Grundlagen und Grenzen der Analogie ›in bonam partem‹ im Strafrecht [1 ed.] 9783428542000, 9783428142002

In der Strafrechtswissenschaft herrscht weitgehend Einigkeit über die Zulässigkeit der Analogie ›in bonam partem‹. Dies

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Grundlagen und Grenzen der Analogie ›in bonam partem‹ im Strafrecht [1 ed.]
 9783428542000, 9783428142002

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Schriften zum Strafrecht Band 253

Grundlagen und Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht Von

Juan Pablo Montiel

Duncker & Humblot · Berlin

JUAN PABLO MONTIEL

Grundlagen und Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

Schriften zum Strafrecht Band 253

Grundlagen und Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

Von

Juan Pablo Montiel

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-14200-2 (Print) ISBN 978-3-428-54200-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-84200-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Bernarda und Joaquina, „hay tantas cosas, yo sólo preciso dos“

Geleitwort So groß die Einigkeit – in Deutschland schon auf Grund der positiv-rechtlichen Regelungen in Art. 103 II GG, § 1 StGB, aber auch in zahllosen anderen Rechtsordnungen – darüber ist, dass eine den Täter belastende Analogie im materiellen Strafrecht unzulässig ist, so wenig wird verbreitet über die Frage nachgedacht, wie es sich mit der Analogie „in bonam partem“ verhält. Wo die Frage angesprochen wird, wird die Zulässigkeit häufig – gleichsam im Wege eines knappen Umkehrschlusses – bejaht. Dieses Ergebnis ist aber keinesfalls selbstverständlich: Zum einen ist beim Aufeinandertreffen von Freiheitssphären und Handlungsspielräumen immer daran zu denken, dass das, was der einen Seite (durch eine Analogie in bonam partem) gegeben wird, u. U. der anderen Seite genommen wird. Dieses Phänomen ist besonders deutlich im Bereich der Rechtfertigungsgründe, da die analoge Anwendung eines Rechtfertigungsgrundes zumindest auf den ersten Blick immer auch zugleich das Entfallen eines Notwehrrechts beim Gegenüber zur Folge zu haben scheint – dies übrigens als das Feld, in dem noch am meisten über begünstigende Analogien nachgedacht wird. Zum anderen berührt jede Analogie – und damit auch diejenige in bonam partem, zumal im Bereich der oft bewusst eng und ausnahmeartig gestalteten Gründe, welche auf verschiedenen Ebenen zur Straflosigkeit führen können – die Gesetzesbindung des Strafrichters. Grund genug also, dieser Frage näher auf den Grund zu gehen. Das vorliegende Buch wurde von Juan Pablo Montiel während der Zeit fertig gestellt, die er gerade als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an meinem Erlanger Lehrstuhl verbringt. Die Wurzeln des Werkes reichen freilich schon viel weiter zurück bis zu seiner Dissertation – indes wurde auch diese bereits in wichtigen Teilen während früherer Forschungsaufenthalte in Erlangen verfasst. Vor diesem Hintergrund erfüllt das Werk mich besonders mit Freude und Stolz, weil sein Thema sich auf diese Weise durch unsere gesamte, schon mehrere Jahre währende akademische und persönliche Freundschaft zieht. Dabei ist es nicht die einzige Frucht von Juan Pablo Montiels Forschungsaufenthalten in Deutschland und nicht der einzige Beleg seiner beeindruckenden Kenntnisse der dogmatischen Diskussion in Deutschland. Ich wünsche dem Werk die freundliche Aufnahme, die es mit Blick auf den wissenschaftlichen Impetus und den großen Fleiß des Verfassers verdient. Erlangen, im Juni 2013

Hans Kudlich

Vorwort Das vorliegende Buch enthält die Hauptthesen meiner Schrift „Analogía favorable al reo. Fundamentos y límites de la analogía in bonam partem en el Derecho penal (2009)“, die in Spanien sowie auch in Kolumbien veröffentlicht wurde. Die ursprüngliche Projektidee bestand darin, eine deutschsprachige verkürzte Fassung des spanischsprachigen Textes herzustellen. Eine strenge Ausrichtung an der geltenden Lage des positiven Rechts in Deutschland sowie die Ergänzungen und Vertiefung meiner Argumente haben das vorliegende Werk aber sozusagen in eine „zweite Auflage“ verwandelt. Dieses Buch wurde hautpsächlich in Rahmen eines Forschungsprojekts an der Universität de los Andes (Kolumbien), aber auch bei meinen Forschungsaufenthalten in Deutschland geschrieben. Dabei möchte ich an dieser Stelle dem Dekanat für Forschung der Universität de los Andes, dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht und der Alexander von HumboldtStiftung für die großzügigen Forschungszuschüsse bzw. Stipendien ganz herzlich danken. Einen besonderen Platz bei der Danksagung nehmen meine wissenschaftlichen Lehrer und Freunde Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jesús-María Silva Sánchez und Prof. Dr. Hans Kudlich ein. Dieses Buch ist deshalb implizit auch ihnen gewidmet. Ihre jahrelange wissenschaftliche Betreuung und persönliche Unterstützung machen meine beiden Lehrer zu „qualifizierten Teilnehmern“ an diesem Werk. Meine Denkweise über das Strafrecht und über die Arbeit an einer Hochschule ist immer noch von ihrer Persönlichkeit und ihren Gedanken geprägt. Für die Hilfe bei der sprachlichen Überprüfung der Arbeit und der Formatierung des Textes möchte ich auch noch den damaligen und gegenwärtigen Mitarbeitern des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie der Universität Erlangen-Nürnberg, Frau Dr. Silke Noltensmeier, Herrn Dr. Jan Schuhr, Frau Jana Kuhlmann und ganz besonders Frau Ramona Herold sowie Herrn Michael Stolzenberger herzlich danken. Dank schulde ich schließlich Herrn Johann Melchior Reiser, der das letzte Kapitel ins Deutsche übersetzt hat, sowie den Mitarbeitern des Verlages für die freundliche und geduldige Betreuung. Das Buch ist meiner Frau Bernarda und meiner kleinen Tochter Joaquina gewidmet: Ihre Liebe, Eintracht und Fröhlichkeit bringen ein Stück Himmel in unsere Familie und in mein tägliches Leben. Erlangen, im Juni 2013

Juan Pablo Montiel

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erstes Kapitel Was ist die „Analogie“ in bonam partem? A. Fragestellung: Verwendung des Wortes „Analogie“ im Strafrecht . . . . . . . . . B. Analogie zugunsten des Täters als Mittel zur Rechtsfortbildung im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strafgesetzesauslegung, Strafgesetzesanwendung und Strafrechtsfortbildung II. Korrektur des Strafrechts und richterliche Rechtsschöpfung durch Analogie in bonam partem – die außerstrafrechtliche Rechtsanwendung und weitere ähnliche Rechtsfortbildungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24 24 25 25

33

C. Voraussetzungen der Analogie in bonam partem im Strafrecht . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Vorliegen einer Ausnahmelücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff der „Ausnahmelücke“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lückenarten und Ausnahmelücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Ausnahmelücken setzen eine gesetzgeberische Unaufmerksamkeit voraus – Zur Unterscheidung von Ausnahmelücken und bloßen Wertunstimmigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strafausschließende Generalregelungen und Anerkennung von Ausnahmelücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fehlen eines Strafrechtsfortbildungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41 41 42 42 42

D. Arten der Analogie in bonam partem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung in die Formen der analogischen Strafrechtsschöpfung zugunsten des Täters und strafrechtliche Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Dreierlei Klassifikationen der Analogie in bonam partem . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzesanalogie in bonam partem: Begriff, Struktur und Fälle . . . . . . . . 3. Institutionsanalogie in bonam partem (Analogie institutionis in bonam partem): Begriff, Struktur und Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsanalogie in bonam partem: Begriff, Struktur und Fälle . . . . . . . . . .

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48 51 56

60 68 68 71 80 90

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Inhaltsverzeichnis Zweites Kapitel Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

A. Einleitung: Die Bedeutung des Gesetzlichkeitsprinzips als beschränkende Regel strafrechtlicher Staatsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsstaatliche Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Gesetzlichkeitsprinzip im klassischen Konstitutionalismus . . . . . . . . 3. Das Gesetzlichkeitsprinzip im Neukonstitutionalismus (radikaler und gemäßigter Neukonstitutionalismus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Strafrechtliche Wurzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausrichtung an den Zwecken des Strafrechts und Begründung des Gesetzlichkeitsprinzips und der Analogie in bonam partem . . . . . . . . . . . . . . 3. Richterliche Beschränkung der Notwehrrechte aufgrund der Anerkennung übergesetzlicher Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellungnahme: Die Rechtfertigungsgründe als reine Ermächtigungen und der „doppelte Rückgriff“ auf die Analogie in bonam partem

93 93 97 97 97 97 105 116 116 120 125 125 126 131

Drittes Kapitel Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

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A. Einleitung: Die Bedeutung der Wurzeln des Gesetzlichkeitsprinzips bei der Begrenzung der Analogie zugunsten des Täters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 B. Rechtsstaatliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausschluss der Rechtsanalogie in bonam partem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtliche Natur und Reichweite der analogen Strafbefreiungs- und Strafmilderungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Strafrechtliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung: Ausnahmeregelungen und Analogieverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Ausnahmecharakter von Straffreistellung und Strafmilderung und das Analogieverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung in die strafrechtlichen Ausnahmevorschriften . . . . . . . . . . . . . 2. Der Ausnahmecharakter der Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe nach dem institutionsbezogenen Kriterium und die Grenzen der Analogie in bonam partem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

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a) Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Exzeptionalität, Argumentationsverfahren bei der Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und Reichweite des Analogieverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3. Der Ausnahmecharakter der Straffreistellungsgründe und der Strafmilderungsgründe nach dem systembezogenen Kriterium und den Grenzen der Analogie in bonam partem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Abkürzungsverzeichnis a. A. Abs. ADPCP AO AöR ARSP Art. AT Aufl. BDSG BGB BGH BtMG BVerfG BVerfGE bzw. CE CP CP it. d.h. f. ff. FS GA GG GS h. M. Hrsg. i. e. S. i. S. v. i. w. S. JA JR JuS JW

andere Ansicht Abschnitt Anuario de Derecho penal y Ciencias penales Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Allgemeiner Teil Auflage Bundesdatenschutzgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Betäubungsmittelgesetz Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise spanische Verfassung Código penal español (spanisches StGB) Código penal italiano (italienisches StGB) das heißt folgende(r) (Seite, Paragraf) folgende (Seiten, Paragrafen) Festschrift Goltdammer’s Archiv Grundgesetz Gedächtnisschrift herrschende Meinung Herausgeber im engeren Sinne im Sinne von im weiteren Sinne Juristische Arbeitsblätter Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristische Wochenschrift

Abkürzungsverzeichnis JZ Law. Rev. LK LuftSiG MDR m. E. MüKo m.w. N. NJW NK Nr. NStZ NVwZ NZWiSt

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Juristen Zeitung Law Review Leipziger Kommentar Luftsicherheitsgesetz Monatsschrift für deutsches Recht meines Erachtens Münchener Kommentar, Strafgesetzbuch mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Nomos Kommentar Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht PE Parte especial (Besonderer Teil) PG Parte general/Parte generale/Parte geral (Allgemeiner Teil) PrFDG Preussisches Gesetz betreffend den Forstdiebstahl RDPC Revista de Derecho penal y Criminología REDC Revista española de Derecho constitucional REJ Revista de Estudios de la Justicia RG Reichsgericht RGSt. Entscheidungen des Reichgerichts in Strafsachen Rn. Randnummer RStGB Reichsstrafgesetzbuch s. siehe S. Seite SCCos Sentenza Corte costituzionale della Repubblica italiana (Entscheidungen des italienischen Verfassungsgerichts) Schönke/Schröder Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar SchwZStr Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht SJZ Süddeutsche Juristen-Zeitung s. o. siehe oben SSW-StGB Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Kommentar STC Sentencia del Tribunal Constitucional español (Entscheidungen des spanischen Verfassungsgerichts) StGB Strafgesetzbuch (Código penal alemán) StPO Strafprozessordnung STS Sentencia del Tribunal Supremo español (Entscheidung des spanischen Obersten Gerichtshofes) u. a. unter anderem

16 UmwG usw. vgl. vs. z. B. ZRP ZStW

Abkürzungsverzeichnis Umwandlungsgesetz und so weiter vergleiche versus zum Beispiel Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Einleitung In der gegenwärtigen Strafrechtslehre herrscht weitgehend Einigkeit über die Reichweite des Analogieverbots, wonach nur die Strafbegründung und die Strafschärfung (d.h. Analogie in malam partem oder zulasten des Täters) von diesem Verbot erfasst sind, nicht aber die auf Analogie beruhende richterliche Schöpfung von Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs-, Strafausschließungs- und Strafmilderungsgründen (d.h. Analogie in bonam partem oder zugunsten des Täters)1. Es ist zu betonen, dass die Zulässigkeit der Analogie in bonam partem im Strafrecht überhaupt keine von der Lehre und der Rechtsprechung anerkannte neue Ausnahme vom Gesetzlichkeitsprinzip ist2, vielmehr handelt es sich hierbei um ein Hauptstück der Entwicklung der modernen Strafrechtsdogmatik. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist das Thema für die strafrechtliche Lehre und dort insbesondere für die Fortbildung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen im vorhandenen gesetzlichen System von großer Bedeutung. Aufgrund der im RStGB in diesem Bereich existierenden Lücken wurde der Gesetzgeber seit jeher stark kritisiert und wenngleich diese Lücken im StGB nur noch in kleinerem Maße vorhanden sind, sieht es sich bei der Regulation der Strafbefreiungsgründe doch einem ähnlichen Problem ausgesetzt. Nach der alten Rechtslage konnten viele tatbestandsmäßige Taten, die in einer Notlage begangen wurden, nicht gerechtfertigt werden, da das RStGB keine ent1 Vgl. u. a. Roxin, in: ders., Iniciación al Derecho penal de hoy, S. 106, 107; ders., AT, I, § 5, Rn. 40–44; Jescheck/Weigend, AT, S. 136; Rengier, AT, § 4, Rn. 34; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 9, Rn. 99, 100; Maurach/Zipf, AT, I, § 10, Rn. 21; Schmidhäuser, Lehrbuch, § 5, Rn. 24; Wessels/Beulke, AT, § 2, Rn. 54; Kindhäuser, AT, § 3, Rn. 6; Gropp, AT, § 2, Rn. 9; Fuchs, AT, Abs. 4, Rn. 32; MüKo-Schmitz, § 1, Rn. 55; Köhler, M. AT, S. 94; Hassemer, Persona y Derecho (1996) 35, S. 150; ders., Tatbestand, S. 165; ders., Einführung, § 27, S. 270; Jakobs, AT, Abs. 4, Rn. 44; Groß, Die strafrechtliche, S. 73–74; Kuhlen, Die verfassungskonforme, S. 102; Noll, Übergesetzliche, S. 2, 3; Erb, ZStW (1996) 108, S. 271; Hellmann, Die Anwendbarkeit, S. 102; Krey, AT, § 3, Rn. 105; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 298; LK/Gribbohm, § 1, Rn. 77; Watzka, Die Zumutbarkeit, S. 98, 99; Bockelmann/Volk, AT, S. 16; Delitala, Rivista Italiana di Diritto penale (1936), S. 605 ff.; Antolisei, PG, S. 307; Mir Puig, PG, Abs. 4, Rn. 42; ders., Introducción, S. 320 ff.; Luzón Peña, PG, I, S. 93, 137; ders., in: Luzón Peña/Mir Puig (Hrsg.), Causas de Justificación y Atipicidad en Derecho penal, S. 34; Baldó Lavilla, in: Roxin-FS, S. 382; Ferreres Comella, El principio, S. 94; Gimbernat Ordeig, Concepto y método, S. 61; Silva Sánchez, Aproximación, S. 193 f.; ders., El nuevo, S. 74; Atienza, Sobre la analogía, S. 184; de Queiroz, Separado del n ë VII de „Archivos do Ministerio de Justicia e Negocios interiores“, S. 20; de Figueiredo Dias, PG, I, S. 193. 2 Anders Creus, PG, § 64.

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Einleitung

sprechende Notstandregelung enthielt. Obwohl die zivilrechtlichen Notstandsregeln einige sachbezogene Fälle lösten, blieben diejenigen, in denen der Täter aufgrund einer Notsituation in die körperliche Unversehrtheit und das Leben eines anderen eingreift, ohne eine rechtfertigende Regelung, und zwar sowohl im Straf- wie auch im Zivilrecht3. Hier bestand eine „Lücke“, die der Strafrichter mittels übergesetzlichen Rechts auszufüllen hatte. Ausgehend von der Analogie in bonam partem fügte das RG den übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand neben die damals bereits gesetzlich bestehenden Rechtfertigungsgründe ein.4 Trotz seines richterlichen Ursprungs wurde er allgemein von der Strafrechtslehre anerkannt5 und von der Rechtsprechung bis zum Inkrafttreten des StGB 1975 angewendet6. Auch bei den Regelungen des RStGB zu den Schuldausschließungsgründen spielte die richterliche Rechtsschöpfung eine herausragende Rolle: Innerhalb der Fahrlässigkeitsdelikte konnte nunmehr die Schuld dadurch ausgeschlossen werden, dass die Idee der „Unzumutbarkeit“ ein Prüfungspunkt wurde (und nach wie vor ist), obwohl § 54 RStGB nicht anwendbar war7. Eine weitere Erweiterung erfuhr das vorhandene System von Schuldausschließungsgründen einige Zeit später durch richterliche Rechtsfortbildung seitens des OGH und des BGH, die eine übergesetzliche schuldausschließende Wirkung auch für die entschuldigende notstandähnliche Lage8 und den Verbotsirrtum9 entwickelt hat. Das Zurückgreifen auf die Analogie in bonam partem und die sich hierauf gründende richterliche Rechtsfortbildung aus dem gesetzlich vorhandenen System von Strafbefreiungsgründen hin zu übergesetzlichem Recht wurde in den jeweiligen Entwicklungsphasen der Strafrechtsdogmatik vom damaligen Diskus3 Wachinger, in: Frank-FS, I, S. 247; Würzburger, Das Recht, S. 79; Jescheck/Weigend, AT, S. 359; Roxin, AT, I, § 16, Rn. 2; Freund, AT, § 3, Rn. 77; Bergenroth, Der übergesetzliche, S. 7; Mezger, Tratado, I, S. 432, 433; Eser, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 54 f. Auch die Rechtsprechung, vgl. RGSt. 61, 252. Zur damaligen Diskussion über die Zurückweisung einer analogischen Ausdehnung von zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründen, vgl. Grünhut, ZStW (1931) 51, S. 458. Diese Analogie bejahend aber Broglio, Der strafrechtliche, S. 10, v. Hippel, Deutsches, S. 229. 4 Das RG benutzte den Ausdruck „übergesetzlicher rechtfertigender Notstand“ zum ersten Mal in seinem Urteil vom 28. Februar 1928, vgl. RGSt. 62, S. 46. 5 Vgl. u. a. Schmidt, ZStW (1929) 49, S. 354 ff.; Wachinger, in: Frank-FS, I, S. 481; Grünhut, ZStW (1931) 51, S. 462 ff. Über die damalige Diskussion, s. Bergenroth, Der übergesetzliche, S. 11 ff. 6 Vgl. u. a. RGSt. 34, S. 447; RGSt. 59, S. 406; RGSt. 61, S. 244 ff.; BGHSt. 2, S. 194 ff. 7 Nach der herrschenden Auffassung fand eine solche Entschuldigungsschöpfung in RGSt. 30, S. 25 ff. statt, vgl. u. a. Wittig, JZ (1969), S. 546. Es ist aber hervorzuheben, dass das RG hier den Ausdruck „Strafausschließungsgrund“ anstatt „Entschuldigungsgrund“ benutzte. 8 OGH-Urteil, MDR (1949), S. 370 ff., obwohl in diesem Urteil der Ausdruck „Strafausschließungsgrund“ statt „Entschuldigungsgrund“ steht. 9 BGHSt. 2, S. 205 ff.

Einleitung

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sionsstand begünstigt. Diese Anerkennung von übergesetzlichen Rechtfertigungsund Entschuldigungsgründen ging einher mit einem Anstieg der materiellen Begründungen für Rechtswidrigkeit und Schuld10. In diesem Zusammenhang dürfen die Geltung der richterlichen Strafbefreiungsgründe im Rahmen der Diskussion über die Grundlagen der Rechtfertigung (Zwecktheorie vs. Güterabwägungstheorie)11 und die Rolle der Zumutbarkeit und der Unzumutbarkeit bei der Gestaltung des Schuldvorwurfs12 nicht außer Acht gelassen werden. So wurde dieses übergesetzliche Recht in einer Entwicklungsphase der Strafrechtsdogmatik geschaffen, in der die Unrechts- und die Schuldbewertung nicht mehr einzig von der formellen Rechtsordnung abhängig waren, sondern auch von außergesetzlichen Kriterien. Die Analogie in bonam partem war dann während der ersten fünfzig Jahre des letzten Jahrhunderts ein von Lehre und Rechtsprechung akzeptiertes richterliches Werkzeug, das hilfreich war, das damals geltende Strafrecht fortzubilden, wenn seine strenge Anwendung axiologisch und kriminalpolitisch untaugliche Folgen hervorgerufen hat, und dadurch letztlich tatbestandsmäßige Taten bestraft wurden, obwohl sie materiell nicht rechtswidrig oder der Täter aufgrund besonderer Umstände entschuldigt war. Daraus lässt sich freilich nicht der Schluss ziehen, dass die Analogie zugunsten des Täters eine Art „Museumsstück“ ohne aktuelle Bedeutung ist. Obwohl das geltende Strafrecht ein weit reichendes System an Strafbefreiungs- und Strafmilderungsgründen enthält, können gesetzliche Lücken auftreten, die durch eine Analogie in bonam partem aufgefüllt werden müssen. So ist z. B. das Fehlen einer spezifischen Regelung im StGB, die Ausnahmensituationen wie die Folter in ticking time-bombs-Fällen13oder den Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeugs befriedigend löst14, ein klares Signal, dass die Realität den Gesetzgeber hinter sich ließ. Dies deckt axiologische Lücken auf, bei denen man über Rechtsfortbildung nachdenken muss. So erwägt die Strafrechtslehre auch in heutiger Zeit, etwa §§ 1615 und 1716 StGB bis zum Erlaubnistatbestandsirrtum und 10 Die Beziehung zwischen dem Auftreten der übergesetzlichen Rechtfertigungsgründe und die Entwicklung der materiellen Rechtswidrigkeit betonend, Roxin, AT, I, § 14, Rn. 9; Schmidt, ZStW (1929) 49, S. 354; Wachinger, in: Frank-FS, I, S. 481; Molina Fernández, Antijuridicidad, S. 49 ff.; mutatis mutandis über die Entschuldigung und den materiellen Schuldbegriff, Moos, ZStW 2004 (116), S. 895; Melendo Pardos, El concepto, S. 172 ff. 11 Vgl. u. a. Jansen, Pflichtenkollisionen, S. 23 ff.; Marx, Grundprinzipien, S. 6; Schmidt, E., SJZ (1949), S. 565. 12 Vgl. Frank, Sobre la estructura, S. 43 ff.; Freudenthal, Culpabilidad, S. 85 ff.; Goldschmidt, La concepción, S. 123. 13 Wittreck, DÖV (2003), S. 876. 14 Ich nenne nur NK-Neumann, § 34, Rn. 77 ff.; Roxin, ZIS (2011), S. 562 f.; Kindhäuser, AT, § 21, Rn. 14; Kühl, AT, § 12, Rn. 94; Stratenwerth/Kuhlen, AT, § 10, Rn. 114; Pawlik, JZ (2004), S. 1051. 15 Vgl. u. a. Köhler, M., AT, S. 327; Kühl, AT, § 13, Rn. 70 ff.; Roxin, AT, I, § 14, Rn. 64; Kindhäuser, AT, § 29, Rn. 26.

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bedingten Unrechtsbewusstsein im Wege einer Analogie auszudehnen. Auch im Rahmen der notstands-17 und notwehrähnlichen18 Situationen und der Einschränkung der Verteidigungsrechte, die der richterlichen Schöpfung von Rechtfertigungsgründen entstammt19, lebte die Diskussion um die Analogie wieder auf. Mit Blick auf die Bedeutung dieses Themas für die Entwicklung der strafrechtlichen Dogmatik und auch für die heutige Diskussion ist es schwierig zu verstehen, warum die Analogie in bonam partem so eine marginale Stellung im Strafrecht einnimmt. Zahllose Beiträge in Monographien und Zeitschriften fußten auf der alten Auseinandersetzung über die übergesetzlichen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe; allerdings beschäftigten sich diese nur mit konkreten und partiellen Aspekten des Themas, etwa mit der Rolle von materiellen Kriterien, die zu einem Ausschluss von Rechtswidrigkeit und Schuld notwendig sind, oder mit den dogmatischen Folgen der richterlichen Rechtsfortbildung übergesetzlichen Rechts. Bis heute existiert aber kaum ein Beitrag zum konkreten Thema „Analogie zugunsten des Täters“ und dessen Grundlagen. Lediglich einige alte nicht deutschsprachige Kurzaufsätze bilden hier die Ausnahme20. Das bedeutet dann, dass man trotz der zahlreichen Literatur über die übergesetzlichen Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe eine nur unvollständig theoretisch verarbeitete Entwicklung des Themas in der Literatur finden kann, was wiederum der Annahme einer gewissermaßen allgemeinen Theorie der Grundlagen und Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht entgegensteht. Diese theoretische Unvollständigkeit in der strafrechtlichen Theorie wird dort besonders deutlich, wo sich Fragen über den Begriff und die Grundlagen an die Grenzen der Analogie in bonam partem annähern. Hier bleiben die Untersuchungen fast in einer embryonalen Phase. Obwohl die Strafrechtswissenschaft sich seit langem mit unterschiedlichen Fragen der Anwendung von Strafgesetzen beschäftigt, wurden die methodischen Aspekte der Analogie zugunsten des Täters nur unvollständig entwickelt. Noch immer fehlt es an einer befriedigenden Thematisierung des Begriffs der Analogie an sich sowie der Arten von gesetzlichen Lücken, die die Analogie überhaupt erfordern, und letztlich auch der Analogieformen, derer sich z. B. RG, BGH und 16

Roxin, AT, I, § 21, Rn. 31, 34. Dazu Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 326 ff. 18 Dazu Suppert, Studien, S. 65 ff. 19 Vgl. insbesondere Suppert, Studien, S. 294; Hirsch, in: Zong Uk Tjong-GS, S. 54 f.; LK/Hirsch, Vor § 32, Rn. 35; Roxin, AT, I, § 5, Rn. 42; NK/Paeffgen, Vor §§ 32 ff., Rn. 65 ff.; Schönke/Schröder-Cramer/Heine/Lenckner, Vor § 32 ff., Rn. 25. 20 Delitala, Rivista Italiana di Diritto penale (1936), S. 605 ff.; de Queiroz, Separado del n ë VII de „Archivos do Ministerio de Justicia e Negocios interiores“ (1944), S. 12 ff. Man darf aber nicht übersehen, dass die Habilitationsschrift von Hans-Ludwig Günther als wichtigster Versuch angesehen werden kann, eine propädeutische allgemeine Theorie der Analogie in bonam partem vorzustellen. Vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 281 ff. 17

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OGH bedient haben, um den übergesetzlichen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund zu entwickeln. Die verschiedenen Argumente zur Fortbildung des Strafrechts wurden auch nicht deutlich unterschieden, was dazu beigetragen hat, die Analogie in bonam partem mit anderen davon (trotz der äußeren Ähnlichkeiten) zu unterscheidenden juristischen Denkmethoden zu vermischen. In einigen Fällen bemühten sich die Gerichte, die Lücke, die RStGB und StGB bezüglich ihrer Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- und Strafausschließungsgründe enthielten, herauszuarbeiten. Das RG stellte z. B. beim „Schwangerschaftsabbruch-Fall“ eine Lücke im System der vorhandenen Rechtfertigungsgründe fest, weil der Arzt ein überwiegendes Interesse, namentlich das Leben der Schwangeren gerettet hat und er deswegen nicht rechtswidrig gehandelt habe, obwohl kein gesetzlicher Rechtfertigungsgrund anwendbar war21. Ebenfalls um ein Aufzeigen der vorhandenen Lücken im Gesetz bemüht, waren der BGH22 und die Strafrechtslehre23 hinsichtlich der gesetzlichen Regelungen zum Irrtum (im RStGB) und zum entschuldigenden Notstand, die den Verbotsirrtum und die Rettung von Gefahrengemeinschaften strafrechtlich unzutreffend erfassten. Gleichwohl bleiben Fragen über den Begriff und die Anerkennung von Lücken noch unbeantwortet, und auch die folgenden Fragen wurden bislang nicht abschließend geklärt: • Die richterliche Norm des übergesetzlichen rechtfertigenden Notstandes lag dem Prinzip der überwiegenden Interessen zugrunde. Hat das RG aber auf eine Gesetzesanalogie oder auf eine Rechtsanalogie zurückgegriffen? Hat das RG auf die Analogie zugunsten des Täters zurückgegriffen oder hat es andere Prinzipien in bonam partem angewendet? • Ist der Ausschluss der Rechtswidrigkeit aufgrund der Anwendung zivilrechtlicher Rechtfertigungsgründe ein Fall von Analogie in bonam partem oder von anderen aufgrund richterlicher Rechtsfortbildung geschaffener Möglichkeiten? • Aufgrund welcher Analogieform hat der BGH den übergesetzlichen Verbotsirrtum geschaffen? Mit anderen Worten: Die Struktur der auf einer Analogie beruhenden Argumentation ist nicht klar und die schon klassische Unterscheidung zwischen Gesetzes- und Rechtsanalogie wird in der Disskussion um die Analogie als soche nur unzureichend herauskristallisiert. Hierdurch wird wiederum verhindert, dass die Argumentationsprämissen in Rechtsprechung und Lehre anerkannt werden, auf denen die Analogien beruhen. Ansonsten wird in der dogmatischen Diskus-

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RGSt. T. 61, S. 244 ff. BGHSt. 2, S. 204 ff. 23 Welzel, Strafrecht, § 23, S. 184 ff.; ders., MDR (1949), S. 375; Schmidt, E., SJZ (1949), S. 570. 22

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Einleitung

sion versucht, eine Angleichung der Analogie zugunsten des Täters mit anderen ähnlichen Argumentationshilfen, wie z. B. der Anwendung von Rechtsgrundsätzen24 und der außerstrafrechtlichen Rechtsanwendung25, zu erreichen. Die Antwort auf die Fragen nach der Legitimität des Richters, Strafbefreiungsund Strafmilderungsgründe zu schaffen, war leider nicht erfreulicher. Die Fragen über das ob (die Grundlagen) und das inwieweit (die Grenzen) der Anerkennung der Analogie in bonam partem tangieren das Gesetzlichkeitsprinzip, das die Hauptkompetenzen der staatlichen Gewalten (Judikative, Exekutive und Legislative) bei der Setzung von strafrechtlichen Regelungen und deren Anwendung bestimmt.26 Bis zum heutigen Tag wurden die Grundlagen und die Grenzen (soweit existent) der Befugnis einer Schöpfung von Straffreistellungsgründen im Wege der Analogie leider nicht in ausreichendem Maße behandelt, weil sich die Beiträge zur Begründung des Gesetzlichkeitsprinzips in den meisten Fällen auf die Tatbestände und die Strafverschärfungsgründe konzentriert haben, aber nicht auf die Strafmilderungs- oder Straffreistellungsgründe27. Die in manchen Schriften der Aufklärung vorzufindende Ablehnung jeder Ausnahme vom Analogieverbot28 einerseits ist m. E. ebenso eine Folge dieses noch nicht vollständig geklärten Gesetzlichkeitsbegriffs wie auch die heute herrschende Meinung andererseits, die sich damit zufrieden gibt, dass die Analogie zugunsten des Täters nicht unter den Anwendungsbereich der den Täter schützenden Gesetzlichkeit fällt29. Eine 24 Insbesondere bei der Rechtsanalogie, vgl. Atienza, Sobre la analogía, S. 184 f.; ders., Doxa (1985) 2, S. 228; Atienza/Ruiz Manero, Ilícitos, S. 28; Moreso, Lógica, S. 158; Guastini, Estudios, S. 97 f. 25 U. a. Roxin, AT, § 16, Rn. 74. 26 Montiel, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 321 ff. 27 Die spärlichen Beiträge zur Geltung der Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips dienen als ein gutes Beispiel, vgl. über das Rückwirkungsverbot bei den Rechtfertigungsgründen (insbesondere im Rahmen des Mauerschützen-Falles), vgl. u. a. Schünemann, in: ders., Obras, I, S. 145; Naucke, Strafrecht, § 2, Rn. 19; Kühl, Die Bedeutung, S. 12 ff.; Ashworth, Principles, S. 74–75; Fletcher, in: Shute/Gardner/Horder (Hrsg.), Action and Value in Criminal Law, S. 175 ff.; ders., Conceptos básicos, S. 166 ff.; zur Geltung des Bestimmtheitsgebots im Rechtfertigungssystem, vgl. u. a. Jakobs, AT, Abs. 4, Rn. 33; Dannecker, in: Otto-FS, S. 40; Erb, ZStW(1996) 108, S. 287 ff.; Langer, in: Dünnebier-FS, S. 432); Ashworth, Principles, S. 139; Moreso, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 145 ff.; Ferreres Comella, El principio, S. 34 ff. 28 Diese These verbindet sich mit einer von der Aufklärung vertretenen Ansicht, die dem Gewaltenteilungsprinzip und der Vorhersehbarkeit staatlicher Maßnahmen zu Grunde liegt; vgl. Beccaria, De los delitos, S. 31; Feuerbach, Lehrbuch, § 75; später v. Liszt, Lehrbuch, § 32, S. 133; Jiménez de Asúa, Tratado, II, S. 524. 29 Die Gesetzlichkeit sei nur eine Garantie zugunsten des Täters, die nur zulasten des Täters gelte, um die Bürger vor staatlicher Willkür zu schützen. U. a. Runte, Die Veränderung, S. 29; Jescheck/Weigend, AT, S. 131 ff.; Roxin, AT, § 5, Rn. 41; Krey/Esser, AT, § 3, Rn. 56, 97; Gimbernat Ordeig, Concepto y método, S. 47; Ferrajoli, Derecho y razón, S. 158 ff.

Einleitung

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allgemeine Theorie der Analogie in bonam partem ist aber wenig plausibel, wenn man dazu die Aufgaben des Gesetzlichkeitsprinzips bei den Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- und Strafausschließungsgründen nicht berücksichtigt30. Das zeigt m. E., warum die zahlreichen Beiträge zu diesem Thema entweder inkonsistent oder unvollständig sind. Nur eine Thematisierung der Grundlagen der Gesetzlichkeit, die auch die Seite „in bonam partem“ der Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit beachtet, ist in der Lage, die noch heute existenten Probleme der Zulässigkeit der Analogie zugunsten des Täters zu lösen, nämlich den Verlust des Effekts der Strafandrohung wegen der Verallgemeinerung der richterlichen Straffreistellungsgründe und die richterliche Beschränkung des Notwehrrechts, die wegen der analogen Schöpfung von Rechtfertigungsgründen ermöglicht wird. Das vorliegende Buch bietet hier eine allgemeine Theorie an, in der sowohl der Begriff der Grundlagen als auch der der Grenzen der Analogie in bonam partem dargestellt wird. Auf eine Abhandlung einer detallierten Reihe aller Fälle, in denen der Richter mittels dieser Analogie übergesetzliche Regelungen erkennt, verzichte ich hier. Vielmehr soll eine allgemeine Theorie der Analogie in bonam partem vorgelegt werden. Im ersten Teil werden Begriff, Formen und Voraussetzungen der Analogie zugunsten des Täters behandelt. Die Fragen nach den Grundlagen und Grenzen der Analogie zugunsten des Täters – der zweite und dritte Teil des Buches – müssen mithilfe des Gesetzlichkeitsprinzips beantwortet werden, weil diese Garantie die Kompetenzen des Staates bei der Strafrechtsgesetzgebung und der Strafrechtsfindung feststellt, d.h. festlegt, wann Richter Strafrecht neu schöpfen und wann sie dies trotz des für den Täter günstigen Sinns der Erschaffung nicht dürfen. Obwohl eine solche allgemeine Theorie zur Analogie zugunsten des Täters in diesem Buch im Spiegel des deutschen Strafrechts entwickelt wird, liegt sie gleichwohl auch der Entwicklung der Strafrechtswissenschaft in anderen Ländern (etwa Spanien, Italien, Lateinamerika, Portugal) zugrunde, wo die deutsche Rechtswissenschaft insgesamt einen großen Einfluss hat. Es handelt sich also im Ergebnis um eine allgemeine Theorie, die auch in diesen anderen Ländern gelten kann. Daher erstreckte sich die Recherche zwar vorrangig auf deutschsprachige, aber daneben auch auf spanisch-, portugiesischund italienischsprachige Literatur.

30 Kritisch gegen die heutige Literatur über die Strafgesetzlichkeit Naucke, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S. 483, 484.

Erstes Kapitel

Was ist die „Analogie“ in bonam partem? A. Fragestellung: Verwendung des Wortes „Analogie“ im Strafrecht Es ist schon lange Zeit her, dass Walther Rathenau die These „Denken heißt Vergleichen“ vertreten hat1. Diese Behauptung überrascht uns nicht völlig, weil sie einen Gedanken widerspiegelt, dem Philosophen und Juristen seit langer Zeit bereit sind zuzustimmen: Wenn wir in unserem täglichen Leben denken, vergleichen wir und suchen ständig nach Analogien oder Ähnlichkeiten zwischen Phänomenen2. Dies erklärt, warum das analogische Denken die Basis einer unverzichtbaren und grundsätzlichen Argumentationsweise in der Rechtswissenschaft ist3. Der letztgenannte Gesichtspunkt des analogischen Denkens war lange Zeit unter dem Einfluss der Hermeneutik auf die strafrechtliche Methodenlehre vorherrschend,4 daher hat in der gegenwärtigen juristischen Methodenlehre die Analogie keine eindeutige Bedeutung. Der Spielraum der Analogie sei so groß, dass sie ein unverzichtbares Argument im juristischen Denken sei, das wiederum eine wichtige Rolle in der Gesetzesauslegung spielt, um sowohl Bedeutungsfragen zu klären als auch eine Korrektur des geltenden Rechts vornehmen zu können. Jede Annäherung an das Recht setze ein „analogisches“ Denken voraus, das durch den Vergleich von Fällen stattfinde. Aber auch stehe man immer vor einer „Analogie“, wenn das juristische Argument aus den Rechtsnormen nicht rein logisch abgeleitet werden könne, weswegen der Jurist das Gesetz bei der Auslegung bewerten müsse5. Ein gutes Beispiel dafür ist Armin Kaufmanns Buch „Analogie und Natur der Sache“, in dem der Autor das Wort „Analogie“ in fünf (!) verschiede1

Rathenau, Auf dem Fechtboden, S. 32. Über unser alltägliches „analogisches“ Denken (exemplary reasonning) und dasjenige, welches die Richter gewöhnlich ausüben, vgl. Brewer, Harvard Law Review (1996), S. 934 ff.; Sunstein, Harvard Law Review (1992–1993), S. 741; Salguero, Argumentación, S. 11. 3 Hassemer, Einführung, S. 272; Kudlich/Christensen, Gesetzesbindung, S. 187 f. 4 Vgl. u. a. Kaufmann, Art., Analogie, passim; Hassemer, Tatbestand, passim. 5 Vgl. statt vieler Kaufmann, Art., Analogie, S. 4 f., 26 ff., 37 f.; Mayer, M., PG, S. 33 f.; Binding, Handbuch, S. 215 f.; Danckert, Die Grenzen, S. 18 f.; Silva Sánchez, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 63 ff.; Cuello Contreras, PG, Rn. 89; Salguero, Argumentación, S. 29 f.; Falcón y Tella, El argumento, S. 56 ff. 2

B. Analogie zugunsten des Täters als Mittel zur Rechtsfortbildung

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nen Sinnzusammenhängen benutzt6: in Beziehung zur Rechtsfortbildung7, im Zusammenhang mit den vagen Begriffen8, mit der teleologischen Auslegung9, mit der sogenannten „vergleichenden oder analogischen Auslegung“ 10 und sogar mit der Subsumtion11. Gleich, ob ein so weiter Analogiebegriff akzeptiert wird oder nicht, eine solche Analyse der Analogie trägt nur Chaos in die juristische Diskussion12, weil zwischen den durch die Analogie gelösten verschiedenen Problemen nicht klar genug differenziert wird.13 Der ursprüngliche Gedanke über eine weite Annäherung an die Analogie steht zwar mit dem umgangssprachlichen Sinn in Einklang, lässt sich aber nicht mit einem technischen Sinn vereinbaren, wonach die Analogie nichts mit der Rechtsauslegung zu tun hat, sondern nur mit der Rechtsfortbildung.14 Selbstverständlich kann man nicht ignorieren, dass das analogische Denken ein Prüfstein der juristischen Argumentation ist und somit bei der Auslegung und Anwendung des Strafrechts Gewicht hat15. Trotzdem verwendet man das Wort „Analogie“ in einem engeren Sinn, wenn von der Analogie in bonam partem die Rede ist, denn die Analogie „korrigiert“ hier die Behandlung eines generischen Falls des StGB, der trotz materieller Rechtmäßigkeit oder Unschuld bestraft wird. Mit anderen Worten ist die Analogie zugunsten des Täters ein Werkzeug, das das Strafrecht fortbildet.

B. Analogie zugunsten des Täters als Mittel zur Rechtsfortbildung im Strafrecht I. Strafgesetzesauslegung, Strafgesetzesanwendung und Strafrechtsfortbildung 1. Um die Rolle der Analogie in bonam partem im Strafrecht richtig zu verstehen, ist zunächst zu betonen, dass zwei der Hauptkompetenzen der Richter die 6 Bei Binding, Handbuch, S. 215 ff. sind auch vier Analogiebegriffe undifferenziert behandelt. 7 Kaufmann, Art., Analogie, S. 26 f. 8 Kaufmann, Art., Analogie, S. 4 f. 9 Kaufmann, Art., Analogie, S. 51. Ähnlich Hirsch, in: Zong Uk Tjong-GS, S. 68. 10 Kaufmann, Art., Analogie, S. 27 f. 11 Kaufmann, Art., Analogie, S. 37. 12 Solche Analysen könnten auch als „Ausweichstrategien“ vor der Gesetzlichkeit beschrieben werden. Zu diesen Strategien in der Rechtsprechung, vgl. Duttge, in: KreyFS, S. 55 ff. 13 Riggi, Interpretación, S. 318 ff. verteidigte kürzlich so einen weiten Analogiebegriff in der spanischsprachigen Literatur. 14 Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 156 ff.; Schuhr, Rechtsdogmatik, S. 215 f.; Vassalli, Limiti, S. 4 f. 15 Vgl. Sunstein, Harvard Law Review (1992–1993), S. 741; Salguero, Argumentación, S. 11.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

Strafgesetzesauslegung und die Strafgesetzanwendung sind. Grundsätzlich meint Auslegung, die Ermittlung des gesetzgeberischen Willens durch die im Gesetz normierten Tatbestände, Straffreistellungs- oder Strafmilderungsgründe16, wobei es das Hauptziel der Strafrechtsauslegung ist, die semantischen Fragen bezüglich der Normbedeutung zu beantworten17. Mithilfe der Auslegung wird versucht zu bestimmen, was etwa die Tatbestandsmerkmale „wegnehmen“, „Sache“, „gegenwärtiger rechtswidriger Angriff“ bedeuten. Da die Auslegung also letztlich das Verstehen des Gesetzeswortlauts bedeutet, findet sie auch ihre interpretatorische Grenze in ihm18. Infolgendessen lässt sich die richterliche Entscheidung über die Bedeutung des Wortlauts von einer anderen richterlichen Entscheidung trennen, die eine nicht an den Wortlaut des Gesetzes strikt gebundene richterliche Rechtsschöpfung (Analogie, teleologische Reduktion, teleologische Ausdehnung)19 darstellt20. Die Wortlautgrenze ist also bei der Strafrechtsfindung aus zwei Gründen von großer Bedeutung: 1. Nur die vom Gesetzgeber normierten Wörter sind auszulegen; das Einfügen oder die Entfernung eines Tatbestands-, Straffreistellungsgrunds- oder Strafmilderungsgrundmerkmals bedeutet nicht mehr das Verstehen dieses Gesetzes, sondern die Erschaffung eines neuen. 2. Um das Strafgesetz zu interpretieren, muss der Auslegende die in der Sprachgemeinschaft geltenden Sprachregeln beachten, die die Verwendung der im Gesetz verwendeten Wörter regeln21. Man sollte also davon ausgehen, dass die große Bedeutung des Wort16

Röhl/Röhl, Allgemeine, S. 613; Sang-Don, Wortlautgrenze, S. 127. Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 156 ff.; Alonso, Interpretación, S. 4 f. 18 Doch zeigt Ransiek, in: Tiedemann-FS, S. 184 ff. die Schwierigkeiten dieser Idee. 19 Zur rechtsschöpfenden Natur der Analogie, Stratenwerth/Kuhlen, AT, § 3, Rn. 31, S. 51; Roxin, AT, § 5, Rn. 26–28, 31–32; Jescheck/Weigend, AT, S. 134 f.; Jakobs, AT, Abs. 4, Rn. 33 f.; Schünemann, Nulla poena, S. 17 ff.; Faraldo Cabana, Las causas, S. 203; Iglesias Vila, El problema, S. 51; Falcón y Tella, El argumento, S. 56 ff.; (anders schon v. Hippel, Deutsches, S. 40; Sax, Das strafrechtliche, S. 152); zur rechtsschöpfenden Natur der teleologischen Reduktionen oder Ausdehnungen vgl. u. a. Röhl/ Röhl, Allgemeine, S. 620 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 391 ff. 20 Nach der herrschenden Meinung ist der Wortlaut die Grenze zwischen der Analogie und der Auslegung, vgl. u. a. Roxin, in: ders., Iniciación al Derecho penal de hoy, S. 107; ders., AT, § 5, Rn. 26 f.; Jescheck/Weigend, AT, S. 159; Baumann/Weber/ Mitsch, AT, § 9, Rn. 84; Freund, AT2, § 1, Rn. 28; Schünemann, Nulla poena, S. 20–22; Groß, Die strafrechtliche, S. 82; MüKo-Schmitz, § 1, Rn. 64 ff.; Schönke/SchröderEser/Hecker, § 1, Rn. 37, 54 f.; Kindhäuser, AT, § 3, Rn. 6; Suppert, Studien, S. 82 ff.; Mayer, H., AT, S. 87; LK/Gribbohm, § 1, Rn. 84; Gimbernat Ordeig, Concepto y método, S. 49; Mir Puig, PG, Rn. 40; Röhl/Röhl, Allgemeine, § 80, S. 637; Larenz, Methodenlehre, S. 313; Klatt, Theorie, S. 280; Krey, AT, § 3, Rn. 87, S. 33; Antolisei, PG, S. 95. Dagegen Jakobs, AT, Abs. 4, Rn. 37; Kaufmann, Art., Analogie, S. 5 ff., 52, 53; Müller/Christensen, Juristische, S. 506 f., Rn. 526; Marinucci, in: Tiedemann-FS, S. 203 f.; Schmidhäuser, Lehrbuch, § 5, Rn. 40–43; ders., Studienbuch, § 3, Rn. 52; Wohlers, in: Juristische Fakultät der Universität Basel (Hrsg.), Die Bedeutung der „Ratio legis“, S. 80–81; Sax, Das strafrechtliche, S. 82. 21 Paeffgen, StraFo (2007) 11, S. 443. 17

B. Analogie zugunsten des Täters als Mittel zur Rechtsfortbildung

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lautes darin liegt, dass dieser zur Objektivität und Legitimität der richterlichen Entscheidung beiträgt22. Die Legitimität einer strafrichterlichen Entscheidung ist davon abhängig, dass ihr ein Strafgesetz zugrunde liegt und dass der jeweils zu beurteilende Einzelfall vom Wortlaut dieses Gesetzes tatsächlich erfasst wird. Außerdem fordert das Willkürverbot, dass der Richter nach den äußerlichen Parametern des Gesetzes und nicht subjektiv urteilt. Selbstverständlich steht die begrenzende Funktion des Wortlautes in Verbindung mit der Auslegung, weil der Richter allein die tatsächliche Wortlautgrenze erkennt, wenn er durch die Auslegung die Bedeutung einer Norm gefunden und ihren Anwendungsbereich festgestellt hat23. Es ist also mehr oder weniger offensichtlich, dass die Auslegung eine unvermeidliche Aufgabe für das Verständnis der gesetzlichen Grundlagen in der Ausführung des Rechts – sowohl bei klaren oder einfachen als auch bei unklaren oder schwierigen Fällen24 – ist25, die dazu beiträgt, den von der Norm regulierten generischen Fall – und infolgedessen den Anwendungsbereich des Gesetzes – zu bestimmen26. Auf diese Weise lässt die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Strafgesetzes auch individuelle Fälle erkennen, die eine Anwendungsgruppe des von Tatbestand, Straffreistellungs- und Strafmilderungsgrund festgesetzten generischen Falls sind. Die individuellen Fälle sind solche, über die der Richter urteilen soll. Man spricht von individuellen Fällen, wenn eine Tat sich räumlich-zeitlich ereignet hat, wie etwa der von X an Y begangene Mord oder der von Z begangene Auto22 Klatt, Theorie, S. 19, 21, 22–23; ders., in: Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, II, S. 346; Kudlich/Christensen, Die Methodik, S. 45. 23 Kudlich/Christensen, Gesetzesbindung, S. 185 ff.; Kudlich, in: Puppe-FS, S. 132. 24 Für diese Position können Argumente gefunden werden in: Moreso/Vilajosana, Introducción, S. 148–149. Unser Beitrag setzt allerdings eine breite Interpretation der Rechtsauslegung voraus, die den strikten und sehr weiten Auslegungen gegenübergestellt werden könnte, vgl. Guastini, Estudios, S. 4 ff. Der strikten Auslegung nach sollte diese Methode nur vom Richter angewandt werden, wenn er einen undurchsichtigen Fall zu lösen hat. Beispielhaft vertreten diese Version Schauer, Playing by the rules, S. 207 ff.; Marmor, Interpretation, S. 9 f., 21 ff.; Müller/Christensen, Juristische, I, S. 478 ff.; Navarro/Bouzat/Esandi, Juez y ley penal, S. 48 f.; Puig Brutau, Fundamentos, S. 303 f. Im Gegensatz dazu interveniert der Interpret bei einer weiteren Konzeption der Interpretation sowohl bei der Lösung einfacher und schwieriger Fälle als auch bei der Lösung von Problemen, die normative Systeme betreffen, wie es bei den axiologischen und normativen Lücken und den Normwidersprüchen etc. der Fall sein kann. Diese Sichtweise vertretend, Kaufmann, Art., Analogie, S. 27 ff.; Moore, Southern California Law Review (1985), S. 284 ff., insbesondere Fn. 14; Alonso, Interpretación, S. 311 ff. 25 Dazu Jescheck/Weigend, AT, S. 153; Triffterer, AT, Kap. 2, Rn. 22; Fuchs, AT, Kap. 4, Rn. 1; Otto, Grundkurs, § 2, Rn. 38; SSW-StGB-Satzger, § 1, Rn. 38; Antolisei, PG, S. 84; Bacigalupo, Principios, S. 68; de Figueiredo Dias, PG, I, S. 187. Dagegen Navarro/Bouzat/Esandi, Juez y ley penal, S. 48, 49. 26 Kindhäuser, AT, § 3, Rn. 6.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

diebstahl usw. Da die Normen generische Fälle regulieren, sind die individuellen Fälle eine Art der Klasse, die in den Tatbeständen, den Rechtfertigungsgründen, den Schuldausschließungs-, den Strafausschließungs- und den Strafmilderungsgründen enthalten sind27. Die generischen Fälle sind solche, die vom Gesetzgeber in der Rechtsnorm abstrakt festgesetzt wurden. Der Gesetzgeber hat Sachverhaltsgattungen festgesetzt und sich deshalb für eine abstrakte und allgemeine Normierung statt für eine Kommunikation „von Angesicht zu Angesicht“ mit den Bürgern entschieden28. Anstatt die jeweils denkbaren Begehungsarten eines Tatbestandes im Gesetz einzeln aufzuzählen, wie z. B. die Tötung mittels einer Schuss- oder Stichwaffe oder eines Herz- oder Kopfschusses, verzichtet der Gesetzgeber regelmäßig auf solche Enumerationen und nennt nur abstrakt allgemeine Begehungsformen, die für die Regelung wichtig sind. Davon ausgehend wird unter Strafe schlicht gestellt, wenn ein Mensch getötet wird. Sowohl die Tatbestände als auch die Strafbefreiungsgründe sowie die Strafmilderungsgründe sind generelle Normen, die Klassen unterschiedlicher Verhaltensweisen, Tatobjekte, Tätertypen und Tatumstände zusammenfassen29. 2. Die Aufgabe, die Bedeutung einer Norm zu erklären, ist deswegen problematisch, weil die Gesetze und die darin verwendeten Begriffe keine nur einzig feststehende Bedeutung haben30, sondern regelmäßig in verschiedenen Kontexten auch unterschiedlich verstanden werden können31. Die Existenz verschiedener Auslegungskanones bestätigt dies, weil solche Kanones die Benutzung eines Wortes in den jeweiligen Sinnzusammenhang bringen. Ein Wort kann eine Bedeutung in der Systematik des StGB, in der Umgangssprache, in der technischen Sprache, in den gesetzgeberischen Entwürfen haben32. Das Wort „Pilz“ hat z. B. im Zusammenhang mit dem Betäubungsmittelhandel eine andere Bedeutung als 27

Siehe Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 65. Siehe Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 64 ff. 29 Es ist nicht zu übersehen, dass man aus dem Unterschied folgern muss, dass eine Norm, die einen generischen Fall an eine normative Lösung bindet, sämtliche individuellen Fälle löst. Zum Beispiel: § 249 StGB enthält den generischen Fall des Raubes und erklärt diese Tat mit einer Freiheitsstrafe für strafbar. Dieser Tatbestand, der eine Rechtsfolge mit dem generischen Fall vom Raub verbindet, verbindet auch eine Rechtsfolge mit dem von Lukas begangenen Autoraub, dem von Stephanie begangenen Juwelenraub, usw. Das heißt m. a. W., dass die mit dem generischen Fall verbundene Rechtsfolge auf alle Einzelfälle des Raubes anzuwenden ist. Siehe auch Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 66. 30 Für diese These Kuhlen, Die verfassungskonforme, S. 1; Roxin, AT, I, § 5, Rn. 31; Triffterer, AT, Kap. 2, Rn. 30; Röhl/Röhl, Allgemeine, § 77, S. 611 f.; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, Rn. 743; Vollmer, Auslegung, S. 13; Kudlich/Christensen, ARSP (2002) 88, S. 239; Larenz, Methodenlehre, S. 320 ff.; Luzón Peña, PG, I, S. 166, 170; Bacigalupo, Hacia el nuevo Derecho penal, S. 107; ders., Principios, S. 68; Hurtado Pozo, in: Bacigalupo-FS, II, S. 1005. 31 Ross, Sobre el derecho, S. 111; Greenawalt, Notre Dame Law Review (1997) 72, S. 1472 ff. 32 Christensen, in: Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, II, S. 12. 28

B. Analogie zugunsten des Täters als Mittel zur Rechtsfortbildung

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im Gebrauchskontext der Fachsprache oder der Umgangssprache33; oder beim Wort „Waffen“ könnte man rein aus der Umganssprache einen breiteren Bedeutungsbereich annehmen als den, von dem die sogenannte „strafrechtliche“ Sprache ausgeht34. Diese unterschiedlichen Bedeutungen werden durch die Auslegungskanones herausgearbeitet 35. Dabei sind aber immer die in der für die Sprache innerhalb der jeweiligen Sprachgemeinschaft geltenden Regeln zu beachten. Hinsichtlich der Sprachpraxis ist festzuhalten, dass diese seit Brandoms Pragmatismus als eine implizit mit Regeln strukturierte Praxis anzusehen ist36, die unsere Sprache regiert und den korrekten vom inkorrekten Sprachgebrauch trennt37, 38. In jedem Sprachakt durch die Sprachgemeinschaft liegt der Gebrauch des jeweiligen Begriffs und dieser verfestigt und standardisiert sich durch Wiederholung39. Die Sprachgemeinschaft führt ein deontisches Konto, das Sprachregeln enthält, die die vertretbaren und korrekten Anwendungen eines Begriffes festlegen. Im Hinblick auf die Einhaltung dieser Sprachregeln prüft die Sprachgemeinschaft jeden Sprachakt. Wenn man berücksichtigt, dass jedes Wort nicht nur eine einzige Bedeutung hat und dass Regeln darüber existieren, wann ein Wort korrekt verwendet wird, muss man hieraus folgern, dass die Sprachgemeinschaft in ihr deontisches Konto verschiedene Verwendungen aufgenommen hat40. Es gibt also Sprachakte, die den Regeln der Sprachgemeinschaft entsprechen und andere Sprachakte, die diese Sprachregeln übertreten. Die Sprachakte, die den Sprachregeln folgen, stellen eine korrekte Verwendung der Sprache dar, während der Sprachgebrauch, bei dem diese Regeln verletzt werden, als sprachlich willkürlich und absurd anzusehen sind. Dieser Umgang mit Sprache ist für die Gesetzauslegung von großer Bedeutung. Die vertretbaren Auslegungen sind von den willkürlichen und absurden Auslegungen zu trennen41. Die Rechtsgemeinschaft (als spezifische Sprachge33 Dazu Montiel/Ramírez Ludeña, ZIS (2010) 10, S. 618 ff.; Kudlich/Christensen/ Sokolowski, in: Müller (Hrsg.), Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts, S. 125 ff. 34 Simon, Gesetzesauslegung, S. 56, 57, 129,130. 35 Kudlich, ZStW (2003) 115, S. 13 f. 36 Brandom, Expressive, S. 272 ff.; Klatt, in: Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, II, S. 352. 37 Klatt, in: Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, II, S. 351. 38 Klare Darstellung von Brandoms Theorie bei Christensen/Sokolowsky, in: Buckel/ Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, S. 239 ff.; Bung, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, S. 291 ff. 39 Klatt, in: Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, II, S. 354; Christensen/Sokolowsky, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, S. 250. 40 Brandom, Begründen, S. 107; Christensen/Sokolowsky, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, S. 251. 41 Dieser Unterschied auch in Schuhr, JZ (2008), S. 603 ff.; ders., in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 263.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

meinschaft) führt auch ein deontisches Konto, in dem es Sprachregeln gibt, die die Kommunikation innerhalb der Rechtsgemeinschaft regeln. Sowohl die strafrechtliche Dogmatik als auch die Rechtsprechung spielen eine wichtige Rolle für die Bestätigung dieser Regeln42. Eine Auslegung ist dann vertretbar, wenn sie das Resultat eines Sprachaktes ist, der einer von der Rechtsgemeinschaft aufgestellten Sprachregel folgt. Bei der willkürlichen oder absurden Auslegung wird von den in der Rechtsgemeinschaft geltenden Sprachregeln abgewichen und es werden neue Sprachregeln entwickelt, die der Auslegende ohne Legitimation in die Rechtssprachgemeinschaft zu importieren versucht43. Als etwa § 3 Abs. 1 Nr. 6 PrFDG vom BGH so interpretiert wurde44, dass auch ein Kraftfahrzeug unter seinen Anwendungsbereich fiele, weil es ein „bespanntes Fuhrwerk“ sei, war diese Auslegung willkürlich, denn sie verletzte die Sprachregeln45. So wäre es zum Beispiel auch willkürlich oder absurd, die Tatbestände, die die Wörter „wer“ oder „Amtsträger“ enthalten, so zu interpretieren, dass nur Männer aber nicht Frauen nach diesen Tatbeständen bestraft werden könnten46. Nichts anderes gilt für die Interpretation eines Autos als „Waffe“ i. S. d. § 113 StGB47. Zweifellos verbietet das Gesetzlichkeitsprinzip allein die willkürlichen oder absurden Auslegungen48. Dieser Unterschied zwischen vertretbaren Auslegungen und willkürlichen oder absurden Auslegungen führt noch zu einer weiteren Auslegungsart. Trotz der Existenz vieler vertretbarer Auslegungen bzw. Wortbedeutungen ist nach herrschender Meinung in der Lehre innerhalb der dogmatischen Diskussion und auch nach der Rechtsprechung aus diesen unterschiedlichen Bedeutungen jeweils die bestmögliche Auslegung zu ermitteln und anzuwenden. Zwischen den vertretbaren Auslegungen liegt eine bessere oder optimalere interpretatorische Rekon-

42 Zur Strafrechtsdogmatik als spezifische Sprachgemeinschaft, Silva Sánchez, Jakobs-FS, S. 660 f. 43 Vgl. die (noch geltenden) Überlegungen über diese Überschreitungen des Wortlauts in der früheren Rechtsprechung der Strafsenate des BGH in Neumann, in: Neumann/Ralf/v. Savigny, Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, S. 42 ff. 44 BGHSt. 10, 375. 45 Schünemann, Nulla poena, S. 4; Scheffler, Jura (1995), S. 507. 46 So eine Auslegung sei abzulehnen, da sie willkürlich, aber auch diskriminierend sei, vgl. Simon, Gesetzesauslegung, S. 55. 47 Vgl. BVerfG v. 1.9.2008 – 2 BvR 2238/07, NJW 2008, 3627 (Rn. 28 f.; 3629); in der Literatur etwa Kudlich, JR (2009), S. 210 ff.; Adam, NStZ (6) 2010, S. 321. Dagegen Schönke/Schröder-Eser § 113, Rn. 63. 48 Obwohl ich meine eigene Meinung über die Funktion des Wortlautes bei diesem Buch nicht darlege, wollte ich dennoch hervorheben, dass der Wortlaut keine Grenze zwischen der Auslegung und der Analogie ist, sondern nur die Grenzen zwischen den vertretbaren Auslegungen und der willkürlichen oder absurden Auslegungen festschreibt. Der Auslegende hat die Aufgabe, die in der Rechtssprachgemeinschaft geltenden Sprachregeln darzustellen und diesen Sprachregeln zu folgen. Vgl. Montiel, Analogía, S. 197 ff.

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struktion vor, welche als die optimale Auslegung bezeichnet wird49. Die Kriterien zu bestimmen, mit der unter verschiedenen Auslegungen die optimale Auslegung herauszufiltern ist, ist nicht einfach. Allerdings stellt die Abwägung der verschiedenen Strafrechtszwecke hier ein wichtiges Hilfsmittel dar50, d.h. eine optimale Auslegung ist diejenige, welcher die maximale Verbrechensverhütung bei minimalen Einbußen der Bürgerfreiheit gelingt51 und die auf diese Weise das Gleichgewicht zwischen präventiven und freiheitsschützenden Zielen des Strafrechts erhalten kann. Wenn der Auslegende das Strafrecht bereits interpretiert hat und sich dann für den Richter die Gelegenheit bietet, den individuellen Fall einer strafrechtlichen Lösung zuzuführen, sind hierbei verschiedene Konstellationen denkbar, jeweils abhängig davon, ob ein Tatbestand oder Straffreistellungsgrund anwendbar ist oder nicht: • der Fall subsumiert sich einzig unter einen Tatbestand, • der Fall fällt in den Anwendungsbereich eines Tatbestandes und eines Straffreistellungsgrundes (z. B. Rechtfertigungsgrund, Entschuldigungsgrund, Strafausschließungsgrund), • der Fall kann nicht unter den Tatbestand subsumiert werden, • der Fall lässt sich unter den Tatbestand subsumieren, aber ein Straffreistellungsgrund ist nicht anwendbar, obwohl der Fall „materiell“ nicht den Charakter einer Straftat trägt. Im 1. und 2. Fall ist der Täter mit der an die Verwirklichung des Tatbestandes geknüpften Strafe zu bestrafen (1.) oder die Straflosigkeit auszusprechen (2.), weil sich der Straffreistellungsgrund bei einem Rechtsanwendungskonflikt durchsetzt; dagegen bleibt der Täter im 3. Fall schon aufgrund der fehlenden Tatbestandsmäßigkeit straflos. Eine besondere Erklärung ist bei 4. erforderlich, weil hier nach den anwendbaren oder den durch Auslegung in ihrem Anwendungsbereich erweiterten Strafrechtsvorschriften die Bestrafung der Tat eigentlich erforderlich ist. Trotz dieser dem Grunde nach erforderlichen Bestrafung wird eine solche in den unter 4. zu fassenden Fällen nicht für notwendig oder angemessen gehalten, weil trotz der Tatbestandsmäßigkeit der Tat diese entweder materiell rechtmäßig oder nicht schuldhaft ist oder weil man aufgrund weiterer kriminalpolitischer Gründe dazu tendiert, die Strafe auszuschließen bzw. die Bestrafung zu unterlassen. In dem vorgenannten Fall hätte der Strafgesetzgeber eine fehlerhafte – weil unvollständige – Auswahl an Fällen getroffen, die er für strafwürdig

49 Ähnlich Kudlich/Christensen, JA (2004) 1, S. 82, die aber von „Möglichkeit“ und „Plausibilität“ sprechen. 50 Simon, Gesetzesauslegung, S. 519. 51 Silva Sánchez, Aproximación, S. 258, 298.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

hält oder die eben eine Strafbefreiung verdienen. Dieser Fehler verstößt jedoch gegen die Gründe, die hinter den straffreistellenden Regelungen stehen. Diese letztgenannte Konstellation macht es erforderlich, bei der Analyse der Richterkompetenzen eine weitere zu benennen, die der Strafrechtsfortbildung (oder Strafrechtsintegration) entspricht. Es geht hier um ein Vorgehen, das bei der Strafgesetzesausführung ganz zufällig erfolgt oder kontingent ist und das eine latente (aber außergewöhnliche) Richterkompetenz beinhaltet52, die sich auf die richterliche Strafrechtsschöpfung bezieht. Die Strafrechtsintegration ist als eine Fortbildungs- oder Korrekturinstanz des gesetzgeberischen Rechts anzusehen. Solche Fälle werden dann nicht durch die Anwendung einer im StGB oder einem anderen Gesetz stehenden Vorschrift gelöst, sondern durch eine generelle Norm53, die vom Richter erschaffen wurde. Die Analogie in bonam partem liegt in diesem Bereich, weil es sich um einen Mechanismus der Strafrechtsschöpfung handelt, der das gesetzgeberische Strafrecht verändert. Durch diese Analogie wird ein Straffreistellungsgrund in Fall 4. übergesetzlich eingefügt, der die gesetzgeberische strafrechtliche Lösung mit den Strafrechtszwecken harmonisiert, also in Einklang bringt. Die Strafrechtsfortbildung setzt die Lösung aller Bedeutungsprobleme der Norm voraus54. Sie verlangt m. a. W., dass die Gesetze ausgelegt wurden und der Rechtsanwender den Anwendungsbereich des Gesetzes bestimmt hat55, 56. Der Richter kann nur das Recht fortbilden, wenn er das anwendbare Recht bestimmt und infolgedessen z. B. ein begriffliches oder ein axiologisches Problem (normative Lücken oder axiologische Lücken57) identifiziert hat, das sich auf die fehlende oder axiologisch unzutreffende Lösung des normativen Systems zu einem generischen Fall herauskristallisiert. Mit anderen Worten: Bei der Rechtsfortbildung werden die Probleme gelöst, die durch die Unvollständigkeit, die Redundanz und die Zusammenhangslosigkeit der normativen Systeme geschaffen wurden, aber auch solche Probleme, welche die axiologische Konsistenz der normati52

Engisch, Einführung, S. 177. Eine generelle Norm ist eine solche, die eine Verbindung zwischen einem generischen Fall und einer Rechtsfolge ist. Folglich ist die generelle Norm von den individuellen Normen zu unterscheiden, die einen individuellen Fall (z. B. der konkrete von Franz begangenen Totschlag an Peter) mit einer konkreten Rechtslösung korrellieren. Dazu vgl. Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 66. 54 Röhl/Röhl, Allgemeine, S. 633 ff. 55 Puppe, Kleine Schule, S. 113 f. 56 Der Anwendungsbereich einer Vorschrift wird durch die Interpretation sämtlicher Merkmale der Regelung bestimmt, somit ist gar keine Analogie bzw. Rechtsfortbildung gegeben, wenn der Fall nicht vom Wortlaut eines Merkmals der Vorschrift erfasst werden kann, aber ja schon von einem anderen Merkmal der gleichen Vorschrift erfasst wird. Vgl. andere Ansicht in Greco, GA (2012), S. 453. 57 Ich benutze hier diese Begriffe im Sinne von Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 49, 184 ff. 53

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ven Systeme schädigen58. Hier steht der Richter vor einem hard case59. Erst nach der Auslegung können die Richter und die Juristen allgemein ein Vollständigkeits-, Redundanz-, Zusammenhangslosigkeitsproblem oder eine axiologische Inkonsistenz der normativen Systeme erkennen,60 und eine Lösung derselben durch Strafrechtsfortbildung kann anerkannt werden.

II. Korrektur des Strafrechts und richterliche Rechtsschöpfung durch Analogie in bonam partem – die außerstrafrechtliche Rechtsanwendung und weitere ähnliche Rechtsfortbildungsmittel 1. Wenn man davon ausgeht, dass die Analogie in bonam partem einzig bei der Korrektur oder Fortbildung des Strafrechts eine Rolle spielt, ist nicht zu übersehen, dass die fortbildungswürdigen Rechtsregelungen die Ausnahme darstellen, weil die gegenwärtigen Strafgesetzbücher bereits ein relativ vollständiges System an Straffreistellungsgründen enthalten. Aber diese Regel wird durch einige Ausnahmen bestätigt, denn tatsächlich fehlt es dem deutschen Strafrecht nicht an Beispielen, die die kriminalpolitischen Schwierigkeiten offenkundig machen, die aus einer fehlerhaften oder unvollständigen gesetzlichen Normierung von Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- und Strafausschließungsgründen resultieren. In diesem Zusammenhang bedeutet eine „Korrektur“ des Strafrechts keine Rechtsfortbildung contra legem, sondern vielmehr eine ergänzende oder planmäßige Korrektur des Gesetzes, die in anderer Tradition als „Rechtsfortbildung praeter legem“ gekennzeichnet wird61. 58

Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 46 ff. Redondo, Doxa (1997) 20, S. 186. In diesem Zusammenhang spricht Atria, On Law, S. 75 von evaluative hard cases. 60 Trotz des begrifflichen Unterschiedes zwischen der Auslegungsstufe und der Rechtsfortbildungsstufe stehen dennoch beide Stufen miteinander in Beziehung. Der Begriff „gegenwärtiger Angriff“ (§ 32 Abs. 2 StGB) kann hier als gutes Beispiel dienen. Stellen wir uns einen unmittelbar bevorstehenden Angriff vor, der nach Ansicht des Richters eine Rechtfertigung verdient. Kommt der Richter durch Auslegung zu dem Ergebnis, dass dieser Begriff des „gegenwärtigen Angriffs“ solche Angriffe ausschließt, die unmittelbar bevorstehen und sollen trotzdem einige bevorstehende Angriffe rechtmäßig sein, dann kommt die Rechtfertigung durch Analogie zustande. Hier bildet der Richter das Recht fort, weil das Strafrecht die nur bevorstehenden Angriffe für rechtswidrig hielt und die Tat dennoch nach Ansicht des Richters gerechtfertigt sein sollte. Zu einem anderen Schluss kommt man, wenn der Auslegende den „gegenwärtigen Angriff“ in einem weiten Sinn interpretiert, nach dem die Notwehr auch auf einige unmittelbar bevorstehende Angriffe anwendbar ist, weil die Bedeutung des gegenwärtigen Angriffs auch solche miterfasst. Bei diesem zweiten Fall findet die Rechtfertigung nicht durch Analogie statt, sondern das strafrechtliche System hält für solche unmittelbar bevorstehenden Angriffe eine Norm zur Verfügung, die die Tat rechtfertigt. 61 Zu Stufen der richterlichen Rechtsfortbildung in dieser Tradition, vgl. u. a. Krey, ZStW (101) 1989, S. 861. 59

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

Die Frage ist, warum der Gesetzgeber häufig wenige Gründe bei der Herstellung des konkreten Straffreistellungssystems vorsieht oder die gesetzlich anerkannten Möglichkeiten zur Straffreistellung einen so engen Anwendungsbereich haben. So waren etwa die Möglichkeiten, Lücken im vorhandenen Rechtfertigungssystem zu entdecken und anzuerkennen, zur Zeit des RStGB viel verbreiteter, weil die einzigen gesetzlich festgestellten Gründe die Notwehr (§ 53 RStGB) und die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 RStGB) waren62. Dasselbe gilt heute für eine Vorschrift wie § 35 StGB, die sich auf einen Personen- und Rechtsgüterkreis beschränkt. Hier wird man existierende Lücken sehen, die die strafrechtliche Behandlung von notstandsähnlichen Lagen betreffen können, in denen von einer Gefahrenabwehr für andere Rechtsgüter als dem Leben, dem Leib oder der Freiheit und auch von keinem Rechtsgut eines Angehörigen die Rede ist63. Die Spärlichkeit und der enge Anwendungsbereich der gesetzlichen Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- oder Strafausschließungsgründe sind zwei mögliche Gründe, weswegen materiell rechtmäßige, nicht schuldhafte oder nicht strafbedürftige Taten gleichwohl bestraft werden müssten. Eine solch unbefriedigende Situation erfordert daher unumgänglich eine richterliche Korrektur oder Fortbildung des gesetzlichen Strafrechts. Die Analogie zugunsten des Täters als Fortbildung des Strafrechts setzt zwangsläufig eine richterliche Rechtsschöpfung64 voraus. Der Begriff „richterliche Rechtsschöpfung“ wird selten eindeutig verwendet, und so lässt sich viel unter ihn fassen, was letztlich aber keine echte Erschaffung neuen Rechts bedeutet. In der strafrechtlichen Lehre herrscht ein weiter Sinn vor65, nach dem die richterliche Aufgabe immer eine Rechtsschöpfung voraussetze, weil es sich – folgt man Kelsens These66 – bei der richterlichen Rechtsanwendung simultan um eine Fortbildung und eine Anwendung handele oder weil das Gesetz gar keine Bedeutung habe und die Richter ihm eine solche zuschreiben müssen, nachdem den histori62 Eser, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 34 f.; Jakobs, AT, Abs. 13, Rn. 5; Roxin, AT, I, § 16, Rn. 1. 63 Köhler, M., AT, S. 335; Kindhäuser, AT, § 21, Rn. 14. 64 Stratenwerth/Kuhlen, AT, § 3, Rn. 31; Roxin, AT, § 5, Rn. 26–28, 31–32; Jescheck/Weigend, AT, S. 134, 135; Jakobs, AT, Abs. 4, Rn. 33–34; Schünemann, Nulla poena, S. 17 ff.; Hirsch, in: Zong Uk Tjong-GS, S. 51; in der Rechtstheorie, Iglesias Vila, El problema, S. 51; Falcón y Tella, El argumento, S. 56 ff. Dagegen Sax, Das strafrechtliche, S. 152. Anders, v. Hippel, Deutsches, S. 40, es gehe um eine Anwendung des schon geltenden Rechts bei der Analogie, aber die Anerkennung von Gewohnheitsrecht zeige sich einzig als eine richterliche Schöpfung. 65 Siehe u. a. Jakobs, AT, Abs. 4, Rn. 33; Triffterer, AT, Kap. 2, Rn. 29; Meyer-Ladewig, MDR (1962) 4, S. 262, 263; Krey, Studien, S. 205; in der spanischsprachigen Literatur, Mir Puig, El Derecho, S. 14 ff.; Otero González, La circunstancia, S. 24–25; Hurtado Pozo, Bacigalupo-FS, II, S. 1005; Sánchez Tomás, ADPCP (2005) LVIII, S. 31; Salguero, Revista de la Facultad de Derecho de la Universidad de Granada (2003) 6, S. 162, 163; in der italienischen Literatur, Antolisei, PG, S. 85. 66 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 346 ff.

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schen Umständen, dem Vorverständnis und dem Gerechtigkeitssinn im hermeneutischen Zirkel Rechnung getragen worden ist67, 68. Trotzdem: Wenn die Literatur von übergesetzlichen Straffreistellungsgründen spricht, die von Richtern durch eine Analogie in bonam partem geschaffen wurden, analysiert sie eine Frage, die etwas anderes als eine einfache Strafgesetzesanwendung und konkreter als eine einfache Lösung einer semantischen Frage ist. Im Grunde genommen wird ein übergesetzlicher Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs-, Strafausschließungs- oder Strafmilderungsgrund vom Richter erschaffen, wenn der Inhalt des konkreten Straffreistellungsgrunds mit dem Inhalt anderer gesetzlicher Vorschriften des gleichen normativen Systems nicht identisch und auch keine logische Folge anderer gesetzlicher Vorschriften ist69, 70. Infolgendessen verbindet der Begriff der „richterlichen Rechtsschöpfung“ sich mit der Erschaffung einer generischen Norm71, d.h. einer Norm, in der ein generischer Fall mit einer Rechtslösung korreliert. Das Wichtigste dieser Erschaffung ist die Neuigkeit ihres preskriptiven Norminhaltes72. Vor diesem Hintergrund darf man behaupten, dass die neuen übergesetzlichen Straffreistellungen ein Produkt der Analogie in bonam partem sind; m. a. W. ist die Analogie zugunsten des Täters ein argumentatives Werkzeug des Richterrechts73. 2. Unter den Mitteln für die Rechtsfortbildung im Strafrecht ist sicherlich die Analogie zugunsten des Täters das wichtigste. Dabei handelt es sich um ein juristisches Argument, das grundsätzlich auf zwei verschiedenen Stufen entwickelt wird: Der Vergleichungs- und der Schöpfungsstufe74. Bevor der Richter auf die Analogie in bonam partem zurückgreift, muss er die anwendbaren Vorschriften (Tatbestände, Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs-, Strafausschließungs- und Strafmilderungsgründe) finden, sie auslegen und schließlich bestehende Lücken 67

Klatt, Theorie, S. 55. Dieser besonders von Kelsen vertretene weite Sinn von der „richterlichen Rechtsschöpfung“ sei etwas geändert und deformiert in der Hermeneutik angelaufen, vgl. Calvo García, Los fundamentos, S. 130. 69 Zu diesem engen Sinn von der „richterlichen Rechtsschöpfung“, siehe Bulygin, in: Alchourrón/Bulygin, Análisis lógico y Derecho, S. 360. 70 Von diesem engen Sinn ausgehend bedeutet die Lösung semantischer Fragen bei der Rechtsanwendung oder Rechtsauslegung und die Strafzumessung gar keine richterliche „Schöpfung“. Infolgedessen sind die von Richtern hervorgebrachten individuellen Normen (Urteile, Rechtsprechung) nicht als Richterrecht anzusehen. 71 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, Rn. 894 ff. 72 Hafter, SchwZStr (1947) 62, S. 138; Navarro/Bouzat/Esandi, Juez y ley penal, S. 30. 73 Die Analogie zugunsten des Täters ist nämlich keine Strafrechtsquelle; sie ist eher das argumentative Werkzeug, das der Richter benutzt, um das übergesetzliche Recht herzustellen. Trotzdem sei die Analogie eine Rechtsquelle, Maurach/Zipf, AT, I, § 8, Rn. 34; Jiménez de Asúa, La ley, S. 89 f.; Cobo del Rosal/Vives Antón, PG, S. 164 ff.; Lascano, in: ders. (Hrsg.), Derecho penal, S. 150 ff.; Fierro, Legalidad, S. 71 ff. 74 Larenz, Methodenlehre, S. 381. 68

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

feststellen, die das Strafrechtssystem betreffen. Wurde auf diese Lücken schon hingewiesen und entscheidet sich der Richter in diesem Fall für die Analogie zugunsten des Täters, muss auf diese Entwicklungsstufen des analogischen Denkens kurz eingegangen werden. Was die Vergleichungsstufe angeht, sucht man eine faktische und juristische Ähnlichkeit zwischen den von der gefundenen Lücke betroffenen Fällen und solchen, die von den im StGB vorhandenen Regelungen gänzlich erfasst sind („lückenlosen Fällen“)75. Um die faktische Ähnlichkeit feststellen zu können, muss der Richter die Eigenschaften oder Umstände der zwei Fälle vergleichen76. Die präventive Notwehr kann hier als ein gutes Beispiel dienen. Hierbei sucht der Richter die faktischen Ähnlichkeiten zwischen den Eigenschaften des in § 32 regulierten generischen Falls (d.h. gegenwärtiger Angriff, rechtswidriger Angriff, Erforderlichkeit) und denjenigen der präventiven Notwehr (d.h. ungegenwärtiger Angriff, potentiell rechtswidriger Angriff, Erforderlichkeit). Bei diesem Beispiel kann man problemlos zu dem Ergebnis kommen, dass beide Fälle ähnlich sind77. Diese faktische Ähnlichkeit ist freilich für das analogische Argument nicht ausreichend, und es ist deshalb noch einem zweiten Ähnlichkeitserfordernis Rechnung zu tragen78. Auf dieser zweiten Stufe werden Ähnlichkeiten gesucht, die für das Strafrecht relevant sind. Es kann nämlich der Fall vorliegen, dass zwei zu vergleichende Fälle eine strukturelle oder faktische, gleichwohl aber keine rechtliche Ähnlichkeit zeigen. Nur eine solche juristische Ähnlichkeit trägt die Entscheidung, ob es eine Analogie zwischen den zwei zu vergleichenden Fällen gibt. Abhängig von jeder Analogie in bonam partem benutzt der Richter verschiedene Methoden, um diese Ähnlichkeit festzustellen z. B. die rationes legis79, denen konkrete Vorschriften (etwa § 32, § 34, § 35) zugrunde liegen, und die Rechtsgrundsätze80, auf denen die verschiedenen Strafbefreiungsinstitutionen, das Strafrecht oder das allgemeine Recht basieren, spielen dabei eine herausragende Rolle81. Solche „Rechtsprinzipien“ helfen dem Richter festzustellen, wann die zu vergleichenden Fälle unter dem Gesichtspunkt des Strafrechts82 ähnlich in diesem Sinne sind. 75 Aus einer allgemeinen Perspektive, vgl. Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, Rn. 889; Zippelius, Juristische, S. 68 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 381 ff. 76 Falcón y Tella, El argumento, S. 91 ff. 77 Bei den konkreten Analogiearten wird die faktische Ähnlichkeit vertieft, vgl. S. 71 ff., 80 ff., 90 ff. 78 Larenz, Methodenlehre, S. 381. 79 Brewer, Harvard Law Review (1996), S. 952 ff.; Bydlinski, Juristische, S. 477; Noll, Übergesetzliche, S. 14. 80 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 294 f.; Baratta, in: Wolf-FS, S. 140. 81 Daher ist es keine Eigenwertung des Rechtsanwenders, vgl. Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, Rn. 895. 82 Bydlinski, Juristische, S. 475 ff.; Engisch, Einführung, S. 190 f.

B. Analogie zugunsten des Täters als Mittel zur Rechtsfortbildung

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Nach der Vergleichungsstufe kommt der Schöpfungsmoment, in dem der Richter die übergesetzliche generische Norm erschafft, die die Lücke ausfüllen wird. Die Charakterisierung dieser Stufe ist von den Analogiearten abhängig, weil der Richter die Straffreistellungsgründe aufgrund verschiedener Methoden schöpft. Hierzu nimmt sich der Richter die ähnlichen gesetzlichen Straffreistellungs- oder Strafmilderungsgründe oder die rationes legis, die Institutionsprinzipien und die allgemeinen Strafrechts- oder Rechtsprinzipien83 zum Vorbild oder Modell seiner Schöpfung. Somit basiert die analogische Rechtfertigung oder Entschuldigung auf dem Muster der ähnlichen gesetzlichen Vorschrift und der kurz genannten Strafrechtsgrundsätze84. 3. Die Analogie in bonam partem ist zwar das wichtigste, aber nicht das einzige Mittel der Strafrechtsfortbildung zugunsten des Täters. Auch die außerstrafrechtliche Rechtsanwendung zugunsten des Täters sollte berücksichtigt werden. Die Urteile des Strafrichters sollen mit der Hilfe des originären85 normativen Systems begründet werden, das nur aus strafrechtlichen oder (ausnahmsweise) strafprozessualen Vorschriften86 besteht; er soll das gesamte Strafrecht anwenden. Das heißt, dass eine Strafe nur verhängt werden und auch eine Tat nur erlaubt sein kann, wenn der Entscheidung ein entsprechender gesetzlicher Tatbestand oder Rechtfertigungsgrund zugrundeliegt, der sich in dem „originären“ normativen System findet. Die herrschende Auffassung87 versteht die Anwen-

83 Im Detail über die Rolle von ähnlichen Vorschriften und Rechtsgrundsätzen bei den verschiedenen Analogiearten in bonam partem, siehe Fn. 77. 84 Noll, Übergesetzliche, S. 14 f. 85 Das „originäre“ normative Strafrechtssystem ist dasjenige, welches aus den gesetzlichen Vorschriften besteht, die der Richter zu Beginn des Verfahrens anwenden soll, um den konkreten Fall zu lösen und ein Urteil zu sprechen. Das „originäre“ normative Strafrechtssystem sollte allerdings vom „geänderten“ normativen Strafrechtssystem unterschieden werden, welches aus den Vorschriften des „originären“ normativen Strafrechtssystems, aber auch aus denjenigen Normen besteht, die der Richter durch ein Strafrechtsfortbildungsmittel zugunsten des Täters erschaffen hat. 86 Die Anwendung von strafprozessualen Regelungen in materiellen oder substantiven Fragen kann bei der Rechtfertigung von Bedeutung sein, z. B. § 127 I StPO. Dazu vgl. etwa Kindhäuser, AT, § 20, Rn. 1 ff.; Krey/Esser, AT, § 16, Rn. 640 ff.; Kühl, AT, § 9, Rn. 83 ff. 87 Roxin, AT, I, § 14, Rn. 32; Jescheck/Weigend, AT, S. 327; Kühl, AT, § 9, Rn. 1; NK/Paeffgen, Vor §§ 32 ff., Rn. 48, 56; LK/Hirsch, Vor § 32, Rn. 10; Runte, Die Veränderung, S. 44, 45; Erb, ZStW (1996) 108, S. 272; Krey, AT, § 11, Rn. 401, S. 149; Kaufmann, Arm., in: ders., Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, S. 41 ff.; Hirsch, in: Zong Uk Tjong-GS, S. 58 ff.; Freund, AT, § 3, Rn. 41–42; Perron, Rechtfertigung, S. 121; ders., in: Mir Puig/Luzón Peña (Hrsg.), Causas de Justificación y Atipicidad en Derecho penal, S. 81, 82; Rudolphi, in: Armin Kaufmann-GS, S. 371; Eser, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 49; Jakobs, AT, Abs. 11, Rn. 4; Mayer, H., AT, S. 157; Würzburger, Das Recht, S. 136; Wachenfeld, Lehrbuch, § 35; Merkel, Die Lehre, § 56; Molina Fernández, in: González-Cuéllar García-FS, S. 384. Sei diese Auffassung anachronistisch, Günther, in: Luzón Peña/Mir Puig (Hrsg.), Causas de Justificación y Atipicidad en Derecho penal, S. 51.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

dung des Rechts im Rahmen der Rechtfertigung so, dass das anwendbare originäre Strafrechtssystem aus strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Normen (insbesondere zivilrechtlichen Vorschriften) bestehe, weil der „Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung“ in der Rechtstheorie noch von großer Bedeutung sei und die Rechtsordnung tatsächlich nur als echte Einheit funktioniere. Doch von dem unterschiedlichen Unrechtsbegriff im Zivilrecht und Strafrecht88, von den verschiedenen Zwecken des Zivil- und Strafrechts und schließlich vom fragmentarischen Charakter des Strafrechts ausgehend, hat der Strafrichter einzig die Pflicht, das strafrechtliche System anzuwenden89. Infolgedessen integrieren die im StGB normierten Rechtfertigungsgründe nur das anwendbare originäre Strafrechtssystem bei einer Rechtfertigungsfrage, und die zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe haben deshalb eine mittelbare oder subsidiäre Bedeutung90. Wenn der Richter also auf eine außerstrafrechtliche Norm zurückgreift, wendet er keine Norm an, die im originären strafrechtlichen System integriert ist, sondern der Strafrichter bildet dieses originäre normative System fort91. Als z. B. die alte Strafrechtslehre Nothandlungen gegen das Vermögen mittels des zivilrechtlichen Notstandes rechtfertigte, hat sie keine Norm des originären Strafrechtssystems angewendet, sondern auf außerstrafrechtliche Regelungen zurückgegriffen92, um das Strafrechtssystem fortzubilden. In Wahrheit schloss die Einbeziehung der zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe die Lücke, die sich im RStGB ergab, wenn das Vermögen betroffen war, weil das Rechtfertigungssystem des RStGB nur die Notwehr (§ 53 RStGB) und die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 RStGB) kannte. Das RG hat die vorhandenen zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe in das Strafrecht importiert und so eine Norm in das originäre normative Rechtfertigungssystem eingefügt, die die vom RStGB vorgegebene Behandlung der Nothandlungen gegen das Vermögen korrigierte. Die Diskussion des Rechtsimports in das heutige Strafrecht ist auch im Rahmen der Criminal Compliance von großer Bedeutung, insbesondere bei den strafrechtlich relevanten Verletzungen der Privatsphäre, die bei der Durchführung von internen Ermittlungen stattfinden können.93 Der Notstand und die Notwehr sind oft nicht anwendbar94, weil die Eingriffe der Ermittler in die Privatsphäre des Arbeitneh88

Dazu Hellmann, Die Anwendbarkeit, S. 90. Ähnlich Binding, Grundriss, § 75, I, Rn. 9; Hellmann, Die Anwendbarkeit, S. 101 ff.; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 55 ff. 90 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 55, 56; Hellmann, Die Anwendbarkeit, S. 104 ff. 91 Ausführlich Montiel, Analogía, S. 391 ff. Auch kritisch mit dem Gedanken der „Einheit der Rechtsordnung“ umgehend, Seelmann, in: Hamburger Rechtsstudien (Hrsg.), Vielfalt des Rechts-Einheit der Rechtsordnung?, S. 85, 97 f. 92 Würzburger, Das Recht, S. 65 ff.; Grünhut, ZStW (1931) 51, S. 458; Roxin, AT, § 16, Rn. 2. 93 Zur Diskussion, vgl. Montiel, in: Kudlich/Kuhlen/Ortiz de Urbina (Hrsg.), Compliance und Strafrecht, S. 207. 94 Reeb, Internal Investigations, S. 93. 89

B. Analogie zugunsten des Täters als Mittel zur Rechtsfortbildung

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mers meistens eine Reaktion auf die Begehung einer Straftat nach eben dieser sind, die nicht unmittelbar vor oder während dieser Straftat erfolgt. Die Richter sollten in diesen Konstellationen § 32 I HS 2 BDSG95 importieren und das Strafrecht fortbilden96. Die außerstrafrechtliche Rechtsanwendung zugunsten des Täters zeigt viele Ähnlichkeiten mit der Analogie in bonam partem, und daher werden beide Strafrechtsfortbildungsmittel von einem Teil der Lehre als äquivalent behandelt97. Auch bei der außerstrafrechtlichen Rechtsanwendung zugunsten des Täters handelt es sich, wie bei der Analogie in bonam partem, um ein Strafrechtsfortbildungs- und Strafrechtsschöpfungsmittel, weil sie das originäre normative Strafrechtssystem ändert oder korrigiert und eine Vorschrift in das normative Strafrechtssystem einfügt, die keine logische Folge der Normen der originären anwendbaren Rechtsordnung ist. Diese Ähnlichkeit darf aber nicht dazu führen, die klaren Unterschiede zwischen beiden zu übersehen. In ihrer argumentativen Struktur unterscheiden sich diese Mittel klar voneinander, weil keine Vergleichungsstufe i. e. S. bei der außerstrafrechtlichen Rechtsanwendung zugunsten des Täters existiert. Obwohl der mittels der außerstrafrechtlichen Rechtsanwendung zugunsten des Täters geschöpfte strafrechtliche Rechtfertigungsgrund den gleichen generischen Fall reguliert, der vom Gesetzgeber im BGB festgestellt wurde, korrelliert diese übergesetzliche strafrechtliche Norm mit einer anderen Lösung, weil sie das strafrechtliche und nicht das zivilrechtliche Unrecht ausschließt.98 Mit anderen Worten: Dieser übergesetzliche Rechtfertigungsgrund hat die Anwendungsvoraussetzungen eines gesetzlichen Rechtfertigungsgrundes und die vom Richter geschöpfte Rechtsfolge (die Strafbefreiung). Der Richter hat einfach eine zivilrechtliche Norm importiert und deren Rechtslösung an die kriminalpolitischen Anforderungen angepasst99. Dagegen bedeutet die analogische Regelung keinen einfachen Import, sondern der Richter stellt dabei eine ganz neue Rege-

95 Momsen/Grützner, DB (2011), S. 1797 f.; Rübenstahl/Debus, NZWiSt (2012), S. 136 f.; Mückenberger/Müller, BB (2011) 37, S. 2303. Jedoch meint Knauer, ZWH (2012), S. 88, dass diese Erlaubnis unzureichend sei, da sie nicht alle relevanten Fälle abdecken kann. 96 Rübenstahl/Debus, NZWiSt (2012), S. 135 lehnen es ihrerseits explizit ab, hier von einer Strafrechtsfortbildung zu sprechen. 97 So Roxin, AT, I, § 16, Rn. 74; v. Hippel, Deutsches, S. 229 f.; Terán Lomas, PG, S. 349 ff.; Bott/Krell, ZJS (2010) 6, S. 699. 98 Vgl. Binding, Grundriss, § 75, I, Rn. 9, S. 151, „StrGB § 53 ist ein verneinendes Strafgesetz, BGB § 227 ein verneinendes Civilgesetz. An Bedeutung stehen beide einander gleich. Wenn BGB § 227, I sagt: „Eine durch Notwehr gebotene Handlung ist nicht widerrechtlich“, so soll durch die Negation wohl ihre Rechtmäßigkeit, jedenfalls aber im Sinne des BGB ihre Untauglichkeit, einen Schadenersatzanspruch zu erzeugen, konstatiert werden“. 99 Über die Wechselwirkung zwischen Analogie zugunsten des Täters und der außerstrafrechtlichen Rechtsanwendung siehe Montiel, Analogía, S. 364 ff.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

lung her, die die normative Lösung der lückenlosen Vorschrift einnimmt, aber einen anderen (doch ähnlich) generischen Fall reguliert. 4. Es gibt noch ein anderes Mittel der Rechtsfortbildung, das häufig von der Lehre und Rechtsprechung benutzt wird und das auch vielfach an die Analogie zugunsten des Täters angeglichen wird: Die teleologischen Tatbestandseinschränkungen.100 Diese Methode findet in solchen Fällen Anwendung, in denen eine „buchstabengetreue“ Anwendung des Tatbestandes nach dem Textsinn dazu führen kann, dass der vom Gesetz verfolgte Zweck in sein Gegenteil verkehrt würde101. Der Textsinn muss dann nach dem erkennbaren Normzweck eingeschränkt werden, denn der Gesetzgeber hat bei der Formulierung des Textes eine nach dem Zweck erforderliche Einschränkung übersehen. Mit anderen Worten: Die Vorschrift ist „überumfassend“102, weil unter den Anwendungsbereich des Tatbestandes mehr Fälle als diejenigen fallen, welche nach dem Zweck der Vorschrift von ihm erfasst werden sollten. Der wörtlichen und grammatischen Auslegung von § 261 StGB nach macht sich z. B. jeder Rechtsanwalt wegen Geldwäsche strafbar, der Strafverteidigerhonorare erhält, deren Herkunft vermutlich deliktisch ist103. Da allerdings ein so weites Strafbarkeitsrisiko der Rechtsanwälte gegen das Grundrecht auf die freie Berufsausübung verstößt, verpflichten die Ziele des § 261 StGB als auch des Art. 12 GG den Richter dazu, den Anwendungsbereich des Geldwäschetatbestandes einzuschränken.104 Die Ähnlichkeiten zwischen der Analogie zugunsten des Täters und der teleologischen Tatbestandseinschränkung sind klar, weil beide Argumente die Strafmacht einschränken und die Schöpfung neuen Rechts bedeuten; m. a. W. beide entstehen und bestehen durch und aus einem richterlichen Schöpfungsakt. Nur in diesem Zusammenhang kann behauptet werden, dass die teleologische Tatbestandseinschränkung eine Analogie in bonam partem ist105. Jedoch sind beide Instrumente hinsichtlich des jeweiligen Schöpfungsmoments zu unterscheiden.

100 Hier ist zu betonen, dass die Natur der teleologischen Einschränkungen in der Literatur hoch umstritten ist, weil nicht genügend klargestellt ist, ob es sich um eine Rechtsauslegungs- oder Rechtsfortbildungsform handelt. Für die Auslegungsthese, vgl. Röhl/Röhl, Allgemeine, § 76, S. 635; Puppe, Kleine Schule, S. 96 f. Für die These der Rechtsfortbildung, vgl. Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, § 23, Rn. 902; Zippelius, Juristische, S. 69; Bydlinski, Juristische, S. 480 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 391; Krey, JZ (1978), S. 361. 101 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, § 23, Rn. 902, 903. 102 Über die Begriffe von „overinclusiveness“ und „underinclusiveness“, vgl. Schauer, Playing by the rules, S. 31 ff. 103 Klatt, in: Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, S. 360. 104 Vgl. BVerfG NJW 2004, S. 1305–1313. Über die teleologischen Einschränkungen und die Diskussion über das Strafverteidigerhonorar und die Geldwäsche, vgl. Bermejo/ Wirtz, ZIS (2007), S. 399. 105 Kuhlen, Die verfassungskonforme, S. 102.

C. Voraussetzungen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

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Während das Produkt der Analogie zugunsten des Täters ein richterlicher Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs-, Strafausschließungs- oder Strafmilderungsgrund ist, produziert die teleologische Tatbestandseinschränkung einen neuen Tatbestand, dessen Text aber in Übereinstimmung mit dem Ziel des Gesetzes und/oder mit den Grundrechten steht. Selbstverständlich bedeuten die Normen, die mittels sowohl der Analogie in bonam partem als auch der teleologischen Tatbestandseinschränkung geschöpft werden, eine Ausnahme von der allgemeinen Regelung (dem Tatbestand)106, aber die verschiedenartige Natur beider richterrechtlich geschöpften Normen sollte nicht ignoriert werden107.

C. Voraussetzungen der Analogie in bonam partem im Strafrecht I. Einleitung Die Analogie zugunsten des Täters als Mittel der Strafrechtsfortbildung zu charakterisieren, bedeutet nicht etwa, irgendwelche Probleme der Strafgesetzanwendung zu lösen, sondern nur diejenigen, welche sich aus den generischen Fällen des Strafrechts ergeben (etwa wenn ein generischer Fall keine normative Lösung oder eine axiologisch falsche Lösung bekäme)108. Diese Probleme sind in der Lehre unter dem Namen „Rechtslücken“ bekannt. Da diese Rechtslücken aus einem „Rechtsvakuum“ oder einer „axiologischen Inkonsistenz“ bestehen können, ist der für eine Analogie zugunsten des Täters vorausgesetzte Lückenbegriff klarzustellen. Eine ebenso wichtige Rolle spielt als zweite Voraussetzung der Analogie in bonam partem das Fehlen eines Analogieverbots, weil solche Fälle nicht ungewöhnlich sind, in denen das Gesetz oder das Gesetzlichkeitsprinzip die Zulässigkeit der Strafrechtsfortbildung ausschließt, obwohl eine Lücke im vorhandenen System der Straffreistellungs- oder Strafmilderungsgründe vorliegt. Folglich ist die Analogie in bonam partem an zwei Voraussetzungen geknüpft: Das Vorliegen einer Ausnahmelücke und das Fehlen eines Strafrechtsfortbildungsverbots.109

106 Dies bedeutet auch, dass der analogische Straffreistellungsgrund und der eingeschränkte Tatbestand sich gegenüber dem Tatbestand (oder nicht beschränkendem Tatbestand) bei der Gesetzeskonkurrenz durchsetzen, weil beide spezielle Regelungen (Ausnahmen) im Vergleich zu der ursprünglichen Regel sind (lex specialis derogat legi generali). 107 Beide Ausnahmen unterscheidend Zippelius, Juristische, S. 69 f. 108 Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 49 ff. 109 Ähnlich Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 294 ff.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

II. Das Vorliegen einer Ausnahmelücke 1. Begriff der „Ausnahmelücke“ a) Lückenarten und Ausnahmelücken aa) Obwohl die herrschende rechtstheoretische110 und strafrechtliche111 Literatur das Vorliegen einer Lücke für eine notwendige Voraussetzung – und sogar die Hauptvoraussetzung – der Analogie in bonam partem hält, ist es dennoch schwierig, einen befriedigenden Begriff für eine solche Lücke in der juristischen Literatur zu finden112. Wenn von „Lücken“ im Recht die Rede ist, können ganz unterschiedliche rechtliche Fragestellungen gemeint sein, wie etwa empirische, semantische, begriffliche und axiologische Probleme113. Mit anderen Worten: Der Ausdruck „Lücke“ ist im Recht häufig mit verschiedenartigen Sachverhalten verbunden, etwa mit ungeregelten oder (axiologisch) unbefriedigend geregelten Fällen, semantischen Schwierigkeiten wegen der Vagheit oder der Mehrdeutigkeit und mit dem mangelnden Bewusstsein aller vom Straftatbestand erfassten Sachverhalte.114 Daher kann man in der Lehre ganz verschiedene Lückenklassifikationen finden115; ein zufriedenstellender Begriff für die Lücke kann somit nur ge110 Vgl. u. a. Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, § 23, Rn. 889; Larenz, Methodenlehre, S. 381; Zippelius, Juristische, S. 67 f.; Röhl/Röhl, Allgemeine, § 80, S. 633 ff.; Canaris, Die Feststellung, S. 25; Atienza, Sobre la analogía, S. 182; ders., Doxa (1985) 2, S. 226. 111 Vgl. u. a. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 294; Suppert, Studien, S. 75; Jahn, Das Strafrecht, S. 437. 112 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, § 23, Rn. 832; Moreso, in: Atria et al., Las lagunas en el Derecho, S. 192. 113 Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 49, 68 ff., 184 ff. 114 Die empirischen und die empirisch-begrifflichen Probleme werden von einem Teil der Lehre als Wissenslücken und Erkennungslücken gekennzeichnet. Dazu Alchourrón/ Bulygin, Normative, S. 68 f. Die Wissenslücken und die Erkennungslücken sind Probleme, die sich bei der Rechtsanwendung ergeben. Schwierigkeiten bei der Rechtsanwendung oder Subsumtion eines individuellen Falles können aus verschiedenen Gründen auftreten. Die erste Schwierigkeit steht in Zusammenhang damit, dass man hinsichtlich eines relevanten Sachverhalts nicht genügend Information hat. Wenn man z. B. weiß, dass Ludwig durch Salzsäure verletzt wurde, man Peter die Tat aber nicht nachweisen kann, spricht man von einer Wissenslücke. Die Erkennungslücke stellt hingegen eine sich aus Vagheit und Vieldeutigkeit ergebende Schwierigkeit dar. Problematisch ist hier nicht eine ungenügende oder unsichere Beweislage, sondern vielmehr eine semantische Unbestimmtheit. Hier kann der Richter zwar beweisen, dass Peter die Körperverletzung begangen hat, zweifelt aber daran, ob die Salzsäure eine „Waffe“ i. S. d. § 224 I Nr. 2 darstellt. Die Lücke hat hier nichts mit der Findung des Sachverhalts zu tun, sondern die Schwierigkeiten sind mit der Auslegung des Begriffs „Waffe“ verbunden. Der Richter zweifelt, ob nach den regierenden Sprachregeln die Salzsäure als „Waffe“ ausgelegt werden kann. 115 Etwa Jescheck/Weigend, AT, S. 135, unterscheiden zwischen primären Lücken und sekundären Lücken; Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 68 ff., 166 ff., zwischen Wissenslücken, Erkennungslücken, normativen Lücken und axiologischen Lücken; Röhl/Röhl, Allgemeine, § 80, S. 633 f., Normlücken, Regelungslücken, Rechts-

C. Voraussetzungen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

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funden werden, wenn die genannten Probleme und die damit zusammenhängenden Sachverhalte unterschieden werden. Aber im Fall der Analogie in bonam partem werden Lücken ausgefüllt, die sich darauf beziehen, wie das Strafrecht die generischen Fälle regelt, weil es sich um ein Mittel der Strafrechtsfortbildung handelt. Im Allgemeinen setzt die Fortbildung des Rechts einen Defekt voraus, der etweder aus einem „Rechtsvakuum“, d.h. aus dem Fehlen einer gesetzlichen Regelung für einen generischen Fall, oder aus einer axiologisch oder teleologisch unbefriedigenden Behandlung eines Sachverhalts durch das Recht116 resultiert. Ein Teil der Lehre benutzt den Ausdruck „normative Lücke“, um die „Rechtsvakuen“ zu benennen, das heißt, generische Fälle, die nicht mit einer Rechtslösung korrelieren117. Bei der normativen Lücke wurde ein generischer Fall vom Gesetzgeber nicht vorgesehen, weswegen dieser keiner normativen Lösung zugeführt wurde; mit anderen Worten: Der Fall wurde deontisch nicht gekennzeichnet. Hier korreliert der generische Fall mit keiner Erlaubnis, keinem Gebot oder Verbot des normativen Systems. Die Strafrechtslehre verbindet häufig die Analogie mit dieser Art von Lücke, insbesondere wenn sie das Phänomen übergesetzlicher Strafbefreiungsgründe analysiert118. Eine Lücke liege im Strafrecht vor, wenn das Strafrechtssystem keine normative Lösung für einen generischen Fall habe, welcher eine normative Lösung benötige; z. B. würde ein Fall, der nicht unter den Anwendungsbereich eines Rechtfertigungsgrundes fällt, keiner strafrechtlichen Lösung zugeführt. Allerdings wird hierbei übersehen, dass das Gesetzlichkeitsprinzip und die eigenartige Verbindung zwischen den strafrechtlichen Normen das Vorliegen von normativen Lücken ausschließt, weil das Strafrecht ein Ausnahmefall ist, in dem das Postulat der Rechtsvollständigkeit wahr ist.119 Dem Gesetzlichkeitsprinzip nach korreliert ein generischer Fall, der nicht unter einen Tatbestand subsumiert werden kann (die Straflosigkeit wegen fehlender Tatbestandsmäßigkeit), mit einer strafechtlichen Lösung, weil solche Fälle mit der Zulässigkeit deontisch sortiert werden. Mit anderen Worten: Solche Fälle sind strafrechtlich irrelevant, und der Täter darf daher nicht bestraft werden. Beilücken, primäre Lücken und sekundäre Lücken; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, § 23, Rn. 842–846 Normlücken, Gesetzlücken, Kollisionslücken und Rechts- oder Gebietslücken. Kritisch zu vielen dieser Unterscheidungen Canaris, Die Feststellung, S. 130 ff. 116 Noll, Übergesetzliche, S. 4 f.; Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 51 ff., 184 ff., Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, Rn. 825; Salguero, Argumentación, S. 31, 44; Bulygin, Isonomía (2003) 24, S. 15 ff.; ders., Creación y aplicación del Derecho, in: Atria et al., Las lagunas en el Derecho, S. 35 ff.; Navarro, in: Atria et al., Las lagunas en el Derecho, S. 96; Atienza/Ruiz Manero, Ilícitos, S. 125; Atienza, Sobre la analogía, S. 29 (Fn. 21), 182 ff.; ders., Doxa (1985) 2, S. 226. 117 Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 116. 118 U. a. Schmidhäuser, Lehrbuch, § 5, Rn. 41; Lücke, JR (1975) 2, S. 56. 119 Ähnlich, aber nicht völlig koinzident Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 290 f.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

spielsweise handelt ein niedergelassener, für die vertragsärztliche Versorgung zugelassener Arzt bei der Wahrnehmung der ihm in diesem Rahmen übertragenen Aufgabe weder als Amtsträger i. S. des §§ 331 ff. StGB noch als Beauftragter der gesetzlichen Krankenkassen i. S. des § 299 StGB.120 Die fehlende Regelung in § 299 StGB für einen solchen Fall stellt keine normative Lücke dar, weil das Strafrechtssystem eine normative Lösung für den Fall im Sinne des Gesetzlichkeitsprinzips aufzeigt, nämlich die Straflosigkeit eines nicht vom Tatbestand geregelten generischen Falls.121 Wenn die Strafbefreiungs- oder die Strafmilderungsgründe bezüglich eines generischen Falles nicht anwendbar sind, liegt aber auch hier keine normative Lücke vor, da das Strafrechtssystem auch hier eine normative Lösung für eine „unregulierte“ Strafbefreiung oder Strafmilderung hat: Nämlich die Bestrafung der Tat (falls keine Strafbefreiungsgründe vorliegen) oder die nicht gemilderte Bestrafung (falls keine Strafmilderungsgründe eingreifen). Das bedeutet, dass man nicht von einem Rechtsvakuum oder von der Existenz von Fällen, die nicht vom Strafrecht geregelt werden, sprechen kann. Vielmehr geht es hier um axiologische oder teleologische Mängel des Strafrechtssystems, denn dann ziehen aus materiell-rechtlichen Gründen nicht strafwürdige oder jedenfalls einer Strafmilderung würdige Taten die im Tatbestand festgesetzte Strafe nach sich. Diese Lücke bedeutet, dass der Gesetzgeber eine konkrete Strafbarkeitsausnahme nicht beachtet bzw. nicht erkannt hat. Deshalb fällt der Fall subsidiär unter den Anwendungsbereich der Regel (des Straftatbestandes): Die Gesetzgebung hat also bei der Formulierung einer Vorschrift Sachverhalte unberücksichtigt gelassen. Hier sollte von Ausnahmelücke gesprochen werden122, 123. bb) Der subsidiäre Charakter des Strafrechts bedeutet, dass der Staat zum Strafrecht als dem härtesten staatlichen Eingriff in die Freiheit des Bürgers nur greifen darf, wenn mildere Mittel keinen ausreichenden Erfolg versprechen.124 Daraus kann u. a. abgeleitet werden, dass die Freiheit im Rechtsstaat die Regel 120 BGH v. 29.3.2012 – GSSt 2/11, NJW 2012, 2530 (Rn. 46; 2535). Über das Problem schon vor diesem Beschluss, vgl. Schuhr, NStZ (2012), S. 15. 121 BGH v. 29.3.2012 – GSSt 2/11, NJW 2012, 2530 (Rn. 46; 2535). 122 Der Ausdruck „Ausnahmelücke“ ist schon in der Lehre bekannt, aber nicht identisch mit der hier verteidigten Bedeutung. Vgl. Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, § 23, Rn. 848; Noll, Übergesetzliche, S. 4, 5, spricht auch hier über unechte Lücke und Wertungslücke; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 294 ff. und Krey, JZ (1978), S. 361, seien Regelungslücken. Dagegen Atria, Sobre las lagunas, in: Atria et al., Las lagunas en el Derecho, S. 23, liege keine Lücke im strengen Sinne vor. 123 Der hier verteidigte Begriff von „Ausnahmelücke“ zeigt Ähnlichkeiten mit den von Alchourrón und Bulygin gekennzeichneten „axiologischen Lücken“, vgl. Alchourrón/Bulygin, Normative, S. 186. 124 Vgl. Roxin, AT, I, § 2, Rn 39; Stratenwerth/Kuhlen, AT, § 2 Rn. 19; Seher, in: von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles, S. 70 ff.; Hörnle, in: von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles, S. 36; LK7 /Rudolphi, Vor § 1, Rn 14.

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ist, während ihre Einschränkung durch die Strafandrohung nur eine Ausnahme von dieser Regel darstellt. Wenn der Gesetzgeber dennoch die Entscheidung getroffen hat, eine bestimmte Tat zu kriminalisieren, sollen sämtliche unter die jeweiligen Tatbestände subsumierbaren Fälle in der Regel aus diesen Tatbeständen bestraft werden, mit Ausnahme solcher außergewöhnlichen Konstellationen, in denen das Strafbedürfnis und die Strafwürdigkeit entfallen. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis ändert sich somit bezüglich der strafrechtsrelevanten Fälle: In der Regel müssen strafrechtlich verbotene Handlungen bestraft werden, und die strafrechtliche Verantwortung darf nur ausnahmsweise ausgeschlossen werden. Daher können die Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs-, und die Strafausschließungsgründe als Ausnahmen bezeichnet werden125. Der Gesetzgeber sieht hier Vorschriften in Strafgesetzbüchern vor, welche mit den Tatbeständen konkurrieren, aber sie schließlich verdrängen, sofern es sich um Ausnahmen und spezielle Normen handelt. Im Gegensatz zu strafbarkeitsbegründenden Vorschriften können die Ausnahmen von dieser Bestrafung (wenngleich nur in konkreten Fälle) analogiefähig sein, da die Ausdehnung dieser Ausnahmenormen den Täter begünstigt. Man geht somit von der Vermutung aus, dass die Gesetzgebung keinen numerus clausus der Straffreistellungsgründe errichten126 wollte und daher die Existenz von unvorhersehbaren Fällen127 für möglich hält, die für die Ausschließung der strafrechtlichen Verantwortung relevant sein können.128 Obwohl der Gesetzgeber mit der Zeit zahlreiche verschiedenartige Straffreistellungsgründe anerkannt hat, kann es aber gleichwohl möglich sein, dass über neue Sachverhalte zu entscheiden ist, die trotz ihrer fehlenden materiellen Strafwürdigkeit oder ihrer fehlenden Strafbedürftigkeit bestraft werden sollen – d.h. in denen der Sachverhalt unter die Regel fällt. Wie bereits erläutert, geht es dabei um eine außergewöhnliche (aber nicht seltene) Situation, und deshalb ist es verständlich, dass der Straffreistellungs- und der Strafmilderungsbereich so eng sind129, dass das Erscheinen neuer unvorhersehbarer Ausnahmen nicht für überraschend gehalten wird. Beispielsweise zeigte sich kurz nach dem Inkrafttreten des RStGB die Notwendigkeit, den rechtfertigenden Notstand und den Verbots125

Dazu detalliert unten S. 153 ff. Jescheck/Weigend, AT, S. 326; Freund, AT, § 3, Rn. 62; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 295; Schönke/Schröder-Cramer/Heine-Lenckner, Vor § 32 ff., Rn. 25; NK/ Paeffgen, Vor §§ 32 ff., Rn. 56; Perron, Rechtfertigung, S. 99; Runte, Die Veränderung, S. 28; Molina Fernández, in: González-Cuéllar García-FS, S. 381; Mestre Delgado, La eximente, S. 153 f.; Cuello Contreras, PG, S. 751, 752; Luzón Peña, in: Luzón Peña/Mir Puig (Hrsg.), Causas de Justificación y Atipicidad en Derecho penal, S. 34. 127 Wenn hier von „unvorhersehbaren Fällen“ die Rede ist, meint das nicht, dass der Gesetzgeber solche Fälle nicht reguliert hat, sondern einfach, dass er nicht die richtige Lösung für die regulierten Fälle gewählt hat. 128 Moreso, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 157 ff.; Ferreres Comella, El principio, S. 34 ff. 129 Roxin, AT, I, § 14, Rn. 69 f.; Achenbach, JR (1975), S. 494. 126

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

irrtum wegen der Armut an Straffreistellungsgründen im damaligen System übergesetzlich anzuerkennen. Auch beschränkt das geltende Strafgesetzbuch die Entschuldigung u. a. auf die Rettung des Lebens des Täters oder eines Angehörigen im Notstand (§ 35) oder auf die Überschreitung der Notwehr (§ 33), aber der Gesetzgeber hat übersehen, dass auch manche Lebensrettung von Nicht-Angehörigen oder manche Überschreitungen der Erforderlichkeitsgrenzen der anderen Rechtfertigungsgründe einer Ausnahmeregelung bedürfen. Aufgrund übergesetzlicher Kriterien erweist sich eine Ausnahme von der an sich tatbestandsmäßigen Bestrafung als notwendig. In der geschilderten Konstellation liegt also eine Ausnahmelücke. Bei diesen Lücken hat der Gesetzgeber weniger Fälle anerkannt, als er anerkennen sollte, und infolgedessen existiert für manche Fälle keine strafrechtliche Lösung, die axiologisch oder strafrechtlich befriedigend ist.130 Eine notwehrähnliche Lage kann uns als klares Beispiel dienen. Der Gesetzgeber unterscheidet die Straftaten gegen die persönliche Unversehrtheit, die mit einer erforderlichen Verteidigung gegenüber einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff einhergehen, von denjenigen, die regelmäßig eine Körperverletzung darstellen. Aufgrund dieses Unterschiedes stellt er für den ersten Fall den Rechtswidrigkeitsausschluss (§ 32 StGB), für den zweiten die Bestrafung (§ 223 StGB) fest. Da die Gesetzgebung notwehrähnliche Lagen nicht für die Rechtfertigung als ausreichend erklärt hat, soll der Richter für eine Körperverletzung eine Strafe verhängen, die in präventiver Notwehr gegenüber einem jahrelang gewalttätigen Familienvater erfolgt.131 Wenn man aber akzeptiert, dass hier der Gesetzgeber diese Konstellationen übersehen hat und eine Ausnahmelücke vorliegt, übt man auf diese Weise Kritik an den spärlichen gesetzgeberischen Unterscheidungen der straflosen und strafbaren Taten, nach denen nicht sämtliche für die Rechtfertigung relevanten Umstände gesetzlich anerkannt wurden.132 In diesem Sinne bedeutet das Vorliegen einer Ausnahmelücke einen Widerspruch zwischen den vom Gesetzgeber ausgewählten relevanten Eigenschaften und den auszuwählenden relevanten Eigenschaften, die nach dem Dafürhalten des Richters zu einer Rechtfertigung führen sollen; hier liegt ein Widerspruch zwischen – nach Alchourrón/Bulygins Terminologie – der These und der Hypothese der Relevanz. Die These der Relevanz ist die Proposition, die die Menge aller Eigenschaften angibt, die bezüglich eines normativen Systems relevant sind.133 Die Hypothese der Relevanz ist andererseits die Proposition, die die 130

Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 186. Zur Problematik des Anwendungsbereichs der Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe in der Konstellation von Haustyrann-Fällen, vgl. NK/Herzog, § 32, Rn. 30; MüKo-Erb, § 34, Rn. 169; Welke, ZRP (2004), S. 17 ff. 132 Daher kann man hier von keiner axiologischen Lücke sprechen, vgl. Alchourrón/ Bulygin, Normative Systeme, S. 168 ff. 133 Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 179. 131

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Menge aller Eigenschaften angibt, die bezüglich eines normativen Systems relevant sein sollten.134 Wenn der Gesetzgeber die relevanten Umstände für eine rechtfertigende Notwehr auswählt, hält er nur eine begrenzte Anzahl denkbarer rechtfertigender Konstellationen für relevant. Der deutsche Gesetzgeber vertritt gemäß § 32 StGB eine These der Relevanz, indem nur die Erforderlichkeit der Verteidigung, die Gegenwärtigkeit des Angriffs und die Rechtswidrigkeit des Angriffs als relevante Voraussetzungen einer Rechtfertigung konstatiert werden. Andere Eigenschaften wie z. B. das Geschlecht, die Rasse oder die besonderen Kenntnisse des Angreifenden oder des Verteidigenden, die über die Kenntnis vom Vorliegen der Notwehrlage hinausgehen, werden hinsichtlich der Rechtfertigung aufgrund Notwehr für irrelevant gehalten. Auch beim Vorliegen solcher irrelevanten Eigenschaften verändert dies nicht die deontische Kennzeichnung, nämlich das Verbot der Bestrafung einer erforderlichen Verteidigung gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff. Das Vorliegen dieser irrelevanten Eigenschaften verändert prima facie auch nicht die deontische Kennzeichnung eines Angriffs, der die nach § 32 StGB relevanten Eigenschaften nicht aufweist, nämlich das Gebot, diese tatbestandsmäßige Tat zu bestrafen. Doch trotz des Fehlens einer relevanten Eigenschaft könnte der Richter der Ansicht sein, dass der Gesetzgeber eine andere, aber bislang unbeachtete, Eigenschaft des zu entscheidenden Sachverhalts für relevant zu halten hat.135 So könnte etwa in Fällen, in denen sich Familienmitglieder jahrelang den Gewalttätigkeiten des Familienvaters ausgesetzt sehen, eine Rechtfertigung einer Tat auch dann sinnvoll sein, wenn der Angriff des Familientyrannen nicht gegenwärtig war.136 Nach der These der Relevanz kann eine Verteidigung mit einer nur milderen Köperverletzung nicht für rechtmäßig gehalten werden, weil die permanente latente Bedrohung durch den Familienvater keine relevante Eigenschaft ist und die Rechtfertigung mangels Gegenwärtigkeit des Angriffs versagt werden muss. Der Hypothese der Relevanz nach sollte aber die Bedrohung durch den Familientyrannen im Fall einer präventiven Verteidigung für die Rechtfertigung relevant sein. Hier liegt eine Ausnahmelücke vor, da ein Widerspruch zwischen der These der Relevanz und der Hypothese der Relevanz auftritt. cc) Schließlich ist die Frage nach dem von der Ausnahmelücke betroffenen Straffreistellungssystem in der Identifizierung einer Ausnahmelücke für die spätere Rechtsfortbildung von großer Bedeutung. Der Richter muss sich erstens fragen, ob der zu entscheidende Fall ein Problem von z. B. Rechtfertigung oder Schuldausschließung ist, und dann zweitens, wenn er diese Frage beantwortet hat, (mit den Mitteln der Auslegung) bestimmen, ob die gesetzlichen Vorschrif134 135 136

Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 180. Kritisch zu dieser Idee Pérez Bermejo, Coherencia, S. 245. NK/Herzog, § 32, Rn. 30.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

ten der Rechtfertigung oder der Schuldausschließung den Fall erfassen. Der Strafrechtsfortbildende muss also die in Frage stehende strafbefreiende Institution und deren Normen bestimmen. Wenn diese Fragen beantwortet wurden, darf der Richter feststellen, ob eine Ausnahmelücke vorliegt oder nicht. Das bedeutet also nicht, dass der Richter eine Bestandsaufnahme von sämtlichen gesetzlichen Straffreistellungsgründen machen soll, die die strafbefreiende Natur des zu entscheidenden Falles übersieht. Der Strafrechtsfortbildende soll daher nicht auf die Anwendbarkeit der Normen einer anderen strafrechtlichen Institution achten, wenn er schon die Natur des Problems bestimmt hat. Beispiel: Bei dem richterlich zu entscheidenden Fall steht die Rechtswidrigkeit in Frage, aber er fällt unter keinen gesetzlichen Rechtfertigungsgrund. Statt der Schaffung eines übergesetzlichen Rechtfertigungsgrundes durch den Richter prüft dieser zunächst die Anwendbarkeit eines anderen ähnlichen Straffreistellungsgrundes (z. B. Entschuldigungsgrund).137 Diese Lösung kann pragmatisch geeignet sein, aber sie ist dogmatisch nicht zutreffend und sollte daher abgelehnt werden. Trotzdem hat sich das RG in dem berühmten Schwangerschaftsabbruch-Fall vom 11. März 1927 für diese zweite Lösungsmöglichkeit entschieden. Das RG „schuf“ den übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand nach der Bestätigung, dass § 54 RStGB wegen des Nichtvorliegens des darin genannten Personenkreises nicht anwendbar ist und vermischte so in ungeeigneter Weise Rechtfertigungs- und Entschuldigungsfragen.138 b) Die Ausnahmelücken setzen eine gesetzgeberische Unaufmerksamkeit voraus – Zur Unterscheidung von Ausnahmelücken und bloßen Wertunstimmigkeiten Hier muss allerdings beachtet werden, dass nicht sämtliche Lösungen, die als axiologisch unangemessen betrachtet werden können, auch eine Ausnahmelücke darstellen, weshalb nicht alle axiologischen Probleme des Strafrechtssystems mit der Analogie in bonam partem gelöst werden können. Der Richter darf also das Strafrecht nicht stets mittels der Analogie in bonam partem korrigieren, wenn der Gesetzgeber den vom Auslegenden herausgearbeiteten Unterschied (die Hypothese der Relevanz) im StGB nicht aufgreift. Der Widerspruch zwischen der These der Relevanz und der Hypothese der Relevanz, der bei der axiologischen Lücke auftritt, setzt eine Unaufmerksamkeit oder Unachtsamkeit des Gesetzgebers voraus139; das heißt, dass der Gesetzgeber 137 Vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 329 lehnt z. B. die Fortbildung einer Ausnahmelücke im gesetzlichen Rechtfertigungssystem durch die analoge Ausdehnung eines Entschuldigungsgrundes ab. 138 RGSt. 61, S. 252 ff. 139 Ähnlich Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 293.

C. Voraussetzungen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

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die betreffende Eigenschaft nicht vorgesehen hat und sie deswegen auch nicht ausschließen wollte. Die Existenz von Straftaten und diejenige anderer Taten, in denen die Strafe ausgeschlossen ist, setzt eine erste Entscheidung der Gesetzgebung über die Strafwürdigkeit und die Strafbedürftigkeit des „Universums von strafrechtsrelevanten Fällen“ voraus. Allerdings ist diese erste Entscheidung nicht immer zutreffend, denn der Gesetzgeber kann möglicherweise einem Fehler dergestalt unterlegen haben, dass manche Fälle, die er unachtsam als vom Tatbestand erfasst wissen wollte, in besonderen Konstellationen materiell keiner Strafe bedürfen oder eine solche nicht verdienen. So kann es z. B. der Fall sein, dass der Gesetzgeber die Tötung von zwei Person zur Abwendung einer Gefahr für das Leben von zwanzig nicht angehörigen Personen für strafbedürftig hält, aber ein Richter im konkreten Fall zu dem Schluss kommt, dass eine Lebensrettung von Dritten, für die weniger Leben geopfert werden, entschuldigungsfähig ist.140 Wenn ein Rechtsanwender zeigt, dass der Gesetzgeber manche Besonderheiten bei der Verallgemeinerung der Bestrafung übersehen hat, kann man deshalb sagen, dass sich der Gesetzgeber in Unaufmerksamkeit oder Unachtsamkeit verstrickt hat. Es gibt aber noch andere Konstellationen, in denen trotz des Widerspruches hinsichtlich der relevanten Eigenschaften zwischen einer These der Relevanz und einer Hypothese der Relevanz keine Ausnahmelücke vorliegt. Solche Fälle können als Wertunstimmigkeiten wegen der Zurückweisung der ausschließenden These der Relevanz bezeichnet werden141. Solche Phänomene bestehen – ähnlich den Ausnahmelücken – aus einem Widerspruch über die relevanten Eigenschaften zwischen einer These der Relevanz und einer Hypothese der Relevanz. Allerdings hat der Gesetzgeber bei der Wertunstimmigkeit wegen der Zurückweisung der ausschließenden These der Relevanz mit der Möglichkeit anderer Eigenschaften gerechnet und sich dennoch ausdrücklich nur für die Aufnahme einzelner Eigenschaften entschieden. Mit anderen Worten: Der Gesetzgeber hat die Anwendung der Norm auch für andere Fälle abgelehnt, die die nach der These der 140

Über diese gesetzgeberische Entscheidung Momsen, Die Zumutbarkeit, S. 472 ff.,

476. 141 I. A. würde diese ausnahmelückenähnliche Lage als bloße Wertunstimmigkeiten kennzeichnen, bei denen zwischen den Wertunstimmigkeiten über die Rechtslösung und den Wertunstimmigkeiten wegen der Zurückweisung der ausschließenden These der Relevanz zu differenzieren ist. Bei den Wertunstimmigkeiten bezüglich der Rechtslösung gibt es, anders als bei den Ausnahmelücken, keinen Widerspruch über die relevanten Eigenschaften zwischen einer These der Relevanz und einer Hypothese der Relevanz, sondern die Unstimmigkeit liegt nur darin, dass der Richter mit der für den generischen Fall vom Gesetzgeber ausgewählten Rechtslösung nicht einverstanden ist. Beispiel: Der Auslegende ist mit den relevanten Eigenschaften, die der Gesetzgeber in § 193 StGB festgestellt hat, zwar einverstanden, aber er nimmt die Straffreistellung nicht an. Der Richter zieht die Richtigkeit der ausgewählten Rechtslösung in Zweifel. Da hier keine axiologische Lücke vorliegt, fehlt eine Hauptvoraussetzung der Analogie in bonam partem.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

Relevanz relevanten Eigenschaften nicht aufweisen. Damit gibt es bei Wertunstimmigkeiten wegen der Zurückweisung der ausschließenden These der Relevanz keine Unaufmerksamkeit oder Unachtsamkeit des Gesetzgebers, weshalb sie keine Ausnahmelücken darstellen142, die einen Rückgriff auf die Analogie zugunsten des Täters ermöglichen würden.143 Anders als bei den Ausnahmelücken versucht der Richter bei den Wertunstimmigkeiten wegen der Zurückweisung der ausschließenden These der Relevanz keinen Defekt zu korrigieren, sondern er arbeitet als ein „Politikaktivist“144, der sich gegen die Gesetzgebung auflehnt.145 Es handelt sich um eine Strafrechtsfortbildung contra legem146. In diesem Kontext spricht man von einer ausschließenden These der Relevanz insofern, als die Ausnahmefälle und die Eigenschaften von Strafbefreiungsgründen bei vollem Bewusstsein anderer Fälle ausgewählt wurden und sich der Gesetzgeber trotzdem dafür entschieden hat, die betreffenden Konstellationen von einer Ausnahmeregelung auszuschließen147. Es ist freilich keine einfache Aufgabe, die Konstellationen, in denen eine gesetzgeberische Unaufmerksamkeit vorliegt, von denjenigen zu unterscheiden, in denen der Gesetzgeber die Ausnahme ablehnen wollte. M. E. existieren verschiedene Kriterien, die für die Gestaltung einer strafrechtlichen Hypothese der Relevanz zur Verfügung stehen und sowohl eine gesetzliche wie auch eine übergesetzliche Natur besitzen. Diese Kriterien sind argumentative Mittel, die dem Richter oder anderen Rechtsanwendern helfen, den echten ausschließenden Gesetzessinn oder bloße Unachtsamkeiten des Gesetzgebers festzustellen. Selten enthält das Gesetz eine ausdrückliche Entscheidung gegen die Anerkennung einer Ausnahmelücke wie z. B. Art. 5 italienisches StGB, der anordnet, dass der Rechtsirrtum bezüglich der Straflosigkeit irrelevant ist148. Der Auslegende darf auch auf die 142

Krey, JZ (1978), S. 362. Vgl. Otto, Grundkurs, § 2, Rn. 59, die durch Analogie in bonam partem auszufüllenden Lücken setzen voraus, dass der Gesetzgeber keine ausschließende Regelung festgestellt hat. 144 Krey, JZ (1978), S. 364, spricht von einer „Auflehnung des Richters gegen (. . .) gesetzliche Regelungen“. 145 Diese seien Fälle von „Rechtsprechung contra legem“, Noll, Übergesetzliche, S. 9 f. 146 Krey, JZ (1978), S. 362; Zitelmann, in: Savigny et al., La ciencia del Derecho, S. 303, 304. 147 Die Unterscheidung zwischen Ausnahmelücke und Wertunstimmigkeiten wegen der Zurückweisung der ausschließenden These der Relevanz setzt die Unterscheidung zwischen planwidriger und planmäßiger Unvollständigkeit voraus. Dazu vgl. Krey, JZ (1978), S. 364 ff. 148 Das geltende italienische Strafgesetzbuch (seit 1933) schließt den Rechtsirrtum (Art. 5) aus und akzeptiert nur die Straflosigkeit beim Irrtum über die Tatumstände (Art. 47 Abs. 1) und den außerstrafrechtlichen Rechtsirrtum (Art. 47 Abs. 3). Erst 1988 hat Corte Costituzional festgestellt, dass Art. 5 gegen das Schuldprinzip verstößt und verfassungswidrig sei, und hat endlich die Straflosigkeit des unvermeidbaren Rechtsirr143

C. Voraussetzungen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

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parlamentarischen Debatten bei der Reform oder auf Gesetzgebungsmaterialien zurückgreifen149. Die systematische Auslegung der Tatbestände und der konkreten Straffreistellungsgründe kann auch als ein wichtiges Hilfsmittel dienen. So kann der dezidierte Ausnahmecharakter bestimmter straffreistellender Institutionen dazu führen, von der Vermutung iuris tantum auszugehen, so dass keine Ausnahmelücke bei dieser Institution anerkannt werden kann150. Aber Auslegender und Richter sollten häufiger mit übergesetzlichen Parametern arbeiten, insbesondere mit den Strafrechtszwecken. Auf die Zwecke des Strafrechts zurückgreifend kann das Gesetzlichkeitsprinzip teleologisch ausgelegt werden, weswegen die Zulässigkeit von Ausnahmelücken und der Analogie in bonam partem davon abhängt, ob die präventiven und freiheitsschützenden Strafrechtszwecke mit der jeweiligen Methode in Einklang stehen151, 152. 2. Strafausschließende Generalregelungen und Anerkennung von Ausnahmelücken In seltenen Fällen kann es vorkommen, dass die Berufung auf die Analogie zugunsten des Täters unmöglich ist, aber nicht, weil etwa ein konkretes System von Straffreistellungsgründen nicht rechtsfortbildungsfähig ist – d.h. weil der Richter keine Legitimation für die Schöpfung von Rechtfertigungs-, Entschuldigungsgründen, etc. hat oder weil eine Unaufmerksamkeit des Gesetzgebers nicht vorliegt –, sondern weil keine Ausnahmelücke (i. S. einer planwidrigen Unvollständigkeit) vorliegt. Dieses Hindernis auf dem Weg zur Analogie in bonam partem zeigt sich insbesondere in denjenigen normativen Systemen, in denen viele Straffreistellungsgründe festgestellt wurden oder in denen die Wortlautgrenze der tums benannt. Trotzdem ist noch heute der Anwendungsbereich des Rechtsirrtums in der Literatur und in der Rechtsprechung gering, vgl. Crespi/Stella/Zuccalà-Pulitanò, Art. 5, Rn. III 8. Über die historische Entwicklung des Rechtsirrtums in Italien, vgl. Felip i Saborit, Error iuris, S. 56 ff.; Fiandaca, in: ders. (Hrsg.), Sistema penale in transizione e ruolo del diritto giurisprudenziale, S. 7 ff.; Crespi/Stella/Zuccalà-Pulitanò, Art. 47, Rn. V 1 ff.; Crespi/Stella/Zuccalà-Pulitanò, Art. 5, Rn. III 8 ff.; Antolisei, PG, S. 405 ff.; Belfiore, in: Fiandaca (Hrsg.), Sistema penale in transizione e ruolo del diritto giurisprudenziale, S. 55 ff. Über die übergesetzliche Anerkennung des Verbotsirrtums in Italien, vgl. Montiel, Analogía, S. 451 ff. 149 Etwa könnte man auf die parlamentarischen Debatten oder die Gesetzentwürfe zurückgreifen, um die Analogiefähigkeit der Entschuldigungsgründe zu erkennen. Vgl. zu den parlamentarischen Debatten und Gesetzentwürfen über die übergesetzlichen Entschuldigungsgründe, Moos, ZStW (2004) 116, S. 894; Melendo Pardos, El concepto, S. 260 ff. 150 Siehe S. 148 ff. 151 Stattdessen hätten hierin die rationes legis, die institutionellen Prinzipien und die Verfassungsprinzipien eine wichtige Rolle spielen sollen, vgl. Suppert, Studien, S. 75; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 329 ff.; Achenbach, JR (1975), S. 495; Lücke, JR (1975) 2, S. 56, 57; Wittig, JZ (1969), S. 548 f. 152 Siehe unten S. 120 ff.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

geregelten Fälle so weitreichend ist, dass bereits fast sämtliche für die Strafbarkeitsausnahme relevanten Fälle unter die gesetzlichen Vorschriften fallen. Daher sind hier zwei wichtige Maximen aufzuzeigen: • Wenn viele gesetzliche Strafrechtsquellen anwendbar sind, sind die Chancen, Ausnahmelücken anzuerkennen153, geringer. • Je unbestimmter die anwendbaren gesetzlichen Strafrechtsquellen sind, desto geringer sind die Chancen, Ausnahmelücken anzuerkennen154. Eine der wichtigsten Folgen der Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips bei den Strafbefreiungsgründen ist, dass Generalklauseln zulässig sind und daher der Anwendungsbereich breiter wird.155 Im Prinzip steht hier das Bestimmtheitsgebot außer Frage156, weil ein unbestimmter Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs-, Strafausschließungs- oder Strafmilderungsgrund die Bürgerfreiheit verstärkt und daher solche Regelungen einen „überumfassenden“ Anspruch haben157. Diese „gesetzlichkeitsfreundliche“ Folge betrifft freilich die Anerkennung von Ausnahmelücken insofern, dass solche Generalregelungen so viele generische Fälle umfassen, dass die von Ausnahmelücken betroffenen Fälle drastisch abnehmen. Dieses Problem zeigt, dass die Fortbildung der Straffreistellungsgründe trotz der Zulässigkeit der Analogie in bonam partem ausgeschlossen sein kann, da eine erforderliche Voraussetzung fehlt.158 Die geltende Regelung der Schuldunfähigkeitsgründe sowie eine Mindermeinung, die den Notstand als einen allgemeinen und allumfassenden Rechtfertigungsgrund versteht, sind anschauliche Beispiele, um dieses Problem zu verdeutlichen. Weil die gesetzlichen Regelungen der Schuldunfähigkeit Krankheiten oder seelische Störungen anerkennen, deren Bestimmung grundsätzlich den Neurowissen153 Das Rechtfertigungssystem des RStGB dient als gutes Beispiel, weil es nur zwei Rechtfertigungsgründe enthält und daher die Rechtsprechung den übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand schaffen sollte. 154 Mit Mutatis mutandi hat Welzel mit Recht vor der Ausbreitung des Anwendungsbereichs einer unbestimmten Vorschrift gewarnt, „Die eigentliche Gefahr droht dem Grundsatz nulla poena sine lege nicht von der Analogie, sondern von unbestimmten Strafgesetzen“, Welzel, Strafrecht, S. 23. 155 Zu einer radikalen These, nach der das Bestimmtheitsgebot in der Rechtfertigung nicht gelte, vgl. Ferrajoli, Derecho y razón, S. 158 ff. 156 Das Gesetzlichkeitsprinzip gelte entweder nur bei der Strafbegründung oder Strafverschärfung (vgl. u. a. Gimbernat Ordeig, Concepto y método, S. 47; Runte, Die Veränderung, S. 29; Ferrajoli, Derecho y razón, S. 158 f.) oder es werde flexibler, vgl. u. a. NK/Paeffgen, Vor §§ 32 ff., Rn. 61; Erb, ZStW (1996) 108, S. 287 ff.; MüKo-Schmitz, § 1, Rn. 49; Kratzsch, GA (1971), S. 81 ff.; Moreso, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 145 f.; Ferreres Comella, El principio, S. 34 f. 157 Moreso, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 154 f. 158 Das ist m. E. die Rechtslage im kolumbianischen Strafrecht, vgl. Montiel, Derecho penal contemporáneo (2010) 33, S. 68 ff.

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schaften und der Psychiatrie anhängig sind,159 soll der Gesetzgeber einer besonderen Gesetzestechnik folgen und hier auf die Generalklauseln zurückgreifen.160 Normalerweise sind diese Generalklauseln ausreichend unbestimmt oder vage, sodass sämtliche relevanten Krankheiten oder Störungen darunter subsumiert werden können, die nach Ansicht der Experten der genannten Wissenschaften die Fähigkeit ausschließen, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.161 Im Unterschied zu § 20 StGB enthielt § 51 RStGB keine Generalklausel, die „schwere andere seelische Abartigkeit“ umfasste. Deshalb war der Anwendungsbereich des § 51 RStGB im Vergleich zu dem des § 20 StGB enger. Infolgedessen hielten es einige Autoren aufgrund der vorhandenen Regelungslücke für möglich, neue Schuldunfähigkeitsgründe durch die analoge Anwendung des § 51 RStGB zu begründen.162, 163 So hielten sie eine analoge Anwendung bei der durch physische Mängel (anders als die Taubstummheit) und durch äußere (soziale) Verhältnisse gehemmten Entwicklung164 für möglich. Doch die Einführung einer Generalklausel in das StGB, die „schwere andere seelische Abartigkeit“ reguliert, dehnt den Anwendungsbereich des Paragraphen in beachtlicher Weise aus,165 und demzufolge reduzieren sich auch drastisch die Möglichkeiten, Ausnahmelücken anzuerkennen. § 20 StGB benennt die krankhafte seelische Störung, die tiefgreifende Bewusstseinsstörung und den Schwachsinn als Schuldunfähigkeitsgründe, aber enthält auch eine Generalklausel, unter die Neurosen, Psychopathien und Triebanomalien fallen166. So fallen unter § 20 StGB die Fälle, die bei der Geltung RStGB über die Schuldunfähigkeitsregelung 159 Fiandaca, in: ders. (Hrsg.), Sistema penale in transizione e ruolo del diritto giurisprudenziale, S. 10. 160 Vgl. MüKo-Streng, § 20, Rn. 18, die Wortlautgrenze des § 20 StGB werde deskriptiv weit gezogen, denn der Gesetzgeber beschreibt einzig die Störungen und die Stärkengrade, die die Psychiatrie registriert. 161 Dagegen verlangt eine hohe Bestimmtheit bei den Schuldunfähigkeitsgründen Manna, in: Fiandaca (Hrsg.), Sistema penale in transizione e ruolo del diritto giurisprudenziale, S. 77 ff. 162 Mayer, H., AT, S. 236 f.; Binding, Die Normen, II, S. 214 f. Auch über die Analogiefähigkeit § 58 RStGB, Frank, Das Strafgesetzbuch, § 58. 163 Dagegen Mangakis, ZStW (1963) 75, S. 148. § 51 hätte keine für die Schuldunfähigkeit relevanten Umstände übersehen. M. E. verteidigte diese Meinung auch Berner, Lehrbuch, § 47; Wachenfeld, Lehrbuch, § 40. 164 Allfeld, AT, § 30, S. 157 f. Die durch äußere (soziale) Verhältnisse gehemmte Entwicklung gehört zu seltenen Fällen, welche einsames Aufwachsen oder Angehörigkeit zu einem wilden Volksstamm beinhalten. 165 Vgl. Roxin, AT, I, § 20, Rn. 1, S. 886; Jescheck/Weigend, AT, S. 438 ff.; Schmidhäuser, Lehrbuch, § 20, S. 380; Wessels/Beulke, AT, § 10, Rn. 410; Baumann/Weber/ Mitsch, AT, § 19, Rn. 19, S. 454; Schmidhäuser, Lehrbuch, § 10, Rn. 22, S. 382–383; NK/Schild, § 20, Rn. 67; MüKo-Streng, § 20, Rn. 31 ff. 166 Jakobs, AT, Abs. 18, Rn. 20 ff.; Roxin, AT, I, § 20, Rn. 25; Jescheck/Weigend, AT, S. 440 f.; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 19, Rn. 19; Schmidhäuser, Lehrbuch, § 10, Rn. 22; NK/Schild, § 20, Rn. 102; MüKo-Streng, § 20, Rn. 41.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

hinausgegangen waren, weswegen solche Fälle nicht mehr von Ausnahmelücken betroffen sind. Die Aufnahme dieser Generalklausel in den Text hebt hervor, dass der Gesetzgeber die Veränderlichkeit des Regelungsstoffs vorhergesehen und demzufolge eine weite Formel ausgesucht hat, um alle relevanten Schuldunfähigkeitsfälle zu erfassen167. Die Analogie in bonam partem spielt m. E. hier keine Rolle. Der Grund dafür hat nichts mit dem Analogieverbot zu tun, sondern es fehlt eine Voraussetzung der Analogie in bonam partem, da in diesen Fällen keine Ausnahmelücke existiert, die der Richter mittels der Analogie schließen sollte. Der Anwendungsbereich des § 20 StGB reicht so weit, dass kein strafrechtlich relevanter Fall von Schuldunfähigkeit außerhalb dieser Norm liegt. Bei der Interpretation der Klausel „schwere andere seelische Abartigkeit“ stehen wir vor einer (vage gesagt) „primären Lücke“ 168, bei der der Gesetzgeber die Anwendungsvoraussetzungen der Schuldunfähigkeitsgründe absichtlich offen lässt. Diese Problematik der Ausschließung der Analogie zugunsten des Täters wegen des Fehlens von Lücken bei Generalklauseln wird von der Lehre auch bei anderen Straffreistellungsgründen behandelt. Eine Mindermeinung169 nimmt an, das Rechtfertigungssystem enthalte eine allgemeine Vorschrift, die sämtliche für die Rechtfertigung relevanten generischen Fälle umfasse.170 Konkret sei der Notstand ein allgemeiner Rechtfertigungsgrund, unter den der ganze Rechtfertigungsstoff falle und durch den das Rechtfertigungssystem vollständig geschlossen werde.171 Molina Fernández meint, dass das Rechtfertigungssystem aus verschiedenartigen Regelungen besteht. Seiner Ansicht nach gibt es einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund und andere Rechtfertigungsgründe, die jeweils eine Konkretisierung des allgemeinen Rechtfertigungsgrunds darstellen. Der allgemeine Rechtfertigungsgrund des Systems sei der Notstand, und dieser sei mit dem Grundsatz des überwiegenden Interesses identisch.172 Die anderen Rechtfertigungsgründe (die Notwehr, die Wahrnehmung berechtigter Interessen, die rechtfertigende Einwilligung, usw.) seien bloß eine spezifische Regelung dieses Grundsatzes, näm-

167 Vgl. NK/Schild, § 20, Rn. 27 ff., der Anwendungsbereich des § 20 StGB reiche so weit, dass die Grenzen zwischen §§ 20, 17 und 21 StGB unklar werden. 168 Vgl. Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, Rn. 860; Larenz, Metodología, S. 372; Röhl/ Röhl, Allgemeine, § 80, S. 634; Engisch, Einführung, S. 186 f. 169 Seelmann, Das Verhältnis, S. 34; Molina Fernández, RDPC (2000) 1, S. 227, 228; ders., in: González-Cuéllar García-FS, S. 377. 170 Dagegen Cuello Contreras, PG, S. 751. 171 Dagegen Mestre Delgado, La eximente, S. 153 ff., sei die rechtmäßige Rechtsausübung (Art. 20 7 ë spanisches StGB) diese allgemeine Vorschrift. 172 Molina Fernández, in: González-Cuéllar García-FS, S. 382.

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lich eine spezifische Regelung des Notstandes.173 Bei jedem spezifischen Rechtfertigungsgrund gäbe es auch immer eine Interessenabwägung, und eine Tat sei nur zu rechtfertigen, wenn durch sie ein überwiegendes Interesse erhalten wird. Nach dieser Mindermeinung läge sämtlichen Rechtfertigungsgründen der Grundsatz des überwiegenden Interesses zugrunde. Nach dieser Systematik der Rechtfertigungsgründe würden die von den spezifischen Rechtfertigungsgründen nicht geregelten Fälle in den Anwendungsbereich des allgemeinen Rechtfertigungsgrunds fallen174; mit anderen Worten: von der Notwehr, der rechtfertigenden Einwilligung usw. nicht geregelte Fälle würden in den Anwendungsbereich des Notstandes fallen.175 Der Gesetzgeber hätte alle relevanten Fälle möglicher Rechtfertigungen normiert, und es gäbe kein Bedürfnis nach einer richterlichen Fortbildung des gesetzlichen Rechtfertigungssystems. Der Richter sei im Rahmen der Rechtfertigung zwar legitimiert, auf die Analogie in bonam partem zurückzugreifen, diese Frage habe aber keine praktische Bedeutung, weil das System den Notstand enthält176. Auch wenn in Übereinstimmung mit Molina Fernández eingesehen werden kann, dass das institutionelle Prinzip der Rechtfertigung dem Grundsatz des überwiegenden Interesses folgt und daher sämtlichen gesetzlichen Rechtfertigungsgründen dieses Prinzip zugrunde liegt, muss die Identität der Notstandsregel und des Prinzips der Rechtfertigung wohl für umstritten erachtet werden. Die Notwehr, die rechtfertigende Einwilligung, die Wahrnehmung berechtigter Interessen sowie der Notstand nehmen das Prinzip des überwiegenden Interesses auf und akzeptieren die Wahrnehmung dieses überwiegenden Interesses als Grundgedanken für die Rechtmäßigkeit einer an sich tatbestandsmäßigen Tat. Daher ist der Notstand auch eine Konkretisierung dieses Grundsatzes, deshalb gibt es zwischen diesen beiden Komponenten ein Genus-Spezies-Verhältnis und daher ist das Prinzip allgemeiner als die Notstandsvorschrift selbst. Molina Fernández sieht das anders, denn er argumentiert, dass sich der Inhalt des Grundsatzes des überwiegenden Interesses nicht auf einen bloßen Vergleich zwischen den jeweils betroffenen Interessen beschränkt, sondern auch Komponenten wie die Menschenwürde und andere Eigenschaften der spanischen Notstandsregelung, wie die fehlende Verursachung der Notlage und das Fehlen einer Solidaritätspflicht177, enthalte. Obwohl das Prinzip des überwiegenden Interesses m. E. kein „leeres Gehäuse“ ist, das einen bloßen abstrakten Vergleich mit den 173 Molina Fernández, RDPC (2000) 1, S. 229–232; ders., in: González-Cuéllar García-FS, S. 384 f. 174 Molina Fernández, RDPC (2000) 1, S. 222; ders., in: González-Cuéllar GarcíaFS, S. 385 f. Ähnlich Freund, AT, § 3, Rn. 74; Seelmann, Das Verhältnis, S. 32. 175 Molina Fernández, RDPC (2000) 1, S. 219, 223; ders., in: González-Cuéllar García-FS, S. 377 f. 176 Molina Fernández, RDPC (2000) 1, S. 223, Fn. 49. 177 Molina Fernández, RDPC (2000) 1, S. 238 ff.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

gesetzlich anerkannten Rechtsinteressen beinhaltet, bedeutet dies aber nicht, dass man seinen Inhalt mit irgendwelchen Elementen füllen kann. Eher enthält das Prinzip sowohl diesen abstrakten Vergleich als auch einen konkreten, mit dem den konkreten Rettungs- und Verletzungschancen Rechnung getragen wird; aber es ginge letztlich zu weit, würde man noch weitere Inhalte einschließen. Der Unterschied zwischen dem Notstand und dem Grundsatz des überwiegenden Interesses entspricht dem Unterschied zwischen konkreten gesetzlichen Vorschriften zu Strafbefreiungsgründen und institutionellen Prinzipien: Um Ausnahmelücken anzuerkennen, muss man beweisen, ob und inwieweit der richterlich zu entscheidende Fall unter einen der generischen Fälle des Notstandes oder der Notwehr fällt; das Prinzip des überwiegenden Interesses tritt nur ein, wenn kein Rechtfertigungsgrund anwendbar ist und der Sachverhalt trotzdem den Unrechtsausschluss verdient. Der Grundsatz des überwiegenden Interesses ist einzig ein Kriterium (keine anwendbare Regelung des originären Systems), um die materielle Rechtmäßigkeit solcher Fälle zu bestimmen, die von einer Ausnahmelücke betroffen sind.

III. Fehlen eines Strafrechtsfortbildungsverbots Die Feststellung einer Ausnahmelücke genügt aber nicht, um auf die Analogie in bonam partem zurückgreifen zu dürfen. Zusätzlich muss auch geprüft werden, ob ein Strafrechtsfortbildungsverbot existiert oder nicht.178 Das Recht kennt viele Fälle, in denen die vom Richter entwickelte Lösung trotz des Vorliegens einer Lücke (aus einem verfassungsrechtlichen oder strafrechtlichen Aspekt heraus) schädlicher ist als die Erhaltung des gesetzlichen Defekts bis zu einer neuen Reform des Gesetzes. In diesen Fällen ist die Fortbildung der Lücke ausgeschlossen. Diese zweite Voraussetzung der Analogie zugunsten des Täters kann auf zwei verschiedene Arten auftreten: Entweder liegt eine konkrete gesetzgeberische Bevollmächtigung für den Richter vor, dass er die Lücke mittels einer analogischen Norm füllen kann, oder der Gesetzgeber hat das einfach nicht untersagt. Das Fehlen eines Strafrechtsfortbildungsverbots kann sozusagen durch „Begehung“ oder „Unterlassen“ stattfinden. Die zweite Option ist rechtsvergleichend betrachtet die üblichere, weil der Gesetzgeber dort tatsächlich nur ausnahmweise eine ausdrückliche Entscheidung für die Annahme dieser Analogie getroffen hat. Den Rechtsordnungen in Deutschland179, Argentinien180, Österreich181 und Schweiz182 178 Zu dieser zweiten Voraussetzung der Analogie in bonam partem aber bei den Rechtfertigungsgründen, s. auch Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 294. 179 Dazu nur Schönke/Schröder-Eser/Hecker, § 1, Rn. 25; Lenckner/Kühl, StGB, § 1, Rn. 5. 180 Art. 18 argentinische Verfassung: „Keine Strafe ohne gerichtliches Urteil. Kein Bewohner der Konföderation kann ohne ein vorhergehendes Urteil, welches durch ein vor dem Prozess in Kraft stehendes Gesetz begründet ist, bestraft werden, noch von

C. Voraussetzungen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

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u. a. liegt dieses Modell zugrunde. Die entsprechenden verfassungsrechtlichen und strafrechtlichen Vorschriften, die den Grundsatz nullum crimen nulla poena sine lege erfassen, beschränken sich auf ein Verbot einer analogischen Ausdehnung der Bestrafung. Neben solche Gesetzgebungen treten aber diejenigen, welche den Richter explizit legitimieren, Ausnahmelücken durch übergesetzliche Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- und andere Straffreistellungsgründe zu schließen und das Recht hierdurch fortzubilden. Art. 6 Abs. 3 kolumbianisches StGB liefert hierfür ein gutes Beispiel183; die Analogie darf danach einzig bei permissiven Regelungen genutzt werden.184 Um die Bedeutung der zweiten Voraussetzung der Analogie in bonam partem richtig zu verstehen, ist diejenige Konstellation zu beachten, in der das Analogieverbot zweifellos gilt: Die der Analogie in malam partem. Wenn üblicherweise vom Analogieverbot die Rede ist, beschäftigt man sich mit zwei verschiedenen Konstellationen: (1) solchen, in denen die Existenz einer gesetzgeberischen Unachtsamkeit in Frage steht185; (2) solchen, in denen der Gesetzgeber andere strafwürdig relevante Taten aus Unachtsamkeit in einem Tatbestand nicht vorgesehen hat und der Rechtsanwender trotzdem nicht legitimiert ist, diese Lücke zu füllen186. Bei (1) liegt keine Lücke – sondern nur eine Wertunstimmigkeit wegen der Special-Commissionen abgeurteilt, oder vor einen anderen Gerichtshof als den gestellt werden, welchen das vor dem Prozess gültige Gesetz bestimmt. Niemand darf gezwungen werden gegen sich selbst auszusagen, wie auch niemand verhaftet werden kann ohne schriftlichen Befehl der zuständigen Behörde . . .“. Dazu Creus, PG, § 64; Zaffaroni/Alagia/Slokar, AT, S. 118 f. 181 § 1 1. Abs. StGB: „Eine Strafe oder eine vorbeugende Maßnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die unter eine ausdrückliche gesetzliche Strafdrohung fällt und schon zur Zeit ihrer Begehung mit Strafe bedroht war“. Dazu Foregger/Fabrizy, StGB, § 1, Rn. 5 f. 182 Art. 1 StGB: „Eine Strafe oder Maßnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt“. Dazu Seelmann, AT, S. 28. 183 Art. 6 Abs. 3 Código penal: „La analogía sólo se aplicará en materias permisivas“ („Die Analogie darf nur im Erlaubnisbereich benutzt werden“). 184 Unklar bleibt noch die Bedeutung von „permissivem Rechtsstoff“ in der kolumbianischen Auffassung und Rechtsprechung, nämlich ob die Vorschrift nur Rechtfertigungsgründe oder auch die ganzen Strafbefreiungs- und Strafmilderungsgründe erfasse. Ähnliche Zweifel bestehen außerdem daran, ob die Analogie in bonam partem ohne oder mit Grenzen gilt. Zu diesen Fragen, vgl. Montiel, Derecho penal contemporáneo (2010) 33, S. 66 ff. 185 Beispiel: Die Straflosigkeit der Vertragsbrüche ist ohne Zweifel keine Unachtsamkeit des Gesetzgebers, sondern er hat diesen generischen Fall vorgesehen und er hat sich gegen ihre Strafbarkeit entschieden. Das Gleiche gilt für die fahrlässige Sachbeschädigung, die aber im Zivilrecht durchaus zu Schadensersatz führt. 186 Beispiele: Bei der fahrlässigen Schädigung des ungeborenen Kindes und der Gebrauchsanmaßung – wenn nicht Ausnahmevorschriften greifen oder die Zueignungsabsicht zu weit ausgelegt wird – kann m. E. von einer Unachtsamkeit der Gesetzgeber die Rede sein, weil es sich dabei um strafrechtlich relevante Fragen handelt und daher vermute ich, dass, wenn der Gesetzgeber diese Fälle vorgesehen hätte, er sie auch kriminalisiert hätte.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

Zurückweisung der ausschließenden These der Relevanz – vor, während bei (2) eine Strafbarkeitslücke besteht, deren rechtsfortbildende Schließung durch eine Analogie in malam partem verboten ist. Bei (2) liegt eine echte Strafbarkeitslücke (Art von Ausnahmlücke) vor, aber trotz Vorliegens dieser ersten Voraussetzung einer Strafrechtsfortbildung gilt ein Analogieverbot. Dass man in solchen Fällen nicht auf die Analogie zurückgreifen darf, ist aber dem Gesetzlichkeitsprinzip zu verdanken, das eine Fortbildung des Strafrechts in malam partem ausschließt; der Richter darf nämlich hier die Strafgesetzgebung nicht korrigieren. Dies kann auch bei der Analogie zugunsten des Täters passieren, denn hierbei ist die Befugnis zur richterlichen Schöpfung von Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründen als eine Ausnahme zu verstehen. Daher sollten Grenzziehungen anerkannt werden. Nach diesen Grenzen müssen einige Lücken, die eine konkrete strafausschließende Institution betreffen, ohne Rechtsfortbildung bestehen bleiben, weil ihre Schließung gesetzwidrig wäre187. In diesen Fällen darf der Richter kein übergesetzliches Recht schöpfen, und diese Strafrechtsfortbildung darf auch nur vom Gesetzgeber unternommen werden, weil es sich um eine straffreistellende Institution mit Ausnahmecharakter handelt und ausschließlich eine demokratische Entscheidung zu einer solchen Gesetzeskorrektur legitimiert ist. Ein begrenztes Verbot der Analogie zugunsten des Täters ist nur sinnvoll, wenn man von der verschiedenstufigen Ausnahmenatur der Straffreistellungsgründe ausgeht und deshalb das Verbot für diejenigen Fälle reserviert, welche den höchsten Ausnahmegrad besitzen. Bei diesen außergewöhnlichen und ihrer Anzahl nach geringen Fällen verletzt die übergesetzliche Korrektur die rechtsstaatlichen und strafrechtlichen Wurzeln des Gesetzlichkeitsprinzips und man sollte eine neue Reform des StGB abwarten188. Es gibt außergewöhnliche Konstellationen, in denen ein allgemeines Verbot der Analogie in bonam partem gesetzlich bestimmt ist. Art. 4 Abs. 3 spanisches StGB lautet: „Er [der Richter] wendet sich ebenfalls an die Regierung und legt den Grund für die Gesetzesaufhebung oder -änderung oder die Erteilung der Begnadigung dar (. . .), wenn ein solches Tun oder Unterlassen nach der strengen Gesetzesanwendung bestraft werden müsste, das nach der Meinung des Richters oder Gerichts nicht bestraft werden sollte oder wenn die Strafe angesichts des durch den Verstoß angerichteten Schadens und der persönlichen Umstände des Täters merklich zu hart ist“.189

187

Ausführlich S. 156 ff. Fn. 187. 189 Art. 4 Abs. 3 spanisches StGB: „Del mismo modo acudirá al Gobierno exponiendo lo conveniente sobre la derogación o modificación del precepto o la concesión de indulto, sin perjuicio de ejecutar desde luego la sentencia, cuando de la rigurosa aplicación de las disposiciones de la ley resulte penada una acción u omisión que, a juicio del Juez o Tribunal, no debiera serlo, o cuando la pena sea notablemente excesiva, atendidos el mal causado por la infracción y las circunstancias personales del reo“. 188

C. Voraussetzungen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

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Doch nach Ansicht der spanischen Lehre und Rechtsprechung soll aufgrund verfassungskonformer190 oder subjektiver191 Auslegung oder der Berufung auf Art. 21 Abs. 6 spanStGB192 die Analogie zugunsten des Täters noch immer eine Rolle spielen, was m. E. nach dem geltenden Recht fraglich ist.193 Im deutschen Strafrecht liegt die zweite Voraussetzung der Analogie zugunsten des Täters insoweit vor, als es kein Art. 4. Abs. 3 spanStGB ähnliches Verbot gibt und nur eine Analogie in malam partem verfassungsrechtlich und strafrechtlich ausgeschlossen ist. Trotzdem liegt die umstrittenste Frage darin, was diese Unterlassung einer Erlaubnis der Analogie in bonam partem bedeutet und insbesondere ob dieses Mittel der Fortbildung im Strafrecht ohne oder nur mit Grenzen möglich ist. Die Geschichte des Strafrechts zeigt, dass eine allgemeine Anerkennung des übergesetzlichen Rechts zugunsten des Täters durch die herrschende Lehre nicht angenommen werden kann.194 Da keine gesetzliche Vorschrift im deutschen Strafrecht existiert, die den Anwendungsbereich der Erlaubnis der Analogie zugunsten des Täters beschränkt, sollte man sich hier an den Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips orientieren und – sofern diese kriminalpolitische Garantie berufen ist – die richterlichen Kompetenzen gegebenenfalls begrenzen.

190 Bacigalupo, La rigurosa, in: ders., Principios constitucionales de derecho penal, S. 133 f. 191 Mir Puig, PG, Abs. 4, Rn. 43. 192 Cerezo Mir, PG, I, S. 173 f.; Otero González, La circunstancia, S. 30; Orts Berenguer, Atenuante, S. 17 f.; Rodríguez Devesa/Serrano Gómez, PG, S. 256; Cortés Bechiarelli, in: Cobo del Rosal (Hrsg.), Comentarios al Código penal, S. 100; Rodríguez Mourullo, in: Cobo del Rosal (Hrsg.), Comentarios al Código penal, S.159 f., 162; ders., in: ders. (Hrsg.), Comentarios al Código penal, S. 37; Romeo Malanda, RDPC (2005) 16, S. 196, 203–204; Goyena Huerta, Las atenuantes, in: Muñoz Cuesta (Hrsg.), Las Circunstancias Atenuantes en el Código Penal de 1995, S. 148; Cobo del Rosal/ Vives Antón, PG, S. 168; Faraldo Cabana, Las causas, S. 201; Jiménez de Asúa, Tratado, II, S. 525 ff.; Manjón-Cabeza Olmeda, La atenuante, S. 30 f.; Aguado Correa, El principio, S. 48. 193 Aufgrund des in Art. 4 Abs. 3 spanisches StGB ausdrücklich festgestellten Verbots der Analogie in bonam partem ist die Berufung auf die Verfassungswidrigkeit der einzige gangbare Weg, um sie anzunehmen. Dazu ausführlich Montiel, Analogía, S. 120 ff. 194 Jescheck/Weigend, AT, S. 504; Roxin, AT, I, § 22, Rn. 144; Momsen, Die Zumutbarkeit, S. 462 ff.; Wessels/Beulke, AT, § 10, Rn. 451; Kindhäuser, AT, § 21, Rn. 14; Kühl, AT, § 12, Rn. 12; Jakobs, AT, Abs. 20, Rn. 43, 45; Schmidt, E., ZStW (1929) 49, S. 374; Grünhut, ZStW (1931) 51, S. 456; Köhler, A., Der Notstand, S. 49 f.; Marx, Grundprinzipien, S. 3.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

D. Arten der Analogie in bonam partem I. Einführung in die Formen der analogischen Strafrechtsschöpfung zugunsten des Täters und strafrechtliche Grundsätze195 1. Wie oben erwähnt, ist die Analogie in bonam partem eines der wichtigsten richterlichen Werkzeuge, durch die das Strafrecht fortgebildet werden kann. Die Analogie besteht im Allgemeinen aus einem argumentativen Verfahren, in welchem der Richter Änhlichkeiten zwischen lückenlosen und mangelhaft geregelten Fällen sucht und, wenn diese Änhlichkeit gefunden wird, einen Straffreistellungsgrund schafft, der analog zu den gesetzlichen materiell ist. Bei diesem juristischen Denken geht es aber nicht um ein willkürliches Verfahren, in dem der Richter einfach seine persönliche Weltanschauung einfügt, sondern es ist ein von Rechtsnormen und Rechtsprinzipien geregeltes.196 Das heißt, dass die Strafbefreiungsregelungen und die strafrechtlichen Grundsätze in doppelter Hinsicht eine wichtige Rolle bei der Analogie zugunsten des Täters spielen: Erstens führen sie die analoge Fortbildung überhaupt herbei und zweitens binden sie die richterliche Rechtsschöpfung an die Rechtsordnung. Sowohl die Rechtsregeln als auch die Prinzipien sind äußerliche Parameter des analogischen argumentativen Verfahrens, die aber eine unterschiedliche Natur und Struktur in der Rechtsordnung und im juristischen Denken haben. Wenn von Rechtsregeln die Rede ist, werden konkrete gesetzliche Regelungen oder Vorschriften in Erwägung gezogen, welche etwa die Rechtswidrigkeit, die Schuld oder die Strafe ausschließen; das heißt, dass wir z. B. den rechtfertigenden und entschuldigenden Notstand (§ 34, 35 StGB), die Notwehr (§ 32 StGB), die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB), die Überschreitung der Notwehr (§ 33 StGB), etc. regeln. Solche Vorschriften regeln vor allem beide Phasen der Gesetzesanalogie in bonam partem. Was die Rechtsprinzipien betrifft, ist zu betonen, dass die rechtstheoretische Diskussion über die Natur und die Rolle solcher Prinzipien innerhalb des juristischen Denkens, die am Ende der sechziger Jahre insbesondere bei der angloamerikanischen Lehre anfing197, heutzutage von 195 Eine vollständige Untersuchung über u. a. die Natur, Typen, Struktur und Rolle der Prinzipien im Recht und Strafrecht geht über die Ziele und den Umfang dieses Buches hinaus. Über solche Themen ausführlich, Sánchez Ostiz, Fundamentos, S. 87 ff.; Montiel, Analogía, S. 208 ff. 196 Zur Unterscheidung von Analogie und Willkür, Hafter, SchwZStr (1947) 62, S. 139–140; Dworkin, Los derechos en serio, S. 85 f.; Carrió, Notas, S. 56 f.; Ortego Costales, Revista de la Facultad de Derecho (1941), S. 65 f. 197 Der Text von Dworkin, in: Summers (Hrsg.), Essays on Legal Philosophy, S. 44 ff., habe diese Diskussion begonnen, vgl. Atienza/Ruiz Manero, Las piezas, S. 1; Ruiz Manero, in: Garzón Valdés/Laporta (Hrsg.), El derecho y la justicia, S. 149. Das bedeutet aber nicht, dass die Rechtsgrundsätze vorher von der Lehre ganz ignoriert wurden. Im Gegenteil haben Autoren wie Larenz, Sauer und Esser sich mit diesem Thema beschäftigt. Vgl. Esser, Principio, S. 113 ff.; Sauer, Allgemeine, § 13, S. 53 ff., 60 ff.

D. Arten der Analogie in bonam partem

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großer Bedeutung für die Strafrechtsgesetzgebung und die richterliche Ausführung des Strafrechts198 ist. Es gibt Aufbauprinzipien199, die die Aktivität des Gesetzgebers rationalisieren, sowie Grundsätze, welche bei der Auslegung, Anwendung und Fortbildung des Strafrechts helfen. Konkret zeigt sich das Gewicht der strafrechtlichen Prinzipien insbesondere bei den zwei Stufen der Analogie in bonam partem, weil sie zur Bestimmung der juristischen Ähnlichkeit und zur Zeichnung der übergesetzlichen Norm insofern dienen, als sie ein Muster für die richterliche Rechtsschöpfung anbieten. Von den unzähligen Prinzipienarten200 seien hier vor allem die rationes legis, die Institutionsgrundsätze und die allgemeinen Strafrechts- und Rechtsgrundsätze zu nennen, die die Hauptstücke der Gesetzesanalogie, bzw. der Institutionsanalogie und Rechtsanalogie darstellen. Die strafrechtlichen Vorschriften und die strafrechtlichen Grundsätze spielen also eine wichtige Rolle im Rahmen der Analogie in bonam partem, aber die Funktion beider Elemente ändert sich bei jeder Analogieart. Da die Gesetzesanalogie (Analogie legis) zugunsten des Täters eine analogische Ausdehnung einer Regelung bedeutet, schafft der Fortbildende eine begünstigende Norm und greift dabei auf die gesetzliche Vorschrift selbst und ihr grundlegendes Prinzip zurück. Somit setzt z. B. die analoge Anwendung des § 35 StGB notstandsähnliche Situationen voraus, dass die konkrete Regelung des § 35 StGB dabei in Erwägung für eine Analogie gezogen wurde.201 Die Institutionsanalogie und die Rechtsanalogie in bonam partem hingegen entstehen einzig aufgrund von Prinzipien, die eine unterschiedliche Struktur haben, weswegen auch die Unterscheidung zwischen diesen beiden Analogiearten gerechtfertigt ist. Die Verwendung von Regeln (gesetzlichen Vorschriften) oder Prinzipien in der Gestaltung des analogischen Arguments zugunsten des Täters beschreibt sogar eine unterschiedliche Bindung des Richters an das Gesetz, denn durch die Analogie entfernt sich der Richter von der gesetzgeberischen Regelung in dem Maße, wie er auf den gesetzlichen Straffreistellungsgrund und dessen ratio legis oder auf ein allgemeines Rechtsprinzip zurückgreift. Das heißt, dass Prinzipien, die auf dem Notstand, der Notwehr (ratio legis) oder einer strafrechtlichen Institution (Institutionsprinzipien) basieren, weniger abstrakt sind als solche Grundsätze, die die ganze Rechtsordnung oder das ganze Strafrecht begründen. Infolgedessen bin-

198 Trotzdem kritisiert Sánchez Martínez, Los principios, S. 58 ff. zutreffend den geringen Stellenwert, den die Diskussion über die Rechtsgrundsätze in der strafrechtlichen Dogmatik hat, ohne die wichtigen Beiträge zum Thema von u. a. Alexy, Kelsen, Hart und Dworkin zu beachten. 199 Röhl/Röhl, Allgemeine, § 33, S. 284. 200 Dazu Montiel, Analogía, S. 208 ff.; in der rechtstheoretischen Diskussion vgl. u. a. Röhl/Röhl, Allgemeine, § 33, S. 283 ff.; Guastini, Distinguiendo, passim; Atienza/ Ruiz Manero, Las piezas, passim. 201 Posner, Cornell Law Review (2006) March, S. 764 ff.; Brewer, Harvard Law Review (1996), S. 1022 ff.; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, Rn. 895.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

den die erstgenannten Grundsätze die analogische Schöpfung von Recht durch den Richter viel strenger an das gesetzgeberische Strafrecht. Während die Gesetzesanalogie in bonam partem von den gesetzlichen Strafbefreiungsgründen und deren grundlegenden Prinzipien (rationes legis) geregelt wird und sich somit nicht nennenswert von der Gesetzgebung entfernt, bedeuten die anderen Analogieformen eine Trennung von dieser gesetzgeberischen Ordnung, die eine mehr oder weniger große Diskrepanz schafft, je nach dem, ob der benutzte Grundsatz mit einer konkreten strafrechtlichen Institution oder mit einem allgemeinen Grundlagenprinzip des Strafrechts oder des Rechts insgesamt in Verbindung steht. Dann ist, um den Ermessensspielraum der Richter bei der jeweiligen Analogie in bonam partem vollständig nachvollziehen zu können, erforderlich, die wichtigsten strafrechtlichen Grundsätze voneinander zu unterscheiden und ihre jeweilige Struktur und Funktion im richterlichen Denken klarzustellen. 2. In der rechtstheoretischen und strafrechtlichen Auseinandersetzung über die rationes legis wurde deren rechtliche Natur noch nicht ausreichend geklärt202. Wegen der Vieldeutigkeit des Ausdruckes „rationes legis“203 wurden sie als ein Regelungsprinzip, als eine „rationale Grundlage“ der Rechtsvorschriften204 oder als eine logische Forderung verstanden, die der Auslegende vom Recht abgeleitet hat205. Trotzdem sind die rationes legis m. E. echte Strafrechtsprinzipien206, deren wichtige Funktion in der Rechtswissenschaft darin besteht, die konkreten gesetzlichen Vorschriften zu begründen207 und deren Ziele darzustellen208. Wenn die Lehre z. B. häufig betont, dass die Verantwortung, die Rechtsbewehrung und der Individualschutz Grundsätze der Notwehr sind209, so wird hierdurch mit Nachdruck klargestellt, dass sie Grundgedanken der Notwehr sind, die auch deren Ziel ausdrücken und insoweit ihre rationes legis sind. Jeder Rechtfertigungs-, 202 Zu einer Analyse der Rolle der ratio legis bei den Strafgerichten, vgl. Albrecht, in: Juristische Fakultät der Universität Basel (Hrsg.), Die Bedeutung der „Ratio legis“, S. 69 ff. 203 Larenz, Methodenlehre, S. 336, 337. 204 Biaggini, in: Juristische Fakultät der Universität Basel (Hrsg.), Die Bedeutung der „Ratio legis“, S. 62, 63. 205 Larenz, Methodenlehre, S. 337; Falcón y Tella, El argumento, S. 62. 206 So vgl. Jiménez de Asúa, La ley, S. 90 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 337; Guastini, Distinguiendo, S. 151, 153; Salguero, Argumentación, S. 86, 171 ff. Ähnlich aber sei die ratio legis einfach ein Standard, vgl. Posner, Cornell Law Review (2006) March, S. 762 f. Die rationes legis seien hingegen kein Rechtsprinzip, Beladiez Rojo, Los principios, S. 138 f. 207 Röhl/Röhl, Allgemeine, § 78, S. 621 ff.; Jiménez de Asúa, La ley, S. 90. 208 Nach Noll, ZStW (1965) 77, S. 2, 3 bestimmen auch andere abstraktere Prinzipien (Schuldprinzip, Erfolgsprinzip, Garantieprinzip, Praktikabilitätsprinzip, Prinzip der Rechtssicherheit) die rationes legis der Tatbestände oder Straffreistellungsgründe. 209 Jescheck/Weigend, AT, S. 326; Roxin, AT, I, § 15, Rn. 1; Jakobs, AT, Abs. 11, Rn. 3.

D. Arten der Analogie in bonam partem

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Entschuldigungs-, Strafausschließungs- oder Strafmilderungsgrund verfolgt ein bestimmtes Ziel in der Strafrechtsordnung, welches seinerseits die Grundlage der Vorschrift darstellt.210 3. Das Vorliegen einer Reihe von individuellen und abgrenzbaren Vorschriften, die Straffreistellungsgründe und Strafmilderungsgründe anerkennen, besagt aber nicht, dass diese im StGB unsystematisch festgestellt wurden, ohne gemeinsamen Prinzipien zu folgen. Da etwa heutzutage über den Begriff der Rechtswidrigkeit und der Schuld weitgehend Einigkeit herrscht, ist lediglich noch über diejenigen Gründe zu diskutieren, welche konkret tatbestandsmäßige Taten rechtfertigen oder das dem Täter persönlich vorgeworfene Unrechtsurteil aufheben. Das bedeutet, dass der rechtfertigende Notstand, die Notwehr, die Wahrnehmung berechtigter Interessen, das Züchtigungsrecht, behördliche Genehmigung, die mutmaßliche Einwilligung usw. als „Rechtfertigungsgründe“ bezeichnet werden können, sofern alle diese Gründe sich von einer gemeinsamen Basis ableiten. Ebenfalls lassen sich die Gründe des Zurechnungsausschlusses, der Verbotsirrtum und die Entschuldigungsgründe – trotz der Unterschiede zwischen ihnen211 – auf eine gemeinsame Grundlage zurückführen. Im ersten Fall liegt den Vorschriften die Idee zugrunde, dass ein Rechtsgut nicht sozialschädlich verletzt wurde; im zweiten Fall spricht man über Konstellationen, in denen ein Unrechtsvorwurf nicht gemacht werden kann, weil die rechtswidrige Handlung dem Täter nicht persönlich vorwerfbar oder die Vornahme der gebotenen Handlung beim Unterlassungsdelikt ihm unzumutbar ist. Wenn also abgekürzt von der Rechtfertigung, Entschuldigung oder Strafmilderung die Rede ist, womit man die unterschiedlichen Straffreistellungsgründe umschreibt, bezieht man sich tatsächlich auf strafrechtliche Institutionen.212 Man kann nicht leugnen, dass der Begriff der „Rechtsinstitutionen“ nicht aureichend geklärt ist;213 gleichwohl soll er in diesem Buch mit der folgenden Bedeutung gebraucht werden: „A valid legal institution is an independent legal regime of singular and general conditions purporting to effectuate a practice that can be interpreted as resting on a common belief that the régime forms an unity in reality“ 214, 215.

210

Bottke, Strafrechtswissenschaftliche, S. 258. Dazu u. a. Kühl, AT, § 11, Rn. 1, § 12, Rn. 1; Schönke/Schröder-Cramer/Heine/ Lenckner, Vor §§ 32 ff., Rn. 108. Dagegen Roxin, AT, I, § 19, Rn. 57; MüKo-Schlehofer, Vor §§ 32 ff., Rn. 249. 212 Z. B. sei die „Strafunrechtsausschließung“ eine strafrechtliche Institution, vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 281. 213 Über die Verwendungen des Wortes „Rechtsinstitution“ vgl. Atria, Creación, in: Atria et al., Las lagunas en el Derecho, S. 51. 214 Ruiter, Legal Institutions, S. 96. 215 Anders Jakobs, Rechtszwang, S. 42, habe die Institution so einen verbreiteten Begriff, dass die Personen als eine normative „Institution“ behandelt werden können. 211

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

Die Schaffung einer Rechtsinstitution erfolgt häufig aufgrund eines beabsichtigten gesetzgeberischen Aktes, durch den ein bestimmtes für das Recht relevantes Phänomen explizit anerkannt wird, welches mittels eines „Gesetze-Sets“ behandelt wird, das schließlich die Rechtsinstitution gestaltet. Wichtige strafrechtliche Institutionen können aber auch „spontan“ entstehen – d.h. ihre Entstehung ist von einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers unabhängig –, so wie z. B. die Rechtfertigung und die Entschuldigung erst mit der theoretischen Entwicklung der Verbrechenslehre einen eigenen Status bekommen haben.216 Hier können etwa Lehrbücher vom Beginn des 20. Jahnhunderts als ein gutes Beispiel dienen, weil sie in ihrem Allgemeinen Teil ein einziges Kapitel den „Gründe[n] der Nichtentstehung des Strafrechts“ widmeten, das sich mit dem Notstand, der Notwehr, der Ausübung eines Spezialrechts und anderen Privilegien der Straflosigkeit von Delikten beschäftigte, ohne diese Straffreistellungsgründe voneinander abzugrenzen und sie auf Gemeinprinzipien zurückzuführen.217 Die Rechtsprechung des RG hat auch den Ausdruck „Strafausschließungsgründe“ benutzt, um die Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- und Strafaufhebungsgründe zu bezeichnen218. Außerdem lässt die Anerkennung dieser strafrechtlichen Institutionen uns eine Reihe von Prinzipien identifizieren, die sie begründen. Wenn von Gemeingedanken die Rede ist, die mit den gesamten Vorschriften oder Regelungen der Institution verbunden sind, besagt das, dass alle Vorschriften einem oder vielen Gemeinprinzipien entsprechen. Wenn ein Teil der Lehre sich mit dem Prinzip der überwiegenden Interessen und dem Prinzip der Unzumutbarkeit beschäftigt, soll damit Bezug auf die Grundlagen der Rechtfertigung oder der Entschuldigung, jedoch nicht auf die Grundlagen der konkreten gesetzlichen Gründe genommen werden.219 Somit ist es nicht nur möglich, sondern auch notwendig, begrifflich zwischen denjenigen Prinzipien zu unterscheiden, die die Straffreistellungsgründe begründen, und jenen, welche Grundlage einer strafrechtlichen Institution sind.220, 221

216 Zur spontanen Entwicklung der juristischen Institutionen, vgl. Díez-Picazo/Gullón, Sistema, S. 167. 217 Binding, Handbuch, S. 145 ff.; Finger, Lehrbuch, I, S. 383 ff.; Liepmann, Einleitung, S. 177 ff.; Merkel, A., Die Lehre, S. 177 ff.; v. Bar, Gesetz und Schuld, III, S. 4 ff. Die unterschiedlichen Behandlungen solcher Institutionen zeigen sich schon bei Köhler, A., AT, S. 284 ff. aber Schuldausschließungsgründe und Rechtfertigungsgründe seien Schuldausschließungsgründe im weiteren Sinne; Moser, Die allgemeinen Lehren, S. 111 ff., 153 ff.; Mayer, M., AT, 269 ff. unterscheidend zwischen Strafausschließungsgründen (Notwehr, Rechtspflege, Wahrung berechtigter Interessen, etc.) und Entschuldigungsgründen. 218 RGSt. 30, S. 25 ff. 219 Zu diesem Unterschied Köhler, M., AT, S. 237. 220 Diese Prinzipien aber bezüglich Rechtsinstitutionen anerkennend, Guastini, Distinguiendo, S. 153.

D. Arten der Analogie in bonam partem

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Ansonsten zeichnen die institutionellen Prinzipien sich m. E. durch ihre besondere Struktur aus, denn sie bestehen aus einem allgemeinen oder unbestimmten generischen Fall, der mit einer konkreten Rechtslösung korreliert. Mit anderen Worten haben solche Grundsätze die Normstruktur „generischer Fall korreliert mit einer Lösung“ 222. Das bedeutet, dass sämtliche Regelungen einer bestimmten strafrechtlichen Institution einem gleichen „Universum von Fällen“ entsprechen, obwohl diese Regelungen nicht alle die (vollständig) gleichen Eigenschaften besitzen. Trotz der Unterschiede z. B. zwischen den generischen Fällen, die vom Notstand (§ 34 StGB) und von der Notwehr (§ 32 StGB) geregelt werden, ist nicht zu übersehen, dass man in beiden Situationen über Fälle spricht, in denen eine tatbestandsmäßige Rechtsgutsverletzung vorliegt, welche freilich wegen der Verwirklichung eines für das Recht überwiegenden Interesses sozial unschädlich ist223. Somit führen die generischen Fälle der Rechtfertigungsgründe zu den abstrakt festgestellten generischen Fällen des institutionellen Rechtfertigungsprinzips. Außerdem bestehen solche Grundsätze in einer strafrechtlichen Lösung, die mit den abstrakten generischen Fällen in Verbindung steht. Exemplarisch: Wenn von Situationen einer Verwirklichung eines überwiegenden Interesses die Rede ist, steht fest, dass aufgrund des Unrechtsausschlusses keine Strafbarkeit vorliegt. Ähnlich ist es im Rahmen der strafrechtlichen Institution der Entschuldigung, wo diejenigen abstrakten Fälle behandelt werden, in denen das Recht nicht in der Lage ist, dem Täter eine andere Verhaltensweise abzuverlangen: Hier akzeptiert es die Strafrechtslehre zweifellos, dass hinsichtlich der Unrechtsverwirklichung ein Vorwurf ausgeschlossen ist. Die Hauptfolge, die man von der Struktur der institutionellen Prinzipien ableiten kann, ist, dass diese Grundsätze, obwohl sie abstrakt sind und sie in einem Gesetz nicht eindeutig festgestellt werden, einen externen Parameter für den Richter bedeuten, der dafür zuständig ist, die analoge Strafrechtsschöpfung zu regeln. Dies verhindert eine freie richterliche Schöpfung durch die Analogie in bonam partem, weil die Berufung auf ein institutionelles Prinzip den Richter an ein bestimmtes „Universum von Fällen“ und an eine konkrete strafrechtliche Lösung bindet. 4. Es gibt aber noch abstraktere Grundsätze, die keine konkrete Vorschrift oder keine strafrechtliche Institution begründen, sondern die Prinzipien darstellen, die die Grundgedanken des Strafrechts und (noch bedeutender) des allgemeinen Rechts darstellen.224 Solche Prinzipien können allgemeine Strafrechtsgrundsätze 221 Von institutionellen Prinzipien, aber mit anderer Bedeutung sprechend, die sich mit der Wirksamkeit des Rechts verbindet, Atienza/Ruiz Manero, Doxa (2001) 24, S. 129; Hage, Reasoning, S. 54. 222 Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 66. 223 Roxin, AT, I, § 14, Rn. 41. 224 Dazu Sauer, Allgemeine, § 13, S. 53.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

bzw. allgemeine Rechtsgrundsätze225 genannt werden und sie befinden sich auf einer höheren analytischen Stufe, weil sie normative Ordnungen begründen, die ihrerseits Vorschriften und Rechtsinstitutionen umfassen. Die allgemeinen Strafrechtsgrundsätze und die allgemeinen Rechtsgrundsätze stehen deshalb in Distanz zum Gesetzeswortlaut, weswegen der Richter seinen Ermessensspielraum bedeutsam vergrößert, wenn er auf solche Prinzipien zurückgreift. Im Gegensatz zu den rationes legis und den Institutionsprinzipien kristallisieren die allgemeinen Strafrechtsgrundsätze und die allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht die Grundlagen einer Vorschrift oder einer Institution226 heraus, sondern allgemeine Grundgedanken oder Ziele, die das Strafrecht oder das allgemeine Recht zu schaffen versucht, um einen mit den Forderungen des Rechtsstaats übereinstimmenden Angriff in die bürgerlichen Freiheiten zu gewährleisten. Es handelt sich m. a. W. um politische Richtlinien oder Optimierungsgebote, die gebieten, dass etwas in einem zu den rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird.227 Sie äußern also Verpflichtungen, die der Staat im Rahmen der gesellschaftlichen Funktion des Rechts (im Allgemeinen) übernimmt. Zum Beispiel stellt m. E. eine Maßnahme der Gesetzgebung (die Einfügung eines Tatbestandes), deren Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip in Frage steht, nicht unbedingt eine verfassungswidrige Maßnahme dar. Verfassungswidrig sind nur solche Übertretungen des Prinzips, die grob sind.228 So äußert Roxin229 zutreffend: „Deshalb ist das Subsidiaritätsprinzip mehr eine kriminalpolitische Richtlinie als ein zwingendes Gebot; es ist eine Frage sozialpolitischer Entscheidung, inwieweit der Gesetzgeber Straftaten in Ordnungswidrigkeiten umwandelt oder eine Entkriminalisierung z. B. des Diebstahls in Ladengeschäften oder Betrieben für zweckmäßig hält“.

Als allgemeine Strafrechtsgrundsätze könnten u. a. das Fragmentaritäts-, das Subsidiaritäts-, das Schadens- sowie das Tatprinzip hervorgehoben werden und allgemeine Rechtsgrundsätze, die einen Einfluss im und auf das Strafrecht haben, u. a. das pro libertate-, das neminem laedere-, das Rechtssicherheitsprinzip,

225 Stattdessen von „allgemeinen Grundprinzipien der Ordnung“ sprechend, Guastini, Distinguiendo, S. 152. 226 Dagegen Yacobucci, El sentido, S. 80. 227 Zu solchen politischen Richtlinien oder Optimierungsgeboten vgl. Dworkin, Los derechos en serio, S. 72 f.; Alexy, Teoría de los derechos, S. 83; Prieto Sanchís, Ley, principios, derechos, S. 54; Ruiz Manero, in: Garzón Valdés/Laporta (Hrsg.), El derecho y la justicia, S. 152 ff.; Atienza/Ruiz Manero, Las piezas, S. 10 f. 228 Diese Frage ist aber ganz strittig, vgl. Wohlers, in: von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles, S. 56 ff. 229 Roxin, AT, I, § 2, Rn. 101. Die spanische Rechtsprechung vertritt einen ähnlichen Gedanken, vgl. STS 690/2003, Sala de lo Penal, 14. Mai; STS 96/2002, Sala de lo Penal, 30. Januar; STS 7/2002, Sala de lo Penal, 19. Januar.

D. Arten der Analogie in bonam partem

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das Prinzip der Rechtsetzungsgleichheit, das Gemeinwohlprinzip, etc.230 Das Besondere an diesen Prinzipien ist – im Gegensatz zu den Institutionsprinzipien –, dass es keine enge Verbindung zwischen ihnen und einem gleichen „Universum von Fälle[n]“ oder einer institutionellen strafrechtlichen Lösung gibt.231 Wenn z. B. vom Prinzip der Rechtssicherheit die Rede ist, kann man sich mit einer gesetzgeberischen Maßnahme beschäftigen, die Straftaten gegen das Vermögen oder gegen die Umwelt kriminalisiert oder die in Ausnahmefällen die Strafbarkeit mildert oder ausschließt232; d.h. der Spielraum dieser Prinzipien ist tatsächlich breiter. Die allgemeinen Strafrechtsgrundsätze und die allgemeinen Rechtsgrundsätze bedeuten dann keine strenge Bindung an das Gesetz, wenn der Richter auf sie zurückgreift, um das Strafgesetz auszulegen, oder aber auch um das Strafrecht fortzubilden. Sie zeigen sich als reine Hauptziele oder Hauptgedanken, von denen der Richter in entsprechenden Situationen Gebrauch machen bzw. an welchen er sich orientieren kann, um ganz verschiedenartige Fragen zu lösen, weil diese Prinzipien sich nicht streng mit einer Vorschrift oder Institution verbinden, die einen bestimmten Fall oder ein „Universum von Fälle[n]“ reguliert und die keine konkrete strafrechtliche Lösung hat. Infolgedessen sind diese Prinzipien für die Gesetzgebung233 bedeutsamer als für die Judikative234, denn der Gesetzgeber ist der Hauptverantwortliche für die Verwirklichung des kriminalpolitischen Programms des Staates. Dagegen können solche Urteilsbegründungen und richterliche Rechtsschöpfungen in Frage gestellt werden, die nur auf allgemeinen Strafrechtsgrundsätzen oder anderen allgemeinen Rechtsgrundsätzen basieren, da die Judikative hier mit Werkzeugen arbeitet, die eine schwache Bindung an das Gesetz haben235. 5. Von der oben geschilderten Charakterisierung der Strafrechtsprinzipien ausgehend, lässt sich schließlich zwischen der Analogie in bonam partem und der

230 Das „Verantwortungsprinzip“ sei auch ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, der die Kategorien der Zurechnung und der Rechtfertigung unterscheide, vgl. Jäger, Zurechnung, S. 23 ff. 231 Den Mangel an der Lösung dieser Prinzipien betonend, Röhl/Röhl, Allgemeine, § 33, S. 288 ff. 232 Über die Unsicherheit, die die Anwendbarkeit von allgemeinen Prinzipien charakterisiert, vgl. Christensen, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 37. 233 Schmidhäuser, Studienbuch, § 3, Rn. 29; Dworkin, Los Derechos en serio, S. 150; Hassemer, in: Hefendehl (Hrsg.), La teoría del bien jurídico. Fundamento de legitimación del Derecho penal o juego de abalorios dogmático?, S. 100. 234 So insbesondere über das Verhältnismäßigkeitsprinzip, Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 228. 235 Die Abstraktion führe dazu, dass die Gerichte auf diese Grundsätze nicht zurückgreifen mögen, Calvo García, Teoría del Derecho, S. 85 f. Über diese Probleme im Rahmen der Strafrechtsfindung, vgl. Jiménez de Asúa, Tratado, II, S. 452 f.; ders., La ley, S. 90.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

Anwendung von Rechtsprinzipien unterscheiden236. Die Analogie zugunsten des Täters ist eine Argumentationsgrundlage oder eine Methode, die der Richter verwendet, um das Strafrecht zu korrigieren. Es geht m. a. W. um ein argumentatives Verfahren, aufgrund dessen die Judikative eine generische Norm zugunsten des Täters herstellt. Aber der Richter arbeitet während dieses Verfahrens mit einem rechtlichen Stoff, der aus Regelungen (Vorschriften) und Rechtsgrundsätzen besteht. Die Prinzipien tragen folglich zum argumentativen Verfahren der Analogie in bonam partem bei, wodurch sie als rechtliche Kriterien bei der Vergleichungsstufe und der Rechtsschöpfungsstufe dienen.237 Das bedeutet zum Beispiel, dass das RG und der BGH bei Schaffung des rechtfertigenden übergesetzlichen Notstandes und des übergesetzlichen Verbotsirrtums nicht einfach das Prinzip des überwiegenden Interesses oder das Schuldprinzip angewendet haben, diese und weitere Grundsätze aber bei der Gestaltung des analogischen Arguments, das letztlich die übergesetzliche Norm hervorgebracht238 hat, geholfen haben.

II. Dreierlei Klassifikationen der Analogie in bonam partem 1. Fragestellung Wenn die genannte Ausnahmelücke vorliegt und kein Verbot der Strafrechtsfortbildung besteht, beginnt genau die Phase der Strafrechtsfortbildung, in der der Richter durch analogische Argumente einen neuen Straffreistellungs- oder Strafmilderungsgrund schöpft. Hier wird deutlich, dass die Analogie aus einem von Vorschriften und Prinzipien bestehenden argumentativen Verfahren besteht und der übergesetzliche Straffreistellungsgrund sein Produkt ist. Allerdings taucht dieses Verfahren auf verschiedene Arten auf, wie es oben aus der geschilderten Klassifikation der strafrechtlichen Prinzipien hergeleitet wurde, so dass sich drei Analogien in bonam partem unterscheiden lassen: Analogie legis (Gesetzesanalogie), Analogie institutionis (Institutionsanalogie) und Analogie iuris (Rechtsanalogie). Diese drei Formen unterscheiden sich nicht wegen der Argumentationsstruktur, sondern vielmehr wegen des rechtlichen Stoffs, auf den der Richter zurück236 Beide Elemente könnten aber bei der Rechtsanalogie nicht unterschieden werden, Atienza, Sobre la analogía, S. 184 f.; ders., Doxa (1985) 2, S. 228; Atienza/Ruiz Manero, Ilícitos, S. 28; Moreso, Lógica, S. 158; Guastini, Estudios, S. 97 f. 237 Falcón y Tella, El argumento, S. 139 ff.; Salguero, Argumentación, S. 178; Legaz y Lacambra, Revista de la Universidad Complutense (1983) 69, S. 26; Lücke, JR (1975) 2, S. 58. 238 Dagegen Sauer, Juristische, S. 326, der übergesetzliche Notstand sei nur eine besondere Ausgestaltung eines Prinzips, aber nicht eine analoge Anwendung bestimmter Gesetze.

D. Arten der Analogie in bonam partem

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greift.239 Die drei Analogiearten bestehen formell aus den gleichen zwei Stufen: der Ähnlichkeitsstufe und der Schöpfungsstufe. Aber diese Phasen werden bei der Gesetzesanalogie, der Institutionsanalogie und der Rechtsanalogie auf verschiedene Weise ausgefüllt. Dies spiegelt sich in der Rechtsprechung wider, welche übergesetzliche Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- oder Strafausschließungsgründe anerkannt hat, deren Herstellungsverfahren von ähnlichen gesetzlichen Vorschriften und verschiedenartigen Grundsätzen beherrscht wurde. Obwohl der übergesetzliche rechtfertigende Notstand, der übergesetzliche Verbotsirrtum und die der Notwehrüberschreitung ähnlichen Situationen augenscheinlich ein Produkt der Analogie zugunsten des Täters sind, unterscheiden sich die in diesen Fällen jeweils verwendeten Argumentationen, weil die ähnlichen Vorschriften und die Prinzipien jeweils keine gleichförmige Rolle einnehmen. Der Unterschied zwischen der Analogie legis (Gesetzesanalogie) und der Analogie iuris (Rechtsanalogie) ist seit langem in der Rechts-240 und der Strafrechtslehre241 bekannt. Bei einer historischen Analyse der Benutzung des Wortes „Analogie“ lässt sich beobachten, dass die Rechtsanalogie durch den Rückgriff auf die allgemeinen Naturrechtsprinzipien eines der ersten Mittel war, axiologische oder logische Probleme der Rechtsordnung zu lösen.242 Die Gesetzesanalogie hat sich aber mit dem Rechtspositivismus in der Rechtsfortbildung durchgesetzt und gilt seitdem als die Analogieart schlechthin.243 Trotz der herrschenden Anerkennung dieser Klassifizierung bleiben die Begriffe von Rechtsanalogie und Gesetzesanalogie noch unklar und damit auch die Grundlagen der Unterscheidung. Sie sollen von der Vorschriftenanzahl abhängig sein, auf die der Auslegende zurückgreift (eine einzelne Vorschrift = Gesetzes239 Puppe, Kleine Schule, S. 119; Röhl/Röhl, Allgemeine, S. 634; Larenz, Methodenlehre, S. 383 ff.; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, Rn. 891; Salguero, Argumentación, S. 168 ff. 240 Etwa Larenz, Methodenlehre, S. 383 ff.; Engisch, Einführung, S. 194 ff.; Röhl/ Röhl, Allgemeine, § 80, S. 634; Jacobi, Methodenlehre, S. 355 (Einzelanalogie und Gesamtanalogie); Bydlinski, Juristische, S. 477. Auch Sauer, Juristische, S. 310 ff. sei aber jede Analogie iuris und legis gleichzeitig. 241 Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 9, Rn. 92 f.; Maurach/Zipf, AT, I, § 9, Rn. 8; Schmidhäuser, Lehrbuch, § 5, Rn. 41; Triffterer, AT, Kap. 2, Rn. 28; Mayer, M., AT, S. 84 f.; Köhler, M., AT, S. 94; Schönke/Schröder-Eser/Hecker, § 1, Rn. 25; LK/Hirsch, Vor § 32, Rn. 34; Groß, Die strafrechtliche, S. 73; Wachinger, in: Frank-FS, I, S. 508 ff.; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 294–295; LK/Dannecker, § 1, Rn. 244; SK/StGB-Rudolphi, § 1, Rn. 25; Jiménez de Asúa, Tratado, II, S. 481; ders., La ley, S. 123 ff.; Orts Berenguer, Atenuante, S. 18 f.; Rodríguez Devesa/Serrano Gómez, PG, S. 253–254; Lascano, in: ders. (Hrsg.), Derecho penal, S. 150; de Queiroz, Separado del n ë VII de „Archivos do Ministerio de Justicia e Negocios interiores“, S. 14; Antolisei, PG, S. 96; Mantovani, PG, S. 76. 242 Atienza, Sobre la analogía, S. 41; Salguero, Argumentación, S. 80. 243 Atienza, Sobre la analogía, S. 40 f.; Salguero, Argumentación, S. 80 f.; Falcón y Tella, El argumento, S. 39 f.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

analogie; zahlreiche Vorschriften = Rechtsanalogie)244, oder von der Abstraktionsstufe der Argumentation und dem rechtlichen Stoff, mit dem das Gericht bei der Fortbildung arbeitet245. Dieses Buch geht den zweiten Weg. Während sich die Analogie legis in der niedrigsten Abstraktionsstufe der Argumentation und die Analogie iuris in der höchsten befindet, ist es möglich, in der Mitte eine dritte Art der Analogie zu entdecken. Das ist die Analogie institutionis oder einfach die „Institutionsanalogie“. Sie ist in der juristischen Lehre unter diesem Namen nicht bekannt, aber einige Verfasser haben schon über diese Analogie unter dem Begriff „uneigentliche Analogie iuris“246, „unvollständige Analogie iuris“ (analogía iuris imperfecta)247 oder sogar „Rechtsanalogie“248 gesprochen. Wie unten betont wird, zeigt die Institutionsanalogie viele Ähnlichkeiten mit der Analogie iuris mit Ausnahme davon, dass einzig Grundsätze, die auf einer strafrechtlichen Institution basieren, zur richterlichen Erschaffung des Straffreistellungsgrundes führen. Obwohl diese Kategorie in der strafrechtlichen Lehre nahezu unbekannt ist, ist zu betonen, dass die wichtigsten übergesetzlichen Strafbefreiungsgründe m. E. ein Produkt dieser Analogie gewesen sind. Ein Gedanke muss m. E. der Verwendung der Analogie in bonam partem zugrundeliegen: Der Rückgriff auf diese drei Analogieformen ist immer subsidär. Nur wenn die Ähnlichkeit zwischen den mangelhaft geregelten und den lückenlosen Fällen nicht zu stark ist (oder nicht existiert) und daher ein bestimmter gesetzlicher Straffreistellungsgrund wenig analogiefähig ist, braucht man die Institutionsanalogie in bonam partem. Hintergrund ist die Notwendigkeit, die richterliche Rechtsschöpfung mit der Gesetzgebung möglichst streng zu verbinden. In diesem Zusammenhang wird die Analogiefähigkeit etwa eines konkreten Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrunds im Vergleich zur Analogiefähigkeit eines institutionellen Prinzips als vorrangig behandelt. Die folgende Analyse über die Arten von Analogien in bonam partem ist einfach auf solche Fragen begrenzt, die mit dem Inhalt der Argumente verbunden sind. Deshalb wird nur die Rolle der strafrechtlichen Grundsätze und der Strafbefreiungsgründe beim Auffinden der Ähnlichkeiten und bei der Schaffung der übergesetzlichen Regelung erklärt. Die logische Strukur solcher Denkweisen geht aus dieser Analyse hervor.249 244 Larenz, Metodología, S. 376 f.; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, Rn. 891; Salguero, Argumentación, S. 168 ff.; Puig Brutau, Fundamentos, S. 324. 245 So hätten Grolman und Wächter gemeint, vgl. Schinnerer, ZStW (1936) 55, S. 777 f. 246 Cfr. Baratta, in: Wolf-FS, S. 140. 247 Atienza, Sobre la analogía, S. 185; ders., Doxa (1985) 2, S. 228. 248 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 294 f., diese Rechtsanalogie unterscheide sich von der Anwendung von Rechtsgrundsätzen oder Verfassungswerten, die öfter als Analogie iuris charakterisiert sind.

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2. Gesetzesanalogie in bonam partem: Begriff, Struktur und Fälle a) Die Gesetzesanalogie zugunsten des Täters besteht aus einer Methode der Strafrechtsfortbildung dergestalt, dass die geschaffene strafrechtliche Regelung die Übertragung der Regelung eines einzelnen gesetzlichen Straffreistellungsoder Strafmilderungsgrundes auf einen ähnlichen und ausnahmsweise in eine Gesetzeslücke fallenden generischen Falles ist.250 Die Anwendung einer solchen Methode ist besonders wichtig, wenn die Ähnlichkeit der verglichenen Fälle so stark ist, dass der nicht geregelte Fall fast der gleiche ist, wie der vom übertragenden Strafbefreiungsgrund gesetzlich normierte, mit der Ausnahme, dass eine relevante Eigenschaft der im Tatbestand vorausgesetzten Eigenschaften fehlt. Gewisse Rettungen in Gefahrengemeinschaften dürfen z. B. durch § 35 StGB nicht entschuldigt werden, wenn der von dieser Vorschrift vorausgesetzte Personenkreis nicht vorliegt; trotzdem ist eine analogische Ausdehnung des entschuldigenden Notstands möglich.251 Die erste Stufe dieses analogischen Arguments besteht darin, die Ähnlichkeit zu bestimmen,252 indem man zunächst die strukturellen Eigenschaften jedes zu vergleichenden Falles gegenüberstellt und danach nach dem Sinn der ausdehnenden Regelung fragt.253 Bei dieser Vergleichungsstufe beschäftigt man sich also mit zwei Fragen: 1. Sind sich die zu vergleichenden Fälle angesichts ihrer strukturellen Eigenschaften ähnlich? 2. Erfasst der Sinngehalt der auszudehnenden Regelung den zu beurteilenden, nicht unter die Regelung fallenden generischen Fall? Es gibt also zwei Ähnlichkeitsbewertungen: Eine Bewertung über die strukturelle Ähnlichkeit und eine andere über die Gesetzessinnähnlichkeit. Zwei generische Fälle sind strukturell ähnlich, wenn sie fast dieselben morphologischen Attribute teilen. Notwehr und präventive Verteidigung sind insofern strukturell ähnlich, als beide Verteidigungen erforderlich sind, um einen rechtswidrigen Angriff von sich oder von einem anderen abzuwenden. Lediglich die Gegenwärtigkeit des Angriffs fehlt bei der präventiven Notwehr. Mit anderen Worten: Die Notwehr hat die folgende formelle Struktur:

249 Dazu u. a. Brewer, Harvard Law Review (1996), passim, S. 965 ff.; Posner, Cornell Law Review (2006) March, S. 761 ff.; Atienza, Sobre la analogía, passim, S. 57 ff. 250 Röhl/Röhl, Allgemeine, § 80, S. 634; Baratta, in: Wolf-FS, S. 140; Puppe, Kleine Schule, S. 116 ff.; Köhler, M., AT, S. 94 f. 251 U. a. Jakobs, AT, Abs. 20, Rn. 40; Kühl, AT, § 12, Rn. 97; MüKo-Schlehofer, Vor §§ 32 ff., Rn. 270. 252 Es handele sich um den Hauptmoment des analogischen Denkens, vgl. Atienza, Sobre la analogía, S. 181; ders., Doxa (1985) 2, S. 225; Falcón y Tella, El argumento, S. 183. 253 Bacigalupo, Anuario de Derechos Humanos (1983) 2, S. 24.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem? V (Verteidigung) + E (Erforderlichkeit der Verteidigung) + A (Angriff) + G (Gegenwart des Angriffs) + R (Rechtswidrigkeit des Angriffs)

Die Struktur der präventiven Verteidigung ist aber V (Verteidigung) + E (Erforderlichkeit der Verteidigung) + A (Angriff) + R (Rechtswidrigkeit des Angriffs)

Selbstverständlich ist die morphologische Analogie eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung, um die Übertragung des § 32 StGB auf die ähnliche Konstellation zu rechtfertigen, aber sie ist immer die Voraussetzung der Bewertung der Gesetzessinnähnlichkeit.254 Die Frage nach der Ähnlichkeit nach dem Gesetzessinn stellt sich als sinnlos dar, wenn sich die zu vergleichenden generischen Fälle strukturell erheblich voneinander unterscheiden. Der Hauptmoment des analogischen Arguments ist die Bewertung der Gesetzessinnähnlichkeit, weil sich hieraus die Gründe ergeben, nach denen die Übertragung der gesetzlichen Regelung auf einen gesetzlich an sich nicht geregelten Fall gerechtfertigt ist. Die Begründung der Rechtfertigung oder der Entschuldigung, die beim lückenlosen Fall gilt, sollte auch bei den zu prüfenden und strukturell analogen Fällen vorliegen. Der Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeugs, um eine größere Personenanzahl zu retten, oder der Irrtum über Rechtfertigungsumstände zeigen nicht nur eine ähnliche Struktur im Vergleich zu den von § 35 und § 16 Abs. 1 StGB geregelten Fällen, sondern entsprechen sich auch hinsichtlich ihrer Grundlagen, die zu einer Strafbefreiung führen sollen. Dort existiert eine Gesetzessinnähnlichkeit. In anderen Fällen wird diese Analogie abgelehnt, z. B. für notwehrähnliche Lagen, wo trotz der strukturellen Ähnlichkeit die normative Ähnlichkeit mit § 32 StGB fehle.255 Wie wird aber diese Gesetzessinnähnlichkeit festgestellt? Die bloße Existenz einer strukturellen Ähnlichkeit könnte zu einem Irrtum führen, weil morphologisch analoge Fälle sich nach dem Gesetzessinn nicht genügend ähneln könnten, weshalb eine solche Begründung der Analogie in bonam partem allein kein gangbarer Weg ist. Sämtliche Fälle ähneln sich in einigen Aspekten, aber unterscheiden sich zugleich auch in anderen voneinander.256 Infolgedessen sind sich zwei unterschiedliche Fälle nur dann mit Blick auf die Schöpfung eines übergesetzlichen Strafausschließungsgrunds ausreichend ähnlich, wenn der Gedanke des lückenlos regulierten Falles auf die zukünftige richterliche Vorschrift übertragen werden kann. Bei der Bestätigung dieser zweiten Ähnlichkeitsbewertung spielen die Grundgedanken der ausgedehnten Regelungen eine wichtige Rolle257; mit an254

Dagegen Salguero, Argumentación, S. 13. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 324–326; Roxin, in: Oehler-FS, S. 189–190. Anders Suppert, Studien, S. 75–76, 381. 256 Larenz, Methodenlehre, S. 381. 257 Posner, Cornell Law Review (2006) March, S. 764–766. 255

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deren Worten: die rationes legis begründen diese Bewertung.258 Dass z. B. der Irrtum über die Rechtfertigungsumstände und der Rücktritt bei der Vorbereitung dem Irrtum über die Tatbestandsmerkmale und dem Versuchsrücktritt ähneln, bedeutet, dass die rationes legis des § 16 und des § 24 StGB ihnen jeweils ähnliche „Lücken“ umfassen. Das Produkt der Analogie zugunsten des Täters ist der konkrete übergesetzliche Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund. Hier beginnt die zweite Phase der Gesetzesanalogie in bonam partem und sie ist an das vorherige argumentative Verfahren gebunden. Das heißt, dass der bei der Argumentation benutzte Rechtsstoff (die lückenlose gesetzliche Vorschrift und die rationes legis) für die Erschaffung des Strafbefreiungsgrundes als ein Vorbild oder Muster dient. Jene richterliche generische Regelung besteht aus einem generischen Fall, der mit einer Rechtslösung korreliert.259 Der Auslegende muss deshalb zuerst den Tatbestand des übergesetzlichen Straffreistellungsgrunds unter das Muster der vergleichenden lückenlosen Vorschrift fassen. Beispielhaft lautet der Tatbestand eines hypothetischen analogen entschuldigenden Notstandes, der den Personenkreis von § 35 StGB nicht umfasst: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden . . .“.

Schließlich bringt die übertragene Regelung die Rechtslösung insofern, dass die durch Analogie in bonam partem geschöpfte Vorschrift die Lösung des lückenlosen Falles darstellen soll. Eine übergesetzliche Norm, die durch eine Gesetzesanalogie zugunsten des Täters hergestellt wird, soll dieselbe Rechtslösung haben, wie der Straffreistellungsgrund, aus dem sie entwickelt wird.260 b) Die Rechtsprechung und die Strafrechtslehre befürworten konkrete Ausdehnungen gesetzlicher Straffreistellungsgründe, die mit der Analogie legis in bonam partem einhergehen. Die geltenden Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- und Strafausschließungsgründe haben keine Regelung, die die Irrtümer über die Rechtfertigungstatumstände, die Überschreitung des Notstandes oder des Festnahmerechts oder den Rücktritt im Vorbereitungsstadium direkt erfassen. Ein Teil der Auffassung geht davon aus, dass § 16 StGB ausschließlich die Unkenntnis über die Umstände des gesetzlichen Tatbestands umfasst, d.h. die Tatbeschreibungen des Besonderen Teils, nicht aber die Unkenntnis über die Umstände eines 258 Die Diskussion über das Gewicht der rationes legis bei der Herstellung des analogischen Arguments ist umstritten. Drei unterschiedliche Perspektiven kämpfen gegeneinander: Die „mystische“, die „skeptische“ und die „mild rationale“ Perspektive. Dazu Brewer, Harvard Law Review (1996), S. 952 ff. 259 Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 66. 260 Andere Meinung, vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 324.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

Rechtfertigungsgrundes.261 Gleichfalls erfasse § 24 StGB nur den Rücktritt beim Versuch, aber bewahrt über das Vorbereitungsstadium Stillschweigen,262 daher finde die Vorschrift eine analoge Anwendung263. Und § 33 StGB stellt die Ausschließung der Verantwortlichkeit nur bei Überschreitung aus Furcht, Verwirrung oder Schrecken der Notwehr fest, die Überschreitung anderer Rechtfertigungsgründe gehe über die Vorschrift hinaus.264 Von einer strukturellen und rechtlichen Ähnlichkeit der oben geschilderten Fälle ausgehend, verteidigen aber einige Stimmen in der Lehre die Analogiefähigkeit von §§ 16, 24 und 33 StGB. Die eingeschränkte Schuldtheorie kommt zum Schluss, dass § 16 I StGB auf den Erlaubnistatbestandsirrtum zwar nicht unmittelbar, aber analog angewendet werden kann. Die Ähnlichkeit zwischen dem Tatbestands- und dem Erlaubnistatbestandsirrtum sei so groß, dass eine Erweiterung der gesetzlichen Rechtsfolge des § 16 I StGB (Ausschluss des Vorsatzes) durch eine Gesetzesanalogie in bonam partem um die Rechtfertigungsgründe gerecht sei.265 Der Richter gründet diesen übergesetzlichen Straffreistellungsgrund auf die nähere Verwandtschaft zum Tatbestandsirrtum – nicht zum Verbotsirrtum –266 und auch darauf, dass der Unrechtsvorsatz gemäß der ratio legis des § 16 StGB mehr als den Tatbestandsvorsatz umfasst; zu ihm gehört zusätzlich die Nichtannahme rechtfertigender Umstände.267 Deshalb gäbe es zwischen Tatbestands- und Erlaubnistatbestandsirrtum eine strukturelle und rechtliche Änhlichkeit, die die analogische Strafrechtsschöpfung unterstützt. Besonders deutlich sind die in der Literatur liegenden Argumente für eine Ausdehnung des § 33 StGB durch Analogie legis in bonam partem. Die zwei Hauptmomente dieser juristischen Denkweise (die Ähnlichkeitsbewertungen über die strukturelle Ähnlichkeit und über die Gesetzessinnähnlichkeit) werden von der Literatur betont und spielen eine wichtige Rolle bei den Stellungnahmen für oder gegen eine analoge „Anwendung“ der Überschreitung der Notwehr. Trotz der 261 Roxin, AT, I, § 14, Rn. 55; Kühl, AT, § 13, Rn. 70; MüKo-Joecks, § 16, Rn. 5; NKPuppe, § 16, Rn. 6. 262 Stratenwerth/Kuhlen, AT, § 11, Rn. 100; Lackner/Kühl-StGB, § 24, Rn. 28. In der spanischen Diskussion über Art. 16. Abs. 2 CP, vgl. Silva Sánchez, El nuevo Código, S. 148. Dagegen, LK-Lilie/Albrecht, § 24, Rn. 250. 263 Etwa Angerer, Rücktritt, S. 250; Jescheck/Weigend, AT, S. 548; Schönke/Schröder-Eser, § 24, Rn. 119; MüKo-Herzberg, § 24, Rn. 190. Zur analogischen Ausdehnung des Rücktritts auf die Vorbereitung in der spanischen Lehre, vgl. Mir Puig, PG, Abs. 13, Rn. 110; Silva Sánchez, El nuevo Código, S. 148; Cerezo Mir, PG, I, S. 173–174; ders., RDPC (1998) 1; Higuera Guimera, Las excusas, S. 177 f.; Jiménez Díaz, Art. 16, in: Cobo del Rosal (Hrsg.), Comentarios al Código penal, I, S. 806. 264 Dazu Motsch, Der Straflose, S. 108; Otto, Jura (1987) 11, S. 607; Roxin, AT, I, § 22, Rn. 97. 265 Etwa Puppe, AT, § 13, Rn. 32; Kühl, AT, § 13, Rn. 71 ff.; Kindhäuser, AT, § 29, Rn. 25 f.; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben, § 16, Rn. 19. 266 Stratenwerth/Kuhlen, AT, § 9, Rn. 165. 267 Roxin, AT, I, § 14, Rn. 70.

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Kontroverse über die Analogiefähigkeit von § 33 StGB ist die herrschende Meinung für die Schöpfung eines übergesetzlichen Grundes, der die Überschreitung anderer Rechtfertigungsgründe entschuldigt.268 Roxin bejaht die analoge Ausdehnung des Entschuldigungsgrundes nur bei § 228 BGB (Defensivnotstand).269 Dann hätten die von § 33 StGB und § 228 BGB regulierten Fälle eine strukturelle Verwandtschaft; beide hätten eine „Verteidigungsstruktur“, daher stehe eine strukturelle Ähnlichkeit fest, während die ratio legis zeige, dass der Strafverzicht gerade nur wegen der wesentlichen Mitverantwortung des Opfers möglich wird.270 Die Nicht-Entstehung dieser strukturellen und rechtlichen Ähnlichkeit mit den §§ 127 StPO, 228 BGB, 34 StGB rechtfertige die Ablehnung einer Analogie legis in bonam partem.271 Einer anderen Interpretation der Struktur und des Sinnes der Vorschrift folgend, verbreitert Motsch die Analogiefähigkeit von § 33 StGB und hält die Übertragung der Entschuldigung auf den strafrechtlichen Notstand (§ 34 StGB) und das Festnahmerecht (§ 127 StPO) für möglich (freilich nicht auf den zivilrechtlichen Defensivnotstand272). Die ratio legis von § 33 StGB umfasse nur diejenigen Exzesse, welche nur mit asthenischen Motiven i. S. der Vorschrift einhergehen und bei denen das Opfer mitverantwortlich ist273. Ein solches Verständnis der ratio legis lässt den Verfasser die Analogiefähigkeit § 33 StGB für den Defensivnotstand ablehnen. Denn obwohl die strukturelle Ähnlichkeit von § 228 BGB zu § 33 StGB kaum zu bestreiten sei, mangele es gleichwohl an der Gesetzessinnähnlichkeit.274 c) In unserer Zeit hat die Diskussion über die notstandsähnlichen Lagen insbesondere dann Bedeutung, wenn von der „Wahl des kleineren Übels“ bei der Tötung von Menschen die Rede ist. Die Literatur275 verbindet diese Problematik mit ganz unterschiedlichen, seit langem schon bekannten Konstellationen, deren 268 Drei unterschiedliche Thesen über die Analogiefähigkeit von § 33 StGB zeigen sich m. E. in der Lehre: a) These 1: Die Analogie sei ausgeschlossen, vgl. u. a. LK-Spendel, § 33, Rn. 76; b) These 2: Die Vorschrift sei nur beschränkt analogiefähig: vgl. Motsch, Der straflose, S. 108; Otto, Jura (1987) 11, S. 607; Roxin, AT, I, § 22, Rn. 98 ff.; c) These 3: Die Vorschrift ist weit analogiefähig: vgl. NK-Herzog, § 33, Rn. 17. 269 Roxin, AT, I, § 22, Rn. 99. Ähnlich Schönke/Schröder-Perron, § 33, Rn. 2. Dagegen SK/StGB-Rogall, § 33, Rn. 3. 270 Roxin, AT, I, § 22, Rn. 98. Ähnlich Seeberg, Aufgedrängte Nothilfe, S. 220. 271 Roxin, AT, I, § 22, Rn. 98. 272 Motsch, Der straflose, S. 109–110. 273 Motsch, Der straflose, S. 108, 111. Ähnlich Otto, Jura (1987) 11, S. 607. 274 Motsch, Der straflose, S. 111. 275 U. a. Welzel, ZStW (1951) 63, S. 47 ff.; ders., MDR (1949), S. 375 ff.; Schmidt, E., SJZ (1949), S. 566 ff.; Roxin, AT, I, § 22, Rn. 146, 161–165; ders., in: Eser/Gimbernat/ Perron (Hrsg.), Justificación y exculpación en Derecho penal, S. 234; Pawlik, JZ (2004) 21, S. 1047 ff.; Jerouschek, in: Schreiber-FS, S. 192 ff.; Sinn, NStZ (2004) 11, S. 585 ff.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

gemeinsamer Nenner die Opferung unschuldiger Menschen in Gefahrengemeinschaften ist, z. B. mit dem Weichensteller-276 und dem Herz-Lungen-MaschinenFall,277 der ärztlichen Tötung von Geisteskranken auf Grund des Hitlererlasses vom 1.9.1939278 und dem Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeugs.279 In jüngster Zeit bleiben noch offene Fragen hinsichtlich der strafrechtlichen Behandlung solcher Fälle und ob konkret eine Strafe zulasten des Weichenstellers, des Arztes oder des Luftsicherheitsagenten verhängt werden soll. Der Vorbehalt gegen eine Strafbefreiung besteht darin, dass sich der Täter in unzulässiger Weise anmaßt, „Schicksal“ zu spielen.280 Obwohl sich die Befürwortung der Straflosigkeit solcher Konstellationen durchsetzt, bestehen noch Zweifel an der Grundlage für den Strafverzicht.281

276 Beispiel: Ein Güterwagen rast mit hoher Geschwindigkeit ins Tal und droht auf einen Personenzug aufzufahren, wodurch viele Menschen getötet würden. Einem Gleisarbeiter gelingt es, durch das Stellen einer Weiche den Güterwagen in letzter Sekunde auf das einzige Gleis umzuleiten, wobei er voraussieht, dass dort drei seiner Kollegen getöten werden. 277 Beispiel: In einer Chirurgischen Klinik gibt es nur drei Herz-Lungen-Maschinen, an die die drei schwerverletzten Patienten A, B und C angeschlossen sind. Nach einem Autounfall werden drei weitere Schwerverletzte X, Y und Z eingeliefert und der leitende Chirurg entschließt sich nach Beratung mit zwei Kollegen, statt des A den neu eingelieferten X an die Maschine anzuschließen, weil A trotz seines Anschlusses an die Maschine nur noch geringe Überlebenschancen, X dagegen bei Anschluss an die Maschine große Überlebenschancen hat. 278 Beispiel: Als 1939 die Aktion zur Tötung der Geisteskranken einsetzte, haben einzelne Anstaltsärzte an der Aufstellung der „Verlegungslisten“ nur deswegen mitgewirkt, weil sie durch Opferung der gänzlich hoffnungslosen Fälle anderen Anstaltsinsassen mit der bewusst unwahren Angabe, sie seien arbeitsfähig oder heilbar, das Leben retten konnten, während sie im Falle einer Weigerung durch willfährige Parteigänger des Regimes ersetzt worden wären, die niemanden geschont hätten. Vgl. MDR (1949), S. 370 ff. Siehe auch über den Fall in neuerer Zeit Montiel, Analogía, S. 434 ff.; Ortiz de Urbina Gimeno, in: Sánchez-Ostiz Gutiérrez (Hrsg.), Casos que hicieron doctrina en Derecho penal, S. 177 ff. 279 Beispiel: Ein Verteidigungsminister ordnet den Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeugs an, das an einem Wolkenkratzer zerschellen wird. Minuten vor dem Zerschellen führt ein Soldat den Befehl des Verteidigungsministers aus und schießt das Flugzeug ab, um die Tötung von 400 Menschen, die im Wolkenkratzer arbeiten, auf Kosten von 50 Passagieren inkl. Boardcrew abzuwenden. 280 Jakobs, in: Krey-FS, S. 218. 281 Zum allgemeinen Überblick der verschiedenartigen Lösungen im Rahmen der Rechtfertigung, Entschuldigung und des Verantwortungsausschlusses, Roxin, ZIS (2011), S. 560 ff.; Sinn, NStZ (2004) 11, S. 585, 588; Hörnle, in: Herzberg-FS, S. 573 ff. Die Lösung einer persönlichen Strafausschließung wird von der heutigen Auffassung übersehen, aber sie war der Schluss, zu dem der OGH bei der Rettung zahlreicher seelisch Kranker bei der Ausführung des hitlerianischen Gnadentodsprogramms gekommen ist. Vgl. MDR (1949), S. 373. Diese Stellungnahme der Rechtsprechung, Jakobs, in: KreyFS, S. 209. Kritisch zu dieser Lösung, Welzel, MDR (1949), S. 374; Schmidt, E., SJZ (1949), S. 566; Schmidhäuser, Lehrbuch, § 11, Rn. 36. Dem gegenüber steht die Lösung eines übergesetzlichen persönlichen Strafausschließungsgrundes, Peters, JR (1949), S. 497; ders., JR (1950), S. 745.

D. Arten der Analogie in bonam partem

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In der deutsch- und spanischsprachigen Literatur herrscht für diesen Fall Einigkeit über die Ablehnung einer Rechtfertigung durch den Notstand, weil eine quantitative Rechnung bei der Lebensabwägung verboten sei.282 Nur diese Möglichkeit kann m. E. zugänglich sein, denn solche Fälle fallen nicht unter den Anwendungsbereich des Prinzips der überwiegenden Interessen, das die Rechtfertigung eines tatbestandsmäßigen Verhaltens begründet.283 In Wirklichkeit geht es um eine Entschuldigungsfrage.284 Trotzdem enthalten die deutschen Gesetze keine Vorschrift, die eine solche „Auswahl“ von Leben als „kleineres Übel“ bei Leben in Gefahrengemeinschaften entschuldigt, da der Täter die Grenzen des Notwehrrechts i. S. v. § 33 StGB nicht überschreitet und der von § 35 StGB gefordete privilegierte Personenkreis (oft) nicht vorliegt. Obwohl die hier diskutierte Konstellation dem von § 35 regulierten generischen Fall ähnelt, töten der Weichensteller, der Notfallarzt, der Luftsicherheitsagent und die nationalsozialistischen Ärzte vorsätzlich, ohne in den Genuss einer Strafbefreiung zu kommen. Deshalb ist hier der Ausschluss der Zumutbarkeit nach übergesetzlichem Recht möglich, weil das anwendbare gesetzgeberische Entschuldigungssystem an einer Ausnahmelücke leidet. Was die Lückenhaftigkeit von gesetzlichen Strafrechtsregelungen bezüglich der Rettung einer Vielzahl von Menschen auf Kosten eines Einzelnen oder einer kleineren Gruppe bei Gefahrengemeinschaften angeht, stößt die Stellungnahme von Michael Pawlik m. E. auf Schwierigkeiten. Ein Rückgriff auf den übergesetzlichen entschuldigenden Notstand scheine sich bei dem Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeugs geradezu aufzudrängen, weil das Näheverhältnis sowohl bei der Anordnung zum Abschuss durch den Verteidigungsminister als auch durch den diesen Befehl ausführenden Soldat nicht vorliege.285 Nach Meinung von Pawlik enthält § 14 Abs. 3 LuftSiG diese übergesetzliche Entschuldigung.286 Die „Übergesetzlichkeit“ eines Straffreistellungsgrundes verbindet sich aber mit dem vom Richter geschöpften Recht, also mit richterlichem Recht, das 282 Vgl. u. a. Renzikowski, Notstand, S. 202 ff.; Jerouschek, in: Schreiber-FS, S. 185 ff., 192; Jäger, ZStW (2003) 115, S. 765, 778; Pawlik, JZ (2004) 21, S. 1047 ff.; Mitsch, GA (2006) 1, S. 11 f.; Hirsch, in: Küper-FS, S. 159; MüKo-Erb, § 34, Rn. 122 ff.; Welzel, Strafrecht, § 23, S. 184 ff.; Kühl, AT, § 8, Rn. 114; Stratenwerth/ Kuhlen, AT, § 9, Rn. 115. 283 Stratenwerth/Kuhlen, AT, § 9, Rn. 107. 284 Auch so u. a. Kindhäuser, AT, § 21, Rn. 14; Kühl, AT, § 12, Rn. 94; Stratenwerth/ Kuhlen, AT, § 10, Rn. 114; Heinrich, AT, Rn. 596; Gropp, AT, § 7, Rn. 100 ff.; Jescheck/ Weigend, AT, § 47, S. 501 f.; Welzel, Strafrecht, § 23, S. 184 ff.; ders., MDR (1949), S. 375; Pawlik, JZ (2004) 21, S. 1051; Schmidt, E., SJZ (1949), S. 570. Dagegen charakterisiert die Straffreistellung als eine „hoheitliche Maßnahme“, Jerouschek, in: Schreiber-FS, S. 197 f. 285 Pawlik, JZ (2004) 21, S. 1050. 286 Pawlik, JZ (2004) 21, S. 1051, „In den von § 14 Abs. 3 LuftsicherheitsG erfaßten Fällen sind die Voraussetzungen [des übergesetzlichen entschuldigenden Notstandes] erfüllt.“

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

durch die Analogie zugunsten des Täters geformt ist. Mit anderen Worten setzt die „Übergesetzlichkeit“ das Vorliegen einer Ausnahmelücke im anwendbaren Gesetzessystem voraus.287 Infolgedessen besitzt der Straffreistellungsgrund von § 14 Abs. 3 LuftSiG keine übergesetzliche Natur; im Sinne des in der Literatur herrschenden Analogiebegriffs geht es vielmehr um einen außerstrafrechtlichen entschuldigenden Notstand, aber nicht um einen übergesetzlichen entschuldigenden Notstand. Der Mangel einer strafrechtlichen Vorschrift, die solche Konstellationen umfasst, zeigt die Notwendigkeit einer Rechtsfortbildung durch die Gesetzesanalogie zu § 35 StGB.288 Die starke strukturelle Ähnlichkeit mit dem entschuldigenden Notstand spricht dafür, dass das Hauptmittel einer Strafrechtsfortbildung durch die Gesetzesanalogie in bonam partem stattfinden soll, d.h. durch eine analoge „Ausdehnung“ von § 35 StGB. In den oben diskutierten Fällen liegen die gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr, die hochpersönlichen gefährdeten Rechtsgüter (Leben) und die Begehung einer rechtswidrigen Tat, um eine Gefahr i. S. v. § 35 StGB abzuwenden, vor und es fehlt einzig am Näheverhältnis zwischen dem Angreifer und den Geretteten.289 Diese große Ähnlichkeit bestätigt somit, dass prima facie von einer Strafrechtsschöpfung durch die Analogie legis in bonam partem die Rede ist, denn die erste Stufe des analogischen Denkens ist beendet. Die Hauptfrage zur analogen Ausdehnung von § 35 StGB stellt sich erst auf der Stufe der rechtlichen Ähnlichkeit. Der privilegierende Charakter der Vorschrift spricht gegen eine allgemeine Ausweitung der Entschuldigung,290 die mittels einer extensiven Auslegung oder eines Analogieschlusses stattfinden kann, weil die präventiven Strafrechtsziele verletzt werden.291 Mit altmodischen Worten würde das Strafrecht an Knochenerweichung leiden.292 Die Harmonie von präventiven und freiheitsschützenden Strafrechtszwecken fordert durch den Auslegenden eine gewissenhafte Überprüfung des Anwendungsbereichs der ratio legis von § 35 StGB sowie der konkreten Fälle, die von diesem Prinzip erfasst werden können. Wie unten dargestellt und bewiesen wird, ist die analoge Ausdehnung von § 35 StGB nicht bei jeder Rettung einer Mehrzahl von Menschen in 287 „Übergesetzlich“ meint, im geschriebenen Recht findet sich nichts dazu. Vgl. Jakobs, in: Krey-FS, Fn. 2. 288 Vgl. u. a. Jakobs, AT, Abs. 20, Rn. 40; Kühl, AT, § 12, Rn. 97; MüKo-Schlehofer, Vor §§ 32 ff., Rn. 270. Über die akademische Diskussion zur analogen Anwendung von § 35 StGB auf andere notstandsähnliche Konstellationen, insbesondere den Staatsnotstand, s. Jahn, Das Strafrecht, S. 456 ff. 289 Momsen, Die Zumutbarkeit, S. 465 f. stellt hingegen die Analogiefähigkeit von § 35 StGB zu Notlagen in Frage, in denen kein Näheverhältnis vorliegt. 290 Gegen die Verallgemeinerung von § 35 StGB vgl. Momsen, Die Zumutbarkeit, S. 472 ff., 476. 291 Dazu im Detail siehe unten S. 154 f. 292 Mangakis, ZStW (1963) 75, S. 150 f.

D. Arten der Analogie in bonam partem

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Gefahrengemeinschaften gerechtfertigt. Tatsächlich ist die strafrechtliche Regelung nur dann ausdehnbar, wenn die folgenden Anforderungen erfüllt sind:293 • Außerordentlicher Charakter der Konstellation, in der das einzige Rettungsmittel die Aufopferung anderer Rechtsgüter ist. • Die geretteten Rechtsgüter und die aufgeopferten Rechtsgüter würden ohne den Eingriff mit Sicherheit beide untergehen. • Der Täter schafft kein neues unerlaubtes Risiko294. • Die durch die rechtswidrige Handlung geretteten Rechtsgüter müssen die wertvollsten Rechtsgüter der Rechtsordnung sein, insbesondere das Leben295, 296. • Der Verlust der aufgeopferten Rechtsgüter muss das wesentlich „kleinere Übel“ bedeuten. Die ratio legis des gesetzlichen entschuldigenden Notstandes erfasst einzig diejenigen Fälle, in denen eine Person in einer gegenwärtigen Gefahr für die wertvollsten Rechtsgüter der Rechtsordnung, deren Beeinträchtigung mit Sicherheit bevorsteht, das kleinere Übel wählt, ohne neue unerlaubte Risiken in der Gefahrengemeinschaft zu begründen. § 35 StGB entspricht dieser ratio legis nur unvollständig und somit strebt die richterliche Schöpfung eines übergesetzlichen entschuldigenden Notstandes danach, auch Nichtnäheverhältnisse in Gefahrengemeinschaften zu fassen. Das Ausnahmemittel der Analogie legis in bonam partem ist also bei der Schaffung neuer Entschuldigungsgründe nur für solche Konstellationen reserviert, in denen diese fünf Eigenschaften erfüllt sind. Die fünf Anforderungen liegen bei dem „Euthanasieärzte-Fall“ und dem „Abschusssoldat-Fall“ vor, was uns zeigt, dass eine analoge Ausdehnung von § 35 StGB an sich möglich ist. Diese notstandsähnlichen Konstellationen fallen nicht unter den Anwendungsbereich dieser gesetzlichen Vorschrift, aber sie sind von deren ratio legis umfasst. Der Richter darf also bei solchen Konstellationen einen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund kraft eines analogischen Vorgehens erschaffen, wo er von einer strukturellen Ähnlichkeit und Gesetzessinnähnlichkeit ausgeht. Ein übergesetzlicher entschuldigender Notstand ist dabei nur schuldaus293 Andere Anforderungen für die übergesetzliche Entschuldigung dieser notstandsähnlichen Situationen, aber ähnlich mit den hier dargestellten fordernd, vgl. Welzel, Strafrecht, § 23, S. 185; Jakobs, AT, Abs. 20, Rn. 42, S. 589–590; Pawlik, JZ (2004) 21, S. 1051; Sinn, NStZ (2004) 11, S. 587 f.; Kühl, AT, § 12, Rn. 99. 294 Diese Eigenschaft m. E. betonend, vgl. u. a. Kühl, AT, § 12, Rn. 106; Schönke/ Schröder-Cramer/Heine/Lenckner, Vor §§ 32 ff., Rn. 117. 295 Deshalb ist die analoge Ausdehnung von § 35 StGB auf Gefahren für das Vermögen ungangbar. Ähnlich Schönke/Schröder-Cramer/Heine-Lenckner, Vor §§ 32 ff., Rn. 117. 296 Lücke, JR (1975) 2, S. 57; Momsen, Die Zumutbarkeit, S. 472 ff., 476, 77 akzeptieren die Analogiefähigkeit von § 35 StGB nur in den Fällen, in denen die im § 35 StGB ausgedrückten wertvollsten Rechtsgüter der Rechtsordnung in Gefahr sind.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

schließend, wenn das Flugzeug in einem unbewohnten Gebiet herunterfällt, wie einem Wald oder Meer297, 298. Der Absturz in einem bewohnten Gebiet dagegen schafft ein neues unerlaubtes Risiko insofern, da der Täter eine neue Rechtsgütergruppe in die Gefahrengemeinschaft einbindet. Trotz der strukturellen Ähnlichkeit ist aber die Analogiefähigkeit von § 35 StGB zum Weichensteller- und Herz-Lungen-Maschinen-Fall abzulehnen, denn sie teilen sich wegen der Nichtentstehung der Anforderungen b) und c) der ratio legis keine Gesetzessinnähnlichkeit.299 Erstens liegt diese Voraussetzung des „sicheren Verlusts zweier Rechtsgütergruppen“ in einem zunächst ähnlich scheinenden Fall nicht vor, und eine übergesetzliche Entschuldigung wäre infolgedessen unbegründet: Wenn ein Weichensteller einen total überfüllten Zug, der einen Abgrund hinunterfahren würde, auf eine andere Strecke umleitet, auf der drei Personen arbeiten, ist der Tod der drei Arbeiter nicht zu entschuldigen. Das liegt daran, dass vor dem Eingriff des Täters allein das Leben der Passagiere in Gefahr war. Die ursprüngliche Gefahrengemeinschaft umfasst nur das Leben der Passagiere, aber nicht das Leben der Arbeiter. Ursprünglich droht ausschließlich diesen der Untergang. Diese Voraussetzung fehlt auch beim Herz-Lungen-Maschinen-Fall: Das Leben des A war noch nicht sicher verloren, sondern nur seine Überlebenschancen waren gering. Man konnte noch keine sichere Prognose hinsichtlich des Todes des A stellen. Aber das Fehlen von b) impliziert auch das Fehlen von c). Wenn nur eine Rechtsgütergruppe in Gefahr ist und der Täter eine neue Rechtsgütergruppe in die Gefahrengemeinschaft hineinführt, kann der Schuldvorwurf nicht entfallen, weil er ein neues unerlaubtes Risiko geschaffen hat und ihm daher andere Handlungsweisen zumutbar sind. Das Leben des schwerverletzten Patienten A wird um die verbleibende Zeit bis zum sicheren Tod durch das Abschalten der Maschine verkürzt, obwohl diese Zeitspanne gesetzlich unter dem Lebensschutz steht. Wie Roxin300 knapp formuliert: „Die verbleibende Lebenszeit wäre auch nicht etwa sinn- und wertlos“. 3. Institutionsanalogie in bonam partem (Analogie institutionis in bonam partem): Begriff, Struktur und Fälle a) Die Strafrechtsfortbildung erstarrt vor der Analogieunfähigkeit eines gesetzlichen Straffreistellungsgrundes nicht. Diese Fortbildung des gesetzgeberischen Strafrechts durch die Analogie legis fehlt, wenn der lückenlose und der unvoll297

So Roxin, AT, I, § 22, Rn. 149; ders., ZIS (2011) 6, S. 556. Diese Beschränkung steht m. E. mit Art. 51 Zusatzprotokoll I Genfer Konvention in Einklang. 299 A. A. Küper, JuS 1971 (9), S. 477; Silva Sánchez, in: Hruschka-FS, S. 695. 300 Roxin, ZIS (2011), S. 556. 298

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ständig gesetzlich geregelte generische Fall keine oder eine mangelhafte strukturelle Ähnlichkeit zeigen oder wenn die Gesetzessinnähnlichkeit trotz der morphologischen Ähnlichkeit nicht vorliegt, weil die ratio legis die Ausdehnung der Vorschrift missbilligt. Eine analogische Ausdehnung von § 193 StGB auf den Hausfriedensbruch (§ 123) und auf die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes und von Privatgeheimnissen (§§ 201, 203 StGB) ist etwa abzulehnen, wo die Rechtswidrigkeit tatbestandsmäßiger Taten in Frage steht.301 Hierbei besitzen die zu vergleichenden Fälle keine morphologische Ähnlichkeit oder eine solche besteht nur in ganz geringem Maß. Außerdem darf die übergesetzliche Rechtfertigung einer präventiven Verteidigung302 oder einer Verteidigung gegen einen Angriff, der vom Richter mittels Analogie gerechtfertigt wurde, nicht aus einer analogen „Anwendung“ von § 32 StGB kommen; auch der übergesetzliche Verbotsirrtum konnte nicht durch eine Gesetzesanalogie aus § 59 Abs. 1 RStGB angenommen werden. Bei diesen letzten Fällen ist die strukturelle Ähnlichkeit nicht umstritten, aber die ratio legis stützt nicht die Ausdehnung der gesetzlichen Regelungen von der Notwehr und vom Irrtum über die Tatumstände auf den rechtfertigenden Notstand und den Verbotsirrtum. Der Mangel an einer ähnlichen rechtfertigenden Regelung stützte auch nicht die Anerkennung des übergesetzlichen rechtfertigenden Notstandes durch die Gesetzesanalogie. Das Rechtfertigungssystem des RStGB barg aufgrund seiner Knappheit zahlreiche axiologische Probleme: Es kannte nur die Notwehr (§ 53 RStGB) und die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 RStGB)303. Die Reaktion auf Notlagen war bloß in § 54 RStGB geregelt, der lediglich als Entschuldigungsgrund ausgestaltet war.304 Deswegen hatte der Notstand gemäß RStGB nur einen schuldausschließenden und keinen rechtfertigenden Effekt. Das Inkrafttreten des BGB veränderte den gesetzlichen Zustand ab 1900 merklich, weil § 228 den Defensivnotstand und § 904 den Aggressivnotstand regelte,305 aber die zivilrecht301

MüKo/Joecks, § 193, Rn. 6; Rengier, BT, II, § 29, Rn. 36; Kühl, AT, § 9, Rn. 51. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 327, schließt eine Gesetzesanalogie aber überhaupt nicht aus, denn der Verfasser nimmt eine analoge Ausdehnung von § 34 StGB anstatt § 32 StGB an. 303 Vgl. Jakobs, AT, Abs. 13, Rn. 5; Roxin, AT, I, § 16, Rn. 1. Es ist aber zu betonen, dass die straffreistellende Natur solcher Vorschriften umstritten war, weil RStGB sich folgenden Ausdrucks bediente: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden“ (vgl. Eser, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 34–35) und die Unterscheidung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen nicht deutlich entwickelt wurde. Für das letztgenannte dient als ein gutes Beispiel, dass die damaligen RStGB-Kommentare vielmehr von „Strafausschließungsgründen“ sprachen, ohne die Rechtfertigung, die Entschuldigung oder die Strafausschließung zu individualisieren. Obwohl Hans Rüdorff etwa § 53 RStGB als einen Rechtfertigungsgrund – ohne diese Bezeichnung zu benutzen – charakterisierte, sprach er sich nicht für die Natur des § 193 RStGB als einen solchen aus. Vgl. Rüdorff, Strafgesetzbuch, S. 320 f. 304 Jakobs, AT, Abs. 13, Rn. 5; Roxin, AT, I, § 16, Rn. 1. 305 Würzburger, Das Recht, S. 75 ff. 302

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

lichen Rechtfertigungsgründe lösten nicht die axiologische Frage, die sich ergibt, wenn andere Rechtsgüter als das Vermögen betroffen sind.306 Angriffe auf die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit waren in Notlagen nicht erlaubt, weswegen die Rechtsprechung diese Ausnahmelücke korrigieren sollte.307 Eine präventive Verteidigung im gewalttätigen Kontext – i. S. des Haustyrannen-Falls – und eine Verteidigung gegen einen Angriff, der vom Richter im Wege der Analogie gerechtfertigt wurde, fallen nicht unter den Anwendungsbereich von § 32 StGB;308 trotzdem zeigt sich die Bestrafung als unnötig.309 Bei der analogischen Rechtsfortbildung zeigen die zu vergleichenden Fälle eine deutliche strukturelle Ähnlichkeit. Diese strukturelle Ähnlichkeit rechtlicher Natur geht jedoch unter, weil sie nicht in den Anwendungsbereich der ratio legis des § 32 StGB fällt:310 Die Anforderungen „rechtswidriger Angriff“ und „gegenwärtiger Angriff“ seien unverzichtbar.311 Das RStGB regelte den Irrtum in § 59 Abs. 1. Nach dieser Norm war nur die unvermeidbare Unkenntnis über einen zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden Umstand relevant für den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortung. Im Gegensatz dazu war die Unkenntnis des Verbots nicht relevant für das Strafrecht.312 Da sich der BGH bei der Schöpfung des übergesetzlichen Verbotsirrtums für die sog. „Schuldlehre“ entschieden hat,313 hat er § 59 Abs. 1 so interpretiert, dass es beim Verbotsirrtum um eine Schuldfrage geht und die Vorschrift sich nur mit dem Ausschluss subjektiver Tatbestandsmäßigkeit beschäftigt.314 Das bedeutet, dass die Gesetzessinnähnlichkeit trotz der strukturellen Ähnlichkeit fehlte.

306 Wachinger, in: Frank-FS, I, S. 247; Würzburger, Das Recht, S. 79; v. Hippel, Deutsches, S. 224 f.; Mayer, M., AT, S. 304; Jescheck/Weigend, AT, S. 359; Broglio, Der strafrechtliche, S. 10; Freund, AT, § 3, Rn. 77, S. 89; Bergenroth, Der übergesetzliche, S. 7; Mezger, Tratado, I, S. 432 f.; Eser, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 54 f. Auch RGSt. 61, 252. 307 v. Hippel, Deutsches, S. 225 f.; Roxin, AT, I, § 16, Rn. 2; Grünhut, ZStW (1931) 51, S. 458, 460. 308 Buchkremer, Präventive Verteidigung, S. 69. 309 MüKo-Herzog, § 32, Rn. 29. 310 Andere Meinung, Kudlich, Die Unterstützung, S. 266, Fn. 396. 311 Dazu Jescheck/Weigend, AT, S. 337; Jakobs, AT, Abs. 11, Rn. 3; Kühl, AT, § 7, Rn. 42; LK/Spendel, § 32, Rn. 11 ff.; Schönke/Schröder-Perron, § 32, Rn. 3, 17; NK/ Herzog, § 32, Rn. 3, 32; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 325–326. 312 Roxin, AT, I, § 21, Rn. 5; Felip i Saborit, Error iuris, S. 28; Belfiore, in: Fiandaca (Hrsg.), Sistema penale in transizione e ruolo del diritto giurisprudenziale, S. 56. In der Rechtsprechung vgl. BGHSt. 2, S. 205. 313 Wessels/Beulke, AT, § 11, Rn. 465; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 21, Rn. 39; NK/Neumann, § 17, Rn. 1; MüKo-Joecks § 17, Rn. 1; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben, § 17, Rn. 3; Felip i Saborit, Error iuris, S. 46; Fiandaca, in: ders. (Hrsg.), Sistema penale in transizione e ruolo del diritto giurisprudenziale, S. 9; Belfiore, in: Fiandaca (Hrsg.), Sistema penale in transizione e ruolo del diritto giurisprudenziale, S. 58. 314 BGHSt. 2, S. 203–204.

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Die oben genannten Gesetzesregelungen, die durch die Analogie legis nicht ausgedehnt werden können, befinden sich nicht etwa ungeordnet im StGB, in der Strafrechtslehre und in der Rechtsprechung aufgelistet bzw. erwähnt, sondern sie sind Teil abstrakterer „Rechtskörper“, die mit dem Namen Strafrechtsinstitutionen bezeichnet werden können. Jede dieser Institutionen erfasst ein konkretes „Universum von Fällen“315 und verbindet es mit einer konkreten strafrechtlichen Lösung. Der rechtfertigende Notstand und die Notwehr beziehen sich z. B. auf allgemeine Notlagen, in denen das gerettete Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt und deren strafrechtliche Behandlung im Ergebnis die Straflosigkeit wegen der Rechtmäßigkeit der Tat ist.316 Deshalb integrieren §§ 32 und 34 StGB die Rechtfertigungsinstitution. Die Schuldausschließung sammelt ein „Universum von Fällen“, das diejenigen Situationen bezeichnet, in denen der Täter etwa wegen seelischer Störungen, Unreife oder Rechtsunkenntnis unfähig ist, die Verhaltensnorm zu erfüllen. Dieses „Universum von Fällen“ bekommt eine einwandfreie strafrechtliche Lösung, nämlich die, den Schuldvorwurf aufzuheben. So verkörpern die Schuldunfähigkeitsgründe, der Verbotsirrtum und die Entschuldigungsgründe die Schuldausschließungsinstitution. Nicht selten existieren Fälle, die weder unter den Wortlaut eines gesetzlichen Straffreistellungsgrundes noch unter deren ratio legis fallen, die aber von einem institutionellen Prinzip umfasst sind.317 Ebenso wie die Ausdehnung einer Rechtslösung durch Gesetzesanalogie gerechtfertigt ist, wenn der von der Gesetzeslücke erfasste Fall unter den Anwendungsbereich der konkreten ratio legis fällt, ist die Ausdehnung einer strafrechtlichen Institutionslösung auf einen solchen gesetzlich nicht geregelten Ausnahmefall anzunehmen, wenn der entsprechende institutionelle Grundsatz auf den Fall anwendbar ist.318 Bei der Analogie legis in bonam partem ist die Regelung eines konkreten Straffreistellungsgrundes ausgedehnt und bei der Analogie institutionis in bonam partem die Regelung einer strafrechtlichen Institution. Deshalb stammt dieser auf Grundlage der Institutionsanalogie erschaffene übergesetzliche Straffreistellungsgrund aus einem institutionellen Prinzip. Eine solche Rechtsfortbildungsmethode ist im Strafrecht keineswegs unbekannt. Hans-Ludwig Günther etwa entscheidet sich explizit für dieses analogische Argument, wenn er die Entstehung der strafrechtlichen Einwilligung, der 315 Zum Begriff „Universum von Fällen“, vgl. Alchourrón/Bulygin, Normative Systeme, S. 42, 168 ff. 316 „Die überwiegenden Interessen“ seien ein gemeinsamer Rechtsgrundsatz von Notstand und Notwehr schon im Jahr 1871 gewesen, vgl. Rüdorff, § 53, Strafgesetzbuch, Fn. 3. 317 Zu den strafrechtlichen Institutionsprinzipien, s. oben S. 60 ff. 318 Kürzlich sprach Jakobs im Rahmen der Rechtfertigungsinstitution vom Prinzip der Veranlassung und dem Prinzip des Vorrangs öffentlichen Interesses, vgl. Jakobs, System, S. 45 ff.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

mutmaßlichen Einwilligung, des elterlichen Erzieherprivilegs und des Erzieherprivilegs des Lehrers analysiert und in diesem Kontext zum Schluss kommt, dass solche Strafunrechtsausschließungsgründe aus der ratio der Rechtfertigungsinstitution (m. a. W. aus dem institutionellen Prinzip des Strafunrechtsausschlusses) kommen.319 Auch die Rechtsprechung hat m. E. auf diese Analogie zurückgegriffen, als der übergesetzliche rechtfertigende Notstand und der übergesetzliche Verbotsirrtum vom RG und dem BGH anerkannt wurden.320 Obwohl die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe vom RG seit langem anerkannt wurden,321 erschien der Ausdruck „übergesetzlicher rechtfertigender Notstand“ zum ersten Mal in einem Urteil vom 28. Februar 1928.322 Das berühmteste Urteil über den übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand ist vermutlich das, in welchem die Rechtswidrigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs durch den ungeschriebenen Notstand ausgeschlossen wurde, wobei der Figur des Notstands das Rechtsgutsabwägungsprinzip zugrunde lag,323 auf dem alle Rechtfertigungsgründe gründen.324, 325 Der übergesetzliche Verbotsirrtum als Schuldausschließungsgrund findet seinerseits kraft der Erwägung des Schuldprinzips in der Rechtsprechung des BGH Anerkennung,326 im Kontext des Urteils wird dies mit der allgemeinen ratio der Aufhebung des Schuldvorwurfs verknüpft.327 Das argumentative Verfahren der Institutionsanalogie besteht auch aus den zwei Ähnlichkeitsstufen, die bei der Gesetzesanalogie zu prüfen sind, aber eine Vorstufe ist hiervon noch zu trennen bzw. hervorzuheben. Wenn die Schöpfung eines Straffreistellungsgrundes mittels Analogie in bonam partem anfängt, geht 319 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 348 f., 351 f., 354 f. Ähnlich, aber von Günthers Terminologie abweichend, vgl. LK/Hirsch, Vor § 32, Rn. 48. 320 Vgl. m.w. N. Montiel, Analogía, S. 250 ff., 329 ff. 321 Vgl. u. a. RGSt. 34, S. 447 ff.; RGSt. 59, S. 406 ff.; RGSt. 61, S. 244 ff.; RGSt. 63, S. 215 ff. betonte diese Idee in der damaligen Lehre Rathcke, Das Güterabwägungsprinzip, S. 3. 322 RGSt., 62, S. 46: „Es lag dann ein übergesetzlicher Notstand vor . . ., der die Verfolgung der Vorschriften des deutschen Gesetzes unmöglich machte“. 323 RGSt. 61, S. 254. 324 Wachingers Meinung nach existieren andere Urteile des RG, in denen der übergesetzliche rechtfertigende Notstand aus Erwägungen zur mutmaßlichen Eiwilligung der Mutter stamme, vgl. Wachinger, in: Frank-FS, I, S. 487 f. 325 Dieses Urteil sei auch bedeutsam, weil die Rechtsprechung zum ersten Mal die Unterscheidung zwischen dem rechtfertigenden und dem entschuldigenden Notstand anerkenne, vgl. Schmidt, E., ZStW (1929) 49, S. 359. 326 BGHSt. 2, S. 204–205. 327 Obwohl die Annahme vom Verbotsirrtum in Italien auch von übergesetzlichem Recht und konkret vom Schuldprinzip abgeleitet wurde, zeigt die Anerkennung der Ausnahmelücke große Unterschiede zu der deutschen Rechtslage. Dazu vgl. Montiel, Analogía, S. 412 ff.; Felip i Saborit, Error iuris, S. 57 ff.

D. Arten der Analogie in bonam partem

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dieser gewissermaßen eine „Bestandsaufnahme“ von Vorschriften durch den Richter voraus, mit deren Hilfe nach einer analogen Regelung oder Institution gesucht wird.328 Bevor ein Richter eine Ausnahmelücke in dem gesetzlichen System von Straffreistellungsgründen anerkennt und das Recht fortbildet, untersucht er zunächst, ob in dem zu entscheidenden Fall überhaupt eine Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- oder Strafausschließungsfrage zu klären ist; d.h. ob der Grund der eventuellen Straflosigkeit das Vorliegen eines Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- oder Strafausschließungsgrundes ist.329 Wenn der Richter diese Frage beantwortet hat, darf er das konkrete normative System, das von der Ausnahmelücke betroffen ist, und den konkreten normativen Stoff (Straffreistellungsgrund oder strafrechtliche Institution) heranziehen, der für den Sachverhalt analogiefähig ist.330 Das Nichtvorliegen der Analogiefähigkeit eines gesetzlichen Straffreistellungsgrundes erfordert vom Fortbildenden in einem zweiten Schritt die Analyse, ob eine strafrechtliche Institution analogiefähig ist. Wenn der Richter z. B. nach der Vorstufe zu dem Schluss kommt, dass es um ein Rechtfertigungsproblem geht – d.h. das Unrecht der Tat steht in Frage – und kein Rechtfertigungsgrund den Fall erfasst, sollte er nach der Analogiefähigkeit der Rechtfertigungsinstitution fragen. Hierbei kommt also die Analyse der Ähnlichkeit des gesetzlich nicht geregelten zu entscheidenden Falles mit der Institution, die – wie sämtliche Analogieformen – mit der Bestätigung der strukturellen Ähnlichkeit beginnt und mit der Prüfung der Gesetzessinnähnlichkeit fortsetzt, zur Anwendung. Bei der Findung der faktischen oder strukturellen Ähnlichkeit ist der lückenbehaftete generische Fall nicht mit einer einzelnen Vorschrift zu vergleichen, sondern mit den Vorschriften der ausgewählten Institution der regulierten generischen Fälle. Die Schaffung eines übergesetzlichen Rechtfertigungsgrundes mittels der Analogie institutionis in bonam partem setzt z. B. den Vergleich eines „ausnahmelückenbehafteten“ generischen Falles mit den von §§ 32 und 34 StGB regulierten generischen Fällen voraus. Obwohl die zu vergleichenden Fälle, die die Vorschriften einer strafrechtlichen Institution regulieren, nicht genau gleich sind, teilen sie wichtige Eigenschaften, die die regulierten Fälle miteinander aufgrund einer faktischen Ähnlichkeit verbinden. Soweit der lückenbehaftete generische Fall diese gemeinsamen Eigenschaften enthält, darf der Richter zum Schluss kommen, dass er analog zu dem institutionellen Fall ist und somit die erste Stufe des institutionsanalogischen Arguments erfüllt ist.

328 Über diese „Vorschriftenbestandsaufnahme“ beim Urteil der übergesetzlichen Rechtfertigung vom Schwangerschaftsabbruch, s. Bergenroth, Der übergesetzliche, S. 7. 329 Die große Bedeutung dieser Stufe betonend, Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 329. 330 Das RG hat aber den übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand von § 54 RStGB in seltenen Urteilen falsch abgeleitet, vgl. RGSt. 63, S. 34.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

Solche gemeinsamen Eigenschaften der zu vergleichenden gesetzlichen Straffreistellungsgründe bilden einen abstrakteren und allgemeineren generischen Fall, der nicht dem in einer einzelnen Vorschrift regulierten Fall angeglichen ist, sondern dem institutionellen generischen Fall. Das bedeutet, dass aus den einzelnen Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- und Strafausschließungsgründen der von der konkreten Institution regulierte generische Fall abgeleitet werden kann und dass auch die Institution die konkrete straffreistellende Lösung (Unrechts-, Schuld- oder Strafausschluss) ausschließlich auf den konkreten institutionellen generischen Fall beschränkt. Umgekehrt ist etwa die Ausdehnung der rechtlichen Lösung von der Rechtfertigung auf einen lückenbehafteten generischen Fall der Schuldausschließungsinstitution nicht gerechtfertigt. Diese strenge Korrelation zwischen den institutionellen Fällen und den institutionellen Lösungen drückt die normative Struktur des sogenannten Institutionsprinzips aus.331 Die institutionellen Grundsätze sind ein Hauptstück bei der Bestimmung der Gesetzessinnähnlichkeit im Rahmen der Analogie institutionis in bonam partem ebenso wie die rationes legis bei der Gesetzesanalogie zugunsten des Täters. Der Identitätssinn zeigt, dass die „ausnahmelückenbehafteten“ Fälle unter den „Anwendungsbereich“ der straffreistellenden Institution fallen, obwohl keine gesetzliche Vorschrift anwendbar ist. So kann trotz der strukturellen oder morphologischen Ähnlichkeit die Analogiefähigkeit einer straffreistellenden Institution fehlen, wenn die rechtlichen Gründe für die Rechtfertigung, Entschuldigung oder Strafausschließung im zu vergleichenden Fall nicht vorliegen. b) Obwohl dieses argumentative Verfahren der Vergleichungsstufe in den schon erwähnten Urteilen des RG und des BGH nicht deutlich ausgedrückt wird, kann behauptet werden, dass der übergesetzliche rechtfertigende Notstand und der übergesetzliche Verbotsirrtum Produkte der Institutionsanalogie in bonam partem waren. Die Gerichte entwickelten die Lehre der übergesetzlichen Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe aus der ratio oder den Grundlagen der Rechtfertigung oder des Schuldausschlusses. Die institutionelle Natur wird vielmehr in der Schöpfungsphase des analogischen Denkens relevant, wo die Richter die übergesetzlichen Straffreistellungsgründe mithilfe des Prinzips der überwiegenden Interessen und des Schuldprinzips herauskristallisieren. Die Schöpfungsphase der Argumentation beim übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand scheint in dem reichsgerichtlichen Urteil zum Schwangerschaftsabbruch von 11. März 1927 besonders deutlich zu werden. Dort äußerte das RG: „Der Grundsatz der Güterabwägung führt auch zu einer befriedigenden Lösung der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die ärztlich angezeigte Schwangerschaftsunterbrechung rechtlich zulässig ist.“ 332

331 332

Über diese Prinzipien, siehe oben S. 68 ff. RGSt. 61, S. 254.

D. Arten der Analogie in bonam partem

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In diesem Sinn diente der Grundsatz der Güterabwägung wie ein außerrechtlicher „Baustoff“ für den neuen Rechtfertigungsgrund, indem dieses Prinzip ein Vorbild für den Tatbestand und die Rechtslösung der übergesetzlichen Regelung anbot. Obwohl das RG nicht zur Natur des Grundsatzes der überwiegenden Interessen Stellung nahm, d.h. nicht klärte, ob der Grundsatz ratio legis eines Rechtfertigungsgrundes ist oder institutionelles Prinzip, etc., ergibt sich doch aus seiner Argumentation unschwer,333 dass darin ein institutioneller Grundsatz gesehen wird, m. a. W. die ratio der Rechtfertigung. Hintergrundgeräusch der Schaffung des übergesetzlichen rechtfertigenden Notstandes war die Diskussion über die Grundlagen der Rechtfertigung, in der sich die Güterabwägungstheorie334 und die Zwecktheorie335 gegenüberstehen. Diese Diskussion schlug sich in der Rechtsprechung nieder und auch in damaligen dogmatischen Abhandlungen wurden sowohl das Prinzip der überwiegenden Interessen als auch die Zwecktheorie reichlich erwähnt. Dieser Konflikt findet auch in diesem Urteil seinen Niederschlag. Dort bestätigt das RG den Freispruch der Angeklagten durch das Oberlandesgericht. Dieses hatte sein Urteil allerdings auf die Zwecktheorie gestützt.336 Das RG lehnte diese ab und nahm stattdessen den Grundsatz der Güter- und Pflichtenabwägung als Grundlage des übergesetzlichen rechtfertigenden Notstands an.337 Das RG kritisierte das Urteil des Oberlandesgerichts, weil dieses in seiner Entscheidung einen aus der Zwecktheorie stammenden Grundsatz zugrunde gelegt hatte.338 Endlich sprach sich das RG in der folgenden Weise für den Grundsatz der Güterabwägung aus.339, 340 Obwohl uns das allgemein benutzte „Etikett“ vom Prinzip der überwiegenden Interessen oder vom Prinzip des vom Recht verfolgten Zwecks behaupten lässt, dass es um allgemeine Rechtsprinzipien und nicht um Institutionsprinzipien gehe, diskutieren die Güterabwägungstheorie und die Zwecktheorie über die 333

Das wurde von der damaligen Lehre kritisiert, vgl. Schmidt, E., ZStW (1929) 49, S. 362. 334 Als damalige Vertreter dieser Lehre Jansen, Pflichtenkollisionen, S. 23 ff. Für diese These in der heutigen Lehre u. a. Schönke/Schröder-Cramer/Heine/Lenckner, Vor § 32 ff., Rn. 28; Lenckner, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 494 ff.; Molina Fernández, RDPC (2000) 1, S. 204 ff.; Freund, AT, § 3, Rn. 4; NK/Paeffgen, Vor §§ 32 ff., Rn. 46; Rudolphi, in: Armin Kaufmann-GS, S. 396– 397. Merkel, in: „Die Kollision rechtmäßiger Interessen und die Schadensersatzpflicht bei rechtmäßigen Handlungen“ hat zum ersten Mal dieses Prinzip anerkannt, vgl. Bergenroth, Der übergesetzliche, S. 22. 335 Als damalige Vertreter dieser Lehre v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch, S. 178; Schmidt, E., SJZ (1949), S. 565. 336 RGSt. 61, S. 244. 337 RGSt. 61, S. 244 ff. 338 RGSt. 61, S. 253. 339 RGSt. 61, S. 254. 340 Das Urteil anders interpretierend, Wachinger, in: Frank-FS, I, S. 470, 475 f.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

Grundlagen der Rechtfertigung und nicht über die Grundlagen des Rechts oder des Notstandes oder der Notwehr. Die Natur des Prinzips des überwiegenden Interesses weist aber einige Unklarheiten in der strafrechtlichen Lehre auf. Da das Recht immer die überwiegenden Interessen oder Rechtsgüter vorrangig behandelt, versteht ein Teil der Lehre dies so, als ginge es dabei um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz; d.h. ein Prinzip, das keine strafrechtliche Institution, sondern das ganze Recht begründet.341 Eine andere Meinung geht noch weiter und stellt fest, dass das Prinzip der überwiegenden Interessen ein grundlegendes Prinzip der praktischen Philosophie342 oder ein regulativ inhaltsloser Grundsatz343 ist. Trotzdem verteidigt die vermutlich herrschende Auffassung die These der institutionellen Natur.344 Dieses Verfahren der Strafrechtsfortbildung endete mit der Schöpfung der übergesetzlichen Regelung, die m. E. die rechtliche Lösung (etwa die Rechtmäßigkeit einer tatbestandsmäßigen Tat) und die Anwendungsvoraussetzungen der ausgedehnten Institution besitzt. Dem richterlichen rechtfertigenden Notstand nach handelt nicht rechtswidrig, wer einen Straftatbestand in einer Notlage erfüllt. Beim Urteil vom Schwangerschaftsabbruch sagte das RG, dass der Arzt nicht rechtswidrig handelte, als er eine Schwangerschaft in einer Notlage für die Schwangere tatbestandsmäßig abgebrochen hatte, weil eine straffreistellende Institution seine Tat übergesetzlich erlaubte. Besonders deutlich drückte das RG vier Merkmale des übergesetzlichen Notstandstatbestandes – d.h. die Anwendungsvoraussetzungen der rechtfertigenden Notstandsnorm – in diesem Urteil aus:345 – „Es muss [. . .] eine gegenwärtige, auf andere Weise nicht zu beseitigende Gefahr für die Schwangere vorhanden sein.“ – „Das Vorliegen dieser Voraussetzung [die Gefahr] bedarf einer besonders strengen Prüfung anhand der Regeln der ärztlichen Wissenschaft, zu der ein Nichtarzt zumeist nicht in der Lage sein wird.“ – „Schwere Gesundheitsschädigung des behandelten Menschen ist höher zu bewerten als der Verlust des Lebens der Leibesfrucht.“ – „Eine notwendige Bedingung hierfür ist aber die wirkliche oder mutmaßliche Einwilligung der Schwangeren.“ 341 Amelung, in: Schünemann (Hrsg.), El sistema moderno del Derecho penal: cuestiones fundamentales, S. 103; Roxin, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 235; Otto, Grundkurs, § 8, Rn. 241. Über die Äußerung dieses Prinzips im Zivilrecht (insbesondere in §§ 904 und 228 BGB), vgl. Rathcke, Das Güterabwägungsprinzip, S. 2. 342 Molina Fernández, RDPC (2000) 1, S. 207 ff.; ders., in: González-Cuéllar García-FS, S. 382. Ähnlich, Rathcke, Das Güterabwägungsprinzip, S. 22 ff. 343 Henkel, in: Mezger-FS, S. 304. 344 U. a. Lenckner, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 496–495; Baldó Lavilla, Estado de necesidad, S. 44. 345 RGSt. 61, S. 255 f.

D. Arten der Analogie in bonam partem

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Diese Voraussetzungen kamen aus dem Grundsatz der Güterabwägung i. S. eines institutionellen Prinzips und bedeuten eine Konkretisierung des allgemeinen von der Rechtfertigungsinstitution regulierten „Universums von Fällen“. Mit der Formulierung des RG, „[d]er Grundsatz der Güterabwägung führt auch zu einer befriedigenden Lösung der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die ärztlich angezeigte Schwangerschaftsunterbrechung rechtlich zulässig ist“346, wird dem Richter die Aufgabe übertragen, diese Voraussetzungen zu suchen, zu finden und sie dann in die Form einer übergesetzlichen Norm zu gießen. Der BGH schloss seinerseits eine Ausnahmelücke, die das reichsstrafgesetzliche Schuldausschließungssystem bezüglich des Verbotsirrtums aufwies, durch eine vom Schuldprinzip gestützte richterliche Rechtsschöpfung. Da das Schuldprinzip aber ein allgemeingültiger Grundsatz des ganzen Strafrechts ist (nullum crimen sine culpa)347, könnte es sich vielmehr um eine Rechtsanalogie in bonam partem anstatt um eine Institutionsanalogie handeln.348 Trotzdem kann ausgehend von den Argumenten des BGH in dem berühmten Urteil vom 18. März 1952349 zweifellos davon ausgegangen werden, dass das Schuldprinzip als ein institutioneller Grundsatz bei der Fortbildung des Schuldausschließungssystems diente.350 Da das Schuldprinzip vom BGH in der Schuld platziert wurde, ähnelt dieser Grundsatz dem Prinzip der (Un)Zumutbarkeit. Dieses Prinzip besitzt nach wohl herrschender, aber bestrittener351 Meinung eine institutionelle Natur352. Die Diskussion über die Natur des Prinzips der (Un)Zumutbarkeit führte in der alten und heutigen Lehre noch zu keinem Ergebnis.353

346

RGSt., 61, S. 254. Jescheck/Weigend, AT, S. 23 ff. 348 Eine analoge Ausdehnung von § 59 Abs. 1 RStGB – nämlich eine Gesetzesanalogie in bonam partem – ist schon abzulehnen, weil der BGH der Schuldtheorie anstatt der Vorsatztheorie folgte. Vgl. BGHSt. 2, S. 20. 349 Über die historische Bedeutung des Urteils, Jescheck/Weigend, AT, S. 452; Roxin, AT, I, § 21, Rn. 7; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben, § 17, Rn. 2. 350 BGHSt. 2, S. 194 ff. 351 Diese halten es für ein allgemeines Strafrechtsprinzip, Kindhäuser, AT, § 21, Rn. 13; Momsen, Die Zumutbarkeit, S. 39 f., 73; Schönke/Schröder-Cramer/Heine/ Lenckner, Vor §§ 32 ff., Rn. 110, 126; ein allgemeines Rechtsprinzip, vgl. Henkel, in: Mezger-FS, S. 268 ff., 276 ff., 281 ff.; Aguado Correa, Inexigibilidad, S. 39. 352 U. a. Gropp, AT, § 7, Rn. 106; Jakobs, AT, Abs. 17, Rn. 53, Abs. 20, Rn. 45; Jescheck/Weigend, AT, S. 477; Wessels/Beulke, AT, § 10, Rn. 433; Baumann/Weber/ Mitsch, AT, § 23, Rn. 7; Kitzinger, JW (1933) 7, S. 406; Watzka, Die Zumutbarkeit, S. 78; MüKo-Schlehofer, Vor §§ 32 ff., Rn. 273; Sainz Cantero, La exigibilidad, S. 55. Diese These sei nicht von der herrschenden Auffassung vertreten, Wittig, JZ (1969), S. 546. 353 Über die Geschichte dieser Diskussion in der deutschen Lehre, vgl. Moos, ZStW (2004) 116, S. 894 ff.; Montiel, Analogía, S. 384 ff. 347

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

Obwohl die Frage, ob das Schuldprinzip die Rolle eines allgemeinen Strafrechtsprinzips oder eines institutionellen Prinzips einnehmen soll, nicht ganz klar erschien, zeigten die vom BGH angebotenen analogischen Argumente eine starke Verbindung mit den Grundlagen der Schuld als Element der Straftatlehre. Ausdrücklich argumentiert der BGH mit dem Schuldprinzip im Kontext des Schuldvorwurfes und insbesondere im Zusammenhang mit dem Bewusstsein der Rechtswidrigkeit als Voraussetzung des Schuldbegriffs.354 In diesem Zusammenhang stellte der BGH fest: „Der vom Reichsgericht übernommene und unbeirrt festgehaltene Satz, der Irrtum über das Strafgesetz schließe die Strafbarkeit nicht aus, führt demnach bei unverschuldetem Verbotsirrtum zur Bestrafung, obwohl ein Schuldvorwurf gegen den Täter nicht erhoben werden kann und damit zur Verletzung des unantastbaren Grundsatzes allen Strafens, dass Strafe Schuld voraussetzt.“ 355 „Die Schuldausschließungsgründe sind im gesetzten Recht nicht abschließend geregelt . . .[,] denn es hat ohne gesetzliche Regelung die Unzumutbarkeit der Schädigung eigener billigenswerter Interessen bei den Unterlassungsdelikten und bei den fahrlässigen Delikten als Schuldausschließungsgrund anerkannt. Befugnis und Verpflichtung der Rechtsprechung, neue, den Schuldgrundsatz voll zur Geltung bringende Rechtssätze für die Behandlung des Verbotirrtums zu entwickeln, stehen daher außer allem Zweifel.“ 356

4. Rechtsanalogie in bonam partem: Begriff, Struktur und Fälle Bei der Rechtsanalogie in bonam partem folgt der richterliche Straffreistellungsgrund aus allgemeinen Grundsätzen, auf denen die ganze Rechts- oder Strafrechtsordnung gründet.357 Der Richter greift hierbei auf die rationes oder Grundlagen des Rechts oder des Strafrechts zurück. Dagegen befürworten einige Stimmen in der Lehre die Verbindung der Analogie iuris nicht nur mit solchen „rechtspositivistischen“ Grundsätzen, sondern auch mit denjeniegen, welche aus dem Naturrecht stammen, etwa dem Prinzip neminen leadere, Treu-und-Glauben, etc.358 Solche Prinzipien würden eine wichtige Rolle nicht nur bei der Gesetzgebung – i. S. v. Grundgedanken, die die gesetzgeberische Aufgabe leiten – sondern auch beim richterlichen Denken spielen, insbesondere bei der Auslegung und Anwen354

Vgl. BGHSt. 2, S. 199 ff. BGHSt. 2, S. 202. 356 BGHSt. 2, S. 204. 357 Falcón y Tella, El argumento, S. 86 f.; Salguero, Argumentación, S. 172 ff. 358 Zu dieser Diskussion, vgl. Salguero, Argumentación, S. 172 ff. Gegen die Annahme von naturrechtlichen Prinzipien bei der Rechtsanalogie Guastini, Estudios5, S. 154 f.; Röhl/Röhl, Allgemeine3, § 33, S. 289. 355

D. Arten der Analogie in bonam partem

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dung des Rechts. Die strafrechtliche Lehre hat die Funktion dieser Prinzipien auch bei der Fortbildung der gesetzlichen Systeme von Straffreistellungsgründen betont,359 insbesondere bei den übergesetzlichen Schuldausschließungsgründen. Peter Wittig versteht die Unzumutbarkeit als ein im GG eingebundenes allgemeines Rechtsprinzip,360 welches die Verbreitung des gesetzgeberischen Katalogs von Entschuldigungsgründen ermöglicht.361 Lücke bietet seinerseits eine Variante dieser Auffassung an, wonach die übergesetzlichen Entschuldigungsgründe aus dem Treu-und-Glauben-Grundsatz abgeleitet werden, der nicht nur im Zivilrecht gilt (§ 242 BGB), sondern auch im Öffentlichen Recht und Strafrecht, wo die Unzumutbarkeit ihrerseits das Prinzip von Treu-und-Glauben kristallisiere362. Auch Belfiore363 weist in der italienischen Literatur darauf hin, dass der vom Corte Costituzionale im Jahre 1988 anerkannte übergesetzliche Verbotsirrtum ebenfalls vom Treu-und-Glauben-Prinzip (als allgemeinem Rechtsgrundsatz) ableitet wurde.364 Der Nutzen dieses Arguments als einer Art Analogie ist umstritten, u. a. weil das Hauptmoment dieses Denkens – die Vergleichungsstufe – bei der Rechtsanalogie fast verschwunden ist. Die Feststellung der morphologischen oder strukturellen Ähnlichkeit zwischen den lückenbehafteten und lückenlosen Fällen wird bei der Rechtsanalogie besonders schwierig, weil Fälle ganz unterschiedlicher Konstellationen gegenübergestellt werden. Mit anderen Worten: Die vergleichenden Elemente gehören nicht zum gleichen „Universum von Fällen“. Der Treu-undGlauben-Grundsatz kann als gutes Beispiel dienen. In der Straftatlehre ist der Ausschluss der Straflosigkeit bei einer provozierten Notlage i. S. v. § 35 StGB oder einem provozierten rechtswidrigen Angriff eine Ausprägung des Treu-undGlauben-Prinzips.365 In diesem Bereich bedeutet das Prinzip, dass der Provozierende aus seiner eigenen „Schuld“ keinen Nutzen ziehen darf. Aber ein solcher Grundsatz gilt auch im Zivilrecht bei der Theorie des Vertrages und ebenso im Öffentlichen Recht. Welche strukturelle Analogie gibt es zwischen den Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsfällen und der Auslegung des privatrechtlichen Vertrages? Gar keine. Die zu vergleichenden Fälle sind so unterschiedlich, dass eine 359 U. a. Noll, Übergesetzliche, S. 14–15; Delitala, Rivista Italiana di Diritto penale (1936), S. 611; Fornasari, in: Fiandaca (Hrsg.), Sistema penale in transizione e ruolo del diritto giurisprudenziale, S. 43. 360 Ähnlich Krey, JZ (1978), S. 365. 361 Wittig, JZ (1969), S. 547 ff. 362 Lücke, JR (1975) 2, S. 57–58. 363 Belfiore, in: Fiandaca (Hrsg.), Sistema penale in transizione e ruolo del diritto giurisprudenziale, S. 62. 364 Vgl. Antolisei, PG, S. 406; Belfiore, in: Fiandaca (Hrsg.), Sistema penale in transizione e ruolo del diritto giurisprudenziale, S. 62; Fiandaca, in: ders. (Hrsg.), Sistema penale in transizione e ruolo del diritto giurisprudenziale, S. 8 ff.; Crespi/Stella/Zuccalà-Pulitanò, Art. 5, Rn. I 1; Felip i Saborit, Error iuris, S. 60 ff. 365 Ähnlich Lücke, JR (1975) 2, S. 57 f.

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1. Kap.: Was ist die „Analogie‘‘ in bonam partem?

morphologische Ähnlichkeit überhaupt nicht sinnvoll beschreibbar ist. Einzig die Gesetzessinnähnlichkeit ist vorhanden, jedoch sehr schwach, weil die allgemeinen Rechts- oder Strafrechtsgrundsätze so umfangreich und abstrakt sind, dass sich die unterschiedlichen Fälle nach diesen Prinzipien ähneln. Treffend stellt Sunstein366 die analogische Natur der Rechtsanalogie in Frage, weil sich das analogische Denken dadurch auszeichne, dass der Richter mit unvollständig theoretisierten Argumenten und mit wenig abstrakten Prinzipien arbeite.367 Die Analogie iuris ähnle der Lehre von reflexive balance, sei aber kein analogisches Argument368. Neben dieser schwachen Ähnlichkeitsstufe steht auch eine Schöpfungsstufe, die letztlich das Zentralmoment der Analogie iuris in bonam partem ist. Die Rechtsanalogie ist i. w. S. reine richterliche Rechtsschöpfung. Die allgemeinen Rechts- oder Strafrechtsprinzipien bieten dem Richter ein breites Muster für die künftige übergesetzliche Regelung. Da solche Prinzipien mit einem generischen Fall oder einem „Universum von Fällen“ und einer strafrechtlichen Lösung tatsächlich nicht verbunden sind, sondern sie Richtlinien oder einfach Optimierungsgebote sind,369 besitzt der Richter einen breiten Ermessensspielraum für die Feststellung des generischen Falles und der Lösung mittels der übergesetzlichen Norm. Das Fehlen einer mit dem allgemeinen Grundsatz verbundenen Rechtslösung ermächtigt den Richter, fast frei die Frage zu entscheiden, ob die Rechtfertigung, der Schuldausschluss oder der Strafausschluss vorhanden sind.

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Sunstein, Harvard Law Review (1992–1993), S. 746. Übt auch Kritik gegenüber dem methodischen Status der Rechtsanalogie, Puppe, Kleine Schule, S. 119. 368 Sunstein, Harvard Law Review (1992–1993), S. 753. 369 Ausführlich siehe S. 60 ff. 367

Zweites Kapitel

Die Grundlagen der Analogie in bonam partem A. Einleitung: Die Bedeutung des Gesetzlichkeitsprinzips als beschränkende Regel strafrechtlicher Staatsfunktionen* Es ist in der strafrechtlichen Diskussion schon lange bekannt, dass aus dem Gesetzlichkeitsprinzip vier Gebote abgeleitet werden können, deren Adressaten der Richter, die Exekutive und der Gesetzgeber sind: lex stricta, lex scripta, lex certa und lex praevia.1 Obwohl der Hinweis auf ein Gesetz, das stricta, scripta, certa und praevia sein soll, zu Irrtümern führen kann,2 grenzen diese Anforderungen die Staatskompetenzen insofern ab, als sie die den Behörden in Strafsachen erlaubten Aktivitäten bestimmen. Das Bestimmtheitsgebot regiert das gesetzgebende Verfahren, weil es eine deutliche Umschreibung des Tatbestandes und des Strafrahmens erfordert.3 Daneben darf der Richter einzig geschriebene Regelungen – Gesetze i. e. S. – als Strafrechtsquelle anerkennen und die analoge Ausdehnung von Tatbeständen und die willkürliche Gesetzesauslegung sind ausgeschlossen. Das Hauptziel des Gesetzlichkeitsprinzips ist somit, die konkreten Staatskompetenzen zu bestimmen: die Herstellung der Gesetzgebung, die Feststellung von Strafrechtsquellen, die Strafgesetzesauslegung, die Strafgesetzesanwendung und die Strafrechtsfortbildung. Das Gesetzlichkeitsprinzip bestimmt, wer in welchem Maße welche Kompetenzen ausüben darf.4 Die Gesetzlichkeit trägt einen entscheidenden Gesichtspunkt zu unserer Analyse bei. Wenn von der Analogie in bonam partem die Rede ist, maßt der Richter sich an, bei Anerkennung einer Ausnahmelücke gegen die Gesetzgebung zu opponieren und darüber hinaus aber auch, das gesetzgeberische System durch Ein-

* Von diesem Abschnitt bis zum Ende Übersetzung von Johan Melchior Reiser, München. 1 Diese vier Gebote erschienen deutlich schon in Feuerbach, Lehrbuch, § 20, S. 41. 2 Dazu ausführlich Montiel, Analogía, S. 39 ff. 3 Kudlich, JA (2007) 2, S. 91. Trotzdem fragt man sich heuzutage, ob das Bestimmtheitsgebot noch den Richter als Adressaten hat, vgl. Kuhlen, in: Kudlich/Montiel/ Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 433 ff. 4 Bockelmann/Volk, AT, S. 9 ff.; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 9, Rn. 4; Schmidhäuser, Lehrbuch, § 5, Rn. 14.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

fügung einer richterrechtlichen Regelung zu ändern. Hier stellt sich nun eine wichtige Frage, die bisher in den vorliegenden Ausführungen noch nicht beleuchtet wurde: Darf der Strafrichter gegen die Gesetzgebung opponieren? Oder einfacher: Darf die Judikatur das gesetzliche Strafrecht fortbilden? Diese Fragen zielen auf die Legitimität der Richter ab, denn man fragt danach, ob die Judikatur eine die Gesetzgebung kritisierende Rolle einnehmen und gesetzgeberische Kompetenzen annehmen darf. Ob der Richter für diese Tätigkeit legitimiert ist, ist eine Frage, deren Antwort nur vom Gesetzlichkeitsprinzip gegeben werden kann. Der deutschen5 und ausländischen6 herrschenden Meinung nach verstoße die analogische Anerkennung von übergesetzlichen Straffreistellungsgründen nicht gegen das Gesetzlichkeitsprinzip und infolgedessen gelte das Analogieverbot nur bei der Strafbegründung und der Strafverschärfung. Der Richter dürfe also analogische Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs-, und Straffreistellungsgründe anerkennen. So eine einfache Antwort auf die Frage nach der Legitimität des Richters ist aber m. E. oberflächlich, weil sie die konkreten Eigenschaften der Strafrechtsfortbildung übersieht. Wie oben dargestellt wurde, ändert sich die Vorgehensweise des Richters abhängig von der jeweiligen Analogieart. Die Rolle der verschiedenen Vorschriften und der Rechtsgrundsätze ist in den Phasen der Argumentation, die die Analogie gründet und stützt, unterschiedlich. Gleiches gilt für den Grad an Gesetzesbindung. Aber die Rechtfertigung, der Schuldausschluss und der Strafausschluss sind verschiedenartige Institutionen, deren Natur deshalb auch eine unterschiedliche Behandlung der Analogie rechtfertigt. Beide Aspekte sind für die Frage nach der Legitimation der Richter zur Strafrechtsfortbildung nicht unwesentlich. Im Hintergrund der Frage nach richterlicher Legitimität in o. g. Sinn steht eine rechtspolitische oder rechtsstaatliche und eine strafrechtliche Problematik. Hier wird danach gefragt, ob der Richter ausnahmsweise gesetzgeberische Zuständigkeiten übernehmen darf, ohne hierdurch gegen das Grundgesetz zu verstoßen, und in welchem Ausmaß die übergesetzliche Straflosigkeit angenommen werden

5 Etwa Roxin, AT, I, § 5, Rn. 40–44; Jescheck/Weigend, AT, S. 136; Baumann/ Weber/Mitsch, AT, § 9, Rn. 99 f.; Schmidhäuser, Lehrbuch, § 5, Rn. 24; Jakobs, AT, Abs. 4, Rn. 44; Wessels/Beulke, AT, § 2, Rn. 54; MüKo-Schmitz, § 1, Rn. 60; Hassemer, Einführung, § 27, S. 270; Kuhlen, Die verfassungskonforme, S. 102; Noll, Übergesetzliche, S. 2 f.; Erb, ZStW (1996) 108, S. 271; Hellmann, Die Anwendbarkeit, S. 102; LK/Gribbohm, § 1, Rn. 77. 6 Etwa Fuchs, AT, 4. Abs. 4, Rn. 32; Delitala, Rivista Italiana di Diritto penale (1936), S. 605 ff.; Antolisei, PG, S. 307; Mir Puig, PG, Abs. 4, Rn. 42; Luzón Peña, PG, I, S. 93, 137; Baldó Lavilla, in: Roxin-FS, S. 382; Ferreres Comella, El principio, S. 94; Gimbernat Ordeig, Concepto y método, S. 61; Silva Sánchez, Aproximación, S. 193 f.; de Queiroz, Separado del n ë VII de „Archivos do Ministerio de Justicia e Negocios interiores“, S. 20; de Figueiredo Dias, PG, I, S. 193.

A. Gesetzlichkeitsprinzip als Regel strafrechtlicher Staatsfunktionen

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kann, ohne die auf Prävention gerichtete Ordnung des Strafrechts zu beseitigen. Eine Reihe von Theorien zu den Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips betont ausschließlich einen der genannten Aspekte: Es gibt rechtspolitische7 oder strafrechtliche8 Theorien, je nachdem auf welche Dimension der Problematik man den Schwerpunkt legt. Diese Feststellungen sind aber unvollständig. Das Gesetzlichkeitsprinzip manifestiert eine Reihe von demokratischen und liberalen Postulaten wie den Grundsatz der Gewaltenteilung, das Willkürverbot, den Demokratiegrundsatz, usw.9 Dass die Gesetzlichkeit i. d. S. ein Grundprinzip des gesamten Rechts ist,10 bedeutet aber nicht, dass sie in der Rechtsordnung an sämtlichen Stellen dieselbe Bedeutung hat. Im Gegenteil sind die Anforderungen dieses Prinzips in jedem Rechtsbereich unterschiedlich und man muss die unterschiedlichen Schutzzwecke eines jeden Rechtsgebiets berücksichtigen, um sich an die Besonderheiten der Rechtsbereiche anpassen zu können. Die Strafrechtszwecke tragen dazu bei, den konkreten Anwendungsbereich des Gesetzlichkeitsprinzips speziell im und für das Strafrecht festzustellen. Üblicherweise ist es bei der Untersuchung der Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips nicht einfach, die rechtsstaatlichen und strafrechtlichen Wurzeln deutlich voneinander abzugrenzen; in der Literatur scheinen beide Aspekte oft vermischt zu sein. In dieser Abhandlung wird versucht, diese zwei Argumente zu unterscheiden. Schünemann11 und Roxin12 sind die bekanntesten Vertreter der Theorie der doppelten Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips13 in den letzten Jahrzehnten. 7 Für rein oder vorherrschend rechtspolitische Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips, Köhler, M., AT, S. 76; Jiménez de Asúa, Tratado, II, S. 382 f.; ders., La ley, S. 98 f.; Cuello Contreras, PG, Rn. 46. 8 Ortego Costales, Revista de la Facultad de Derecho (1941), S. 63 ff. 9 U. a. Roxin, in: ders., Iniciación al Derecho penal de hoy, S. 102 ff.; ders., AT, I, § 5, Rn. 18–25; Schünemann, Nulla poena, S. 2 ff.; Schmidhäuser, Lehrbuch, § 5, Rn. 8 ff.; ders., Studienbuch, § 3, Rn. 15 ff. 10 Über das allgemeine Gewicht der Gesetzlichkeit in anderen Rechtsgebieten, Ferrajoli, Derecho y razón, S. 379. Ein Beweis dafür ist das beschränkte aber noch geltende Analogieverbot in anderen Rechtsgebieten, vgl. im Steuerrecht AO-Gersch, § 4, Rn. 37 f.; im Zivilrecht etwa MüKo-Weber-Monecke, § 1360 b, Rn. 6; im Verwaltungsrecht Konzak, NVwZ (1997), S. 873; im Umwandlungsrecht, UmwG-Semler, § 1, Rn. 61 f.; im öffentlichen Recht überhaupt, Beaucamp, AöR (2009), S. 86 ff. 11 Schünemann, Nulla poena, passim. 12 Roxin, in: ders., Iniciación al Derecho penal de hoy, S. 102–105; ders., AT, I, § 5, Rn. 18 ff. 13 Befürwortet auch die doppelte Grundlage der Gesetzlichkeit in deutsprachiger Literatur Schmidhäuser, Lehrbuch, § 5, Rn. 8 ff.; ders., Studienbuch, § 3, Rn. 15 ff.; Krey, Keine Strafe, Rn. 122; Kudlich, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 233 ff.; in spanischsprachiger Literatur Bacigalupo, Hacia el nuevo Derecho penal, S. 105 ff.; Vicente Martínez, El principio, S. 28 ff.; Arroyo Zapatero, REDC (1983) 8, S. 12 ff.; in portugiesischsprachiger Literatur, vgl. de Figueiredo Dias, PG, I, S. 179 f.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

Die rechtsstaatliche Wurzel sei mit den Postulaten der Aufklärung verbunden, d.h. mit dem politischen Liberalismus, der Demokratie und der Gewaltenteilung14. Daneben finde die strafrechtliche Wurzel sich auch in Feuerbachs Gesetzlichkeitsidee,15 nach der die Verfolgung generalpräventiver Zwecke abhängig von der Vorhersehbarkeit staatlicher Bestrafung sei; m. a. W. das Bestimmtheitsgebot, das Analogieverbot und das Rückwirkungsverbot würden das Erreichen generalpräventiver Ziele gewährleisten.16 Nach Roxins17 Konzeption trage auch das Schuldprinzip zur strafrechtlichen Begründung der Gesetzlichkeit bei. Insbesondere betont Schünemann in seiner Stellungnahme die teleologische Perspektive des Gesetzlichkeitsprinzips, wobei diese mit der Theorie der doppelten Grundlagen in Zusammenhang steht: Durch das Gesetzlichkeitsprinzip lasse sich das Strafgesetz auslegen, das Gesetzlichkeitsprinzip sei durch die Strafrechtszwecke teleologisch auszulegen; solche Zwecke würden den Anwendungsbereich dieses Prinzips einschränken.18 Die Theorien der doppelten Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips zur Diskussion über den Anwendungsbereich des Analogieverbots sind in zweierlei Hinsicht von großer Bedeutung: Erstens bringen sie zur Sprache, dass die analogische Schöpfung von Straffreistellungsgründen und Strafmilderungsgründen rechtsstaatliche und strafrechtliche Fragen betrifft; zweitens lässt sich mithilfe der teleologischen Auslegung der Gesetzlichkeit deren konkreter Anwendungsbereich im Strafrecht bestimmen. Hier werden trotzdem die zwei Wurzeln umformuliert. Die traditionellen Analysen der rechtsstaatlichen Wurzel konzentrieren sich einzig auf eine falsche Vorstellung des klassischen Konstitutionalismus und liefern keinen Bericht über die Entwicklung des Konstitutionalismus im modernen rechtspolitischen Denken. Die strafrechtliche Wurzel – zumindest wie sie von der Lehre charakterisiert wurde – ist demgegenüber nicht gangbar, weil die These der „Prävention durch Bestimmtheit“ falsch ist und auch eine teleologische Orientierung an den Strafrechtszwecken unvollständig war.

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Schünemann, Nulla poena, S. 1, 9 ff.; Roxin, AT, I, § 5, Rn. 20–21. Feuerbach, Lehrbuch, § 20. 16 Schünemann, Nulla poena, S. 14; Roxin, AT, I, § 5, Rn. 20 f. 17 Roxin, AT, I, § 5, Rn. 24 f. Kritisch zu dieser These, Bacigalupo, El principio, in: ders., Principios constitucionales de derecho penal, S. 47. 18 Schünemann, Nulla poena, passim; ders., in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“, II/2, S. 1304 ff. 15

B. Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips

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B. Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips I. Rechtsstaatliche Wurzeln 1. Problemaufriss Gesetzlichkeit und Konstitutionalismus sind zwei eng miteinander verbundene Konzepte. In einem weiten Sinn ist das Gesetzlichkeitsprinzip mit der zentralen Forderung des Konstitutionalismus verknüpft, d.h., der Unterwerfung des Staates unter das Recht. In einem engeren Sinne bedeutet Gesetzlichkeit die Bindung an das parlamentarische Gesetz als Ausdruck des Volkswillens.19 Gesetzlichkeit erscheint in beiden Bedeutungen als wesentliches Element des Konstitutionalismus; aus diesem Grund sind ihre Funktion und ihr Inhalt zwangsläufig von den Änderungen beeinflusst, die diese Strömung innerhalb des politischen Diskurses erfährt. Gerade der Übergang vom klassischen Konstitutionalismus zu verschiedenen Ausprägungen des Neokonstitutionalismus20 führte zu einem bedeutenden Wandel hinsichtlich der Bedeutung der Gesetzlichkeit und deren Auswirkungen, insbesondere im Hinblick auf die Bindung des Richters an das Gesetz. Es ist klar, dass eine Abhandlung dieser Entwicklung des Konstitutionalismus und eine diesbezügliche Stellungnahme unerlässlich ist, um die Analogie zugunsten des Täters zu begründen, da es sich letztlich um die Befugnis des Richters handelt, Recht zu setzen.21 Im Folgenden werde ich die Entwicklung des Konstitutionalismus grob skizzieren, wobei ich mich auf den klassischen Konstitutionalismus und den radikalen sowie den gemäßigten Neokonstitutionalismus konzentrieren werde. Zudem werde ich aufzeigen, welche Folgen deren jeweiligen Postulate auf die Möglichkeit haben, das Gesetz durch richterliche Rechts(fort)bildung zu korrigieren.22 Innerhalb dieses theoretischen Rahmens werde ich eine Auffassung vertreten, die die richterlichen Befugnisse zum Rückgriff auf die Analogie meines Erachtens am besten begründet. 2. Das Gesetzlichkeitsprinzip im klassischen Konstitutionalismus a) Die Entstehung des Konstitutionalismus als Strömung der juristisch-politischen Lehre hat ihren Ursprung im Aufstieg der ersten Staaten mit einer Rechts19

Dreier, ARSP (1991) 40, S. 85. Vgl. dazu Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), Madrid, 2003, passim. 21 Zu Problemen der Anerkennung der Analogie aus rechtsstaatlicher Perspektive, vgl. Kudlich, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 247 f. 22 Das Binom „klassischer Konstitutionalismus-Neokonstitutionalismus“ entspricht dem in der deutschsprachigen Literatur bekannten Binom „Legalismus-Konstitutionalismus“. Vgl. dazu Dais/Jørgensen/Erh-Soon Tay (Hrsg.), Konstitutionalismus versus Legalismus?, passim; Krawietz, Rechtstheorie (2000) 13, S. XII. 20

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

charta oder Verfassung und damit in den großen freiheitlichen Revolutionen in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika.23 Aus diesem Grund ist der klassische Konstitutionalismus untrennbar verbunden mit den grundlegenden Axiomen der Aufklärung24 und speziell mit den Konzepten der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung und der Anerkennung fundamentaler Freiheitsrechte. Diese Grundprinzipien machen deutlich, dass die Verfassungen hauptsächlich die Einschränkung öffentlicher Gewalt zu erreichen suchten, wobei sie auf unterschiedlichen Ebenen ansetzten: So wurden die demokratische Legitimation der Regierenden und die Teilung der Staatsgewalt in Legislative, Judikative und Exekutive eingefordert sowie die Achtung fundamentaler Freiheitsrechte als nicht verfügbare Schranken staatlicher Macht festgesetzt. Freilich erscheint die Gewaltenteilung als herausragendes Charakteristikum eines vom Geiste der Aufklärung durchdrungenen Gesetzlichkeitsprinzips.25 Nach einer in der Lehre weit verbreiteten Auffassung vereitelt eine aufgeklärte Auslegung der Gewaltenteilung jegliche richterliche Rechtsbildung, sodass innerhalb dieses theoretischen Rahmens auch ein Schluss auf die Analogie in bonam partem nicht gerechtfertigt werden kann. Demzufolge wäre der Richter nichts, als „der Mund, der die Worte des Gesetzes ausspricht“.26 Diese Einschätzung erweist sich als richtig, allerdings nicht aus den in der Literatur für gewöhnlich angeführten Gründen. Bedauerlicherweise hat die unzureichende Beschäftigung mit den Thesen Montesquieus27 und anderer aufgeklärter Autoren dazu geführt, dass diese Rechtsfigur in grotesker Weise deformiert und aus dem Zusammenhang gerissen wurde.28 Bis zu dem Punkt, sie ungerechtfertigterweise als naive und methodologisch abwegige Doktrin darzustellen,29 wonach der Richter nurmehr als reiner Lakai des Gesetzes dieses mechanisch und unreflektiert anzuwenden habe.30, 31 Aus diesem Grund scheint es erforderlich, diese Unklarheiten zu

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In zeitlicher Hinsicht wird davon ausgegangen, dass der klassische Konstitutionalismus bis zum Zweiten Weltkrieg andauerte, vgl. Comanducci, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 75; Sastre Ariza, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 239. 24 Zu dieser allgemeinen Verbindung des klassischen Konstitutionalismus mit der Aufklärung und insbesondere mit dem aufgeklärten Strafrecht, vgl. die sehr gute Arbeit von Tarello, Assolutismo, S. 383 ff. 25 Dreier, ARSP (1991) 40, S. 85. 26 Montesquieu, Del espíritu, S. 120. 27 Ogorek, in: Lüderssen-FS, S. 129 betont, dass Zitate dieses Satzes ohne vorherige Lektüre der Quelle in De l’esprit des lois gestellt wurden. 28 Auch die Verkennung der richterlichen Gewalt in Montesquieu betonend Würtenberger, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 31 f. 29 Hilgendorf, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 25; Schünemann, Nulla poena, S. 9 ff. 30 Nach einer in der Lehre verbreiteten Charakterisierung wäre der Richter demnach „eine automatische Maschine, in die oben die Tatsachen eingeführt werden und unten

B. Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips

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beseitigen, bevor zur Begründung des Gesetzlichkeitsprinzips das Konzept und die Schranken des klassischen Konstitutionalismus erklärt werden. Möglicherweise ist Beccaria der einzige in einer langen Liste von Aufklärern, der die pejorative Bezeichnung eines mechanistischen Formalisten verdient.32 Nach Ansicht des Verfassers von „Von den Verbrechen und von den Strafen“ fehle den Richtern jegliche Befugnis zur Interpretation der Strafgesetze dergestalt, dass sich ihre Funktion auf die Feststellung beschränke, ob eine Person einen gesetzlichen Tatbestand verwirklicht hat oder nicht.33 Aus diesem Grund müsse jeder Anwendung des Gesetzes ein vollkommener Syllogismus vorausgehen, der die Unsicherheiten der Interpretation verhindere.34 Für Beccaria beinhaltet die Interpretation des Gesetzes eine legislative Kompetenz und muss daher – gemäß einer strengen Auslegung des Gewaltenteilungsgrundsatzes – außerhalb der Judikative verbleiben.35 Seiner Auffassung nach besteht die Auslegung in der Suche nach dem Sinn des Gesetzes, den er als willkürliches Konstrukt ansieht, als Ergebnis der „guten oder schlechten Logik eines Richters, seiner leichten oder ungesunden Verdauung“.36 Dieses Auslegungsverbot wurde zudem sogar in den Fällen aufrechterhalten, in denen das Gesetz als zu strikt aufgefasst werden konnte. Demnach bot sogar die übermäßige Striktheit des Gesetzes keinen Anlass, dessen Sinn nachzugehen; als zu groß wurde die damit verbundene Gefahr der Willkür empfunden.37 b) Von diesem bekannten Ausdruck Montesquieus werden in der Lehre gewöhnlich folgende Thesen abgeleitet: (1) der Richter hat sich einer Auslegung des Gesetzes zu enthalten und seine Funktion besteht in dessen Anwendung auf den jeweiligen Rechtsfall vermittels einer Subsumtion ohne zusätzliche Wertungen;38 (2) die Rechtsordnung weist keinerlei Gesetzeslücken oder Mängel auf, da die Urteile herauskommen; vielleicht mit Hilfe eines kleinen Anstoßes, wenn die Tatsachen nicht ganz zum Urteil passen“, vgl. Ferrajoli, Derecho y razón, S. 38. 31 In den letzten Jahren wird vermehrt auf diese schwerwiegenden Interpretationsprobleme des klassischen Konstitutionalismus hingewiesen. Vgl. in der deutschsprachigen Literatur Ogorek, in: Lüderssen-FS, S. 127 ff. In der spanischsprachigen Literatur vgl. Atria, REJ (5), 2004, S. 124 ff.; Ortiz de Urbina Gimeno, La excusa, S. 38 ff. 32 In diesem Sinn Ortiz de Urbina Gimeno, La excusa, S. 117 ff.; ders., in: Kudlich/ Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 92, Fn. 10. A. A. Schreiber, Gesetz und Richter, S. 55; Krey, Keine Strafe, Rn. 73; Hassemer, in: Jung-FS, S. 236, habe der Richter auch bei Montesquieu und dem klassischen Konstitutionalismus überhaupt die Rolle eines Subsumtionsautomaten. 33 Beccaria, De los delitos, S. 220. 34 Beccaria, De los delitos, S. 220 f. 35 Diesen Punkt im Werk Beccarias betonend, Krey, Keine Strafe, Rn. 13. 36 Beccaria, De los delitos, S. 221. 37 Beccaria, De los delitos, 2000, S. 222. 38 Zagrebelsky, El Derecho, S. 30; Lacruz Berdejo et al., Elementos, I, S. 220; García de Enterría, in: García de Enterría/Menéndez Menéndez, El Derecho, la Ley y el Juez, S. 43; Mäenpää, ARSP (1991) 40, S. 107.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

das Gesetz gleichzeitig blind und sehend ist, sodass es keiner Verbesserung bedarf.39 Wir werden aber sehen, dass diese Thesen keine Entsprechung im aufgeklärten Modell des Richters finden. Zunächst wird nicht immer darauf hingewiesen, dass Montesquieu seinen berühmten Ausspruch im Rahmen seiner Analyse der englischen Verfassung (Buch XI, Kapitel VI) tätigte. In diesem Sinn handelte es sich nicht um einen Passus, in dem dieser französische Denker seine Theorie über die institutionelle Rolle des Richters darlegt, sondern vielmehr um eine Beschreibung des englischen Systems.40 Mehr noch, Vile41 meint, dass Montesquieu in Wirklichkeit nicht die Gewaltenteilung beschreibe, so wie diese damals in England stattgefunden habe, sondern in einer übertrieben idealisierten Art und Weise. Hinzugefügt sei außerdem, dass einer der überzeugendsten Beweise gegen die Annahme, dem Richer sei in dem Werk „Vom Geist der Gesetze“ eine quasirobotische Aufgabe zugewiesen, in Buch XXIX selbst zu finden ist.42 In diesem Abschnitt weist Montesquieu auf die Notwendigkeit hin, zwischen dem Gesetz in seinem buchstäblichen Sinn und dem Willen des Gesetzgebers, dem Gesetzeszweck sowie den Umständen seiner Entstehungsgeschichte zu unterscheiden. Tatsächlich offenbart sich die Bedeutung dieser letztgenannten Elemente für die Interpretation insbesondere in Konfliktfällen, die daraus entstehen, dass manche Sachverhalte bereits vom Wortlaut der Norm erfasst sind und andere es jedenfalls nach deren Zweck oder Sinn sein sollten. Diese Probleme der Über- bzw. Unterschreitung des Regelungszwecks werden in diesem Werk letztlich zugunsten des gesetzlichen Geistes aufgelöst. Dies verdeutlicht gewissermaßen die Friktionen innerhalb der Vorstellung eines aufgeklärten und umsichtigen Gesetzgebers, der die soziale Wirklichkeit zur Perfektion regelt, indem also die Möglichkeit eingestanden wird, dass eben dieser Gesetzgeber nicht hinreichend durchdachte Entscheidungen treffen oder Gesetze verabschieden könnte, die mit ihrem jeweiligen Zweck nicht korrespondieren.43, 44 Letzten Endes wäre das Entschei39

Bydlinkski, Juristische, S. 472; Bulygin, Isonomía (18) 2003, S. 8 f. A. A. Atria, REJ (5), 2004, S. 124, für den Montesquieu kein System im Konkreten beschreibt. 41 Vile, Constitutionalism, S. 86 f., 93. Vgl. auch Ogorek, in: Lüderssen-FS, S. 130, 139; Würtenberger, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 33. 42 Würtenberger, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 31 ff. 43 Montesquieu, Del espíritu, S. 401 ff. Es sei außerdem erwähnt, dass sich nach Montesquieu das Justizmodell unterscheiden sollte, je nachdem, ob es sich um eine Monarchie oder eine Republik handelt. Je stärker sich die Regierungsform der Republik annähere, desto festgelegter sollte die Rechtsprechung sein. Demgegenüber gebe es in den monarchischen Staaten „ein Gesetz, das der Richter in eindeutigen Fällen anwendet; in nicht eindeutigen Fällen sucht er seinen Geist“, vgl. Montesquieu, Del espíritu, S. 100. 44 Fast zeitgleich zum Erscheinen von Montesquieus Werk, wies Bentham, Tratados sobre la organización judicial y la codificación, 1843, S. 51–53, 82, bereits auf die vom französischen Denker akzeptierte Möglichkeit hin, dass die Richter auf den Geist des 40

B. Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips

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dende dann nicht das Gesetz, sondern sein Geist, zu dem der Richter durchdringen müsste, um das Gesetz anwenden zu können.45 Das Vorstehende hilft uns nicht nur dabei, die erste These zu verneinen, wonach der Richter absoluter Normbindung unterliege, sondern es setzt auch ein Fragezeichen hinter die zweite These, die das Ideal eines perfekten Rechtssystems propagiert. Montesquieu erkennt ja gerade die Möglichkeit an, dass ein Gesetz mangelhaft und damit schlussendlich zu strikt sein kann.46 Der betreffende Satz taucht just im Zusammenhang mit eben diesen Fragen auf. Der Richter ist tatsächlich nur bouche zur Reproduktion und zur Wiedergabe des Gesetzes, wenn dieses hinreichend bestimmt ist oder wenn „ein Bürger die Rechte des Volkes in einer öffentlichen Angelegenheit verletzte und Delikte beginge, welche die Richter nicht bestrafen könnten oder wollten“.47 In beiden Fällen ist es nach dem Verständis dieses Vordenkers der Aufklärung das Parlament, das diese Mängel des Rechtssystems zu beheben hat.48 Die Richter haben demnach also die Pflicht, die Lösung dieser Probleme dem Parlament zu überlassen; in diesem Sinne bestätigt sich die mögliche Existenz von gesetzlichen Lücken oder Widersprüchen. Gemeint sind Fälle, in denen das Parlament ausnahmsweise judikative Funktionen erfüllte. Wie ist also das Modell des Richters im klassischen Konstitutionalismus zu verstehen? Die beste Antwort auf diese Frage gibt uns Ortiz de Urbina Gimeno: „Man weiß, dass der Richter nicht gebunden ist, aber faktisch sollte er so handeln, als ob er es wäre“.49

Das heißt, der Richter ist dem Gesetzeswortlaut keinesfalls vollkommen unterworfen, da Auslegung und Wertung unerlässliche Aufgaben des Richters darstellen. Mehr noch: Dies scheint wenig geeignet, wenn man den Geist des Gesetzes zu ergründen sucht. Trotzdem vertritt Montesquieu, dass der Richter sich nicht vom Geist des Gesetzes entfernen dürfe. Denn dieser setze einen die Arbeit des Richters begrenzenden Rahmen fest, der nicht verlassen werden dürfe. Nachdem nun klargestellt wurde, welches Justizmodell vom klassischen Konstitutionalismus vertreten wird, müssen nun die eigentlichen Motive analysiert werden, derenthalben die richterliche Rechtsbildung und im Besonderen die AnaGesetzes zurückgreifen könnten, wenn dieses unklar sei. Zudem war er der Meinung, dass das Gesetz seine Rechtfertigungsgründe bereits in sich tragen sollte, indem es die übergeordneten Rechtsprinzipien verkörpere. Das wäre für den Richter sehr nützlich, da es ihm einen Leitfaden und eine Entscheidungshilfe an die Hand gäbe und die Bürger vor der Willkür und Parteilichkeit des Richters schützte. 45 Portalis, Discurso, S. 36. 46 Montesquieu, Del espíritu, S. 120, 121. 47 Montesquieu, Del espíritu, S. 120. 48 Vgl. Montesquieu, Del espíritu, S. 120. 49 Ortiz de Urbina Gimeno, La excusa, S. 42.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

logie in bonam partem sich nicht begründen lassen. Letztlich sind es zwei Gründe: Erstens die beachtlichen Schwierigkeiten dieses Modells bei der Anerkennung von Gesetzeslücken; zweitens das starke Misstrauen gegenüber dem Richter, das den klassischen Konstitutionalisten dazu führt, jegliche richterliche Korrektur der Gesetzgebung zu verbieten.50 Um das erste Motiv richtig zu verstehen ist es wichtig, zwei grundlegende Faktoren zu berücksichtigen: die Verbindung von Gesetz und Gerechtigkeit und die Bedeutung der Kodifizierungsbewegungen. Das Gesetz wird nicht als reiner Akt staatlicher Gewalt verstanden, sondern als glaubwürdiger Ausdruck von Vernunft und Gerechtigkeit.51, 52 Demzufolge wird das Gesetz als Ergebnis eines aus klaren und einfachen Prinzipien abgeleiteten Prozesses begriffen, die ihren Ursprung in der Natur des Menschen finden und zur Restauration der Gesellschaft tendieren.53 Diese Eigenschaften des Gesetzes rechtfertigten seine Achtung durch das Volk und die Befolgung seitens der Staatsgewalt wäre eine Art moralischer Imperativ,54 sodass ein Richter nicht von den gesetzlichen Anordnungen abweichen könnte.55 Zudem sollte nicht aus den Augen verloren werden, dass in die Entwicklungszeit des klassischen Konstitutionalismus der Aufstieg der Kodifizierungsprozesse fällt, deren Hauptgedanke darin bestand, einen endgültigen juristischen Zustand in einem Gesetzbuch festzulegen, das dann die gesammelte legislative Erfahrung der vergangenen Jahrhunderte widerspiegelte. Diesbezüglich scheinen die Worte Pachecos erhellend: „[a]ngesichts der Erfahrung aus dreitausend Jahren, angesichts der Geschichte aller Gesetze, angesichts aberhunderter Gesetzbücher, angesichts abertausender Strafge50 Ein generell starkes Misstrauen in den Staat ist ein Charakteristikum des klassischen Konstitutionalismus, das sich gerade auch auf den Richter überträgt. Vgl. dazu Gargarella, Las teorías, S. 46 ff. 51 Vgl. Portalis, Discurso, S. 32. 52 Nach der Lehre ließe dies einen klaren naturrechtlichen Hintergrund erkennen, vgl. Comanducci, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 82; Hilgendorf, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 21; Zagrebelsky, Historia, S. 40 ff. Zum Zusammenhang zwischen der Philosophie der Aufklärung und der naturrechtlichen Lehre, vgl. allgemein Prieto Sanchís, La filosofía penal, S. 14 f.; ders., Ley, principios, derechos, S. 13 ff.; Zagrebelsky, El Derecho, S. 25; Calvo García, Los fundamentos, S. 71. 53 Prieto Sanchís, La filosofía penal, S. 14 f.; ders., Ley, principios, derechos, S. 13 ff.; Zagrebelsky, El Derecho, S. 25. 54 Nach Carrió, Notas, S. 325, wäre das die zentrale Prämisse des ideologischen Positivismus. Pozzolo, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 194, weist auf die Verbindung zwischen dem klassischen Konstitutionalismus und dem ideologischen Positivismus hin. Dies wiederum verdeutlicht die Nähe von ideologischem Positivismus und Naturrecht. 55 In den Worten Feuerbachs, Lehrbuch, § 75, „Also kann I. ein Urtheil nur dann lossprechen, wenn das Gesetz selbst losspricht, und nur dann verdammen, wenn das Gesetz verdammt“.

B. Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips

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setze bis zum heutigen Tag, wird schwerlich ein verbots- und strafwürdiger Fall existieren, der sich in keiner der Überlieferungen und keinem der Grundsätze niedergeschlagen hätte.“56

Das Vorstehende wirkt sich entscheidend auf die Anerkennung der Analogie als eine Rechtsfortbildungsmethode aus, weil es eindeutig der Weigerung Vorschub leistet, die Existenz von Gesetzeslücken anzuerkennen. Diese Anerkennung gesetzlicher Lücken setzt, genauso wie ihre Ausfüllung voraus, dass der Richter auf systemfremde Kriterien zurückgreifen kann, die ihm eine Einschätzung ermöglichen und gegebenenfalls Kritik und Korrektur der Rechtsordnung zulassen. Wie gesehen,57 erwachsen diese Kriterien aus juristischen Prinzipien, für manche aber auch aus der Gerechtigkeit.58 Die Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Gesetz führt notwendig dazu, dass der Richter im klassischen Konstitutionalismus diese wertenden Kriterien gerade nicht zur Verfügung hat, die entscheidend sind, um Gesetzeslücken mit der Analogie in bonam partem zu schließen.59 Folgerichtig ist deshalb, dass jeder Versuch, vom Gesetz abzuweichen, d.h., jeder Versuch des Richters, Gesetzeslücken zu schließen oder das Gesetz zu verbessern, als unzulässig betrachtet wird. Eine weitere bedeutsame Konsequenz für die (Nicht-)Akzeptanz der Analogie ist zudem die Tatsache, dass in einem Klima übermäßigen Vertrauens in die Erfahrung und Kenntnis des historischen Gesetzgebers, eine zum Entstehen von Gesetzeslücken führende Nachlässigkeit eben dieses Gesetzgebers schlicht nicht denkbar wäre. Denn tatsächlich wären alle relevanten juristischen Gesichtspunkte bereits im Gesetz angelegt. Diese Argumente führen letztlich dazu, dass im klassischen Konstitutionalismus Gesetzeslücken nicht anerkannt werden können.60 Trotzdem, die Tatsache, dass das Gesetz die Gerechtigkeit zum Vorschein bringen soll, hat für die Verfechter des klassischen Konstitutionalismus nicht zur Folge, dass der Gesetzgeber sich nie irren könnte, sodass eine Korrektur erforderlich würde. Es gibt sogar mehrere Vertreter des klassischen Konstitutionalismus, die diese Möglichkeit anerkennen, wenn auch nur als etwas äußerst Außergewöhnliches.61, 62 Dennoch bleibt es im klassischen Konstitutionalismus ausge56

Pacheco, El Código penal, I, S. 86. Vgl. S. 60 ff. 58 Atienza, Sobre la analogía, S. 186; Falcón y Tella, El argumento, S. 62. 59 Hier könnte man auch sagen, dass es eine „Identifizierung von Rechtssetzung und Gesetzgebung“ gebe, vgl. Zimmer, Funktion–Kompetenz–Legitimation, S. 40. 60 Bulygin, Isonomía (2003) 24, S. 8; ders., Creación, in: Atria et al., Las lagunas en el Derecho, S. 29 f. 61 Siehe Montesquieu, Del espíritu, S. 120 ff.; Pacheco, El Código penal, I, S. 211; Lardizábal y Uribe, Discurso, S. 42 f. 62 Es ist aber schwierig zu verstehen, wie solche Rechtslücken ohne eine Berufung auf außergesetzliche normative Kriterien anerkannt werden können. Der klassische 57

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

schlossen, dass der Richter ausnahmsweise das Gesetz korrigieren kann.63 Dies liegt hauptsächlich daran, dass das Gesetz den Willen des Volkes widerspiegelt und ihm somit im Gegensatz zu anderen Gesetzesquellen eine demokratische Legitimation zukommt.64 Zudem beinhaltet die Modifizierung des Gesetzes zwangsläufig die Übernahme einer Gesetzgebungskompetenz, die nur dem Parlament zusteht65. Indem diese Verfassungsrechtler eine strikte Trennung und ausschließliche Zuweisung der legislativen, judikativen und exekutiven Kompetenzen vertreten, ist kein Teil der Staatsgewalt legitimiert, sich Funktionen einer anderen anzueignen.66 Dem ist hinzuzufügen, dass das Gesetz den Schutz und die Bewahrung der politischen Grundfreiheiten garantiert,67 weil es das einzige juristische Instrument ist, mit dem sie eingeschränkt werden können und außerdem die staatlichen Konsequenzen unserer Handlungen voraussehbar macht.68, 69 Dies führt zu einer Konstitutionalismus schuldet der heutigen Diskussion weiterhin eine Erklärung zu diesem mutmaßlichen Widerspruch. 63 Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation, S. 40 f.: „Ihre [Rechtsprechung] Aufgabe war nicht Konkretisierung, rechtsschöpferische Entfaltung oder kooperative Rechtsgestaltung, sondern verbindliche Feststellung und Anwendung, logischer Nachvollzug des vorgegebenen Gesetzesrechts.“ 64 Zagrebelsky, El Derecho, S. 30 ff.; Bulygin, Isonomía (2003) 24, S. 8; ders., Creación, in: Atria et al., Las lagunas en el Derecho, S. 43; Madrid Conesa, La legalidad, S. 41. 65 Man könnte auch diese Ansicht bei Feuerbach finden, vgl. Greco, Lebendiges, S. 55 f.: Da der Richter immer verpflichtet sei, die Rechtsfolge anzuordnen, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen des Strafgesetzes erfüllt sind, verbleibe nur die Möglichkeit des Gnadenrechts und auch der Gesetzesreform, wenn das Gesetz schlecht sei. 66 Für eine tiefgreifende und klare Darstellung der historischen Entwicklung der Gewaltenteilungstheorie, vor und während des klassischen Konstitutionalismus, vgl. Vile, Constitutionalism, S. 3 ff.; 39 ff. Dazu zusammenfassend Brodocz, in: Kropp/Lauth (Hrsg.), Gewaltenteilung und Demokratie, S. 28 ff. Die aktuellsten Herausforderungen zusammenfassend Klein, in: ders. (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 9 ff. 67 Es lohnt sich klarzustellen, dass die Grundfreiheiten als Konsequenz der Abhängigkeit des klassischen Konstitutionalismus vom konservativen Liberalismus in einem negativen Sinn verstanden werden, d.h. als fehlender äußerer Zwang des Staates gegenüber dem Einzelnen. Zum negativen Freiheitskonzept siehe statt aller Berlin, Cuatro ensayos, S. 220. Zu diesem Begriff in deutschsprachiger Literatur u. a. Mahlmann, Rechtsphilosophie, § 27, Rn. 6 ff. 68 Montesquieu, Del espíritu, S. 106, 107 definiert die politischen Freiheiten wie folgt: „Die politische Freiheit des Bürgers hängt von der geistigen Ruhe ab, die auf der Meinung beruht, die jeder von seiner Sicherheit hat“, „Das Recht, alles zu tun, was die Gesetze erlauben, denn könnte ein Bürger alles tun, was die Gesetze verbieten, so gäbe es keine Freiheit mehr, da auch die anderen diese Befugnis hätten“. Diese Idee im Werk Montesquieus betonend, Würtenberger, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 22 ff. Ähnlich Voltaire „hängt die Freiheit nur vom Gesetz ab“, Zitat nach Prieto Sanchís, Ideología, S. 25. 69 Schreiber, Gesetz und Richter, S. 53; Jiménez de Asúa, La ley, S. 82 f.; Zagrebelsky, El Derecho, S. 28; Ferrajoli, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s),

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derartigen politischen Bedeutung der Gesetzgebung, dass die Gesetze nur von einem Gremium mit derselben demokratischen Legitimation verändert werden können. So weist beispielsweise Montesquieu darauf hin, dass es nur dem Parlament zukomme, entsprechende Mängel des Rechtssystems aufzulösen.70, 71 Letzten Endes muss man zu dem Schluss gelangen, dass der klassische Konstitutionalismus kein theoretisches Modell bietet, um die Analogie zugunsten des Täters aus einer juristisch-politischen Perspektive heraus zu begründen. Erstens, weil dieses Modell die Möglichkeit, Gesetzeslücken zu erkennen, praktisch ausschließt und weil der Richter zweitens nie legitimiert erscheint, das Gesetz zu modifizieren und damit in den Funktionsbereich des Gesetzgebers einzugreifen. 3. Das Gesetzlichkeitsprinzip im Neukonstitutionalismus (radikaler und gemäßigter Neukonstitutionalismus) a) Unter die Überschrift Neukonstitutionalismus fällt eine Gruppe rechtspolitischer Denkrichtungen, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, um die aus der Entwicklung und Konsolidierung des sozialen Rechtsstaates hervorgegangenen verfassungsrechtlichen Dynamiken zu erklären72. In dieser neuen Phase kommt es zu einer Reihe von Phänomenen, die das Verständnis von Verfassung im postmodernen Staat entschieden verändern. Hervorzuheben ist insbesondere die Entstehung der sozialen (Grund-)Rechte und der Verfassungsgerichte73, der Bedeutungsverlust des Parlamentes und des Gesetzes74 sowie der Bedeutungszuwachs der Administrative und der Judikative75. S. 16; Guastini, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 55; Madrid Conesa, La legalidad, S. 9; Naucke, Strafrecht, § 2, Rn. 42, S. 71; Calvo García, Los fundamentos, S. 261; Schünemann, Nulla poena, S. 16; Ferreres Comella, El principio, S. 43; Madrid Conesa, La legalidad, S. 10. Dies würde den historischen Vorrang der Freiheit und der Gesetzlichkeit als Grundrechte aufrechterhalten, vgl. Langer, in: Dünnebier-FS, S. 429. 70 Vgl. Montesquieu, Del espíritu, S. 120. 71 Es ist jedenfalls wichtig klarzustellen, dass die Begnadigung als Korrektur der durch gesetzgeberische Fehler entstandenen Ungerechtigkeiten, nur sehr am Rand akzeptiert wurde. Diese Möglichkeit ist immer noch im Art. 4.3 des spanischen Strafgesetzbuches anerkannt. Vgl. dazu Pacheco, El Código penal, I, S. 87 und hinsichtlich der historischen Bezüge insbesondere Bacigalupo, La rigurosa, in: ders., Principios constitucionales de derecho penal, S. 117. Zur generellen Bedeutung der Begnadigung im klassischen Konstitutionalismus, vgl. Montesquieu, Del espíritu, S. 58, 68. 72 Der Beginn des Neukonstitutionalismus datiert auf die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs, Carbonell, in: ders. (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 9; Ferrajoli, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 14; Comanducci, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 75; Sastre Ariza, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 239. 73 Comanducci, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 83; Bacigalupo, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 379. 74 Zagrebelsky, El Derecho, S. 36; Prieto Sanchís, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 131; ders., Ley, principios, derechos, S. 28; Diez Ripollés, La racio-

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Entsprechende Veränderungen bleiben nicht ohne Auswirkung auf das Verständnis der verfassungsrechtlich gewährleisteten (Grund-)Freiheiten oder gar der Gewaltenteilung. Außerdem ist klarzustellen, dass anhand der Besonderheiten jeder Form des Neukonstitutionalismus zwar verschiedene gedankliche Grundmodelle feststellbar sind, dies aber keineswegs der Anerkennung vieler Gemeinsamkeiten entgegensteht. In Wirklichkeit rühren die Unterschiede von der größeren oder geringeren Radikalisierung der jeweiligen Postulate her.76 Ich werde mich hier auf lediglich zwei Ausprägungen beschränken, die ich als radikalen Neukonstitutionalismus und gemäßigten Neokonstitutionalismus bezeichne. Allerdings ist es sinnvoll, mit den Gemeinsamkeiten zu beginnen. b) Das Gesetzlichkeitsprinzip erfährt in dieser neuen Phase des Konstitutionalismus sehr bedeutende Änderungen. Das ist hauptsächlich auf die neue Rolle zurückzuführen, die den Verfassungen in der institutionellen Fortentwicklung der Staaten zukommt und sich auch in einem eindeutigen Vorrang vor dem einfachen Gesetz niederschlägt.77 Die neuen Verfassungen begnügen sich nicht mehr nur mit der Deklaration grundlegendster Bürgerrechte oder der genauen Abgrenzung exklusiv staatlicher Kompetenzen. Die modernen „Grundgesetze“ werden im dogmatischen Teil vielmehr durch neue und umfassende Grundrechtskataloge78 bereichert. Deren gerichtliche Anerkennung hängt nicht mehr von Gesetzen ab, die ihre Ausübung reglementieren; die Grundrechte sind nunmehr unmittelbar anwendbar.79 Diese direkte Anwendbarkeit der Grundrechte beschert der Judikative eine nie da gewesene Bedeutung. Aus diesem Grund beginnen wir von normativen und freiheitsschützenden Verfassungen80 zu sprechen, die also unmittelbar Rechte und Pflichten für die Bürger bewirken, welche auch unmittelbar gerichtlich geltend gemacht werden können.81 In diesem Kontext bedient sich der Richter nicht mehr nur des Gesetzes als einziger Rechtsquelle, sondern kann Rechtsprinzipien oder Verfassungsnormen einbeziehen, die allgemein Wertungskriterien für die Gesetzgebung und – in manchen Fällen – eine unmittelbare

nalidad, S. 67 ff.; ders., Doxa (2001) 24, S. 6 ff.; Hassemer, Persona y Derecho (1996) 35, S. 146 ff. Zu den unterschiedlichen Bedeutungen der „Krise des Gesetzes“, vgl. die sehr gute Arbeit von Laporta, Doxa (1999) 22, S. 321 ff. 75 Wittig, JZ (1969), S. 548; v. Münch, in: Erichsen/Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 12; Zagrebelsky, El Derecho, S. 35 ff.; Prieto Sanchís, Ley, principios, derechos, S. 22 f. 76 Dazu ausführlich Montiel, Analogía, S. 56 ff., 73 ff. 77 Guastini, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 49. 78 Zu dieser Unterscheidung siehe Alexy, Teoría de los derechos, S. 83 ff. 79 Guastini, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 50 ff.; Sastre Ariza, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 240–241; Bacigalupo, El principio, in: ders., Principios constitucionales de derecho penal, S. 43. 80 Prieto Sanchís, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 128 ff. 81 Guastini, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 56.

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Rechtsquelle sind.82, 83 Diese Veränderungen machen es erforderlich, das Gesetzlichkeitsprinzip nicht (mehr) mit der früheren Striktheit zu interpretieren und entschieden zu flexibilisieren. Konkret heißt das, dass die Möglichkeiten, Gesetzeslücken anzuerkennen, in diesem neuen System erweitert werden und der Richter für die Schließung dieser Lücken zuständig ist. Mit anderen Worten: Die Analogie wird als Methode zur Korrektur der Gesetzgebung legitimiert. Die Möglichkeit, Gesetzeslücken in weitaus größerem Umfang anzuerkennen, ist eng verknüpft mit dem Konstitutionalisierungsprozess einer vom Neokonstitutionalismus geprägten Rechtsordnung. Diese Konstitutionalisierung kann bezeichnet werden als „ein Umwandlungsprozess einer Rechtsordnung, an dessen Ende diese Rechtsordnung vollkommen von den Verfassungsnormen ,durchdrungen‘ ist“84, 85. Das bedeutet, dass alle Bestandteile einer staatlichen Rechtsordnung als Konkretisierung grundrechtlicher Werte, Prinzipien und Regeln analysiert und dementsprechend interpretiert werden müssen.86 In diesem Konzept zieht das Gesetz seine Legitimation nicht mehr nur aus seinem formellen Ursprung in einem die Mehrheit des Volkes repräsentierenden Organ, sondern auch (und vor allem) aus seinem Inhalt, das heißt, aus seiner Übereinstimmung mit den grundrechtlichen Regeln und Prinzipien. Diese materielle Dimension ermöglicht es, sich externer Werte zu bedienen, um das Gesetz zu bewerten und zu beurteilen, woran es während des klassischen Konstitutionalismus fehlte.87 Demgegenüber nimmt der Neokonstitutionalismus an, dass die Gesetzgebung diese Werte möglicherweise nicht notwendig einbezieht und dass der Gesetzgeber sie nicht anerkennt oder angemessen berücksichtigt. Demzufolge geht die Anerkennung anderer – als von den gesetzlichen Regeln zu unterscheidender – normativer Instrumente, wie die verfassungsrechtlichen Prinzipien und Werte, die Grund-

82 Teilweise wird – allerdings restriktiv – vertreten, dass die Prinzipien im Strafrecht eine direkte Rechtsquelle sind, Cerezo Mir, PG, I, S. 151; Luzón Peña, PG, I, S. 93; Yacobucci, El sentido, S. 98; Moreno y Bravo, in: Bacigalupo-FS, S. 551. Andere hingegen leugnen die Eigenschaft der Prinzipien als direkte Rechtsquelle, Ruiz Manero, Algunas concepciones, in: Atria et al., Las lagunas en el Derecho, S. 119 f.; Atienza/Ruiz Manero, Ilícitos, S. 124; Prieto Sanchís, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 157. 83 In diesem Zusammenhang spiele die Anwendung von grundrechtlichen Prinzipien eine herausragende Rolle bei Gewissenstätern. Dazu u. a. Baucells i Lladós, La delincuencia, S. 416, 419. 84 Guastini, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 49. 85 Zu weiteren Einwirkungen einer solchen Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, vgl. Krawietz, Rechtstheorie (2000) 13, S. XXIV f. 86 Guastini, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 49 ff. 87 Wie bereits die Analyse des klassischen Konstitutionalismus gezeigt hat, erkannten dessen Vertreter jedoch bald den Irrglauben, dass jedes Gesetz stets Gerechtigkeitswerte beinhalte. Aus diesem Grund wurde es notwendig, die Möglichkeit gesetzgeberischer Fehler anzuerkennen, die aber trotzdem nur mittels einer Gesetzesreform zu korrigieren sein sollten.

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prinzipien des Rechts und besonders die verschiedenen strafrechtlichen Grundsätze,88 einher mit der Aufnahme wertender Kriterien in die Gesetzgebung. Die Rolle dieser anderen, vom Gesetz verschiedenen Elemente wird gerade in der Bewertung bestehen, ob das Gesetz hinreichende materielle Voraussetzungen erfüllt, um angewendet zu werden. Diese wertende Aufgabe kann zwei für die Gesetzgebung unerwünschte Ergebnisse zeigen: (1) Das Gesetz ist unmittelbar verfassungswidrig; (2) das Gesetz ist zwar nicht verfassungswidrig, umfasst aber mehr (Überregelung) oder weniger (Unterregelung) Sachverhalte, als es gemäß seiner Ratio oder anderen Prinzipien umfassen sollte. Das erste Ergebnis hängt mit dem verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz zusammen, der bereits gegen Ende des klassischen Konstitutionalismus Bedeutung erlangte und in den Ländern mit zentralisierter Verfassungsgerichtsbarkeit von den Verfassungsgerichten gewährt wird89. Die zweite Konstellation betrifft hingegen Fehler des Gesetzgebers in Fällen, in denen die Feststellung der Verfassungswidrigkeit unverhältnismäßig wäre und ein weniger schwerwiegendes Korrektiv existiert,90 nämlich die richterliche Modifizierung der Gesetzgebung. Mit der Analogie in bonam partem werden gerade Fälle dieser zweiten Gruppe gelöst.91 Hieran wird deutlich, dass im Neokonstitutionalismus die maßgebliche Voraussetzung der Analogie erfüllt ist, da die Möglichkeit besteht, Fehler (Gesetzeslücken) innerhalb der Gesetzgebung festzustellen. Dieser Spielraum zur Bewertung und Identifizierung gesetzgeberischer Fehler kennzeichnet einen deutlichen Unterschied zum klassischen Konstitutionalismus, dessen Vertreter dies nur als äußerste Randerscheinung billigten. Aber die zweifellos größte Änderung im Hinblick auf die Möglichkeit, Analogien zu legitimieren, ergibt sich aus der Rekonfiguration der Gewaltenteilung. Die früher vorherrschende Ansicht dreier klar getrennter Behörden, die einzeln und ausschließlich die legislative, judikative und exekutive Funktion ausfüllen,92 weicht der Auffassung, jede Gewalt könne erforderlichenfalls Funktionen übernehmen, die typischerweise einer anderen der drei Gewalten zustehen. Diese Veränderung führt zu einer erheblichen Steigerung gesetzgeberischer Tätigkeit der exekutiven Gewalt und zur Verfestigung der judikativen Rechtsetzung.

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Dazu siehe S. 60 ff. Pfetsch, Verfassungspolitik, S. 82 f. 90 Die Lehre und die Rechtsprechung gehen davon aus, dass der Feststellung der Verfassungswidrigkeit größere Bedeutung zukommt, da sie im Verhältnis etwa zur verfassungskonformen Auslegung, zur Analogie, zur Prinzipienanwendung, etc. als subsidiäre Methode aufgefasst wird, vgl. STC (Pleno) núm. 24/2004 de 24 febrero. Zu dieser Frage in der Literatur etwa Kuhlen, Die Verfassungskonforme, S. 2 ff. 91 Atienza/Ruiz Manero, Ilícitos, S. 28 ff. 92 Vile, Constitutionalism, S. 14. 89

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Zum einen bleibt die „Hyperinflation“ der Verwaltung seit Mitte des letzten Jahrhunderts nicht unbemerkt,93 die auf einer weitaus größeren und direkteren Wirkung ihrer Politik im täglichen gesellschaftlichen Leben fußt.94, 95 In diesem Zusammenhang erlangt die „legislative“ Aktivität der Exekutive Bedeutung, da ihre rechtssetzenden Prozesse weit flexibler auf die sich wandelnde soziale Wirklichkeit eingehen können.96, 97 Zum anderen verleiht die Stärkung des dogmatischen Teils der Verfassungen, indem die unmittelbare Geltung der Grundrechte anerkannt wird, dem Richter eine beachtliche Rolle bei der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung. Der Richter findet sich im Neukonstitutionalismus demnach stärker an die Verfassung und die der Gesetzgebung zugrunde liegenden Wertungen gebunden, als an das Gesetz selbst. Aus diesem Grund erscheint er befugt, es im Falle seiner Verfassungswidrigkeit aufzuheben oder es zu modifizieren, wenn es Gesetzeslücken bei dem letztgenannten Fall aufweist. Gemäß diesem Modell ist der Richter berechtigt, das Gesetz zu bewerten, zu modifizieren und sogar aufzuheben, obwohl er dafür nicht demokratisch legitimiert ist.98 Seine Legitimation ist in diesem Fall vielmehr konstitutionell, da die richterliche Rechtsetzung vor dem Hintergrund und mit dem Ziel efolgt, verfassungsrechtlichen Werten zur Geltung zu verhelfen. Die Analogie ist demgemäß ein Hilfsmittel, das im Neukonstitutionalismus ohne weiteres gebilligt werden kann, insbesondere vor dem Hintergrund, dass sie 93

Vgl. zu dieser Wandelung Aarnio, Rechtstheorie (2000) 13, S. 281 ff. Zagrebelsky, El Derecho, S. 35 ff.; Prieto Sanchís, Ley, principios, derechos, S. 22 f.; Diez Ripollés, La racionalidad, S. 68–69; ders., Doxa (2001) 24, S. 7–8; v. Münch, in: Erichsen/Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 12. 95 Es versteht sich, dass diese viel aktivere Rolle der Verwaltung der Notwendigkeit folgt, soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen. Das ist auch eine Folge des Übergangs von einem Konzept negativer Freiheit zu einem der positiven Freiheit, vgl. Pozzolo, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 191; Zagrebelsky, El Derecho, S. 34 ff. Zum Konzept positiver Freiheit, siehe statt aller Berlin, Cuatro ensayos, S. 220; Mahlmann, Rechtsphilosophie, § 27, Rn. 6 ff. 96 Es wird auch auf eine andere große Veränderung hingewiesen, die der Bedeutungszuwachs der öffentlichen Verwaltung für die Theorie der Gewaltenteilung bedeutet. Es wird nun nicht mehr ausschließlich ein System der Fremdkontrolle nachdrücklich betont – in dem sich die drei Gewalten gegenseitig überprüfen – und die Selbstkontrolle rückt in das Zentrum der Betrachtung, vor allem wenn die Verwaltung ihre komplexe und umfassende interne Struktur kontrolliert. Das rechtfertigt sich vor allem deshalb, weil die von der Legislative ausgeübte Fremdkontrolle über die internen Strukturen der Exekutive aufgrund der Schwierigkeiten, die zur Kontrollentscheidung notwendigen Mehrheiten zu erreichen, mangelhaft wäre. Vgl. hierzu Waldron, The Dignity, S. 30 ff. 97 Sogar die „legislative“ Aktivität der Exekutive bleibt nicht darauf beschränkt. Es ist vielmehr eine immer intensivere Beteiligung in der streng legislativen Phase zu verzeichnen, da in postmodernen Staaten Gesetzesprojekte hauptsächlich von der Regierung angestrengt werden. Hierzu Zarza Mensaque, Revista de la Facultad (1994) 1–2, S. 226. 98 Dies setzt selbstverständlich eine Verherrlichung der Figur des Richters voraus, was von der Stellungnahme der Aufklärung deutlich abweiche. Vgl. Becker, in: Kropp/ Lauth (Hrsg.), Gewaltenteilung und Demokratie, S. 75 f. 94

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zur Gewährleistung des materiellen gesetzlichen Mindestgehaltes beiträgt. Hier setzen die Unterschiede der verschiedenen Richtungen innerhalb des Neukonstitutionalismus an. Sie betreffen die Reichweite, die der richterlichen Rechts(fort)bildung eingeräumt wird. So stellen einige die Figur des Richters eindeutig über die der restlichen politischen Akteure,99 während andere die Ansicht größerer Ausgewogenheit zwischen den drei Gewalten vertreten.100 c) Die Anerkennung übergesetzlicher Kriterien zur Bewertung der Gesetzgebung sowie die den Richtern zugebilligte Befugnis zur Modifizierung des Gesetzes sind, meines Erachtens, die zwei wesentlichen Beiträge des Neokonstitutionalismus zur Begründung der Analogie in bonam partem. Dennoch hat jede der verschiedenen Richtungen des Neukonstitutionalismus aus diesen zentralen Prämissen unterschiedliche Konsequenzen abgeleitet, die sich unmittelbar auf die Reichweite der richterlichen Rechtsetzung und der Analogie auswirken. Nun werde ich mich dem radikalen und dem gemäßigten Neukonstitutionalismus zuwenden. d) Die Anerkennung von Kriterien zur Bewertung der Gesetzgebung sowie die Berechtigung des Richters, diese zu korrigieren, werden im radikalen Neukonstitutionalismus bis zu dem Extrem geführt, dass das Gesetz stark entwertet und die Bedeutung des Richters und seiner Entscheidungen überbewertet werden. Das spiegelt sich in einem erheblichen Misstrauen gegenüber dem Gesetzgeber und einer Umstrukturierung der Gewaltenteilung wider, die dem Richter eine Vorrangstellung vor den anderen Gewalten verschafft.101 Zu dieser radikalen Form des Neukonstitutionalismus führt ein übermäßiges Vertrauen in den Gehalt der Verfassungen, wonach diese ausschließlich materielle Vorschriften enthielten, aus denen der Inhalt jeder Rechtsnorm mittels methodischer Schritte abgeleitet werden könnte.102 Diese Auffassung sieht in den konstitutionellen Regeln und Prinzipien keine allgemeine Grundordnung, die der Konkretisierung durch den Gesetzgeber bedarf, sondern vertraut darauf, dass sich aus ihnen eindeutige normative Inhalte herleiten lassen. Hieraus wird geschlossen, dass die Verfassungsnormen sowohl Wertungskriterien für die Gesetzgebung bereitstellen als auch Kriterien, um diese zu verdrängen oder zu ersetzen. Diese Situation wird begünstigt durch das starke Misstrauen gegenüber dem Gesetz, insbesondere da es als Werk eines Organs betrachtet wird, das nicht mehr zuver99 García Figueroa, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 167; Prieto Sanchís, Ley, principios, derechos, S. 3, betonen den Vorrang des Richters über den Gesetzgeber in bestimmten Strömungen des Neukonstitutionalismus. 100 Zagrebelsky, El Derecho, S. 132; Diez Ripollés, La racionalidad, S. 79–81; García de Enterría, in: García de Enterría/Menéndez Menéndez, El Derecho, la Ley y el Juez, S. 55. 101 Zagrebelsky, El Derecho, S. 60. 102 Alexy, Teoría de los derechos, S. 505 ff., distanziert sich ausdrücklich von diesem Modell und votiert für ein gemischt formell-materielles Modell.

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lässig die Interessen der Bürger vertritt, sondern eher die der politischen Parteien.103 In den Worten Laportas104 „befindet das Gesetz sich stets in einem vorläufigen Zustand und einer untergeordneten Position, weil es interpretiert und nicht aus sich selbst heraus betrachtet wird, sondern als etwas permanent Verdächtiges, das es im Lichte der Verfassung zu überwachen gilt“. Folglich fehlt es im radikalen Neukonstitutionalismus nicht nur an der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, sondern diese Vermutung kehrt sich sogar ins Gegenteil, sodass ständig eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vorgenommen werden muss.105 Diese Situation erweitert das Handlungsspektrum des Richters beachtlich,106 da nun er für die Überwachung der Gesetzgebung und den Konstitutionalisierungsprozess der Rechtsordnung verantwortlich ist. Das Vorstehende verdeutlicht, dass der radikale Neukonstitutionalismus praktisch zu einem Bruch des Gleichgewichts zwischen den drei Staatsgewalten führt und der Judikative einen bemerkenswerten Vorrang zugesteht.107 Gerade diese Gewalt wird als Hauptausführende der Konstitutionalisierungsaufgabe angesehen. Sie wird zur Hauptverantwortlichen für die Feststellung des materiellen Gehaltes der weit gefassten Verfassungsvorschriften, die dann in die Lösung der Fälle integriert werden. Indem die Verfassungen die Gesetzgebung verdrängen, die Verfassungsvorschriften aber der Konkretisierung bedürfen, übernimmt der Richter diese Aufgabe, den Inhalt der konstitutionellen Regeln und Prinzipien – die alle normativen Elemente des Systems durchdringen – festzustellen und zu präzisieren.108 Der Richter wird somit zum „Herr über das Recht“ und seine Arbeit wird durch keine anderen, als die von der Verfassung selbst gesetzten Grenzen eingeschränkt. Selbstverständlich beeinflussen diese Folgerungen unmittelbar die Legitimation und die Anwendung der Analogie im Recht. Zunächst bedeutet das ausgeprägte Misstrauen in die Arbeit des Gesetzgebers, dass von der Existenz normativer, axiologischer Lücken, Ausnahmelücken oder anderer Gesetzeslücken aus103 Naucke, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S. 495 ff. 104 Laporta, Doxa (1999) 22, S. 322: „la ley está en permanente interinidad y en una posición subalterna, porque es interpretada y contemplada no por sí misma sino como una suerte de sospecha permanente que hay que vigilar a la luz de la Constitución“. 105 Zu dieser Krise des Gesetzes im strafrechtlichen Diskurs, vgl. u. a. Süß, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S. 223 ff.; Ferrajoli, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 20; Silva Sánchez, La expansión, S. 17 ff.; Hassemer, Persona y Derecho (1996) 35, S. 146 ff.; Cancio Melia, in: Jakobs/Cancio Melia, Derecho penal del enemigo, S. 88 f.; Mendoza Buergo, El Derecho penal, S. 94 ff., 163. 106 Zagrebelsky, El Derecho, S. 60. 107 Comanducci, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 95; García de Enterría, in: García de Enterría/Menéndez Menéndez, El Derecho, la Ley y el Juez, S. 55 f. 108 Zagrebelsky, El Derecho, S. 60; Laporta, Doxa (1999) 22, S. 322 ff.

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gegangen wird, wodurch es wahrscheinlicher wird, dass das Recht vermittels der Analogie vervollständigt werden muss.109 Außerdem müssen diese unveränderten Mängel der Gesetzgebung hauptsächlich durch den Richter behoben werden, indem dieser das betreffende Gesetz an die verfassungsrechtlichen Vorgaben angleicht oder unmittelbar durch konstitutionelle Prinzipien und Werte ersetzt. In letzterem Fall wird die Übernahme legislativer Funktionen durch die Judikative akzeptiert und gefördert.110 Es ist offensichtlich, dass der radikale Neukonstitutionalismus einen geeigneten konzeptionellen Rahmen bietet, um die richterliche Rechts(fort)bildung und insbesondere die Anwendung der Analogie zu legitimieren. Trotzdem fasst er die rechtsetzenden Befugnisse des Richters meines Erachtens zu weit.111 Zunächst wird dadurch das Demokratieprinzip ungewollt unterwandert, da die gerichtlichen Entscheidungen sich zu Schlüsselelementen des Rechtssystems entwickeln (v. a. ermöglichen sie es, den Inhalt der Verfassung herauszuarbeiten). Sie entstammen aber einem nicht demokratisch legitimierten Organ (bzw. einem bestenfalls deutlich weniger legitimierten als die legislative Gewalt).112 So fehlt die Gesetzbindung als wichtiger Bestandteil des Gewaltenteilungsgrundsatzes.113 Außerdem wird ein fast naives Vertrauen in den Richter zugrunde gelegt, vergleichbar dem außergewöhnlichen Herkules Dworkins114, einem Richter mit unbegrenzten Fähigkeiten, in der Lage, immer die richtigen Antworten auf die ihm zur Entscheidung unterbreiteten Fälle zu finden.115 Es gerät in Vergessenheit, dass viele der verfassungsrechtlichen Regeln und Prinzipien so weit gefasst sind, dass sie einem Blankett gleichen, das den Richter dazu einlädt, es seinen Vorstellungen gemäß auszufüllen; vorzugswürdig ist dann die Intervention des Gesetzgebers.116 Der radikale Neukonstitutionalismus ist also in hohem Maße ungeeig109 Es mangelt auch nicht an Autoren, die, aus einer ähnlichen Perspektive heraus, die Gesetzeslücken statt durch Analogie durch den Rückgriff auf grundrechtliche Prinzipien oder Normen schließen möchten. So erkennt Roxin, AT, § 22, Rn. 109 ff. die unmittelbare Anwendung von Art. 4 GG an und gesteht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen entschuldigende Wirkung zu. Ebenso räumt Kühl, AT, § 9, Rn. 93 f., dem Widerstandsrecht aus Art. 20 GG rechtfertigende Wirkung ein. Ähnlich Ferrajoli, Derecho y razón, S. 928 ff. 110 Seien diese legislativen Befugnisse identisch mit denen des Parlaments, vgl. Dworkin, Taking Rights, S. 150 ff.; Posner, Cornell Law Review (2006) March, S. 773; Salguero, Argumentación, S. 150 f.; Lifante Vidal, Doxa (2002) 25, S. 415 ff. unterscheidet zwischen beiden Arten gesetzgeberischer Aktivität. 111 Schon kritisch über diese Frage Forsthoff, Der Staat, S. 144. 112 Krey, Keine Strafe, Rn. 124; Dreier, ARSP (1991) 40, S. 94. 113 Sinemus, Der Grundsatz, S. 310. 114 Dworkin, Taking Rights, S. 105 ff. 115 Ortiz de Urbina Gimeno, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 110 f. 116 Dieser Ansicht liegt der kritisierbare Glaube zugrunde, dass die Verfassung dazu geeignet ist, das Gesetz zu ersetzen und aus ihr folglich unmittelbar sämtliche Rechts-

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net, um richterrechtliche Aktivitäten wirklich einzuschränken und demontiert schließlich die Gewaltenteilung.117 Insofern bietet der radikale Neukonstitutionalismus meiner Meinung nach kein geeignetes Modell, um die Analogie in bonam partem zu begründen, da diese dort nicht als begrenzte Rechtsfortbildungsmethode in Ausnahmefällen wahrgenommen wird, sondern einem Organ ohne hinreichende demokratische Legitimation zu weitreichende Befugnisse gewährt werden.118 Die fehlenden Grenzen gerichtlicher Aktivität leisten zudem der willkürlichen Rechtsetzung Vorschub.119 Die Anerkennung richterlicher Rechtsbildung ginge zu Lasten wesentlicher rechtsstaatlicher Grundsätze, wie dem Demokratieprinzip oder dem Willkürverbot.120 e) Aus einem anderen Blickwinkel heraus erscheint es nicht notwendig, den Postulaten des klassischen Konstitutionalismus vollständig abzuschwören, um die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung durchzusetzen. Dieser Prozess kann vielmehr durch eine Aufwertung dieser Postulate zu Ende geführt werden. So möchte der gemäßigte Neukonstitutionalismus121 eben gerade nicht auf eine Reihe zentraler rechtsstaatlicher Maximen, wie den Grundsatz der Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, den Vorhersehbarkeitsgrundsatz, die Bindung des Richters an das Gesetz und das Willkürverbot verzichten. Ganz im Gegenteil: Diese gemäßigte Richtung des Neukonstitutionalismus strebt danach, die Einschränkungen des vorigen Modells zu überwinden, indem er Elemente sozialrechtsstaatlicher Verfassungen in seine Theoretisierung einbezieht. Auf diese Weise ist es möglich, den Ansprüchen des Gesetzlichkeitsprinzips zu genügen und die Macht des Staates tatsächlich zu zügeln. Die Einbeziehung verfassungsrechtlicher Werte und sonstiger Rechtsgrundsätze in die Analysen des Gesetzlichkeitsprinzips sind wertvolle Hilfsmittel, um die Gesetzgebung zu bewerten und zu verbessern.122 Es besteht die Möglichkeit, dass der Gesetzgeber sich irrt und eine Regelung trifft, die verfassungswidrig oder axiologisch unangemessen ist. Das folgt dann aber nicht zwingend aus der Unfähigkeit des Parlaments, sondern aus der menschlichen Unzulänglichkeit des regelungen abgeleitet werden könnten. Vgl. zu dieser Kritik Alexy, Teoría de los derechos, S. 504; Zagrebelsky, El Derecho, S. 14. 117 Diese Demontage der Gewaltenteilung erscheint kritisierbar, wenn man davon ausgeht, dass dieses Ideal wesentlich für die Darstellung des Gesetzlichkeitsprinzips im Rechtsstaat war. Vgl. Hruscka, in: Puppe-FS, S. 21 ff. 118 Krey, ZStW (101) 1989, S. 864. 119 Vor dieser Gefahr warnend Dreier, ARSP (1991) 40, S. 94. 120 Es kann deshalb nicht verwundern, dass ein ungebremstes Handeln des Richters von der Lehre als Aufopferung der Gleicheit und der formellen Gerechtigkeit betrachtet wird, vgl. Moore, Southern California Law Review (1985) 278, S. 316. 121 Die hier verwendete Terminologie entspricht derer von Dreier, vgl. Dreier, ARSP (1991) 40, S. 95. 122 Dreier, ARSP (1991) 40, S. 96, hebt die Bedeutung dieser Rechtselemente zur Verbesserung der Gesetzgebung hervor.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

Gesetzgebers selbst. Es kann nicht der Anspruch fehlerfreier Gesetzgebung erhoben werden;123 die Tatsache, dass diese Fehler existieren, bedeutet aber nicht, dass auf die Gesetzgebung verzichtet werden oder sie von einer aus der Verfassung heraus entwickelten Rechtsprechung ersetzt werden sollte.124 Verfassungswidrige Gesetze und Gesetzeslücken existieren, sind aber eindeutig Phänomene mit Ausnahmecharakter. Aus diesem Grund ist es ungerechtfertigt, das Gesetz stets der eventuellen Verfassungswidrigkeit oder eines Fehlers zu verdächtigen.125 In Wirklichkeit ergänzt die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung Elemente in eben jener, um die Gesetzgebung zu bewerten und mögliche Mängel feststellen zu können. Gerade wenn bei der Analyse der Gesetzgebung konstitutionelle Richtwerte und rechtliche Prinzipien einbezogen werden, ist es möglich, externe Kritik am Rechtssystem zu äußern, die potentielle Mängel, wie beispielsweise etwaige Gesetzeslücken, freilegt. Wir sehen also, dass aus dieser Perspektive die Möglichkeit besteht, Fehler der Gesetzgebung festzustellen, die durch die Intervention des Richters ausgebessert werden müssen.126 Ohne jeden Zweifel beschränkt der Ausnahmecharakter der Gesetzeslücken die Rechtssetzungskompetenzen des Richters – vor allem in einem Vergleich mit der im radikalen Neukonstitutionalismus vertretenen Position –, wobei das richterliche Schließen von Gesetzeslücken auch dort als außergewöhnlich anzusehen ist.127 Nach dem Neukonstitutionalismus darf der Richter nicht gebunden sein, sondern soll in bestimmten Fällen Aufgaben übernehmen, die vorrangig einer anderen Gewalt obliegen. Es handelt sich aber um Randkompetenzen, die der Richter nur in sehr begrenzten Fällen ausüben kann. Denn die Regel besagt, dass diese Fehler vom Gesetzgeber selbst korrigiert werden müssen.128 Die modernen 123

Fletcher, Conceptos básicos, S. 152. Gerade in einem dem Demokratieprinzip oder der Volkssouveränität verpflichteten Staat soll die Gesetzgebung vor allem die Funktion erfüllen, die weiten normativen Inhalte konstitutioneller Bestimmungen zu präzisieren und zu konkretisieren. Die richterlichen Präzisierungen ordentlicher Gerichte (also nicht Verfassungsgerichte) können die des Gesetzgebers nicht ersetzen, vgl. Bayón, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 234 f. Im Parlament sollen die Debatten betreffen, wie das diskutierte Gesetz die Interessen der verschiedenen Gesellschaftsbereiche am besten zur Geltung bringt. Die Gerichte haben sich grundsätzlich der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung unterzuordnen, obwohl die konstitutionellen Prinzipien verschiedene Konkretisierungsmöglichkeiten offen lassen. Vgl. hierzu Larenz, Metodología, S. 339. 125 Laporta, Doxa (1999) 22, S. 322. Ähnlich Zagrebelsky, El Derecho, S. 38. 126 Der Richter soll also eine gerechte Entscheidung treffen, die den der Regelung zugrundeliegenden Wertungen entspricht. Dabei soll er jedoch hauptsächlich auf die vom Gesetzgeber festgesetzte materiell-rechtliche Grundlage zurückgreifen. Vgl. Ugartemendia Eceizabarrena, La eficacia justificante, S. 212 f. 127 Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation, S. 375 ff. sieht auch die Rechtsfortbildung als ein beschränktes oder an bestimmte Voraussetzungen geknüpftes Unterfangen. 128 Vile, Constitutionalism, S. 415 f.; Ehlers, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 1, Rn. 8. 124

B. Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips

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institutionellen Dynamiken zeigen, dass keine der Staatsgewalten die legislativen, judikativen und exekutiven Kompetenzen exklusiv ausübt, sondern eine Gewalt in Ausnahmefällen auch Kompetenzen einer anderen übernehmen kann.129 Das führt nicht zur Leugnung der Gewaltenteilung, sondern zeigt, dass die Gewalten über Kernfunktionen sowie periphere oder marginale Funktionen verfügen.130 Der Richter kann sich demgemäß genötigt sehen, einen Fehler des Gesetzes durch die Analogie in bonam partem zu korrigieren; und diese richterrechtliche Schaffung eines Strafbefreiungsgrundes spiegelt die Ausübung einer peripheren Funktion der judikativen Gewalt wider.131 Indem es sich um eine periphere und folglich außerordentliche Funktion handelt, kollidiert ihre Ausübung auch nicht mit dem Demokratieprinzip. Die Unterscheidung zwischen Kern- und peripheren Funktionen steht nicht in Widerspruch zum Grundsatz der Gewaltenteilung und ist außerdem um einen besseren Austausch unter den Gewalten und einer Verbesserung staatlicher Funktionsabläufe bemüht.132 Daher wird eine Verbesserung der Koordination zwischen den drei Gewalten angestrebt133, anstatt einer Gewalt Vorrang vor den anderen einzuräumen.134 Meiner Ansicht nach trägt dieser gemäßigte Vorschlag bezüglich der gerichtlichen Funktion dazu bei, das Gesetzlichkeitsprinzip und das Analogieverbot in angemessener Weise zu erfassen. Einer der wesentlichen im Rahmen dieser Arbeit herausgestellten Punkte betrifft die Tatsache, dass die Befugnis des Richters, analoge Rechtsvorschriften zu schaffen, begrenzt ist und Ausnahmecharakter besitzt. Aus diesem Grund ist es wichtig, über ein konzeptionelles Instrumentarium 129 Maunz/Dürig-Herdegen, Art. 79, Rn. 140; Schoch/Schneider/Bier-Schmidt-Aßmann/Schenk, Einleitung, Rn. 56 f. 130 Demnach könnte man von zwei unterschiedlichen Funktionen sprechen: Die primären, d.h. die wegen ihrer Zugehörigkeit zum konstitutionellen Kernbestand wesentlichen und die peripheren, die modifizierbar wären, vgl. Gámez Mejías, El significado jurídico, S. 325. Das BVerfG hat sich ausdrücklich dafür ausgesprochen, im Kontext der Befugnisse staatlicher Organe nur den Kernbereich zu schützen, vgl. Ehlers, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 1, Rn. 8. Diese Unterscheidung treffen auch u. a. v. Münch, in: Erichsen/Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 3–5; Czybulka, Die Legitimation, S. 105 ff. 131 Sogar in den Worten Hassemers, Persona y Derecho (1996) 35, S. 147, wird deutlich, dass der Gesetzgeber auf die Vervollständigung seiner legislativen Arbeit durch den Richter vertraut. 132 Aus diesem Grund kann die richterliche Schaffung generischer Rechtsnormen das Demokratieprinzip zwar teilweise verlagern, aber nicht verdrängen, da es sich nur um eine periphere Befugnis der Judikative handelt. So Sastre Ariza, in: Carbonell (Hrsg.), Neoconstitucionalismo(s), S. 244. 133 Man könnte auch von wechselseitigen Interaktionen der Staatorgane bei der Handhabung der ihnen jeweils anvertrauten staatlichen Gewalt sprechen, vgl. Vogel, NJW (1996), S. 1506. 134 Holtmann, in: Kropp/Lauth (Hrsg.), Gewaltenteilung und Demokratie, S. 111 f.; Zagrebelsky, El Derecho, S. 132; Diez Ripollés, La racionalidad, S. 79–81; García de Enterría, in: García de Enterría/Menéndez Menéndez, El Derecho, la Ley y el Juez, S. 55.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

zu verfügen, das die Existenz und den geregelten Umgang mit Gesetzeslücken anerkennt. In Übereinstimmung mit der dargestellten Kritik am radikalen Konstitutionalismus kann eine unbegrenzte Anerkennung der Analogie in rechtsstaatlicher Hinsicht höchst schädlich sein. Und zwar selbst dann, wenn dies zur Erweiterung der Freiheit und zur Verhinderung rechtlicher Sanktionen erfolgt. Daraus folgt, dass das Gesetzlichkeitsprinzip nicht dergestalt interpretiert werden darf, dass das Demokratieprinzip, das Willkürverbot und der Vorhersehbarkeitsgrundsatz entwertet würden.135, 136

II. Strafrechtliche Wurzel 1. Fragestellung a) Von den zahlreichen Überlegungen, die in der Lehre üblicherweise behandelt werden, um die strafrechtliche Wurzel des Gesetzlichkeitsprinzips zu begründen, seien hier vor allem zwei genannt: die Generalprävention und das Schuldprinzip.137 Während manche Autoren aus der engen Verbindung dieser Konzepte auf einen Vorrang der Generalprävention schließen,138 sind sie für andere beide gleichermaßen gültig, um die Gesetzlichkeit darzulegen.139 Ich möchte hier beide Perspektiven in groben Zügen skizzieren und dabei einige ihrer Schwächen aufzeigen. b) Wie allgemein bekannt, geht die Begründung des Gesetzlichkeitsprinzips über die Generalprävention historisch gesehen auf Feuerbach140, 141 zurück, konkret auf seine Straftheorie des „psychischen Zwangs“ 142, 143. Zusammenfassend sagt Feuerbach144: 135 Ferreres Comella, El principio, S. 21, 43 ff.; Falcón y Tella, El argumento, S. 191, betrachten die rechtliche Vorhersehbarkeit als unverzichtbaren Wert der Gesetzlichkeit, auch innerhalb der neuen Richtungen des Konstitutionalismus. 136 Die Rolle der rechtlichen Vorhersehbarkeit in der Entwicklung des Konstitutionalismus ist sehr wichtig, um das Gesetzlichkeitsprinzip genau zu verstehen. Leider übersteigt eine detaillierte Untersuchung dieses Aspekts den Rahmen der gegenständlichen Arbeit. Ausführlich Montiel, Analogía, S. 77 ff. 137 Schünemann, Nulla poena, S. 11 ff.; Roxin, AT, I, § 5, Rn. 22–25; MüKo-Schmitz, § 1, Rn. 39; Bacigalupo, El principio, in: ders., Principios constitucionales de derecho penal, S. 46 f. 138 Schünemann, Nulla poena, S. 11 ff. 139 Roxin, AT, § 5, Rn. 24 f. 140 Feuerbach, Lehrbuch, § 14 ff. 141 Allgemein zu den Folgen Feuerbachs Strafrechtstheorie für die Begründung des Gesetzlichkeitsprinzips, siehe den wichtigen Beitrag von Hruschka, in: Puppe-FS, S. 18 ff.; Greco, Lebendiges, S. 49 ff. 142 Dennoch bedarf es der Klarstellung, dass diese Verbindung zwischen dem Bestimmtheitsgebot und der Generalprävention auch in den Werken Montesquieus, Beccarias und Voltaires durchscheint, vgl. Montesquieu, Del espíritu, S. 38 und 131; Beccaria, De los delitos, S. 31 f., 105 f.; Prieto Sanchís, La filosofía penal, S. 76.

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„Alle Uebertretungen haben ihren psychologischen Entstehungsgrund in der Sinnlichkeit, inwiefern das Begehungsvermögen des Menschen durch die Lust an oder aus der Handlung zur Begehung derselben angetrieben wird. Dieser sinnliche Antrieb kann dadurch aufgehoben werden, dass Jeder weiss, auf seine That werde unausbleiblich ein Uebel folgen, welches grösser ist, als die Unlust, die aus dem nicht befriedigten Antrieb zur That entspringt.“

Damit die Strafe nach dieser Theorie ihren Sinn, kriminelle Energie zu unterdrücken, erfüllen kann, ist also entscheidend, dass der potentielle Delinquent sicher damit rechnet, ein Übel zu erleiden. Hier ergibt sich ein Zusammenhang mit dem Legalitätsprinzip und insbesondere mit dem Gesetzlichkeitsprinzip.145 Gerade die Gebote lex certa, scripta, praevia und stricta gewährleisten, dass der Normadressat vor seiner Handlung weiß, was das Gesetz fordert und welche Konsequenzen daraus entstehen, d.h., welche Übel auf die Tat folgen. Wäre bspw. die Strafbegründung mittels Analogie oder unbestimmter Straftatbestände zulässig, könnte diese Strafdrohung keinerlei psychischen Zwang entwickeln.146 Aus einer anderen, aber ähnlichen Perspektive erhellt wiederum die enge Verbindung zwischen den Maximen „keine Strafe ohne Gesetz“ (nulla poena sine lege) und „keine Strafe ohne Schuld“ (nulla poena sine culpa). Wenn Strafe notwendig Schuld voraussetzt, kann nur dann davon gesprochen werden, eine Person habe schuldhaft gehandelt, wenn der Täter vor der Tat wusste oder hätte wissen können, dass sein Verhalten verboten ist.147 Schuld setzt mithin voraus, dass die Strafdrohung vor der Tat gesetzlich bestimmt ist. c) Leider übergehen die zahlreichen, sich einer oder beiden Sichtweisen annehmenden Lehrbücher, Monographien und Artikel häufig einige Unstimmigkeiten, die die beschränkte Eignung des Grundsatzes der Generalprävention und des Schuldprinzips aufzeigen, die strafrechtlichen Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips angemessen darzulegen. Die erste Beschränkung dieser Konzepte ist methodologischer Natur und hat mit ihrer angestrebten teleologischen Ausrichtung zu tun.148 Für ein richtiges Verständnis dieser Beschränkung ist es wichtig, die Entstehung der modernen Theorien zum strafrechtlichen Ursprung des Gesetzlichkeitsprinzips in den richti143 Dass sich die Vertreter einer generalpräventiven Begründung des Gesetzlichkeitsprinzips auf Feuerbach berufen bedeutet nicht, dass sie nur seine Gedanken wiedergeben. Vgl. dazu Schünemann, Nulla poena, S. 11 f. 144 Feuerbach, Lehrbuch, § 13. 145 Hruschka, in: Puppe-FS, S. 26 ff. 146 Schünemann, Nulla poena, S. 11; MüKo-Schmitz, § 1, Rn. 39; Roxin, AT, § 5, Rn. 22 f.; Antolisei, PG, S. 67 f. 147 Roxin, AT, § 5, Rn. 24, 25, S. 148; Bacigalupo, El principio, in: ders., Principios constitucionales de derecho penal, S. 46 f. 148 Kritisch zu diesem Punkt, jedoch aus einer anderen Perspektive, auch Cuello Contreras, PG, S. 201.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

gen Kontext zu stellen und nicht zu vergessen, dass die wichtigsten Schriften zu diesem Thema im Zusammenhang mit der regen Diskussion über die teleologische Ausrichtung des Strafrechts erscheinen.149 So wird versucht, das Gesetzlichkeitsprinzip, genauso wie die Rubriken Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld, als Entsprechung der Strafzwecke zu betrachten.150 Aus diesem Grund scheint es nicht abwegig anzunehmen, dass auch die Aufnahme der Generalprävention in das Erklärungsmodell der Gesetzlichkeit auf diese teleologische Ausrichtung der zentralen strafrechtlichen Institutionen zurückzuführen ist.151 Trotzdem ist es unangemessen, von einer echten Ausrichtung an den Zwecken des Strafrechts zu sprechen, wenn doch nur eine Interpretation der strafrechtlichen Institutionen anhand der Strafzwecke angestrebt wird.152 Begrifflich müssen die Zwecke des Strafrechts von den Zwecken der Strafe unterschieden werden, da die Strafe gerade eines der Mittel ist, die das Strafrecht zur Erfüllung seiner eigenen Zwecke zur Verfügung hat.153 Zentrale Elemente einer wirklich teleologischen Auffassung des Gesetzlichkeitsprinzips müssen deshalb die Zwecke des Strafrechts im engeren Sinn sein.154 Aber es existieren auch zusätzliche inhaltliche Gründe, die den Verzicht auf die Generalprävention und den Schuldgrundsatz als Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips nahelegen. Im Hinblick auf den Schuldgrundsatz kann der Einwand erhoben werden – wie es ein großer Teil der Lehre155 bereits getan hat –, dass dieser eine nur unbefriedigende Erklärung des nulla poena-Axioms wäre.156 Das ist der Fall, wenn man 149 Ein guter Indikator dafür ist die Zeit, in der die wichtigsten Beiträge zu diesem Thema erschienen, d.h. zwischen der Mitte der 70er und dem Anfang der 80er Jahre, vgl. u. a. Schünemann, Nulla poena, passim; Roxin, in: ders., Iniciación al Derecho penal de hoy, S. 96 ff.; ders., Kriminalpolitik, passim, insbesondere S. 16 ff. 150 Ein Überblick über diese teleologische Ausrichtung in Silva Sánchez, in: Schünemann (Hrsg.), El sistema moderno del Derecho penal: cuestiones fundamentales, S. 19 ff.; Schünemann, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystem, S. 45 ff. 151 M. E. ist dies implizit auch bei Schünemann, Nulla poena, passim angelegt. 152 Diese Kritik betrifft m. E. auch Kindhäusers Deutung vom Sanktionzweck, vgl. Kindhäuser, in: Koch (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht: Alte Antworten auf neue Fragen?, S. 82 ff.; wo er von Sanktionszweck spricht, sollte man vom Strafrechtszweck sprechen. 153 A. A. Mir Puig, PG, Abs. 3, Rn. 2. Stratenwerth, ¿Qué aporta, S. 20 ff., weist zutreffend darauf hin, dass die Gleichstellung der Strafzwecke mit den Zielen des Strafrechts oft dadurch erreicht wird, dass der Inhalt der Strafzwecktheorien erheblich verzerrt wird, insbesondere im Fall der Theorie der positiven Generalprävention. 154 Jakobs, AT, Abs. 4, S. 65, Fn. 5 hält es für unbefriedigend, die strafrechtlichen Erwägungen zum Gesetzlichkeitsprinzip auf die generalpräventiven Ziele zu reduzieren. 155 Schünemann, Nulla poena, S. 15; Jakobs, AT, Abs. 4, Rn. 3, S. 65; Langer, in: Dünnebier-FS, S. 438. 156 Eine allgemeine kritische Betrachtung zu dieser Frage in: Schreiber, Gesetz und Richter, S. 209 ff.

B. Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips

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davon ausgeht, dass der Schuldvorwurf nur die Unrechtskenntnis voraussetzt, nicht jedoch die Kenntnis der Strafe. Dann wäre nicht zu erklären, warum auch der Strafrahmen gesetzlich bestimmt sein muss. Dem ist mit Bacigalupo157 hinzuzufügen, dass die Normkenntnis nicht (nur) vom geschriebenen, sondern auch vom ungeschriebenen Recht abhängt und somit auch der Vorbehalt des Gesetzes – also die Bedingung, dass Delikte durch ein Gesetz geregelt werden – und der lex scripta-Satz nicht erklärt werden könnten. Ähnliche Probleme ergeben sich im Zusammenhang mit dem Analogieverbot und dem Verbot der rückwirkenden Anwendung nachteiliger Gesetze.158 Die generalpräventive Begründung des Gesetzlichkeitsprinzips beruht ihrerseits wiederum auf zwei fraglichen Prämissen. Die erste hat mit den Gründen zu tun, wegen derer wir darauf verzichten, Straftaten zu begehen. Indem diese Ansicht die Nichtbegehung eines Delikts so stark an die vorige und klare Kenntnis der Strafdrohung knüpft, wird irrtümlich angedeutet, der Normadressat befolge diese nur aus Angst vor Strafe.159 Es wird vernachlässigt, dass die Gründe, eine Norm zu befolgen oder nicht straffällig zu werden, ungemein vielfältig sind und schwerlich auf die reine Furcht vor Bestrafung reduziert werden können.160 Der Verzicht auf deliktisches Verhalten kann auf die Angst vor Strafe, auf moralische oder auf ganz andere Gründe zurückzuführen sein. Tatsächlich handelt es sich dabei aber eher um eine Frage der Sozialpsychologie als um eine des Rechts.161 Die zweite Prämisse kann folgendermaßen beschrieben werden: Die Gesellschaft verzichtet auf die Deliktsbegehung, wenn sie mit gewisser Sicherheit strafbares Verhalten und die staatlichen Reaktionen darauf erkennen kann. Zwar hält die Vorhersehbarkeit der strafrechtlichen Reaktion bestimmte Bürger von der Deliktsbegehung ab, es lässt sich aber keineswegs bestätigen, dass die generalpräventiven Effekte der Strafe gerade von der richtigen Verbots- und Strafdrohungskenntnis abhängen.162 Im Gegenteil, je unbestimmter die Norm, in desto höherem Maße festigt sich die präventive Wirkung, da der Einzelne nicht mit Sicherheit weiß, wegen welchen konkreten Verhaltens er zur Verantwortung gezogen werden wird. In einem System unbestimmter Gesetze, in dem verbotenes

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Bacigalupo, El principio, in: ders., Principios constitucionales de derecho penal,

S. 47. 158

Madrid Conesa, La legalidad, S. 26 ff.; Jakobs, AT, Abs. 4, Rn. 4. M. E. wird diese Prämisse u. a. von Lampe, Strafphilosophie, S. 41 f., ausdrücklich hochgehalten. 160 Ähnlich Jakobs, AT, Abs. 4, Rn. 5; Seher, in: von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles, S. 75 f. 161 Hart, El Concepto, S. 103 f. 162 Sogar diese Prämisse wäre durch keine empirische Studie verbürgt, vgl. Jakobs, AT, Abs. 4, Rn. 5; Streng, Strafrechtliche, Rn. 65 f. 159

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

Verhalten nicht klar erkennbar ist, nehmen die Bürger, um der Bestrafung zu entgehen, sowohl Abstand von Verhaltensweisen mit hohem sozial-ethischen Unwertgehalt als auch von allen anderen, die für bedeutungslos gehalten werden könnten.163 Ein Tatbestand z. B., wonach „mit 10 bis 20 Jahren Freiheitsstrafe bestraft [wird], wer durch sein Verhalten gegen die Moral und guten Sitten verstößt“, hemmt gleichermaßen den vorsätzlichen Mörder, wie das Liebespaar, das sich am helllichten Tag leidenschaftlich am Hugenottenplatz küsst.164 Folglich scheint offensichtlich, dass eine hohe Unbestimmtheit des Tatbestandes präventive Ziele wirksamer fördert, als ein schon vor der Tat hinreichend bestimmtes Gesetz.165 2. Ausrichtung an den Zwecken des Strafrechts und Begründung des Gesetzlichkeitsprinzips und der Analogie in bonam partem a) Die vorstehende Kritik soll aber trotzdem nicht zu Skepsis gegenüber der Notwendigkeit führen, eine strafrechtliche Wurzel des Gesetzlichkeitsprinzips freizulegen. Vielmehr ermöglicht erst die Berücksichtigung dieser Wurzel zu verstehen, was Gesetzlichkeit auf dem Gebiet des Strafrechts überhaupt bedeutet. Nur auf dieser Grundlage kann festgestellt werden, welche Methoden und Verfahrensweisen der Staatsgewalten rechtmäßig sind. Dass bspw. im Bereich des Privatrechts die Analogie zulässig ist und ein höherer Grad an gesetzlicher Unbestimmtheit geduldet wird,166 heißt nicht, dass das Gesetzlichkeitsprinzip dort keine Gültigkeit besäße. Vielmehr erfordern die Besonderheiten dieses Rechtsgebietes eine vom Strafrecht verschiedene Ausgestaltung der judikativen und legislativen Befugnisse. Die in jedem Rechtsgebiet unterschiedliche Funktionsweise der Gesetzlichkeit hängt also von der Akzeptanz einer spezifischen Wurzel ab, welche die konkreten Anforderungen aufzeigt, die jedes Rechtsgebiet an die Gesetzlichkeit stellt. Die Ziele und Zwecke jedes Rechtsgebietes spielen somit eine fundamentale Rolle bei der Bildung dieser spezifischen Wurzel. b) Einerseits verfolgt das Strafrecht präventive Zwecke, die sich auf die Notwendigkeit stützen, die Erwartungen der Gesellschaft und der Opfer im Hinblick auf die Ausübung des ius puniendi zu erfüllen. Die Gesellschaft erwartet, dass das Strafrecht als Instrument geeignet ist, die Kriminalitätsrate zu senken, und zwar vorwiegend mittels der Strafdrohung sowie deren effektiver Durchset163 Ortiz de Urbina Gimeno, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 90. 164 Diese Kritik gilt ungeachtet anderer verfassungsrechtlicher Fragestellungen, die sich aus dieser hypothetischen Norm ergäben. 165 A. A. Roxin, AT, § 19, Rn. 35. 166 Zur Leistung des Gesetzlichkeitsprinzips im Privatrecht, wo die Gesetzlichkeit als „Gesetzbindung“ zutreffend verstanden ist, vgl. Díez-Picazo/Guillón, Sistema, I, S. 105 f.

B. Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips

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zung.167 Die Androhung von Strafe misst dem Verhalten der Bürger Gewicht bei, während ihre effektive Durchsetzung der Drohung Ernsthaftigkeit verleiht,168 das Vertrauen in die Gültigkeit der verletzten Rechtsnormen wiederherstellt und außerdem die Opfer in ihrer Rolle als von der Straftat Hauptbetroffene rehabilitiert.169 Das Strafrecht versucht folglich, negative Anreize zu schaffen170 und die bereits durch andere formelle oder informelle soziale Kontrollinstanzen bewirkten Anreize zu verstärken,171 um die Menschen von der Deliktsbegehung abzuschrecken.172 Gleichzeitig erzeugt die Existenz einer institutionalisierten strafrechtlichen Reaktion des Staates gegenüber künftigen und gegenüber bereits verübten Straftaten ein derartiges Vertrauen in das Rechtssystem, dass die Bürger keine Notwendigkeit sehen, Selbstjustiz zum Schutz ihrer Rechte zu üben.173 Andererseits strebt das Strafrecht danach, seine Reaktion gegenüber den Delinquenten rational zu gestalten. Dadurch soll verhindert werden, dass die Durchsetzung der präventiven Zwecke zu einer Missachtung der grundlegenden Rechte des Straftäters führt. Hier verfolgt das Strafrecht das Ziel, das ius puniendi einzuschränken. Das wird erreicht, indem restriktive Kriterien zur Auswahl strafrechtlich relevanten Verhaltens festgesetzt werden, indem Mindestbedingungen zur Verhängung und Vollstreckung der Strafe gefordert werden und auch indem außergewöhnliche, die Strafe ausschließende Umstände anerkannt werden.174 Dieses Ziel erfordert umfassende Garantien, die das Strafrecht von der Gesetzge-

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Silva Sánchez, Aproximación, S. 217 f. Trotzdem ist es nicht zu übersehen, dass das Vertrauen in die Rechtsordnung und die soziale Ordnung überhaupt nicht nur durch hohe Kriminalitätsraten oder unsanktionierte Verbrechen, sondern auch durch als ungerecht erlebte Verurteilungen untergraben wird, vgl. Neumann, Zurechnung, S. 273 f. 169 Hassemer, Einführung, S. 68 f. Eine solche Erholung der Position des Opfers kommt aus der symbolischen Wiederherstellung seiner individuellen Rechte aber nicht aus einem sozusagen „Grundrecht auf Sicherheit“. Zur Diskussion über das Grundrecht des Opfers auf Sicherheit, Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 60 ff.; Silva Sánchez, Revista de Derecho Judicial (2007) VIII, S. 327 ff. 170 Auch wenn gewöhnlich die Strafdrohung für den einzigen Anreiz gehalten wird, um rechtswidriges Verhalten zu unterbinden, so wird das Motivbündel aus ökonomischer Sicht auf die Krininalpolitik erweitert. Zur Gruppe strafrechtlicher Anreize, siehe Ortiz de Urbina Gimeno, RDPC (2004) 2, S. 37 f. Siehe auch Streng, Strafrechtliche, Rn. 65. 171 Zur Unterscheidung zwischen diesen Formen sozialer Kontrolle, vgl. Jescheck/ Weigend, AT, S. 2 ff. 172 Silva Sánchez, Aproximación, S. 217 f.; Sánchez Ostiz, Fundamentos, S. 132 f. 173 Welzel, Abhandlung, S. 282; Silva Sánchez, Aproximación, S. 224 f. 174 Der Auftrag, das ius puniendi zu begrenzen, wird von der Lehre üblicherweise als strafrechtliches Ziel aufgefasst, das sich nicht harmonisch in die Reihe der übrigen präventiven Ziele einfügt. Aus dieser Perspektive wäre die Beschränkung der Strafgewalt ein rein externes Korrektiv der anderen Zielsetzungen bzw. es würde ihr Vorrang gegenüber den anderen Zwecken eingeräumt. Silva Sánchez, Aproximación, S. 217, lehnt diese Position zutreffend ab. 168

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

bung bis hin zur strafrechtlichen Zurechnung bedingen.175 So finden wir Prinzipien wie das der Subsidiarität, des Rechtsgüterschutzes, der Verhältnismäßigkeit, der Schuld, der individuellen Verantwortlichkeit, etc. Genauso wie prozessuale Garantien wie unter anderem die Unschuldsvermutung oder der ne bis in idemGrundsatz neigen sie dazu, strafrechtliche Eingriffe zu reduzieren. Die Einschränkung des ius puniendi wird außerdem dadurch erreicht, dass Umstände anerkannt werden, die aufgrund fehlender Strafwürdig- oder -bedürftigkeit zum Verzicht auf oder zur Milderung der Strafdrohung zwingen. Gerade die Gründe für die Tatbestandslosigkeit, die Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe sowie die Strafausschließungs- und Strafmilderungsgründe nehmen dem Staat die Möglichkeit, in die Freiheit der Bürger einzugreifen. Kurzum, das Strafrecht verfolgt zwei Ziele: Ein Präventionsziel – das durch die Bemühung konkretisiert wird, Anreize für rechtsgutsneutrale Verhaltensweisen zu schaffen – und die Strafgewaltsbeschränkung.176 Dennoch gibt es nicht wenige Situationen, in denen diese Ziele in Konflikt geraten. Es genügt schon, sich zu verdeutlichen, wie durch die Bestrebungen, das Opfer in das Verfahren und das Strafrecht einzubeziehen, die grundlegenden Angeklagtenrechte erheblich beschnitten wurden.177 Eine ähnliche Beobachtung kann im Hinblick auf die Begrenzung der Strafgewalt angestellt werden, da deren Verschärfung zu Situationen führt, in denen letztlich der präventive Auftrag des Strafrechts vereitelt wird178. Es ist, wie Silva Sánchez179 zeigt, daher notwendig, die doktrinelle Debatte auf eine Synthese der in Konflikt befindlichen Ziele hinzuleiten, in der eine „maximale präventive Effizienz bei minimaler Aufopferung individueller Freiheit“ erreicht würde. Wie wir im Folgenden sehen werden, ist dieser Konflikt zwischen den Zielen sowie die Notwendigkeit einer ständigen Abwägung unter ihnen von besonderer Bedeutung, wenn es darum geht, die dem Gesetzlichkeitsprinzip entspringenden Gebote und Verbote zu interpretieren. c) Eine der ersten Konsequenzen, die diese Ausrichtung an den Zielen des Strafrechts für die Gesetzlichkeit hat, liegt darin, dass dieses Prinzip nicht nur auf den Schutz individueller Freiheit des Delinquenten einwirkt, sondern auch auf Fragen der Prävention. Das bedeutet, dass das Gesetzlichkeitsprinzip die Kompetenzen der staatlichen Mächte nicht nur bei der Verhängung einer Strafe, sondern auch bei der Anerkennung und Auslegung des anwendbaren Rechts zugunsten des Täters bestimmt. Die Garantien lex certa, lex scripta, lex stricta und 175 Hassemer, Einführung, S. 196 ff.; Mir Puig, Estado, pena y delito, S. 77 ff.; 85 ff.; Silva Sánchez, Aproximación, S. 259 ff.; Carbonell Mateu, Derecho penal, S. 100 ff. 176 Vertiefend zu den Zielen des Strafrechts Montiel, Analogía, S. 85 ff. 177 Silva Sánchez, Poder Judicial (1997) 45, S. 193 f. 178 Zu diesen Spannungen s. vor allem Naucke, Gesetzlichkeit, S. 226 f. 179 Silva Sánchez, Aproximación, S. 258, 298.

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lex praevia finden somit nicht ausschließlich auf dem Gebiet der Begründung und Verschärfung strafrechtlicher Verantwortlichkeit Anwendung.180 Sie gelten mithin auch für die Aufhebung und Milderung der Strafe,181, 182 weil die Nichtbefolgung der Ge- und Verbote des Gesetzlichkeitsprinzips auch das Erreichen der Präventionsziele gefährden könnte. Man versucht – mit dem bekannten Ausdruck von Liepmann – die „Knochenerweichung des Strafrechts“ zu vermeiden.183 Es reicht aus, an die abschreckende Wirkung für rechtstreues Verhalten zu denken, die ein willkürlicher Gebrauch der Analogie in bonam partem oder die Existenz übermäßig weiter, letztlich jeden Fall erfassender Straffreistellungsgründe mit sich brächten.184 Dies ist praktisch der Hauptgrund, aus dem die herrschende Lehre die Analogie-185 und Rückwirkungsverbote186 oder das Bestimmtheitserfordernis im Bereich der Straffreistellung187 nicht vollständig beseitigt und eine weniger strenge Geltung dieser Gesetzlichkeitsanforderungen hinsichtlich Tatbestand und Strafschärfungen vertritt.188 Die Anerkennung der Analogie in bonam partem – aber auch das Verbot der Analogie in malam partem – erklärt sich aus der strafrechtlichen Wurzel des Gesetzlichkeitsprinzips, dank derer das Ziel der Strafgewaltbeschränkung erreicht werden kann. Im ersten Fall wird die Strafgewalt begrenzt, indem ein neuer Strafausschluss- oder Strafmilderungsgrund in das System eingeführt wird; im zweiten Fall mittels des Verbots, die Strafe auf Handlungen auszuweiten, die laut Gesetz nicht strafbewehrt sind. Aber obwohl die Analogie zugunsten des Täters innerhalb dieser Zielsetzung fest verankert ist, ist diese Auslegung in bestimmten Ausnahmefällen umstritten, soweit die Analogie nämlich geeignet ist, die Straf180 So allerdings Gimbernat Ordeig, Concepto y método, S. 47; Runte, Die Veränderung, S. 29; Ferrajoli, Derecho y razón, S. 158. Kritisch hierzu, insbesondere in Bezug auf das Bestimmtheitserfordernis, Erb, ZStW (1996) 108, S. 287 ff. Nach Ashworth, Principles, S. 139, ist dies die von der englischen Rechtsprechung vertretene Doktrin. 181 Erb, ZStW(1996) 108, S. 287 ff.; MüKo-Schmitz, § 1, Rn. 49; Schönke/SchröderEser/Hecker, § 1, Rn. 20; Moreso, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 145 ff. 525 ff.; Ferreres Comella, El principio, S. 34 ff.; de Vicente Martínez, El principio, S. 45. 182 M. E. vertritt auch das BVerfG implizit diese These, BVerfGE 26, 41 (43); 28, 175 (183); 29, 183 (196). Vgl. dazu Langer, in: Dünnebier-FS, S. 432. 183 Liepmann, ZStW (1922) 43, S. 710, 713. 184 Lenckner, JuS (1968) 6, S. 252. 185 Dies lässt sich insbesondere im Zusammenhang mit den übergesetzlichen Entschuldigungsgründen beobachten, vgl. u. a. Kühl, AT, § 12, Rn. 12. 186 Insbesondere im Rahmen von Sonderregelungen für Zeitgesetze (§ 2 Abs. 4 StGB; Art. 2 Abs. 2 spanisches StGB). Zu den Grundlagen, s. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 234 f. 187 Moreso, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 145 ff., weist ausdrücklich auf die Rechtfertigungsgründe hin. 188 Jakobs, AT, Abs. 4, Rn. 1; Roxin, AT, § 10, Rn. 20; Moreso, in: Kudlich/Montiel/ Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 154 f.; Ferreres Comella, El principio, S. 93 ff.; Silva Sánchez, Aproximación, S. 118 ff.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

gewalt zu erweitern, anstatt sie zu begrenzen. Das passiert dann, wenn der Rückgriff auf die Analogie in bonam partem, um einen übergesetzlichen Rechtfertigungsgrund zu schaffen, auf dem Rechtsweg gleichzeitig zu einer Beschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffen führt.189 Trotzdem ist es – wie wir unten sehen werden190 – die Analogie zugunsten des Täters selbst, die diesen Effekt in malam partem beseitigt und diese Rechtsfigur mit dem Ziel, die Strafgewalt zu begrenzen, in Einklang bringt.191 Abgesehen davon erfüllen die präventiven Erwägungen eine bedeutende Funktion bei der Begründung der Analogie zugunsten des Täters, vor allem um die Grenzen zu erläutern, innerhalb derer dieses Instrument Anwendung finden kann. Wir sehen also, dass die Funktionsweise des Gesetzlichkeitsprinzips auch auf der Abwägung zwischen den unterschiedlichen Zielen des Strafrechts fußt. Zur Erläuterung des Vorstehenden nehmen wir als Beispiele das Bestimmtheitsgebot und das Analogieverbot. Zwar ist die Forderung nach einem hinreichend bestimmten Gesetz eine das ius puniendi begrenzende Garantie, doch darf diese Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips nicht derart strikt ausgelegt werden, dass das Streben nach einem so hohen Grad an Kasuistik die Gefahr der Unterschreitung des Regelungszwecks birgt.192 Hier bringt die Orientierung hin zu einem der Ziele des Strafrechts eine beachtliche Aufopferung der Präventionszwecke mit sich, weil sich die Strafbarkeitslücken ausbreiten. Ähnliches geschieht mit der Anerkennung der Analogie zugunsten des Täters. Wenn richterliche Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe kraft Analogie geschaffen werden, tritt eine die Strafgewalt begrenzende Ausweitung der Freiheit ein. Gleichzeitig aber sollte so übermäßige gerichtliche Kreativität vermieden werden, die letztlich der Strafdrohung ihre Ernsthaftigkeit nähme. Diesem Spannungsverhältnis zwischen den Zielen des Strafrechts, das den Streit um die strafrechtliche Wurzel des Gesetzlichkeitsprinzips beherrscht, kann die zentrale Schlussfolgerung entnommen werden, dass die Analogie in bonam partem ein legitimes Instrument zur richterlichen (Fort-)Bildung des Strafrechts ist, dessen Gebrauch aber Grenzen finden muss. Diese sollen verhindern, dass die in den Tatbeständen vorgesehene Strafdrohung ihre Funktion – durch negative Anreize von der Deliktsbegehung abzuhalten – als Konsequenz einer übermäßigen Ausweitung der Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe verliert. Wie sich im folgenden Abschnitt zeigen wird, sind die konkreten strafrechtlichen Grenzen der Analogie in bonam partem abhängig vom Ausnahmecharakter jedes einzelnen der Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe, die richterrechtlich 189

Hirsch, in: Zong Uk Tjong-GS, S. 50 ff. Siehe S. 125 ff. 191 Genauso Kudlich, Die Unterstützung, S. 266, Fn. 396. 192 Moreso, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 153. 190

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erweitert werden sollen. Zudem besitzen die Rechtfertigungs-, Entschuldigungs-, Strafausschließungs- und Strafmilderungsgründe nicht immer dieselbe Ausnahmestellung, sodass die Analogie in jedem Fall unterschiedliche Wirkung entfaltet. 3. Richterliche Beschränkung der Notwehrrechte aufgrund der Anerkennung übergesetzlicher Rechtfertigungsgründe a) Fragestellung Die Anerkennung übergesetzlicher Rechtfertigungsgründe führt zur Neuausrichtung zweier verschiedener juristischer Zusammenhänge. Zum einen erlaubt es die Analogie in bonam partem, die rechtliche Beziehung zwischen Staat und Bürger so umzuformen, dass dieser die Macht verliert, dem Täter einer tatbestandsmäßigen Handlung eine Strafe aufzuerlegen. Zum anderen hat ein richterlich entwickelter Rechtfertigungsgrund Auswirkungen auf das Verhältnis unter Mitbürgern, was weder in Fällen der Schuldausschließung noch der Strafausschließung geschieht.193 Hier verwandelt die Analogie zugunsten des Täters ein als „Abwehrrecht des A/Duldungspflicht des B“ strukturiertes Verhältnis in das Gegenteil: „Duldungspflicht des A/Abwehrrecht des B“194. Das bedeutet, dass die richterliche Beschränkung der vom Gesetzgeber gegenüber Dritten gewährten Abwehrbefugnisse zum „Schatten“ jeder analogen Bildung von Rechtfertigungsgründen wird.195 Angesichts der Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips gibt es zu diesem Problem keine einfache Lösung, da die Anerkennung eines analogen Rechtfertigungsgrundes Auswirkungen sowohl in bonam wie in malam partem hat. An dieser Stelle taucht erneut die Frage nach der Gültigkeit des Analogieverbotes bei Rechtfertigungsgründen auf, ebenso wie Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Analogie in bonam partem. Es sei darauf hingewiesen, dass sowohl die Aufrechterhaltung wie die Aufgabe dieses Verbots in diesem Bereich gleichermaßen unbefriedigende Optionen sind: Im ersten Fall würde eine Praxis verboten werden, die historisch betrachtet grundlegend für die Entwicklung des Rechtfertigungssystems war; im zweiten Fall würde gegen Art. 103 II GG verstoßen, indem auch die Analogie zulasten des Täters anerkannt würde. Aus diesem Grund besteht die große Herausforderung darin, eine Theorie auszuarbeiten, die die Anfor193 In der Lehre herrscht Uneinigkeit darüber, ob die analoge Ausweitung tatbestandsausschließender Gründe dieselben Auswirkungen hat wie die der Rechtfertigungsgründe. Gegen diese Gleichsetzung Kudlich, Die Unterstützung, S. 266; dafür Hirsch, in: Zong Uk Tjonk-GS, S. 54 f. 194 Pawlik, Der rechtfertigende, S. 116 ff.; Silva Sánchez, in: Rodríguez MourulloFS, S. 1019. 195 Jähnke, in: Geiß/Nehm/Brandner/Hagen (Hrsg.), Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, S. 398; Kudlich, Die Unterstützung, S. 266.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

derungen des lex stricta Grundsatzes mit der richterrechtlichen Entwicklung der Rechtfertigungsgründe in Einklang bringt. Dieser „Reflex in malam partem“ der übergesetzlichen Rechtfertigungsgründe wurde von der Lehre erst in jüngerer Zeit thematisiert, insbesondere seit den 1980er Jahren.196 Das erklärt, warum man sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – als die Anerkennung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe im Munde aller strafrechtlichen Schulen in Deutschland war – nur mit den Risiken der missbräuchlichen Anwendung der Analogie in bonam partem im Hinblick auf Willkürverbot und Generalprävention auseinandersetzte.197 Oder bestenfalls erschien die Ablehnung der Notwehr bei diesen Konstellationen als unproblematisch.198 Erst seitdem in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend die schweren Folgen für das Gesetzlichkeitsprinzip und das System der Rechtfertigungsgründe in den Blick gerieten, tauchen Ansätze auf, die das Thema zu erhellen und Lösungen zu finden suchen. Dennoch ist festzustellen, dass der knappe Raum, den dieses Thema in Artikeln, Lehrbüchern, Kommentaren und Monographien einnimmt, immer noch nicht ganz der wirklichen Dimension des Problems entspricht.199 b) Meinungsstand In der Spezialliteratur herrscht eindeutig die Meinung vor, dass die richterliche Beschränkung von Abwehrrechten kein Hindernis darstellt, um die Analogie in bonam partem bei Rechtfertigungsgründen anzuerkennen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Vorteile, die diese Methode für die Entwicklung und Fortbildung des Systems der Straffreistellungsgründe zeigt, die Nachteile eines „Kollateral-Effekts“ in malam partem eindeutig überwiegen.200 Trotzdem gibt es 196 Nennenswerte Beiträge dieser Zeit sind u. a. Hirsch, in: Zong Uk Tjong-GS, S. 50 ff.; Günther, Strafrechtswidrigkeit, passim. Schon früher Suppert, Studien, passim. 197 Vgl. Schmidt, E., ZStW (1929) 49, S. 374; Grünhut, ZStW (1931) 51, S. 456; Köhler, A., Der Notstand, S. 49 f.; Marx, Grundprinzipien, S. 3; Welzel, MDR (1949), S. 371; Wachinger, in: Frank-FS, I, S. 497 ff. Diese Befürchtung zeigt sich auch in der Rechtsprechung des RG, vgl. RGSt. T. 61, S. 253. 198 Vgl. v. Hippel, Deutsches, S. 235, wonach Notwehr gegenüber jeder Notstandslage ausschied, sogar gegenüber dem übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand. 199 Es genügt ein Blick auf die wichtigsten allgemeinen Werke, um zu erkennen, dass diese Frage kaum oder gar nicht behandelt wurde. Demgegenüber wird die Frage in StGB-Kommentaren, Artikeln und (weniger) auch in Monographien etwas ausführlicher behandelt. Vgl. dazu u. a. LK/Hirsch, Vor § 32, Rn. 35; NK/Paeffgen, Vor §§ 32 ff., Rn. 65; Hellmann, Die Anwendbarkeit, S. 103. In jedem Fall ist das Thema in der deutschen Literatur wesentlich präsenter als in der spanischen. In Spanien und Lateinamerika ist die Diskussion dank deutscher Texte bekannt, wird aber noch nicht selbständig geführt. 200 A. A. Jähnke, in: Geiß/Nehm/Brandner/Hagen (Hrsg.), Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, S. 405 ff.

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wenigstens drei Modelle, die versuchen, die Vereinbarkeit übergesetzlicher Rechtfertigungsgründe mit dem Legalitätsprinzip zu begründen. Der absolut herrschenden Lehre nach existiert hier nur ein offensichtlicher Konflikt mit dem Gesetzlichkeitsprinzip, da dieses – als Folge einer teleologischen Reduktion – solche richterlichen Beschränkungen letztlich nicht umfasse. Aus diesem Blickwinkel streitet die freiheitsschützende Orientierung des Gesetzlichkeitsprinzips für einen vollständigen Verzicht auf das Analogieverbot201 oder auch dafür, die richterliche Fortbildung des Strafrechts nur zugunsten des Täters anzuerkennen.202 Im ersten Fall wäre weder das Analogieverbot im Bereich der Rechtfertigungsgründe anwendbar noch das Verbot, die Strafbarkeit über eine Einschränkung der Rechtfertigungsgründe auszuweiten.203 Im zweiten Fall hingegen fände das Analogieverbot nur Anwendung auf Formen der „extensiven Analogie“ zu Straftatbeständen (nämlich die richterliche Entwicklung neuer Strafund Strafverschärfungstatbestände) und auf Formen der „restriktiven Analogie“ zu Erlaubnistatbeständen (nämlich teleologischer Beschneidungen von Rechtfertigungsgründen).204, 205 Das liegt daran, dass es in diesen Fällen zu einer „unmittelbaren“ Beschränkung von Rechten kommt. Demgegenüber wäre eine nur „mittelbare“ 206 Einschränkung – wie im Fall, dass das Gegenüber angesichts eines analogen Rechtfertigungsgrundes sein Notwehrrecht verliert – nicht schwerwiegend genug, um das Gesetzlichkeitsprinzip zu verletzen.207

201 Vgl. u. a. Gimbernat Ordeig, Concepto y método, S. 47; Runte, Die Veränderung, S. 29; Ferrajoli, Derecho y razón, S. 158 ff.; Puppe, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 169; Roxin, AT, I, § 5, Rn. 44; Amelung, in: Schünemann (Hrsg.), El sistema moderno del Derecho penal: cuestiones fundamentales, S. 103; Rudolphi, in: Armin Kaufmann-GS, S. 371, Fn. 3; Dölling/Duttge/Rössner-Rössner, § 1, Rn. 8; LK/Dannecker, § 1, Rn. 246; SK/StGB-Rudolphi, § 1, Rn. 25. Erst kürzlich gegen diese These im Rahmen der Auseinandersetzung mit den sog. sozialethischen Einschränkungen der Notwehr van Rienen, Die „sozialethischen“ Einschränkungen, S. 177 f. 202 In letzterem Sinne Hirsch, in: Zong Uk Tjong-GS, S. 53 ff. 203 Zu dieser Frage in der Rechtsprechung Puppe, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 169 ff. 204 Hirsch, in: Zong Uk Tjong-GS, S. 53 f., 55, 63 ff. 205 Wenn in diesem Punkt von „extensiver Analogie“ und „restriktiver Analogie“ gesprochen wird, wird von einer Identität zwischen teleologischer Reduktion und Analogie ausgegangen, was diskutiert werden kann. Zugunsten dieser Identität vgl. Kaufmann, Art., Analogie, S. 51; Jaén Vallejos, Principios, S. 33 f. 206 Zur Unterscheidung zwischen „mittelbaren“ und „unmittelbaren“ Einschränkungen von Rechten vgl. Suppert, Studien, S. 297; NK/Paeffgen, Vor §§ 32 ff., Rn. 65; LK/Hirsch, Vor § 32, Rn. 36; ders., in: Zong Uk Tjong-GS, S. 54 f.; Kudlich, Die Unterstützung, S. 265 f.; Hellmann, Die Anwendbarkeit, S. 103. 207 Hirsch, in: Zong Uk Tjong-GS, S. 54 f.; LK/Hirsch, Vor § 32, Rn. 36; NK/Paeffgen, Vor §§ 32 ff., Rn. 65; Hellmann, Die Anwendbarkeit, S. 103 f.; Schönke/SchröderCramer/Heine-Lenckner, Vor § 32 ff., Rn. 25.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

Trotzdem erscheint diese Position der herrschenden Lehre aus mindestens zwei Gründen zweifelhaft. Meines Erachtens geraten diejenigen, denen zufolge das Analogieverbot die Rechtfertigungsgründe nicht berührt, in erhebliche Schwierigkeiten, wenn sie erklären sollen, warum der Richter dann nicht frei, das heißt ohne Bindung an rechtliche Parameter, entscheiden kann. Selbst wenn man hier auf ergänzende Axiome rekurrieren könnte, um das Verbot willkürlichen Entscheidens zu erklären, bleibt es doch ein Problem des Gesetzlichkeitsprinzips.208 Außerdem scheint die Ansicht, wonach zwischen „mittelbaren“ und „unmittelbaren“ Beschränkungen von Rechten zu unterscheiden sei, nicht hinreichend deutlich zu erklären, welche Argumente dazu führen, einerseits den in malam partem Effekt der analogen Rechtfertigungsgründe zu akzeptieren, aber andererseits die Kürzung dieser Strafausschließungsgründe zu verbieten. Auch wenn das Argument hier sein könnte, dass die Beschneidung von Abwehrrechten ein „automatischer“ Effekt ist, während die teleologischen Beschränkungen ein absichtliches Vorgehen des Richters erfordern, reicht auch dies nicht aus, um die ungleiche Behandlung beider Situationen zu rechtfertigen. Hans-Ludwig Günther hat in seiner Habilitationsschrift hingegen eine der herrschenden Lehre entgegengesetzte Stellung bezogen, allerdings verortet er die Lösung des Problems an einem anderen Punkt.209 Für Günther liegt die Lösung nicht in einer Neuinterpretation des Gesetzlichkeitsprinzips, sondern in der Natur der analogen Rechtfertigungsgründe selbst. Innerhalb der vom Autoren vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen „echten“ und „unechten“ Unrechtsausschließungsgründen210 befinden sich die übergesetzlichen Rechtfertigungsgründe in der ersten Gruppe211 und schließen daher nur die Unrechtsvermutung aus, begründen aber keine Duldungspflichten.212 Nur die unechten Unrechtsausschlie-

208 Kudlich, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 241. 209 In der bekannten Habilitationsschrift Hans-Ludwig Günthers „Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss“ ist der erste dogmatische Versuch zu finden, die Analogie in bonam partem systematisch zu erfassen. Auch wenn es das Hauptanliegen des Werkes ist, die Existenz einer rein strafrechtlichen Rechtswidrigkeit zu begründen, mündet der Abschnitt zu methodologischen Fragen der strafunrechtsausschließenden Gründe in eine recht detaillierte Analyse der vom deutschen Gesetzgeber nicht anerkannten Rechtfertigungsgründe. Bei dieser Gelegenheit erläutert er die Methode, die der Richter nutzen könnte, um die Existenz von Regelungslücken im System der Rechtfertigungsgründe anzuerkennen, wie auch die zu ihrer Schließung erforderlichen Analogieformen. Das allein sind schon Gründe genug, um dieser Arbeit einen großen Wert beizumessen. 210 Günther, in: Luzón Peña/Mir Puig (Hrsg.), Causas de Justificación y Atipicidad en Derecho penal, S. 48 ff. 211 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 324. 212 Kritisch gegenüber der Anerkennung rechtfertigender Wirkungen dieser Situationen Roxin, in: Oehler-FS, S. 181 ff. Die Ansicht, diese seien in Spanien von den unvollständigen Straffreistellungsgründen und entsprechenden Strafmilderungsgründen ge-

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ßungsgründe (wie bspw. der rechtfertigende Notstand [§ 34 StGB] oder die Notwehr [§ 32 StGB]) lassen gleichzeitig Duldungspflichten entstehen.213 Im Werk Günthers entstehen die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe dank zweier unterschiedlicher Analogieformen: Zum einen finden die tatsächliche Einwilligung, die mutmaßliche Einwilligung und das Erzieherprivileg von Eltern und Lehrern eine Stütze in der Pluralität der Rechtfertigungsgründe (Rechtsanalogien der Terminologie des Autors);214, 215 zum anderen erhalten die notstandsähnlichen Lagen rechtfertigende Wirkung dank einer analogen Erweiterung des § 34 StGB (Gesetzesanalogie).216 Diese letzte Fallgruppe umfasst die rechtfertigende Pflichtenkollision, den Nötigungsnotstand und bestimmte intensive und extensive Notwehrüberschreitungen.217 Nun, unabhängig von der Art der angewendeten Analogie in bonam partem, schränkt die richterliche Anerkennung dieser ungeschriebenen Ausschließungsgründe keinesfalls die Abwehrrechte Dritter ein.218 Auf diese Weise ließe sich die Analogie zugunsten des Täters mit den Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips in Einklang bringen. Jedoch erzielt Günther diese Lösung, indem er ein eigenes Analogiekonzept zugrunde legt, das sich von dem üblicherweise verwendeten komplett unterscheidet. Wie im ersten Kapitel schon betont, bedeutet die Analogie die Übertragung der Rechtsfolge einer Norm auf vergleichbare, aber ursprünglich mangelhaft geregelte vorgesehene Fälle. Wenn wir also die Rechtsfolgen der gesetzlichen Rechtfertigungsgründe im Allgemeinen – oder eines bestimmten Rechtfertigungsgrundes im Speziellen – im Wege der Analogie erweitern, muss der so geschaffene Ausschließungsgrund dieselbe Rechtsfolge aufweisen, wie die erweiterte Ausgangsnorm. Das heißt, die notstandsähnlichen Konstellationen sollten dieselbe Wirkung haben wie die in § 34 StGB genannten; entsprechend sind die Einwilligung und das Erzieherprivileg von Eltern und Lehrern nach dem Sinn (der Ratio) aller Rechtfertigungsgründe zu behandeln. Aber genau zu diesem Schluss kommt Günther gerade nicht. Auch sollten aus den übergesetzlichen Rechtfertigungsgründen Duldungspflichten erwachsen (!). Die Behandlung der notstandsähnlichen Konstellationen als echte Strafunrechtsausschließungsgründe stellt Günther vor eine disjunktive Problematik: Entweder der Richter greift gar deckt, vertritt Diez Ripolles, in: Luzón Peña/Mir Puig (Hrsg.), Causas de Justificación y Atipicidad en Derecho penal, S. 124. 213 Tatsächlich führen die §§ 32 und 34 StGB lediglich zwei Rechtfertigungsgründe in das StGB ein, die bereits aus außerstrafrechtlichen Vorschriften bekannt waren, vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 303–304, 308. 214 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 348 f., 351 f., 354 ff. 215 Es sei darauf hingewiesen, dass dies nach der im Rahmen dieser Arbeit verwendeten Terminologie ein Fall der Analogie institutionis wäre. s. u. S. 80 ff. 216 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 331 ff. 217 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 331 ff. 218 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 324.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

nicht auf die Analogie zurück oder er vertritt ein Analogieverständnis, das der traditionellen Lehre in diesem Bereich diametral entgegensteht. In Günthers „Strafrechtswidrigkeit und Strafrechtsausschluß“ wird im Hinblick auf die Rechtsanalogie dann schließlich auch nicht hinreichend deutlich, ob der Analogieschluss über die ratio der echten oder unechten Unrechtsausschlussgründe erfolgt. Ohne diese Klarstellung ist es schwierig zu bewerten, ob die von Günther unterbreiteten Vorschläge in sich schlüssig sind oder ob auch ihnen eine Manipulation des Analogiekonzepts zugrunde liegt.219 Neben den vorigen Lösungsvorschlägen der Lehre lohnt es schließlich, den bemerkenswerten Diskussionsbeitrag Hans Kudlichs hervorzuheben. In seiner Habilitationsschrift vertritt er die Auffassung, dass das Problem der Beschränkung von Abwehrrechten durch die Schaffung analoger Rechtfertigungsgründe fortbesteht, ungeachtet der teleologischen Begrenzungen des Gesetzlichkeitsprinzips.220 Aus diesem Grund meint er, dass die einzige Lösung dieses Gesetzlichkeitsproblems in der Anerkennung eines neuen analogen Rechtfertigungsgrundes liegt.221 Die einzige Möglichkeit, die Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips mit dem in malam partem Reflex der übergesetzlichen Rechtfertigungsgründe zu vereinbaren, besteht nach Kudlich darin, die Analogie auch auf der zweiten Ebene einzuführen, nämlich zugunsten desjenigen, der seine Abwehrrechte angesichts der originären richterlichen Analogie eingeschränkt sieht. Er schlägt somit vor, den in malam partem Effekt zu neutralisieren und dabei noch die Ausübung des Notwehrrechtes zu garantieren, indem die Voraussetzung des „rechtswidrigen Angriffs“ anders als gewöhnlich bewertet wird.222 Kudlich erkennt hier einen neuen Rechtfertigungsgrund an, der – ausgehend von einer analogen Ausweitung des § 32 StGB – auch Angriffe umfasst, die richterrechtlich gerechtfertigt sind. Meines Erachtens befindet sich Kudlichs Position (richtigerweise) in dem Bereich, aus dem heraus die Lösung des Problems entwickelt werden sollte, denn er nimmt sich dessen aus einer umfassenden Perspektive an und zeigt zudem, dass die zusätzliche Analogie in bonam partem auf einer zweiten Ebene unerlässlich ist. Dennoch glaube ich nicht, dass die analoge Erstreckung des § 32 StGB auf Notwehrhandlungen gegen gerechtfertigte Angriffe frei von Problemen ist. Ist doch die „Rechtswidrigkeit“ des Angriffs gerade eine der wesentlichen Voraussetzungen der Notwehr,223 sodass die als Folge der Notwehr eintretenden Rechtsverletzungen nur gerechtfertigt werden können, wenn sie der „Rechtsbewährung“ 219 Zur Kritik gegenüber Günthers Vorschlag vgl. detailliert Montiel, Analogía, S. 344 ff. 220 Kudlich, Die Unterstützung, S. 266. 221 Kudlich, Die Unterstützung, S. 266, Fn. 396. 222 Kudlich, Die Unterstützung, S. 266, Fn. 396. 223 Dieser Ansicht Jescheck/Weigend, AT, S. 337; Jakobs, AT, Abs. 11, Rn. 3; LK/ Spendel, § 32, Rn. 11 ff.; Schönke/Schröder-Perron, § 32, Rn. 3; NK/Herzog, § 32, Rn. 3; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 325.

B. Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips

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dienen.224 Genau dieses Prinzip der Notwehr realisiert sich nicht, wenn die Abwehr gerechtfertigter Handlungen statthaft ist; dies gilt selbst dann, wenn die Rechtfertigung auf dem Weg der Analogie zustande kommt.225 Es gibt dann keine Notwendigkeit der Rechtsbewährung, da das Recht nie erschüttert wurde. Letzten Endes fehlt hier die Gesetzesähnlichkeit,226 derer es bei der Gesetzesanalogie zwischen gesetzlich geregelten Fällen und den Gesetzeslücken stets bedarf. c) Stellungnahme: Die Rechtfertigungsgründe als reine Ermächtigungen und der „doppelte Rückgriff“ auf die Analogie in bonam partem Es ist offensichtlich, dass die übergesetzliche Beschränkung der Abwehrrechte zunächst ein Problem im Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip aufwirft. Was jedoch nicht so klar erscheint, ist die Frage, ob dieses Problem auf Rechtfertigungs- oder Tatbestandsebene zu verorten ist. Allgemein – wie die oben dargelegten Ansichten zeigen – wird der in malam partem Effekt der übergesetzlichen Rechtfertigungsgründe im Zusammenhang mit dem Ausschluss der Rechtswidrigkeit gesehen. Das ist meines Erachtens absolut richtig. Aber in einigen Fällen scheint diese Beobachtung nicht ganz mit der herrschenden Meinung zur Natur der Rechtfertigungsgründe übereinzustimmen. In der Lehre ist die Ansicht, die Rechtfertigungsgründe seien genau genommen subjektive Rechte,227 die einerseits die gesetzliche Befugnis zu tatbestandsmäßigem Verhalten enthielten und andererseits eine entsprechende Duldungspflicht begründeten,228 stark verbreitet. Die Rechtfertigungsgründe hätten dem224 Zu diesem Grundsatz der Notwehr vgl. Kühl, AT, § 7, Rn. 10; Roxin, AT, I, § 15, Rn. 1; Neumann, Zurechnung, S. 161 ff. 225 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 325 f.; Jescheck/Weigend, AT, S. 337; Jakobs, AT, Abs. 11, Rn. 3; LK/Spendel, § 32, Rn. 11 ff.; Schönke/Schröder-Perron, § 32, Rn. 3; NK/Herzog, § 32, Rn. 3. M. E. kommt auch Roxin, AT, I, § 15, Rn. 27 zu einem vergleichbaren Ergebnis. 226 Dazu s. o. S. 33 ff. 227 Die Rechtfertigungsgründe werden von folgenden Autoren ausdrücklich als „subjektive Rechte“ bezeichnet: Silva Sánchez, in: Rodríguez Mourullo-FS, S. 1009; Pawlik, Der rechtfertigende, S. 103, 112; Welzel, MDR (1949), S. 374 f.; Runte, Die Veränderung, S. 26; Roxin, AT, I, § 14, Rn. 108; Jescheck/Weigend, AT, S. 333; Kühl, AT, § 7, Rn. 2; Schönke/Schröder-Cramer/Heine-Lenckner, Vor § 32 ff., Rn. 28; Schönke/Schröder-Perron, § 34, Rn. 1; LK/Hirsch, Vor § 32, Rn. 64; Lenckner, Der rechtfertigende, S. 50; Kudlich, Die Unterstützung, S. 265 f.; LK/Hirsch, Vor § 32, Rn. 64; Puppe, InDret (2007) 1, S. 4; Kühl, Die Bedeutung, S. 48; Kohler, Not kennt, S. 27 ff.; Hassemer, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 217; Mestre Delgado, La eximente, S. 159; Baldó Lavilla, Estado de necesidad, S. 178 ff. 228 Silva Sánchez, in: Rodríguez Mourullo-FS, S. 1012 ff.; Kühl, AT, § 7, Rn. 2; Runte, Die Veränderung, S. 26; Welzel, MDR (1949), S. 374 f.; Baldó Lavilla, Estado de necesidad, S. 183 ff.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

nach die Struktur „Rechtfertigungsrecht – Duldungspflicht“. Bildlich gesprochen: Indem ein Rechtfertigungsgrund „gesät“ wird, „erblüht“ automatisch eine Duldungspflicht. Aus dieser Perspektive wäre die Problematik der übergesetzlichen Rechtfertigungsgründe konsequenterweise wie folgt zu erklären: Die Anerkennung eines ungeschriebenen Rechtfertigungsgrundes lässt eine (positive oder negative) Duldungspflicht „gedeihen“.229 Nun scheinen einige Autoren zu verstehen, dass der Richter mit der Aufnahme eines analogen Rechtfertigungsgrundes in das Normgefüge gleichzeitig einen übergesetzlichen Straftatbestand schaffe.230 Wenn dem so wäre, müsste die Frage des Analogieverbotes im Zusammenhang mit dem Gesetzlichkeitsprinzip und nicht mit der Rechtfertigungslehre behandelt werden. Ganz offensichtlich aber verhält es sich anders, das Problem befindet sich nach wie vor im Bereich der Rechtfertigung. Zwar sieht das auch die Lehre so, ist sich aber gleichzeitig nicht darüber bewusst, dass sich diese Ansicht nur schwer mit der erwähnten Beschaffenheit der Rechtfertigungsgründe vereinen lässt. Um das Problem richtig zu verorten, ist es in Wirklichkeit nötig, mit einer Neuinterpretation der Rechtfertigungsgründe und ihrer Eigenart zu beginnen: es handelt sich um Ermächtigungen ohne wechselseitige Duldungspflichten (in engerem Sinn). Nicht zufällig wird hier von Ermächtigungen anstatt von Rechten gesprochen. Schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts hat Hohfeld 231 versucht, die Missverständnisse aufzuklären, die in Theorie und Praxis rund um die Begriffe „right“, „power“ und „privilege“ herrschten.232 Seiner Ansicht nach ist der Begriff „Recht“ stark mit der Vorstellung des „claim“ verknüpft, also mit der Möglichkeit, dass jemand von einer anderen Person etwas Konkretes verlangen oder fordern kann.233, 234 Aus dieser Perspektive erscheint es zumindest irreführend, die Rechtfertigungsgründe als „Rechte“ zu bezeichnen; demnach hätte bspw. der von

229 Zu diesen zwei Arten von Duldungspflichten vgl. Silva Sánchez, in: Rodríguez Mourullo-FS, S. 1014 ff. 230 Silva Sánchez, in: Rodríguez Mourullo-FS, S. 1012 ff.; Pawlik, Der rechtfertigende, S. 103 ff. äußern sich zwar nicht ausdrücklich zu dieser Frage, müssten aber zum selben Ergebnis kommen. 231 Hohfeld, Fundamental, S. 35 ff. 232 Im aktuellen Schrifttum zur Rechtstheorie betont Enoch, Law and Philosophy (2002) 21, S. 355 ff. die Notwendigkeit, zwischen der Bedeutung von „Pflichten“ und „Rechten“ zu differenzieren. Im strafrechtlichen Bereich hat Würzburger, Das Recht, S. 37 ff. diese verschiedenen Bedeutungen schon vor einigen Jahrzehnten herausgestellt. 233 Hohfeld, Fundamental, S. 39 ff. 234 Auch Larrauri, in: Hassemer/Larrauri, Justificación material y justificación procedimental en el Derecho penal, S. 101 ff.; Ferrante, Discusiones (2007) 7, S. 69 ff. folgen Hohfelds Ausführungen, um die Problematik der Beistandspflichten zu analysieren.

B. Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips

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der Polizei verfolgte Dieb die „Pflicht“, sich den Behörden zu stellen und sich verhaften zu lassen.235 Meines Erachtens entsprechen die Rechtfertigungsgründe vielmehr dem, was Hohfeld 236 unter „powers“ versteht; ein Begriff der zutreffend mit „Ermächtigungen“ übersetzt wird.237 Wer diese also besitzt, hat „the (legal) power to effect the particular change of legal relations that is involved in the problem“ 238, 239. aa) Wenn der Gesetzgeber im Strafrecht ein bestimmtes Verhalten rechtfertigt, gestattet er nur, eine tatbestandliche Handlung vorzunehmen, da er dadurch ein überwiegendes Interesse der Rechtsordnung zu schützen vermag. Mit anderen Worten: Die Rechtfertigungsgründe widerlegen das Indiz der Rechtswidrigkeit und schließen folglich die Strafbarkeit des Tatbestandes aus.240 Außerdem erzeugen diese Ermächtigungen keine Duldungspflichten (in engem Sinne), also strafrechtliche Ge- oder Verbote, deren Verletzung mit Strafe bedroht ist. In Wirklichkeit bleiben sowohl die positiven241 wie die negativen242 Notstandspflichten (in weiterem Sinne) von den Rechtfertigungsgründen unberührt. Das bedeutet aber offenkundig weder, dass die Erlaubnistatbestände keine Wirkungen bezüglich (am Interessenkonflikt beteiligter) Dritter entfalteten, noch dass diese befugt wären, gerechtfertigte Taten zu verhindern.243 Die Rechtfertigungsgründe verändern im Hinblick auf Dritte vielmehr nur, wie die Rechtsordnung Verletzungshandlungen bewertet, die den Rechtsgüterschutz beeinträchtigen. Die Entstehung eines neuen analogen Rechtfertigungsgrundes beinhaltet keinen neuen Straftatbestand, sondern schließt die Anwendung eines Erlaubnistatbestandes aus. Wenn hier somit von „Duldungspflichten“ gesprochen wird, dann im uneigentlichen oder sehr weiten Sinn.244, 245 235

Ähnlich Ferrante, Discusiones (2007) 7, S. 67. Hohfeld will mit dem Begriff allerdings nicht auf eine faktische, sondern eine juristische Herrschafts- oder Unterordnungssituation anspielen, vgl. Hohfeld, Fundamental, S. 50 f. 237 Nach Bouzat/Cantaro/Navarro, Discusiones (2007) 7, S. 116 könnten auch die Rechtfertigungsgründe in diesem Sinne aufgefasst werden. 238 Hohfeld, Fundamental, S. 51. 239 Ausführlich zur Natur der Rechtfertigungsgründe Montiel, Analogía, S. 352 ff. 240 Nur in diesem Punkt bestünde eine Übereinstimmung mit den echten Unrechtsausschließungsgründen Hans-Ludwig Günthers, vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 259 ff. 241 Z. B. die Beistandspflicht in einer Notsituation nach § 323c StGB. 242 Z. B. die Verbote der §§ 211 und 223 StGB, die Notlage nicht durch einen Eingriff zu vertiefen, der eine Garantenpflicht und somit die Verantwortlichkeit wegen Körperverletzung oder Tötung begründet. Siehe dazu Silva Sánchez, in: Rodríguez Mourullo-FS, S. 1023 ff. 243 Roxin, AT, I, § 16, Rn. 128; Silva Sánchez, in: Rodríguez Mourullo-FS, S.1008. Aus einer anderen Perspektive unterstreicht auch Günther, in: Luzón Peña/Mir Puig (Hrsg.), Causas de Justificación y Atipicidad en Derecho penal, S. 53 diesen Gedanken. 244 Nach Ferrante, Discusiones (2007) 7, S. 64 könnte man hier von einer Pflicht im strengen Sinn sprechen. 236

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

Überträgt man diese Gedanken auf das zentrale Problem dieses Abschnittes, wird der Ansatz sicher verständlicher. Folgendes Beispiel soll als Ausgangspunkt dienen: Arzt A nimmt eine Abtreibung vor, weil die Frau wegen der Schwangerschaft in Lebensgefahr schwebt. A’s Assistent B wirft mit einem schweren Gegenstand nach ihm, um den Schwangerschaftsabbruch zu verhindern. A erleidet eine Kopfverletzung und wird bewusstlos. Unter Geltung des RStGB wäre B strafrechtlich nicht verantwortlich gewesen, da er eine dritte Person gegen einen rechtswidrigen Angriff verteidigt hat. Weder das RStGB noch das BGB rechtfertigten den ärztlichen (Heil-)Eingriff.246 Die Anerkennung des übergesetzlichen rechtfertigenden Notstands durch das RG hatte aber zur Folge, dass B in einem derartigen Fall durchaus wegen Körperverletzung strafbar gewesen wäre. Dieses Verbot bestand naturgemäß bereits gem. § 223 RStGB.247 B’s Verletzungshandlungen bleiben strafbar, weil sie nicht mehr unter den Schutz des § 53 RStGB fallen. Hier wird deutlich, dass die Einführung übergesetzlicher Regelungen im System der Rechtfertigungsgründe die Lage Dritter nicht verschärft, weil neue Ver- oder Gebote geschaffen würden, sondern weil der Bereich rechtlich zulässiger Tathandlungen verkleinert wird. bb) Allerdings löst die Erklärung der vorigen Frage allein noch nicht die Gesetzlichkeitsprobleme, die mit der Anerkennung übergesetzlicher Rechtfertigungsgründe verbunden sind. Dafür ist es zunächst erforderlich, auf die Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips zurückzukommen. Die herrschende Lehre nimmt den – im klassischen Sinne – grundrechtlichen Charakter des Gesetzlichkeitsprinzips zutreffend als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Aus diesem Blickwinkel wirkt der nulla poena sine lege Grundsatz wie eine Schranke gegen staatliche Eingriffe in die Grundfreiheiten der Bürger. Sinnvollerweise ist daher als erstes Problem aufzuwerfen, dass das Analogieverbot den Straftäter schützt und daher die analoge Ausweitung von Straftatbeständen und Strafverschärfungsgründen verbietet. Jedoch erscheint es aus dieser so grundlegenden Perspektive (und in Übereinstimmung mit der allgemeinen Lehre) schwierig zu akzeptieren, dass nur eine unmittelbare Einschränkung von Rechten unter das Analogieverbot fallen soll, eine mittelbare Beschränkung hingegen nicht.248 Die Ablehnung eines Rechtfertigungsgrundes erzeugt dieselben Effekte wie die Anerkennung analoger Straftatbestände, sprich, die Bestrafung des Täters 245 Ausführlicher zum Verständnis der Rechtfertigungsgründe als Ermächtigungen Montiel, Analogía, S. 352 ff. 246 Wachinger, in: Frank-FS, I, S. 247; Würzburger, Das Recht, S. 79; v. Hippel, Deutsches, S. 224 f.; Jescheck/Weigend, AT, S. 359; Broglio, Der strafrechtliche, S. 10; Bergenroth, Der übergesetzliche, S. 7; Mezger, Tratado, I, S. 432 f.; Eser, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 54 f. 247 Bouzat/Cantaro/Navarro, Discusiones (2007) 7, S. 139, 149 betonen diesen Gedanken, jedoch ohne Verweis auf das deutsche StGB. 248 Lenckner, JuS (1968) 6, S. 252; Kudlich, Die Unterstützung, S. 266.

B. Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips

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und damit die Beschneidung individueller Rechte. Aus diesem Grund muss das Analogieverbot auch für Beschränkung und Ablehnung von Rechtfertigungsgründen gelten. Aus dem Vorhergehenden folgt, dass die Veränderung des rechtlichen Rahmens durch die Anerkennung analoger Rechtfertigungsgründe eindeutig das Gesetzlichkeitsprinzip verletzt. Dies ist gleichwohl keinesfalls als endgültiger Grund zu sehen, um die Analogie in bonam partem aus dem Bereich der Rechtfertigungslehre zu verbannen. Es zeigt vielmehr die Notwendigkeit zusätzlicher Argumente für dieses methodologische Hilfsmittel, das von zentraler Bedeutung für die historische Entwicklung der Rechtfertigungsgründe war.249 An dieser Stelle würde ich gerne einen konkreten Gedanken über die Grundlage der Analogie zugunsten des Täters im Strafrecht aufgreifen. Wie gesehen ist die Analogie in bonam partem im Strafrecht anerkannt, soweit und solange davon nur Randkompetenzen des Richters betroffen sind (das Argument folgt aus der staatsrechtlichen Wurzel des Gesetzlichkeitsprinzips) und das Gleichgewicht zwischen den Strafzwecken gewahrt bleibt (Argument aus der strafrechtlichen Wurzel). Diese Argumente dienen der Erklärung, warum die Analogie zugunsten des Täters im Strafrecht allgemein und generell statthaft ist. Die Schaffung analoger Rechtfertigungsgründe verletzt nun – bei genauer Betrachtung – die staatsrechtliche Wurzel überhaupt und prima facie auch die strafrechtliche Wurzel nicht. Trotzdem ergibt sich das Problem genau im Zusammenhang mit dieser strafrechtlichen Wurzel, da der Reflex in malam partem der übergesetzlichen Rechtfertigungsgründe ein Ungleichgewicht in der Abwägung der Strafzwecke hervorruft. Durch die Außerkraftsetzung der Notwehr entfallen die – mittels richterlicher Fortbildung der Rechtfertigungsgründe bewirkten – positiven Effekte der Einschränkung des ius puniendi, und gleichzeitig werden die präventiven Zwecke unnötigerweise verstärkt. Aus diesem Grund ist es richtig, zu sagen, dass diese richterliche Einschränkung der Abwehrbefugnisse die strafrechtliche Wurzel des Gesetzlichkeitsprinzips verletzt. Wenn nun also dieser Grundsatz verletzt wird, muss eine andere Lösung gefunden werden, die einem im Strafrecht so nützlichen Hilfsmittel wie der Analogie in bonam partem nicht entgegensteht. Hierin ist Kudlich zuzustimmen, der als Lösung vorschlägt, einen zweiten analogen Rechtfertigungsgrund zu schaffen, der denjenigen bevorzugen würde, der durch die Abwehr eines gerechtfertigten Angriffs einen Straftatbestand verwirklicht.250 Kudlich erfasst damit den Kern des Problems, denn er erkennt, dass das Gesetzlichkeitsprinzip keinesfalls die richterliche Einschränkung von Abwehrrechten gestattet und daher notwendig eine Lösung jenseits dieses Grundsatzes zu suchen ist.251 Verknüpft man diese Erwägun249 250 251

Hirsch, in: Zong Uk Tjong-GS, S. 55. Kudlich, Die Unterstützung, S. 266, Fn. 396. Kudlich, Die Unterstützung, S. 266.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

gen mit der strafrechtlichen Wurzel des Gesetzlichkeitsprinzips, so wird deutlich, dass die Anwendung der Analogie in bonam partem auf einer zweiten Ebene nötig ist, um die Abwägung der Strafzwecke wieder ins Gleichgewicht zu bringen.252 Nur auf diese Weise verletzt die Analogie zugunsten des Täters das Gesetzlichkeitsprinzip nicht. Auch wenn hier die Anwendbarkeit des defensiven Verteidigungsnotstandes (§ 228 BGB) in Erwägung gezogen werden könnte, scheint dies jedoch nicht die dogmatisch korrekteste Lösung zu sein; außerdem wäre auch darin eine richterliche Strafrechtsfortbildung zu sehen. Erstens ist der defensive Notstand eigentlich für andere Fälle der Notwehr gedacht, bei denen der Angriff nämlich von Sachen und nicht von Menschen ausgeht.253 Dasselbe gilt sogar bezüglich § 34 StGB, soweit dieser so verstanden wird, dass sein Wortlaut auch den Verteidigungsnotstand umfasst.254 Zweitens könnte § 228 BGB nur über den Rückgriff auf außerstrafrechtliche Normen angewendet werden, d.h., durch ein Hilfsmittel, das genauso wie die Analogie zugunsten des Täters das Strafrecht amplifiziert.255 Angesichts dieser Lösung über den doppelten Rückgriff auf die Analogie zugunsten des Täters müssen wir zunächst fragen, ob deren Voraussetzungen erfüllt sind, ob also eine Ausnahmelücke existiert und die Strafrechtsfortbildung nicht verboten ist. An dieser Stelle werde ich nicht detailliert auf diese zweite Voraussetzung bei den Rechtfertigungsgründen eingehen256; es sei jedoch darauf hingewiesen, dass der Richter legitimiert ist, das System der Rechtfertigungsgründe zu vervollkommnen, sofern er seine verfassungsgemäß anerkannten Funktionen nicht überschreitet. Die Frage nach dem Vorliegen einer Ausnahmelücke hingegen ist in diesem Zusammenhang von offensichtlich größerer Bedeutung. Nach der Entscheidung des StGB-Gesetzgebers verhält sich derjenige rechtswidrig, der durch die Abwehr eines rechtmäßigen Angriffs einen Straftatbestand verwirklicht (These der Relevanz). In dieser Situation sollte der Richter erkennen, dass der Gesetzgeber Fälle, in denen ein Angriff erst durch die Anerkennung analoger Rechtfertigungsgründe rechtmäßig wird, nicht vorhersehen konnte. Der Richter soll hier argumentieren, dass der Gesetzgeber die Rechtfertigung des Abwehrleistenden sicher befürwortet hätte, wenn er diese neue Situation berücksichtigt hätte (Hypothese der Relevanz). Dies folgt daraus, dass die Erwartung des Angegriffenen, eine Abwehrbefugnis zu besitzen, gesetzlich abgesichert ist und daher in die Interessenabwägung im Bereich der Rechtfertigungsgründe einbezogen 252 Suppert, Studien, S. 295 f. weist diese Möglichkeit ausdrücklich zurück. Auch Hassemer, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 217 widerspricht m. E. der hier vertretenen These. 253 Jescheck/Weigend, AT, S. 355 f.; Kühl, AT, § 9, Rn. 14; Roxin, AT, I, § 15, Rn. 6; Kindhäuser, AT, § 17, Rn. 45; Freund, AT, § 3, Rn. 80. 254 § 34 StGB wird so u. a. von Roxin, AT, I, § 16 interpretiert. 255 Siehe S. 33 ff. 256 Siehe S. 41 ff.

B. Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips

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werden sollte. Die Feststellung einer zweiten Ausnahmelücke durch den Richter erfordert eine entsprechende Strafrechtsfortbildung auf einer zweiten Ebene. Dass der durch den ersten Analogieschluss Beeinträchtigte die richterliche Einschränkung seiner Abwehrbefugnisse vielleicht nicht vorhersieht, sollte nicht zu dem Schluss führen, dass in diesem Fall ein übergesetzlicher Schuldausschließungsgrund treffender wäre, weil es möglicherweise an der Kenntnis der Rechtswidrigkeit fehlt. Denn dafür müsste das Verhalten des Beeinträchtigten als rechtswidrig bewertet werden, was nicht überzeugt. Die fehlende Kenntnis ist schon ein Argument dafür, dass diese Person nicht strafrechtlich verantwortlich ist; das entscheidende Argument ist jedoch darin zu sehen, dass gerade die richterliche Bildung eines Rechtfertigungsgrundes eine „Notstandssituation“ in weiterem Sinne schafft.257 Deshalb ist festzustellen, dass die Regelungslücke innerhalb der Rechtfertigungsgründe und nicht innerhalb der Schuldausschließungsgründe zu verorten ist. Zunächst muss man sich in diesem Zusammenhang aber klar machen, dass dieser zweite richterliche Rechtfertigungsgrund nicht über eine analoge Erweiterung des § 32 StGB hergeleitet werden kann, da es an der Vergleichbarkeit des Gesetzessinns zwischen dem allgemeinen Notwehrkonzept und der zur Schließung der Regelungslücke erforderlichen Norm fehlt.258 Genauso wenig scheint nach den Ausführungen im Exkurs der Weg einer Gesetzesanalogie zu § 34 StGB oder § 228 BGB gangbar,259 weil die Fälle hier – im Gegensatz zur vorigen Situation – keine strukturelle Ähnlichkeit untereinander aufweisen. Daraus muss vorläufig folgende Schlussfolgerung gezogen werden: Die Gesetzesanalogie ist nicht geeignet, die richterliche (Fort-)Bildung eines Rechtfertigungsgrundes mit dem Gesetzlichkeitsprinzip in Einklang zu bringen. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass der Ähnlichkeitsgrad zwischen den Fällen der §§ 32 und 34 StGB und dem Gesamtinhalt der Regelungslücke nicht stark genug ist, um eine analoge Ausweitung der rechtfertigenden Wirkung zu begründen. Trotzdem steht diese Tatsache einem Analogieschluss keineswegs entgegen. Sie eröffnet – in Anbetracht des subsidiären Charakters der verschiedenen Analogiearten zugunsten des Täters – vielmehr die Möglichkeit, eine übergesetzliche Norm zu schaffen, indem man das strafrechtlich-institutionelle System der Rechtfertigungsgründe überträgt. Die Frage ist daher, ob sich der zweite übergesetzliche Rechtfertigungsgrund mit einer Institutionsanalogie in bonam partem bilden lässt. Dafür sprechen wenigstens zwei entscheidende Argumente. 257 Der Ausdruck „Notlage“ ist nicht als Synonym von „Notstandslage“ zu verstehen. Es geht vielmehr um allgemeine Gefährdungssituationen für Rechtsgüter, innerhalb derer alle Rechtfertigungsgründe Anwendung finden. 258 Ausführlicher oben, S. 126 ff. bei der Kritik zu Kudlich. 259 Roxin, AT, I, § 16, Rn. 114 verneint ausdrücklich die analoge Erweiterung des § 228 BGB auf Verteidigungsfälle gegenüber Angriffen durch Personen. A. A. Krey/Esser, AT, § 15, Rn. 621.

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2. Kap.: Die Grundlagen der Analogie in bonam partem

Die strukturelle und morphologische Ähnlichkeit zwischen der (abstrakten) Regelungsmaterie der Rechtfertigungsgründe und den Fällen von Notwehr gegen Angriffe, die ihrerseits mittels eines Analogieschlusses gerechtfertigt sind, zeigt die Analogiefähigkeit dieser Institution. Es sei daran erinnert, dass die Figur der Rechtfertigung Fälle umfasst, bei denen es in einer Notstandssituation – die Rechtsgüter der Betroffenen sind gefährdet260 – zur Interessenkollision kommt und die Beteiligten ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit beibehalten. Gerade der erste Analogieschluss führt zu einer Interessenkollision der sich gegenüberstehenden Parteien, die jeweils rechtmäßig (eine Partei mit richterlicher Ermächtigung, die andere auf gesetzlicher Grundlage) ihre oder Rechte Dritter zu verteidigen suchen. Strukturell sind die verglichenen Fälle also ähnlich. Zweitens gibt es gute Gründe, auch von der Ähnlichkeit des Gesetzessinns der verglichenen Fälle auszugehen. Dafür können wir auf das Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs zurückkommen: Die vom Assistenten B verwirklichte Körperverletzung bezweckt den Schutz des ungeborenen Lebens. Selbst wenn der Schwangerschaftsabbruch in diesem Fall durch einen übergesetzlichen Notstand abgesichert wäre, so würde Bs Angriff weiterhin ein höherwertiges Interesse oder Rechtsgut schützen. Zwar scheint es abstrakt gesehen nicht klar, dass das ungeborene Leben von höherem Wert als die körperliche Unversehrtheit ist, doch in diesem konkreten Fall überwiegt Bs Interesse, weil er zuvor die gesetzlich fundierte Erwartung hegte, ein Abwehrrecht ausüben zu dürfen. Durch den ersten Analogieschluss in bonam partem wird diese Erwartung enttäuscht und der Geschädigte in eine Notstandssituation gebracht. Wenn man nun den Grundsatz des überwiegenden Interesses – als institutionelles Prinzip der Rechtfertigung261 – heranzieht, lässt sich eine Gesetzessinnähnlichkeit feststellen. Handelt es sich im Fall des Assistenten B doch um dieselben Erwägungen, wie bei den gesetzlichen Rechtfertigungsgründen zum Ausschluss der Rechtswidrigkeit, nämlich den Schutz eines höherwertigen Interesses. Nach dieser analogen Argumentation hat der Richter schließlich einen übergesetzlichen Rechtfertigungsgrund zu schaffen, indem er sich sowohl an institutionellen Prinzipien als auch dem Gesamtsystem der gesetzlichen Rechtfertigungsgründe orientiert. Ausgehend davon könnte eine Norm folgenden Wortlaut haben: „Wer eine Tat begeht, die erforderlich ist, um einen richterrechtlich gerechtfertigten Angriff von sich oder einem Dritten abzuwehren, handelt nicht rechtswidrig“. Mit diesem übergesetzlichen Rechtfertigungsgrund gleicht der Richter die Abwägung der Strafzwecke wieder aus und bringt schließlich die Analogie in bonam partem im Bereich der Rechtfertigungsgründe mit dem Gesetzlichkeitsprinzip in Einklang.

260 261

Krey/Esser, AT, § 15, Rn. 575. Molina Fernández, RDPC (2000) 1, S. 204 ff.

Drittes Kapitel

Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht A. Einleitung: Die Bedeutung der Wurzeln des Gesetzlichkeitsprinzips bei der Begrenzung der Analogie zugunsten des Täters An verschiedenen Stellen dieses Werks ist, mehr oder weniger ausdrücklich, der restriktive Charakter angeklungen, den die Analogie zugunsten des Täters im Strafrecht haben soll. Dieser Gedanke wurde – ohne dass es speziell darauf angekommen wäre – insbesondere im vorhergehenden Kapitel deutlich, als die Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips abgehandelt wurden. Aus dem Blickwinkel der rechtsstaatlichen Wurzel bewirkt die Möglichkeit des Richters, generische Rechtsregelungen zu schaffen, eine zweitrangige Kompetenz, die nur in außerordentlichen Fällen ausgeübt werden darf. Und aus Perspektive der strafrechtlichen Wurzel kann die Beschränkung der Strafgewalt durch die Anerkennung übergesetzlicher Strafausschlussgründe gleichfalls nur akzeptiert werden, soweit das Strafrecht dadurch nicht entscheidend von seiner präventiven Wirkung einbüßt. In diesem dritten und letzten Kapitel werden diese allgemeinen Erwägungen zu den Grenzen der Analogie in bonam partem nun etwas genauer untersucht. Wie sich zeigen wird, muss dafür nicht auf Elemente außerhalb des Gesetzlichkeitsprinzips zurückgegriffen werden, um diese Beschränkungen des Richterrechts zugunsten des Täters zu begründen, sondern die Grenzen können dem Gesetzlichkeitsprinzip selbst entnommen werden, da seine Hauptaufgabe darin besteht, die Grenzen der Staatsgewalt festzulegen. Es gibt somit zwei Arten von Schranken der Analogie in bonam partem: rechtsstaatliche und strafrechtliche Grenzen. Bei erstgenannten spielt das Demokratieprinzip (wonach die Entscheidungen des Staates einer Grundlage im mehrheitlichen Volkswillen bedürfen) eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, die Gewaltenteilung und die mögliche Reichweite der (quasi-)legislativen Befugnisse des Richters sowie der richterlichen Straffreistellungsgründe zu bewerten. Bezüglich der strafrechtlichen Grenzen werden die notwendige Verbindlichkeit des Strafrechts und seine präventive Kraft bestimmen, welche Strafbefreiungsgründe analogiefähig und welche Analogiearten anwendbar sind. Womöglich können die Vorteile der hier vertretenen Theorie zur Gesetzlichkeit am besten in diesem dritten Kapitel beurteilt werden.

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3. Kap.: Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

B. Rechtsstaatliche Grenzen I. Fragestellung Wie gesehen, erlaubt es die Verankerung der rechtsstaatlichen Wurzel im gemäßigten Neokonstitutionalismus, zu akzeptieren, dass die Rechtsordnung Lücken aufweist und diese außerdem vom Richter ausgefüllt werden können.1 Freilich führt die Neuinterpretation der Gewaltenteilung und des Demokratieprinzips, die diese Richtung des Konstitutionalismus vornehmen, dazu, die Lücken als außergewöhnliches (exzeptionelles) Phänomen zu sehen sowie die quasi-legislativen Befugnisse des Richters als eine nur punktuelle Ermächtigung mit Ausnahmecharakter. Erstens geht die gerichtliche Kontrolle der Gesetze in der Dynamik unserer gegenwärtigen Rechtsstaaten von der Vermutung iuris tantum aus, die Gesetze seien verfassungsgemäß und geeignet; das bedeutet, dass keinem Gesetz ursprünglich der Verdacht anhaftet, es sei „ungeeignet“ oder verfassungswidrig,2 weshalb nur selten die Notwendigkeit besteht, auf die Analogie oder das Urteil der Verfassungswidrigkeit zurückzugreifen. Zweitens ist die richterliche Rechtsbildung in diesem gemäßigten Neukonstitutionalismus tolerierbar, soweit und solange die übergesetzliche Norm die Folge einer zweitrangigen oder peripheren konstitutionellen Kompetenz ist und den Geist der Gesetzgebung zudem möglichst treu widerspiegelt. Letzterer Punkt zeigt somit, dass die kreativen Befugnisse des Richters nicht dasselbe Ausmaß haben können wie die des Gesetzgebers, genauso wenig wie die richterlich geschaffene Regelung vergleichbar mit dem Gesetz ist. Das führt dazu, dass in einem engen Sinne von „quasi-legislativen Funktionen“ des Richters zu sprechen ist, anstatt von „legislativen Funktionen“. Aus diesem Grund werde ich mich in diesem ersten Teil des dritten Kapitels mit den analogen Argumenten beschäftigen, die vom Richter nicht verwendet werden können, um Straffreistellungsgründe zu schaffen. Desgleichen werde ich mich auch mit der begrenzten Wirkung auseinandersetzen, die die analogen Regulierungen im Vergleich mit dem Gesetz entfalten.

II. Ausschluss der Rechtsanalogie in bonam partem In diesem Zusammenhang ist der Ausschluss der Analogie iuris oder der Rechtsanalogie in bonam partem keine Folge der methodologischen Beschränkungen,3 sondern vielmehr Konsequenz der durch diese Argumentationslinie bewirkten starken Schwächung der Gesetzesbindung.4 Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei der Analogie um ein Argument, das (in stärkerem oder geringerem 1 2 3 4

Siehe S. 113 ff. Laporta, Doxa (1999) 22, S. 322 ff. Dazu ausführlich Sunstein, Harvard Law Review (1992–1993), S. 746 ff. Salguero, Argumentación, S. 179.

B. Rechtsstaatliche Grenzen

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Maße) in Mitteln bzw. Methoden Rückhalt und Grundlage findet, die der Gesetzgeber selbst bereitgestellt hat. Somit wird also nicht vollständig vom Willen des Gesetzgebers abgewichen. Das kann insbesondere bei der Analogie legis beobachtet werden, da ein hoher Ähnlichkeitsgrad zwischen dem lückenbehafteten und dem durch Analogie ausgedehnten Fall besteht und die vom Richter geschaffene Norm außerdem eine konkrete gesetzliche Regulierung und deren ratio legis zum Vorbild hat.5 Diese Nähe zum Gesetz besteht (wenn auch vielleicht nicht in demselben Maße) ebenso bei der Analogie institutionis, da die Vergleichbarkeit der endgültigen richterlichen Regelung auf den institutionellen Prinzipien fußt, die sich wiederum eindeutig aus konkreten Vorschriften des Gesetzgebers ableiten.6 Trotzdem ist die Situation bei der Analogie iuris eine andere, weil dort klar vom gesetzlichen Inhalt abgewichen wird. Tatsächlich gäbe es im Hinblick auf die Rechtsanalogie ausreichend Gründe, um an einer wirklichen Bindung des Richters an das Gesetz zu zweifeln, vor allem dann, wenn ganz generelle und abstrakte Prinzipien ohne klaren Link zur Gesetzgebung angeführt werden. Die Akzeptanz der Analogie iuris in bonam partem in der Rechtslehre ist sehr schwer eindeutig festzustellen. Das liegt daran, dass der Begriff „Rechtsanalogie“ nicht immer gleichbedeutend verwendet wird.7 Genauso werden bestimmte Prinzipien (z. B. das Unzumutbarkeits- und Güterabwägungsprinzip) oft als institutionelle Grundsätze bezeichnet, während andere darin allgemeine Grundsätze des Rechts oder der praktischen Philosophie erblicken.8 Ungeachtet dieser Schwierigkeiten können in manchen Bereichen der Literatur und der Rechtsprechung dennoch wohlwollende Ansichten zu dieser Art der Analogie in bonam partem ausgemacht werden.9 So hat bspw. das RG früher zur sogenannten „Zwecktheorie“ gegriffen, um Notstandslagen rechtfertigende Wirkung beizumessen,10 auch wenn es später die Auffassung vertrat, diese Theorie bediene sich Argumenten eines erhöhten Abstraktionsniveaus mit Verbindung zur gesamten Rechtsord-

5

Siehe S. 71 ff. Siehe S. 80 ff. 7 Zuvor haben wir gesehen, dass bspw. Hans-Ludwig Günther (Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 294 f.) den Begriff „Gesetzesanalogie“ benutzt, wenn er sich auf das bezieht, was hier als „Institutionsanalogie“ oder „Analogie institutionis“ bezeichnet wird. 8 Vgl. Rathcke, Das Güterabwägungsprinzip, S. 2 ff., 22 ff.; Amelung, in: Schünemann (Hrsg.), El sistema moderno del Derecho penal: cuestiones fundamentales, S. 103; Roxin, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 235; Henkel, in: Mezger-FS, S. 265 ff.; Momsen, Die Zumutbarkeit, S. 73; Schönke/Schröder-Cramer/Heine/Lenckner, Vor §§ 32 ff., Rn. 110, 126; Molina Fernández, RDPC (2000) 1, S. 207 ff.; Aguado Correa, Inexigibilidad, S. 39. 9 Noll, Übergesetzliche, S. 14 f.; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 9, Rn. 99; Luzón Peña, PG, I, S. 157; Delitala, Rivista Italiana di Diritto penale (1936), S. 611; Fornasari, in: Fiandaca (Hrsg.), Sistema penale in transizione e ruolo del diritto giurisprudenziale, S. 43. 10 RGSt. 34, S. 447. 6

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3. Kap.: Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

nung.11 Etwas Ähnliches passierte im Bereich der übergesetzlichen Entschuldigung. So weist etwa Welzel in seiner Anmerkung zur Entscheidung des OGH im Prozess gegen die den Euthanasiebefehl ausführenden Ärzte darauf hin, dass der Schuldausschluss in diesem Fall dank eines Rückgriffes auf naturrechtliche Prinzipien erfolgte.12 In dieselbe Richtung zielte Lücke, der die übergesetzliche Erweiterung des Katalogs an Entschuldigungsgründen über den Gutglaubensgrundsatz nach § 242 BGB erreichen wollte, der – als allgemeiner Rechtsgrundsatz – auch im Strafrecht gem. dem Prinzip der Unzumutbarkeit gelten müsse.13 Der gemeinsame Nenner all dieser Fälle ist darin zu sehen, dass analoge Straffreistellungsgründe dank allgemeiner Rechtsgrundsätze (guter Glaube, geeignetes Mittel zu legitimem Zweck) oder sogar außergesetzlicher oder überpositiver Prinzipien (Naturrecht) erschaffen werden. Eine bedeutende Fraktion innerhalb der Lehre machte allerdings schwere Bedenken gegen die Anwendung der Rechtsanalogie in bonam partem geltend.14 Sogar die Anerkennung dieser Analogie in den oben genannten konkreten Bereichen stieß rasch auf starke Ablehnung. So wird bspw. in der berühmten Entscheidung des RG vom 11. März 1927 deutlich verneint, dass der übergesetzliche rechtfertigende Notstand über die sog. „Zwecktheorie“ hergeleitet werden könne,15 da er sich auf einen überaus ungenauen Gedanken stütze, dessen Anerkennung zu in der Praxis zweifelhaften Konsequenzen führe, die aus Perspektive der Rechtssicherheit nur schwer tragbar wären.16 Henkel seinerseits widerlegte mit überzeugenden Argumenten den Rückgriff auf naturrechtliche Prinzipien zur Schuldausschließung,17 während Achenbach18 und Jescheck/Weigend 19 zutreffend die Analogiefähigkeit von § 242 BGB hinsichtlich der übergesetzlichen Entschuldigung bestreiten. Zwar waren es vor allem dogmatische Gründe, die die 11

RGSt. 61, S. 253. Welzel, MDR (1949), S. 374. Allerdings ist einzuwenden, dass seine Argumentation bzgl. der Bedeutung dieser Prinzipien und ihrer Beziehung zu den sonstigen Rechtsgrundsätzen in vielen Teilen nicht eindeutig ist. 13 Lücke, JR (1975) 2, S. 57. 14 U. a. Binding, Handbuch, I, S. 216 f.; Maurach/Zipf, AT, I, § 9, Rn. 9; Achenbach, JR (1975), S. 495; Christensen, in: Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, II, S. 47. Dieselbe Meinung wäre von Franz von Liszt geteilt, der die Gesetzesanalogie unbeschränkt für zulässig gehalten hätte, hingegen wäre die Rechtsanalogie ausgeschlossen gewesen, vgl. Ehret, Franz von Liszt, S. 75. 15 RGSt. 61, S. 253. Diese Idee betonen auch Roxin, AT, I, § 16, Rn. 4; Grünhut, ZStW (1931) 51, S. 458; Wachinger, in: Frank-FS, I, S. 485 f. 16 Obwohl Schmidt, E., ZStW (1929) 49, S. 407 ein bekannter Vertreter der Zwecktheorie war, verbirgt er nicht seine Zweifel am übertriebenen Umfang des Grundsatzes. A. A. Grünhut, ZStW (1931) 51, S. 462 ff. 17 Henkel, in: Mezger-FS, S. 297. Genauso Nowakowski, SchwZStr (1950) 65, S. 312. 18 Achenbach, JR (1975), S. 495. 19 Jescheck/Weigend, AT, S. 501. 12

B. Rechtsstaatliche Grenzen

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letztgenannten Autoren dazu bewegten, die übergesetzliche Ausweitung der Entschuldigungsgründe abzulehnen, dennoch erlangen hier Argumente der Gewaltenteilung und der Rechtssicherheit große Bedeutung. Das heißt, dass neben den unbestrittenen dogmatischen oder kriminalpolitischen Problemen der Analogie iuris in bonam partem auch rechtsstaatliche Gründe existieren, die von ihrer Anerkennung abraten. Sicher, die Rechtsanalogie setzt eine extrem niedrige Bindung des Richters an das Gesetz voraus, was aus Sicht der rechtsstaatlichen Wurzel des Gesetzlichkeitsprinzips fragwürdig ist. Wenn der Richter bspw. eine neue Regelung anhand so allgemeiner rechtlicher Parameter wie den Grundsätzen pro libertate, Allgemeinwohl, fragmentarischer Charakter des Strafrechts oder neminem laedere entwickelt, geht unmittelbar eine Bindung mit den gesetzgeberischen Materialien verloren. Einerseits ist überhaupt nicht klar, auf welche generischen Fälle diese Prinzipien Anwendung finden, während andererseits auch nicht mit Sicherheit bekannt ist, welche Rechtsfolgen diese Grundsätze haben. Damit geht nicht nur die Möglichkeit verloren, zweifelsfrei eine rechtliche Ähnlichkeit der verglichenen generischen Fälle festzustellen, sondern auch die Möglichkeit, sich bei der Schaffung einer richterlichen Norm an einem genuin gesetzlichen Vorbild zu orientieren. Von daher bilden die Leitprinzipien der Analogie iuris in bonam partem weder eine ernsthafte Grenze für die quasi-legislativen Befugnisse des Richters noch eine solide argumentative Entscheidungsgrundlage. Aus diesem Grund sollte nicht verwundern, dass für Binding20 die allgemeine Analogie oder die Analogie iuris unsicherer und inkohärenter als die Analogie legis sind und nur diese zuverlässige Ergebnisse gewährleistet. All dies zeigt, dass die Rechts(fort-)bildung mittels Rechtsanalogie es sehr schwierig (wenn nicht unmöglich) macht, zwischen einer übergesetzlichen Norm, die den Willen des Gesetzgebers widerspiegelt, und einer anderen zu unterscheiden, die nur den Subjektivismus des Richters vermittelt21, allerdings mit einer „rechtlichen Fassade“. Die allgemeinen Rechts- oder Naturrechtsprinzipien hätten lediglich eine sehr unpräzise, konturenlose Begrenzungsfunktion, ähnlich der gewöhnlichen gesetzgeberischen Tätigkeit. Der Gesetzgeber verfügt nämlich über einen weiten Spielraum, ob und wie er eine Rechtsmaterie gesetzlich regelt, wenn auch stets limitiert durch allgemeine Rechtsprinzipien und Grundrechte. Dem Richter eine vergleichbare Kompetenz einzuräumen, ist aus der Perspektive des gemäßigten Neokonstitutionalismus selbst unvertretbar, da es gegen das Demokratieprinzip und den Grundsatz der Gewaltenteilung verstieße und letzten Endes das Gesetzlichkeitsprinzip verletzte.22 Der Richter handelte hiernach 20

Binding, Handbuch, I, S. 217. Müller/Christensen, Juristische, I, Rn. 370, S. 358. 22 Im Schrifttum der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts lehnen Schmidt, E., ZStW (1929) 49, S. 376; Marx, Grundprinzipien, S. 10 f. diese Gleichstellung der richterlichen Rechtsfortbildung mit der Gesetzgebung ab. 21

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3. Kap.: Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

schlicht und ergreifend wie ein Gesetzgeber, was ihm verboten ist. Entsprechend hat der Oberste Gerichtshof Spaniens die Möglichkeit, richterliche Strafmilderungsgründe aus allgemeinen Rechts- oder Naturrechtsprinzipien abzuleiten, nachdrücklich abgelehnt.23

III. Rechtliche Natur und Reichweite der analogen Strafbefreiungs- und Strafmilderungsgründe Nicht selten finden sich in der Literatur zum System der Rechtfertigungsgründe vor der StGB-Reform im Jahr 1975 Hinweise darauf, dass der übergesetzliche rechtfertigende Notstand einen Teil dieses Systems bildete.24 Ein derartiger Standpunkt war vor allem in der umfangreichen Rechtsprechung des RG angelegt, die im Laufe der Jahre die Anwendbarkeit dieses übergesetzlichen Rechtfertigungsgrundes anerkannte.25 Auch wenn aus der Literatur nicht eindeutig hervorgeht, worin die Bedeutung davon lag, dass der übergesetzliche rechtfertigende Notstand einen Teil des Systems der Rechtfertigungsgründe bildete, deutet sich in dieser Literatur doch an, dass dieser neue Straffreistellungsgrund in demselben Umfang für anwendbar gehalten wurde, wie die übrigen, gesetzlichen Rechtfertigungsgründe. Insofern wurden die vom Gesetzgeber getroffene Aussage und die des Richters in ihren Wirkungen angeglichen. Auf diese Weise könnte jeder Richter, der eine Notstandssituation zu lösen hätte, problemlos auf diese übergesetzliche Rechtfertigung zurückgreifen, genauso, als ob irgendeine der übrigen gesetzlichen Regelungen eingriffe. In ähnlicher Weise wurde in Spanien, bis zum Inkrafttreten des Strafgesetzbuches (Código Penal) im Jahr 2011, der Tatbestand der überlangen Verfahrensdauer als übergesetzlicher Strafmilderungsgrund anerkannt und angewendet.26 Die umfangreiche Rechtsprechung des spanischen Obersten Gerichtshofes (Tribunal Supremo) gewährte hier fast automatisch eine Strafmilderung in Fällen der von Justizorganen verschuldeten überlangen Verfahrensdauer.27 Daher ging die Literatur davon aus, dieser neue Umstand sei Teil des auf die Strafmilderungsgründe anwendbaren normativen Systems28. 23 STS Nr. 519/1995, Sala de lo Penal, v. 3. Februar. In der spanischen Lehre übereinstimmend Orts Berenguer, Atenuante, S. 79. A. A. Goyena Huerta, Las atenuantes, in: Muñoz Cuesta (Hrsg.), Las Circunstancias Atenuantes en el Código Penal de 1995, S. 150. 24 U. a. Welzel, Strafrecht, S. 83; Maurach, AT, S. 290 ff.; Mezger, Grundriss, S. 78 f.; Krey, AT, § 13, Rn. 541. 25 Vgl. z. B. RGSt. 34, S. 444 ff.; RGSt. 59, S. 404 ff.; RGSt. 61, S. 242 ff.; RGSt. 62, S. 35 ff.; RGSt. 63, S. 215 ff. Ausführlich Montiel, Analogía, S. 311 ff. 26 Zur Bedeutung dieser Konstellation aber in Zusammenhang mit § 60 StGB vgl. Schönke/Schröder-Stree/Kinzig, § 60, Rn. 5. A. A. Stratenwerth, AT, II, § 7, Rn. 96. 27 Vgl. nur STS 742/2003, Sala de lo Penal, v. 22. Mai; STS 806/2002, Sala de lo Penal, v. April; STS 1363/2004, Sala de lo Penal, v. 29. November; STS 655/2003, Sala de lo Penal, v. 8. Mai; STS 622/2001, Sala de lo Penal, v. 26. November.

B. Rechtsstaatliche Grenzen

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Wenn die übergesetzlichen Straffreistellungsgründe in diesen Fällen zu den anwendbaren Normen gezählt würden, wollte man m. E. zum Ausdruck bringen, dass die übrigen Richter – also diejenigen, die die Rechtsfortbildung ursprünglich nicht betrieben haben – zu ihrer Anwendung gleichsam verpflichtet seien. Damit würden Richterrecht und Gesetzgebung eindeutig gleichgestellt. Gerade Wirksamkeit und Verbindlichkeit sind zwei Hauptmerkmale des Gesetzes. Eine Norm ist wirksam, wenn sie von einem kompetenten Organ – d.h. auf Grundlage einer hierarchisch höherrangigen Norm – geschaffen wurde.29 Eine Norm ist demgegenüber bindend, wenn sich der Rechtsanwender zu ihrer Anerkennung gezwungen sieht, soweit ihre Anwendungsvoraussetzungen erfüllt sind.30 Somit sind alle Bestimmungen des Strafgesetzbuches wirksam, weil sie vom dafür zuständigen Parlament kraft einer Verfassungsnorm (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) verabschiedet wurden; zudem sind sie für die Gerichte bindend. Nach den obigen Ausführungen31 leitet sich die Wirksamkeit der analogen Straffreistellungsgründe aus einer Verfassungsnorm (in Deutschland Art. 103 Abs. 2 GG)32 her, die den Richter zur Rechtsbildung ermächtigt,33 sofern diese Funktion eine zweitrangige bleibt und nicht zur unmittelbaren Anmaßung genuin legislativer Befugnisse führt. Genau um zu verhindern, dass die Anerkennung des Richterrechts die Gewaltenteilung in Schieflage bringt, darf die Rechtsfortbildung nur „temporär“ und ausschließlich in Bezug auf einen konkreten Fall erfolgen.34 Gerade zur Verhinderung dieses Missstandes beschränkt § 31 BVerfGG die Gesetzeskraft auf normprüfende Entscheidungen.35 So umfasst keiner der Fälle, in denen § 31 Abs. 2 BVerfGG den Entscheidungen dieses Gerichts Gesetzeskraft zuerkennt, die Rechtsfortbildung durch ordentliche Gerichte. Ebenfalls scheint es nicht der Wille des Gesetzgebers gewesen zu sein, den Anwendungsbereich dieses Konzepts auf andere, analoge Tatbestände auszuweiten,36 weil es angesichts der Gewaltenteilung einen hohen Ausnahmecharakter besitzt. Deshalb

28

Siehe Moreno y Bravo, in: Bacigalupo-FS, S. 555. Bulygin, in: Alchourrón/Bulygin, Análisis lógico y Derecho, S. 363. 30 Bulygin, in: Alchourrón/Bulygin, Análisis lógico y Derecho, S. 364. 31 Siehe S. 113 ff. 32 Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 2, Rn. 231; Epping/Hillgruber/ Radtke-Hagemeier, Art. 103, Rn. 39. 33 Bulygin, in: Alchourrón/Bulygin, Análisis lógico y Derecho, S. 366. 34 Falcón y Tella, El argumento, S. 86. 35 Jedoch bedeutet die Anerkennung von Gesetzeskraft dieser Entscheidungen des BVerfG nicht, dass diese Rechtsprechung automatisch zu Gesetzgebung wird, vgl. Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge/Bethge, § 31, Rn. 157 f.; Lechner/Zuck, BVerfGG, § 31, Rn. 36. 36 Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge/Bethge, § 31, Rn. 164; Lechner/Zuck, BVerfGG, § 31, Rn. 37. Demgegenüber stellt Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, Rn. 244 die Wirkungen letztinstanzlicher Entscheidungen mit denen eines Gesetzes gleich. 29

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3. Kap.: Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

fehlt bspw. Entscheidungen, die übergesetzliche Rechtfertigungs- oder Strafmilderungsgründe schaffen, die Gesetzeskraft. Würde man die Rechtskraft der von ordentlichen Gerichten geschaffenen Bestimmung anerkennen, so erhielte sie dieselbe Wirkung wie ein Gesetz, was in einem Rechtsstaat wegen des dann zu verzeichnenden Demokratiedefizits nicht hinnehmbar ist.37 Daraus wird deutlich, warum das Richterrecht als Ergebnis quasi-legislativer Befugnisse des Richters betrachtet werden sollte. Tatsächlich werden die allgemeinen, vom Gesetzgeber geschaffenen Bestimmungen unmittelbar Bestandteil des originären Normensystems, zu dessen Anwendung die Richter ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens verpflichtet sind. Demgegenüber gilt die vom Richter geschaffene Norm nur für den gegenständlichen Fall und fügt sich nicht in dieses normative System ein. Aus diesem Grund sind die Gerichte nicht dazu gezwungen, diese Norm später anzuwenden. Die übergesetzlichen Straffreistellungsgründe bedeuten eher eine punktuelle und ausnahmsweise Korrektur der Gesetzgebung, um ein spezielles axiologisches Problem zu lösen. Es könnte höchstens – allein aus Zweckmäßigkeitserwägungen – verlangt werden, dass der Richter sich in späteren Fällen der von ihm geschaffenen Bestimmung selbst bedient, um vergleichbare Sachverhalte ähnlich zu entscheiden.38

C. Strafrechtliche Grenzen I. Einleitung: Ausnahmeregelungen und Analogieverbot Es gibt Regelungen in der Rechtsordnung, die der Verallgemeinerung nicht zugänglich und folglich nicht analogiefähig sind.39 Das liegt hauptsächlich daran, dass diese Normen für einzelne Ausnahmesituationen entwickelt wurden, weshalb ihre Rechtsfolge ausschließlich auf ein konkretes, vom Gesetzgeber vorgesehenes Fallspektrum anwendbar ist und nicht auf ein anderes oder vergleichbares. Diese Rechtsnormen können als Ausnahmevorschriften eingestuft werden, und dann herrscht in der Regel das Analogieverbot40. Der Gesetzgeber kann ein „Universum von Fällen“ rechtlich regulieren und dieses Universum mit einer allgemeinen Rechtsfolge verbinden, hierbei kann er 37 Vgl. Krey, ZStW (101) 1989, S. 864; Nino, Introducción, S. 152; Falcón y Tella, El argumento, S. 85 f.; Bulygin, in: Alchourrón/Bulygin, Análisis lógico y Derecho, S. 366. 38 Bulygin, Isonomía (2003) 24, S. 21; ders., Creación, in: Atria et al., Las lagunas en el Derecho, S. 41. 39 Für Jakobs, AT, Abs. 4, Rn. 33 sind die Begriffe Analogie und Verallgemeinerung gleichbedeutend. 40 Engisch, Einführung, S. 196 ff. A. A. Bydlinski, Juristische, S. 440.

C. Strafrechtliche Grenzen

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aber bei konkreten Situationen von dieser allgemeinen Rechtsfolge abweichen und diese Situationen mit einer anderen Rechtsfolge verbinden.41 Bei diesen konkreten Fällen gelten Ausnahmeregelungen. Um einen Missbrauch der Ausnahmeregelung zu vermeiden, ist diese nur auf die vom Wortlaut umfassten generischen Fälle anwendbar. Obwohl einige Rechtsordnungen klarstellen, dass das Analogieverbot in gewisser Weise die Existenz von Ausnahmevorschriften voraussetzt, spielt die Entwicklung dieses Gedankens in der Lehre keine allzu bedeutende Rolle.42 Art. 14 des italienischen und Art. 4 Nr. 2 des spanischen Bürgerlichen Gesetzbuches ordnen ein Analogieverbot für Strafgesetze und Ausnahmevorschriften an.43 Die in Italien44 und Spanien45 klar vorherrschende Lehre interpretiert „Strafgesetze“ im Sinne von „inkriminatorischen Gesetzen“, d.h. als Normen, die den Angeklagten belasten, wie Straftatbestände oder Strafverschärfungsgründe. Dennoch verbleiben weiterhin Zweifel, wie der Begriff „Ausnahmevorschriften“ auszulegen ist. Sind damit vielleicht Vorschriften gemeint, die die Freiheit ebenfalls bedeutsam belasten, wie etwa die Steuergesetze oder das Ordnungswidrigkeitenrecht?46 Kann womöglich anderen strafrechtlichen Bestimmungen neben den Straftatbeständen und Strafverschärfungsgründen Ausnahmecharakter beigemessen werden? Diese Möglichkeit ist teilweise in der italienischen Rechtslehre diskutiert worden, um das Analogieverbot auch auf einige Fälle der Analogie in bonam partem auszuweiten47. Die große Herausforderung bei der Festlegung von Grenzen der Analogie zugunsten des Täters besteht darin, das Ausnahmekriterium herauszuarbeiten und die strafrechtlichen Normen und Institutionen aufzuzeigen, die aufgrund ihres restriktiven Charakters nicht verallgemeinerungsfähig sind, i. S. v. einer Verkeh41

Larenz, Methodenlehre, S. 355. Möglicherweise bildet die italienische Strafrechtswissenschaft die große Ausnahme. Vgl. Delitala, Rivista Italiana di Diritto penale (1936), S. 606 ff.; Vassalli, Limiti, S. 6 ff. 43 Eine ähnliche Bestimmung enthält das portugiesische BGB (art. 11). 44 U. a. Antolisei, PG, S. 97 f.; Guastini, Estudios, S. 101 f.; Delitala, Rivista Italiana di Diritto penale (1936), S. 607 ff.; Vassalli, Limiti, S. 33 ff. 45 Vicente Martínez, El principio, S. 57–58; Salguero, Argumentación, S. 215; Legaz y Lacambra, Revista de la Universidad Complutense (1983) 69, S. 33; Falcón y Tella, El argumento, S. 113; Lacruz Berdejo et al., Elementos, S. 259; Puig Brutau, Fundamentos, S. 329; Albácar/Martín Granizo, art. 4, in: ders. (Hrsg.), Código Civil, S. 75. Zur Rspr., vgl. STC 36/1982, Sala Primera, v. 16. Juni. A. A. Lasarte, Principios, I, S. 81. 46 Im Rahmen des Privatrechts bringen Albácar/Martín Granizo, „art. 4“, in: ders., Código Civil. Doctrina y Jurisprudencia, S. 75 f. Beispiele für Ausnahmegesetze in Spanien. 47 Aus diesem Grund lehnen einige Autoren in der rechtsvergleichenden Literatur die analoge Schaffung absoluter Strafausschließungsgründe ab, u. a. Delitala, Rivista Italiana di Diritto penale (1936), S. 610; Creus, PG, § 64. 42

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3. Kap.: Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

rung der Ausnahme zur Regel48. Unabhängig von diesem letzten Problem – auf das im nächsten Abschnitt eingegangen wird – ist es ratsam, hier die zentralen Auswirkungen der Ausnahmevorschriften auf das Analogieverbot darzulegen.49 Die erste Auswirkung besteht in der Vermutung, dass weder axiologische, normative noch Ausnahmelücken existieren, dass der Gesetzgeber also nie so nachlässig gewesen ist, rechtlich relevante Fälle nicht vorauszusehen oder unangemessene Rechtsfolgen anzuordnen. Man geht somit von einer Vermutung iuris tantum aus, wonach der Gesetzgeber bei der Schaffung der Ausnahmevorschrift besonders sorgfältig handelte und aus diesem Grund insbesondere über die zu regelnden Fallgruppen und ihrer Rechtsfolgen nachdachte. Der Gesetzgeber hätte demnach sehr genau geprüft, welche Fälle und Rechtsfolgen er haben wollte und welche nicht. Alle im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehenen Fälle wären daher – ungeachtet ihrer Ähnlichkeit oder Verschiedenheit – vom Gesetzgeber in einer bewussten Entscheidung ausgeschlossen worden. Wie gesehen schiede eine Nachlässigkeit des Gesetzgebers aus und damit auch eine analogiefähige Lücke.50 In Wirklichkeit handelt es sich hier um Wertunstimmigkeiten, die mittels Analogie nicht überbrückt werden können.51 Die zweite Auswirkung folgt gleichsam aus der Widerlegung der vorigen Vermutung. Ist einmal dargelegt, dass der Gesetzgeber einem Irrtum erlegen ist oder nachlässig gehandelt hat, und wird demnach die Existenz einer axiologischen Lücke oder Ausnahmelücke anerkannt, stellt sich die Frage, wie diese geschlossen werden kann. Die Ausnahmevorschriften führen hier erneut zum Analogieverbot, da die Lücken eben nicht mittels Analogie geschlossen werden können. Der Ausnahmecharakter dieser Vorschriften erfordert die maximale Legitimation des zur Schließung der Lücken berufenen Organs; außerdem muss es sich dabei um dieselbe Institution handeln, die das Gesetz in die Rechtsordnung eingeführt hat. Daraus lässt sich sodann ableiten, dass eventuell notwendige Korrekturen dieser Gesetze vom Gesetzgeber stets selbst vorzunehmen sind, sogar dann, wenn die Modifizierungsnotwendigkeit aus einem konkreten Fall entsteht. Die richterliche Befugnis, die Gesetzgebung ausnahmsweise mittels Analogie zu korrigieren, bleibt somit absolut verboten. Zusammenfassend bedingen die Ausnahmevorschriften das Analogieverbot in einem doppelten Sinne: Erstens schließen sie prinzipiell die Möglichkeit aus, außerplanmäßige Ausnahmelücken anzuerkennen; zweitens schließen sie die Korrektur dieser Lücken durch Analogien aus.

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Canaris, Die Feststellung, S. 181. Eine ähnliche Aussicht über diese Auswirkungen in: Jacobi, Methodenlehre, S. 352 f. 50 Krey, JZ (1978), S. 365. 51 Zur Bedeutung dieser Unstimmigkeiten siehe S. 42 ff. 49

C. Strafrechtliche Grenzen

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Abschließend ist zu betonen, dass der Ausnahmecharakter von Normen keine „Alles oder Nichts“-Frage ist, wonach die Regelung entweder eine Ausnahmevorschrift darstellt oder nicht. Der „Ausnahmestatus“ lässt auch Abstufungen zu, sodass manche Normen einen höheren „Ausnahmegrad“ als andere aufweisen. Daraus folgt, dass auch die Rechtsfolgen der Ausnahmevorschriften bezüglich des Analogieverbotes differenziert und abgestuft betrachtet werden müssen. Dementsprechend lassen sich Gesetze mit niedrigem Ausnahmegrad finden, bei denen Regelungslücken und die Korrekturmöglichkeit durch Analogien – wenn auch nur restriktiv – anerkannt werden können. Die völlige Unmöglichkeit, Ausnahmelücken anzuerkennen, sowie das absolute Verbot, sie mittels Analogien zu schließen, gelten somit nur bei Vorschriften mit dem höchsten Ausnahmegrad. Die Frage des konkreten Ausnahmeniveaus einzelner Vorschriften hängt letztlich davon ab, in welche strafbefreiende Institution die Ausnahmevorschrift eingefügt wurde und welche Funktion diese Institution innerhalb eines bestimmten Rechtsgebietes erfüllt. Es wird sich zeigen, dass diese Abstufung der Ausnahmevorschriften dem Strafrecht nicht fremd ist.

II. Der Ausnahmecharakter von Straffreistellung und Strafmilderung und das Analogieverbot 1. Einführung in die strafrechtlichen Ausnahmevorschriften Wenn man auf die gesamte Rechtsordnung einen Blick wirft, erscheint es als nicht völlig absurd, dass die Straftatbestände und die Strafverschärfungsgründe Ausnahmevorschriften i. S. v. Art. 4 N. 2 spanisches Bürgerliches Gesetzbuch sind. Letzten Endes besitzt das Strafrecht die im Hinblick auf die Grundrechte schwersten Rechtsfolgen in der Rechtsordnung überhaupt. Dieser Punkt hängt mit einem zentralen Gedanken rechtsstaatlicher Rechtssysteme zusammen: Das Recht ist ein Mittel zur Verwirklichung und Stärkung der positiven wie negativen Freiheiten der Bürger.52 Aus dieser Perspektive heraus hätte jede Freiheitsbeschränkung Ausnahmecharakter,53 selbst solche Schranken, die Freiheiten und Rechte Dritter oder der Gesellschaft schützen sollen. Eine derartige Beschränkung müsste deshalb immer auf gewichtigen Gründen beruhen und von einem demokratisch hinreichend legitimierten Organ, wie dem Parlament, beschlossen werden54. In Wirklichkeit stammt das Verbot der Analogie zulasten des Täters aber nicht aus dem Ausnahmecharakter der Regelungen, sondern es handelt sich 52 Moreso, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 151 ff.; Günther, in: Eser/Flechter (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 371. 53 U. a. Engisch, Einführung, S. 131. 54 Bacigalupo, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 380 f.

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3. Kap.: Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

um ein unabhängiges Verbot, das schwere Freiheitsbeschränkungen außerhalb des Gesetzes verhindern soll. Im strafrechtlichen normativen Untersystem erkennt der Gesetzgeber die Verhängung einer Strafe als allgemeine Rechtsfolge an, wenn sämtliche Voraussetzungen der strafrechtichen Zurechnung vorgelegen haben. Die Strafgesetzbücher kennen aber auch spezifische Regelungen, die dieser allgemeinen Rechtsfolge nicht entsprechen, sondern andere Rechtsfolgen für bestimmte Fälle normieren. Der Gesetzgeber kann es angesichts der Verfolgung der strafrechtlichen Ziele für notwendig halten, die Bestrafung auszuschließen oder eine Grundlage zur Minderung des Strafmaßes zu schaffen. Das ist der Fall bei Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs-, Strafausschließungs- (als Oberbegriff für persönliche Strafausschließungs- und -aufhebungsgründe) sowie im Rahmen der Strafmilderungsgründe. Zunächst ist es wichtig klarzustellen, dass es im Strafrecht weder neu noch ungewöhnlich ist, die Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe als Ausnahmen zu bezeichnen. Auch wenn dieser Gedanke in der jüngeren Literatur nur implizit anklingt und keine besondere Beachtung findet,55 nahm der Ausnahmecharakter der Strafbefreiung bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Stellung in der Lehre ein.56 Die unrechts-, schuld- oder strafausschließenden Umstände standen ausnahmsweise der vom Gesetzgeber vorgesehenen Strafe entgegen. Von den zahlreichen Gründen, warum dieses Thema in der damaligen Literatur gegenwärtiger war, verdient m. E. die Diskussion über den „absoluten“ Charakter des Delikts besondere Beachtung.57 Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass schon während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Grolman58 und Hälschner59 vertreten hatten, ein verbrechenskonstituierendes Verhalten könne keinesfalls erlaubt sein. Die Existenz von Notwehr, Notstand oder Irrtum bedeute daher keine Ausnahme zur strafrechtlichen Norm, sondern schließe die Begriffe „Rechtsverletzung“ und „Verbrechen“ direkt aus.60 55 U. a. Kühl, AT, § 12, Rn. 11 f.; Kindhäuser, AT, § 15, Rn. 1; Seelmann, AT, S. 32 f.; Krey/Esser, AT, Rn. 262, 779; Hassemer, in: Eser/Flechter (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 175 ff.; Schroeder, in: Eser/Flechter (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 524 ff. 56 Finger, Lehrbuch, I, S. 383 ff.; Wachenfeld, Lehrbuch, § 35; Hälschner, Das gemeine, S. 468, 486; Merkel, Die Lehre, § 56; Mayer, H., AT, § 21; Binding, Die Normen, I, § 20; Beling, Grundzüge, § 33; Berner, Archiv des Criminalrechts, S. 598; Listz/Schmidt, Lehrbuch, S. 135, 174 ff.; Kohler, Lehrbuch, S. 42. 57 Vgl. Binding, Die Normen, I, § 20. 58 Grolman, Grundsätze, § 22; ders., Ueber die Begründung, S. 28. 59 Hälschner, Das gemeine, S. 467 ff. 60 Neben den kriminalpolitischen Gründen, die zu einem solchen Deliktsverständnis führten, herrschte die Idee vor, dass die Normen stets intakt bleiben müssten, im Sinne also eines kategorischen Imperativs, eines Ver- oder Gebots ohne Ausnahmen. Vgl. Binding, Die Normen, I, § 20.

C. Strafrechtliche Grenzen

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Demgegenüber wurde argumentiert, dass diese Umstände vielmehr eine Ausnahme bewirkten, wonach dem Täter die „deliktische Handlung“ gestattet sei.61 Auch wenn diese Diskussion einen sehr stark theoretisch geprägten Hintergrund hatte und sich an der Natur der Strafbefreiung orientierte, förderte sie doch einen überaus bedeutsamen kriminalpolitischen Aspekt zu Tage: Die präventiven Bedürfnisse des Strafrechts können nur befriedigt werden, indem ausnahmsweise (und demnach nur bedingt) strafausschließende Umstände anerkannt werden.62 Aus meiner Sicht ist dieser Gedanke von fundamentaler Bedeutung, um zu verstehen, warum der Ausschluss oder die Minderung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit als etwas Begrenztes und als Privileg zu sehen ist, das den Täter wegen außergewöhnlicher Gründe begünstigt. Dabei ist die Entscheidung des Gesetzgebers zu verinnerlichen und wirklich zu respektieren. Die gesetzliche Kriminalisierung eines Verhaltens, genauso wie die Festsetzung eines konkreten Strafrahmens sind nämlich Entscheidungen, die auf der Sollens-Ebene einer schwierigen Abwägung zwischen präventiver Notwendigkeit sowie gerechter und rechtsstaatlich angemessener Strafe nachfolgen.63 Ist diese Entscheidung einmal getroffen, so sind alle in der vorgesehenen Weise zu bestrafen, die den gesetzlichen Tatbestand verwirklichen,64 denn diese Handlungen betreffen – mit den Worten Jakobs65 – den „Kern der Gesellschaft“. Man kann die Entscheidung des Gesetzgebers auf sehr verschiedene Weise „ernst umsetzen“. So kann man bspw. die Straflosigkeit einer Person verhindern, die Zurechnungsdefekte selbst provoziert hat,66 indem man bestimmte Zurechnungsregeln aufstellt, die den Wert strafrechtlicher Normen sichern67. Aber der Respekt vor dieser Entscheidung spiegelt sich auch in der geringen Anzahl und Reichweite strafausschließender oder strafmildernder Umstände wider. Insofern wären die Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe tatsächliche Privilegien.68 Daraus folgt jedoch nicht, dass alle begünstigenden Vorschriften dasselbe Ausnahmeniveau haben. Es ist vielmehr klarzustellen, dass der Ausnahmecharakter 61

Dazu Merkel, Die Lehre, § 56; Binding, Die Normen, I, § 20. Binding, Die Normen, I, § 20. 63 Silva Sánchez, Aproximación, S. 258, 298; Roxin, in: Maier/Córdoba (Hrsg.), ¿Tiene futuro el Derecho penal?, S. 74 ff. 64 Jescheck/Weigend, AT, S. 322. 65 Jakobs, KritV (1996) 79, S. 320 ff. 66 Im Wesentlichen die Fälle der actio libera in causa und zahlreiche ähnliche aus der Konstellation des „Vorverschuldens“. Dazu u. a. Hruschka, Strafrecht, S. 274 ff.; ders., Rechtstheorie (1991) 22, S. 456 ff.; ders., ZStW (1984) 96, S. 662 ff.; Neumann, Zurechnung, S. 41 ff.; ders., ZStW (1987) 99, S. 582 ff.; ders., GA (1985), S. 395 ff. 67 Kindhäuser, JRE (1994) 2, S. 341; Mañalich, Nötigung, S. 67. 68 Auch wenn der Begriff Privileg mit bestimmten Strafausschließungsgründen assoziiert wird (vgl. Mayer, M., AT, Kap. 6, S. 298 ff.), werden die Ausdrücke „privilegierende Merkmale“ oder „privilegierende Umstände“ nicht selten für Straffreistellungsund Strafmilderungsgründe verwendet. Vgl. u. a. Jescheck/Weigend, AT, S. 268. 62

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3. Kap.: Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

sich anhand zweier unterschiedlicher Kriterien messen und abstufen lässt: Die Beschaffenheit und Eigenart der strafrechtlichen Institution und die konkrete Stelle der einzelnen Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe im StGB. Zunächst ist die Tatsache, dass einige Faktoren die strafrechtliche Verantwortung unmittelbar ausschließen, während andere die Strafe nur reduzieren, ein Indiz dafür, dass die Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe nicht dasselbe Ausnahmeniveau haben können. Und im Sinne der „Rechtsverbindlichkeit“ können auch folgende unterschiedliche Straffreistellungsgründe nicht denselben Ausnahmerang einnehmen: Straffreistellungsgründe, die denjenigen von strafrechtlicher Verantwortung befreien, der schuldlos eine verbotene Handlung vornimmt und andere, die aus rein kriminalpolitischen Gründen von Strafe absehen. In beiden Konstellationen geht der Ausnahmecharakter mit dogmatischen Besonderheiten beider Rechtsfiguren einher. Daneben hängt der Ausnahmecharakter dieser Normen aber auch mit deren Einordnung nach Deliktsgruppen zusammen. Häufig schafft der Gesetzgeber Vorschriften im Besonderen Teil des Strafrechts, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit nur für spezielle Delikte ausschließen oder mindern. Oft handelt es sich dabei um Rechtfertigungsgründe (z. B. §§ 218 Abs. 2 und 3, 193 StGB)69 oder um Strafausschließungsgründe (z. B. §§ 173 Abs. 3, 306a Abs. 2, 218a Abs. 4 S. 2 StGB),70 die – im Unterschied zu den Regelungen des Allgemeinen Teils – nur für bestimmte Rechtsgüter und konkrete Delikte konzipiert sind. In diesem zweiten Fall hat der Ausnahmecharakter dieser Vorschriften nichts mit der strafbefreienden oder strafmildernden Natur der gesetzlichen Regel zu tun, sondern mit ihrer Einbeziehung in den strafrechtlichen Schutzbereich eines speziellen Rechtsgutes. Dem Vorstehenden können folglich zwei fundamentale Kriterien für die Bestimmung des Ausnahmecharakters und -niveaus der Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe entnommen werden. Das erste Kriterium kann als institutionsbezogen, das zweite als systembezogen bezeichnet werden. Jeder Nachweis dieses Ausnahmecharakters hat mit dem institutionsbezogenen Kriterium zu beginnen, da es sich dabei um ein allgemeines Kriterium handelt, das die Feststellung erlaubt, welches Ausnahmeniveau die Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs-, Strafausschließungs- und Strafmilderungsgründe abstrakt haben. Der Rückgriff auf das systembezogene Kriterium erfolgt hingegen erst zu einem späteren Zeitpunkt. Wie sich noch zeigen wird,71 kommt es oft vor, dass der über das institutionsbezogene Kriterium gewonnene Grad der Ausnahme merklich modifiziert

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Kühl, AT, § 9, Rn. 50; Jakobs, AT, Abs. 13, Rn. 8, Abs. 16, Rn. 37. Jescheck/Weigend, AT, S. 552 f.; Kindhäuser, AT, § 6; Rn. 15 f.; Krey/Esser, AT, § 23, Rn. 779 f. 71 Siehe S. 167 ff. 70

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werden kann, indem man die Verortung der privilegierenden Vorschrift in einem spezifischen Abschnitt des Besonderen Teils berücksichtigt. Das systembezogene Kriterium kann also bspw. dazu führen, dass ein Straffreistellungsgrund – der nach dem ersten Kriterium ein niedriges Ausnahmeniveau hat – nun einen hohen Ausnahmegrad erhält, weil der Gesetzgeber ihn in Beziehung zu einer bestimmten Deliktsgruppe gesetzt hat. Letztlich sind beide Kriterien in die Bewertung des Ausnahmecharakters einzubeziehen. 2. Der Ausnahmecharakter der Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe nach dem institutionsbezogenen Kriterium und die Grenzen der Analogie in bonam partem a) Fragestellung Als Ausgangspunkt für das institutionsbezogene Kriterium folge ich der wissenschaftlichen und richterlichen Auffassung über die Zulässigkeit der Analogie in bonam partem. Das bedeutet nicht, dass die Lehre und die Rechtsprechung selbst in diesem Rahmen den Ausnahmecharakter der Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe entwickelt haben, sondern vielmehr mag die Auseinandersetzung über die Anerkennung übergesetzlicher Ausschließung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ein Indiz dafür sein, dass der Ausnahmecharakter der verschiedenen strafbefreienden Institutionen abgestuft werden muss. Seit den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts wird die richterliche Bildung analoger Rechtfertigungsgründe von der Lehre zweifellos akzeptiert,72 ohne dass die Risiken richterlicher Willkür oder der richterlichen Ablehnung der Notwehr entscheidende Argumente gegen die Analogie in bonam partem wären.73 Traditionell wurde in der Annahme materieller Kriterien als Grundlage der Rechtswidrigkeit die Anerkennung außergesetzlicher Umstände erblickt, die tatbestandliches Verhalten rechtfertigten.74 Vergleichbares gilt für die Strafmilde72 U. a. Wachinger, in: Frank-FS, I, S. 508 f.; Schmidt, E., ZStW (1929) 49, S. 376; Marx, Grundprinzipien, S. 10 f.; Jescheck/Weigend, AT, S. 326; Hirsch, in: Zong Uk Tjong-GS, S. 53 ff.; Puppe, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 169; Schönke/Schröder-Cramer/Heine/Lenckner, Vor § 32 ff., Rn. 25; NK/Paeffgen, Vor §§ 32 ff., Rn. 56; Perron, Rechtfertigung, S. 99; Runte, Die Veränderung, S. 28; Molina Fernández, in: González-Cuéllar García-FS, S. 381. 73 Zu den seltenen Gegnern der Analogie bei Rechtfertigungsgründen, vgl. Lenckner, JuS (1968) 6, S. 252 (selbst dieser Autor ändert später seine Position, vgl. Schönke/ Schröder-Cramer/Heine/Lenckner, Vor § 32 ff., Rn. 25); Jähnke, in: Geiß/Nehm/ Brandner/Hagen (Hrsg.), Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, S. 405 ff. Gegen diese Analogie auch Krey, JuS (1970) 6, S. 291, Fn. 10; Gribbohm, JuS (1966) 4, S. 159, Fn. 15, allerdings im umstrittenen Bereich des Festnahmerechts von jedermann (§ 127 I, II StPO). 74 Schmidt, E., ZStW (1929) 49, S. 354; Wachinger, in: Frank-FS, I, S. 481.

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3. Kap.: Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

rungsgründe.75 Nach der Lehre trifft der Gesetzgeber auf enorme Schwierigkeiten, im Gesetz alle relevanten strafmildernden Umstände zu berücksichtigen,76 die die verschiedenen Grundlagen und Motive (u. a. das geringere Unrecht, die geringere Schuld, die präventiven Strafzwecke)77 abdeckten; deshalb müsse regelmäßig auf das ungeschriebene Recht zurückgegriffen werden.78 Demgegenüber ist der Meinungsstand im Bereich der übergesetzlichen Schuldausschließungsgründe nicht unbedingt deckungsgleich, da die Lehre diese Analogie in bestimmten Fällen schon länger zu verhindern sucht. Ausreichend ist bereits ein Blick auf die deutsche Strafrechtswissenschaft79 und Rechtsprechung80 in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts; die übergesetzliche Entschuldigung vorsätzlicher Delikte über das Konzept der Unzumutbarkeit (normgemäßen Verhaltens) wurde dort ausdrücklich abgelehnt.81 Noch heute überwiegt die Ansicht, dass dieses Konzept nicht generell als übergesetzlicher Entschuldigungsgrund taugt.82 Diesen doktrinellen Positionen zum Trotz, sollte nicht der Eindruck ent75 Während die Diskussion über die übergesetzlichen Strafmilderungsgründe in Deutschland eine eher untergeordnete Rolle spielt, hat die sogenannte „analoge Strafmilderung“ des Art. 21 Nr. 6 a. F. (jetzt Art. 21 Nr. 7 CP) in Spanien große Aufmerksamkeit in Teilen der Lehre erlangt. Dazu vgl. Orts Berenguer, Atenuante, S. 17 ff.; Cerezo Mir, PG, I, S. 173 f.; Rodríguez Devesa/Serrano Gómez, PG, S. 256; Cortés Bechiarelli, in: Cobo del Rosal (Hrsg.), Comentarios al Código penal, S. 100; Rodríguez Mourullo, in: Cobo del Rosal (Hrsg.), Comentarios al Código penal, S. 159 ff.; ders., in: Rodríguez Mourullo (Hrsg.), Comentarios al Código penal, S. 37; Otero González, La circunstancia, S. 30; Romeo Malanda, RDPC (2005) 16, S. 196, 203 f.; Goyena Huerta, Las atenuantes, in: Muñoz Cuesta (Hrsg.), Las Circunstancias Atenuantes en el Código Penal de 1995, S. 148 ff.; del Río Fernández, Atenuantes, S. 15 f. Zu deutschsprachigen Diskussionsbeiträgen vgl. Triffterer, AT, Kap. 20, Rn. 52; Alberts, Gesetzliche, S. 90; Noll, ZStW (1956) 68, S. 194 ff. 76 Alberts, Gesetzliche, S. 90; Orts Berenguer, Atenuante, S. 47, 49. 77 Dazu Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis, S. 161 ff.; Meier, Strafrechtliche, S. 164; Alberts, Gesetzliche, S. 88; Valle Muñiz, ADPCP (1992) XLV, Heft II, S. 561 f.; Orts Berenguer, Atenuante, S. 55 f.; Obregón García, La atenuación, S. 209 f. 78 Ungeachtet der allgemeinen Anerkennung der analogen Strafmilderungsgründe in Europa, lehnen einige italienische Autoren diese Möglichkeit ab, vgl. Mantovani, PG, S. 77; ders., Principi, S. 26; Vassalli, Limiti, S. 91. 79 Vgl. insbesondere Maurach, Kritik, S. 139 ff. und Schaffstein, Die Nichtzumutbarkeit, S. 60 ff., 78 (Sainz Cantero, La exigibilidad, S. 29 verdeutlicht Schaffsteins Position). So auch Drost, GA (1933) 77, S. 178 f.; Kitzinger, JW (1933) 7, S. 405 ff.; Mangakis, ZStW (1963) 75, S. 149. Zum philosophischen Hintergrund dieser Ablehnung vgl. Mangakis, ZStW(1963) 75, S. 149; Melendo Pardos, El concepto, S. 411. 80 RGSt. 66, S. 397 ff. (mit Anmerkungen Wittig, JZ (1969), S. 546; Maurach, Kritik, S. 139 ff.); RGSt. 58, S. 97; RGSt. 60, S. 101; RGSt. 63, S. 233. 81 Vgl. schon die Ablehnung der Analogie im Rahmen der Entschuldigungsgründe in Jobst, Der Streit, S. 83. 82 Jescheck/Weigend, AT, S. 504; Roxin, AT, I, § 22, Rn. 144; Wessels/Beulke, AT, § 10, Rn. 451; Kindhäuser, AT, § 21, Rn. 13; Kühl, AT, § 12, Rn. 12; Momsen, Die Zumutbarkeit, S. 462 ff.; Schönke/Schröder-Cramer/Heine/Lenckner, Vor §§ 32 ff., Rn. 122 f.; MüKo-Schlehofer, Vor §§ 32 ff., Rn. 274. A. A. Lücke, JR (1975) 2, S. 58; Jakobs, AT, Abs. 20, Rn. 45, aber nur unter bestimmten Bedingungen.

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stehen, die Ablehnung der Analogie in bonam partem sei verbreitet. Ganz im Gegenteil wird deren Anwendung auf den Verbotsirrtum83 und (einzelne) Entschuldigungsgründe84 seit langem vertreten. Im Bereich der persönlichen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe ist die Billigung der Analogie in bonam partem am unklarsten und umstrittensten. In der rechtsvergleichenden Literatur ist entweder eine kategorische Ablehnung festzustellen – wie überwiegend in der italienischen Strafrechtswissenschaft85 – oder eine eindeutig wohlwollende Position – wie im Fall des spanischen Strafrechts.86 In Deutschland hingegen gibt es keine klar vorherrschende Meinung, nach der übergesetzliche Strafausschließungsgründe zulässig sind. Während so einerseits die analoge Erweiterung des § 24 StGB in der Lehre weithin anerkannt ist,87 wird andererseits die Analogie in bonam partem auf bestimmte Strafausschließungsgründe – wie §§ 258 VI, 306e II und 341a III StGB 83 Engisch, Einführung, S. 200 f.; Felip i Saborit, Error iuris, S. 60; Belfiore, in: Fiandaca (Hrsg.), Sistema penale in transizione e ruolo del diritto giurisprudenziale, S. 62. 84 Vgl. Roxin, AT, I, § 22, Rn. 146 ff.; Jescheck/Weigend, AT, S. 502 ff.; Schmidhäuser, Lehrbuch, § 11, Rn. 33; Cerezo Mir, PG, I, S. 158; Schönke/Schröder-Cramer/ Heine/Lenckner, Vor §§ 32 ff., Rn. 115; Achenbach, JR (1975), S. 495 ff.; MüKoSchlehofer, Vor §§ 32 ff., Rn. 261. 85 Mantovani, PG, S. 77; ders., Principi, S. 26; Delitala, Rivista Italiana di Diritto penale (1936), S. 610 f.; Vassalli, Limiti, S. 141 ff. Antolisei, PG, S. 100 hingegen akzeptiert die analoge Erweiterung, aber sehr eingeschränkt. 86 Ungeachtet des Verbots der Analogie in bonam partem durch Art. 4 Abs. 3 des spanischen CP, wird die Analogie in diesem Bereich zugunsten konkreter Strafausschließungsgründe von der Lehre anerkannt. So etwa Silva Sánchez, Diario La Ley 2001 (5318), S. 3; Íñigo Corroza/Ruiz de Erenchun Arteche, Los acuerdos, S. 357 ff.; Sánchez-Ostiz, La exención, S. 79 ff.; Morales Prats/Rodríguez Puerta, in: Quintero Olivares (Hrsg.), Comentarios a la Parte especial del Derecho penal, art. 427, S. 1650 f.; Morales Prats, in: Quintero Olivares (Hrsg.); Comentarios al Código penal, S. 1386 ff.; Queralt Jiménez, PE, S. 388; Bacigalupo, in: ders. (Hrsg.), Curso de Derecho penal económico, S. 486 f.; García Pérez, La Punibilidad, S. 94; Higuera Guimera, Las excusas, S. 118 f.; Gracia Martín, Responsabilidad, S. 67 f.; Quintero Olivares, in: ders. (Hrsg.), Comentarios al Nuevo Código Penal, art. 268, S. 1335 f. Gleichermaßen hat die Rspr. im vergangenen Jahrzehnt Art. 268 des spanischen CP analog angewendet, v. a. auf eheähnliche Situationen, vgl. Acuerdo del Pleno no Jurisdiccional (Sala Segunda del Tribunal Supremo español), v. 1. März 2005. Jedenfalls entfernt sich diese aktuelle Entwicklung der Rspr. von der die Analogie in bonam partem ablehnenden These, die von diesem Gericht bislang vertreten worden war. Vgl. hierzu STS Nr. 3060/1985, Sala de lo Criminal, v. 25. Juni. Zur früheren Rspr. des Obersten Gerichtshof Spaniens (Tribunal Supremo) vgl. Íñigo Corroza/Ruiz de Erenchun Arteche, Los acuerdos, S. 357; Faraldo Cabana, Las causas, S. 203; Jordana de Pozas, in: Conde-Pumpido Ferreiro (Hrsg.), Código penal, art. 268, S. 2938. 87 Jescheck/Weigend, AT, S. 548; Angerer, Rücktritt, S. 250; Schönke/Schröder-Eser, § 24, Rn. 119; MüKo-Herzberg, § 24, Rn. 190; demgegenüber verneint Streng, in: Küper-FS, S. 643 f. die Möglichkeit, den § 15 StGB auf die erfolgsqualifizierten Delikte zu übertragen. Für diese analoge Erweiterung auf Vorbereitungshandlungen in der spanischsprachigen Literatur Mir Puig, PG, Abs. 13, Rn. 110; Silva Sánchez, El nuevo Código, S. 148; Cerezo Mir, PG, I, S. 173 f.; ders., RDPC (1998) 1; Higuera Guimera, Las

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3. Kap.: Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

– eindeutig abgelehnt.88 Es ist deshalb sehr zweifelhaft, ob die Analogie zugunsten des Täters ein legitimes Mittel ist, um das System der Strafausschließungsgründe zu vervollkommnen.89 Natürlich ist hier folgende Frage zu stellen: Warum wird die Analogie in bonam partem je nach Institution so unterschiedlich behandelt? Leider hat die Lehre m. E. noch keine ausreichenden Kriterien entwickelt, um etwa zu erklären, warum der Rückgriff auf die Analogie zwar bei den Strafausschließungsgründen, nicht aber bei den Rechtfertigungsgründen ernsthaft in Frage gestellt wird. Nach meinem Dafürhalten trifft diese konkrete Auffassung zur Analogie in bonam partem größtenteils zu und stützt sich (vielleicht unbewusst) auf die Bedeutung und exzeptionelle Funktion dieser unterschiedlichen straffreistellenden Institutionen der Straftatlehre. Letztlich scheint die höhere oder geringere Akzeptanz der Analogie zugunsten des Täters – oder auch ihre unmittelbare Ablehnung – dem Grad an Exzeptionalität dieser strafrechtlichen Institutionen nachzufolgen. b) Exzeptionalität, Argumentationsverfahren bei der Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und Reichweite des Analogieverbots aa) Die Entscheidung, eine Person strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, ist bekanntermaßen das Ergebnis eines zweistufigen argumentativen Prozesses. In der ersten Phase ist festzustellen, ob die fragliche Tat eine Pflicht in rechtswidriger Weise verletzt und ob sie dem Täter als dessen Werk zugerechnet und vorgeworfen werden kann.90 Es geht also im Wesentlichen zunächst darum, die Verwirklichung eines Deliktes nachzuweisen, dessen Begehung einer Person schuldhaft zugerechnet werden kann. In der zweiten Phase wird hingegen nur geprüft, ob dieses Delikt notwendig strafbedürftig ist.91 Im Unterschied zur ersten Phase hängt die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht von Unrechts- oder Schuldkriterien ab; die Argumentation hat hier vorwiegend kriminalpolitische Kriterien zum Gegenstand.92 excusas, S. 177 f.; Jiménez Díaz, in: Cobo del Rosal (Hrsg.), Comentarios al Código penal, I, S. 806. 88 MüKo-Radtke, § 306e, Rn. 5; MüKo-Cramer, § 258, Rn. 55; Schönke/SchröderStree/Hecker, § 258, Rn. 41; NK/Altenhain, § 258, Rn. 74; MüKo-Krack, § 314a, Rn. 14. 89 Die Rechtsfortbildung des Systems von Strafausschließungsgründen sei auch durch die unmittelbare Anwendung von Grundrechten abzulehnen, vgl. Schmidt, H. Grundrechte, S. 143 ff. 90 Kindhäuser, JRE (1994) 2, S. 340; Hruschka, Rechtstheorie (1991) 22, S. 449 ff.; ders., Strukturen, S. 14 ff., 18 ff., 36 ff. 91 Jescheck/Weigend, AT, S. 551. 92 Kindhäuser, AT, § 6, Rn. 14; Hassemer, Fundamentos, S. 302; Frisch, in: Wolter/ Freund (Hrsg.), El sistema integral del Derecho penal. Delito, determinación de la pena

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Schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts kristallisierte sich diese Unterscheidung in der Straffreistellungsdogmatik allmählich heraus. So differenzierte Max Ernst Mayer zwischen Gründen, die den Deliktscharakter einer Handlung beseitigen – die also die Existenz des Delikts selbst verhindern (z. B. Irrtum, Notstand, Notwehr) – und Gründen, die die Strafbarkeit ausschließen, jedoch unbeschadet des Deliktscharakters (z. B. Strafaufhebungsgründe wie Verjährung und Begnadigung oder persönliche Strafausschließungsgründe wie der Diebstahl unter Ehegatten nach § 247 Abs. 2 RStGB)93, 94. Diese Unterscheidung wurde von damaligen Autoren geteilt, die außerdem den wesentlich größeren Ausnahmecharakter der zweiten Gruppe betonten:95 Der durch einen Strafausschließungsgrund Begünstigte wurde letztlich nicht bestraft, aber die rechtswidrige und schuldhafte Pflichtverletzung blieb aus präventiver Sicht, wonach es strafrechtlicher Anreize bedarf, um die Verbindlichkeit des Rechts zu garantieren, nicht unberücksichtigt. In der späteren Diskussion wurde diese Unterscheidung nicht nur beibehalten,96 aufgrund von Fortschritten der Straffreistellungsdogmatik war es außerdem möglich, neue und eindeutigere Differenzierungen innerhalb der deliktsausschließenden Umstände zu entwickeln. So erlangten die Tatbestandsausschließungs-, Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe i. w. S. (Schuldausschließungsgründe i. e. S. und Entschuldigungsgründe) mit der Zeit Autonomie;97 zudem wurden die konkreten Bestimmungen dieser Kategorien anerkannt.98 Natürlich y proceso penal, S. 222; Cerezo Mir, in: Eser/Perron (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, III, S. 25 f.; García Pérez, La Punibilidad, S. 48; Iglesias Ríos, La regularización, S. 199 ff.; Sánchez-Ostiz, La exención, S. 71. Nach Roxin, AT, I, § 23, Rn. 21 ff.; ders., in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 259; Herzberg, in: Lackner-FS, S. 364 ff.; Wolter, in: Wolter/Freund (Hrsg.), El sistema integral del Derecho penal. Delito, determinación de la pena y proceso penal, S. 46, 60; Welzel, MDR (1949), S. 375; Bloy, JuS (1993) 5, S. L 35 beruhen sie hingegen auf allgemeinen politischen Kriterien. Über die Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen kriminalpolitischen und und rein politischen Kriterien in diesem Zusammenhang, s. Volk, ZStW (1985) 97, S. 891 ff.; García Pérez, La Punibilidad, S. 48, 313 f. 93 Mayer, M., AT, S. 270 ff. 94 Im Hintergrund steht der auf Binding zurückgehende Unterschied zwischen „Delikt“ und „Straftat“. Diese Unterscheidung kürzlich betonend Mañalich, in: Puppe-FS, S. 719 f. 95 Siehe dazu nur die Untersuchungen von Wachenfeld, Lehrbuch, § 75; Mayer, H., AT, § 53; Binding, Die Normen, I, § 20; Beling, Grundzüge, § 33. 96 Jescheck/Weigend, AT, S. 551 ff.; Kühl, AT, § 1, Rn. 30; § 12, Rn. 8; Krey/Esser, AT, § 23, Rn. 779; Roxin, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 256 ff.; Hirsch, in: Eser/Perron (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, III, S. 43 ff. 97 Zu dieser Entwicklung vgl. v. a. die kollektiven mehrbändigen Werke, herausgegeben vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Eser/ Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I und II; Eser/Perron (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, III und IV. 98 Es sollte diesbezüglich daran erinnert werden, dass praktisch bis in die ersten Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts die Lehrbücher und Abhandlungen vorherrschten, die

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3. Kap.: Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

stellt sich sodann die Frage, ob es auch innerhalb der deliktsausschließenden Gründe sinnvoll ist, unterschiedliche Ausnahmeniveaus zu unterscheiden. Die Tatsache, dass alle Straffreistellungsgründe dieselbe verantwortungsausschließende Wirkung entfalten, sollte nicht den Blick darauf verstellen, dass der „Titel Straflosigkeit“, den jeder dieser Straffreistellungsgründe verleiht, unterschiedlichen Wert und Umfang hat. Das liegt hauptsächlich daran, dass der Großteil dieser Straflosigkeitsgründe gleichwohl andere relevante Elemente der Sachverhaltsbewertung unangetastet lässt.99 Wie bereits erwähnt beseitigt ein persönlicher Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgrund nicht die Existenz eines Deliktes. Und ebenso verbleibt noch der Rest einer rechtswidrigen Pflichtverletzung, wenn einer Person das rechtswidrige Verhalten mangels Schuld nicht zugerechnet werden kann.100 Auch wenn dieses „Restelement“ der Straflosigkeit nicht entgegensteht, bedeutet dies nicht, dass es für die Bewertung strafrechtlicher Verantwortlichkeit irrelevant wäre. Zum Beispiel ist es für den Gesetzgeber nicht dasselbe, ob man an einer gerechtfertigten oder einer entschuldigten Tat teilnimmt (§ 27 Abs. 1 StGB). Ebenso macht es einen Unterschied, ob die Notwehr gegenüber „rechtmäßigen“ Angriffen ausgeübt wird oder diese aufgrund eines Schuldausschließungsgrundes erlaubt sind (§ 32 StGB). Selbst wenn diese Entscheidungen des Gesetzgebers von Teilen der Lehre in Frage gestellt werden könnten,101 spiegeln sie einen Gedanken wider, der unserer Rechtskultur nicht fremd ist: Angesichts der Verbindlichkeit des Rechts hat ein pflichtwidriges – aber mangels Zurechenbarkeit strafloses – Verhalten nicht dasselbe Gewicht, wie eine vom Strafrecht erlaubte Handlung.102 Es ist nun wichtig, zu verstehen, dass in diesem argumentativen Prozess zur Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit die Bedeutung und Schwere der zu bewertenden Tat mit dem Vorliegen jeder Voraussetzung zunimmt. In dem Maße wie bei der Tatbewertung schrittweise die Zurechnung erster Stufe (imputatio facti), die Feststellung der Rechtswidrigkeit, die Zurechnung zweiter Stufe Notwehr, Irrtum, Notstand, Notwehrexzess, etc. unter der allgemeinen Bezeichnung Strafausschließungs- oder Straffreistellungsgründe behandelten, ohne Rechtfertigungs-, Tatbetandsausschließungs- und Schuldausschließungsgründe eindeutig zu unterscheiden. Vgl. dazu u. a. Binding, Grundriß, § 74 ff.; Mayer, M., AT, S. 269 ff.; Merkel, Die Lehre, § 56 ff. 99 Diese Sicht wird m. E. geteilt von Günther, in: Eser/Flechter (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 379 ff.; Moore, in: Eser/Flechter (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, II, S. 813 ff. 100 Kindhäuser, JRE (1994) 2, S. 341. 101 Die eingeschränkte Akzessorietät wird u. a. von Robles Planas, GA (2012) 5, S. 276 ff.; ders., La participación en el delito, S. 217 ff. abgelehnt. Jakobs, AT, Abs. 12, Rn. 17 ff. betont, dass die Ausübung von Notwehr nur gegenüber einem schuldhaft ausgeführten Angriff Sinn ergibt. 102 In der Rechtsphilosophie so Kant, Metaphysische, S. 20 ff., 26 ff. In der strafrechtlichen Diskussion Hassemer, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, S. 204 ff.; Kühl, AT, § 12, Rn. 5 f.

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(Zurechnung der Schuld)103 und schließlich die Strafbedürftigkeit verifiziert werden, verringert sich in jeder dieser Phasen das Straflosigkeitsbedürfnis. Anders ausgedrückt: Sowie die Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit vollkommener wird, schwindet die rechtliche Toleranz von Straflosigkeit. Dieser Gesichtspunkt scheint den Gesetzgeber auch bei der Begrenzung des Anwendungsbereiches von Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- und Strafausschließungsgründen zu leiten. So ist bspw. der im Vergleich zu § 34 StGB begrenzte Anwendungsbereich von § 35 StGB offensichtlich104: U. a. ist bei der Entschuldigung der Kreis der Begünstigten und der geschützten Rechtsgüter im Verhältnis zur Rechtfertigung deutlich eingeschränkt.105 Gleichermaßen hat das Straflosigkeitsprivileg des § 258 Abs. 6 StGB einen noch viel begrenzteren Anwendungsbereich, da es nur für das Delikt der Strafvereitelung und nur für Angehörige gilt.106 Dass die Gründe, Straflosigkeit zu gewähren, abnehmen, je mehr Elemente der strafrechtlichen Verantwortlichkeit vorliegen, beweist den zunehmenden Ausnahmecharakter der Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- und Strafausschließungsgründe. Dieses Begründungsschema ermöglicht nun vor allem die Annahme, dass die persönlichen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe das höchste Ausnahmeniveau besitzen.107 Nicht nur, weil die Motive für Straflosigkeit nichts mit dem Unrecht oder der Schuld zu tun haben,108 sondern vor allem weil sie „dem Täter weder Rechtfertigung noch Entschuldigung [gewähren], sondern dem Staat einen Grund [bieten], die Widerrechtlichkeit nicht zu beachten und die Zurechnung nicht vorzunehmen“.109 Demnach nimmt also nur der Strafanspruch des Staates ab, während die Existenz eines Deliktes keine Änderung erfährt, d.h., „die rechtliche Beurteilung der Tat erfährt keine Veränderung“.110 Es ist klar, dass angesichts des Interesses, die Verbindlichkeit des Rechts zu garantieren, diejenigen Situationen stark limitiert werden müssen, in denen der Strafverzicht weder eine rechtskonforme Handlung noch eine stark motivgebundene Konditionierung des Täters erfordert.111 Auch wenn der Ausschluss des staatlichen Strafanspruches aus kriminalpolitischer Sicht womöglich unerlässlich ist, steht das einer deutlich reservierten Haltung zu diesem Privileg nicht entgegen, schwächt dieses 103 Hruschka, Rechtstheorie (1991) 22, S. 449 ff.; Kindhäuser, JRE (1994) 2, S. 340; Vogel, Norm und Pflicht, S. 68 ff. 104 Pawlik, Das Unrecht, S. 362. 105 Kühl, AT, § 12, Rn. 13. 106 Zum Anwendungsbereich dieses Konzepts, vgl. Kindhäuser, BT, I, § 51, Rn. 26 f.; Rengier, BT, I, § 21, Rn. 25 f. 107 So versteht es eindeutig die italienische Lehre, vgl. u. a. Vassalli, Limiti, S. 85. 108 Kühl, AT, § 12, Rn. 8. 109 Mayer, M., AT, S. 274. Ähnlich Beling, Grundzüge, § 33. 110 Wachenfeld, Lehrbuch, § 75 (S. 275). 111 Welzel, Das neue Bild, S. 77.

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3. Kap.: Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

doch die strafrechtlichen Gebote und die Ernsthaftigkeit der Strafe erheblich ab. Auf der Stufe des Strafbarkeitsausschlusses ist die Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit so gut wie beendet und die Existenz eines Delikts verbleibt als Restelement.112 Deshalb weisen die Strafausschließungsgründe das höchste Ausnahmeniveau innerhalb des Katalogs an Straffreistellungsgründen i. w. S. auf. Die Lage ist nicht ganz so extrem bei den Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründen, da bei keiner dieser Rechtsfiguren die Reste eines „Delikts“ verbleiben. In der Logik der „Perfektionierung der Herleitung strafrechtlicher Verantwortlichkeit“ ist es dennoch angezeigt, zwischen unrechtsausschließenden und schuldausschließenden Gründen zu unterscheiden. Zu sagen, dass das Straflosigkeitsprädikat im Falle einer rechtswidrigen Pflichtverletzung denselben Wert hat, wie bei rechtmäßigem Handeln, scheint unseren grundlegenden rechtlichen Intuitionen zu widerstreben.113 Selbst wenn keine dieser Situationen Strafe erfordert, sollte nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Täter auch bei fehlender Schuldfähigkeit gegen ein Verbot oder rechtliches Gebot verstößt. Einen Vorwurf zu erheben, ergibt nur Sinn, wenn jemand etwas „Unrichtiges“ gemacht hat; nicht hingegen, wenn jemand sich den Anforderungen gemäß verhalten hat. In den Worten Hruschkas:114 „Die Zurechnung zur Schuld impliziert deshalb die Anwendung des Systems der Verhaltensregeln auf die Tat mit dem spezifischen Ergebnis, daß die Tat rechtswidrig sei.“ 115

Der Schuldausschluss beruht folglich auf einem günstigen Urteil über die innere Einstellung des Täters, trotz rechtswidriger Pflichtverletzung. Dieses „trotzdem“ veranschaulicht die Zugeständnisse an die Interessen des Bürgers bei der Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit:116 Deliktisch sind nur diejenigen rechtswidrigen Pflichtverletzungen, die auf die Schuld des Täters zurückgeführt werden können (nulla poena sine culpa). Dennoch wird das Unwerturteil über das Täterverhalten durch den fehlenden Schuldvorwurf nicht „gelöscht“. Aus dieser Perspektive ist es sinnvoll, den Schuldausschließungsgründen ein höheres Ausnahmeniveau beizumessen als den Rechtfertigungsgründen.117 Das bedeutet gerade nicht, dass die Rechtfertigungsgründe ihren Ausnahmecharakter verlören, weil hier die Tat nicht mehr missbilligt würde. Tatsächlich bilden die Rechtfertigungsgründe weiterhin eine Ausnahme zu Verboten oder abstrakten Ge112 Daher werden diese Straffreistellungsgründe als „besondere persönliche Ausnahme“ oder „besondere Privilegien“ aufgefasst, die trotz der Strafwürdigkeit der Tat gewährt werden, vgl. Jescheck/Weigend, AT, S. 552; Beling, Grundzüge, § 33. 113 Vgl. Kant, Metaphysische, S. 20 ff., 26 ff. 114 Hruschka, Rechtstheorie (1991) 22, S. 455. 115 Ähnlich Kindhäuser, JRE (1994) 2, S. 342. 116 Kaufmann, Art., Das Schuldprinzip, S. 16 f. 117 So Kühl, AT, § 12, Rn. 11 ff.

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boten, die aus gewichtigen präventiven Erwägungen aufgestellt wurden. Um der Verbindlichkeit des Rechts willen, muss die Anerkennung von tatbestandlichen Erlaubnissätzen daher wenigstens geringfügig eingeschränkt werden.118 Typischerweise wird das System der Straffreistellungsgründe und deren Ausnahmecharakter in einem umgekehrten Sinn verstanden: Das zentrale Moment strafrechtlicher Verantwortlichkeitszuschreibung sei in der Abgrenzung zwischen Verbotenem und Erlaubtem zu sehen.119 Wer unter dem Schutz eines Erlaubnissatzes handelt, könne sich (im Vergleich zu anderen Straffreistellungsgründen) auf einen bedeutenderen (umfassenderen) „Titel der Straflosigkeit“ berufen; diese Erlaubnis bewirke zudem einen rechtlichen Rückhalt gegenüber demjenigen, der sich der rechtfertigenden Handlung widersetzt.120 Aus diesem Grund sei bei der Auslegung der Schuld- und Strafausschließungsgründe mehr Großzügigkeit zu erwarten, während auf der Rechtfertigungsebene größere Zweifel angezeigt seien. Dieses Konzept wurde m. E. vor allem von Hans Welzel121 vertreten und heutzutage insbesondere von Kristian Kühl.122 Allerdings sprechen mehrere Gründe gegen diese Auffassung. Erstens brachte die deutsche Rechtsprechung einer Ausuferung der Schuldausschließungsgründe wesentlich größere Besorgnis entgegen als einer Ausuferung der Rechtfertigungsgründe.123 Zweitens liegt die Tatsache, dass eine Person im Rahmen der Notwehr oder des Notstandes einen umfassenderen Straflosigkeitstitel inne hat, gerade darin begründet, dass ihre Handlung rechtlich nicht missbilligt wird und folglich für die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit ein relevantes Restelement fehlt, das eine schwerere Verurteilung wegen des dem Täter vorgeworfenen Ereignisses rechtfertigte. bb) Die Strafmilderung verfügt hingegen über ein niedriges Ausnahmeniveau, das sich aber nicht mit dem oben ausgeführten Kriterium der „Perfektionierung der Herleitung strafrechtlicher Verantwortlichkeit“ erklären lässt. Diese Rechtsfigur verliert ihren Ausnahmecharakter nicht, weil die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht ausgeschlossen wird;124 die Vermeidung eines vollkommen of118 Aus anderer (nicht sehr entfernter) Perspektive sind die Rechtfertigungsgründe u. a. deshalb exzeptionell, weil der „Kampf gegen das Unrecht“ eine zentrale Aufgabe des Staates ist, die durch die Rechtspflege verwirklicht wird. Deshalb wird der Bürger nur in Aunahmefällen dazu ermächtigt, diese Aufgabe eigenhändig auszuführen. So Mayer, M., AT, S. 274 f. 119 Kühl, AT, § 12, Rn. 7. 120 Silva Sánchez, in: Rodríguez Mourullo-FS, S. 1008. Ähnlich Roxin, AT, I, § 16, Rn. 128; Günther, in: Luzón Peña/Mir Puig (Hrsg.), Causas de Justificación y Atipicidad en Derecho penal, S. 53. 121 Welzel, Strafrecht, S. 48 ff., 80 ff., 184 ff.; ders., Das neue Bild, S. 19 ff., 22 ff.; ders., Abhandlungen, S. 132 ff. 122 Kühl, AT, § 12, Rn. 5 ff. 123 RGSt. 66, S. 397 ff.; RGSt. 58, S. 97; RGSt. 60, S. 101; RGSt. 63, S. 233. 124 Alberts, Gesetzliche, S. 71 ff.; Langer, in: Dünnebier-FS, S. 437 ff. weisen auf den Ausnahmecharakter der Strafmilderungsgründe hin.

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3. Kap.: Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

fenen Katalogs an Strafmilderungsgründen kann vielmehr dazu beitragen, das präventive Ziel des Strafrechts aufrecht zu erhalten. Die Tatsache, dass diese Bestimmungen keine Straflosigkeit gewähren, sondern nur die Härte der Strafe verringern, führt dazu, dass die Anreize, sich rechtskonform zu verhalten, nicht so stark gefährdet sind. cc) All dies bedeutet vor allem Folgendes: Während die Analogie in bonam partem bei den sogenannten deliktsausschließenden Gründen zulässig ist – wenn auch in einer je nach Ausnahmeniveau unterschiedlichen Weise – kann sie bei den Strafausschließungsgründen nicht akzeptiert werden.125 Aus Sicht der präventiven Strafzwecke ist die Straflosigkeit eines Delikts nur unter außergewöhnlichen Umständen zu tolerieren, die gegen eine Strafe sprechen. Aufgrund der Bedeutung, die eine derartige Entscheidung für die Verbindlichkeit des Rechts haben kann, ist es entscheidend, dass diese Entscheidung durch einen breiten politischen und gesellschaftlichen Konsens legitimiert wird. Daher kann dieser exzeptionelle Weg zur angestrebten Beschränkung des ius puniendi nur vom Gesetzgeber, nicht jedoch vom Richter beschritten werden. Aus diesem Blickwinkel ist es nicht hinzunehmen, dass der Richter eine Entscheidung des Gesetzgebers verallgemeinert, und hierdurch dazu beiträgt, dass die Überzeugungskraft des Strafrechts erheblichen Schaden erleiden könnte. Das erhöhte Ausnahmeniveau der Strafausschließungsgründe führt demnach dazu, dass das Analogieverbot in derselben Weise wie bei Straftatbeständen und Strafverschärfungsgründen besteht.126 Daraus ergeben sich – wie oben bereits gesehen127 – zwei grundlegende Konsequenzen: Die Unmöglichkeit Ausnahmelücken anzuerkennen und die Ablehnung der Analogie als Methode der Strafrechtsfortbildung. Es muss vor allem betont werden, dass diese Straffreistellungsgründe neben dem expliziten Willen, die strafrechtliche Verantwortlichkeit auszuschließen, den impliziten Willen enthalten, auch vom genauen Wortlaut abweichende Fälle auszuschließen. Angesichts der Bedeutung, die die Entscheidung, ein Delikt nicht zu sanktionieren hat, ist von einer Vermutung iuris tantum auszugehen, der Gesetzgeber sei bei der Gestaltung des Strafausschließungsgrundes besonders sorgfältig vorgegangen und habe intensiv darüber nachgedacht, welche Aspekte er regelt und welche nicht. Nach dieser Vermutung hätte der Gesetzgeber alle Konstellationen vorausgesehen, in denen eine Sanktion nicht erforderlich ist. So könnte 125 In diese Richtung zielte früher die italienische Rspr. (SCCos 1/1956) und stützte sich dabei auf Art. 14 des italienischen Zivilgesetzbuches, wonach die Straffreistellungsgründe Ausnahmecharakter besäßen. Art. 14: „Le leggi penali e quelle che fanno eccezione a regole generali o ad altre leggi non si applicano oltre i casi e i tempi in esse considerati“. 126 Mantovani, PG, S. 77; ders., Principi, S. 26; Delitala, Rivista Italiana di Diritto penale (1936), S. 610 f.; Vassalli, Limiti, S. 85; de Queiroz, Separado del n ë VII de „Archivos do Ministerio de Justicia e Negocios interiores“, S. 21; Creus, PG, § 64. 127 Siehe S. 146 ff.

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ein Richter bspw. nicht mittels Analogie zugunsten des Täters einen mit dem früheren § 247 Abs. 2 RStGB vergleichbaren Strafausschließungsgrund annehmen, z. B. zugunsten des Diebes, der eine Sache des Ehegatten stiehlt. In diesem Fall enthält die Entscheidung des Gesetzgebers von 1975, keine entsprechende Regelung in das StGB aufzunehmen, klare Anzeichen, dass Eigentumsverletzungen unter Verwandten tatsächlich bestraft werden sollen.128 Hier gibt es keine Ausnahmelücke, sondern eine bloße Wertunstimmigkeit mit dem gesetzlichen Strafrechtssystem.129 In Wirklichkeit würde der Richter in diesem Fall letztlich gar keine Nachlässigkeit des Gesetzgebers zu beheben suchen, sondern eine Regulierung kreieren, die der Entscheidung des Gesetzgebers widerspricht. Daneben kann diese Vermutung widerlegt werden, da man kaum davon ausgehen kann, dass der Gesetzgeber tatsächlich alle für eine Regelung relevanten Faktoren vorausgesehen hat.130 Oft ist auch nicht klar ersichtlich, ob der Gesetzgeber bestimmte Merkmale von der Regelung ausschließen wollte oder nicht. So ist bspw. nicht absolut sicher, ob der Gesetzgeber den Anwendungsbereich von § 258 Abs. 6 StGB für andere, verwandtschaftsähnliche, persönliche Beziehungen wie enge Freundschaften gezielt nicht öffnen wollte.131 Auch kann nicht zweifelsfrei behauptet werden, dass der Gesetzgeber sich kategorisch gegen eine Ausweitung von § 306e Abs. 2 StGB auf andere Delikte wehrte.132 Das bedeutet aber keineswegs, dass der Richter befugt wäre, diese Bestimmungen auf vergleichbare Fälle zu übertragen. Das Straflosigkeitsprivileg des § 258 Abs. 6 StGB kann er deshalb nur Angehörigen gewähren,133 entsprechend darf er die tätige Reue nicht bei anderen als den u. a. in den §§ 306e Abs. 2, 314a Abs. 3 und 320 Abs. 3 StGB ausdrücklich genannten Delikten anerkennen.134 Bezüglich § 306e Abs. 2 müsste er eine analoge Ausweitung auf das Delikt der Brandstiftung mit Todesfolge (§ 306c StGB) oder der Herbeiführung einer Brandgefahr (§ 306f StGB) ablehnen.135 Die Ausnahmelücken, die beim Widerlegen der Vermutung möglicherweise entstehen, dürfen demnach in keinem Fall vom Richter geschlossen werden, sondern nur durch eine Gesetzesreform. Diese Ausnahmelücken können dann – genauso wie Strafbarkeitslücken136 – nur als Argument zugunsten einer Änderung der Gesetzgebung dienen. 128

Bloy, Die dogmatische, S. 89. Zu diesem Konzept, siehe S. 48 ff. 130 Hafter, SchwZStr (1947) 62, S. 134; Fletcher, Conceptos básicos, S. 152. 131 Rengier, BT, I, § 21, Rn. 26. 132 Schönke/Schröder-Heine, § 306e, Rn. 12. 133 U. a. Kindhäuser, BT, I, § 51, Rn. 27; MüKo-Cramer, § 258, Rn. 55; Schönke/ Schröder-Stree/Hecker, § 258, Rn. 41; NK/Altenhain, § 258, Rn. 74; MüKo-Krack, § 314a, Rn. 14. 134 Schönke/Schröder-Heine, § 314a, Rn. 14; MüKo-Radtke, § 306e, Rn. 5; LK/ Wolff, § 306a, Rn. 3. 135 Rengier, BT, II, § 40, Rn. 65; MüKo-Radtke, § 306e, Rn. 5. 136 Kertai, JuS (11) 2011, S. 981. 129

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3. Kap.: Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht

Demgegenüber ist das Analogieverbot im Hinblick auf deliktsausschließende oder strafmildernde Gründe allenfalls zweitrangig. Da das Ausnahmeniveau hier nicht so hoch ist, darf man nicht nur erwarten, dass Ausnahmelücken in größerem Maße anerkannt werden, sondern auch, dass sie vom Richter mittels Analogie in bonam partem geschlossen werden können. Was die Frage der Anerkennung von Regelungslücken betrifft, vertritt die herrschende Lehre die Ansicht, dass das System der Rechtfertigungs-,137 Schuldausschließungs-138 und Strafmilderungsgründe139 keinen abschließenden Charakter hat und deshalb „Regelungsdefekte“ anerkannt werden können. Es sollte allerdings nicht unbeachtet bleiben, dass das niedrige Niveau, das an die Annahme von Ausnahmefällen geknüpft ist, diese strafbefreienden Institutionen dazu zwingt, bestimmte Vorkehrungen für die Anerkennung von Ausnahmelücken zu treffen. Der Richter, der die Existenz einer Ausnahmelücke – d.h. ihre sogenannte Hypothese der Relevanz – behauptet, hat daher die Argumentations- und Beweislast zu tragen, dass der Gesetzgeber sich tatsächlich geirrt hat und dieser Irrtum richterrechtlich korrigiert werden muss. Obwohl in diesem Bereich die Vermutung iuris tantum nicht in so restriktiver Weise gilt wie bei den Strafausschließungsgründen, ist der Richter auch hier nicht davon befreit, die Existenz der Ausnahmelücke nachzuweisen. Das unterschiedliche Ausnahmeniveau der Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- und Strafmilderungsgründe zeigt sich m. E. insbesondere in der Bedeutung, die die Schließung der Ausnahmelücke mittels Analogie in bonam partem hat. Das bedeutet, dass bestimmte Arten der Analogie zugunsten des Täters von manchen Institutionen ausgeschlossen bleiben, als Konsequenz der präventiven Anforderungen des Strafrechts. Insofern ist festzuhalten, dass die Rechtfertigungs- und Strafmilderungsgründe einen entsprechenden Ausnahmecharakter besitzen, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Funktion bei der Herleitung strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Im Hinblick auf die deliktische Abschreckungswirkung, haben die Straflosigkeit eines rechtlich erlaubten Verhaltens und die verringerte Härte der Strafe einen ähnlichen Wert.140, 141 In Übereinstimmung mit diesem niedrigen Ausnahmeniveau ist 137 Jescheck/Weigend, AT, S. 326; Roxin, AT, I, § 14, Rn. 116; Schönke/SchröderCramer/Heine-Lenckner, Vor § 32 ff., Rn. 25; NK/Paeffgen, Vor §§ 32 bis 35, Rn. 56; Perron, Rechtfertigung, S. 99; Runte, Die Veränderung, S. 28; Cuello Contreras, PG, Rn. 16; Luzón Peña, in: Luzón Peña/Mir Puig (Hrsg.), Causas de Justificación y Atipicidad en Derecho penal, S. 34. 138 Achenbach, JR (1975), S. 494; Jescheck/Weigend, AT, S. 501 ff.; Kühl, AT, § 12, Rn. 92; MüKo-Schlehofer, Vor §§ 32 ff., Rn. 269 f. A. A. Momsen, Die Zumutbarkeit, S. 476. 139 Alberts, Gesetzliche, S. 90; Triffterer, AT, Kap. 20, Rn. 52; Orts Berenguer, Atenuante, S. 47, 49. 140 Diese Gleichwertigkeit leitet sich m. E. von den geringfügigen Straferleichterungen ab, die in den meisten gültigen Strafgesetzbüchern enthalten sind. Zu dieser Gleich-

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der Richter berechtigt, die Rechtswidrigkeit zu verneinen und die Strafe mittels Gesetzes- und Institutionsanalogie in bonam partem zu mindern. Die reichsgerichtliche142 Handhabung dieses letzten Argumentationsmodels zur Begründung des übergesetzlichen rechtfertigenden Notstandes143 ist daher nicht zu beanstanden. Dasselbe gilt für die spanische Rechtsprechung, die – mit Unterstützung der Lehre144 – die Institutionsanalogie in bonam partem angewendet hat, um einen übergesetzlichen Strafmilderungsgrund für Fälle ungerechtfertigter Prozessverzögerung anzuerkennen.145 Die Ablehnung der Rechtsanalogie zugunsten des Täters wird in diesem Bereich hingegen nicht nur aus der rechtsstaatlichen, sondern auch aus der strafrechtlichen Wurzel des Gesetzlichkeitsprinzips gespeist. Letzten Endes wird die Ernsthaftigkeit der Strafdrohung bedeutsam reduziert, wenn auch Verhaltensweisen, die den gesetzlich geregelten Fällen nur schwach gleichen, rechtfertigende oder mildernde Wirkung zugestanden wird und sehr unbestimmte Rechtsprinzipien zur Anwendung kommen.146 Auf dem Gebiet des Schuldausschlusses erfährt die Analogie in bonam partem eine etwas stärkere Einschränkung, da hier eine Institution mit höherem Ausnahmecharakter ausgeweitet werden soll.147 Nach meinem Dafürhalten kann die ana-

stellung käme es sicher nicht, wenn der Gesetzgeber, entgegen dem Sinn der Strafmilderung, die Strafe bis fast zur Grenze der Straflosigkeit reduzieren würde. 141 Daher ist die Reichweite des Analogieverbots bei beiden Institutionen gleich, vgl. Noll, ZStW (1956) 68, S. 186; Ferreres Comella, El principio, S. 94 f. 142 RGSt. 61, S. 253; RGSt. 62, S. 46; RGSt. 63, S. 215 ff. 143 Siehe S. 80 ff. 144 Goyena Huerta, Las atenuantes, in: Muñoz Cuesta (Hrsg.), Las Circunstancias Atenuantes en el Código Penal de 1995, S. 148; Otero González, La circunstancia, S. 30; Orts Berenguer, Atenuante, S. 4; del Río Fernández, Atenuantes, S. 15 f. Demgegenüber bewertet Manjón-Cabeza Olmeda, La atenuante, S. 341, 355 diese analoge Erweiterung entgegen dem Gesetzlichkeitsprinzip. 145 Insbesondere der Acuerdo del Pleno de la Sala penal del Tribunal Supremo Español v. 21. Mai 1999. So auch STS Nr. 742/2003, Sala de lo Penal, v. 22. Mai; STS Nr. 1137/2005, Sala de lo Penal, v. 6. Oktober; STS Nr. 865/2005, Sala de lo Penal, v. 24. Juni. 146 Wachinger, in: Frank-FS, I, S. 508 f.; Schmidt, E., ZStW (1929) 49, S. 404 ff.; Marx, Grundprinzipien, S. 10 f.; Köhler, A., Der Notstand, S. 51 ff. Ähnlich hat auch die Rspr. des spanischen Tribunal Supremo erhebliche Bedenken gegenüber einer unangemessenen Anerkennung von außergesetzlichen Strafmilderungsgründen angemeldet. Vgl. u. a. STS Nr. 806/2002, Sala de lo Penal, v. 30. April; STS Nr. 1180/2001, Sala de lo Penal, v. 2. Juli; STS Nr. 1047/2001, Sala de lo Penal, v. 30. Mai. 147 Jescheck/Weigend, AT, S. 501 ff. äußern sich m. E. zugunsten einer stärkeren Beschränkung der Analogie in bonam partem bei der Schuldausschließung als bei den Rechtfertigungsgründen. Ähnlich, aber mit anderen Argumenten weist Maurach, Kritik, S. 129 f. darauf hin, dass das Motiv zur Anerkennung von übergesetzlichen Rechtfertigungs-, nicht aber von Entschuldigungsgründen darin liegt, dass erstere dem gesamten Recht entstammen und eine nicht regelungsfähige Materie sind; der Schuldausschluss bemesse sich hingegen allein nach strafrechtlichen Kriterien bzw. nach Kriterien, die allein im Strafgesetzbuch enthalten sind.

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loge Erweiterung der Schuldunfähigkeits- und Verbotsirrtumsregelungen ohne größere Schwierigkeiten über die Gesetzes- und Institutionsanalogie in bonam partem erfolgen. Wie schon festgestellt,148 erfüllte dieses letzte Argument in der bekannten Entscheidung des BGH von 1952 eine entscheidende Rolle für die Anerkennung des übergesetzlichen Verbotsirrtums.149 Der Richter, der einen Ausschlussgrund für Schuldfähigkeit oder Rechtswidrigkeitskenntnis schafft, ist dennoch verpflichtet, der Gesetzesanalogie in seiner Argumentation Vorrang einzuräumen und darf sich nur ausnahmsweise und sehr vorsichtig auf Institutionsprinzipien des Schuldausschlusses berufen. Außerdem gibt es Fälle innerhalb der Schuldausschließung, in denen der Richter zur Rechts(fort)bildung mittels Institutionsanalogie zugunsten des Täters überhaupt nicht befugt ist, so bei den Entschuldigungsgründen. Nimmt man die Logik der „Perfektionierung der Herleitung strafrechtlicher Verantwortlichkeit“ als Referenz, scheint es vernünftig anzuerkennen, dass diese zurechnungsausschließenden Gründe innerhalb der Schuldausschließung ein höheres Ausnahmeniveau haben, und deshalb weniger Gründe für eine Verallgemeinerung vorliegen. In diesen Fällen bleibt nicht nur straflos, wer rechtswidrig und vorsätzlich eine Pflicht verletzt, sondern auch, wer die Fähigkeit hat, das Unrecht der Tat vollständig einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln sowie das Verbot kennt. Nach den treffenden Worten Kühls:150 „Er [der Täter] entscheidet sich in einer Konfliktsituation (am häufigsten sind Notsituationen) falsch und verletzt ein fremdes Rechtsgut, ohne dass ihm dieser Eingriff in die fremde Rechtssphäre ausnahmsweise durch einen Rechtfertigungsgrund erlaubt worden ist. Er hat damit den Konflikt anders als die Rechtsordnung entschieden und sich damit rechtswidrig verhalten. Seine Handlung steht nicht mit dem Recht und dessen grundlegenden Prinzipien in Einklang, er hat die für jedermann geltenden Grenzen der Freiheit überschritten.“

In diesem Fall erfährt der richterliche Wille, gerichtet auf die Reduktion des ius puniendi mittels Analogieschlusses, eine starke Einschränkung durch die präventiven Ziele des Strafrechts.151 Aus diesem Grund hat der Richter so nah wie möglich am Wortlaut zu bleiben und ist nur berechtigt, Ausnahmelücken mittels Gesetzesanalogie in bonam partem zu schließen. So bleibt die Anerkennung übergesetzlicher Entschuldigungsgründe durch den Grundsatz der Unzurechenbarkeit vollkommen ausgeschlossen.152

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s. o. S. 80 ff. BGHSt. 2, S. 194 ff. 150 Kühl, AT, § 12, Rn. 5. 151 Ähnlich Welzel, Das neue Bild, S. 76 f. 152 Vgl. Momsen, Die Zumutbarkeit, S. 462 ff. Schon früher gegen die Ablehnung der freien Anerkennung übergesetzlicher Entschuldigungsgründe Goldschmidt, La concepción, S. 119 f. 149

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3. Der Ausnahmecharakter der Straffreistellungsgründe und der Strafmilderungsgründe nach dem systembezogenen Kriterium und den Grenzen der Analogie in bonam partem Die Regelungen der strafbefreienden Institutionen gibt es nicht nur im Allgemeinen Teil der Strafgesetzbücher, sondern viele davon sind auch im Besonderen Teil enthalten. Dies trifft hauptsächlich, aber nicht ausschließlich auf die persönlichen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe zu. Bspw. können auch Rechtfertigungsgründe wie die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB)153 und die Indikationen zum Schwangerschaftsabbruch (§ 218 Abs. 2 und 3 StGB)154 vom Gesetzgeber ausdrücklich im Zusammenhang mit bestimmten Delikten geregelt werden. Auch im Hinblick auf die Strafmilderungsgründe geschieht Vergleichbares: Neben den im Allgemeinen Teil geregelten (u. a. §§ 13 Abs. 2; 17 S. 2; 21 StGB) finden sich andere bei Delikten gegen bestimmte Rechtsgüter (u. a. §§ 157 Abs. 1; 158 Abs. 1; 306e Abs. 1; 314a Abs. 1 und 2; 320 Abs. 1 und 2; 129 Abs. 6 StGB).155 Natürlich beeinflusst die Verortung dieser strafbefreienden und strafmildernden Vorschriften im Besonderen Teil in keiner Weise deren Beschaffenheit, kann aber weder für die Auslegung noch für die Bewertung ihrer Exzeptionalität ohne Bedeutung bleiben. Die Entscheidung des (Straf-)Gesetzgebers, eine bestimmte Regelung im Besonderen oder im Allgemeinen Teil zu verorten, kann allgemein auf zwei Gründe zurückgeführt werden. Einer hängt mit der gesetzgeberischen Ökonomie zusammen, der andere ist kriminalpolitischer Art. Dass bestimmten Rechtfertigungsoder Entschuldigungsgründen ein Platz im Allgemeinen Teil zugewiesen wird, liegt daran, dass der Gesetzgeber unnötige Wiederholungen bei jedem Delikt vermeiden156 oder alle Straffreistellungsgründe im selben Abschnitt des Strafgesetzbuches regeln will.157 Zudem aber kann die jeweilige Verortung einer Regulierung im Strafgesetzbuch den Willen des Gesetzgebers im Hinblick auf deren Anwendung zum Ausdruck bringen. Wird ein Rechtfertigungs- oder Strafausschließungsgrund im Besonderen Teil geregelt, so wird er dadurch stark mit dem Schutz eines konkreten Rechtsgutes verknüpft. Dieser Umstand legt die Vermu153 Rengier, AT, II, § 29, Rn. 36; Kühl, AT, § 9, Rn. 50; Roxin, AT, I, § 18, Rn. 35; Kindhäuser, BT, I, § 27, Rn. 1; Krey/Esser, AT, Rn. 685; NK/Zaczyk, § 193, Rn. 1; MüKo/Joecks, § 193, Rn. 1; Karpf, Die Begründung, S. 162 ff.; Baumfalk, Bildet die Wahrnehmung, S. 23 ff. 154 Jakobs, AT, Abs. 13, Rn. 8; Rengier, AT, I, § 11, Rn. 27; Roxin, AT, I, § 16, Rn. 8; Kindhäuser, BT, I, § 6, Rn. 7; NK/Merkel, § 218a, Rn. 77; MüKo/Gropp, § 218a, Rn. 34. Für die rechtfertigende Natur solcher Indikationen im spanischen Strafrecht, vgl. Felip i Saborit, in: Silva Sánchez (Hrsg.), Lecciones de Derecho penal, S. 60; Muñoz Conde, PE, S. 87 ff.; a. A. Pérez del Valle, in: Cobo del Rosal (Hrsg.), Comentarios al Código penal, V, S. 333 f. 155 Streng, Strafrechtliche, Rn. 687. 156 Jescheck/Weigend, AT, S. 18 f. 157 So bspw. Erstes Buch, Zweiter Titel des uruguayischen Strafgesetzbuches.

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tung nahe, der Gesetzgeber habe die Straflosigkeit für einen begrenzten Deliktskreis vorbehalten und die Ausweitung auf andere Delikte – wodurch der Rechtsgüterschutz bedenklich relativiert würde – nicht vorgesehen.158 Die Besonderheiten der strafbefreienden Regelungen des Besonderen Teils beruhen gerade auf der starken Verknüpfung mit dem geschützten Rechtsgut. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber die Straflosigkeit wohl penibel für spezifische Angriffe auf spezifische Rechtsgüter reserviert.159 Dieser letzte Faktor spricht ebenfalls dafür, ein mit der Systematisierung der Straffreistellungsgründe verbundenes Ausnahmekriterium der Straflosigkeit anzuerkennen. Das bedeutet, dass die Verortung im Strafgesetzbuch ein Kriterium für die Bewertung des Ausnahmeniveaus sein kann, und folglich für die Erlaubnis oder Tolerierung der Analogie in bonam partem. So gestattet dieses ergänzende Exzeptionalitätskriterium – im Unterschied zu dem mit der Institution verknüpften – nicht, verschiedene Stufen anzuerkennen, sondern nur die Anerkennung absoluten oder gar keines Ausnahmecharakters. Mit anderen Worten: Ein Straffreistellungsgrund – der schon aufgrund seiner eigenen institutionellen Beschaffenheit eine Ausnahme darstellt – kann in einem System darüber hinaus absolut exzeptionell sein, wenn der Gesetzgeber ihn mit einer konkreten Deliktsgruppe des Besonderen Teils verknüpft. Aus diesem Grund kann sich ein Rechtfertigungs- oder Strafmilderungsgrund, deren Ausnahmecharakter gemäß dem institutionellen Kriterium niedrig ist, in absolut exzeptionell verwandeln, wenn der Gesetzgeber ihn auf den Schutz eines bestimmten Rechtsgutes des Besonderen Teils begrenzt. Offensichtlich hat dieses zweite Kriterium bedeutende Konsequenzen für die Begrenzung der Analogie zugunsten des Täters. Es können nur die straffreistellenden Regelungen mittels Analogie erweitert werden, die einer Institution niedriger oder mittlerer Exzeptionalität zugehören und außerdem vom Gesetzgeber mit Wirkung für alle Delikte ausgestattet wurden. Obwohl also die §§ 193 und 218 Abs. 2 und 3 StGB zur Institution der Rechtfertigung zählen, die aufgrund ihres niedrigen Ausnahmeniveaus analogiefähig ist, ist ihre Ausdehnung auf andere Delikte keinesfalls möglich.160 Anders ausgedrückt: Die institutionsbezogene Analogiefähigkeit der Rechtfertigungsgründe verhindert nicht, dass diese im Besonderen Teil vorgesehenen Gründe ausschließlich für die vom Gesetzge158

Roxin, AT, I, § 18, Rn. 39. A. A. Welzel, Das neue Bild, S. 23, für den die Verortung der Straffreistellungsgründe gleichgültig ist, obwohl er gegen die analoge Erweiterung bspw. des § 193 StGB auf andere Delikte ist, Welzel, Strafrecht, S. 84. 160 Zur Analogieunfähigkeit von § 193 StGB bei Straftaten, die die Ehre nicht verletzen Rengier, AT, I, § 29, Rn. 36; Kühl, AT, § 9, Rn. 51; Kindhäuser, BT, I, § 27, Rn. 1; NK/Zaczyk, § 193, Rn. 12; MüKo/Joecks, § 193, Rn. 6; LK/Hilgendorf, § 193, Rn. 11; Baumfalk, Bildet die Wahrnehmung, S. 61 f.; Polaczy, Die Anwendung, S. 27. Zur Analogieunfähigkeit von § 218a Abs. 2 und 3 StGB MüKo/Gropp, § 218a, Rn. 39. 159

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ber vorgesehenen Delikte und Rechtsgüter reserviert sind. Letztlich ist etwa eine übergesetzliche Rechtfertigung der Verletzungen der Vertraulichkeit des Wortes (§ 201 StGB) oder von Privatgeheimnissen (§ 203 StGB)161 kraft analoger Ausweitung der Wahrnehmung berechtigter Interessen nicht akzeptabel.162 Hinsichtlich der Strafmilderungsgründe ist die Übertragung der Strafmilderung des § 306e Abs. 1 StGB auf die Brandstiftung mit Todesfolge (§ 306c StGB)163 ebensowenig statthaft, wie die der fakultativen Strafmilderung der §§ 314a Abs. 1 und 2, 320 Abs. 1 StGB auf andere als die dort genannten Delikte.164

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Zugunsten dieser Rechtfertigung hingegen Noll, ZStW (1965) 77, S. 31 ff. Roxin, AT, I, § 18, Rn. 39. Aber in jüngerer Zeit für die allgemeine Geltung der Wahrnehmung berechtigter Interessen, Kempermann, Wahrnehmung, S. 27 ff. 163 U. a. MüKo-Radtke, § 306e, Rn. 5. 164 A. A. bzgl. § 320 Abs. 1, LK/Wolff, § 306a, Rn. 3. 162

Schlussfolgerungen 1. In der Theorie der juristischen Methodenlehre wurde traditionell insistiert, die Analogie sei ein unverzichtbarer Gedankengang für die Auslegung und Anwendung des Rechts. Jedoch konzentriert sich die Diskussion über die Analogie in bonam partem vor allem auf die Funktion dieser Argumentation in der Phase der Strafrechtsfortbildung. Das bedeutet, dass die Analogie ein argumentatives Hilfsmittel ist, das es dem Richter erlaubt, ausnahmsweise eine generische Regulierung zu schaffen, die das Gesetz korrigiert. Aus diesem Grund kann erst nach Auslegung der Straffreistellungsgründe auf die Analogie zugunsten des Täters zurückgegriffen werden. 2. Oft führte auch die starke Verbindung zwischen Richterrecht und Analogie in bonam partem dazu, dass die Analogie mit anderen, ähnlichen Methoden der Strafrechtsfortbildung verwechselt wurde. Sowie man der Tatsache Aufmerksamkeit schenkt, dass die Analogie zugunsten des Täters in Wirklichkeit ein Argument ist, das faktische und rechtliche Ähnlichkeiten unter den verglichenen Fällen erzeugt und der Bildung übergesetzlicher Straffreistellungsgründe dient, kann zwischen dieser und anderen, ähnlichen Methoden der Rechtsfortbildung, wie der außerstrafrechtlichen Rechtsanwendung zugunsten des Täters und den teleologischen Tatbestandseinschränkungen unterschieden werden. 3. Damit von einem echten Rückgriff auf die Analogie im Strafrecht gesprochen werden kann, ist es notwendig, zwei Voraussetzungen zu verifizieren: Die Existenz einer Ausnahmelücke und das Fehlen eines Analogieverbotes. Ausnahmelücken sind Fälle, in denen der Gesetzgeber, aus Versehen, einem generischen Fall eine Lösung oder Rechtsfolge zugeteilt hat, die nicht der nach materiellen Kriterien angezeigten entspricht. Es handelt sich daher um Fälle, in denen materiell strafloses Verhalten nichtsdestotrotz sanktioniert wird, da es nicht in den Anwendungsbereich eines Straffreistellungsgrundes fällt. Allerdings erfordern diese Regelungslücken eine Planwidrigkeit des Gesetzgebers; anderenfalls ergibt sich eine Wertunstimmigkeit, die nicht mittels Analogie aufgelöst werden kann. 4. Unter richterlicher Rechtsfortbildung mittels Analogie in bonam partem sollte kein Prozess verstanden werden, in dem der Richter willkürlich handelt, ohne jeglichen äußeren Parameter, der sein Handeln limitiert. Es ist vielmehr ein Prozess, in dem der Richter über rechtliche Elemente verfügt – wie die konkreten Straffreistellungsgründe –, deren rationes legis oder institutionelle und allgemeine Rechtsprinzipien auf unterschiedliche Weise seinen Ermessensspielraum einschränken.

Schlussfolgerungen

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5. Sobald die Existenz einer Ausnahmelücke und das Fehlen eines Analogieverbotes festgestellt sind, beginnt die eigentliche Phase der Strafrechtsfortbildung (i. e. S.) mittels Analogie in bonam partem. Die Schaffung eines übergesetzlichen Straffreistellungsgrundes kann hier auf verschiedene Weise erfolgen, etwa mittels Analogie legis (Gesetzesanalogie), Analogie institutionis (Institutionsanalogie) oder Analogie iuris (Rechtsanalogie). Die Existenz dieser verschiedenen Analogieargumente gibt dem Richter allerdings nicht das Recht, irgendeines davon frei auszuwählen; jedes dieser Argumente wirkt vielmehr subsidiär: Bspw. kann nur zur Institutionsanalogie in bonam partem gegriffen werden, wenn die Vergleichbarkeit der Interessenlage nicht über die Gesetzesanalogie hergestellt werden konnte. 6. Die Gesetzesanalogie zugunsten des Täters bedeutet die analoge Ausweitung eines Straffreistellungsgrundes auf einen von einer Ausnahmelücke betroffenen Fall. Dieses Argument spielt eine entscheidende Rolle im Hinblick auf die übergesetzliche Straflosigkeit der Irrtümer über Rechtfertigungsumstände, die Überschreitung des Notstandes und Rettungen im Rahmen von Gefahrengemeinschaften, da es die Ausweitung der Rechtsfolgen der §§ 16, 33 und 35 StGB bzw. gestattet. 7. Die Möglichkeit, einen übergesetzlichen Straffreistellungsgrund zu schaffen, bleibt sogar dann bestehen, wenn es an einer strukturellen oder rechtlichen Vergleichbarkeit zwischen dem durch die analoge Erweiterung geregelten und dem lückenhaften Fall fehlt. Dessen ungeachtet, kann der lückenhafte Fall eine relevante Ähnlichkeit mit der strafrechtlichen Institution haben, innerhalb derer sich der konkrete Straffreistellungsgrund befindet. Die Analogiefähigkeit der strafbefreienden Institution gründet auf den institutionellen Prinzipien, deren Anwendungsbereich schließlich die lückenhaften Fälle umfasst. Auch wenn es traditionell nicht üblich war, von dieser Analogie institutionis als eigenständigem Argument zu sprechen, beriefen sich die Entscheidungen des RG und des BGH, die den übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand und den übergesetzlichen Verbotsirrtum erschufen, auf die institutionellen Grundlagen. 8. Zwar ist es auf praktischer Ebene nicht einfach, zwischen Ausnahmelücken, Wertunstimmigkeiten oder den verschiedenen Analogieformen zu unterscheiden, aus theoretischer Sicht sind diese Kategorien jedoch entscheidend, um die verschiedenen Probleme analysieren zu können, denen der Rechtsanwender begegnet. 9. Angesichts der Begründung und Begrenzung der Analogie in bonam partem ist es entscheidend, das Gesetzlichkeitsprinzip zu berücksichtigen, da genau dieser Grundsatz dafür verantwortlich ist, die gesetzgeberischen, richterlichen und exekutiven Kompetenzen der Kriminalpolitik zu begrenzen. So bestimmt das Gesetzlichkeitsprinzip, in welchen Fällen der Richter befugt ist, die Gesetzgebung durch eine übergesetzliche Regelung zu modifizieren. Das Gesetzlichkeitsprinzip

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Schlussfolgerungen

ruht auf zwei Pfeilern: Einem rechtsstaatlichen und einem strafrechtlichen. Um die Einschränkungen der traditionellen Lehre zu überwinden, wird die rechtsstaatliche Wurzel im Sinne des gemäßigten Neokonstitutionalismus, die strafrechtliche Wurzel gemäß den strafrechtlichen Zwecken ausgelegt. 10. Die theoretischen Modelle des klassischen Konstitutionalismus und des radikalen Neokonstitutionalismus zur Erläuterung der rechtsstaatlichen Wurzel des Gesetzlichkeitsprinzips sind jedoch unbefriedigend. Einerseits ist im klassischen Konstitutionalismus die Möglichkeit, Ausnahmelücken anzuerkennen, praktisch ausgeschlossen und falls sich doch ausnahmsweise eine ergeben sollte, ist der Richter nicht befugt, sie zu schließen. Andererseits geht – als anderes Extrem – der radikale Neokonstitutionalismus nicht nur von der Vermutung aus, dass die Gesetzgebung Lücken aufweist, sondern gewährt dem Richter zudem weite Befugnisse sie zu schließen und jede weitere notwendige Korrektur der Gesetzgebung vorzunehmen. Diese Hypertrophie der richterlichen Funktion erfolgt auf Kosten grundlegender rechtsstaatlicher Prinzipien. Demgegenüber bietet die gemäßigte Version des Neokonstitutionalismus einen theoretischen Rahmen, der Kriterien zur Bewertung der Gesetzgebung bieten kann, die es erlauben, mögliche Ausnahmelücken restriktiv zu identifizieren. Neben dieser zentralen Funktion der judikativen Gewalt erkennt diese gemäßigte Ausprägung des Neokonstitutionalismus außerdem eine andere, periphere oder marginale Funktion an, kraft derer die Judikative ausnahmsweise Kompetenzen einer anderen Staatsgewalt übernehmen kann. 11. Bei der Begrenzung der Kompetenzen der Staatsgewalten ist es von grundlegender Bedeutung, auch die Zwecke des Strafrechts zu berücksichtigen, die sich am Gesetzlichkeitsprinzip orientieren. Diese Einschränkung hat dergestalt zu erfolgen, dass ein Gleichgewicht erreicht wird zwischen den Zielen, das ius puniendi zu beschränken und Delikten vorzubeugen. Aus dieser Perspektive ist es nicht nur wichtig, die richterlichen Kompetenzen zur Auslegung oder Anwendung von Straftatbeständen oder Strafschärfungsgründen festzulegen, sondern auch die Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe, da der vollständige Verzicht auf das Analogieverbot in diesem Bereich die präventiven Ziele ernsthaft gefährden könnte, obwohl das ius puniendi begrenzt wird. 12. Die generelle Anerkennung der Analogie in bonam partem kann in konkreten Fällen dennoch Probleme schaffen, wenn bspw. die Anerkennung übergesetzlicher Rechtfertigungsgründe eine Einschränkung der Abwehrrechte bewirkt. Um diesem Effekt in malam partem entgegenzuwirken, ist es nötig, dass der Richter einen neuen analogen Rechtfertigungsgrund anerkennt, der denjenigen begünstigt, der bei der Verteidigung gegen einen durch den ersten Analogieschluss Begünstigten eine tatbestandliche Handlung verwirklicht. Dieser zweite übergesetzliche Rechtfertigungsgrund wird durch die Analogie institutionis in bonam partem gebildet.

Schlussfolgerungen

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13. Die erste Gruppe von Grenzen der Analogie zugunsten des Täters leitet sich von der rechtsstaatlichen Wurzel des Gesetzlichkeitsprinzips ab. Hier ist es wichtig, den kreativen Befugnissen des Richters Einhalt zu gebieten, um eine Entwertung der Gewaltenteilung und außerdem eine Verletzung des Demokratiegrundsatzes zu verhindern. Aus diesem Grund können diejenigen Analogieformen nicht akzeptiert werden, die als Konsequenz sehr allgemeiner und abstrakter Prinzipien (allgemeine Rechtsprinzipien, allgemeine strafrechtliche Grundsätze und Naturrechtsprinzipien) eine schwache oder kaum vorhandene Bindung zur Gesetzgebung aufweisen. So bleibt die Analogie iuris in bonam partem absolut verboten. Gleichermaßen bewirkt die Beschränkung der legislativen Kompetenzen des Richters, dass die übergesetzliche Regulierung nie dieselbe Wirkung wie ein Gesetz haben kann, sodass die richterliche Regulierung für die restlichen Gerichte auch in vergleichbaren Fällen nicht bindend ist. 14. Die übrigen Grenzen der Analogie zugunsten des Täters hängen mit den strafrechtlichen Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips zusammen. Grundsätzlich sollte die analoge Verallgemeinerung der Straffreistellungsgründe keine schwere Belastung für die präventiven Ziele darstellen. Deshalb wirkt der Ausnahmecharakter der Straffreistellungs- und Strafmilderungsgründe als zentrales Kriterium, das institutionsbezogen oder systemsbezogen sein kann. Nach dem ersten Kriterium herrscht das Analogieverbot bei der Strafausschließung absolut, während es im Rahmen der Schuldausschließung nur Fälle der Analogie institutionis bei Entschuldigungsgründen umfasst. Bei den Rechtfertigungs- und Strafmilderungsgründen hingegen ermöglicht deren niedriges Ausnahmeniveau die Anerkennung der Gesetzes- und der Institutionsanalogie. Schließlich bleibt es bei der systembezogenen Exzeptionalität absolut verboten, hinsichtlich der im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches geregelten Strafbefreiungsgründe eine Analogie zugunsten des Täters anzuerkennen.

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Stichwortverzeichnis Ähnlichkeit – faktische/strukturelle 36, 71, 72, 74, 75, 78–81, 85, 86, 91, 137, 138 – juristische (Gesetzessinnähnlichkeit) 36, 61, 71, 72, 74, 78–80, 82, 86, 92, 131, 138, 143 Analogie – Bedeutung 24 f. – institutionis (Institutionsanalogie) 61, 68, 70, 80 ff., 137, 141, 165, 166 – iuris (Rechtsanalogie) 21, 61, 68, 69 f., 89, 90 ff., 129 f., 140 ff. – legis (Gesetzesanalogie) 21, 60–62, 68, 69, 71 ff., 129, 131, 137, 166 – Schöpfungsstufe 35, 68, 69, 92 Analogieverbot 94, 96, 115, 119, 124, 127, 128, 132, 134, 146 ff., 149 ff., 162, 164 Auslegung – Bedeutung 25 f. – Kanons 28, 29 – optimale 30 f. – vertretbare 29, 30 f., 30 Fn. 48 – willkürliche/absurde 29 f., 30, 30 Fn. 48 Ausnahmevorschriften – Bedeutung 146 f. – institutionsbezogenes Kriterium 153 ff. – systembezogenes Kriterium 167 ff. – Auswirkungen 148 Demokratieprinzip 112, 113, 114 Fn. 124, 115 f., 115 Fn. 132, 139, 140, 143 Ermächtigung 132 f. Ermittlungen (im Unternehmen), interne 38 f.

Gesetzlichkeitsprinzip – Geltung 22 Fn. 27, 52, 95 Fn. 10, 123 – rechtsstaatliche Wurzel 58, 95, 96, 97 ff., 139, 140, 143, 165 – strafrechtliche Wurzel 58, 95, 96, 116 ff., 120, 123, 124, 135, 139, 165 Gewaltenteilung 22 Fn. 28, 95, 96, 98, 98 Fn. 28, 99 f., 104 Fn. 66, 106, 108, 109 Fn. 96, 110, 112 f., 115, 139, 140, 143, 145 Irrtum – Erlaubnistatbestandsirrtum 19, 74 – (übergesetzlicher) Verbotsirrtum 18, 21, 45, 50 Fn. 148, 63, 68, 74, 81–84, 84 Fn. 327, 86, 89, 91, 154 f., 165 f. Konstitutionalisierung 107 Konstitutionalismus – Beccaria 99 – Merkmale 97 ff. – Montesquieu 98, 99, 100 ff., 105 Lücken – Ausnahmelücke 41, 42 ff., 51 ff., 56, 68, 77, 78, 82, 85, 89, 93, 111, 136, 137, 148, 149, 162 ff., 166 – axiologische 19, 27 Fn. 24, 32 f., 42 Fn. 115, 44 Fn. 123, 46 Fn. 132, 48 f., 49 Fn. 141, 111 f., 148 – Hypothese der Relevanz 46 f., 48, 49, 49 Fn. 141, 50, 136, 164 – normative 27 Fn. 24, 32, 42 Fn. 115, 43, 44, 111 f., 148 – These der Relevanz 46 f., 48, 49 f., 49 Fn. 141, 50 Fn. 147, 57 f., 136

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Stichwortverzeichnis

Neokonstitutionalismus – gemäßigter 97, 106, 110, 113, 140, 143 – radikaler 97, 106, 110–114, 116 Norm – außerstrafrechtliche 129 Fn. 213, 136 – generische 35, 37, 68 – individuelle 32 Fn. 53, 35 Fn. 70 Notstand – Abschuss-Fall 79 f. – als allgemeiner Rechtfertigungsgrund 54 ff. – Euthanasieärzte-Fall 79, 142 – Gefahrengemeinschaft 21, 71, 76, 77, 78 f., 79 f., 80 – Herz-Lungen-Maschinen-Fall 76, 80 – notstandsähnliche Lage 18, 34 – Schwangerschaftsabbruch 21, 48, 84, 85 Fn. 328, 86, 88, 134, 138, 167 – übergesetzlicher entschuldigender 77, 78, 79 – übergesetzlicher rechtfertigender 18, 21, 48, 52 Fn. 153, 68, 81, 84, 85 Fn. 330, 86, 87, 127 Fn. 198, 134, 165 – Weichensteller-Fall 75 f., 77, 80 Notwehr – Abwehrrecht (Notwehrrecht) 23, 77, 125 ff. – präventive 36, 71 – Überschreitung der 45 f., 60, 69, 73 f., 74 f., 129

Rechtfertigungsgründe – Duldungspflicht 125, 128 f., 129 f., 131, 132, 132 Fn. 229, 133 – Festnahmerecht 73, 153 Fn. 73 – Güterabwägungstheorie 19, 87 – Zwecktheorie 19, 87, 141 f., 142, 142 Fn. 16 Rechtsanwendung, außerstrafrechtliche 22, 37 ff., 39 Fn. 99

(Rechts)Fälle – generische 27, 27 f., 28 Fn. 29, 32, 32 Fn. 53, 35, 36, 39–41, 43 ff., 49 Fn. 141, 52, 54, 56, 65, 71, 72, 77, 80 f., 85, 92, 143, 147 – individuelle 27 f., 28 Fn. 29, 31, 32 Fn. 53, 42 Fn. 114 – Universum von Fällen 49, 65, 67, 83, 83 Fn. 315, 89, 91, 92, 146 f. Rechtsfortbildung – Bedeutung 32 f. – contra legem 33, 50 (Rechts)Institution – Bedeutung 63 – strafrechtliche 63 ff. (Rechts)Prinzip – (allgemeine) Rechtsgrundsätze 65 ff. – (allgemeine) Strafrechtsgrundsätze 65 ff. – der (Un)Zumutbarkeit 64, 89, 141, 142 – Güterabwägungsprinzip 141 – Institutionsprinzipien 64 f. – ratio legis 62 f. Rechtsschöpfung, richterliche 18, 26, 32, 34 f., 35 Fn. 68 u. Fn. 69, 60, 65, 67, 68, 89, 92 (Rechts)System – normatives 27 Fn. 24, 38, 85,146 – originäres 37, 37 Fn. 85, 37 f., 38, 39, 146 Reduktionen, teleologische siehe Tatbestandseinschränkungen Sprachakt 29 f. Sprachgemeinschaft 26, 29, 30, 30 Fn. 42 u. Fn. 48 Strafausschließungsgründe – Analogieverbot 162 f. – übergesetzliche 155 Strafmilderungsgründe – übergesetzliche 20, 22, 124, 144, 145 f., 165 Fn. 146 – überlange Verfahrensdauer 144

Stichwortverzeichnis Tatbestandseinschränkungen, teleologische 26, 40, 40 Fn. 100 u. Fn. 104, 41, 127, 127 Fn. 205 Treu-und-Glauben-Prinzip 91

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Wirksamkeit 145 f. Wortlautgrenze 26 f. Zurechnung

Verbindlichkeit 145 f. Vermutung, iuris tantum 51, 140, 148, 162–164 Vorhersehbarkeitsgrundsatz 113, 116 Wertunstimmigkeiten – Bedeutung 49 f. – Unterschied zur Ausnahmelücke 50 Willkürverbot 27, 95, 113, 116, 126

– erster Stufe 158 f. – zweiter Stufe 158 f. Zwecke (des Strafrechts) – Feuerbach 96, 116, 116 Fn. 141, 117 Fn. 143 – Prävention 96, 116 f., 116 Fn. 142, 117 ff. – Strafgewaltsbeschränkung 122 f.