Identität ebenso möglich ist wie die Erhaltung eines ökologischen Gleichgewichts der Natur.
4. Pragmatische Vernunft – zur Identität der Person
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– Der Mensch bedarf zu seiner Entwicklung zur Person anderer Personen. Dafür bilden die Mutter-Kind-Dyade und die Familie, als ein sozialer Uterus, einen geeigneten Rahmen. Die Entwicklung zur Person ist dadurch ausgezeichnet, dass das Kind sein eigenes Ich und mit ihm seine Freiheit entdeckt. Es grenzt sein Ich gegen seine Bezugspersonen ab. Dadurch entstehen interpersonelle Konflikte, die mit Hilfe einer Erziehung zur Mündigkeit gelöst werden können, wenn das heranwachsende Kind in die Lage versetzt wird, sich selbst als Person zu definieren. Als Person entwickelt der Mensch zu sich selbst ein eigenes Verhältnis, d. h. ein Selbstverhältnis. Zu ihm gehört die spannungsvolle Beziehung zu seinen körperlichen und seelischen Bedürfnissen. Diese stellen eine Herausforderung dar, die durch Versuche des Ausgleichs und der Vermittlung beantwortet werden. Auch diese Vermittlungsversuche haben als Ziel die Identität der Person. – Als Person ist der Mensch Teil größerer Gemeinschaften, wie Gesellschaft und Staat. Mit ihnen entstehen neue interpersonelle Konflikte, die die Dimensionen der Ethik, des Rechts und der Politik umfassen. Für die Ethik ergibt sich aus der Freiheit der Person unabweisbar Verantwortung. Eine vernunftorientierte Verantwortungsethik erscheint als ein geeigneter Ansatz, der dem Konzept der Person in besonderer Weise gerecht wird. Im bürgerlichen Recht spielt die Geschäftsfähigkeit der Person eine zentrale Rolle, im Strafrecht die Schuldfähigkeit. Im Bereich der Politik erhebt die Person den Anspruch auf Mitbestimmung. – Als denkende, sprechende und handelnde Person reflektiert der Mensch seine Situation in der Welt. Freiheit als Weltoffenheit motiviert zur Weltorientierung, die ein wesentliches Motiv seiner Suche nach Identität bildet. Zu den traditionellen mythologischen und religiösen Weltdeutungen sind in neuerer Zeit auch Weltanschauungen und Ideologien getreten. Von zentraler Bedeutung bleibt jedoch das in der griechischen Philosophie entwickelte Konzept der theoretischen und praktischen Vernunft, das, unter Einbeziehung der Methode des Dialogs, allein einen pragmatischen Weg zu einer konkreten Allgemeinverbindlichkeit enthält. Es ist das Konzept einer dialogisch-pragmatischen Vernunft. Diese bildet auch den Leitfaden für den Ansatz einer pragmatischen Anthropologie, in deren Zentrum die Person steht. Ihren Grundgedanken formuliert Kant so (vgl. Kap. X, 3): „Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“ (Kant VI, 399).
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Register
Sachenregister Abbild 21, 55, 76, 84, 138, 245, 247 Affe 66, 107, 136, 146, 148f., 163, 165f, 182f., 241, 252 Affekt 30, 86f, 151, 267, Angst 87, 133, 158, 174f., 176, 209, 224 Arbeit 55, 101, 177, 219, 228, 252ff., 256–259, 270, 300 Atom 14, 76–79, 82, 142, 187f., 192, 206, 239f. Aufklärung 68f., 96, 102, 115, 196, 202 Ausdruck 92, 158, 201, 289f. Autobiographie 77, 128, 164 Bedürfnis 61, 71, 101f., 113, 148, 173ff., 198f., 234, 255f., 292f., 300 Bewusstsein 45, 111, 113, 130, 137, 147, 149, 156–159, 172, 204, 225ff, 231f., 252, 261f., 264, 266f., 271–276, 282, 284, 287, 292, 298, 302, 304 Bildung 90, 100ff., 105, 107f., 126, 165f., 179, 181, 183, 185, 188, 196ff., 200f., 203, 219, 224f., 238, 258, 266f. Bipedie 165, 184 Bürger 31–34, 76, 79, 100, 108, 116, 119–123, 202, 213, 217, 219, 228ff., 259, 270, 286 causa efficiens 50, 118, 125, 139, 190, 243 causa finalis 51, 118, 125, 139, 190 Chaos 24, 78, 82, 191 Christentum 34ff, 41, 43, 61, 82, 135, 210, 219f, 255 Dasein, das 31, 38, 79, 117, 123, 126, 130–133, 151f., 154, 158f., 164f., 167ff., 186, 203, 208, 210, 243, 269, 273, 277, 295
Denken, das 52, 58ff., 61, 63ff., 69, 70f, 75, 83, 85, 95, 97, 103, 105, 111, 113f., 129, 139, 142, 191, 203, 222, 230, 239, 244, 247f., 249, 251f, 261, 264–269 Destruktionstrieb 173f., 178 Ding 14, 51, 59, 61f, 64f., 68, 85f., 113, 131, 134f, 136f, 139, 149, 151, 153f., 159, 187, 194, 203, 204, 215, 221, 225, 238f., 247, 249, 262–265, 267f., 272, 274f, 280, 284f., 291, 294f. Dualismus 13, 61, 66f, 70f., 73ff., 83, 110f., 140, 152, 189f. Ebenbild 13, 38, 40ff., 46 Eigentum 218, 228, 236, 238, 254, 260 Einzelne, das/ der 14, 42, 49, 59, 71, 76, 81, 105, 113, 119, 138f, 143f., 187f, 193, 196f., 198, 202, 216f, 228, 234, 239f., 301 Embryo 52, 109, 163f., 172, 240, 244, 249, 289 Empirismus 69f., 222, 229 Entelechie 139, 140f., 189–192 Entfremdung 201, 257f. Entwicklung 9, 12, 14, 51f, 72, 89, 91, 102, 114, 118, 124, 140, 143, 146f., 149, 153ff., 158, 161–167, 170–173, 175ff., 179f., 182–185, 196ff., 200, 204f., 207–210, 232f, 235, 240, 242, 244, 248–260, 266, 288–293, 301, 304 Erbsünde 41, 47f., 52f. Erde 11f., 17–20, 23–26, 28, 36–41, 44f., 89, 91, 96, 99, 105, 118, 135f., 146, 185f., 214, 228f., 239, 251, 253f. Erfahrung 70, 102f., 105f, 108, 110, 125, 148, 174, 177, 196, 222–225, 237, 242f., 246, 262f., 265, 271–275, 294, 296ff., 303
Register
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Erkenntnis 30, 35f., 38, 47, 49ff., 53f., 57f., 60, 69ff., 74, 83, 87ff., 124, 139, 149f., 191, 193, 195, 199, 214, 222f., 230, 243, 252, 262, 265, 271, 278, 288, 293–297, 301 Eros 31, 96ff., 101, 173f., 178 Erziehung 113, 176, 184, 202, 217, 232f., 246, 304f. Evolution 14f., 17, 36, 38, 74, 76, 89, 91, 106, 155, 162ff., 179, 181f., 208, 242, 252 Existenz 11, 44, 50f., 58, 64f., 69, 84, 91, 96, 110, 131ff., 147, 151, 155, 157ff., 167, 186, 224, 275f., 279, 284, 288, 294, 296 Feind 32, 39, 61, 88, 99, 108, 112, 121, 209f., 212, 254 Feindesliebe 82, 246 Feuer 18, 25, 80, 96, 98ff., 105, 111, 139 Fortpflanzung 51f., 89ff., 141,147f, 168, 180f., 218 Fortschritt 13, 15, 23, 68, 91, 112, 115ff., 170, 198, 250, 254 Frau 23, 25f., 30, 33, 38ff., 46, 53, 143, 197, 199f., 299 Freiheit 13f., 33, 43, 53f., 68f, 80, 87f., 94, 96, 104f., 107, 114, 117–120, 122, 125, 133, 151, 156, 158, 182, 186, 189, 192ff., 197, 202–205, 227ff., 236ff., 260, 262ff., 266, 269f., 279–285, 287, 298f., 303ff. Freude 86, 128f., 166, 227, 246 Frieden 27, 117, 120–123, 219, 229, 243f., 270 Geburt 11, 19, 26, 40, 47, 59, 79, 92, 104, 170, 175, 182ff., 238, 262, 283, 289, 299 Gedächtnis 45, 64, 66, 78, 142, 147f., 166, 168, 174, 223f., 227, 231f Gefühl 56, 72ff., 84, 112, 129, 145, 147, 151, 158, 167–170, 185, 198, 200, 209, 244f., 246, 249, 263ff., 282, 290, 292 Gehirn 56, 66, 74, 84, 92, 107, 164ff., 172, 183, 190, 232, 240, 244f., 249, 251ff., 303 Geist 45, 47, 52, 61–67, 74, 80, 83ff, 88, 94, 110, 112, 114, 119, 125f, 137, 142ff., 149ff., 158ff., 189, 191, 199–201, 213, 218, 223, 241, 245, 248f., 251, 257, 261, 262, 264, 283, 286, 303 Geisteswissenschaften 124–127, 152, 277 Gerechtigkeit 57f., 143, 204, 219, 224, 301 Geschichte 12f, 15, 17, 24, 26ff., 30, 35f., 38, 40ff., 46, 55, 76, 89, 92, 97, 102, 106, 108, 115–120, 123ff., 127, 130–135, 148, 161, 163, 193, 211, 240, 248–252, 254f., 259f., 270, 283, 286f., 297 Geschichtlichkeit 116, 132, 161
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Register
Geschlecht 11, 26, 32, 42, 48, 56, 96ff., 166, 175f., 181, 199f., 218, 246 Geschöpf 13ff., 45f., 48, 54, 106ff., 116ff., 191, 233 Gesellschaft 47f., 53, 114, 116, 119, 121, 178, 188, 195, 210, 217, 228f., 233, 240, 251ff., 254, 259f., 293 Gesetz 27, 48, 53, 65, 68, 71ff., 79, 83, 103, 118f, 122, 125, 127, 136, 155, 158f., 161, 182, 190, 200, 205, 210, 220, 227, 229, 234, 236ff., 240, 246f., 250ff, 262, 266f., 272 Gestalt 52, 97, 107, 124, 134f, 157, 165, 181–186, 199f., 204, 225, 246, 300 Gewalt 27, 45, 73, 94, 101, 120–123, 148, 173, 209, 228f., 256, 298 Gewissen 68, 86 112f., 133, 168f., 177f., 220, 224, 269, 293, 303 Glaube 18, 35f., 43ff., 48–51, 54, 60, 62, 70, 159f., 167, 220, 255, 268ff., 273f, 278 Glück 28, 30, 34, 47, 71, 73f., 83, 87, 108, 119f., 143f, 194f., 207, 224, 227, 232, 234, 236, 297 Gott/Götter 14f, 17–54, 56, 64f., 69, 73, 76, 78f., 83ff., 87f., 95–101, 103, 105, 117f., 135f., 146, 150f., 154, 158f., 190–195, 204f., 212, 220, 224, 228, 241ff., 255, 261, 270, 279, 282, 288f., 294, 301ff., 305 Gottesbeweis 36, 50f., 62, 64f., 84, 160, 255, 294 Gute, das 36, 38, 47ff., 53f., 58, 60, 82, 107, 143, 147, 149, 193, 195, 224 Handlung 21, 30–34, 37, 46, 53, 66, 68, 71f., 81, 93, 110f., 119, 125, 128, 148, 156, 168, 177, 194, 197, 206f., 209, 226f, 234–238, 253, 265, 267, 280, 282ff., 286ff., 290, 292, 297ff., 301–306 Handwerk 13, 25, 96, 99f., 101, 139, 141, 283 Hoffnung 18, 23, 26, 73f., 86, 115f., 167 Humanität 107f., 169f., 219 Hybris 13, 22, 29, 98 Ich, das 11, 93, 158, 172–175, 177, 213, 222, 229, 232f., 262, 264f., 267f., 273, 275, 293, 299, 303 Idealismus 75, 124f., 146, 159, 206, 239f., 248f., 263ff., 267, 271, 273f., 280 Idee 50, 58ff., 69, 72, 75, 107, 115f, 118ff, 134, 139, 146, 149f., 155, 159, 166, 169, 196, 222–225, 235ff., 239f, 245, 278, 280f. Identität 75, 84f., 213, 221, 223, 225, 226f., 231f., 261, 293, 299
Individualität 34, 102, 166, 187ff., 192f., 195–202, 204–207, 213, 220 Individuum 14ff., 52, 76, 87, 90, 93, 114, 118, 151, 186–194, 196ff., 200, 202–212, 216, 267, 285.f Innerlichkeit 45, 157, 181f. Instinkt 102ff., 107ff., 114, 147f, 156, 158, 167–170, 209, 233, 246 Institution 14, 113f., 126, 128, 166 Intelligenz 68, 147ff., 158, 185, 246f., 262, 265, 268 Intersubjektivität 67, 132, 272, 275f., 284ff. Kampf ums Dasein 158, 164f., 167ff., 186, 208 Kausalität 127, 291 Kind 39, 42, 44, 47, 52, 102, 105, 108f., 111ff., 117, 162, 167, 171, 175f., 182f., 185, 223f., 230, 232f., 238, 246, 254, 289–293, 304f. Kirche 41, 43, 45, 49, 62, 82 Kompensation 95f., 99, 101ff., 105, 111f. Konkurrenz 23, 28, 119, 254 Körper 47, 50, 52, 56, 60ff., 65ff., 80, 84f., 88, 108ff., 137, 140–143, 147, 151, 153–157, 165, 170, 172f., 178f, 183f, 189f, 199, 204, 206f., 213, 217, 225–229, 239ff., 243f. Kosmos 19, 61, 76, 78f., 81, 83f., 189, 191f. Krankheit 23, 26, 33, 58, 65, 95, 171, 195, 240, 245, 289f., 297 Krieg 19–23, 26, 28, 46, 58, 77, 87, 100f., 119–123, 169, 173, 219, 227f., 255, 270 Kultur 13, 77, 96, 102, 109ff., 114, 158f., 169f., 197f., 200, 210, 270, 303 Kunst 13, 38, 58, 96, 103f., 106, 128f., 158f., 186, 204, 222, 233, 241, 245, 277f., 285f., 300 Leben 21, 22, 26, 33, 40f., 48, 52, 59, 76, 79, 81, 83, 86, 89, 95, 105, 117, 126, 128, 140, 144, 146f., 150ff., 155f, 169, 173, 206, 215, 246 Lebensphilosophie 126, 206, 278 Lebenswelt 276–279 Leib 22, 47, 55–61, 73f, 79ff., 156f., 173, 179, 182f., 208, 224, 256, 262 Leid 13, 23, 26, 34, 40, 98f., 118, 147, 167, 188, 204–207, 209f., 245, 297f. Lernen, das 58f., 111, 148, 184, 290, 293 Liebe 20f., 44, 53, 73, 81ff., 86f., 94, 96ff., 101, 107, 149, 151, 167, 176, 195, 246, 255 Macht 17, 19ff., 45, 65, 76, 78, 80, 87, 97, 148, 150, 173, 175, 177, 188, 195, 203–211, 217, 224, 229, 240, 249f., 260, 278, 282, 291, 301
Mängelwesen 12f., 15f., 99, 101, 103f., 109, 112, 182, 232, 245 Mann 18–21, 23, 25, 28, 36, 38–42, 46, 48, 53, 79, 97, 143, 164, 169, 197, 199f, 253 Maschine 65ff., 102, 104, 135, 172, 189, 225, 240f, 243f., 246f., 253, 300 Maschinenmensch 241, 246f. Materialismus 14, 139ff., 246–249, 255, 260, 263, 266, 281f., 286 Materie14, 74, 106, 142, 144, 187, 191, 200, 224f, 239, 241ff., 249, 251, 260, 263f., 266, 281 mechanisch 14, 104, 171, 190, 239ff., 243, 246f., 249f., 264, 281 Menschheit 46f, 51, 68, 101, 115, 128, 169f., 195–198, 207, 219, 228, 233–237, 249, 277f., 287, 302 Metaphysik 63f., 103, 106, 124, 126, 130, 132f., 197, 206, 211, 230f., 273 Mitleid 30, 72, 86f., 108, 129, 204, 206, 209f. Möglichkeit 50, 125–128, 132f., 138, 142, 154ff., 158, 194, 200, 233, 280, 286, 296–299, 304 Monade 123, 188f., 191f., 241, 261, 275f., 285 Monismus 13, 75f., 80, 301 Moral 67, 74, 113, 123, 166f., 169, 178, 208–211, 230, 237, 292f. Mutation 164, 170, 180f. Mythos 13, 15, 19, 24–27, 29f., 35ff., 39, 46, 60, 95–102, 105, 109, 115, 117, 134, 215, 301 Natur 13, 15, 21, 35, 42, 44f., 47–51, 53f., 58, 61, 68, 71f., 76–87, 89, 96ff., 101–109, 116–120, 122f., 135ff., 140f., 143, 150, 156, 158–161, 163, 170, 181f, 188, 190, 192, 194f., 198–201, 204f., 208, 213–218, 221, 224, 227f., 231–234, 236, 240, 242f., 245f., 248–257, 260, 266f., 270, 279, 300f. Naturgeschichte 76, 89, 102, 106, 108, 161, 163, 240, 248ff., 254 Naturgesetz 48, 53, 65, 68, 71, 103, 118, 125, 136, 190, 234, 240, 266 Nervensystem 89, 92f., 147, 156, 172, 182, 199 Nestflüchter/Nesthocker 182f. Notwendigkeit 50, 54, 78, 83, 85f., 118, 127, 140, 155, 194, 200, 203, 240, 251, 260, 262f., 265f., 268, 272, 296ff. Objekt 12, 134, 152, 173, 223, 245, 262, 265, 268, 272, 274, 282, 284, 292f. Objektivität 34, 124, 192f., 268, 276ff. Organisation 88, 90, 93, 106f., 137, 144, 172f., 175, 180, 182f., 199, 225, 242
Register
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Organismus 79, 91f., 94, 145, 155f., 180, 244, 249, 292 Parallelismus, psycho-physischer 85, 88, 190 Person 11, 14ff., 20, 25, 30, 71, 85, 121, 128f., 132, 145, 149, 151, 153, 157f., 193, 204, 212–217, 219–222, 225–238, 266f., 282, 288–294, 296–306 Persönlichkeit 114, 217, 220, 227, 231, 233f., 236ff., 283, 290, 304 Pflanze 14, 19, 38, 52, 91, 106, 109, 137–141, 145, 147, 153, 155, 164, 180f., 191, 201, 266 Pflicht 27, 71f., 74, 107, 214, 219, 228, 233–238, 270, 298 Phantasie 45, 66, 94, 142, 154, 168f., 176, 200, 248, 265, 297 Politik 33, 96, 100f., 138, 143, 214, 227, 255, 260 Psyche 13, 21f., 55–58, 172 Pubertät 175f, 185f. Ratio 35, 43f., 49, 52, 54, 81, 96, 185, 206, 221, 230 Rationalismus 69, 222, 278 Realität 127 158f., 174, 177f, 237, 263, 268f., 293, 295ff. Recht 11, 14, 26ff., 32ff., 40, 53, 68, 96, 100f., 107f., 116, 119–123, 126, 136, 169, 197, 202, 210, 212–217, 219, 227ff., 237f., 249, 270, 284, 291, 293, 301, 304ff. Reflexion 12, 52, 103ff., 111, 147, 149, 157f., 169f., 225, 271, 274f., 285, 288, 293 Reflexivität 80, 159, 294 Religion 41, 55, 73f., 112, 126, 160, 166f, 202, 220, 224, 230, 248, 255f, 268, 292, 301f. Rolle 14, 212–217, 219f., 228, 283, 292 Sache 20, 25, 111, 121, 216, 229, 235, 238, 291, 295 Säugetier 146, 162f., 179, 182ff., 289 Säugling 11, 95, 182ff., 289, 298, 305 Schicksal 13, 19ff., 30–33, 60, 67, 80, 95, 97, 160, 212, 281 Schmerz 13, 23, 31, 39f., 66, 84, 128, 137, 143, 149, 158, 224, 227, 245f, 297 Schöpfer 15, 51, 104, 119f., 151, 167, 192, 228, 242, 261, 270, 282f. Schöpfung 13, 35–37, 40f., 46, 51f, 82, 99f., 107, 120, 146 Schuld 27, 30, 33f., 47, 101, 108, 133, 139, 267, 303ff. Seele 17f., 21f., 36, 46, 52f., 55–61, 64, 66, 69, 73f., 78ff., 84, 97, 105, 109, 124, 128, 132, 137, 139–144, 151, 157ff., 170–175,
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Register
187, 189ff., 209, 230f., 240f., 243ff., 262, 282, 303 Sein, das 51ff., 60, 75, 129–133, 135, 145, 206, 239, 273, 299 Selbstbestimmung 12, 16, 299, 302, 305 Selbstbewusstsein 14, 16, 45f., 74, 94, 137, 145, 149, 157, 166, 213, 227, 231, 238, 266, 292, 294 Selbsterhaltung 53, 86f., 91f., 94, 123, 144, 154, 168, 173ff., 178, 204, 217, 228 Selbsterkenntnis 45, 177, 205, 293f. Selbstverhältnis 12, 23, 293 Sexualität 98, 175f., 181, 208 Sinnlichkeit 52, 56, 70–74, 102, 110, 200 Sitte 67, 96, 198, 202, 207, 292 Sittlichkeit 207, 237, 254, 270 Situation 11, 13, 16, 25, 27f, 30, 33, 37, 40, 55, 70, 78, 97, 103f., 115, 124, 183, 212, 232, 256ff., 262, 280f., 283, 288, 292–302, 304f. Skepsis 42, 63, 273, 294, Soma 13, 15, 22, 55–59, 67, 173 Sprache 12, 29, 33, 67, 93f., 96, 102–105, 112f., 129, 135, 143, 166f., 184f, 197, 201f., 223, 230, 232f., 241, 247, 253, 290, 292, 295, 302 Staat 32f., 47f., 54, 56, 76, 79, 81, 88, 101, 119–123, 126, 143, 172, 186, 197, 202f., 228f., 270 Sterblichkeit 15, 17f., 21f:, 95 Stoffwechsel 80, 88, 153, 260, 300 Streit 19f., 22f., 28, 55, 98, 101, 120, 228, 237, 239.f, 263f. Stufen 14f., 52f., 89, 106f., 112, 115, 136–140, 144–147, 149–154, 161, 166, 180, 183, 185, 191, 204, 252, 266, 292 Subjekt 12, 14f, 64f., 70f., 74, 82, 103, 124, 130, 132, 134, 152, 157, 159, 189, 191, 193, 212ff., 216, 222, 231, 236ff., 261–265, 268, 271–277, 280, 283–288, 293, 296, 299 Subjektivität 14, 63f., 67, 95, 124, 126, 130, 132, 146, 191ff., 213, 222, 231, 261, 273, 275, 279, 284ff., 288, 293 Substanz 48, 52, 63–66, 76, 78, 80, 83–88, 90, 132, 138, 149, 179, 187–191, 193, 213, 220ff., 224–227, 230ff, 241f., 261, 263f., 273 Sünde 40ff., 44, 46ff, 52f., 115 Technik 99f., 102, 109–112, 116, 134f., 189, 247, 300 Teleologie 51, 91, 153f. Tier 12–15, 27, 52, 66f., 93, 95, 100–104, 106f., 110, 113, 137, 139f, 142, 148–151,
153, 155ff., 166, 168, 182, 186, 216, 218, 225, 240, 245f., 256, 266, 289 Tod 17, 19ff., 26, 29, 31, 33f., 40f., 46, 55–60, 81ff., 92, 95, 132f., 147, 153, 157, 180, 246 tragisch 29–34, 207, 215 transzendental 70, 74, 82, 103, 127, 130, 159, 191, 230, 262f., 265, 271–277, 285 Trieb 86, 104, 147ff., 151, 166, 258 Trotz 82, 291 Umwelt 91ff., 99, 108–112, 145, 148f., 153f., 156f., 163ff., 184, 277f., 290 Unsterblichkeit 21f., 46, 55, 57f., 69, 73, 140, 143 Ursache 33f., 50f., 54, 66, 76, 78, 83–86, 101, 121, 125, 127, 139ff., 181, 190, 192ff., 218, 224, 243f., 250, 265, 282 Verantwortung 133, 217, 287f., 293, 302–306 Vernunft 13, 18, 26, 35f., 43.f, 46–54, 56, 64, 67–74, 79ff., 83, 86ff., 96, 103ff., 107, 114, 116f., 119, 123, 126f., 144, 146, 149, 151, 194, 202, 206, 213, 216, 218, 221, 224, 228, 230, 232, 237, 241, 245, 269f., 277, 305 Verstand 56, 64, 68, 74, 79, 70, 83, 104, 110, 123, 222ff., 230, 242, 263, 267 Vollkommenheit 50, 64f., 97f., 101, 111, 191, 194f., 198, 203, 233, 236 Vorstellung 11, 64f., 71, 84, 124, 142, 148, 191, 203, 206, 223, 229, 232f., 265, 269, 297
Wahrheit 15, 35, 45, 48, 53, 57f., 60, 65, 129, 134, 185f., 218, 249, 252, 269, 284f., 293–296 Wahrnehmung 63, 126, 137, 141ff., 186, 223, 225, 227, 263, 267, 274f. Welt 11, 13, 19, 22, 24, 31, 35–40, 42–47, 50ff., 54f., 63ff., 68f., 76–79, 82, 84, 93ff., 99, 104, 108ff., 112f., 117, 124–128, 131f., 134, 136, 145f., 149ff., 157, 159f., 162, 179, 185f., 188–194, 196f., 199ff, 204f., 207, 212, 215, 236, 238f., 243, 246f., 249, 261f., 265, 269–275, 277f., 283f., 288–291, 294ff., 301f. Weltanschauung 125f., 207, 254, 260, 277, 283, 301 Weltgeschichte 115f., 120, 270 Weltoffenheit 110, 112, 131, 151 Wille 48, 54, 72, 80, 84, 121f., 137, 150, 203f., 206ff., 267, 269f, 304, Willensfreiheit 204f., 298 Wirklichkeit 20, 50, 53, 102, 126f, 138, 142f., 147, 149f., 160, 186, 196, 199f, 206, 239, 252, 255f., 274f., 278, 295ff. Wissen 18, 34, 39, 43f., 49f., 59, 63, 70, 159, 256, 266–269, 294, 300, 302 Wissenschaft 20, 49, 63, 100, 112, 129, 134, 152, 230, 233, 247, 251, 255, 260, 276ff., 302 Zeit 45, 79, 96, 115, 127, 130, 132, 153, 182, 225, 231, 251, 291, 294f., 297
Personenregister Adorno, Th. W. 114, 260 Aischylos 29ff. Albertus Magnus 49 Anaximander 59, 99, 136, 163 Anselm von Canterbury 50, 65 Aristoteles 14, 15, 30ff., 49–53, 86, 101, 110, 125, 137–144, 146f, 152f., 155, 161f., 165, 187, 190, 215, 221, 232, 239, 258, 294f., 298, 301f., 304f. Augustinus 35f, 41–50, 63f., 128, 172, 194, 203, 212, 220 Avenarius, R. 277 Baeumler, A. 211 Barth, K. 41 Bergson, H. 125 Bloch, E. 130, 260, 300 Brandes, G. 210 Buddha 149
Cäsar 193 Cesare Borgia 210 Cicero 42, 121, 187, 212–221 Darwin, Ch. 14, 36, 91, 108, 144, 147, 149, 154, 158, 162–170, 172, 179ff., 208, 250, 252 Demokrit 125, 187, 239, 255 Descartes, R. 13, 56, 62–67, 69, 83f, 172, 190f., 222f., 230, 241, 244, 247, 261, 263, 272f., 294f., 303 Diderot, D. 102, 249 Dilthey, W. 116, 124–131, 145, 152, 206, 294f. Driesch, H. 109, 152, 154 Dubois-Reymond, E. 74 Empedokles 163 Engels, F. 240, 248-255, 260, 281 Epiktet 172, 219 Epikur 17, 77, 125, 172, 255
Register
319
Feuerbach, L. 124, 248, 255f. Fichte, J. G. 125, 238, 262–266, 268–271, 274, 276, 278, 280, 283, 288 Flaubert, G. 286 Frege, G. 271f. Freud, S. 17, 150, 158, 162, 170–178, 282, 292 Freyer, H. 109, 114 Friedrich II., der Große 122 Gadamer, H.-G. 129, 135 Galilei, G. 36, 62, 242, 278 Gehlen, A. 15, 96, 103, 109–114, 151 Goethe, J. W. v. 34, 88, 102, 108, 126, 128, 181 Habermas, J. 260, 292 Haeckel, E. 76 Hamann, J. G. 102, 144 Hartmann, N. 130, 136, 146, 298 Hegel, G. W. F. 33f., 114, 123f, 126, 196, 203, 206, 238, 240, 247f., 252, 254, 256f, 260, 262, 271, 299, 302 Heidegger, M. 18, 28, 110, 116, 129–135, 151, 211, 279, 296 Heraklit 55, 59, 75, 79f., 134, 136, 293, 295 Herder, J. G. 88, 95f, 102f., 105–109, 126, 144, 161 Hesiod 19, 23–28, 98–101, 115 Hobbes, Th. 87, 101, 125, 227 Homer 11, 18–25, 27, 55, 57, 98 Humboldt, A. v. 181 Humboldt, W. v. 108, 144, 188, 196–203, 232, 238 Hume, D. 69, 222 Husserl, E. 64, 129f., 145, 151, 159, 262, 271–280, 284f., 288 Jesus 41, 117 Kant, I. 11, 13, 18, 56, 67–74, 102, 108, 110, 115–123, 125ff., 132, 136, 151, 161, 178, 191, 195, 203f., 213, 219, 221f., 229–238, 249, 255, 261ff., 271, 280, 294f., 301, 305 Kierkegaard, S. 36, 41, 124, 206 La Mettrie, J. O. 66, 172, 240–247 Leibniz, G. W. 14, 34, 56, 69f., 76, 83, 88, 102, 117, 123, 136, 172, 187–195, 197, 222, 229, 241, 261, 266, 275f., 296f. Lessing, G. E. 88, 102 Leukipp 187, 239 Locke, J. 69f., 213, 222–229, 231, 296 Löwith, K. 88, 115, 124, 133, 211 Luhmann, N. 94, 114
320
Register
Luther, M. 41, 48, 203 Malthus, R. 164 Marc Aurel 76–82, 84f., 87f. Marx, K. 123ff., 150, 158, 206, 240, 248, 254–260 Maturana, H. R. 76, 89, 91–94, 144 Mendel, G. 180 Merian, M. 192 Mill, J. St. 272 Napoleon 76, 210, 263 Nietzsche, F. 34, 61, 82, 88, 111, 124, 158, 188, 203–211 Parmenides 75, 126, 138f., 239 Pascal, B. 36, 136 Paulus 35, 41, 47f., 219f. Piaget, J. 179, 291f. Pico della Mirandola 41, 137 Platon 17, 23, 28, 50, 53, 55–61, 65, 75f., 78f., 81, 84f., 96–99, 101, 109, 116, 123, 125, 134, 137–140, 187, 191, 215, 218, 232, 239f., 296, 301f. Plessner, H. 137, 144, 151–160 Portmann, A. 108, 162, 179, 181–186, 289 Pythagoras 55ff., 140, 215 Ricœur, P. 129 Roth, H. 291 Rousseau, J.-J. 128 Sartre, J.-P. 34, 260, 262, 271, 279–288 Scheler, M. 110, 131, 137, 144–152, 234, 238, 279 Schelling, F. W. J. 126, 203f., 266, 271 Schopenhauer, A. 34, 126, 188, 203–207 Singer, W. 74, 94, 303 Sokrates 56–60, 75, 96, 98, 100, 125, 138, 187, 193, 206 Solon 28, 30 Sophokles 29–34, 46 Spinoza, B. de 15, 76, 82–88, 91, 102, 105, 126, 167, 190, 195, 242f., 266 Spitz, R. 289f. Stalin, J. W. 281 Strawson, P. 229 Teilhard de Chardin, P. 151 Thomas von Aquin 36, 48–54, 109, 144, 213, 221 Uexküll, J. v. 93, 156 Vernant, J.-P. 31 Vico, G. 115 Westermann, C. 37, 39ff. Windelband, W. 161