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German Pages 404 Year 2022
Ralf Simon Grundlagen einer Theorie der Prosa
Theorie der Prosa
Herausgegeben von Ralf Simon
Ralf Simon
Grundlagen einer Theorie der Prosa Überlegungen zur basalen Selbstreferentialität der Dichtung nach Roman Jakobson
Diese Publikation wurde ermöglicht durch Unterstützung der Universität Basel
ISBN 978-3-11-077419-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077557-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077561-7 ISSN 2748-5447 Library of Congress Control Number: 2022938304 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Arno Schmidt: Abend mit Goldrand. Eine MärchenPosse. 55 Bilder aus der Ländlichkeit für Gönner der Verschreibkunst. Frankfurt a.M. 1975, S. 111, © Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld. Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Das vorliegende Buch ist das Ergebnis einer über zehnjährigen Beschäftigung mit dem Begriff der Prosa. Tatsächlich reicht es aber viel tiefer in die intellektuelle Biographie des Verfassers hinein. Die Jugendlektüre der Werke Arno Schmidts führte zum Studienwunsch, dort wurde schnell Jean Paul zu meinem ersten Hausgott. Wilhelm Raabe kam hinzu, ebenso die Spätwerke der Romantiker. Ohne dass dies einem Plan folgte, zeigte sich doch ein Interesse an komplexen Prosatexten, die nicht über den Begriff der narrativen Form zu denken sind. Hinsichtlich der Theoriebildung habe ich schon in der Promotionsschrift auch mit Roman Jakobson argumentiert. Die Habilitationsschrift besaß einen damals nicht publizierten zweiten Teil, der sich mit Jakobsons Konzept poetischer Selbstbezüglichkeit auseinandersetzte. Diese Überlegungen wurden dann über die Jahre und Jahrzehnte hinweg in einer Reihe von Aufsätzen und Büchern – bis hinein in eine literaturwissenschaftliche Bildtheorie (Simon 2009) – fortgeführt, sodass Jakobson so etwas wie das geheime Zentrum meiner Variante von Literaturwissenschaft bildete und bildet. Es hat langer Umwege und schwer durchschaubarer Latenzen bedurft, um das Interesse an komplexer Prosa und die an Jakobson orientierte Theorie der poetischen Selbstreferenz zusammenzuführen. Vielleicht ist mit größerer Entschiedenheit zu formulieren: Prosa in einem spezifischen Sinne und die Theorie der poetischen Selbstreferenz stehen wechselseitig zueinander so, wie Freud es mit dem Begriff der Deckerinnerung zu denken versucht. Im Nachhinein interpretiere ich meine Interessenlagen, die ›von vorne‹ gesehen den Eindruck von Zufälligkeit nicht ganz abzuweisen scheinen, als eine Konstellation oder als ein Kraftfeld, dessen Sog mit einer gewissen Konsequenz zu einem Buch führen musste, in dem avancierte Prosa der primäre Ort für poetische Selbstreferenz genannt wird und in dem umgekehrt die poetische Selbstreferenz ihre eigentliche literarische Evidenz an der Prosa gewinnt. Entsprechend nimmt das vorliegende Buch ältere Studien und Überlegungen auf. Es ist mir durchaus unangenehm, dass ich in diesem Text zu den meistzitierten Autoren zähle. Selbstreferenz scheint ein unausweichliches Schicksal zu sein. Aber in einer Denkgeste, die systematische Züge trägt und in wiederholten Vertiefungen immer wieder auf sich zurückkommt, sind solche Wiederaufnahmen in der Sache selbst begründet. So findet sich z. B. im zwölften Kapitel eine Sequenz aus einer bildtheoretischen Studie (Simon 2012b), die nunmehr aber einem anderen Argumentationsziel dient. Die dort formulierte Theorie des Satzes führt nur noch im Nebenergebnis zum Begriff der ikonischen Prädikation und dient neu dem Theorem des poetischen Satzes. An anderen Stellen wurden Ergebnisse von Vorgängerpublikationen meist umformuliert aufgenommen und neuen Kontexten eingepasst. Insgesamt ist das vorliegende Buch neu geschriehttps://doi.org/10.1515/9783110775570-202
VI
Vorwort
ben; schon vorhandene Argumentationsverläufe stehen in veränderten Zusammenhängen. – Diese Entstehungsbedingungen führen zu kleineren Wiederholungen und Zwischenresümees, zuweilen auch zum wiederholten Aufwerfen der Grundfragen. Ich habe sie stehen gelassen, um selektive Lektüren nur einzelner Kapitel zu ermöglichen. So befördern Zusammenfassungen auch punktuelles Lesen, während ich hoffe, dass bei einer Gesamtlektüre gelegentliche Markierungen des Argumentationsstandes dankbar entgegengenommen werden. Die vorliegende Grundlegung einer Theorie der Prosa redimensioniert den Formbegriff, dem in den jüngsten Fachdebatten eine überraschende Aktualität zuteil geworden ist, indem ihm das Konzept der Selbstreferenz entgegengestellt wird. Die Überlegungen befinden sich also im Zentrum dessen, was Literaturwissenschaft heißen kann. Sie zielen nicht auf kulturwissenschaftliche Ausweitungen, sondern arbeiten eher an dem Konzept, das die russischen Formalisten als Differenzqualität von Poesie im Verhältnis zu anderen Texten zu bestimmen versucht haben. Die Möglichkeit von Literaturwissenschaft ist nach meiner Überzeugung erst dann dargetan, wenn eine plausible Theorie der Poetizität – als Theorie poetischer Selbstreferenz – vorliegt. Das ist bisher nicht Fall. Entsprechend grundlegend wird im vorliegenden Buch argumentiert. Die überraschende Volte, Poetizitätstheorie nicht lyrikbezogen, sondern im Blick auf die Prosa zu entwickeln, kehrt die Gattungshierarchie geradezu um. Zu den Wendemanövern gesellt sich eine Theorie ästhetischer Negativität und schließlich überhaupt ein anderer Lektürekanon. Dass dies alles strittig sein wird, ist absehbar. Ich danke Sina Dell’Anno, Jodok Trösch und Achim Imboden für die intensive Zeit gemeinsamer Diskussionen im Rahmen des Drittmittelprojekts »Theorie der Prosa«, welches vom Schweizer Nationalfonds finanziert wurde. Die Redaktion und die Korrektur des Buchmanuskripts wurden von Nicolas Fink, Danielle Schwab und Andrea Simon besorgt. Auch und gerade für diese mühselige Arbeit gilt mein herzlicher Dank. Das Buch wird in der Reihe »Theorie der Prosa« beim De Gruyter Verlag erscheinen, dessen jederzeit hilfreiche und professionelle Beratung eine große Hilfe gewesen ist. In der Frage der Genderisierung der wissenschaftlichen Sprache möge für das Folgende gelten: »Pronuntiatio sermonis in sexu masculino ad utrumque sexum plerumque porrigitur« (Corpus Iuris Civilis Dig. 50,16,195 [533 n. Chr.]). Ralf Simon, Basel im März 2022
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
1
Warum überhaupt eine Theorie der Prosa?
2
Drei Prosa-Begriffe
3
Prosabegriffe: elementare Definitionen, antike Rhetoriken, Definitionsbestand der Lexikonartikel 12 Lexika 12 Rhetorik 15 Herder 19 Jean Paul 23 Hegel 26 Agamben 28 Plurale Bindungen 29 Ein Fazit 35
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8
1
8
4
Prosatheorie als Textualitätstheorie (Textlinguistik der ›Prosaischen Prosa‹) 38
5 5.1 5.2 5.3 5.4
Kunst der Prosa 43 Der Satz als generischer Kern der Kunst der Prosa Rhythmus, Numerus, Periode 48 Das Prosawort 54 Kunst der Prosa 57
6 6.1
Theorie der Prosa 59 Theorie der poetischen Selbstreferenz – Roman Jakobson und die Folgen 61 Sprachfunktionen 64 Das Prinzip der Äquivalenz (Die poetische Funktion) 70 Die Matrix der poetischen Selbstreferenz (re-entry der Funktionen in die poetische Funktion) 76 Form versus Selbstreferenz: Erste Bestimmung von ›Prosa‹ 79 Zerteilung: Poetische Funktion nach innen gewendet 82 Zerteilung – einige Schlussfolgerungen (Bezug zur Lyrik; Manierismus) 91
6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.3 6.3.1
44
VIII
6.4 6.5 7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.5.1 8.5.2 8.5.3
8.5.4 8.5.5 8.6 9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6
Inhaltsverzeichnis
Ikonische Poiesis der Prosa 94 Die poetische Funktion neu interpretiert
96
Poetische Emotivität: Funktion Autorschaft, Theorie des literarischen Charakters 98 Körpergebundene Intransparenz der Selbstwahrnehmung 100 Das autobiographische Substrat der Prosa 108 Inkarnierte Funktion Autorschaft: Typologische Verkörperung der Selbstreferenz 114 Gehirntiere 121 Conclusio: Ikonische Poiesis der poetischen Emotivität 123 Poetische Referentialität: Fiktionalität der Prosatexte? 125 Fundus animae – Prosa des Lebens – Formen der Synchronisation 126 Radikaler Realismus 129 Bloße Synchronisation: Stifter (Exkurs) 131 Magischer Realismus 133 Chronotopoi der Prosa 142 Die Zeitlichkeit der Form (ausgehend von Aristoteles) 143 Chronotopoi der Prosa: Parallelwelten, Durchdringungen 147 Exemplifikationen der Prosa-Chronotopoi als Konvergenz von Minimalismus und Maximalismus (Wald, Zimmer, Haus, Panorama) 153 Die ganze Zeit (Oswald Egger) 160 Reziproke Radien (Arno Schmidt) 165 Methodologische Zwischenbemerkung 168 Poetische Konativität: inverse Kommunikationen – Text als Funktion Lesen 171 Kommunikation als Missverstehen und die Lesbarkeit der Welt 172 Personificatio der anagrammatischen Permutation des Eigennamens (Schattenfroh) 175 Lesen des Nichtlesbaren (Kaff auch Mare Crisium) 177 Lesen als Durchdringung 183 Lesen als Paradoxierung der Anthropologie (Jean Paul) 186 Erste, zweite, dritte Lektüre – Lesen als Dissemination 192
IX
Inhaltsverzeichnis
10
Poetische Phatik und poetische Metasprache
11 11.1 11.2 11.3 11.4
Poetik des Prosa-Worts: poetische Etymologie 202 Poetisches Wort und poetische Funktion 205 Poetische Funktion als Zerteilung des Wortes 207 Eigennamen 218 Der immanente Raum des Wortes (Schmidts Etymsprache in Zettel’s Traum) 220 Die ikonische Poiesis der Etymsprache (Zettel’s Traum) 228 Optische Etyms in Zettel’s Traum – einige Hinweise 233 Das Prosa-Wort 236
11.5 11.6 11.7 12 12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6
13 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6 13.7 13.8
199
Der poetische Satz 238 Die Form des Satzes als Prädikation: logisch, bildtheoretisch und narratologisch 240 Der spekulative Satz (Philosophie) 247 Der poetische Satz (Prosa) 249 Der poetische Satz als Apokoinu (Wollschläger) 250 Der poetische Satz als Wurm-Fort-Satz der Logik (Jean Paul) 252 Der poetische Satz als stillgestellte Explosion: Arno Schmidt 265 Textfiguren der poetischen Selbstreferenz 273 Mehrfacher Schriftsinn 275 Plurifokaler Text 280 Sujetlosigkeit, Enzyklopädie, Liste, Humor 284 Durcheinanderprosa: Historische Episteme gleichzeitig Selbstreferenzen und Analogien (Oswald Egger) 297 Mimesis und Figura: Vertikal stehende Zeit 304 Expandierende Innenräume 308 Krypta: Die ultima ratio der poetischen Funktion 312
14 Negativität 320 14.1 Zum Begriff der poetischen Form 323 14.2 Form versus Selbstreferenz 328 14.3 Negativistische Denkmodelle: Materie 337 14.3.1 Gnosis 337 14.3.2 Atomismus 341
288
X
14.3.3 14.4 14.5
Inhaltsverzeichnis
Materie, bloße Stofflichkeit: Dualismus Negativität und Intelligenz 355 Negativität in aestheticis 359
Literaturverzeichnis Sachregister Personenregister
363
379 389
346
1 Warum überhaupt eine Theorie der Prosa? Der Titel ›Theorie der Prosa‹ mag überraschen, er ist erklärungsbedürftig. Dass nach all den Theorieversuchen der Literaturwissenschaft nicht einmal versuchsweise eine Theorie der Prosa vorliegt, nährt den Verdacht, vor einem grundlegenden Problem zu stehen. Es entspricht einer geisteswissenschaftlichen Konvention, angesichts einer solchen Lage auch die Rekonstruktion der Gründe zu versuchen, die eine bestimmte Form des theoretischen Nachdenkens bislang vereitelt haben. Hermeneutik ist spätestens mit Heidegger vor allem auch die Tieferlegung der Fragestellung, in der Hoffnung, von dieser Tätigkeit her den Weg zu einer Antwort zu finden.1 Der landläufige Begriff der Prosa trägt das Gepräge einer fast vollständigen Unterbestimmtheit. Prosa ist der Sammelname für das Geschriebene, das nicht in Versform auftritt.2 So reicht das Universum der Prosa von den einfachsten Sachtexten über juristische Texte bis hin zu jeglicher expositorischer Darstellung von Sachverhalten, um schließlich auch Essays, Theorietexte, philosophische Texte und dichterische Texte, sofern sie nicht versifiziert sind, zu umfassen. Heterogener kann kaum ein Korpus sein, größer auch nicht, denn Prosa umfasst das gesamte Schrifttum mit Ausnahme der Poesie in dem engen Sinne von versifizierter Rede. Die unterschiedlichsten Funktionsbestimmungen, vollständig divergierende Diskursgepflogenheiten und stark variierende sprachliche Niveaus versammeln sich unter der Überschrift Prosa, die eben deshalb keine weitere Bestimmung in sich tragen kann. Grenzt man den Titel ›Theorie der Prosa‹ auf die literaturwissenschaftliche Tätigkeit ein und bestimmt zusätzlich, von dichterischen und fiktionalen Texten
1 Zum Problem des hermeneutischen Zirkels, also dem vorlaufenden Vorverständnis, das sich in die Gefahr begibt, in schlechter Wiederholung eine Auslegung vorzustrukturieren, bemerkt Heidegger im § 32 von Sein und Zeit (1977 [1927], 203): »Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist der Ausdruck der existenzialen Vor-Struktur des Daseins selbst. Der Zirkel darf nicht zu einem vitiosum und sei es auch nur zu einem geduldeten herabgezogen werden. In ihm verbirgt sich eine positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens [...].« Daraus resultiert die bekannte Formulierung: »Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.« (Heidegger 1977 [1927], 205) Aus dieser Überlegung entspringt die Notwendigkeit, eine Frage, bevor man sie zu beantworten sucht, allererst als sie selbst zu verstehen. – Was eine Theorie der Prosa sein könne, ist also nicht intentione recta anzugehen, sondern durch die geduldige Rekonstruktion dessen, was in der Frage nach einer solchen Theorie immer schon gedacht ist. 2 So formuliert Rüdiger Campe (2016, 45) stellvertretend die communis opinio: »Prosa war die Bezeichnung für alles, was nicht eine bestimmte Form – das heißt nicht eine bestimmte metrische oder poetische Form – hat.«. https://doi.org/10.1515/9783110775570-001
2
1 Warum überhaupt eine Theorie der Prosa?
sprechen zu wollen – also vorerst auch in Abgrenzung zu literarisch anspruchsvoller Essayistik –, dann bleibt das Wort Prosa weiterhin vage. Die interessante Beobachtung lautet nämlich, dass Prosa Bestimmtheit erst durch eine Reihe von Kompositaformen gewinnt. Erzählprosa, das Prosagedicht, fiktionale Prosa, Romanprosa, kleine Prosaformen: Begriffe wie diese indizieren, dass Prosa erst dadurch, dass sie sich mit anderen Formen verbindet, artikulierbar wird. Bei genauerem Blick wird allerdings schnell klar, dass eine Theoriebildung etwa von Erzählprosa geradezu systematisch auf die Narration abzielt und das Momentum, das Prosa genannt werden könnte, unthematisiert lässt. Tzvetan Todorovs Buch Poetik der Prosa (1972 [1971]) ist dafür ein instruktives Beispiel. Es enthält eine Theorie der Narration und verliert kein Wort über den Begriff der Prosa. Offenkundig verschwindet bei Prosakomposita die Prosa selbst auf eigentümliche Weise, während die Formbestimmung des ihr zugesellten Kompositumteils in den Vordergrund rückt. Anders formuliert: Wahrscheinlich führt eine Gattungstheorie der Prosaformen nicht zu einer Theorie der Prosa, weil eine solche Gattungstheorie das Momentum der Prosa invisibilisiert. Aus diesen Beobachtungen lässt sich eine erste These ableiten. Prosa scheint eine Art von Medium zu sein, das im Bereich der literarischen Formen dazu dient, diesen Formen ihre Artikulationsmöglichkeiten zu eröffnen, während das Medium, also die Prosa, in den Hintergrund tritt. Man könnte an dieser Stelle mit Luhmanns Unterscheidung von Medium versus Form arbeiten (Luhmann 1995, 165–214; 1997, 190–202). Aber es ist eine entscheidende Einschränkung zu machen: Die Invisiblisierung des Mediums Prosa für literarische Formen trifft nicht für alle Prosatexte zu. Zwar gibt es einen weiten Bereich sogenannter Kunstprosa, in dem literarische Formen in Prosa geschrieben werden und Prosa allerhöchstens insofern in Erscheinung tritt, als sie durch Kunstmittel und stilistische Verfahren den sprachlichen Kunstcharakter steigert. Nicht erfasst werden bei der Form/Medium-Unterscheidung aber die Texte, die sich dem Formbegriff entschieden entziehen, sodass das sonst unthematisiert gelassene Moment der Prosa hervortritt. Solchen Texten soll die Theorie der Prosa primär gewidmet sein. Es handelt sich dabei um meist umfangreiche Texte mit vorherrschender Tendenz zur explizit gemachten Selbstreferenz, etwa um die Werkkomplexe von Arno Schmidt, James Joyce, Jean Paul, Wilhelm Raabe, Paul Wühr, Oswald Egger oder um Fischart (Geschichtklitterung), Uwe Dicks Sauwaldprosa, Bora Ćosićs Die Tutoren, Stefano D’Arrigos Horcynus Orca, Hans Wollschlägers Herzgewächse – um einige Namen zu nennen. Dieser erste Argumentationsschritt impliziert eine ganze Reihe von sehr komplexen Schlussfolgerungen. Erstens: Wenn der Formbegriff dominiert, tritt der Prosabegriff zurück. Über die Tradition der abendländischen Poetik, die vor allem
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3
am Formbegriff orientiert ist, lässt sich eine Theorie der Prosa nicht entwickeln. Diese Behauptung, die hier vorerst nur den Status einer Vermutung3 haben kann, wird im Folgenden in verschiedener Weise untermauert und ausformuliert werden müssen. Zweitens: Begriff und Konzept der Theorie der Prosa sind zunächst auf ein bestimmtes Textkorpus einzuschränken. Eine Gliederung des Gesamtfeldes dessen, was Prosa genannt werden kann, ist also eine unabdingbare Aufgabe im Vorfeld der eigentlichen Theoriebildung. Drittens: Wenn sich herausstellt, dass der Formbegriff für eine Theorie der Prosa unpassend ist, dann tritt diese Theorie zunächst in die Opposition zur abendländischen Poetik, in welcher das Konzept der Mimesis mit dem Begriff der Form so eng verschlungen ist, dass das ganze traditionelle Konzept der Poetik von dieser Verbindung abhängig ist. Es entsteht die Frage, an welche Theorietradition eine Theorie der Prosa anschließen kann oder radikaler: Wie ist überhaupt der Ausgangspunkt für eine Theorie der Prosa zu gewinnen? Eine Poetik der Prosa kann es offenkundig nicht geben, wenn der Begriff der Poetik intrinsisch auf dem Konnex von Form und Mimesis beruht. Die hier vorgebrachte These lautet, dass die Theorie der Prosa einerseits an die im achtzehnten Jahrhundert entstehende philosophische Ästhetik anschließen kann, andererseits an das mit dem russischen Formalismus begründete Konzept der poetischen Selbstreferenz. Der Anschluss an die philosophische Ästhetik lockert den Bezug zum Mimesisbegriff durch den Begriff des Darstellens und ersetzt den Referenzbezug auf die nachzuahmende Welt durch den Darstellungsbezug auf den Reichtum der Sinnlichkeit (fundus animae). Der Anschluss an den russischen Formalismus ersetzt die fremdreferentielle Mimesis durch die Konzepte poetischer Selbstreferenz. Viertens: Der russische Formalismus mit seinem zentralen Theoretiker Roman Jakobson trat mit dem Anspruch auf, über die poetische Funktion eine Theorie der poetischen Selbstreferenz als basale Begründungsmatrix für die Disziplin ›Literaturwissenschaft‹ schaffen zu wollen. Offenkundig hat aber die Literaturwissenschaft diesen Impuls, sich selbst umfänglich von der Idee der Poetizität her zu entwerfen, nicht aufgenommen.4 Die abendländische 3 In der umfangreichen Einleitung zu dem Band Poetik und Poetizität (2018) habe ich versucht, die Geschichte der abendländischen Poetik als Formpoetik zu erzählen, um davon das zweite Prinzip – das der poetischen Selbstreferenz – zu unterscheiden (vgl. Simon 2018a). Erst das Theorem, dass die abendländische Poetik zwei genuin unterschiedlichen Prinzipien folgt, von denen die poetische Selbstreferenz im zwanzigsten Jahrhundert in den Vordergrund tritt, macht es plausibel, dass eine poetologische Theoriebildung, die Poetizität nicht über Form, sondern über Selbstbezug denkt, mit erheblicher Verspätung in den Blick gerät. Wenn avancierte Prosa aber ein Fall von forcierter Selbstreferenz ist, kann sie folglich unter den historischen Diskursbedingungen kaum je mit angemessener Systematizität beobachtet worden sein. 4 Diese Bemerkung bedürfte einer umfassenden Rekonstruktion und Recherche. Tatsächlich wimmelt es nur so von Behauptungen zur Selbstreferenz, was unlängst sogar zu einer Polemik
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1 Warum überhaupt eine Theorie der Prosa?
Tradition der Poetik und mit ihr der Formbegriff blieben dominant, Fragen der poetischen Selbstreferenz wurden in den Formbegriff eingearbeitet, nicht aber als das Gegenkonzept zur Form, als das es gemeint war, verstanden. Seltsamerweise also obliegt es der Theorie der Prosa, diesen Impuls einer anderen und neu gegründeten Literaturwissenschaft wieder aufzunehmen. Die Theorie der Prosa konvergiert in einem entscheidenden Zug mit einer Grundlagenreflexion über das, was Literaturwissenschaft ist. Ihr obliegt die Ausformulierung poetischer Selbstreferenz in einem Maße, die in der Literaturwissenschaft bislang nicht auf der Tagesordnung stand. Überblickt man nur diese kurze Liste von Theorievorhaben, dann wird der nachgerade unbescheidene Anspruch, den die Theorie der Prosa stellt, offenkundig. Es handelt sich um ein Gegenkonzept zur Tradition der Poetik im doppelten Sinne, erstens durch den Anschluss an die philosophische Ästhetik (statt Poetik), zweitens durch die Insistenz auf dem Begriff der poetischen Selbstreferenz (statt Formbegriff). Es ist eine andere Konstruktionsbasis von literaturwissenschaftlicher Theoriebildung zu denken. Sie stellt etliche bislang geltende Evidenzen in Frage. So ist für eine Theorie der Prosa nicht mehr die Lyrik das Leitmedium für ›das Poetische‹, sondern eben die avancierte Prosa, von der behauptet sei, dass sie dichter, intensiver, selbstreferentieller ist als das Gedicht. Nebenbei sei lakonisch bemerkt, dass es sich im Folgenden tatsächlich um eine literaturwissenschaftliche Reflexion handelt, also nicht zuvörderst um eine kulturwissenschaftliche, diskurstheoretische, medientheoretische oder eine sonstwie der Literaturwissenschaft angelagerte Theoriedimension. Es geht um den Kern der Sache, also um dasjenige, was Literaturwissenschaft immer sein muss, selbst wenn sie dann auch noch etwas anderes sein können will, also um die Frage nach der Poetizität der poetischen Texte. Diese Überlegungen entstehen aus der Formation disziplinärer Diskurseinheiten. Es geht um die Freilegung einer Denkmöglichkeit, die durch bislang vorherrschende Paradigmen nicht in den Blick kam. Wenn man aber über die Ob-überhaupt-Frage einer literaturwissenschaftlichen Theorie räsoniert, dann ist freilich auch immer die Notwendigkeit einer unmittelbaren ästhetischen Evidenz gegeben. Was will man beschreiben? Welche ästhetischen Phänomene machen es erforderlich, mit einem theoretischen Denken neu anzusetzen?
gegen zuviel Selbstreferenzargumentation in der Literaturwisenschaft geführt hat (Geulen und Geimer 2015). Gleichwohl bleiben ernsthafte Versuche, über poetische Selbstreferenz nachzudenken, allzu schnell in relativ kurzen und theoretisch wenig anspruchsvollen Überlegungen stecken, wie jüngst noch der Sammelband Self-Reflection in Literature (Lippert und Schmid 2020) zeigt.
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Das Theoriebedürfnis nimmt auf der Ebene der ästhetischen Evidenzen seinen Ausgang bei der durchaus paradoxen Erfahrung, dass komplexe und avancierte Prosatexte nicht zu lesen sind. Finnegans Wake, die Typoskripttexte von Arno Schmidt, Jean Paul, der späte Wilhelm Raabe, Uwe Dicks Sauwaldprosa, Hans Wollschlägers Herzgewächse, Stefano D’Arrigos Horcynus Orca, Bora Ćosićs Die Tutoren, Fischarts Geschichtklitterung, Michael Lentz’ Schattenfroh, Oswald Eggers Die ganze Zeit: In allen diesen Texten findet eine wuchernde Textproduktion statt, die als wilde Semiose zu einer solchen Überkodierung der Textsequenzen führt, dass jede einzelne von vornherein plural beziehbar ist. Aber dies wirft insgesamt die Frage auf, bei welchem Moment ein Anfang des Lesens zu setzen ist und worauf ein solcher Beginn hinauslaufen soll. Wenn diese basale Orientierung systematisch verhindert wird, wenn also so etwas wie Form – weithin narrative Form – sich nicht entwickeln lässt, dann kann das Lesen nirgendwo oder überall anfangen. In Arno Schmidts Abend mit Goldrand lässt sich kein sensus litteralis mehr bestimmen, der Text ist konstitutiv plurifokal, er besteht aus einer Reihe von Textsystemen, die sich permanent gegenseitig spiegeln und durch fortgesetzte Bezugnahmen ein Geflecht von textuellen Selbstreferenzen aufbauen, die nicht mehr auf eine Textaussage zurückzuführen sind.5 Statt narrativer Form (vulgo: Handlung) finden sich Selbstbezüglichkeiten auf allen Ebenen. Abend mit Goldrand kann man nie zum ersten Mal lesen, vielleicht aber etwa ab der dritten Wiederholung. Für Texte dieser Art gibt es kein Verstehensmodell, keine ausformulierte Theorie. Natürlich kann man an Umberto Ecos hermeneutische Abdrift (Eco 1992, 425–441) denken oder an Aleida Assmanns Dickicht der Zeichen (Assmann 2015, bes. 11–27, 305–329) oder an Julia Kristevas Semiologie der Paragramme (Kristeva 1972a) oder an Anselm Haverkamps Anagrammatik (Haverkamp 2000; 2002), aber eine eigentliche Theorie der plurifokalen Textualität existiert nicht, wenngleich die Phänomene als solche der Literaturwissenschaft nicht unbekannt sind. Nun könnte man durchaus behaupten, dass auch bei Texten, die nicht zum Kanon der hier gemeinten Prosatexte gehören, sondern dem größeren Bereich der poetisch geformten Literatur angehören, plurale Textlogiken zu finden sind. Je länger sich die Literaturwissenschaft an ihrem Kanon von formdominierten Texten abarbeitet, desto umfangreicher werden in den Texten verschiedene Sinnsysteme und also plurale Kodierungen gefunden. Insofern ist eine damit einhergehende Plurifokalität letztlich nur ein Indikator für die gestiegene 5 Vgl. zu diesen Behauptungen den Band zu Abend mit Goldrand (darin u. a. das Vorwort mit der Aufzählung der Textsysteme), welchen der Verfasser mit einer Gruppe Basler Studierender als Vorstudie und als exegetische Einübung in eine zu entwerfende Prosatheorie vorgelegt hat: Simon 2016a.
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1 Warum überhaupt eine Theorie der Prosa?
Komplexität der literaturwissenschaftlichen Analyse. Auf diesen Einwand ist doppelt zu antworten. Erstens: Texte, die einer Form folgen, haben einen sensus litteralis, ihre Komplexität befindet sich auf der Ebene einer Allegorisierung des primären Sinns. Dies heißt auch, dass diese Texte in einem primären Sinne lesbar sind und zwar ohne explizite Analyse und ohne Kommentarbedürftigkeit. Diese wird durch professionalisierte Lektüre eingespielt, aber eine solche ist, wenngleich legitim, so doch nicht verstehensnotwendig in einem elementaren Sinn. Zweitens: Es ist gleichwohl richtig, dass Texte, die auf den ersten Blick einer Form zu folgen scheinen, oft in sich eine poetische Tätigkeit austragen, die nicht über Mimesis, sondern über Selbstreferenz läuft. Vor allem die Dekonstruktion macht von dieser Unterscheidung von Form versus Selbstreferenz Gebrauch, indem sie die verschiedenen sensus in ihrer Divergenz artikuliert. In diesem Sinne ist zu behaupten, dass die Theorie der Prosa, indem sie eine Theorie der poetischen Selbstreferenz ist, auch für Texte relevant ist, die nicht in den engeren Kanon avancierter Prosatexte fallen. Genauer lautet die Behauptung, dass formdominierte Texte notwendigerweise eine der Form entgegenarbeitende Dimension poetischer Selbstreferenz besitzen, um ihre Literarizität modernekonform in hoher Komplexität entwickeln zu können. Erst aus dieser Divergenz entspringt überhaupt diejenige Dimension eines Textes, die man gemeinhin als poetisch bezeichnet. Mit anderen Worten: Es lässt sich ein Textkorpus identifizieren, für das eine Theorie der Prosa eine unabdingbare und primäre Notwendigkeit ist und es lässt sich ein (viel größeres) Textkorpus behaupten, für das eine Theorie der Prosa eine implizite und de facto oft benutzte Grundstruktur (neben mindestens einer anderen) offenlegt. In diesem Sinne ist die zu entwickelnde Theorie nicht einfach nur auf ein relativ überschaubares Korpus avanciertester Prosatexte eingeschränkt. Vielmehr ergänzt sie geradezu notwendig die Disziplinarität des Faches Literaturwissenschaft auch hinsichtlich des Formparadigmas. Auch diese Reflexionen erfordern, wie unmittelbar zu sehen ist, eine vorab zu vollziehende Gliederung des Feldes. Wenn man Begründungsansprüche aufstellt, tut man gut daran, den Referenzrahmen, für den die Ansprüche bestehen sollen, zu definieren. Im Bereich der literaturwissenschaftlichen Theorien und Methoden ist es keine Ausnahme, dass eine Theorie vorderhand vor allem für einen bestimmten Kanon bestimmt und erst sekundär auch auf andere Texte beziehbar ist – sofern man hier von Theorien spricht, die zugleich eine Methodik implizieren. Die Dekonstruktion, die Hermeneutik, die Diskurstheorie, der sozialgeschichtliche Zugang oder auch kulturwissenschaftliche Ansätze wie der Orientalismus: Alle diese Theorien und Methoden haben einen bevorzugten Kanon von literarischen Texten, für den sie besonders gut geeignet sind. Um diesen Kern gruppieren sich gestaffelt mehr oder weniger passende literarische Texte, mitunter wird man sogar konstatieren müssen, dass Literaturtheorien
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vor bestimmten literarischen Phänomenen kapitulieren müssen. So wäre etwa zu behaupten, dass avancierte Prosatexte sich nicht dekonstruieren lassen. Niemand ist je auf die Idee gekommen, Jean Paul oder Arno Schmidt zu dekonstruieren. Es gäbe gegen dieses Ansinnen grundsätzliche Einwände. Dies aber heißt: Selbst eine relativ starke Theorie wie die Dekonstruktion ist keine globale Theorie des Literarischen. Offenkundig gibt es so etwas wie eine Literatur der Literaturtheorien (Previšić 2010). In diesem Sinne sei behauptet, dass die Theorie der Prosa explizit eine Theorie für ein bestimmtes Textkorpus ist, implizit aber eine Theorie für eine konstitutive Dimension des Poetischen überhaupt.
2 Drei Prosa-Begriffe Es lassen sich drei Begriffe von Prosa6 unterscheiden: 1. Prosa als Sachtext: Gesetzestexte, Gebrauchsanweisungen, Sachbuchprosa etc. Zuständig ist die Textlinguistik. Es handelt sich um das Schrifttum vor den literarischen Formen. 2. Prosa als Begriff im Zusammenhang literarischer Formen, insbesondere Erzählprosa. Zuständig ist die Lehre von der Kunst der Prosa, also Stilistik als Fortsetzung der Rhetorik. Prosa ist hier kompatibel zu literarischen Formen. Es gibt einen Übergangsbereich von Sachprosa zu literarisch ambitioniertem Stil, vor allem in der Essayistik, aber auch in den Stilgesten philosophischer Bücher. 3. Avancierte Prosa als wilde Semiose: Selbstreferenz statt Form (oder nach der Form), hypertrophe Textualität. Zuständig ist die zu entwickelnde Theorie der Prosa. Erstens: Im Feld vor den literarischen Formen liegt das in Prosa verfasste Schrifttum der expositorischen Sachtexte. Dafür zuständig ist das, was vor etlichen Jahrzehnten einmal Textlinguistik genannt wurde und was gegenwärtig zum Gegenstand von Korpuslinguistik geworden ist. Textkonstitutive Kriterien werden durch Begriffe wie Kohärenz, Kohäsion, Fokusbildung, pragmatische Kontextualisierung, Situationalität, Angemessenheit, Informativität, Akzeptabilität und ggf. Intertextualität diskutiert (s. u.), also im weitesten Sinne durch linguistische Wiederholungen rhetorischer Grundverfahren. Die Literaturwissenschaft, deren Gegenstand Poesie oder fiktionale Texte sind, kann behaupten, für dieses Schrifttum nicht primär zuständig zu sein. Zweitens: Identifizierbar ist das Feld literarischer Prosaformen. Zu ihm gehören an der Grenzscheide zu expositorischen Texten der Essay, die kleinen Prosaformen, schließlich die Erzählprosa, wohl auch die Prosaformen der gro-
6 Im wichtigen Lexikonartikel von Weissenberger (2005) wird auf Prosaschreibweisen hingewiesen, die im Bereich der Vormoderne liegen. Stärker noch zählt Weissenberger auch versifizierte Merksprüche und einfache Formen (s. Jolles 1958 [1930]) auf der Grenzscheide von Mündlichkeit und Schriftkultur zur Prosa. – Diese Überlegungen spielen für das gegenwärtige Projekt einer Theorie der Prosa eine nur untergeordnete Rolle. Prosa soll hier als schriftbasierte Literatur im Kontext gepflegter Semantik (Luhmann 1993, bes. 19 f.) und einer ausformulierten kulturellen Enzyklopädie verstanden werden. Somit ist das Feld der infrage stehenden Prosatexte nicht auf die Moderne beschränkt, wohl aber auf ausdifferenzierte Schriftkulturen mit Wissensformen wie Grammatik, Rhetorik, verschiedenen Schreibweisen etc. Auf diese Charakteristik bezieht sich die Typologie der drei Prosabegriffe, von denen im Folgenden die Rede ist. https://doi.org/10.1515/9783110775570-002
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ßen philosophischen Abhandlungen. Auch hier ist die Literaturwissenschaft nicht zur Gänze zuständig, aber zumindest teilweise. Prosarelevantes lässt sich hier als Kunst der Prosa identifizieren, im Sinne des gleichnamigen Buches von Theodor Mundt (1837). Kunst der Prosa ist der Name für Überlegungen zur Stilistik des kulturell gehobenen Prosatextes. Stiltheorie ist ab dem neunzehnten Jahrhundert die Fortsetzung der Rhetorik nach deren Ende im achtzehnten Jahrhundert (s. u.). Dabei spielt die Musikalität der Prosa eine Rolle, ihre Gangart, ihre phonetische Textur, ihr Textrhythmus. Im Falle der Erzählprosa lässt sich im Sinne von Theodor Mundt argumentieren, dass es dabei nicht um ein Erkennen der Erzählform geht, sondern um die Frage, wie gute Prosa zu schreiben sei. Erzähltheoretisch kann ein Text alle narrativen Formeigentümlichkeiten erfüllen und trotzdem schlecht geschrieben sein. Die Kunst der Prosa hätte hier also als Stilistik ein genuines Gegenstandsgebiet, welches in der Geschichte der Literaturwissenschaften immer wieder einmal, gerne auch unter Zuhilfenahme statistischer Methoden, behandelt worden ist. Stilistik der Prosa oder Kunst der Prosa ist aber nicht Theorie der Prosa. Drittens – und damit zum Kern der Sache vorstoßend: Es gibt ein Korpus literarischer Texte, die sich durch eine in jeder Hinsicht exzessive Semiose auszeichnen, sodass sie mit keinem Formbegriff, auch nicht mit dem offenen Konzept des Romans, zu fassen sind. Gemeint sind die schon erwähnten Texte etwa von Joyce, Schmidt, Jean Paul, Fischart (Geschichtklitterung) etc. Die Frage nach der Konstituierung eines primären Textkorpus ist ein theoretischer Stolperstein, insofern erst die Theorie Kriterien für das Textkorpus definieren kann, während zugleich nur ein vorgängig angenommenes Textkorpus die Theoretisierungsarbeit ermöglicht. Es wird auf diesen Zirkel zurückzukommen sein. Der Name Theorie der Prosa hat vordergründig dieses Textkorpus zum Gegenstand. Während die expositorischen Sachtexte, die Gegenstand der Textlinguistik sind, ein Gebiet vor den literarischen Formen ausfüllen und die Prosatexte, die Gegenstand der Kunst der Prosa sind, formbestimmte Eigenschaften aufweisen, handelt es sich hier, im dritten Feld, um poetische und fiktionale Texte, die in einem Raum nach der Form zu denken sind. Während der traditionelle Begriff des Romans mit seinen eingelagerten kleineren Formen durchaus noch einen transformierten Formbegriff mit sich führt, sind die Prosatexte in einem mehrfachen Sinne radikal. Sie zerkleinern und zerlegen die Sprache bis hin zu ihren atomaren Bestandteilen, den Buchstaben oder grundsätzlicher noch: den distinktiven Merkmalen. Zu diesen Texten gehört also eine konstitutive anagrammatische Dimension, vielleicht ist diese sogar der generative Motor für die Textexpansion, die folglich nicht über Formen und deren Programme läuft, sondern über die Permutation des atomaren Materials der Sprache.
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Eine damit zusammenhängende Eigenart der großen Prosatexte besteht in ihrer Vielsprachigkeit. Finnegans Wake wartet mit geschätzt 70 Sprachen auf,7 Arno Schmidts Abend mit Goldrand immerhin mit sieben bis acht, Fischarts Geschichtklitterung ist als solche eine Übersetzung. Die Frage nach der Mehrsprachigkeit reicht tief in die Texturen und Verfasstheiten der Prosatexte. Der Wechsel zwischen den Sprachen, radikal vielleicht so weit getrieben, dass es gar keine Ausgangssprache gibt und alles von vornherein hybrider Sprachwechsel ist, führt erneut zu einer Unterwanderung des Formparadigmas. Wenn die große Prosatextur nicht mehr dem Formparadigma folgt, ebenso wie der Prosabegriff selbst schon von seiner wortwörtlichen Bedeutung her nicht auf Form abzielt, dann stellt sich die Frage, welchen Verfahrensweisen die Textverkettung dann obliegt. Ich werde vorschlagen, poetische Selbstreferenz als Alternative zu poetischer Form zu bedenken, damit einhergehend Zeichenverwendungen, die über rekursive Schleifen, Ähnlichkeiten, Inversionen, hypertrophe Semiosen oder Schriftbildexperimente laufen. Die Theorie der Prosa wird sich de facto als eine Theorie poetischer Selbstbezüglichkeit darstellen, mithin sind Theorieansätze zielführend, die die sprachliche Semiose invertieren, also »den Blick von der Sache [...] gegen ihr Zeichen hin« wenden (JP I/5, 194), um eine Formulierung Jean Pauls aus der Vorschule der Ästhetik zu zitieren. Diese Bemerkungen führen insgesamt auf die Grundidee, dass eine Theorie der Prosa ihr Zentrum in dem Gedanken findet, dass der poetische Text – hier also: avancierte Prosa – vornehmlich seine Selbstbezüglichkeit elaboriert. Präziser: Prosa stellt die Grammatik der Poesie, nämlich die Register der poetischen Selbstreferenz, auf die Textbühne. Dieser Akt des Auf-die-Bühne-Stellens ist zentral. Gegenüber den alten Poesiebegriffen, nach denen Dichtung formgesteuerte Nachahmung von Wirklichkeit ist, wird nunmehr zumindest für ein bestimmtes Textkorpus behauptet, dass die Register der poetischen Grammatik – also die Modi der Selbstbezüglichkeit – animiert, personifiziert und zu Handlungsakteuren der Textbühne werden. Mit dieser Dreiergliederung ist der Gegenstand der folgenden Ausführungen vorläufig bestimmt. Mit Prosa ist vor allem das Korpus derjenigen Texte gemeint, das in der skizzierten Einteilung unter den dritten Punkt fällt. Ich werde gleichwohl alle drei Aspekte abhandeln, in unterschiedlicher Ausführlichkeit. Tatsächlich wird es darum gehen, die beiden ersten Prosabegriffe über transfor-
7 Ausweislich der Liste in Roland McHughs Annotations to Finnegans Wake (McHugh 2016, xxviii–xxx) sind es 61 Sprachen, die kriteriengestützt identifizierbar sind. Dies schließt aber weitere Sprachen, Idiome und Dialektvarianten keinesfalls aus.
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mierende Verfahren in den dritten zu überführen. Im Moment soll es aber genügen, diese erste vorläufige Gegenstandsbestimmung vorgenommen zu haben. Die Gliederung des vorliegenden Buches zeichnet sich nunmehr ab: Nach einigen weiteren Vorbegriffen, die den lexikalisch und in der historischen Semantik vorliegenden Prosabegriffen gewidmet sind, werde ich zunächst relativ kurz vom gängigen Prosabegriff (expositorische Sachtexte) reden, dann von der Kunst der Prosa, um schließlich zur Theorie der Prosa voranzuschreiten. Diese wird sich als Theorie poetischer Selbstreferenz darstellen, sodass sich daraus die Binnengliederung der Theorie der Prosa ergibt.
3 Prosabegriffe: elementare Definitionen, antike Rhetoriken, Definitionsbestand der Lexikonartikel 3.1 Lexika Im aktuellen Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft findet sich die folgende Definition von Prosa: Metrisch nicht gebundene, im Stilniveau variable Mitteilungsform von Texten. Seit der Antike wird ›Prosa‹ als Gegenbegriff zur (›gebundenen‹) Rede in Versen (↗Metrik) verwendet und umfaßt insofern sowohl (1) Alltagsrede und Sachliteratur allgemein als auch (2) nach rhetorischen Kunstregeln (↗– Rhetorik) stilisierte Texte (›Kunstprosa‹). (3) Im engeren Sinne wird unter Prosa – im Sinne von (2) – ›Erzählprosa‹ verstanden. (4) Prägnant ist Prosa deshalb auch Sammelbezeichnung für unterschiedliche kürzere – erzählende, beschreibende, argumentierende, reflektierende – Texte mit literarischem Anspruch. [...] (Kleinschmidt 2007, 168)
Die Definition geht von der Unterscheidung zwischen gebundener und ungebundener Rede aus; die Prosa steht auf der Seite der ungebundenen, also metrisch nicht regulierten Sprache. Da auf diese Weise das Differenzkriterium zwischen poetisch und nicht poetisch mobilisiert wird, fällt die Prosa zunächst auf die Seite nicht poetischer Sprache, womit sie die Vielzahl aller Stilniveaus, die jenseits der Dichtung möglich sind, enthält und auch ausdifferenziert. Die kleine Definition weist eine aufschlussreiche Undeutlichkeit auf: Zunächst wird Prosa als Mitteilungsform von Texten, dann aber mehrfach als Rede bezeichnet. Von einem vortheoretischen Verständnis ausgehend scheint der Begriff der Rede unpassend zu sein. Prosa wird nicht gesprochen oder geredet, sie wird geschrieben. Sie ist dezidiert schriftlich. Gebrauchsanleitungen für technische Geräte, Gesetzestexte, Behördentexte, die vorliegende literaturwissenschaftliche Abhandlung: Dies alles sind Texte, die weitgehend ohne literarischen Anspruch existieren, aber konstitutiv schriftlicher Natur sind. Allerdings, auch darauf verweist der Definitionsversuch, wird das Wort Prosa sehr oft auch dann benutzt, wenn eben doch ein gewisser literarischer Anspruch vorhanden ist. Prosa zu schreiben meint oft ungesagt, dass es um den Ehrgeiz geht, gute Prosa schreiben zu wollen. Zumindest in dieser Hinsicht partizipieren literaturwissenschaftliche Texte durchaus an der literarischen Dimension stilistischer Qualität. Primär ist aber für den Autor des expositorischen Artikels, dass Prosa Mitteilungsform ist, also vorerst nicht verschlüsselte und indirekte, sondern kommunikativ dem Paradigma direkter Mitteilung unterstellte Sprache. https://doi.org/10.1515/9783110775570-003
3.1 Lexika
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Der drei Seiten umfassende Text von Thomas Althaus im Lexikon Literaturwissenschaft beginnt so: P. ist ein in der → Rhetorik entwickelter Begriff für den versfreien Text. Hier geht die Rede einfach ›nach vorn‹ (von lat. pro[r]sus ›vorwärts gerichtet‹), während die stark modellierte Versrede sich formt und ›wendet‹ (versus). Dieser Unterschied bestimmt das neuzeitliche Literaturverständnis bis in das späte 18. Jh. Er begründet ein Wertungssystem, das die Versrede grundsätzlich bevorzugt: Die P. steht in diesem System für einen Mangel an formativer Kraft. Wird die P. nicht von festen Regeln der Textkomposition gesteuert, so kann sie sich aber sehr wohl strukturell verdichten. Sie ist durch rhetorische Figuren und rhythmische Satzschlüsse (Klauseln), durch eine »der Gedankenentwicklung entsprechende, logische Eurhythmie« (W. v. Humboldt) und eine »geistige Syntax« (J. Grimm) vielfältig und mit dem Vorteil der Gestaltungsoffenheit zu intensivieren. Zudem verändern sich ihre Kriterien mit ihrer Quantität. Länge schafft die Voraussetzung für epische Entfaltung, Kürze für aphoristische Prägnanz. [...] (Althaus 2011, 275)
Althaus sucht zunächst den Bezug zur Rhetorik und folglich zur wörtlichen Bedeutung des Wortes Prosa als nach vorne gerichteter, vorwärts gehender Sprachverwendung im Gegensatz zur durch die Verszäsur gewendeten poetischen Sprache. Erneut geht es um die Differenz poetisch versus nicht poetisch, aber sie wird nun genauer, nämlich formtheoretisch bestimmt. Die metrische Form der gebundenen Rede meint den Vers, mit dem Vers ist die Verszäsur gesetzt und damit das Formgesetz einer Wendung auf Versebene. Die ungebundene, vorwärtsschreitende Prosa hingegen hat zunächst kaum formative Kraft. Deshalb, so ist hier zu ergänzen, kann sie sich besser in den Dienst einer kommunikativen Mitteilung von Sachverhalten stellen als die Poesie, bei der die sprachliche Form derart in den Vordergrund tritt, dass die Konzentration auf den Mitteilungsaspekt abnimmt Wenn Prosa literarisch wird und sich über Form verdichtet, dann kann sie dies, so Althaus, tun, indem sie bestimmte Verfahrensweisen vor allem der Textlänge aktiviert: gedankliche Rhythmen, wiederkehrende Formeln etc. Althaus weist jedoch auch darauf hin, dass Prosa ebenfalls der Name gerade für kleine und kürzeste Formen ist, etwa für den Aphorismus, der in seiner minimalen Extension nur aus einem Satz besteht. Seltsamerweise scheint Prosa also eine sehr große Beweglichkeit zu haben. Sie ist für die große Textextension ebenso zuständig wie für die kleinste Textbestimmung. Interessant ist der Hinweis auf die Klauseln: Markierte Satzschlüsse (rhythmisch – und zu ergänzen: phonetisch) lassen die Unterscheidung zum Vers klein werden. Im viel benutzten Sachwörterbuch der Literatur von Gero von Wilpert fängt der Artikel Prosa wie folgt an: Prosa (v. lat. prorsa oratio = die geradeausgerichtete Rede), d.h. nicht durch Rhythmus oder Reim gebundene, im Akzent freie Redeweise der Umgangssprache im Gegensatz zu Poesie im engeren Sinne, doch auch zum Teil rhythmisch gestaltet (Kunstprosa, Pro-
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3 Prosabegriffe: Definitionen
sarhythmus, Klausel). Indessen geht der Unterschied tiefer und trifft das Wesentliche; die Poesie wendet sich mehr an die Phantasie der Zuhörer als sinnliche Einbildungskraft, die Prosa mehr an den Verstand als abstraktes Denkvermögen; in der Poesie herrscht das sinnenfällige Element der Darstellung mit Stilwendungen, welche die Prosa nicht gestattet, in der Prosa der gedankliche Inhalt vor, so daß diejenigen Werke, deren Bedeutung bloß auf dem Inhalt beruht, wie zum Beispiel das fachwissenschaftliche Schrifttum, in der Literaturwissenschaft höchstens untergeordnete Aufmerksamkeit finden. (Wilpert 1979, 632f.)
Zuerst lässt sich sehen, warum das Wort ›Rede‹ in allen Lexikoneinträgen auftaucht: Es handelt sich um die Übersetzung aus dem lateinischen oratio. Gemeint ist die öffentliche Rede, die in der Regel schriftbasiert im Sinne fingierter Mündlichkeit ist, also hinsichtlich des Komplexitätsniveaus an der mündlichen Mitteilung orientiert bleibt.8 Wilperts einflussreiches Lexikon ist in der Geschichte der Germanistik oft kritisiert worden, an den zitierten Sätzen lassen sich die Gründe für diese Kritik sehr gut ablesen. Es liegt hier eine normativ wertende Unterscheidung zwischen dem vor, was der Poesie und was der Prosa gestattet sei. Wieder steht im Hintergrund die Unterscheidung zwischen poetisch und nicht poetisch, und erneut wird sie durch die Charakterisierung der Versform (Metrum, Reim, Zäsur) im Unterschied zur geradeaus gehenden, d.h. direkt die Sache formulierenden Sprachverwendung plausibilisiert. Deshalb steht Prosa auf der Seite des Schrifttums, sie adressiert den unpoetischen Verstand. Nur quasi nebenher und in geringer Teilüberschneidung kann die Prosa auch etwas Poetisches haben, nämlich dann, wenn sie rhythmisch gestaltet ist. Diese drei Lexikoneinträge mögen an dieser Stelle genügen. Es zeichnet sich ein relativ einheitliches Bild ab. Wer Prosa sagt, vollzieht die Unterscheidung zur Poesie mit. Damit steht überhaupt die Differenzqualität zwischen poetischer und nicht poetischer Sprache im Raum, folglich also auch die Frage nach dem Gegenstandsgebiet von Literaturwissenschaft im engeren Sinne als Wissenschaft von der Dichtung. Während die Literaturwissenschaft in Prosa geschrieben ist, ist ihr Gegenstand Poesie. Ist die Poesie gebundene, die Phantasie in Gang setzende, durch den Vers via Form gewendete Rede, so ist Prosa direkte Sachmitteilung vor allem in textlich-schriftlicher Mitteilungsweise. Es scheint, als würde diese sehr eingängige dichotomische Grundanlage es verbieten, die Frage nach der Prosa überhaupt auf
8 Rede (oratio) ist in der Rhetorik der Sammelbegriff für die Redegattungen, welche den Theoriegegenstand der Rhetorik bilden. Dazu zählen Gerichtsrede, politische Rede, Festrede etc. Diese Redegattungen bilden jeweils ein Ensemble von rhetorischen Strategien aus, die auf Mündlichkeit angelegt sind, in der durchformalisierten Kodifizierung der Rhetorik jedoch eine schriftliche Form angenommen haben. In diesem Sinne ist oratio bzw. Rede ein Zwischenbegriff zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Vgl. Schmitz 2005, 698f.
3.2 Rhetorik
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die Tagesordnung der Literaturwissenschaft zu setzen. Ihr primärer Gegenstand hat die Dichtung zu sein. Alle drei Artikel betonen, dass Prosa gleichwohl poetische Qualitäten aufweisen könne, aber diese kommen ihr nicht aus eigener Formkompetenz zu, sondern quasi nur in geborgter Weise: Wenn die Prosa rhythmisch ist, dann infolge einer Lizenz, sich bei den Verfahren der Poesie bedienen zu können. Es sei an dieser Stelle schon auf eine Unterscheidung hingewiesen, die in der späteren Argumentation wichtig werden wird. Literaturwissenschaft als Prosa soll ›Rede-über‹ sein, also Metasprache, deren Gegenstand die Poesie als Objektsprache ist. Diese Unterscheidung von Objekt- und Metasprache wurde durch Frege und Russell, vertieft im Kontext des Wiener Logischen Positivismus (Carnap), zu Zwecken der Paradoxievermeidung eingeführt (Schüttpelz 1995). Das berühmte Kreter-Paradoxon kann nur dadurch entstehen, dass eine Aussage-über (ein Kreter sagt, alle Kreter lügen) mit Aussagen der Objektebene (lügt er also oder sagt er die Wahrheit?) ebenenindifferent vermischt wird. Würde man die Regel etablieren, Objekt- und Metasprache nicht vermischen zu dürfen, würde das KreterParadoxon nicht mehr auftreten. Die Poesie/Prosa-Unterscheidung besitzt die Struktur der Objekt-/Metasprache-Unterscheidung. Sie wird in den zitierten Lexikonartikeln mehr oder weniger normativ zugrundegelegt. Für die Theorie der Prosa wird es jedoch entscheidend sein, dass Dichtung diese Unterscheidung strukturell unterläuft: Prosa kann poetisch sein, Poesie kann auch Verfahrensweisen der Prosa in sich aufnehmen. Die entstehenden Paradoxien sind im poetischen Diskurssystem keineswegs Fehler, sondern vielmehr stützende Strukturmomente (s.u.). Damit wird die ganze Definitionsmatrix unterwandert – und zwar auf beiden Seiten: derjenigen der Dichtung und derjenigen der Literaturwissenschaft. Es ist evident, dass diese drei Definitionen, die stellvertretend für eine viel umfassendere Reihe von Lexikonartikeln stehen, im Verlaufe der folgenden Argumentation komplett umgearbeitet werden müssen, andernfalls wäre das Vorhaben einer die Prosa sich zum Gegenstand nehmenden anspruchsvollen Literaturwissenschaft nicht gerechtfertigt und nicht durchführbar.
3.2 Rhetorik Das Wort Prosa wird gemeinhin aus lat. prorsa (schlichte, ungebundene, gerade Rede) abgeleitet, welches wiederum eine verkürzte Form von lat. proversa (die Vorwärtsgerichtete) ist.9 Dieses setzt sich aus lat. pro (vorwärts) und versus (ge-
9 Vgl. u.a. Barck 2003, 88; Weissenberger 2005, 321f.; Arndt und Deupmann 2012, 22; Walde 1938, 374 (Art. prorsus).
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3 Prosabegriffe: Definitionen
richtet, gewendet) zusammen, wobei versus von lat. vertere (wenden) herkommt. Während die oratio versa als rhythmisch und metrisch in sich gewendete Rede die Dichtung benennt, ist die oratio soluta als ungebundene Rede insofern Prosa, als sie direkt zum Ziel geht, also das zu Sagende ohne Umschweife formuliert. Diese Grundbestimmung scheint zunächst elementar und fraglos zu sein, wenngleich schon irritieren kann, dass die oratio versa als Gegenteil der Prosa mit versa eine Ableitung von vertere benutzt und auf diese Weise den Definitionsbestand just des Prosabegriffs aufruft. Das versus des Prosabegriffs hängt auch mit dem Wort ›Vers‹ zusammen. Offenkundig ist der Prosabegriff schon vom Wortverstand her mit seinem Gegenteil verbunden. Im Handbuch der literarischen Rhetorik von Heinrich Lausberg findet sich im terminologischen Register der folgende Eintrag: prosa – der Terminus prosa (oratio) bedeutet eigentlich ›nach vorne gekehrte Rede‹ (provorsa). Er steht im Gegensatz zum versus, der die Wiederkehr des gleichen regelmäßigen Metrumablaufs bezeichnet. Vgl. auch Apul. flor. 18 p. 91 et prorsa et vorsa facundia ›in Prosa und in Versen‹. In der Prosa handelt es sich also um einen immer weiter nach vorne gekehrten Redefluß, dem die Wiederkehr fremd ist. Die reinste Form der Prosa ist so die numerus-lose oratio perpetua, während der kyklische Charakter der Periode und ihre Numerus-Bindung eine kunstvolle, gemäßigte Annäherung an den Vers darstellen. Hierbei soll das ›Nach-vorne-Gekehrtsein‹ der Prosa vor der kunstlosen ›Flucht nach vorne‹ (fugere, errare) bewahrt werden. (Lausberg 1990, 789)
Diese rhetorische Bestimmung von Prosa etabliert vor allem ein Bild, aber ein durchaus rätselhaftes. Einsichtig ist, was eine gewendete Rede in Versen ist, nicht aber, was es mit der Formulierung ›nach vorne gekehrt‹ auf sich haben kann. Etwas kann geradeaus gerichtet sein, aber dann ist es ja gerade nicht gekehrt. Wenn die Ausrichtung nach vorne eine Kehre ist, dann scheint in der Bildkonstruktion etwas schief zu liegen. Vermutlich ist Lausberg hier mehr oder weniger unbewusst in eine aufschlussreiche etymologische Falle geraten. Das Wort provorsa, dessen Abkürzung prosa ist, lässt sich in einer anderen Nuancierung ausdeuten als in der referierten Grundbestimmung. Liest man lat. pro im Sinne von ›für‹ und lat. versus als ›gegen ... hin‹, dann heißt provorsa wortwörtlich: gegen die Drehung hin oder für die Drehung/Wendung.10 Als verschliffene
10 Eine grammatikalische Bemerkung: Die Präposition pro verlangt von einem ihr zugeordneten Substantiv den Ablativ. Die Lesart ›für den Vers‹ bzw. ›für die Wendung‹ müsste korrekt pro versu heißen. Adjektivische oder adverbiale Formen, in denen pro- im übertragenen Sinne als ›für‹ auftaucht, sind selten nachweisbar. In aller Regel ist immer die Richtung nach vorn gemeint. Die Verstärkung des Kehremoments würde im Lateinischen mit dem Präfix per- ausgedrückt, also: perversus -a -um. Insofern bleiben die Bemerkungen zu einer Gegenlektüre von provorsa spekulativ, obwohl es auch Belege für eine Verwendung des Präfix pro- im Sinne von für gibt.
3.2 Rhetorik
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Form von provorsa ist Prosa also nicht umstandslos das Geradeausgehen, sondern vielmehr recht kompliziert gegenwendende Wende. Das Wort Prosa geht von der Drehung oder der Wendung aus und dreht sie noch einmal, um erst quasi durch eine doppelte Verneinung der Wendung zum Geradeausgehen zu kommen. Deshalb wohl hat Lausberg diese seltsam gewundene und gegen die Bildevidenz sich richtende Formulierung vom ›Nach-vorne-Gekehrtsein‹ gewählt. Das Geradeausgehen scheint keine einfache Sache zu sein: Schon das Gehen als solches, sogar jeder Schritt, ist primär und vor allem ein jeweils verhindertes und aufgefangenes Hinfallen, so eine Kant zugeschriebene, von Schopenhauer aufgenommene Behauptung. Wenn Prosa geradeausgeht, dann deshalb, weil sie die Wendung der Poesie noch einmal gewendet oder gebogen hat. So gelesen, ist Lausberg gewiss überinterpretiert. Aber es handelt sich um die interessantere Lesart, ein geradezu theorieintensiver Stolperstein. Die Gedankenfigur führt zu einer aufschlussreichen Überbietungsformel: Prosa ist keineswegs eine anfängliche Richtung der Sprache auf eine Sache, sondern vielmehr zweite Reflexion vorangehender poetischer Rede. Prosa hat die Versform der Dichtung immer schon in sich reflektiert und aufgehoben. Vielleicht kann sie deshalb auch poetisch sein. Provorsa ließe sich in diesem Sinne auch als Votum für (pro) die Wendung lesen, und dies wäre dann schlichtweg das Gegenteil zum Geradeausgehen. Im Wort selbst steckt intensiv ein Gegensinn zu seiner nur vermeintlich wörtlichen Primärbedeutung. Lausberg gibt weitere wichtige Stichwörter: Periode und Numerus. Die Periode ist der Name für das gegliederte Satzgefüge, in dem die sprachliche Figur des Gedankens durch die Anordnung der Satzelemente mit Wohlklang und rhythmischer Eingängigkeit ausgedrückt werden soll. Es geht dabei vor allem um die rhetorische Anordnung der Wortverbindungen, die möglichst aus relational zueinander passenden Verhältnissen entspringen sollen (Quintilian IX 4,32ff.). Numerus gehört bei Quintilian ebenfalls zur Wortfügungslehre; dazu zählen die Versfüße, die auch in der Prosa vorkommen können (Quintilian IX 4,45ff.). Diese beiden Begriffe beschreiben Verfahrensweisen, welche die Prosa von sich aus haben kann und die nicht nur mit einer gewissen Lizenz von der Poesie geborgt sind. Sie gehören zu dem, was Kunst der Prosa genannt wurde. Roman Jakobson zielt mit seinem Begriff der grammatischen Figur auf solche Phänomene ab: Die Verteilung von Buchstaben im Satzgefüge oder in der Texteinheit oder auch die Verteilung von Konsonanten und Vokalen folgt bei nicht wenigen Texten einer gewissen Musterhaftigkeit, die sich durch schieres Auszählen statistisch erhärten lässt. Ferner lässt sich Regelmäßigkeit auf der Ebene der Wortgruppen, etwa bei der Abfolge von Substantiven, Verben und anderen Wortgruppen oder in der Verkettung von satzmorphologischen Einheiten wie zum Beispiel der Relation von Haupt- und Nebensatz feststellen.
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3 Prosabegriffe: Definitionen
Die Wichtigkeit der Rhetorik für die Frage nach der Prosa lässt sich nicht eindeutig bestimmen. In einer gewissen Weise kann man sagen, dass die ganze Rhetorik als Prosatheorie im Sinne der Kunst der Prosa gelesen werden kann, da sie weithin die möglichst kunstvolle Verfertigung nicht poetischer Rede zum Gegenstand hat. Diese Deutung findet eine Bestätigung darin, dass nach dem Ende der klassischen Rhetorik im achtzehnten Jahrhundert ihre Fortsetzung in dem im neunzehnten Jahrhundert aufblühenden Schrifttum zur Stilistik zu finden ist. Diese Lehrbücher zur Stilistik haben im Wesentlichen Prosatexte zum Gegenstand. Theodor Mundts Die Kunst der deutschen Prosa (1837) ist dafür ein beispielhafter Text. Andererseits aber finden sich in den klassischen Rhetoriken zum Stichwort Prosa selbst nur relativ wenige Stellen (Weissenberger 2005, 321f.), sodass sich auch behaupten lässt, dass die Rhetoriken den Gegenstand Prosa eigentlich nicht im Blick gehabt, sondern immer nur bestimmte Redeweisen (genera dicendi) bedacht haben, also dezidiert Rede (oratio) und nicht Prosaschrift. Es scheint in den Rhetoriken ein implizites Verbot poetologischer Selbstreflexion vorzuliegen: Dass sie selbst in Prosa geschrieben sind und doch den Prosabegriff nur marginal erwähnen, hält in der Unterscheidung von oratio als Gegenstand und Prosa als Schreibverfahren die Unterscheidung von Objektund Metasprache fest. Die vergleichsweise seltenen Einlassungen der klassisch-rhetorischen Tradition zum Prosabegriff lassen sich daher leicht angeben. Stellvertretend kann die wichtige Bemerkung von Cicero angeführt werden: Die Prosarede hat mehr Freiheit und ist tatsächlich so ungebunden, wie man sie nennt; doch nicht in der Art, daß sie sich verflüchtigt und verwirrt, sondern so, daß sie sich auch ohne Fesseln selbst das rechte Maß zu setzen weiß. Denn darin bin ich in einer Meinung mit Theophrast, der glaubt, daß eine Rede, wenn sie ausgefeilt und in gewissen Proportionen gehalten sei, nicht streng gebunden, sondern eher locker rhythmisiert sein müsse. (Cicero, De oratore III, 184)
In diesem Zitat taucht das Moment der geistigen Freiheit auf. Gegenüber den strengen Formregeln der Dichtung hat die Prosa eine geschmeidigere Bewegungsmöglichkeit für die Artikulation von Sachverhalten. Die lockere Rhythmisierung unterstützt diese freiere Bewegung und macht aus der Gedanklichkeit wiederum etwas, wofür die Kunst der Prosa zuständig ist. Diese Zwischenstellung zwischen gedanklicher Beweglichkeit und rhythmischer Darstellung mag es sein, die später in Hegels Formulierung vom Rhythmus der Sache selbst, dem der spekulative Satz nachzugehen habe, ein Echo gefunden hat (Hegel, Werke III, 59; V, 50).
3.3 Herder
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3.3 Herder Innerhalb der alteuropäischen Poetik ist die Dichtungslehre für solche Sprache zuständig, die gebunden, also versifiziert ist. Obwohl es seit dem Spätmittelalter Prosaromane gibt, findet der Roman und mit ihm die Prosa erst spät Eintritt in den poetologischen Diskurs. Es ist das achtzehnte Jahrhundert, in dem im Gefolge der entstehenden Romantheorie – zuerst: Christian Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman (Leipzig 1774) – zunehmend auch über den Begriff der Prosa als einer poetischen Dimension nachgedacht wird. Dass dabei der Bezug auf die antiken Rhetoriken zentral bleibt, kann nicht überraschen. Der erste Autor, der nach einer Vielzahl von meist nur mit kurzen Bemerkungen auftretenden Vorgängern intensiv über Prosa nachgedacht hat, ist Johann Gottfried Herder. Sein Prosabegriff11 findet sofort zu einer erheblichen Komplexität. Herder kreuzt als einer der ersten Autoren in der Geschichte der deutschsprachigen Poetik und Ästhetik geschichtsphilosophische mit ästhetiktheoretischen Überlegungen. Seine Geschichtsphilosophie basiert auf der Metapher von den Lebensaltern, sie findet sich als solche schon früher, unter anderem sehr zentral in Lessings Erziehung des Menschengeschlechts (1780). Aber Herder macht daraus eine sehr viel umfassendere Theorie, indem er anthropologische Begriffe auf die geschichtliche Abfolge projiziert und damit eine Parallelität von Ontogenese und Phylogenese behauptet (vgl. dazu Gaier 1987). So beginnt in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) nach seiner Konstruktion die europäische Geschichte im Morgenland mit einem Menschheitszustand, der vor allem durch die Vorherrschaft der Sinnlichkeit geprägt ist. Der geschichtliche Fortschritt tritt dann nach dem Vorbild der translatio imperii seine Wanderschaft an und gelangt über Ägypten nach Griechenland, wo das gemäßigte Klima und das ausgeglichene Menschentum dazu führen, dass sich die Sinnlichkeit zu einer schönen Einbildungskraft oder Phantasie fortentwickelt. Mit dem nächsten Schritt tritt als neuer Akteur Rom auf die Weltbühne: Berechnung, militärisches Kalkül und striktere Gesellschaftsorganisation führen dazu, dass nunmehr der Verstand die Vorherrschaft übernimmt. Roms mundaner Universalismus wird schließlich durch das Christentum transformiert und überwunden, mit ihm verwandelt sich der verständige Mensch in den vernünftigen, durch den Bezug auf die Transzendenz entsteht Geist.
11 Zu Herders Prosabegriff liegen vor: Gaier 2008 und Simon 2013, 83–116. Die folgenden Seiten beziehen sich auf diese beiden Studien.
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3 Prosabegriffe: Definitionen
Man sieht, dass die Abfolge von Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Verstand, Vernunft und Geist ein Durchgang durch die vermögenstheoretische Gliederung des Menschen ist, wobei jeweils einem dieser Vermögen eine bestimmte Weltepoche zugeordnet wird. Zu dieser Zuordnung kommt eine weitere, Herder spricht seiner Grundmetaphorik folgend von den Lebensaltern der Sprache, so jedenfalls lautet ein Kapitel aus Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend von 1767 (Herder DKV I, 181–184). Die Kindheit der Sprache konzipiert Herder tatsächlich nach der kindlichen Sprache, sie bringt raue und hohe Töne hervor und ist mächtig an Akzenten; Töne und Gebärden werden von Leidenschaften und Empfindungen diktiert, in der Kindheit herrscht die Sprache des Affekts, sie ist noch vollkommen in ihre Sinnlichkeit verstrickt. Zu dieser Sprache gehört auch der erste wilde Gesang der Empfindungen, begleitet von einer lebhaften Pantomime (Herder DKV I, 181f.). Herder denkt dabei auch an die Riten der Urvölker. Mit Ulrich Gaier kann dies die Logik des sinnlichen Affekts genannt werden (zu den ›Logiken‹: Gaier 1987, 203–209). Soweit sich das Kind zum Jüngling weiterentwickelt (Herder DKV I, 182f.), wird die Sprache regelmäßiger, der wilde Gesang wird zu einem lieblichen Tönen, die Sprache findet zu schönen Bildern, die Leidenschaft der bloßen Sinne wird nun also zu einer schönen Einbildungskraft und Phantasie veredelt. Dieser Zustand der Sprache entspricht der griechischen Denkart, es ertabliert sich die Logik der Einbildungskraft. Im männlichen Alter entsteht die schöne Prosa (Herder DKV I, 183f.). War noch die wilde Sinnlichkeit von leidenschaftlichen Ausrufen und die schöne Einbildungskraft von poetischen Wendungen beherrscht, so tritt nun die Periode hervor, die wohlgeregelte Konstruktion. Die Römer erteilten stärker als die Griechen Grammatikunterricht, die Rhetorik hat, als implizite Theorie der Prosa (s.o.), diese Logik des Verstandes ausformuliert. Im hohen Alter schließlich weicht die Schönheit und macht der Richtigkeit Platz (Herder DKV I, 184). Die Sprache wird poliziert, die philosophische Präzision in der Begriffsarbeit dominiert die Logik der Vernunft und des Geistes. Nach dieser Beschreibung, die Herder einen »philosophischen Sprachenroman« (Herder DKV I, 600) nennt, ist er selbst Teil dieses Greisenalters der Kultur und der Sprache. Unter diesen Bedingungen ist es schwer, überhaupt noch Dichtung zu schreiben. Es scheint, als sei dieses Privileg mit dem jugendlichen Zeitalter der Griechen unwiederbringlich verloren gegangen. Aber Herder hat auf diese niederschmetternde zivilisationskritische Diagnose eine überraschende anthropologische Antwort. Wir alle, so sein Argument, haben in unserer eigenen Entwicklung die Erfahrung eines wilden und archaischen Zustandes gemacht, als
3.3 Herder
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wir kleine Kinder waren; wir haben die Erfahrung einer schönen Einbildungskraft gemacht, als wir, um im Duktus zu bleiben, Jünglinge oder Jungfrauen waren; wir haben sodann mit einigem Idealismus unser Verstehen der Welt vorangetrieben; wir sind schließlich im gereiften Mannesalter und im Übergang zur Vergreisung zwar weit entfernt von der ehemaligen Sinnlichkeit, aber mit Fragen der Vernunft und des Geistes beschäftigt. Die Schlussfolgerung lautet, dass die anthropologisch und semiotisch bis zum Greisenalter fortgeschrittene Menschheit nur in ihre eigene anthropologische Vergangenheit hineinhorchen müsse, um in einer jeweiligen Sprache Spuren aller dieser Zustände aufzufinden. Die vergangenen Zustände sind nicht gänzlich verloren, sie gehören dem Bereich lebensgeschichtlicher Erfahrungen an, die jeder Mensch am eigenen Leibe vollzogen hat. Und sie liegen in der Sprache selbst vor, in den Tiefenschichten ihrer Zeichen. Erfahrungen kultureller Andersheit sind mithin nicht hinter einer Alteritätsschwelle verloren, sondern bleiben im ontogenetischen Repertoire der eigenen sprachlichen Anthropogenese verankert. Herders Aussage, dass wir geschichtlich im Zustand der Prosa gefangen wären, ist mithin nur die eine Seite der skizzierten Historisierung der Vermögenstheorie und ihrer semiotischen Korrelate. Sie wird ergänzt durch die Bestimmung der Prosa, poetische Charakteristika in sich aufnehmen zu können, ohne dass der Grundcharakter der Prosa dabei verloren ginge. Wilde Ausrufe, Inversionen, die schöne Rhythmik einer wohl gestalteten Periode und die begriffliche Präzision von Verstand und Vernunft können koexistieren. Eine solche Prosa wäre in sich vielstimmig, sie würde zugleich der Logik des Sinnlichen, der Logik der Einbildungskraft und der Logik des Verstandes und der Vernunft folgen, mithin Bildzeichen, Klangzeichen der Poesie und Begriffszeichen der Philosophie in ein und demselben textuellen Körper miteinander verbinden. Es würde sich um einen mehrfach kodierten Text handeln, in dem verschiedene Zeichenregime, verschiedene Empfindungsweisen, verschiedene historische Mentalitäten und verschiedene anthropologische Gestimmtheiten übereinander liegen, sich durchdringen und zu einem komplexen Textganzen führen. Damit wird die Prosa zum Gefäß von Herders komplexer Geschichtsphilosophie und ihrer jeweiligen semiotischen Ausprägungen. Dieses Prosakonzept führt also schon bei Herder zu einem komplexen Begriff: Prosa kann die Freiheit des Gedankens und die Beweglichkeit der Gedankenbewegung, zugleich auch die Intensität einer sinnlichen Leidenschaft und die Schönheit einer rhythmischen Periode in sich enthalten. Damit ist Prosa ein hochkomplexes Schreiben, sogar der im Vergleich dazu eher einstimmigen Poesie überlegen. Herders ganze Überlegung führt letztlich dahin, wie er es als Prosaschriftsteller bewerkstelligen könnte, durch seine Schreibweise und zugleich durch seine kritische Begriffsarbeit eine solche vielstimmige Prosa für die deut-
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3 Prosabegriffe: Definitionen
sche Sprache zu instituieren. Wie kann man dem hölzernen Kanzleistil und der durch das Schullatein verbildeten Schriftsprache entkommen und so schreiben, dass man der Prosaiker bleibt, der man nun einmal ist, während zugleich sinnliche und poetisch-schöne Rede möglich sein sollen? Das Problem, das sich Herder stellt, wird mithin im ersten Schritt als Verlustgeschichte formuliert, als Verschwinden der poetischen Register und als Dominanz prosaischer Verständigkeit: Da die Sprache aus der Wildheit zur politischen Ruhe trat, war sie merklich von der prosaischen unterschieden: die stärksten Machtwörter, die reichste Fruchtbarkeit, kühne Inversionen, einfache Partikeln, der klingendste Rhythmus, die stärkste Deklamation – alles belebte sie, um ihr einen sinnlichen Nachdruck zu geben, um sie zur poetischen zu erheben. Aber da die Prose aufkam, die zuerst, wie Herodot, auch noch ihren Perioden, ohne Schwung und Fülle zerfallen ließ, da sie sich mehr zur Vollkommenheit bildete, entfernte sie sich von der sinnlichen Schönheit. Der Deutlichkeit wegen wurden die Machtwörter umschrieben, die Synonyme ausgesucht, bestimmt, ausgemustert, die Idiotismen gemildert: so wie das Völkerrecht jetzt im Staat zum Gesetz ward: so auch in der Sprache: man bildete eine Sprache nach der andern, mit der sie umgieng. Es entstand ein Adel, ein Pöbel und ein Mittelstand unter den Wörtern, wie er in der Gesellschaft entstand: die Beiwörter wurden in der Prose Gleichnisse, die Gleichnisse Exempel: statt der Sprache der Leidenschaft ward sie eine Sprache des mittlern Witzes: und endlich des Verstandes. So ist Poesie und Prose in ihrem Ursprunge unterschieden. (Herder DKV I, 185f.)
Aber zugleich wird aus diesem Zitat der Lösungsweg evident. Indem Herder hier nämlich seine Geschichtsphilosophie, seine Anthropologie und seine Theorie von den Lebensaltern der Sprache eingearbeitet hat, kann die Lösung nur darin bestehen, alle diese verschiedenen Schichten von Empfindungsweisen, geschichtlichen Zuständen und Zeichenregimen allesamt gleichzeitig in einem komplexen Sprachkörper wiederzubeleben, um so den ganzen Menschen darstellbar zu machen. Ein Textkörper müsse entstehen, der selbst eine Ganzheit aus allen Möglichkeiten der Sprache ist. Es ist evident, dass Herder eben eine solche Prosa zu schreiben versucht, vor allem in seiner Hauptschrift Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774/5). Somit besteht der zweite Schritt darin, nach der Verlustgeschichte die Zusammenführung der verschiedenen historischen Mentalitätslagen und ihrer Sprachmöglichkeiten zu postulieren. Prosa ist bei Herder der Name für eine Schreibweise, die den poetischen Geisteszustand darstellen kann, dabei aber reflektierend und vernünftig bleibt. In einer Diskussion der orientalischen Poesie – gemeint ist die Psalmendichtung des Alten Testaments – etwa geht es darum, durch poetische Prosa orientalische Poesie zu simulieren:
3.4 Jean Paul
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Welch ein Unterschied ist es nun, in einer durchaus prosaischen und philosophischen Sprache, deren Akzente lange nicht so tönend sind, wo man schreibt, gelesen zu werden, wo, wenn die Musik sich mit der Poesie verbindet, jene die herrschende wird, in dieser Sprache eine orientalische Poesie durch poetische Prose nachzuahmen [...]. (Herder DKV I, 289)
Poetische Prose: Dieser Terminus, eigentlich eine Unmöglichkeit, ist es, auf den es bei Herder hinausläuft, und es ist der Terminus, der zu Jean Paul weiterleitet. Festzuhalten ist an dieser Stelle: Herders Theoriebildung eröffnet der deutschsprachigen Poetik – und im engeren Sinne: der Theorie der Prosa – die Möglichkeit einer komplexen Mehrfachkodierung, in der die Latenzschichten vergangener Mentalitätsformen und ihrer sprachlichen Artikulation sagbar werden. Prosa ist mit und seit Herder vielstimmig, zugleich aber rational, indem sie in der Lage ist, wilde Affekte und schöne Phantasie simulierend zu wiederholen. In seinen frühen Entwürfen zur Poetik der Ode wird diese Reflexionsstruktur der sinnlich-schönen Empfindungsweise, die durch ihre ›prosaische‹ Simulation entsteht, deutlich markiert: Herder spricht hier davon, dass der heutige Odendichter keine genuine Begeisterung mehr haben kann, vielmehr gilt: »Ich dichte also die Ode vor dies poetische Gefühl [...], so daß ich mich künstlich hintergehe mit der Wahrheit« (Herder DKV I, 68). Die prosaisch gewordene Einbildungskraft setzt sich in eine »künstliche Empfindung« (Herder DKV I, 69). Die »natürliche[n] Folge der Seelenkräfte« wird somit zu einer durch »Kunst« simulierten Inszenierung, weil »bei uns die Empfindung erstorben« ist (Herder DKV I, 71). Was Herder hier zur Ode ausführt, verweist auf das prosaische Fundament moderner Dichtung. Während aber die moderne Ode durch bewusst induzierten Selbstbetrug zustande kommt, kann der Prosatext als in sich vielstimmiges Gewebe beides tun: frühere ›Logiken‹ simulativ reinszenieren und sie zugleich in reflektierendrationaler Poetik artikulieren. Prosa wird somit zu dem eigentlichen Ort der Dichtung, in dem poetische Praxis und poetologisches Wissen einander vielstimmig durchdringen. Dies ist ein komplexer Prosabegriff. Es erstaunt durchaus, dass er in dieser Weise schon den frühesten poetologischen Überlegungen zum Prosabegriff innewohnt.
3.4 Jean Paul In der deutschsprachigen Theoriebildung zur Dichtung – sei es Poetik, sei es Ästhetik – ist Jean Pauls Vorschule der Ästhetik der einzige Text, der die Kopplung von philosophischer Ästhetik und Theorie der Prosa vornimmt und in
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3 Prosabegriffe: Definitionen
einem qualifizierten Sinne Theorie der Prosa genannt werden kann.12 Diese trockene Vorbemerkung lässt sich durch eine einfache Recherche begründen. Das Wort Prosa kommt in der Vorschule inklusive aller Varianten (Komposita, adjektivische Verwendung etc.) 125-mal vor. Einem oberflächigen Blick, wie ihn Karlheinz Barck in seinem Lexikonartikel vorzieht, erscheinen die Begriffsverwendungen Jean Pauls konventionell (vgl. Barck 2003, 94), sodass man sie als bloße Vorformulierung des Prosabegriffs verstehen könnte, der dann später in der Hotho’schen Version der Hegel’schen Ästhetik auftaucht. Nämlich: ›Prosa‹ meint nicht versifizierte Rede im Gegensatz zur ›Poesie‹ als versifizierter Rede, ›prosaisch‹ meint das Gewöhnliche und Trockene, ›poetisch‹ das Innige und Herzvolle. Die eigentliche Pointe des Prosabegriffs der Vorschule erscheint erst, wenn man diese vier Bedeutungen in einer Kreuzklassifikation notiert: Tab. 1: Bedeutungen des Prosabegriffs in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik. poetisch (inspiriert, künstlerisch, Geist und Herz)
prosaisch (unkünstlerisch, Prosa der Verhältnisse)
Poesie (gebundene Rede)
Poetische Poesie
Prosaische Poesie
Prosa (ungebundene Rede)
Poetische Prosa
Prosaische Prosa (unmarkiert)
Man kann nun recht genau ablesen, wovon die Vorschule der Ästhetik eine Theoriebildung sein will. Die prosaische Prosa ist der pure Gebrauchstext, der nicht Gegenstand der Vorschule sein kann, da er den Bereich der Dichtung
12 Im Rahmen der gegenwärtigen Buchreihe »Theorie der Prosa« (De Gruyter) ist ein Band, der Jean Pauls Vorschule gewidmet ist, in Planung. Ihm obliegt es, die Bemerkung, die Vorschule sei nicht nur eine, sondern die zentrale Prosatheorie der deutschsprachigen Poetik und Ästhetik, plausibel zu machen. Die knappen Ausführungen zu Jean Paul beziehen sich auf ausführlichere Darlegungen in dem ausstehenden Vorschule-Band. – Die unten präsentierte kreuzklassifikatorische Tabelle ist aus den Diskussionen im Zusammenhang mit diesem Band entsprungen; namentlich Jodok Trösch sei für die einleuchtende Formalisierung gedankt. 13 Vgl. die Überschrift der Kantate-Vorlesung (JP I/5, 442). 14 »Der ganze Parnaß steht voll von Poesien, die nur helle, auf Verse wie auf Verstärkungflaschen gezogne Prose sind.« (JP I/5, 51) 15 »Auf der andern Seite kann unter einer rechten Hand der Roman, diese einzige erlaubte poetische Prose, so sehr wuchern als verarmen.» (JP I/5, 249). Vgl. auch die Überlegungen im Kapitel zum Wohlklang der Prose (JP I/5, 322–330).
3.4 Jean Paul
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nicht erreicht. Die prosaische Poesie ist in der Vorschule ein Gegenstand der Polemik. Gemeint ist hier eine Poesie, deren Substanz nicht mehr poetisch ist und die durch äußerliche Anwendung von Kunstmitteln und rhetorischen Kniffen so tut, als ob sie sich den Namen der Poesie anmaßen könnte. Die Polemik richtet sich in der Vorschule gegen die sogenannten Stilistiker, sie sind die Vertreter der prosaischen Poesie. Die poetische Poesie würde in der poetologischen Tradition an der Spitze des Schemas stehen müssen, es würde sich um diejenige versifizierte Rede handeln, deren Versform mit ihrer poetischen Substanz übereinstimmt. Überraschenderweise aber schließt Jean Paul die poetische Poesie aus dem Bereich des Geschriebenen aus und deutet sie als reinen Geist, wie aus der Charakteristik von Herder hervorgeht: War Er kein Dichter – was Er zwar oft von sich selber glaubte, eben am homerischen und shakespeareschen Maßstab stehend, oder auch von sehr berühmten andern Leuten –, so war Er bloß etwas Besseres, nämlich ein Gedicht, ein indisch-griechisches Epos, von irgendeinem reinsten Gott gemacht. (JP I/5, 451f.)
Herder ist hier der Geist, die Verkörperung des Gedichtes, obwohl er kein Dichter ist. Der höchste Begriff der Poesie steht in der Vorschule oberhalb der in Form eines geschriebenen Textes erscheinenden Dichtung. Damit liegen eine Unterbietung (prosaische Prosa) und eine Überbietung (poetische Poesie) der Dichtung, sowie eine polemisch abqualifizierte Dichtung (prosaische Poesie) vor. Diese drei Optionen können folglich nicht Gegenstand der Theoriebildung der Vorschule sein, weshalb an dieser Stelle klar wird, dass es die poetische Prosa (Herders Terminus, s.o.) sein muss, der das Interesse gilt. Jean Pauls Vorschule der Ästhetik ist eine Prosatheorie, und zwar eine solche, die eine philosophische Ästhetik zu ihrem Fundament macht und auf die Gnoseologie der Aisthesis mit einer rhetorisch informierten Sprachtheorie der poetischen Selbstreferenz antwortet. Diese Begriffskonstellation ist aufschlussreich. Anhand der Vorschule lässt sich lernen, dass eine Theorie der Prosa einen Weg finden muss, das fremdreferentielle Moment der Mimesis und damit auch den Formbegriff zu umgehen, um eine Korrespondenz zwischen einer opaken Dichte vor der Form (als Aisthesis) und einer Opazität nach der Form (als verdichtete Selbstbezüglichkeit) herzustellen. Prosa ist hier der Name für eine solche durch sprachliche Selbstreferenz gewonnene poetische Dichte. Jean Paul führt dieses Programm konsequent durch. So lässt sich nachweisen, dass er systematisch argumentative Konstellationen, für die das achtzehnte Jahrhundert den Formbegriff vorsieht, durch den Stoffbegriff besetzt (Simon 2018b). Tatsächlich ist die reine Stofflichkeit intransparent, chaotisch, waldförmig, dicht. Jean Paul versucht, ein Poet der Stofflichkeit zu sein, sowohl auf der Ebene seiner anthropologischen Überlegungen als auch
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3 Prosabegriffe: Definitionen
auf der Ebene seiner poetischen, nämlich selbstreferentiellen Verfahren. Gegen die Transparenz der Form setzt er den Reichtum, mit Baumgarten zu reden: die Lebendigkeit des Intransparenten, also des Stoffes. Der Prosabegriff Jean Pauls bezieht sich auf eine solche dichte Stofflichkeit, aber textuell mit poetischen Verfahren. Analog zu dieser aufschlussreichen Begriffsanordnung in der Vorschule der Ästhetik ist die Gliederung des Feldes der Prosabegriffe anzusetzen. Man kann hier die schon diskutierte Gliederung in die drei Gegenstandfelder des Prosabegriffs problemlos wiedererkennen. Die Vorschule der Ästhetik gibt damit einen wichtigen Fingerzeig für die Bestimmung dessen, wovon eine Theorie der Prosa sinnvollerweise zu handeln hat: Tab. 2: Gegenstandsfelder des Prosabegriffs in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik. . Prosa als Sachtext (Gebrauchsanweisungen, Behördentexte etc.)
→ Textlinguistik
bei Jean Paul: Prosaische Prosa
. Prosa als Begriff im Zusammenhang literarischer Formen
→ Kunst der Prosa, Rhetorik und Stilistik
bei Jean Paul: Prosaische Poesie anhand von nicht versifizierten Texten
. Prosa als wilde Semiose und hypertrophe Textualität
→ Theorie der Prosa
bei Jean Paul: Poetische Prosa
3.5 Hegel Hegels Begriff der Prosa ist komplex; es sei an dieser Stelle, immer noch im Kontext einer Einleitung, nur ein Gedanke herausgestellt. In der von seinem Schüler Hotho herausgegebenen – oder genauer gesagt: kompilierten und weitergeschriebenen – Ästhetik findet sich diese Passage: Weiter hinauf in der unmittelbaren Wirklichkeit der geistigen Interessen erscheint die Abhängigkeit erst recht in der vollständigsten Relativität. Hier tut sich die ganze Breite der Prosa im menschlichen Dasein auf. Schon der Kontrast der bloß physischen Lebenszwecke gegen die höheren des Geistes, indem sie sich wechselseitig hemmen, stören und auslöschen können, ist dieser Art. Sodann muß der einzelne Mensch, um sich in seiner Einzelheit zu erhalten, sich vielfach zum Mittel für andere machen, ihren beschränkten Zwecken dienen, und setzt die anderen, um seine eigenen engen Interessen zu befriedigen, ebenfalls zu bloßen Mitteln herab. Das Individuum, wie es in dieser Welt des Alltäglichen und der Prosa erscheint, ist deshalb nicht aus seiner eigenen Totalität tätig und nicht aus sich selbst, sondern aus anderem verständlich. Denn der einzelne Mensch steht in der Abhängigkeit von
3.5 Hegel
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äußeren Einwirkungen, Gesetzen, Staatseinrichtungen, bürgerlichen Verhältnissen, welche er vorfindet und sich ihnen, mag er sie als sein eigenes Inneres haben oder nicht, beugen muß. Mehr noch ist das einzelne Subjekt für andere nicht als solche Totalität in sich, sondern tritt für sie nur nach dem nächsten vereinzelten Interesse hervor, das sie an seinen Handlungen, Wünschen und Meinungen haben. Was die Menschen zunächst interessiert, ist nur die Relation zu ihren eigenen Absichten und Zwecken. (Hegel, XIII, 197f.)
Hegel formuliert hier den gängigen Prosabegriff, der sich außerhalb der ästhetiktheoretischen Begriffe in der Umgangssprache etabliert hat. Benutzt wird er insbesondere adjektivisch, wenn etwa von prosaischen Verhältnissen als der Sphäre des Bedingtseins und des Fremdbestimmtwerdens gesprochen wird. Wenn Hegel in seiner Rechtsphilosophie die bürgerliche Gesellschaft als System der Bedürfnisse definiert (Hegel VII, 346–360), dann ist das Subjekt, das in diese arbeitsteilige Struktur eingebunden ist, ein prosaisches Subjekt, sofern es sich aus dieser Bedürfnisstruktur heraus versteht. Es lässt sich in diesem Sinne von der Prosa des Lebens sprechen. Sofern Menschen um ihre bürgerlichen Bedürfnisse besorgt sind, einem Beruf nachgehen, Geld verdienen, ihren Besitzstand zu erreichen versuchen und ihn verwalten, Verbindlichkeiten jeder Art eingehen und also in ein interdependentes System eingebunden sind, gelten sie als prosaische Existenzen. Herzensbedürfnisse, für die dann das Wort poetisch benutzt wird, werden durch solche prosaischen Verhältnisse zurückgedrängt und schließlich ganz in die Innerlichkeit verschoben. So entsteht die Opposition zwischen einer innerlichen Poesie des Herzens und einer äußerlichen Prosa des Verstandes als dem Dualismus des bürgerlichen Lebens. Diese Begriffe sind keine poetologischen und auch keine ästhetiktheoretischen, aber sie spielen in der ganzen Debatte um den Prosabegriff immer wieder eine wichtige Rolle und haben vor allem im Kontext des poetischen Realismus Eingang in dichtungstheoretische Debatten gefunden (vgl. dazu insbes. Fues 1990). Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Begriff Prosa des Lebens, der hier im vorästhetischen Bereich auftaucht, im Zusammenhang der Theorie der Prosa eine andere und wichtige Rolle spielen wird. Die fortgeschrittene und avancierte Prosa entdeckt nämlich, dass die sogenannte Normalität des bürgerlichen Daseins abgrundtief verstört ist. Die Behauptung wird lauten, dass alltägliche Kommunikationen bei einer genaueren Betrachtung weithin versehrt, grotesk und inkohärent sind. Inszeniert werden zwar Normalitätsdispositive, hinter ihnen aber toben Interessen und Begierden in ungeregelter Weise, sodass sich Wortwechsel bei genauer Analyse nicht selten als ein aneinander Vorbeireden entpuppen. Fast alle Prosaautoren sind in diesem Sinne zynisch und negativistisch geschärfte Realisten, indem sie das absurde Treiben des Alltags wörtlich nehmen, bis in die sich öffnenden Abgründe hinein. Der Begriff Prosa des Lebens, der im Hegel’schen Kontext das durchaus auch gere-
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3 Prosabegriffe: Definitionen
gelte System der Bedürfnisse meint, erfährt also unter anderen Beobachtungsdispositiven eine Umdeutung, indem die Bedürfnisse keinesfalls gepflegten Regeln folgen, sondern vielmehr einer wilden Semiose.
3.6 Agamben In seinem kleinen Büchlein Idee der Prosa schreibt Agamben (2003, 21–24) einen gleichnamigen Passus von wenigen Seiten. Seine Grundüberlegung besteht in einer Überbietungsfigur. Während der Vers durch Zäsur oder Enjambement, die Wendung am Ende der Zeile, definiert ist und seine ihn konstituierende Formreferenz nur auf der Ebene dieser gesamten sprachlichen Sequenz der Verszeile erlangen kann, besitzt die Prosa die Möglichkeit, die Wendung zu jeder Zeit vollziehen zu können: in jeder Untergliederung in der Sequenz, in jedem Wort, mit jedem Buchstaben. Verssprache könnte dies zusätzlich zur Modellierung der Verssequenz auch bewerkstelligen, aber es gehört nicht zu ihrer konstituierenden Charakteristik. Würde Verssprache umfangreich Selbstreferenzen unterhalb der Versebene aufbauen, dann würde sie wohl die gestalthafte Form des Verses gefährden. Prosasprache aber kann die Wendung im sprachlichen Material permanent, unendlich selbstreferentiell und rekursiv vollziehen. Agamben weist darauf hin, dass die zugrunde liegende Bildlichkeit aus dem Ackerbau entstammt. Das Wort Vers kommt vom lateinischen versus und meint die Wende, die die Furche am Ende des Ackers vollzieht. Wenn der Acker gepflügt wird und ein Ochse den Pflug zieht, dann gibt es dafür das Wort Bustrophedon (βοῦς, bous »Ochse«; στρέφειν, strephein »wenden«), wörtlich: ochsenwendig. Aus dem gr. strephein leitet sich das Wort Strophe ab. Als bustrophedonische Schriftensysteme bezeichnet man vor allem frühe Keilschriften, bei denen am Ende einer Zeile der Sprung zur nächsten Zeile zunächst nach unten geht, um von dort aus in der Gegenrichtung zu verlaufen. Dieses Prinzip liegt der Blindenschrift zugrunde: Damit der Blinde nicht über die ganze Seitenbreite den Beginn der nachfolgenden Zeile ertasten muss, verlaufen die Schriftrichtungen immer abwechselnd von links nach rechts und von rechts nach links, jeweils unter dem letzten Wort einer Zeile wieder ansetzend. Prosa lässt sich mit bustrophedonischer Schrift vergleichen, also mit einer Schrifttätigkeit, die immer sofort an sich selbst vorbeikommt und zugleich in der einen und in der anderen Richtung verfährt. Die Verskunst des Gedichtes hingegen braucht aufgrund ihrer Formgerichtetheit immer wieder den erneuten Ansatz einer eigenen Zeile, weshalb der Vers erneut links anfängt und die Länge bis zur Zäsur als eine Formeinheit zugrundelegt. Prosa hingegen hat die Lizenz, jederzeit gegenwendig verfahren zu können. Tut sie das, dann verfährt
3.7 Plurale Bindungen
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sie selbstreferentiell und verhindert dasjenige, was im Gedicht überhaupt erst zur Form führt. Die spekulative Umdeutung des Wortes provorsa (geradeausgehend) zum Votum für (pro) die Wendung (vertere) vollzieht diese Gedankenfigur (s.o.). Interessanterweise also liegen die Etymologien für Vers und Prosa im selben Bildfeld, dem Ackerbau. Offenkundig deutet sich die Möglichkeit an, Prosa als die intensivere Selbstreferenz der Sprache gegenüber dem lyrischen Vers zu deuten. Giorgio Agambens Idee der Prosa ist, als dekonstruktive Lektüre des rhetorischen Prosabegriffs (s.o.), wohl die erste Formulierung dessen, was Prosa im avanciertesten Sinne zu sein vermag.
3.7 Plurale Bindungen Es sei ein letzter Kursus im Ensemble der vorbereitenden Bemerkungen unternommen. Nach der Gliederung des Feldes, dem kurzen Durchgang durch vorhandene Prosabegriffe und der vorerst nur trockenen Platzierung der Unterscheidung von Form versus Selbstreferenz, mag das close reading einer Prosapassage auch auf der Ebene ästhetischer Evidenzen das prosabezogene Theoriebedürfnis plausibel machen. Das kleine Exerzitium soll auch dazu dienen, die Idee der gebundenen Rede zu hinterfragen. In allen Definitionen von Prosa ist das zentrale Differenzkriterium die Bestimmtheit des Verses. Prosa sei ungebundene Rede im Gegensatz zur gebundenen in der poetischen Verssprache. Es lohnt sich, diesem zentralen Dogma mit einiger Skepsis zu begegnen. Wenn man von gebundener Rede in Bezug auf den Vers spricht, dann ist damit der Sachverhalt gemeint, dass der Vers durch das Metrum, gegebenenfalls durch den Reim und hinsichtlich seiner Länge durch die Zäsur als Sequenz definiert ist. Liegt zum Beispiel ein fünfhebiger Jambus (◡ – ) vor, dann sind damit zehn Silben gesetzt, durch Auftakt und Endvariationen ggf. auch elf oder zwölf. Das ergibt etwa fünf bis zehn Worte: Kennst du das Land? wo die Citronen blühn. Der nächste Vers wird dieses Schema grundsätzlich wiederholen: Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn? Damit entsteht eine Bindung zwischen den beiden Versen: durch ein identisches Metrum, durch die relativ gleiche Länge und in diesem Fall auch den Reim. Bindung ist hier also das Wort für gewisse Korrespondenzen, Analogien oder Äquivalenzen, etwa der Art, dass die Goldorangen im zweiten Vers an derselben Stelle stehen, an der im ersten Vers von Zitronen die Rede war. Wird im ersten Vers nach der Kenntnis des Landes gefragt, ist im zweiten Vers vom dunklen Laub die Rede, ein Hinweis darauf, dass sich in dem Herkunftsland ein dunkles Geheimnis versteckt. Entsprechend wird auch das unschuldige ›blühen‹ im zweiten Vers zu einem leidenschaftlichen ›glühen‹. Die Korrespon-
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3 Prosabegriffe: Definitionen
denzen sind sehr streng parallel angelegt. Es hat den Anschein, als würde die sprachliche Sequenz ein inneres Telos beinhalten, welches durch den zweiten Vers herausgearbeitet wird, aber dadurch den ersten Vers überhaupt erst bestimmt. Durch diese Parallelität entsteht Form. Giorgio Agamben (1990) hat in einem kleinen spekulativen Aufsatz mit dem Titel The End of the Poem darüber nachgedacht, welcher lyriktheoretische Status dem letzten Vers eines Gedichtes zukommt. Diesem nämlich folgt kein nachfolgender Vers mehr, der ihn als Vers definieren würde. Entsprechend müsste der letzte Vers eines Gedichtes immer auch als Prosasatz lesbar sein. Für sich genommen wäre die Frage: ›Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?‹ auch als unschuldige Prosasequenz lesbar. Erst durch die Versbindung, also durch einen darauf folgenden parallelen Vers wird rekursiv aus der ersten Sequenz die Vershaftigkeit ersichtlich. Für den letzten Vers eines Gedichts gilt dies jedoch nicht. Und damit ist jedes Gedicht an seinem Ende immer auch ein möglicher Prosasatz – so Agamben. Nun stellt sich die Frage, ob eine Prosasequenz tatsächlich ungebundene Rede ist. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der Terminus Rede als Übersetzung aus dem lateinischen oratio unglücklich ist. Besser würde man bei der Prosa den schriftgebundenen Begriff des Textes benutzen. Es sei eine kurze Exegese unternommen, um die Frage nach den textuellen Bindeformen aufzuwerfen: : »Da!« – Gay=Lussac erschien mit seinem beräderten Apparat. /: »Na endlich!« (Weil der Kerl noch zu murmeln wagte! Während ich seine Pferdefratze so betrachtete, entstand in mir tief=innen irgendwie der Wunsch nach ‹Sauerbraten› & Kartoffelklößen ‹auf thüringische Art› – was man denkt, ist tatsächlich völlig irrelevant: »Gib ihm’n Stump’m, Carlos.«: »Du so’ss mich nich immer ‹Carlos› nenn’n!«). Der=hier also zum einschalten. / Das der Knopp, falls mal der Stamm zu dick sein sollte; die Säge stecken bleibt, und die Sicherung raus springt; bong. / Dies die Kipp=Führung. /: »Und ja nich durch Nägel durchsägen! – Oder gar –« (und wie mißbilligend der Houynym auf unser scharmantes Wurzelholz zu blicken wagte!): »– S=teine. Die sich häufich in solchn S=tubbm findn.« (Hau schon ab, Freund!). – Allein mit dem Untier [...]
Mit dieser kleinen Sequenz beginnt das sechste Kapitel von Arno Schmidts kurzem Prosatext Kühe in Halbtrauer (Schmidt BA I/3, 345).16 Der pragmatische Handlungskontext ist schnell erklärt: Zwei Freunde sind zu ihrer in der Lüneburger Heide gelegenen Wochenendhütte gefahren und haben sich vorgenommen, Brenn-
16 Zu diesem Text existieren einige recht genaue Interpretationen, die im Folgenden dankbar aufgenommen und weiterentwickelt werden. Hinzuweisen ist insbesondere auf: Czapla 1993, 142–159; Goerdten 2011, 41–65.
3.7 Plurale Bindungen
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holz zu sägen, bevor wenig später die beiden Ehefrauen nachkommen. Dafür haben sie sich ausrangierte Eisenbahnschwellen besorgt, weil irgendwo in der Nähe ein Bahnkörper gerade erneuert wird. Schon diese beiden Wörter – Eisenbahnschwellen, Bahnkörper – ergeben durch Neukombination das Wort Schwellkörper. Die beiden haben mit einem örtlichen Bauern vereinbart, eine Motorsäge auszuleihen, um die Eisenbahnschwellen zerkleinern zu können. Die Szene setzt dort ein, mit dem Deiktikum »Da« wird auf den erscheinenden Bauern mitsamt Motorsäge hingewiesen. Die erste Lesart entziffert die rudimentäre Handlung: Ein grobschlächtiger Bauer – die beiden Freunde haben derlei Exemplare des Menschentums am Abend vorher in der örtlichen Kneipe beobachten können – tritt als geiler Lustsack (»Gay=Lussac«) mit einem ziemlich dicken Apparat auf. Diese Lesung erfolgt aus einer Phonetisierung des Textes: Spricht man die Schreibung »Gay=Lussac» phonetisch den Buchstaben folgend aus, liegt ›Lustsack‹ nicht allzu fern. Wahrscheinlich ist er auch noch homosexuell (›gay‹). Der Bauer ist verspätet, deshalb die Empörung: »Na endlich«. Der Hass auf die bäuerliche Bevölkerung findet Ausdruck in der Vorstellung, dass das Gesicht irgendwie an Sauerbraten und Kartoffelklöße auf thüringische Art erinnert, aber in betrügerischer Weise, sodass der Sauerbraten mit Pferdefleisch zubereitet wurde, denn der Kerl hat eine »Pferdefratze«. Das Pferd passt im Übrigen zu der sexuellen Lektüre, in deren Kontext die Fruchtbarkeit und Zeugungsfähigkeit just dieser Tiere gut einzuordnen ist. Der nächste Satz ist nun aber interessant: »was man denkt, ist tatsächlich völlig irrelevant«. Nachdem bislang zwei Lektüren im Spiel waren – eine, die die pragmatische Handlung rekonstruiert, und eine, die lauter sexuelle Anspielungen entdeckt –, tritt nun eine dritte, psychoanalytische Lektüre hinzu. Wenn das Denken irrelevant ist, dann deshalb, weil es im psychischen System vor allem die Funktion einer Abwehr und einer Verdeckung der eigentlichen Triebenergien besitzt. Menschen denken nach Freud nicht grundsätzlich das, was ihr innerstes Triebziel wäre, sondern sie verdrängen das Triebziel und legen eine kulturelle Schicht darüber, die Triebe abwehrend, sie verschiebend, verdeckend und in andere Handlungsziele übersetzend. Nach diesem Satz steht ein Doppelpunkt. Es müsste nach dem Doppelpunkt nun genau das folgen, was vor dem Doppelpunkt definiert wird, also ein Gedanke, der vollständig irrelevant ist, weil es um etwas ganz anderes geht. Der Ich-Erzähler fordert seinen Freund auf, dem Bauern einen Stumpen zu geben (»Gib ihm’n Stump’m, Carlos.«). Was meint er damit? Zunächst, umgangssprachlich, wäre es die Aufforderung ›gib ihm eine Ohrfeige‹. Zweitens: ›Biete ihm eine Zigarre an‹, denn, so die Gedankenfolge: Immerhin ist er gekommen und hat die Motorsäge gebracht. Drittens: ›Biete ihm deinen Penis an‹. Am Ende des Zitats findet sich die Umschreibung des Wortes »Stump’n« zu »S=tubben«. Hier ist es
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3 Prosabegriffe: Definitionen
die Bezeichnung für Wurzelholz, welches neben den schwellkörperartigen Holzträgern liegt und ebenfalls mit der Säge zerkleinert werden soll. Wenn also diese Schwellkörper und auch das Wurzelholz das männliche Genital bezeichnen und wenn die beiden Wörter durch gewollte Falschschreibung phonetisch aneinander angenähert werden, ist die Schlussfolgerung naheliegend, dass der Ich-Erzähler seinen Freund Carlos auffordert, dem der Homosexualität verdächtigten Bauern seinen Penis anzubieten. Der Freund Carlos, der übrigens gar nicht Carlos heißt, reagiert auf keine der drei möglichen Deutungen des vorangehenden Satzes, sondern gibt zu verstehen, dass er nicht immer Carlos genannt werden möchte. Hier kommt man nun tatsächlich nur mit der Arno Schmidt’schen Etymsprache weiter. ›Carlos‹ sei in zwei Teile zerlegt (car, los). Car ist das englische Wort für Auto, dieses steht für den Phallus. Aber leider hat Carlos dergleichen nicht vorzuweisen, wie die zweite Hälfte des Wortes deutlich macht: -los. Es geht hier also um eine mehrfache Verschiebung, denn wörtlich sagt der Name zunächst: ohne Auto. Weil aber Auto kulturell und im Schmidt’schen Lexikon ein Phallussymbol ist und weil eine sexuelle Lesart etabliert ist, lässt sich die symbolische Konnotation vom Auto auf den Phallus übertragen. Carlos, offenkundig nun unter dem Verdacht stehend, impotent zu sein, kann dem Lustsack keinen Penis anbieten und möchte deshalb nicht immer Carlos genannt werden. Tatsächlich ist also, was hier gesagt wird, an der Oberfläche des Gesagten irrelevant. Es handelt sich um ein Theater der triebenergetischen Kulissenschieberei. Es folgt die Gebrauchsanleitung für die Motorsäge, die einschlägige sexualisierte Umdeutung braucht nicht eigens ausgeführt zu werden. Interessant wird es im zweiten Teil des zweiten Absatzes. Das Wort »Houynym« entstammt der Satire Gullivers Reisen des englischen Satirikers Jonathan Swift, es handelt sich dort um sprechende Pferde, wobei das Wort selbst die Bedeutung ›wiehern‹ hat; ein Houynym ist also ein Wiehernder. Gemeint ist nach wie vor der Bauer mit dem Pferdegesicht, der, vital wiehernd vorgestellt, weiterhin für sexuelle Aktivität steht. Aber es geht nunmehr auch um eine Warnung, nämlich bezüglich des Umgangs mit dem phallischen Sägegerät. Zunächst sind da die Nägel. Arno Schmidt pflegt Ernst Bornemanns Lexikon Sex im Volksmund. Die sexuelle Umgangssprache des deutschen Volkes. Wörterbuch und Thesaurus (zuerst 1971) zu benutzen. Schlägt man dort beim Stichwort ›nageln‹ nach, dann ist die Bedeutung klar: Es handelt sich um die obszöne Bezeichnung für den Beischlaf (jemanden nageln, koitieren) (Bornemann 1991, Wörterbuchteil, o. Pag.).17 Nägel durchsägen
17 Es besteht die Schwierigkeit, dass Kühe in Halbtrauer 1961 erschienen ist, Bornemanns Lexikon erst 1971; insofern kann hier keine Referenz im philologischen Sinne vorliegen. Ich möchte
3.7 Plurale Bindungen
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wäre sexuell eine fatale Handlung, nämlich eine Kastration. Und auch auf die Steine ist zu achten, gemeint sein können hier nur die Hoden. Kurzum: Man benutze eine Motorsäge möglichst so, dass Penis und Hoden dabei nicht auch dran glauben müssen. Es liegt, so lässt sich hier zusammenfassen, ein Text vor, der ziemlich genau so funktioniert, wie sich die Psychoanalyse die Traumarbeit vorstellt. Auf der Oberfläche findet eine manifeste Spracharbeit statt, hinter der eine latente Sprachbedeutung versteckt ist, zu der man den Zugang findet, wenn man eine forcierte Sexualisierung in Gang setzt. Was an der Oberfläche des Textes zu lesen ist, hat den Status einer Deckerinnerung und spricht nicht eigentlich das aus, um was es geht. Dieser Text spricht mit mindestens zwei Sprachen, die gleichzeitig, sich durchdringend und übereinanderliegend aktiv sind. Wenn zwei verschiedene Semantiken am selben semantischen Ort existieren, dann wird jedes Wort doppeldeutig, ambig, nicht mehr referentialisierbar. Aber tatsächlich ist die Stelle noch viel vertrackter. In dem Wort Houynym klingt Homonym (griech.: ›gleichnamig‹) an, also die linguistische Bezeichnung für ein Wort, das für verschiedene Begriffe stehen kann. In einem gewissen Sinne ist die ganze Textpassage so aufgebaut, dass in einem Oberflächenwort ein anderes Wort versteckt ist, zwar nicht im präzisen Sinne eines Homonyms, aber eben doch in weithin vergleichbarer Weise. Wenn man nun auch noch die zersägende Arbeit am Wurzelholz sprachtheoretisch wendet, dann bearbeiten die beiden Akteure einen ganz besonderen Stoff, nämlich die Etymologie, also die Lehre von den Wurzeln der Wörter. Arno Schmidt entwickelt in diesem Kontext die Grundzüge seiner Etymtheorie, in der er den systematischen Nachweis erbringen möchte, dass eine jegliche sprachliche Verwendung immer und grundsätzlich einen triebenergetischen Untergrund in sich birgt. Und diese latente Bedeutung spricht sich in der Verdrehung von Buchstaben und in der Neuordnung des Buchstabenmaterials aus, sodass man letztlich in jedem Wort mindestens ein anderes Wort, meist sogar mehrere andere Wörter lesen kann. Es entsteht dabei ein sexueller Kode. In der vorliegenden Sequenz geht es offenkundig um die komplexen Zusammenhänge von Homosexualität, Impotenz und Kastration, zugleich aber um eine spekulative Etymologie im Zusammenhang einer tiefgehenden Reflexion auf faschistisch-militärische Gewalt. Die Quintessenz des kurzen Textes von Arno Schmidt besteht in der Trauerarbeit über die Mitschuld, die aus der erzwungenen Mitgliedschaft in der deutschen
den Hinweis aber dennoch bestehen lassen. Bornemanns Lexikon objektiviert ja nur eine Sprachschicht, die immer vorhanden ist und insofern in der sprachlichen Kompetenz unterstellt werden kann.
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3 Prosabegriffe: Definitionen
Wehrmacht resultiert. Der Militärkomplex wird mit aggressiver Homosexualität zusammengebracht, das Schießen und Ermorden mit der Ejakulation, während die Antwort auf das mörderische Tun darin besteht, dass Männer, die impotent oder kastriert sind, den Willen zum Militär und zum Mord verlieren. Die Bettgestelle, von denen die Rede ist (Schmidt BA I/3, 338f.), die Geschichte vom Danebenschießen, die Anspielungen auf weitere Militärereignisse ergeben insgesamt ein Puzzle, aus dem eine substantielle Recherche des Zusammenhangs von Männlichkeit, Faschismus und Sprachgebaren spricht. Nicht umsonst hat Theweleit seine Männerphantasien (Theweleit 2019) durch eine Schmidtlektüre (Theweleit 1999) in literarische Evidenz überführt. Diese kleine Lektüre, die noch sehr unterkomplex ist, zeigt gleichwohl, dass die auf den ersten Blick wenig spektakuläre Textsequenz eine Vielheit von Anschlüssen und Verweisen oder auch: Bindungen enthält. Es herrscht geradezu ein Übermaß an Bindung. Es liegen hier mehrere Sinnsysteme und folglich mehrere Lektüresysteme übereinander: eine simple Alltagshandlung, eine implizite Analyse schieflaufender Alltagskommunikation, ein Hinweis zum Einstieg in eine psychoanalytische Lektüre, eine sexualisierte Lektüre, eine sprachtheoretische Lektüre, im Hintergrund eine Faschismusanalyse, die in der metaphysischen Basisannahme auf die Gnosis fundiert ist. Es lässt sich ernsthaft fragen, was denn nun eigentlich in diesem Text steht. Der Hinweis auf eine Handlung, also auf einen primären sensus litteralis zielt zu kurz. Um die äußere Handlung geht es hier am allerwenigsten. Aber der Text erschöpft sich auch nicht in der erstaunlichen Anzahl schlüpfriger Anspielungen. Er ist zweifelsohne ›oversexed‹, aber es ist klar, dass es um die ernsthafte Analyse männlicher Gewalt im Zusammenhang mit Triebverhalten und Militarismus geht. Aber führt eine sprachtheoretische Reflexion nicht sogar noch tiefer? Wohin gelangt man, wenn man Gay=Lussac recherchiert und feststellt, dass es sich um den Namen eines Gesetzes aus der Chemie über die gleichbleibende Relation des Volumens idealer Gase bei proportionaler Anpassung an die Temperatur handelt? Der Hinweis auf Gesetze der Chemie ist nicht der einzige im Text, auch die Fischer-Tropsch-Synthese wird erwähnt (Schmidt BA I/3, 341), sodass der Atomismus der Sprachzerkleinerung mit Verfahren der Chemie verbunden wird, vielleicht sogar mit Verfahren der Alchemie. Deutet sich hier eine alchemistische Poetik an (zur Alchemie bei Schmidt vgl. Noering 1985)? Wie dem auch sei: Die kurze Textsequenz wäre falsch beschrieben, wenn man Prosa als ungebundene Rede bezeichnete. Gebundener kann ein Text eigentlich gar nicht sein. Eine solche Vielzahl von immanenten Verweisen widerlegt, dass der lyrische Text auf eine dichtere Weise gebunden sei als der Prosatext. Das Einzige, was dem Prosatext hier fehlt, sind Metrum, Zäsur und Reim. Aber es war
3.8 Ein Fazit
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bei dem Bezug auf die Rhetorik schon zu sehen, dass mit Periode, Numerus und Rhythmus zumindest metrikanaloge Verfahrensweisen auch in der Prosa vorhanden sein können. In Schmidts Text fallen die Querstriche auf, die als Zäsuren lesbar sind. Vorzuschlagen wäre, dass die Doppelkodierungen der Worte wie semantische Reime funktionieren. Kann die Prosa das, was die Lyrik vermag, nicht auch – oder jedenfalls anders und vielleicht noch in gesteigerter Weise? Die Gebundenheit des poetischen Verses ist teleologisch gerichtet, während die vermeintliche Ungebundenheit zumindest dieser Prosa dazu führt, dass sich eine überbordende Vielheit von Bindungen ohne teleologische Gerichtetheit auf der Formebene etabliert. Interessanterweise ist man also versucht, die terminologischen Verhältnisse geradezu umzukehren. Es ist viel einleuchtender, den Vers als unterkomplex gebundene Rede und die Prosa als überkomplex gebundenen Text zu bezeichnen. Im eigentlichen Sinne ungebunden ist weder das eine noch das andere. Wenn diese Überlegungen plausibel sind, dann steht viel auf dem Spiel. Die ganze Definitionsmatrix der Unterscheidung von Dichtung versus Literaturwissenschaft basiert auf den Unterscheidungen von poetisch versus nicht poetisch und gebunden versus nicht gebunden. Die Frage nach dem, was Literatur und was folglich der Gegenstand der Literaturwissenschaft ist, steht zur Disposition. Wenn diese Unterscheidungsmatrix sich in diejenige von stärker und weniger stark gebunden transformiert, und wenn Prosa auf der Seite der stärkeren, intensiveren, vielstimmigeren Bindungen steht, dann wird damit geradezu der archimedische Punkt der Prosa/Poesie-Unterscheidung dekonstruiert und damit das ganze Diskursfeld von Literaturwissenschaft und Literatur. Damit einhergehend steht auch die Differenz von Objekt- und Metasprache zur Disposition, sofern sie an die benannte Unterscheidungsmatrix gekoppelt ist. Das kleine close reading sollte die Funktion haben, die Motivation für eine Theorie der Prosa auch aus einer Textlektüre herzuleiten. Denn tatsächlich gibt es in der Literaturwissenschaft für diejenige Tätigkeit, die soeben demonstriert wurde, keinen bündigen Theorieansatz, wenngleich die Exegesepraxis natürlich existiert. Aber die dazu passende Theorie der Prosa, basierend auf einer Theorie der poetischen Selbstreferenz, steht aus. Würde sie durchgeführt, dann hätte sie sehr weitreichende Folgen für die gesamte Organisation des Diskursfeldes der Literaturwissenschaft.
3.8 Ein Fazit Ich habe versucht, die Fragestellung nach der Prosa in mehreren Anläufen freizulegen. Am Anfang steht die Gliederung des Feldes in Sachprosa, Kunst der litera-
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3 Prosabegriffe: Definitionen
rischen Prosa und Theorie der avancierten Prosa. Erst diese Gliederung macht mit der genauen Bestimmung des Theoriegegenstandes die Dringlichkeit des Anliegens plausibel. Die Referenz dieses Arguments ist eine forschungsstrategische. Zweitens: Die Theorie der Prosa erobert sich einen literaturwissenschaftlichen und ästhetiktheoretischen Ort, der in der alteuropäischen Theoriebildung aufgrund einer vorherrschenden Orientierung am referenzbezogenen Mimesisprinzip und dem damit verbundenen Formparadigma weithin kaum Beachtung fand. Mimesis und Form sind durch poetische Selbstreferenz und deren Selbstdarstellung zu kontern. – Die Referenz dieses Arguments ist eine theoriegeschichtliche ebenso wie eine systematische. Drittens: Eine Theorie der Prosa reagiert auf spezifische Probleme der ästhetischen Faktur avancierter Prosatexte, namentlich auf das Problem ihrer Lesbarkeit. Wenn jede Lektüre solcher Texte immer nur als zweite durchführbar zu sein scheint, dann steht die Möglichkeit der Erstlektüre in Frage. Dieses zu beantworten oder zumindest vertieft zu verstehen, wäre Aufgabe einer Theorie der Prosa. – Die Referenz dieses Arguments besteht in einer in Anspruch genommenen ästhetischen Evidenz, die durch close readings erhärtet werden kann. Viertens: Die kursorische Durchmusterung vorhandener Prosabegriffe hat deren geringe Validität zum Vorschein gebracht. Unklar bleibt das Unterscheidungskriterium von gebundener versus ungebundener Rede,18 unklar bleibt der nur vermeintlich geradeaus gerichtete Gang der Prosa, unklar ist weiterhin die komplexe Verschlingung von Mündlichkeit und Textualität sowie die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache. Zudem wurde schon deutlich, dass auch vorhandene Prosabegriffe Argumente wie plurale Kodierung (s. Herder) oder in der Alltäglichkeit der Prosa (Hegel) aufbrechende Inkonsistenzen kennen oder nahelegen. – Die Referenz dieses Arguments besteht in der wahrnehmbaren Selbstdekonstruktion nicht weniger Versuche, sich mit dem Phänomen der Prosa literaturwissenschaftlich ins Vernehmen zu setzen. In der Folge dieser Überlegung stellt sich die allgemeine Frage nach der Diskursformation der Literaturwissenschaft, die ihre eigene Prosa von der Prosa ihres Gegenstandes nicht mehr prinzipiell unterscheiden kann.
18 Für dieses Argument wären unterstützend auch historische Gründe anzuführen. Die Aussage, dass Prosa der Sammelbegriff für alle nicht versifizierten Sachtexte sei, ist schon historisch nicht unproblematisch. Im Bereich früher Sachprosa, etwa bei Gesetzestexten, kommen Reim und Metrum vor. Aus Gründen der mnemotechnischen Prägnanz finden sich bei älteren Schriftstücken aus dem vorliterarischen Bereich Merkverse und gereimte Sprache. Auch Sprichwörter, vielleicht sogar die kleinen Formen (Jolles 1958 [1930]) sind diesem Übergangsbereich zur Prosa zuzuordnen. – Vgl. dazu Weissenberger 2005; auch Mundt 1837, 40f.; Norden 1898 I, 30f.
3.8 Ein Fazit
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Das Projekt einer Theorie der Prosa ist nach diesen Vorabklärungen in verschiedener Weise (mit verschiedenen Referenzen) gerechtfertigt. Im Folgenden werde ich der Gliederung in die drei Felder folgen, also zunächst kurz expositorische Sachprosa und etwas ausführlicher die Kunst der Prosa besprechen, um dann zur Theorie der Prosa, basierend auf einer Theorie der poetischen Selbstreferenz, fortzuschreiten.
4 Prosatheorie als Textualitätstheorie (Textlinguistik der ›Prosaischen Prosa‹) Geht man von einem kulturellen Zustand aus, der durch eine ausgebildete Schriftkultur charakterisiert ist und im Sinne Luhmanns über eine gepflegte Semantik verfügt (Luhmann 1993, bes. 19 f.), dann ist Prosa dasjenige Geschriebene, dessen Zweck die transparente Formulierung von Sachverhalten ist. Gebrauchsanweisungen, Gesetzestexte, Mitteilungstexte jeder Art, schließlich auch wissenschaftliche Sachtexte bis hin zu philosophischen Traktaten können insgesamt als Prosa bezeichnet werden, im Sinne der gängigen Begriffsbestimmung von lat. provorsa als Rede, die ›geradezu‹ geht (s. o.), direkt das zu Sagende ansteuert und ihre Gliederung von der Sache und ihrer besten Mitteilung abhängig macht. Die Theoretisierung einer solchen Textproduktion liegt vor. Die Textlinguistik hat sich seit den 1960er-Jahren mit ihrem Schritt von der funktionalen Satzgrammatik zur Textanalyse den allgemeinen Konstitutionsprinzipien der Textualität gewidmet. Dem extensiven Sinne folgend, nach dem vorliterarische Prosa definiert ist, liegt es nahe, die Überlegungen der Textlinguistik als koextensiv zur Theorie vorliterarischer Prosa zu verstehen. Die Textlinguistik entstand aus der Erkenntnis, dass die am Satz orientierte funktionale Grammatik auf Texte nicht übertragbar ist. Die klar definierbare funktionale Relation von Subjekt, Prädikat und Objekt lässt sich in dieser Weise auf Texte nicht übertragen. Zugleich wurde die Beobachtung unabweisbar, dass Sprachproduktion – schriftliche wie mündliche – in der Regel nicht am Satz orientiert ist. Wir schreiben und sprechen zwar in Sätzen, aber die Rede orientiert sich an übergeordneten Einheiten, jedenfalls nicht daran, dass immer erst ein Satz erzeugt wird, um dann den nächsten anzuschließen. Die Sprachproduktion verläuft auf der Ebene des Diskurses, die Bildung der sprachlichen Kohärenz findet als Textaussage oder als Redeereignis statt und liegt nicht bei der grammatikalischen Einheit jeweiliger Sätze. Diese sind in der Rede oder im Diskurs Einheiten, über die grundsätzlich hinausgegangen werden muss, wenn überhaupt zusammenhängende Rede oder Text entstehen soll. Gegenüber der sehr explizit definierbaren funktionalen Satzgrammatik ist die Frage nach dem, was Textualität konstituiert, weniger trennscharf zu beantworten. Die Textlinguistik19 etabliert einige Begriffe und Kriterien, die aber allesamt, verglichen mit den Begriffen der Satzgrammatik, einen geringeren Operationalisierungsgrad aufweisen. So haben Texte das Kriterium der Kohärenz (lat. cohae-
19 Vgl. zum Folgenden: Beaugrande und Dressler 1981; Heringer 2015; Brinker et al. 2000 f. https://doi.org/10.1515/9783110775570-004
4 Prosatheorie als Textualitätstheorie (Textlinguistik der ›Prosaischen Prosa‹)
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rere, zusammenhängen). Eine Ansammlung von Sätzen ist als solche kein Text, erst der Zusammenhang der Sätze untereinander formiert die Texteinheit, wobei Kohärenz die Einheitlichkeit von Sinn – thematischer, kommunikationsfunktionaler oder logischer Art – bezeichnet. Kohärenz wird sprachlich durch Kohäsion unterstützt, also durch bestimmte sprachliche Markierungen wie etwa Deiktika, Tempusformen oder Pronomen, sodass textintern eine Verstrebung der sprachlichen Einheiten untereinander entsteht. Texte folgen weiterhin einer Fokusbildung: Sie haben ein Thema, über das sie Aussagen machen (Rhema), das sie abhandeln und unter verschiedenen Aspekten explizieren. Texte, die gleichzeitig verschiedene Fokussierungen haben, ohne sie zu hierarchisieren, wären für die Textlinguistik ein Problem. In extremis wird man in diesem Fall wohl sagen müssen, dass de facto mehrere Texte vorhanden sind. Texte ebenso wie Reden sind situationsbedingt (Situationalität), sie besitzen pragmatische Kontexte. Gesetzestexte etwa funktionieren nur innerhalb eines entsprechenden Korpus oder einer sie umgebenden Sittlichkeit. Gebrauchsanweisungen setzen einen kulturellen Standard der Technik voraus. Die Erklärung des Anschlusses einer Waschmaschine wird nicht auch das ganze System der Elektrizität oder der Wasserversorgung mit erklären, sodass hier immer Einbindungen in das Gesamtsystem kultureller und gesellschaftlicher Praktiken vorhanden sind. Ferner sind Prosa- als Gebrauchstexte grundsätzlich adressiert, ihnen kommt adressatenspezifische Angemessenheit zu. Unterstellt wird eine grundsätzliche Rezeptionsfähigkeit, ein bestimmtes sprachliches und intellektuelles Niveau, eine auf die jeweilige Gebrauchssituation zugeschnittene semantische und kulturelle Kompetenz. Akzeptabilität und Informativität lassen sich als Implikate solcher Angemessenheit verstehen. In einigen textlinguistischen Theorien werden weitere textkonstitutive Momente diskutiert, so etwa die grundsätzliche Intertextualität von Texten. Selbst einfache Gebrauchstexte bestehen aus einer Überschneidung von verschiedenen Textkompetenzen und Textsorten, weil sie immer Schnittpunkte von verschiedenen Sinnsystemen sind. Dem rhetorisch geschulten Blick fällt auf, dass etliche dieser Kategorien im System der alten Rhetorik (Barthes 1988; Lausberg 1990) enthalten sind. Die Angemessenheit nennt sich in der Rhetorik aptum. Die Ausrichtung der Argumente (nach deren Sammlung in der inventio) auf den Hauptfokus des Textes wird in der dispositio vorgenommen. Auf die Fragen der Situationalität reagiert die Rhetorik mit den genera orationis, also der Lehre von den Redeanlässen, die je nach Redegenre unterschiedliche sprachliche Strategien erforderlich machen. Die Kohärenz lässt sich mit der argumentatio vergleichen. – Textlinguistik ist weithin eine linguistisch formalisierte Reinszenierung der Rhetorik. Man kann also an dieser Stelle behaupten, dass eine Theorie der Prosa für diejenige Textproduktion, die Jean Paul prosaische Prosa nennt, vorliegt. Sie
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4 Prosatheorie als Textualitätstheorie (Textlinguistik der ›Prosaischen Prosa‹)
unterscheidet sich in nahezu jedem Moment von derjenigen Theorie der Prosa, die in den folgenden Erörterungen zur Debatte stehen wird. Der Einwand gegen die Textlinguistik, wie er von literaturwissenschaftlicher Seite her notwendig vorgetragen werden muss, liegt auf der Hand. Poetische Texte haben gerade kein Interesse an einer durchgehenden und umfänglichen Pragmatisierung. Ihre Selbstreferenz betreibt genau das Gegenteil, nämlich eine in die Tiefe gehende Entpragmatisierung. Ein Text wie Arno Schmidts Abend mit Goldrand hat keinen primären Fokus, er besteht auf dieser Ebene in einer Bewegung der distinkten Oszillation zwischen unterschiedlichen und divergierenden Fokusbildungen. Äußerst komplex gewordene Literatursprache setzt geradezu programmatisch eine alltagspragmatische Angemessenheit der Rede außer Kraft. Selbst die Frage, ob der (eine) Text in der Weise mit sich identisch ist, dass ihm Kohärenz zugeschrieben werden kann, wird in den Bereich des zu Erörternden gestellt: Finnegans Wake, die Geschichtklitterung, Uwe Dicks Sauwaldprosa oder Schmidts Typoskripte folgen jedenfalls nicht mehr den Kohärenzstrategien derjenigen Textualität, für die sich die Textlinguistik zuständig erklärt. Man kann geradezu sagen, dass die avancierten Prosatexte systematisch das Gegenteil von dem sind, was der Textualität von ›prosaischer Prosa‹ entsprechen würde. Die Prosatexte, von denen im Folgenden gehandelt werden soll, zeichnen sich gerade durch Plurifokalität und durch die systematisch betriebene Infragestellung pragmatisch orientierter Angemessenheit aus. In diesem Sinne ist es durchaus lehrreich, sich die Textualitätskriterien der Textlinguistik vor Augen zu führen. Man kann durch ihre konsequent betriebene Negation einen Teil der Begriffspolitik für die Theorie der Prosa generieren. Hybride Textualität, wilde Semiose, mehrfacher Schriftsinn, Plurifokalität, forcierte Selbstreferenz, Mehrsprachigkeit: Phänomene wie diese durchkreuzen den pragmatistischen Ansatz der Textlinguistik bei jedem einzelnen ihrer Grundbegriffe, die gerade aus diesem Grund für eine Theorie der Prosa aufschlussreich sind. Es gibt allerdings eine Eigenschaft, die sich prosaische Prosa und avancierte Prosa teilen. Es handelt sich um die Sujetlosigkeit beider Arten von Prosatexten. Jurij Lotman definiert in seiner Literaturtheorie den Sujetcharakter des narrativen Textes als das eine semantische Ordnung durchbrechende Ereignis (Lotman 1981, 329–340). Der Held, dessen Initiative eine Handlung in Gang setzt, überquert eine Verbotsgrenze und bringt so die beiden unterschiedlichen semantischen Bereiche diesseits und jenseits der Grenze zueinander in eine Beziehung. Handlung ist die Vermittlungsbewegung, die aus der Notwendigkeit entsteht, die zwei sich gegenüberstehenden semantischen Sphären einander anzunähern. In diesem Modell wird Sujetlosigkeit als Operationsbasis zu Grunde gelegt. Ein Held, der die Grenze nicht überschreiten würde und zu Hause bliebe – also auch kein Held wäre –, würde in einer durch nichts gestörten Ordnung verharren, in der die Dinge gere-
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gelt sind und die Regeln intakt bleiben. Sujetlosigkeit ist der Name für diese beruhigte Definitionsmatrix eines größeren semantischen Feldes. Lotman gibt als Beispiele das Telefonbuch einer Stadt oder eine Landkarte (Lotman 1981, 337). Beider Semiotik gibt Auskunft über das Sosein einer definierten Welt, in der die Zuordnungen eindeutig oder zumindest klar geregelt sind. Prosaische Prosa ist in diesem Sinne sujetlos. Der Gesetzestext beschreibt ein Normativ und nennt Regelanwendungen, die sich in Konformität mit dem Rechtssystem befinden. Der einzelne Gesetzestext wird durch kein Moment revolutioniert, er wird nicht durch eine andere opponierende semantische Struktur dazu gezwungen, sich selbst zu verändern. Das Handlungsereignis findet nicht auf der Ebene des Gesetzestextes statt, sondern in der Realität. Ein Verbrechen, welches vor Gericht kommt, wird dann vermittelst der Gesetze wieder in die Ordnung hinein definiert, sodass das Sujetereignis (in der Realität) am Ende wieder sujetlos geworden ist (durch die Rechtsprechung). Auch eine Gebrauchsanleitung beschreibt nicht den handlungsgenerierenden Ausnahmefall, sondern das regelkonforme Funktionieren, mitunter flankiert durch eine Reihe von Maßnahmen, die zu ergreifen sind, wenn das Gerät doch nicht funktioniert. Diese Maßnahmen decken quasi als Redundanzversicherung vor allem den Normalfall ab und sind als sujetlos zu definieren. Erst wenn nach allen Regelanwendungen das Gerät doch nicht in Betrieb genommen werden kann, greift der Verbraucher zur ultima ratio und ruft die Servicenummer des Herstellers an. Dies wäre dann ein Sujetereignis. Charakteristischerweise findet es aber nicht mehr auf der Ebene des Prosatextes statt. Die Behauptung lautet nun, dass auch Finnegans Wake oder Zettel’s Traum sujetlose Texte sind. Sie sind es freilich nicht in dem Sinne, wie die prosaische Prosa sujetlos genannt werden kann. Indem die avancierten Prosatexte aus noch zu klärenden Gründen dem Prinzip einer umfassenden Expansion folgen, tendieren sie dahin, zu Weltenzyklopädien zu werden. Nicht zufällig ist etwa die umfangreiche Liste (Eco 2009; Mainberger 2003; Hunfeld 2012) eine wesentliche Schreibweise von Prosa. In den genannten Texten ist ein Sujetereignis, also eine Handlung, als textkonstitutives Prinzip kaum mehr auszumachen. Weil diese Texte plurifokal sind, wird in ihnen jedes Sinnsystem für jedes andere zu einer Art von Metapher. Dieser Prozess gegenseitiger und permanenter Rekursivität führt zu einer umfassenden Definitionsarbeit dessen, was aus der Sichtweise des jeweiligen Prosatextes Welt genannt werden kann. Man kann deshalb sagen, dass das wesentliche Ziel dieser Texte die Darstellung der ganzen Welt ist. Die Texte haben die Tendenz, zu Enzyklopädien zu werden, freilich zu solchen, in denen nicht die Welt im Sinne etablierter Lexika und gepflegter Semantik abgebildet wird. Vielmehr geht es um humoristische Verschiebungen, um groteske Definitionen der aus dem Gleichgewicht geratenen Weltzusammenhänge. Die Frage aber, was Finnegans Wake am Ende eigentlich aussagt, führt – abgesehen von der
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4 Prosatheorie als Textualitätstheorie (Textlinguistik der ›Prosaischen Prosa‹)
Falschheit der Frage – auf die tautologische Antwort, dass die eigene Produktion von Selbstreferenz in der Weise ausgesagt wird, dass alles, was als Welt wahrgenommen wird, dieser Selbstreferenz eingelesen ist. Die großen Prosatexte produzieren schiefe Weltdefinitionen, einige Texte erscheinen deshalb von vornherein als Enzyklopädien. Uwe Dicks Sauwaldprosa etwa nimmt sich das Alphabet zum Gliederungsschema, Ror Wolfs Serie der Raoul-Tranchirer-Texte tritt als Enzyklopädie für unerschrockene Leser auf, Bora Ćosićs Die Tutoren beginnt mit einem Lexikon, Fischarts Geschichtklitterung wird zu Recht immer wieder als Enzyklopädie bezeichnet. Es mag sein, dass in einigen dieser Texte Handlungen zu finden sind, primär bleibt aber der Gestus der enzyklopädisch umfassenden Weltdarstellung aus der Perspektive jeweils selbstreferentieller Textverfahren. Wenn nun diese großangelegten Prosaenzyklopädien Weltdarstellungen bis hin zur möglichst umfassenden Liste sind, dann sind sie sujetlos. Die weltimmanenten Grenzen, die in sujethaltigen Texten zu Handlungsereignissen werden, schrumpfen in Prosatexten zu kuriosen Exempeln eines in der Regel humoristisch gedeuteten Weltzustands zusammen und gliedern sich derart in eine Listenkonstruktion ein, die im Grunde immer dasselbe sagt. Prosa nivelliert die Sujetereignisse zu bloßen Beispielen für die humoristisch affirmierte schlechte Unendlichkeit der Weltverhältnisse. Man sieht, dass die Sujetlosigkeit der prosaischen Prosa eine andere als die der poetischen Prosa ist (um Jean Pauls Begriffe weiterhin zu benutzen). Aber es ist eine Korrespondenz zwischen beiden Ebenen von Prosa vorhanden. Am deutlichsten wird sie bei Ror Wolf, dessen Enzyklopädien auf der Ratgeberliteratur, also auf durchaus ernst gemeinten Texten der prosaischen Prosa aufbauen (Schmitz-Emans 2008). Diese Korrespondenz ist auch insofern erwähnenswert, als sich in ihr einmal mehr das Auslassen des Bereichs der Formen manifestiert. Es korrespondieren hier die erste (vor der Form: Ratgeber) und die dritte Ebene der Prosa (nach der Form: humoristische Enzyklopädie) unter Weglassung der zweiten Ebene (literarische Form). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Textlinguistik für eine literaturwissenschaftliche Theorie der Prosa die nur negative Relevanz einer Nomenklatur besitzt, die in jedem einzelnen Punkt in ihr Gegenteil verkehrt werden muss. Es bestätigt sich das implizite Theorem, das in der kurzen Erörterung von Jean Pauls Vorschule der Ästhetik genannt wurde: Die prosaische Prosa fällt aus dem Gegenstandsbereich literaturrelevanter Prosa heraus, sie befindet sich in deren Vorfeld und bietet insofern höchstens das Reservoir für diejenigen Sinnsysteme, die in den Diskurs der Poesie aufgenommen werden, um dort einer literarischen Dekonstruktion zu unterliegen.
5 Kunst der Prosa Schon im antiken Literatursystem taucht das Konzept einer Kunst der Prosa auf (s. Norden 1898). Es ist stets mit der auf Redekunst abzielenden Rhetorik verbunden. Insofern ist es naheliegend, dass über die Kunst der Prosa vor allem dann nachgedacht wurde, als das rhetorische Moment in den Vordergrund trat und sich gegen das bis ins achtzehnte Jahrhundert dominante Modell der aus der Mimesis resultierenden literarischen Formen durchsetzte. Das um 1800 mit dem Ende der Schulrhetoriken einhergehende Strukturellwerden der Rhetorik20 führte im Zusammenhang mit dem Aufblühen von literarischen Stillehren zu einer erneuten Aufmerksamkeit auf die Kunst der Prosa, namentlich bei dem Hegelschüler Theodor Mundt (1837), fortgeführt in einer langen Reihe von Lehrbüchern zur Stilistik der Prosaschreibweise (s. Arndt und Deupmann 2012, 25). Überblickt man diese Traditionslinie, dann wird deutlich, dass sich eine durchaus elaborierte Kunstlehre der Prosa ausgebildet hat. Das daran charakteristische Moment ist, dass Prosa stets als eine unter der Dominanz von Formbegriffen stehende ästhetische Schreibweise erscheint. Thematisiert werden insbesondere solche Kunstgriffe und Kunstmittel (um die Begriffe des russischen Formalismus zu benutzen), die auf der Ebene der für literarische Textualität konstitutiven Poetizitätssteigerung liegen. Gute Prosa zu schreiben, bleibt insofern ein eigenes Unterfangen, welches von den Formeigentümlichkeiten von Novelle, Märchen, Roman etc. unterschieden werden kann. Während also die für das neunzehnte Jahrhundert so wichtige Gattung der Novelle innerhalb der Novellentheorien hinsichtlich ihrer narrativen Form poetologisch reflektiert wird, bleibt gleichwohl an den Novellentexten dasjenige Moment, das ihre Stilistik, etwa die Rhythmik ihrer Sätze, die Wortwahl und die Klangcharakteristik betrifft, von den Novellentheorien unthematisiert. Hier setzt die Rede von der Kunst der Prosa an. So lässt sich zunächst festhalten: Die Kunst der Prosa ist von den poetologischen Formbestimmungen der vor allem narrativen Genres unterschieden; ihre Thematisierung reklamiert ein eigenes Feld. Gleichwohl tritt diese Kunst-
20 Bender und Wellbery (1996) haben bekanntlich die These aufgestellt, dass im achtzehnten Jahrhundert mit dem Ende der Rhetorik als Disziplin eine Entschränkung oder ein Ubiquitärwerden des Rhetorischen einhergeht. Dietmar Till (2004) hat diese These in einer tiefgelegten rhetorikgeschichtlichen Recherche diskutiert und postuliert dagegen eine Reihe von Transformationen. 2006 hat Zelle die Debatte noch einmal aufgenommen und rekapituliert. In Bezug auf die Prosa sind diese Überlegungen in mehrfacher Hinsicht wichtig. Die Überführung der alten Rhetorik in die im neunzehnten Jahrhundert aufblühenden Stilistiken, zu denen auch Mundts Kunst der Prosa gehört, ist ein Musterbeispiel für das veränderte Fortbestehen der Rhetorik. https://doi.org/10.1515/9783110775570-005
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5 Kunst der Prosa
lehre nicht in die Opposition zur herkömmlichen Poetik, vielmehr unterstützt sie sie. Die Kunst der Prosa ist insofern keine starke Theorie, wahrscheinlich nicht einmal überhaupt ›Theorie‹ in einem qualifizierten Sinne. Sie besteht aus einer Gruppierung von Themen, Hinsichten und Begriffen, zu denen zu zählen sind: Rhythmus, Numerus, Satzbau, Wohlklang, Metrum, Wortwahl, Figuren und Tropen wie Antithese, Chiasmus, Alliteration etc. Sie unterhält enge Korrespondenzen zur Rhetorik, nach deren disziplinärem Ende dann, vor allem im neunzehnten Jahrhundert, zu den entstehenden Stilistiken. Weil sich keine feste Theorie ausbildet, ist die Kunst der Prosa schwer zu beschreiben. Es lohnt sich dennoch, einige in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchende Topoi genauer zu betrachten. Tatsächlich stehen bestimmte sprachliche Eigenschaften immer wieder im Fokus, so die Reflexion über den Satz, erstens als solchem, zweitens hinsichtlich seiner Metrik (Numerus), drittens hinsichtlich seines Klanges. Schon hier wird deutlich, dass der Satz durchaus mit dem Vers konkurriert oder ein wesentliches Spannungsmoment zu ihm bildet. Über den Satz hinausgehend wird vor allem der Begriff des Rhythmus wichtig, der interessanterweise und gegen die lyrikspezifische Verwendung nicht selten den Rhythmus des thematischen Materials meint, also etwa Schauplatzwechsel, Figurenwechsel oder den Tönewechsel auf der Ebene der im Roman eingelagerten kleineren Gattungen. Das Prosimetrum (Pabst 1994), also der Wechsel zwischen Prosasequenzen und Verssequenzen, gehört zu diesem weiteren Zusammenhang des Rhythmus. Unterhalb des Satzes ist vor allem das Wort thematisch, meist hinsichtlich seiner Herkunft. So ist das ›körnichte‹ Wort (s. u.) für die deutschsprachige Prosa in den Kunstlehren meist deutscher Herkunft; gegen Wörter aus der Fremde formiert sich tendenziell Widerstand. Da hier sprachgeschichtliche und näherhin etymologische Argumente benutzt werden, finden sich in diesem Zusammenhang, der Affinität von Bild und Wort folgend, auch Überlegungen zur Bildlichkeit der Prosa.
5.1 Der Satz als generischer Kern der Kunst der Prosa Theodor Mundt schreibt in seiner Kunst der deutschen Prosa: Das Metrum ist gleichwohl aus dem Satz entstanden. Der Rhythmus des einfachsten Satzes, dem man den Wellenschlag seiner Hebungen und Senkungen ablauscht, crystallisirt sich durch den Takt, welcher ihn an bestimmte Bewegungen bindet, zum entschiedenen Versbild. Die Prosa, welche die höchste Entwickelung des Satzes ist, schwebt darum ebenfalls in den Gesetzen des Rhythmus, aber ohne vom Metrum abhängig zu werden, indem sie vielmehr die metrischen Formen, in denen auch ihre Vielfachheit und Verschlungenheit sich individualisirt, nach den wandelnden Bewegungen des Gedankens zu
5.1 Der Satz als generischer Kern der Kunst der Prosa
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bestimmen und zu wechseln vermag. Die Metra der Poesie haben ihre Geschichte, und können daher veralten und aussterben; das metrische Wesen der Prosa ist etwas Geistiges, das den innern Gesetzen der Darstellung folgt, und auf den eigenthümlichen Grundcharakter der Sprachen sich mit Freiheit gründet. (Mundt 1837, 41 f.)
Die Rekonstruktion des hier formulierten Gedankens ist einigermaßen komplex. Mundt bezieht sich auf Hegels Prosabegriff, also auf denjenigen, der sich in Hegels Ästhetik findet. Diese aber wurde durch Hothos sehr eigenmächtige Edition gerade in den Passagen zum Prosabegriff gegenüber Hegels tatsächlich gehaltenen Vorlesungen stark verändert.21 Die inzwischen publizierten authentischen Vorlesungsmitschriften22 zeigen, dass Hegels Prosabegriff nicht nur die Prosa der Verhältnisse als Geisteszustand der bürgerlichen Gesellschaft adressiert, sondern vor allem Prosa als Medium der Artikulation wechselnder Gedankenverhältnisse versteht. Prosa tritt deshalb nicht primär in die Relation der Bedingtheit durch gesellschaftliche Verhältnisse (s. o.), sondern ist vielmehr der Name für die freie Bewegung des Gedankens. Weil der Gedanke in der wechselnden Bewegung zwischen einzelnen Argumentationssequenzen seine geistige Freiheit bewahren muss, kommt der Prosa eine Freiheit zu, die sich auf der sprachlichen Ebene als individualisierte Vielfachheit der Bewegungsformen, also der Metra und des Rhythmus darstellt. Prosa besteht mithin aus einem Wechsel von Geschwindigkeiten, aus einer Variation von Tönen oder Tonlagen oder aus einer Verschlungenheit verschiedener gedanklicher Perspektiven. Man kann behaupten, dass Mundts Kunst der deutschen Prosa (1837) gegenüber der Hotho’schen Edition von Hegels Ästhetik (1835–1838) den wichtigeren Prosagedanken Hegels formuliert. Indem der eine Hegelschüler die problematische Edition des anderen Hegelschülers durch einen anders gelagerten Prosabegriff unterläuft, entsteht eine interessante Konstellation. Hothos Hegel hatte die Prosa als Abbildung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung verstanden, als zur Form sedimentiertes System von Bedürfnissen. Mundts Hegel hingegen präsentiert einen Prosabegriff, der sich mit der Freiheit der Gedankenbewegung verbindet und damit einen positiven Formbegriff entwickelt. Er ist nicht nur an Hegels eigene philosophische Prosa anschließbar, sondern eben auch an die These vom Ende der Kunst, die spätestens seit Dieter Henrichs Untersuchung als emanzipatorische Öffnung der Kunst rekonstruiert wird (Henrich 1966). Das Argument, das Mundt hier aus Hegels Vorlesungen – und weniger aus der später von Hotho publizierten Ästhetik – ableitet, erinnert an Bachtins
21 Zu den texteditorischen Fragen der Hegel’schen Ästhetik vgl. Hilmer 1997, 13–17 und Jaeschke 2010, 418–420. 22 Vgl. u. a. Hegel 1998; Hegel 2004; Hegel 2005.
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5 Kunst der Prosa
These von der Polyphonie der Prosa (Bachtin 1979). Die entscheidende Pointe besteht darin, dass dieser Wechsel von Metren, Tonlagen und Perspektiven in der Prosa selbst nicht formgebunden ist, sondern frei bleibt, sich also jeweils der entstehenden Notwendigkeit der darzustellenden Gedankenverhältnisse anpasst. Somit besitzt die Prosa gegenüber der Poesie eine größere Freiheit, nämlich die Freiheit von der Form, ohne dabei Formeigentümlichkeiten überhaupt aufzugeben. Mit diesem Argument geht durchaus eine Überbietungsthese einher. Sie tritt in Korrespondenz zu Hegels Theorem vom Ende der Kunst als Ende der Formen im Sinne eines Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit. Prosa ist die von der Form befreite Modernität der Kunst, damit rückt sie an die Spitze der für die Kunst entscheidenden Darstellungsmedien. An Mundts Zitat ist insbesondere die Orientierung am Satz bemerkenswert (vgl. auch Mundt 1837, 119). Gegenüber dem Vers bietet der Satz – als »Versbild« (s. o.) – eine größere Freiheit bei gleichzeitig bestehender Ordnung, die zunächst grammatikalischer Natur ist, aber die Flexibilität besitzt, durch die Aufnahme von Satzgliedern den Rhythmus des Gedankens – nach Hegel: den ›Rhythmus der Sache selbst‹23 – abzubilden. Damit wird er vielgestaltiger als es der lyrische Vers mit seiner Formdeterminiertheit sein kann. Die Kunst der Prosa besteht folglich darin, die Flexibilität des Satzes ästhetisch durchzuarbeiten, ohne dass er sich einer Form verschreibt. Genauer: Prosakunst besteht durchaus auch in der Metrisierung von sprachlichen Sequenzen, aber ein mitunter auftretender Hexameter führt nicht die Notwendigkeit mit sich, die ganze Sequenz hexametrisch durchbilden zu müssen. Prosakunst ist insofern nahe an dem, was Klopstock als freie Rhythmen entwickelte, indem er die Versfüße gegenüber der Einheit des Verses emanzipierte, sodass die Gedichtzeile nicht mehr primär als Verseinheit, sondern eher als Konstellation von metrischen Füßen verstanden wurde.24 Dieses Prinzip lässt sich auf die Prosa übertragen und steigert, als angewandter Kunstgriff, ihre Poetizität. Der Satz bildet dafür die geradezu perfekte Einheit, kann er doch so kurz wie ein Vers sein oder auch deutlich länger als ein Gedicht.
23 Hegel zu Beginn der Logik: »Es ist klar, daß keine Darstellungen für wissenschaftlich gelten können, welche nicht den Gang dieser Methode gehen und ihrem einfachen Rhythmus gemäß sind, denn es ist der Gang der Sache selbst.« (Hegel V, 50) – Auf Hegels Begriff des Rhythmus wird im Zusammenhang der Theorie des Satzes zurückzukommen sein, s. u. 24 Es ist der aufmerksame Hamann, der am Ende der Aesthetica in nuce Klopstocks freie Rhythmen ein ›freyes Gebäude‹ nennt, welches Michaelis in seinem Kommentar beschreibe als: »eine künstliche Prose in alle kleine Theile ihrer Perioden aufgelöst, deren jeden man als einen einzelnen Vers eines besondern Sylbenmaaßes ansehen kann« (Hamann N II, 215).
5.1 Der Satz als generischer Kern der Kunst der Prosa
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Die Flexibilität des Satzes wird bei Jean Paul im § 86 der Vorschule (»Wohlklang der Prose«) unter dem Stichwort des Periodenbaus diskutiert. Zur Schreibweise von Laurence Sterne bemerkt er: »Kurze Parenthesen können, bandlos abgebrochen, als neue Perioden mitreden; ein langer Schmarotzer-Periode muß sich durchaus mit dem Stammperioden grammatisch verwurzeln; und die Probe der Güte ist, daß der Leser nicht dabei zurückzulesen hat.« (JP I/5, 319) Die grammatische Verwurzelung in der Stammperiode formuliert das Prinzip: Der Satz als grammatische Einheit definiert den Zusammenhang der Satzglieder, welche dann aber Freiheit genießen und durchaus auch metrisch gestaltet werden können. »[D]ie Gesetzgebung des Wohlklangs für die ungebunden umherirrende Prose« (JP I/5, 325) bleibt schwierig, so betont Jean Paul, um dann doch eine Tonlehre des Prosasatzes zu formulieren. Er findet sein Prinzip im Satzende, in den »Tonfälle[n] der Perioden-Schlüsse« (JP I/5, 328): »So will das Ohr gern auf einer langen EndSilbe ruhen und wie in einem Hafen ankommen. Ferner hat das Ohr nicht sowohl einen Schluß-Trochäus als mehre einander versprechende Trochäen lieb.« (JP I/5, 328) Prosasätze können und sollen metrisch definiert enden: Gruber findet den ersten und zweiten Päon (–VVV, V–VV), den Cretikus (–V–), den Anapäst (VV–) und den Jambus für die Prose am schönsten. Longin verwirft häufige Pyrrhichien (VV), aber mit weniger Recht auch viele Daktylen und Dichoreen (–V–V). [...] Am Schlusse hört man, ist sonst alles gleich, gern die lange Silbe, also den Anapäst, Spondeus, Jam(JP I/5, 329) bus, Dijambus (V–V–), den Choriambus (–VV–).
Bei diesen Überlegungen findet Jean Paul zu demselben Theorem wie später Theodor Mundt: »Der prosaische Rhythmus wechselt unaufhörlich, das poetische Metrum dauert das Gedicht hindurch, und die Perioden bilden einander nicht, wie die Verse den vorhergehenden, nach.« (JP I/5, 485) So gewinnt die Prosa gegenüber der Lyrik durch »unaufhörlichen Wechsel« (ebd.) an »Vielgestaltigkeit« (ebd.), welche die Eigentümlichkeiten der Schriftsteller besser zum Ausdruck bringen könne. Mundt hat dafür den Begriff der Individualisierung (s. o.) benutzt. Schon bei Jean Paul schwingt die Wertung mit, dass Prosa aus diesen Gründen eine der Modernität angemessenere Schreibweise sei. Die Kunst der Prosa lässt sich hier schon recht genau bestimmen. Der kunstvolle Prosasatz hat gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Vers, verzichtet aber darauf, durch gerichtete Parallelismen metrischer Natur zur expliziten Form zu werden. Der Formverzicht stellt sich aber nicht als Mangel dar, sondern als Angemessenheit an die Freiheit der Gedankenbewegung.25
25 Nietzsches Prosatheorie wird genau diesen Grundgedanken wiederholen. Weil Nietzsches Überlegungen zur Prosa tatsächlich nicht über das hinausgehen, was Ende des achtzehnten
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5 Kunst der Prosa
5.2 Rhythmus, Numerus, Periode Der Prosarhythmus wird schon bei Quintilian zum Thema, interessanterweise in einer Überbietungsfigur, nach der »die Behandlung der Versfüße [] in der Rede viel schwieriger als im Vers [ist]« (Quintilian IX, 4, 60: Ratio vero pedum in oratione est multo quam in versu difficilior). Das Argument ist zunächst eines, das die Komplexität betont. Während das lyrische Metrum einer klaren Form folgt, liegen in der Prosa (in oratione) längere Perioden vor, die, bedingt durch den Redeinhalt, Abwechslung nötig machen. Gedanken haben, so Quintilian weiter, ihr Ende und gliedern dadurch die Rede; ebenso benötigt der Redestrom Variationen, um die Zuhörer spannungsvoll zu adressieren. Dies alles sind Argumente der Komplexität, die sich auf den Inhalt von Prosa beziehen, während gleichzeitig eine fehlende Regelkodierung zu konstatieren ist. Somit stellt der Prosarhythmus eine besondere Herausforderung dar. Zunächst entsteht die Frage, auf welche Textextensionen sich der Prosarhythmus bezieht. Der Begriff der Periode, der in der Vorschule der Satzeinheit unterstellt ist, kann auch den Zusammenhang mehrerer Sätze bezeichnen. Textlinguistisch hätte eine Periode dann wohl die Extension eines Absatzes. Der Schritt von der Kerneinheit des Satzes über ihn hinaus zum textuellen Zusammenhang kann also innerhalb der Kunst der Prosa durch eine recht einfache Isomorphie begründet werden. So wie sich im Satz die Sequenzen bzw. Satzglieder als Perioden zueinander verhalten, so verhalten sich die Sätze zueinander im Text bzw. im Textabsatz. Entsprechend ist der Rhythmus auch und vielleicht vor allem eine Kategorie, die texttheoretisch über die Einheit des Satzes hinaus drängt und größere Texteinheiten adressiert, wenn nicht sogar den ganzen Text. Rhythmus wird dann zunehmend zu einer semantischen Kategorie.26 Mit dem Begriff des Numerus wurde im Zusammenhang des Nachdenkens über Prosa diese Dimension bedacht (vgl. auch Mundt 1837, 122 f.), wie eine entsprechende Stelle aus Sulzers Theorie der schönen Künste zeigt: Hierauf folget der Numerus, der aus einer wolfließenden und wolklingenden Vereinigung mehrer Saͤze in eine Periode entſteht. Er iſt in Abſicht auf die Periode die das Ganze, wozu
Jahrhunderts schon formuliert ist, sei hier auf ihn verzichtet. Eine konzise Zusammenfassung seiner diesbezüglichen Überlegungen findet sich bei Wellbery 2016. 26 Jüngst hat Michael Gamper (2021) eine Studie zum Begriff des Rhythmus in der Prosa vorgelegt. Die Hauptthese besteht darin, Rhythmus als »ein, wenn nicht das Prinzip einer prosaischen Schreibart« zu denken (Gamper 2021, 35). Innerhalb der Kunst der Prosa ist der Rhythmus zweifelsohne sehr zentral. Aber ohne Reflexionen über das Prosawort und die Stildimensionen des Prosatextes ist Rhythmus nur schwer zu analysieren, weshalb wohl eher von einem Netz von Bestimmungen auszugehen ist.
5.2 Rhythmus, Numerus, Periode
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die einzeln Saͤze als Theile gehoͤren, ausmacht, was die Eurythmie oder das Ebenmaaß in Abſicht auf ſichtbare Formen iſt. Cicero ſagt ausdruͤklich, dieſer Numerus ſey das, was die Griechen Rhythmus nennen. Hieraus laͤßt ſich uͤberhaupt begreifen, daß die numeroſe Periode aus mehrern kleinen Saͤzen, oder Einſchnitten beſtehe, die ſowol in der Laͤnge, als an Sylbenfuͤßen verſchieden, aber ſo gut mit einander verbunden ſind, daß das Gehoͤr alle zuſammen, als ein einziges, wolklingendes, und auch an Ton dem Charakter des Jnhalts wol angemeſſenes Ganzes vernehme.27
In dieser Argumentation ist Rhythmus bzw. Numerus noch an die materiale Abfolge der Sätze und ihrer metrischen Formiertheit gebunden. Aber es ist evident, dass bei zunehmender Textextension Rhythmus zu einer schwer bestimmbaren Kippfigur zwischen Sprachmaterialität und Semantik wird, von ferne vergleichbar mit Roman Jakobsons Begriff der grammatischen Figur. August Wilhelm Schlegel macht in seiner Rezension zu Goethes Hermann und Dorothea (1798) eine aufschlussreiche Bemerkung, welche den Rhythmus zum Terminus textueller Makrogliederung werden lässt: Die Lehre vom epischen Rhythmus verdient eine genauere Auseinandersetzung. Sie ist auch deswegen wichtig, weil sie Anwendung auf den Roman leidet. Ein Rhythmus der Erzählung, der sich zum epischen ungefähr so verhielte wie der oratorische Numerus zum Silbenmaße, wäre vielleicht das einzige Mittel, einen Roman nicht bloß nach der allgemeinen Anlage, sondern nach der Ausführung im einzelnen durchhin poetisch zu machen, obgleich die Schreibart rein prosaisch bleiben muß; und im Wilhelm Meister scheint dies wirklich ausgeführt zu sein. (A.W. Schlegel 1962, 65)
Hier wird geradezu mustergültig die Theoriefunktion der Kunst der Prosa mitdefiniert: Zu bestimmen, was ein Roman ist, bleibt Aufgabe der Poetik, aber die Qualität der Prosa durch Kunstmittel zu steigern, obliegt der Kunst der Prosa, worin die »Lehre vom epischen Rhythmus« ein zentraler Bestandteil ist. Was hier rhythmisch gestaltet werden soll, kann nur die Abfolge des thematischen Materials28 sein, also der Wechsel der Szenen und Schauplätze, der Figuren
27 Sulzer 1774 II, 826, zitiert nach: http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/sulzer_theo rie02_1774/?hl=Numerus&p=243 (Zugriff 20.08.2020). 28 Dass Rhythmus durchaus nicht primär eine Strukturierung von Schallereignissen ist, sondern weitaus umfassendere Dimensionen adressiert, wird an einer der ersten Stellen deutlich, an denen das Wort in der abendländischen Literatur auftaucht. In einem Gedicht des Archilochos wird das Herz angerufen, sich zum Kampf zu rüsten: »[...] Und weder wenn du siegst, frohlocke laut,/ noch wenn du besiegt wirst, jammere, im Haus dich hinwerfend,/ sondern über das Erfreuliche freue dich und über das Schlimme klage/ nicht zu sehr. Erkenne, was für ein Rhythmus die Menschen hält« (Archilochos 2021, 29). Rhythmus ist hier ein Lebensgesetz, als wechselnde Abfolge von schicksalshaften Ereignissen und von Zuständen des Herzens. Auf der Textebene handelt es sich um die strukturierte Abfolge des thematischen Materials. Die sprachliche Rhythmisierung kommt hinzu, ist aber nicht primordial.
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5 Kunst der Prosa
und ihrer Auftritte, der Tonlagen sowie der verschiedenen Perspektiven auf die im Fokus stehende Handlung. Novalis nimmt in einem Brief an August Wilhelm Schlegel vom 21.1.1798 auf diese Stelle Bezug (Novalis I, 656). Etwas später, im Allgemeinen Brouillon, wird in einem Eintrag zur »Kunstlehre« (Novalis II, 544 f.) dann der Rhythmusbegriff zu einer fundamentalpoetischen, eigentlich sogar zu einer anthropologischen Kategorie. Dabei bleibt die Herkunft aus dem Prosabegriff durchaus bewusst: »Die Poësie ist die Prosa unter den Künsten. Worte sind acustische Configurationen der Gedanken.« (ebd.) Wenn bei August Wilhelm Schlegel trotz prosaischer Schreibart die poetische Ausführung durch die Anwendung des oratorischen Numerus auf die epische Rhythmik geleistet wird, dann liegt die Literarizität nicht mehr bei der poetischen Form, sondern bei der Prosakunst. Entsprechend bestimmt Novalis das Poetische als das Akustischwerden der (prosaischen) Gedankenbewegung. So ist es also die Prosa, die durch ihren Rhythmus die Poesie erzeugt. Rhythmus wird dann sogleich, stärker als bei Schlegel, zu einem Weltprinzip verallgemeinert: »Alle Methode ist Rythmus. Hat man den Rythmus der Welt weg – so hat man auch die Welt weg. Jeder Mensch hat seinen individuellen Rythmus./Die Algeber ist die Poësie./Rythmischer Sinn ist Genie.« (ebd.) Die Universalisierung des Rhythmus wird auf die Gesundheit, die Chemie, die Malerei oder die Musik angewandt, schließlich auch auf die Philosophie: »Fichte hat nichts, als den Rythmus der Philosophie entdeckt und Verbalacustisch ausgedrükt.« (ebd.) Dass in diesen spekulativen Sequenzen der Rhythmus zentral ist, muss angesichts der bei Novalis rekurrenten Verbindung von Neuplatonismus und Lebensphilosophie nicht verwundern, aufschlussreich ist aber die markierte Herkunft aus dem Prosabegriff. Wenn man mit Unterscheidungen arbeitet, die sich nicht in der historischen Semantik um 1800 finden, aber die vorliegende Arbeit strukturieren, dann lässt sich behaupten, dass Novalis ein Prosaprinzip als Modus von Selbstreferenz den etablierten poetologischen Formbegriffen entgegensetzt und folglich Poetizität nicht mehr aus der Form, sondern aus einer Variante poetischer Selbstreferenz hervorgehen lässt, in der Rhythmus zum spekulativen Prinzip, zu einer sich selbst produzierenden Grundfigur wird.29 Diese Kunst der Prosa hat bereits starke Affinitäten zu dem, was sich als Theorie der Prosa bezeichnen lässt. Der für die Kunst der Prosa zentrale Begriff des Rhythmus kennt gewisse Überschneidungen mit dem Prosimetrum. Der Terminus bezeichnet den ästhetisch kalkulierten Wechsel von Prosa- und Verspassagen in einem Text. Als Vor-
29 Dieser Gedanke würde sich problemlos den Überlegungen von Winfried Menninghaus zur Frühromantik eingliedern lassen, vgl. Menninghaus 1987.
5.2 Rhythmus, Numerus, Periode
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bild gelten hier Satiren (Menippeische Satire, Varro, Lukian), in denen Verspassagen parodistisch eingesetzt werden. Im Spätmittelalter etabliert sich ein prosimetrisches Textkorpus. Pabst (1994) definiert in seiner umfassenden Studie das Prosimetrum sehr eng. Er schließt Texte aus, in denen Verspassagen nur zitiert werden und beschränkt die Gattung auf solche Texte, deren Prosa-Vers-Wechsel ästhetisch gewollt sei. Die damit behauptete Abhängigkeit von Formintentionen ist methodisch ein Problem. In Baumgartens Aesthetica finden sich lange Passagen, in denen Vers-, Dramen- und Prosazitate gegen den eigenen Text abgesetzt sind, schriftbildlich und typographisch. Nach Pabst läge kein Prosimetrum vor, schon weil die Aesthetica ein Sachtext ist und die Zitate funktionalen Charakter haben. Aber ein rhetorisch derart gebildeter Autor wie Baumgarten – Haverkamp (2014, 22) bezeichnet ihn als zweiten Quintilian – wird das Prosimetrum gekannt haben. Die kompositorische Anlage der Aesthetica ist zudem komplex, ihre Hauptargumente infizieren den Sachtextcharakter eben auch mit ästhetischen Verfahren. Dies wird schon darin deutlich, dass der ästhetiktheoretische Philosoph auch ein felix aestheticus zu sein habe (Baumgarten 2007 I, 26/27 = § 28, u.ö.), zur Theoriekompetenz also ästhetisch glückliche Fertigkeiten unabdingbar sind. Löst man die Gattungsdefinition von der bei Pabst problematischen Bindung an die Autorintention, dann öffnet sich für die Kunst der Prosa ein weites und fruchtbares Feld. Eine typische Textdarbietung bei Baumgarten sieht so aus (Baumgarten 1750, 267f.):
Abb. 1: Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica. Frankfurt am Main 1750, 267 f. [Signatur: UB Basel, kc III 14:2].
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5 Kunst der Prosa
Dieser schriftbildlich deutlich markierte Wechsel von verschiedenen Schreibweisen impliziert einen textuellen Rhythmus als Tönewechsel. Zitierte Verse, theoretisierender Kommentar, Bezüge auf Quellen und Forschungsarbeiten, traktataffine Gliederung in Paragraphen, philosophischer Argumentationsaufbau, schließlich verschiedene Schrifttypen und ornamentale Elemente: Dieses Zusammenwirken verschiedener Textsorten und unterschiedlicher Referenzsysteme erzeugt einen Texthybrid, der formal alle Charakteristika des Prosimetrums aufweist. Wenn diese Ästhetik nicht nur ein philosophischer Sachtext ist, sondern auch ein Dokument der Kunst des schönen Denkens – gemäß der Definition von § 1: ars pulcre cogitandi –, dann wird man aufgrund dieser ästhetischen Faktur von einer prosimetrischen Struktur sprechen können. Bei Friedrich Schlegel kommt es dann zur Überschneidung des Prosimetrums mit der im achtzehnten Jahrhundert von Klopstock über Herder bis Hölderlin etablierten Lehre vom Wechsel der Töne. In seiner Vorlesung Geschichte der europäischen Literatur (1803/04) leitet er die Prosaschreibweise von Platon aus der »Mischung aller möglichen Gattungen von Prosa« ab: In Platos Dialogen findet sich die größte Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Vereinigung aller Arten griechischer Prosa: Geschichte, Rhetorik, Kritik, selbst Gesetze [....]. (Fr. Schlegel 1958, 112 f.)
Diese Beobachtung wird nun in einem spekulativen Theorem verankert. Wenn die Sprache, so Schlegel, ihre Bestimmung darin fände, Bezeichnung des Unendlichen zu sein, und gleichwohl jeweils Bestimmtes äußere, dann erzeuge sie ihre Unendlichkeit dadurch, dass sie »rhythmisch metrisch sei« (Fr. Schlegel 1958, 113). Werde sie in der Schrift festgehalten, so geschehe dies infolge ihrer Würdigkeit zur allgemeinen Teilhabe. Es handelt sich dann um mündlich entstandene, aber schriftlich fixierte Poesie. Nun gebe es aber eine andere Schriftlichkeit, die Schlegel Prosa nennt. Sie besteht in Gesetzestexten, in Denkmalen (Historiographie), in grammatisch-kritischen Erklärungen, in der prosaischen Rede und in aufgezeichneten Dialogen. Die Prosagattungen haben als solche keine metrische Form, schon weil sie als schriftlich zustande gekommene Texte die Aufgabe haben, den Gedankeninhalt genau zu treffen. Platons Dialoge bestehen aber aus diesen Prosaschreibweisen. Weil Platon selbst kein System habe, sondern vor allem einen Gang seiner Gedankenbewegung antrete, besteht die angemessene Form gerade darin, dass er seine Philosophie in Dialogen formuliert. Ihre Einheit ist die einer Gangweise: Diese Einheit besteht nun bloß darin, daß die Dialoge immer indirekt und unbestimmt anfangen, dann allmählich das äußerst spitzfindige und künstliche Gedankengewebe mit bewunderungswürdiger Genauigkeit, tief eindringendem, allumfassendem Scharfsinn sich
5.2 Rhythmus, Numerus, Periode
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entwickelt und zergliedert, sich in der reichsten Fülle und Mannigfaltigkeit ausbreitet und endlich, nach der kunstvollsten, erschöpfendsten Behandlung der einzelnen Teile zu tadeln wäre, daß das Ganze nicht mit einem bestimmten Satze, Resultate, sondern mit einer Andeutung des Unendlichen, Göttlichen und einer Aussicht in dasselbe schließt. In diesem eigentümlichen Gange nun besteht die eigentliche Einheit der Platonischen Dialoge. (Fr. Schlegel 1958, 119)
Man sieht unmittelbar, dass der ›eigentümliche Gang‹ auch einen Rhythmus hat, übrigens selbst noch in Schlegels theoretischer Prosa. Er besteht nun aber nicht in der metrischen Gestalt der Rede selbst, sondern in der Abfolge der Gedankenbewegung, welche durch die Mischung von Prosaschreibweisen zustande kommt. Die Genauigkeit, der Scharfsinn, die Mannigfaltigkeit und die erschöpfende Behandlung einzelner Teile: Dies alles sind Geistestätigkeiten, die nach Schlegel vor allem der in der Schrift entstandenen Prosa zukommen. Platons Dialoge also sind als »Ursprung der Prosa« (Fr. Schlegel 1958, 112) eine Gangweise zwischen wechselnden Prosagattungen. Philosophie bekommt von diesen Gattungen ihre genauen Gedankenbestimmungen, jedoch aus der Rhythmik der Gangweise ihre spekulative Dimension, das Unendliche prosaisch (nicht poetisch, nicht religiös) darstellen zu können. Liest man diese Sequenz bei Schlegel aufmerksam, so wird man einen doppelten Ursprung der Prosa erkennen können. Einerseits gibt es eine Vielheit bestimmter Prosaschreibweisen, die allesamt primär textgebunden sind, andererseits gibt es einen zweiten Ursprung, in dem diese Prosaschreibweisen einer prosaspezifischen Gangart eingeschrieben werden. Diese Formulierung von der Gangart wird mit einiger Wahrscheinlichkeit auf den schon antiken Topos Bezug nehmen, nach dem die Prosa oratio pedestris ist, also eine dem zu Fuß Gehen angemessene Schreibweise, im Gegensatz zur poetisch-fliegenden Dichtung (Nachweise dazu s. Weissenberger 2005, 322). Es war Lichtenberg, der im Sudelbuch F eine Bemerkung machte, die man für Schlegels Gedanken als Vorbild annehmen könnte:30 Unsere Prose ginge so stolz und unsere Poesie so demütig einher. Ist denn das etwas so gar Abscheuliges? Die Prose ist lange genug zu Fuß gegangen (pedestris oratio) und mich dünkt es wäre nun einmal Zeit für die Poesie abzusteigen um die Prose reiten zu lassen. (F 22 = Lichtenberg I, 463)
30 Das folgende Zitat ist 1800 im ersten Band der Lichtenbergausgabe, die seine Sudelbücher zum ersten Mal teiledierte, erschienen (Georg Christoph Lichtenberg’s vermischte Schriften, nach dessen Tode aus den hinterlassenen Papieren gesammelt und hrsg. von Ludwig Christian Lichtenberg u. Fr. Kries. 1. Band, Göttingen 1800, 300 f.). Schlegel hätte es also
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5 Kunst der Prosa
Lichtenberg nimmt die alte Prosabestimmung auf, aber in der Absicht, die Hierarchie von Poesie und Prosa zu verkehren, indem er sich Letztere aufs Musenpferd gesetzt wünscht. Schlegels Platondeutung vollzieht de facto diese Umkehrung, indem er Platons Dialoge als Ursprung der Prosa deutet: Aus der wechselnden Gangweise von Prosagattungen entspringt die spekulative Rhythmik der Platonischen Philosophie. Mit dem Paradigma des Rhythmus wird für die Kunst der Prosa also die entscheidende Bestimmung gefunden. Es handelt sich um eine Bestimmung, die auf der Ebene des Textes situiert ist, ohne dabei den Bezug zum Satz zu verlieren. Einerseits sind Rhythmus und Metrum durchaus materiale Eigenschaften der sprachlichen Prosasequenz, wichtiger ist aber, dass der Prosa, verstanden als Kunst, ein eigentümlicher Gedankenrhythmus zugesprochen wird, der im Fall fiktionaler Romanprosa auch ein Rhythmus der wechselnden Schauplätze, Auftritte und ästhetischen Stimmlagen sein kann.
5.3 Das Prosawort Geht man von der Basiseinheit des Satzes auf die nächstkleinere sprachliche Einheit hinunter, dann ist unterhalb der Phrase das Wort zu bedenken. Die Entwicklung des Prosabegriffs hängt vor allem in der Neuzeit sehr stark mit der Frage eines literarisch anspruchsvollen Schreibens in der jeweiligen Nationalsprache zusammen. Die Wahl der Nomenklatur hat deshalb auch sprachpolitische Dimensionen. Von Lessing stammt anlässlich einer Debatte zu Übersetzungsfragen aus dem Französischen der Ausruf: »Aber wer wird nicht lieber eine körnichte, wohlklingende Prosa hören wollen, als matte, geradebrechte Verse?« (Lessing IV, 319) Der Begriff des Körnichten zielt auf eine Sprachpolitik, in der die Nachdrücklichkeit, Energie und Ikonizität der Worte aus ihrem Bezug zur nationalsprachlichen Verankerung gewonnen werden. Der Gedanke ist einigermaßen vertrackt. Als im achtzehnten Jahrhundert der Wechsel vom Latein und der lateinisch geprägten Gelehrten- und Kanzleisprache zu einer deutschen Prosa propagiert und vollzogen wurde, erhoffte man sich im Rückgriff auf autochthone Wörter eine Revitalisierung der Sprache. Dabei entstand eine Art von double bind zwischen Wörtlichkeit und Bildlichkeit. Ein deutsches Wort so zu benutzen, dass dessen etymologische Wurzel hörbar wird, lässt sich einerseits
kennen können, wenngleich ich bei ihm keinen Nachweis für eine intensive Lichtenberglektüre gefunden habe.
5.3 Das Prosawort
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als Wörtlichnehmen des Wortes verstehen. Hört man im Wort ›Begriff‹ das Begreifen als Anfassen und Betasten oder im Wort ›Vernunft‹ das Vernehmen, dann scheinen die Worte ihren eigentlichen Bedeutungen zugeführt zu werden. Paradoxerweise produziert aber die Eigentlichkeit auch eine unerwartete Bildlichkeit. Die Worte werden konkret, sie führen ihre pragmatische Szene mit sich, ihre Eigentlichkeit ist ihre Ikonizität. Nun stehen aber Bildlichkeit und eigentliche Bedeutung üblicherweise zueinander in einem Gegensatz. Bildlichkeit wird mit den rhetorischen Tropen verbunden, also mit uneigentlicher Sprache. So entsteht eine chiastische Argumentationsfigur: Zuerst ist die Wörtlichkeit der Sprache im gemeinsamen Ursprung von Bild und Wort bildlich (so bei Hamann und Herder als poetischer Ursprung der Sprache), dann normalisiert sich die Sprache und streift mit ihrer Konventionalisierung das Bildmoment ab, um schließlich sprachreformerisch durch den Rückgang auf die gemutmaßten Ursprungsbedeutungen wieder ihre initiatorische Ikonizität zurückzuerlangen. Dieser letzte Schritt erzeugt eine rekonstruierte Naturwüchsigkeit, in der Wörtlichkeit und Eigentlichkeit einerseits, Bildlichkeit und somit Uneigentlichkeit andererseits konvergieren. Es entstehen sprachliche Hybride mit intensiver Ikonizität: körnichte Wörter. Ein sehr gutes Beispiel für eine solche Hybridbildung, in der Eigentlichkeit und Bildmoment zusammengeführt werden, ist Breitingers Konzept des Machtwortes. Machtwörter sind Ausdrücke, die idiomatischen Charakter bekommen können, weil sie sich an in der Sprache angelegten Wendungen orientieren, während sie gleichwohl neu erfunden sind. Breitinger definiert in der Critischen Dichtkunst: Man verstehet nemlich durch Machtwörter eben solche, die einen weitläuftigen und in allen Stücken genau ausgemachten Begriff bezeichnen, welche hiemit viel gedencken lassen, und ein Ding mit besonderm Nachdruck zu verstehen geben. Je mehr eine Sprache dergleichen Wörter im Vorrath hat, desto reicher und nachdrücklicher ist sie auch [...] (Breitinger 1740, II, 50)
Breitinger gibt u. a. das Beispiel der Redensart, »einen der Straffe entbinden«, welche ein Machtwort sei, weil damit eine Szene vor Augen gestellt wird, in der ein Übeltäter »der Gerechtigkeit gebunden zugeführt wird, und wie ihn die empfangene Gnade von den Banden erlediget«. (Breitinger 1740, II, 63) Wenn solche Wörter für Prosa passend sind, dann deshalb, weil sie eine starke Sinnlichkeit besitzen, die Szene evozieren und einen schnellen Begriff der Situation vermitteln. Im Wort selbst steckt die Kraft, sie wird nicht quasi sekundär, wie in der versifizierten Dichtung, durch Einbindung in Metrum oder Wohlklang mit benachbarten Wörtern erzeugt. Zur Kunst der Prosa (von der Breitinger an dieser Stelle nicht redet) gehört die passende Wortwahl. Nicht zufällig handelt des-
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5 Kunst der Prosa
halb Theodor Mundt im mittleren sprachgeschichtlichen Teil seines Buches über die Kunst der deutschen Prosa vor allem die Frage des sprachlichen Materials auf der Wortebene ab. Herder bezieht sich ebenso wie Lessing auf das Stilideal einer körnichten Sprache, zu der Breitingers Konzept der Machtworte ein Beitrag ist. Der Bezug zur Prosa wird bei Herder dabei explizit: Die Lit.Br. führten aus Lohenstein ein Muster des prosaischen Stils an: wir könnten aus vielen Schriftstellern der vorigen Jahrhunderte noch mehr Beispiele geben, daß der gute körnichte Vortrag nicht so fremde gewesen, als man meint. Die deutsche Sprache aber kroch meistens unter akademischen oder homiletischen Fesseln: sie hatte keinen Glanz, keine Reinigkeit, aber innere Stärke mangelte ihr nicht. Der ganze Schade war: man sahe sie als keine gelehrte Sprache an, denn dazu war allein die lateinische gekrönt: man achtete sie bloß als die Sprache des gemeinen Volks, und unterließ ihre Kultur. (Herder DKV I, 382 f.)
Der prosaische Stil also braucht eine körnichte Sprache, die Herder in diesem Kontext rau und einfältig nennt und die noch nicht durch geläufige Perioden gerundet und in der Schätzung der Wortwürde artig und künstlich geworden ist.31 Die Kunst der Prosa besteht, so lässt sich für diese Ebene der Betrachtung sagen, zu sehr wesentlichen Teilen in der Schätzung des Wortmaterials. Natürlich beschreibt der körnichte Stil kein Normativ für Prosa, im achtzehnten Jahrhundert markiert etwa Wielands subtile Ironie eine andere Stilgeste. Aber auch für ihn gilt, dass eine qualitativ hochstehende Prosa über die Stilistik der Wörter nachdenken muss. Jean Paul tut dies am Ende seiner Vorschule der Ästhetik im XIV. und vor allem im XV. Programm, wenn er über den Reichtum der Sprache hinsichtlich der Wörter und über Wortbildungen nachdenkt und gegen Campes Versuche einer Sprachreinigung polemisiert.
31 Herder DKV I, 381 f.: »Betrachtet man es näher, und hat wahres Gefühl von der innern Stärke einer Sprache: und vermag die wichtigen Vorteile der schwäbischen Sänger, und die körnichte Sprache deutscher Schriftsteller voriger Zeiten; oder auch nur den Vater Opitz in seiner Prose und Poesie zu schmecken: so muß man bei der Rückkehr zu unsrer neueren Sprache, man muß ausrufen: das ist ganz ander Deutsch! Jenes hat ganz andre Fehler und ganz andre Schönheiten; der Geist hat sich verändert. Alsdenn werden freilich die Neulinge unsere junge Mundart loben, und sie haben recht; denn unstreitig ist sie geläufiger und runder im Perioden, artiger in Bestimmung der Wortwürde, und künstlicher geworden. Aber ein ächter Deutscher wird sich aus dieser rauhen und einfältigen Sprache unendlich viel zurückwünschen [...]«.
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5.4 Kunst der Prosa Die Zusammenschau der vorhergehenden vier Kapitel erzeugt ein recht klares Bild von dem, was mit dem Begriff einer Kunst der Prosa intendiert ist. Es geht dabei um formkompatible, nichtversifizierte Texte, die hinsichtlich ihrer Stilistik ästhetisch verbessert werden können, während ihre Formbestimmungen diese Ebene in der Regel kaum adressieren. Die Kunst der Prosa findet ihr Zentrum im Satz. Bei einigen Theoretikern hat dies durchaus seinen Grund darin, dass die Satzglieder den Kola oder Versen der Lyrik analog zu setzen sind, sodass eine Parallelität der Bestimmungsschritte entsteht (vgl. Staab 2009, II, 1500–1502). Wichtiger ist aber, dass die Satzaussage für den vor allem geistigen Gehalt der Prosa die basale generische Einheit darstellt. Vom Satz ausgehend erstreckt sich die Kunst der Prosa auf die transphrastische Ebene des Rhythmus oder auf die subphrastische Ebene des Wortes. Dargestellt werden können hier nur die prinzipiellen Überlegungen. Eine genaue Durchführung des Programms einer Kunst der Prosa würde faktisch mit den Stilistiken als der Nachfolgetextsorte der Rhetoriken konvergieren.32 Dies ist wohl auch einer der Gründe dafür, dass die Kunst der Prosa im Bereich der literaturwissenschaftlichen Tätigkeiten ein Nebenfeld blieb. Die Rhetorik enthält in ihrer kleinteiligen Archivierung alles, was technisch der Kunst der Prosa zugeschrieben werden kann, die Stilistiken wiederholen dies als elaborierte elocutio für das Feld der Prosatexte.33
32 Eine umfassende Recherche der stilistischen Handbücher im Kontext der Kunst der Prosa steht aus. Schon Jean Pauls letzte Programme (XIV. und XV.) der Vorschule der Ästhetik gehören in diesen Zusammenhang. Genannt werden können weiterhin: Beck 1861. Pischon versieht in seinem Handbuch der deutschen Prosa (1818) die Beispiele mit Einleitungen, sodass aus diesen einleitenden Texten eine historisch beschreibende Kunst der Prosa ablesbar wird. Heinrich Kurz entfaltet im dritten Band seines Handbuch[s] der deutschen Prosa im Rahmen eines Kommentars eine umfassende Bestandsaufnahme der Kunst der Prosa (Kurz 1868). Die Tradition solcher Stilistiken erstreckt sich weit ins zwanzigste Jahrhundert, vgl. die äußerst erfolgreiche Deutsche Stilkunst von Eduard Engel (1911), die nach vielen Auflagen in Ludwig Reiners’ Deutscher Stilkunst plagiiert weiterlebte. Infolge der positivistischen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts hat sich ebenfalls eine statistisch fundierte Prosastilistik etabliert: vgl. z. B. Patterson 1917. Auch diese Tradition hat in der gegenwärtigen Linguistik eine Nachfolge gefunden, z. B. bei Ruprecht 1993. 33 Ein instruktives Beispiel für den Konflikt zwischen Stilistik und Rhetorik findet sich noch bei Richard M. Meyer, Deutsche Stilistik (Meyer 1906). Schon das Inhaltsverzeichnis liest sich wie ein Inventar der elocutio. In der Einleitung gesteht Meyer freimütig ein, dass die »herkömmliche Verdopplung ›Stilistik und Rhetorik‹ eine gewisse Schiefe in sich birgt« (1). Meyer versucht die Aufgabentrennung dadurch zu begründen, dass die Rhetorik praktisch orientiert sei und sich auf Mündlichkeit beziehe, während die Stilistik analog zur Grammatik ein wissen-
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Im Kontext dieser Überlegungen überrascht es nicht, dass die Kunst der Prosa im russischen Formalismus wieder auftaucht. Viktor Šklovskijs Theorie der Prosa (Šklovskij 1984) folgt auf der Ebene der Aufzählung von Verfahren und Kunstgriffen genau dem Programm der Stilistiken des neunzehnten Jahrhunderts und damit dem Projekt, die Kunst der Prosa zu beschreiben. Indem Šklovskij aber die Kunst der Prosa in den Kontext der für den russischen Formalismus prägenden Gedankenfigur poetischer Selbstreferenz einbettet, ist der Schritt von der Kunst der Prosa zur Theorie der Prosa angedeutet. Weil Šklovskij aber kein starker Theoretiker der poetischen Selbstreferenz war, blieb der Grundgedanke einer Theorie der Prosa unformuliert. Für die Frage nach dem, was eine Theorie der Prosa sinnvollerweise sein kann, ergeben sich nun klare Fingerzeige. Erstens kann die Textlinguistik für eine Prosatheorie via negationis aufschlussreich sein: Man mache literaturwissenschaftlich immer genau das Gegenteil von dem, was die Textlinguistik behauptet. Zweitens ist die Kunst der Prosa letztlich nur ein rhetorisch-stilistisches Verbesserungsprogramm für nicht versifizierte Sprache, aber keine Theorie. Wenn die Thesenlage valide ist, dass Prosa gerade dort ein substantielles Theoriebedürfnis aufwirft, wo sie sich als expandierende wilde Semiose in den Gegensatz zu formbestimmten Texten stellt, dann mag in der Kunst der Prosa der eine oder andere Anstoß vorhanden sein. Aber auch hier gilt, dass die Dinge entschiedener zu denken sind. Auf den Satz und auf das Wort wird zurückzukommen sein, aber in weitaus radikalerer Weise. Denn erst ›nach der Form‹ dekonstruiert der Satz seine Bindung an die Aussage und das Wort seine externe Referenz.
schaftliches System theoretischer Erkenntnisse sei (ebd.). Es ist augenfällig, dass diese Unterscheidung nicht trägt. – Meyer stellt seine Stilistik in den Rahmen einer Kunst der Prosa; er handelt vor allem Wort und Satz ab, nicht aber die transphrastische Dimension des Rhythmus. Für ein Systematisierungsinteresse, das eine auf Vollständigkeit angelegte Erörterung der Figuren und Tropen von Prosatexten im Sinne einer Kunst der Prosa anstrebt, ist Meyers Stilistik ein gutes und sorgfältig recherchiertes Kompendium. Es bietet die Aufzählung dessen, was bei einer Einschränkung der elocutio auf Prosa zu nennen ist.
6 Theorie der Prosa Nach den bisherigen Ausführungen lässt sich das Folgende sagen: Die Theorie der Prosa kann weder eine pragmasemiotisch verfasste Textlinguistik sein, noch eine Prosastilistik als Kunstlehre literarisch gepflegter Textperformanz. Diese beiden prosabezogenen Aussagezusammenhänge sind vorhanden; es ist nicht sinnvoll, sie unter einem neuen Titel zu verdoppeln. Eine Theorie der Prosa in einem distinkten Sinne kann mithin nur eine Textpraxis zum Gegenstand haben, die nicht schon durch Textlinguistik oder Kunst der Prosa abgedeckt ist. Dieses Argument ist freilich nur ein Teilmoment mit beschränkter Plausibilität. Theorie ist nicht allein von ihren Gegenständen abhängig, sondern stärker von ihren eigenverantworteten Prinzipien. Sie können dazu führen, auch dort substantiell Neues zu sehen, wo vorher andere Zugriffe zuständig waren und als angemessen betrachtet wurden. Wichtiger ist deshalb die Überlegung, dass eine von avancierten Prosatexten angeregte Theorie der Prosa eine grundlegende Definitionsarbeit für das Geschäft der Literaturwissenschaft überhaupt übernimmt. Dass es ein Textkorpus gibt, welches die Theoretisierung plurifokaler, mehrfach kodierter Texte ohne dominanten sensus litteralis jenseits des Formparadigmas fordert, führt auf das nun schon mehrfach angedeutete Projekt, eine Theorie der poetischen Selbstreferenz zu entwerfen. Dieses Theorieunterfangen besteht auch dann, wenn das passgenaue Primärtextkorpus strittig wäre. Es ist hier geboten, an Walter Benjamins methodologische Ausführungen aus der Vorrede zu seinem Trauerspielbuch zu erinnern. Nicht die durchschnittlichen Phänomene haben Erkenntniswert, betont Benjamin, sondern die Extreme: Das Allgemeine ist die Idee. Das Empirische dagegen wird um so tiefer durchdrungen, je genauer es als ein Extremes eingesehen werden kann. Vom Extremen geht der Begriff aus. Wie die Mutter aus voller Kraft sichtlich erst da zu leben beginnt, wo der Kreis ihrer Kinder aus dem Gefühl ihrer Nähe sich um sie schließt, so treten die Ideen ins Leben erst, wo die Extreme sich um sie versammeln. (Benjamin I, 215)
Benjamins Argument kreist um das Konzept der Konstellation. Gemeint ist durchaus die astronomische Sternenkonstellation. Sie wird von den gestaltbildenden Eckpunkten her erkannt, nicht aber durch eine große Zahl von Anhäufungen. Normalerweise werden in der Literaturwissenschaft bei Bestimmungen von Genres typische Mittelwerte gesucht, sodass repräsentative Texte, die für eine große Zahl der Texte des Genres stehen, diskutiert werden. Es ist fraglich, ob dieser Zugang, der vor allem für gattungspoetologische Theorien unhinterfragt gilt, für Kunstwerke plausibel ist. Vielleicht sind gerade die nicht repräsentativen Texte https://doi.org/10.1515/9783110775570-006
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entscheidend. Im vorliegenden Fall handelt es sich zudem nicht um eine Genredefinition, sondern um die Erkenntnis eines Textprinzips (Selbstreferenz), das sich bei avancierter Prosa am deutlichsten zeigt, aber in der einen oder anderen Form überall zu denken ist, wo poetische Texte vorliegen. In diesem Sinne kann Benjamins Ansatz erkenntnisleitend sein: Die Idee der Poesie tritt erst ins Leben, wenn von den Extremen her gedacht wird – und zweifelsohne ist die überraschende Volte, von der Prosa (und nicht von der Poesie) auszugehen, konstellationstheoretisch betrachtet selbst schon ein extremer Zugang. In diesem Sinne lässt sich der Gegenstandsbereich für die Theorie der Prosa doppelt bestimmen. Einerseits liegt ein Textkorpus zugrunde, auf das die Theoriebestimmungen weitgehend zutreffen sollen. Andererseits geht es um die Erkenntnis der grundsätzlichen Struktur poetischer Selbstreferenz, die bei Dichtung prinzipiell vorliegt, in der hier gemeinten Prosa aber besonders entschieden hervortritt. Dem naheliegenden Einwand, es sei dysfunktional, eine Theorie nur für ein enges und zudem exzentrisches Ensemble von Texten zu entwickeln, wird also mehrfach begegnet. Erstens mit dem Hinweis darauf, dass literaturwissenschaftliche Theoriebildung sich eher an den Extremen zu bewähren hat als an vermeintlichen Normalitäten, zweitens durch die Insistenz darauf, dass ein grundlegendes Prinzip für Dichtung als solches freigelegt werden soll, und drittens durch die lakonische Bemerkung, dass im Bereich der Literaturwissenschaft bislang jede Theorie ihren mehr oder weniger impliziten Kanon hat und der Anspruch ubiquitärer Anwendbarkeit von Theorien sowieso äußerst problematisch ist (s. u.). Es wird im Folgenden in zwei Schritten vorgegangen. Zunächst steht eine sehr formalistische Theorie der poetischen Selbstreferenz zur Debatte. Sie wird aus einer weiterführenden Interpretation von Roman Jakobson gewonnen und soll im Ergebnis eine ›Grammatik des Poetischen‹ ausformulieren. Aber ein Formalismus kann immer nur ein erster Schritt sein. Deshalb wird darauf aufbauend eine konkretisierende Verkörperung von Selbstreferenz angestrebt. So formal man poetische Selbstreferenz als textuelle Verfahren auch beschreiben kann, so wenig ist allein damit für die Lektüre der Texte gewonnen. Die Prosatexte sind nicht daraus motiviert, allein sprachliche Formalismen auf sich selbst anzuwenden. Im Gegenteil, Joyce, Schmidt oder Jean Paul schreiben in einer geradezu exzessiven Geste von konkretester Subjektivität. Ihre Selbstbezüglichkeiten sind immer diejenigen einer verkörperten Ich-Jetzt-Hier-Deixis, fast durchgängig mit einer expliziten Markierung des autobiographischen Substrats. Der Grundgedanke wird in diesem zweiten Schritt lauten, dass Prosa, wenn sie nicht die formgelenkte Mimesis von Wirklichkeit ist, stattdessen die Darstellung der Aisthesis, der tiefenstrukturell durchdrungenen Wahrnehmung, betreibt. Um dieses dichte
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Gewebe des fundus animae poetisch darstellen zu können, ist eine komplexe textuelle Selbstreferentialität vonnöten. Die These lautet also, dass das Thema der Prosa, die Selbstdarstellung des eigenen, mehrfach aufgefächerten autobiographischen Substrats, durch eine stark gesteigerte poetische Selbstreferentialität angemessen artikulierbar ist. Die Makrogliederung des Arguments gestaltet sich wie folgt: Tab. 3: Makrogliederung des Arguments. Theorie der Prosa aufgeteilt in zwei Theorieschritte, die in dieselbe Grundüberlegung münden Theorie der poetischen Selbstreferenz führt als Formalismus auf Zergliederung, Zerlegung und benötigt eine Theorie der ikonischen Poiesis um die ›poetische Grammatik‹ auf die Textbühne stellen zu können
Theorie des autobiographischen Substrats als Gegenwendung zum Formalismus führt zum Motiv der konkreten Aisthesis und damit ebenfalls zur Theorie der ikonischen Poiesis als Konkretisierung des Auf-die-Bühne-Stellens von Selbstreferenz (Szenographie)
Das Argumentationsziel besteht in der Zusammenführung von Formalismus (Selbstreferenz) und konkreter Aisthesis: Prosa ist die Darstellung ästhetisch verkörperter Selbstbezüglichkeit der Sprache.
Wie ist nun also eine Theorie der poetischen Selbstreferenz – als zentraler Bestandteil einer Theorie der Prosa – zu denken?34
6.1 Theorie der poetischen Selbstreferenz – Roman Jakobson und die Folgen Roman Jakobson hat über einen Zeitraum von vierzig Jahren hinweg sein umfangreiches Nachdenken über die Literatur und über die Begründung einer Literaturwissenschaft den Begriffen der Poetizität und der poetischen Funktion gewidmet. Vielleicht gibt es in der Literaturwissenschaft kein zweites Œuevre, welches derart monomanisch um ein einziges Kernkonzept kreist. Jakobson hat diese Konzentration wohl nur deshalb durchhalten können, weil für ihn die
34 Die folgenden Ausführungen beziehen sich zusammenfassend und weiterführend auf Simon 2009, 173–239, 277–300, Simon 2018a, 30–37, Simon 2018c.
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Literaturwissenschaft keineswegs das Hauptgeschäft seiner außerordentlich interdisziplinär angelegten Linguistik gewesen ist. So hat er über Poesie mit der Lizenz nachgedacht, selbst keiner institutionalisierten Disziplinarität anzugehören. Als Nebenfeld war ihm die Literaturwissenschaft ein Anliegen, aber eben durchaus keine Profession. Diese Freiheit zur Sache korrespondierte mit einer von Beginn an durchgehaltenen Grundüberzeugung. Schon in dem 1919 gehaltenen und 1921 publizierten Vortrag Die neueste russische Poesie ist zu lesen: Poesie ist Sprache in ihrer ästhetischen Funktion. Somit ist Gegenstand der Literaturwissenschaft nicht die Literatur, sondern die Literarizität, d. h. dasjenige, was das vorliegende Werk zum literarischen Werk macht. Doch glichen die Literaturhistoriker bislang meist einer Polizei, die eine bestimmte Person verhaften will und zu diesem Zweck für alle Fälle alles und jeden, was sich nur in der Wohnung anfindet, samt den unbeteiligten Passanten auf der Straße mitnimmt. So kam denn auch den Literaturhistorikern alles zupaß – Soziales, Psychologie, Politik, Philosophie. Statt einer Literaturwissenschaft kam ein Konglomerat von hausbackenen Disziplinen zustande. Man vergaß gewissermaßen, daß diese Gebiete jeweils zu entsprechenden Wissenschaften gehören – zur Philosophiegeschichte, Kulturgeschichte, Psychologie usw., und daß diese natürlicherweise auch literarische Denkmäler als defekte und zweitrangige Dokumente verwenden können. Wenn aber die Literaturwissenschaft eine Wissenschaft werden will, ist sie genötigt, das »Verfahren« als ihren einzigen »Helden« zu akzeptieren. (Jakobson I, 16)
Hier schon findet sich eine zentrale Opposition zu allem, was die bisherige Literaturwissenschaft auszeichnet. Gemäß des Programms der Husserl’schen Phänomenologie35 nimmt Jakobson die radikale Geste einer phänomenologischen Reduktion auf den eidetischen Wesenskern vor und bestimmt das Wesen der Dichtung als Literarizität, welche durch die ästhetische Funktion erzeugt wird. Nur dann, so Jakobson, kann Literaturwissenschaft eine Disziplin werden, wenn sie die ästhetische Funktion (später: poetische Funktion) und damit die Literarizität (später: Poetizität) ausbuchstabiert. Der frühe russische Formalismus hat die poetische Funktion noch als Ensemble von Verfahren und Kunstgriffen verstanden. Diese Auffassung ist insbesondere bei Šklovskij und seiner Theorie der Prosa durchaus nicht weit entfernt vom alten Begriff der Kunst der Prosa (s. o.). Auch hier werden Kunstmittel aufgezählt und besprochen, die dazu dienen, Romane, Novellen oder Märchen hinsichtlich ihrer Literarizität zu beschreiben und gegebenenfalls zu steigern. Aber Roman Jakobson ist mit der Benennung der ästhetischen Funktion schon ganz zu Beginn seines Nachdenkens darüber hinaus, Literarizität als Sack von Verfahren zu ver-
35 Den immensen Einfluss Husserls auf Jakobson analysiert Elmar Holenstein, der Jakobsons Strukturalismus als ›Husserlianismus‹ bezeichnet (Holenstein 1975, 55).
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stehen. Insofern befinden sich der erste und der letzte Satz des gegebenen Zitats in einem latenten Widerspruch. Er wird in der weiteren Theorieevolution von Jakobson klarerweise zugunsten der poetischen Funktion entschieden. Diese ist nicht primär ein Ensemble von Kunstmitteln, sondern zunehmend der Versuch, poetische Selbstreferenz zu denken. Die ausformulierteste Variante in der langen Reihe von Poetizitätsdefinitionen findet sich 1960 in dem Aufsatz Linguistik und Poetik (Jakobson I, 155–216), der gemeinhin als Summe und Gipfelpunkt von Jakobsons Überlegungen zur poetischen Funktion betrachtet wird. Dabei sind gerade in diesem Text die Spannungen und Widersprüche sehr greifbar, ebenfalls aber auch die daraus resultierenden Chancen für eine explizite Theorie der poetischen Selbstreferenz. Es sind drei Problemkomplexe, die zunächst einmal verstanden werden müssen, bevor sie einer Lösung durch eine integrierende Theoriebildung zugeführt werden können. Erstens behauptet Jakobson, dass es sechs Sprachfunktionen gebe. Mit Shannon und Weaver ergänzt er die drei Bühler’schen Funktionen durch drei weitere, die näher betrachtet drei verschiedene Weisen der Selbstreferenz ausbuchstabieren. Wenn nun in der Poesie die selbstreferentielle poetische Funktion bestimmend wird und also auch die beiden anderen, Bühlers triadisches Set ergänzenden selbstreferentiellen Funktionen umdefiniert, dann wird eine Form von Selbstreferentialität auf eine andere aufgepfropft. Wie ist das zu denken? Entstehen hier Probleme im Feld der Verfahrenstypen von Selbstreferenz? Zweitens wurde kurioserweise die Definition der poetischen Funktion bislang immer falsch verstanden. Man meinte, Poesie würde nach Jakobson Elemente des Paradigmas aufs Syntagma projizieren. Diese Meinung war aufgrund ihrer Strukturalismusaffinität sehr erfolgreich. Aber klarerweise spricht Jakobson von der Projektion des Äquivalenzprinzips und nicht von der Projektion der Äquivalenzen. Es erfordert eine nicht unerhebliche Denkanstrengung, um zu verstehen, dass damit tatsächlich ein anderer Gedanke vorliegt, als man bisher meinte. Dieser Gedanke ist durchaus nicht so strukturalistisch, wie die etablierte Fehllektüre es verfügt. Drittens führt Jakobsons Rede von der Dominanz der poetischen Funktion über die anderen zu dem Missverständnis einer bloß quantitativen Vorherrschaft im Sinne des alten Dominanzbegriffs des russischen Formalismus. Aus Jakobsons Aufsatz geht aber klar hervor, dass er eher an eine Transformation der anderen Funktion durch die poetische Funktion denkt, sodass in concreto die Ummodellierung der fünf nicht poetischen Funktionen bedacht werden muss. Erst die Durcharbeitung dieser drei Problemkreise führt zu einer expliziten Theorie der poetischen Selbstreferenz, mithin zu derjenigen Begründung von Poetizität, die Jakobson 1919 als conditio sine qua non für das Projekt der Literaturwissenschaft postulierte.
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Die Formulierung einer solchen Theorie der poetischen Selbstreferenz wird einige Umwege in Kauf nehmen müssen, um die ganzen sprachtheoretischen Implikationen mitführen zu können. So sei vorweg noch einmal betont, dass der Ansatz bei sehr formalistischen Modellen nur eine, wenngleich notwendige, Darstellungsform sein soll. Die Zielintention liegt bei einem kratylischen Sprachmodell,36 welches aber umso plausibler gemacht werden kann, je intensiver es gerade in der Linguistik fundiert wird.
6.1.1 Sprachfunktionen In seiner Sprachtheorie entwirft Karl Bühler ein »Dreifundamentenschema«, das das Sprachzeichen als »Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, [als] Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt und [als] Signal kraft seines Appells an den Hörer« (Bühler 1978, 28f.) bestimmt. Diesen drei Bestimmungen entsprechen die Funktionen Darstellung, Ausdruck und Appell. Bühler gibt dafür ein Schema (Bühler 1978, 28). Der Kreis (s. Abb. 2) steht für das Schallphänomen, ›Z‹ für das sprachliche Zeichen, welches zugleich etwas darstellt, indem es Dispositive des Senders ausdrückt und an den Empfänger appelliert. Jeder Zeichengebrauch besitzt nach Bühler diese drei grundlegenden Funktionen. – Jakobson findet für Bühlers drei Funktionen neue Namen: Die emotive Funktion bringt die Dispositive des Senders zum Ausdruck, die konative Funktion die des Empfängers und die referentielle Funktion stellt Sachverhalte durch ihren Bezug auf Kontexte dar (Jakobson I, 163–165). Roman Jakobson präsentiert in seinem Aufsatz Linguistik und Poetik ein sechsgliedriges Schema, in dem die drei Bühler’schen Funktionen enthalten
36 Vgl. zum Thema des Kratylismus die Monographie von Genette: Mimologiken. Reise nach Kratylien (2001); zu Roman Jakobson findet sich dort insbes. S. 357–369 eine längere Passage. Genettes Rekonstruktion krankt freilich daran, dass er Jakobson auf der Ebene der Verfahren und rhetorischen Figuren abhandelt und dabei eine Doppelbewegung oder Koexistenz von formalistischer Selbstreferenz des Zeichens und mimetisch-kratylischer Bezugnahme auf die Welt der Dinge und ihrer Verhältnisse herausarbeitet. Würde man dies aber für die Quintessenz Jakobsons halten, dann bliebe die Rekonstruktion unterkomplex, indem sie Jakobson eine theoretische Unentschiedenheit unterstellte. Tatsächlich ist bei Jakobson aber kein Separatismus der Sprachfunktionen, der ihre Reinheit garantieren würde, gedacht, sondern ein komplexes Spiel von Überlagerungen und Durchdringungen. – Einzig eine systemrekonstruierende Deutung Jakobsons wird in der Lage sein, trotz der Flexibilität des Modells ein klares Votum für die Position der poetischen Selbstreferenz zu behaupten. In ihr ist – gegen Genette – ein mimologischer Zug selbst nur eine Trope.
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Gegenstände und Sachverhalte
Darstellung
Appell
Ausdruck
Z
Sender
Empfänger
Abb. 2: Bühlersches Organonmodell, aus: Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1978, 28.
sind. Er begleitet seine Schematisierung mit der Aussage, dass diese Faktoren in jeder sprachlichen Kommunikation eine unveräußerliche Rolle spielen.37 Mit anderen Worten: Sofern sprachliche Kommunikation vorliegt, sind immer alle sechs Faktoren vorhanden (eine Aussage, die im späteren Verlauf der Rekonstruktion von Wichtigkeit sein wird). Jakobsons Sechserschema hat diese Form (Jakobson I, 163, 170): Kontext (referentiell) Adressant (emotiv) – Botschaft (poetisch) – Adressat (konativ) Kontakt (phatisch) Kode (metasprachlich)
In Jakobsons Schema sind die drei Bühler’schen Komponenten quasi als Syntagma, also horizontal als Verlaufsschema angeordnet (Adressant → Kontext → Adressat), aber quer dazu, also in die Vertikale gestellt und dem Sachverhalt
37 »Man muß die Sprache in der ganzen Vielfalt ihrer Funktionen untersuchen. Bevor wir über die poetische Funktion reden, müssen wir ihren Platz unter den anderen Funktionen der Sprache definieren. Um diese Funktionen zu skizzieren, benötigen wir eine genaue Übersicht der Faktoren, die für jedes Redeereignis, für jeden Akt sprachlicher Kommunikation konstitutiv sind.« (Jakobson I, 162) Diese Stelle wird oft überlesen, aber sie besitzt eine immense Wichtigkeit. Die »Faktoren« (i. e.: Funktionen) sind für jede sprachliche Kommunikation konstitutiv. D. h.: Es gibt keine sprachliche Kommunikation, in der eine der sechs Funktionen fehlen würde. Es mag sein, dass bei manchen Sprachverwendungen gewisse Funktionen in den Hintergrund treten, aber sie sind als strukturell vorhanden zu unterstellen. Dieses Vollständigkeitsaxiom wird für die Rekonstruktion von Jakobsons Grundgedanken von Wichtigkeit sein.
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(hier: Kontext) zugeordnet, finden sich drei neue. Jakobson entnimmt sie dem Kybernetikmodell von Claude Shannon. Dort sind die sechs Funktionen noch als Syntagma angeordnet, interessanterweise aber steht derjenige Begriff im Schema, der die Hinzunahme der drei neuen Funktionen überhaupt erst notwendig machte: noise.38
Abb. 3: Kybernetikmodell von Claude E. Shannon, aus: A Mathematical Theory of Communication. In: Reprinted with corrections from The Bell System Technical Journal, Vol. 27.3 (1948), 2.
Bei Claude Shannon, der nicht von der Sprache allein, sondern vom selbstregulierenden maschinenbasierten Zeichenaustausch ausgeht, also einen erweiterten Kommunikationsbegriff hat, geht es primär darum, wie die Mitteilung von Zeichen (Message/Sachverhalt/Kontext) gegenüber Störungen, Rauschen und Lärm stabil gehalten werden kann (Siegert 2007). Die Message muss also mit selbstverstärkenden Redundanzen ausgestattet werden, damit zwischen Sender und Empfänger Zeichensynchronie gewährleistet ist. Dazu dienen nun die drei neuen Funktionen, sie seien im Folgenden durchkommentiert. Die metasprachliche Funktion (Bezug auf den Kode) adressiert semantische Selbstreferenz. Um sicherzustellen, dass ein Sachverhalt verstanden wurde, fragt der Sender den Empfänger, ob er den der Zeichenmasse entsprechenden Gedanken noch einmal, aber mit anderen Worten wiederholen könne. Indem der Empfänger eine zweite Zeichenmasse artikuliert, deren Gegenstand das Signifikat der ersten Zeichenmasse sein soll, bezieht sich seine Sprache als Metasprache auf eine vorangehende Objektsprache zurück. Sobald der ursprüngliche Sender bestätigt, dass die metasprachliche Bestätigung des Empfängers die objektsprachli38 Shannon 1949, 447 und Shannon 1948, 2.
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che Botschaft reformuliert hat, gilt die Kommunikation als erfolgreich. In diesem Sinne ist semantische Rückkopplung wohl die grundlegendste Selbstreferenz. Der Anteil von metasprachlichen Sprechakten schon in der Normalsprache ist sehr hoch, nicht wenige Sprechakte bestehen aus Erklärungen oder Definitionen, aus Wiederholungen und Paraphrasen. Würde man Alltagskommunikation von semantischen Rückkopplungen, also von inhaltsbezogenen und kodedefinierenden Redundanzen weitgehend befreien, dann bliebe kaum etwas übrig, im Regelfall nur eine kleine, nackte Mitteilung. Was für Alltagskommunikation gilt, ist im wissenschaftlichen Sprachgebrauch weitaus expliziter. Das vorliegende Buch lässt sich insgesamt als Metasprache verstehen. Selbst wenn es neue Mitteilungen gibt, ist doch jede Äußerung immer auch Kommentar vorangehender Theoreme: Re-Definition vorausliegender Definitionsverbünde, Anwendung von Sprache auf Sprache, mithin Metasprache. Die metasprachliche Funktion durchzieht die gesamte sprachliche Tätigkeit. Ohne sie würden wir unsere Kommunikation nicht absichern können und müssten in der grundsätzlichsten Weise davon ausgehen, dass Missverstehen wahrscheinlich ist. ›Metasprache‹ hat aber eine weitere, forschungsgeschichtlich aufschlussreiche Dimension (vgl. zum Folgenden Schüttpelz 1995). Im philosophischen Kontext des logischen Positivismus wurde der Begriff bei Tarski und Carnap explizit als Paradoxienvermeidung eingeführt. Das Kreterparadox (s. o.) basiert darauf, dass derjenige, der etwas über etwas aussagt, zugleich eine Teilmenge dessen ist, worüber die Aussage gemacht wird. Hat der Kreter mit seiner Behauptung recht, dann – so die Logik seiner Aussage – lügt er; hat er unrecht, dann spricht er gerade deswegen die Wahrheit. Dieser Zwickmühle lässt sich entkommen, wenn man den einen Kreter, der die Aussage tätigt, aus der Menge ›alle Kreter‹ herausnimmt. Dann wäre seine Aussage eine neutrale Beobachtung eines Unbeteiligten, man könnte sie gewissen Evaluationsverfahren unterziehen, um ihren Gehalt zu prüfen. Sprachtheoretisch formalisiert müsste man also den aussagenden Kreter der Ebene der Metasprache zuordnen, ihn aus der Menge dessen, was objektsprachlich gemeint ist, entfernen und das Verbot einer Vermischung dieser beiden Mengen aufstellen. Mit diesem Verfahren wäre die Paradoxie dadurch gelöst, dass sie nicht mehr auftreten kann. Die metasprachliche Funktion ist im Sinne Jakobsons wohl primär als unverzichtbare semantische Rückkopplung im Kommunikationsgeschehen zu denken. Aber die Dimension, dass die Einführung einer sich nicht mit Objektaussagen vermischenden Metasprache im Sinne von Russells Typentheorie ein Vorschlag zur Paradoxienvermeidung ist, bleibt wichtig. Medientechnisch basaler, aber vielleicht deswegen oft übersehen, ist die phatische Funktion. Wenn Störungen die Kommunikation beeinträchtigen, dann arbeiten die Kommunikationsteilnehmer zunächst daran, den Kommunikations-
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kanal zu optimieren. Bei Vorträgen wird das Mikrophon lauter gestellt, bei Projektionen das Licht abgedimmt, bei Telephongesprächen tut man gut daran, als Zuhörender von Zeit zu Zeit durch kleine akustische Signale kundzutun, dass die Leitung noch steht. Die phatische Funktion ist die Selbstreferenz des Kommunikationskanals hinsichtlich seiner medialen Struktur und als solche die materielle conditio sine qua non der Kommunikation. Tatsächlich hat die phatische Funktion sehr weitreichende Implikationen. In der realen Kommunikation zählen Augenkontakt, Gestik und Mimik dazu, Stimmlautstärke und direkte Ansprache, kurzum alles, was die Rhetorik in der letzten ihrer rhetorices partes, der actio, behandelt. Man kann die formale Funktion der Verkehrszeichen als phatische Funktion deuten, sofern sie die Störungsfreiheit des Verkehrsflusses regeln. In der durch Digitalität bestimmten Lebenswelt wird die phatische Funktion kulturell sichtbarer. Mit ihrer Wichtigkeit geht einher, dass sie zunehmend zum Kommunikationsinhalt wird, indem die formale Ermöglichung, dass kommuniziert wird, oft auch schon der Inhalt selbst ist. Man stellt den Kontakt her bzw. konkreter: Die Algorithmen vernetzen die Kommunikationsteilnehmer und betreiben damit die Eröffnung der Kommunikationskanäle. Soziale Netzwerke wie Facebook sind wesentlich die Durchdeklinierung der phatischen Funktion, ein digitales Wegesystem aus Kommunikationskanälen für mögliche Kommunikationsakte. Wenn mit der Digitalität die phatische Funktion aus ihrer bisherigen kulturellen Latenz hervortritt, dann wird retrospektiv zu fragen sein, ob sie nicht auch schon unter analogen Kontextbedingungen eine vergleichbar wichtige, aber eben in der Latenz verbleibende Rolle eingenommen hat. Die dritte der gegenüber Bühler neu hinzukommenden Funktionen ist die poetische. Zunächst ist ihre Definition hinsichtlich der primären Kommunikation sehr einfach. Um Kommunikation gegen Störungen zu modellieren und gestalthaft hervortreten zu lassen, kann man den Kommunikationsakt als solchen optimieren. Bei einer Rede wird man besser verstanden, wenn man die Betonungen herausarbeitet, die Geschwindigkeiten variiert oder die Stimmlage ändert. Die angeraute Stimme hebt sich besser vom Hintergrundrauschen ab als der eigenschaftslos dahinströmende Redefluss. Die Gemachtheit (poiesis) der Rede tritt in den Vordergrund, wenn die Materialität des Kommunikationsaktes Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die poetische Funktion richtet ihr Augenmerk auf die materielle Charakteristik des Kommunikationsaktes und seiner Zeichenkette. Es sind also drei selbstbezügliche Funktionen, die bei Jakobson, angeregt durch Claude Shannons erweitertes Kommunikationsmodell, zu Bühlers Modell hinzukommen: die semantisch orientierte metasprachliche Funktion, die medientechnisch orientierte phatische Funktion und die an der Materialität der Sprache orientierte poetische Funktion.
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Man kann einerseits behaupten, dass gegenüber Bühlers Organonmodell nur Nebensächliches, nämlich die redundante Absicherung der Kommunikation, die ohne Störungen (noise) auch so erfolgreich wäre, hinzukommt. Von diesem Einwand her wecken die drei neuen Funktionen den Verdacht, parasitär zu sein. Andererseits aber zeigt sich schon bei einer genauen Beobachtung der Alltagskommunikation, dass diese vermeintliche Supplementarität des Selbstreferentiellen vielleicht sogar zentraler ist als der von Bühler zur Hauptsache erkorene Darstellungsaspekt. Wir kommunizieren in erheblichem Umfang über unsere Kommunikation, wir führen Gefechte über Deutungshoheiten durch metasprachliche Regelinstituierungen, wir kommunizieren sehr umfangreich nur, um den Kommunikationskanal als solchen zu bewirtschaften, wir arbeiten, wenn es uns auf das Verstandenwerden ankommt, sehr bewusst an unserer Artikulation und insgesamt an unserer actio – bis hin zum narzisstischen Syndrom, das mitunter als Charakteristikum unserer gegenwärtigen Kultur bezeichnet wird (Lasch 1995). Die Inhalte der Botschaft sind meistens nur ein paar Propositionen wert, während die Gesamtheit der Kommunikation sehr oft aus einer immensen Ausformulierung ihrer selbstreferentiellen Register besteht. Bühlers drei Kernfunktionen sind also durch drei selbstreferentielle Funktionen umgeben, die trotz ihrer anscheinend nur redundanten Dienstfunktion für den Inhalt der Kommunikation den eigentlichen Umfang der Rede ausmachen. In kommunikationsfunktionaler Hinsicht mag man Gründe haben, am primordialen Charakter der Bühler’schen Funktionen (emotive, konative, referentielle) festzuhalten. Es entspräche der Vorherrschaft logozentristischer Sichtweisen. Wenn aber das poetische System wesentlich auf Selbstreferenz umorientiert ist, dann rücken die drei selbstreferentiellen Funktionen in den Vordergrund. Vielleicht ahmt die Dichtung an der Sprache gerade denjenigen Aspekt nach, der sich den kommunikativen Zwecken als nur supplementär zuzuordnen scheint? Es deutet sich hier schon an, dass die paradigmatische Achse von metasprachlicher, phatischer und poetischer Funktion für die Poesie wichtiger sein wird als die Syntagmatik von emotiver, konativer und referentieller Funktion. Diese Vermutung sei zu einer These verdichtet: Die Poesie stellt die Sprache auf Selbstreferenz um, indem sie die drei paradigmatischen Funktionen der Kommunikation aus ihrem supplementären Status befreit und die Prioritäten genau entgegengesetzt ausrichtet. Insofern geht es ihr nicht um Kommunikation, sondern um die Selbstexplikation der sprachlichen Register. Poesie elaboriert am Gefüge der Kommunikation nicht deren logozentristischen Kern, sondern vielmehr die supplementären Modi der Selbstverstärkung. Wohl auch deshalb deutete der russische Formalismus das thematischinhaltliche Moment der dichterischen Texte als bloße Instrumentation. Instrumen-
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tiert wird durch die Inhalte, Themen und Motive – also durch das, was erzählt wird – die Eigenschaft der Poesie, die selbstreferentiellen Register der Sprache durchzuarbeiten. Die Selbstreferenz der Poesie ist spezifisch, sie besteht nicht einfach aus der Umorientierung der drei Bühler’schen Funktionen auf die drei neuen, sondern aus der umfassenden Poetisierung aller Funktionen. Zu bedenken ist mithin eine Staffelung, in der es erstens um die Poetisierung der drei inhaltlich-referentiellen Funktionen geht und zweitens um die Poetisierung der beiden anderen selbstreferentiellen Funktionen (phatische und metasprachliche), sodass der Unterschied von einfacher und verdoppelter Selbstreferentialität zu denken sein wird. Bevor dieser Gedanke ausgeführt wird, ist jedoch die poetische Funktion genauer zu analysieren.
6.1.2 Das Prinzip der Äquivalenz (Die poetische Funktion) Zu den Kuriosa der Jakobsonrezeption gehört, dass die finale und expliziteste Formulierung der poetischen Funktion systematisch missverstanden wurde. Jakobson schreibt: The poetic function projects the principle of equivalence from the axis of selection into the axis of combination. (Jakobson 1981, 27) Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination. (Jakobson 1979, 94)39
Gelesen wurde dieser Satz so, als hätte Jakobson im Sinne des Strukturalismus von der Projektion von Äquivalenzen oder von äquivalenten Termen gesprochen, nicht aber von der Projektion des Äquivalenzprinzips.40 Gemeinhin wird die Poe39 Ich zitiere an dieser Stelle die Übersetzung von Holenstein und Schelbert. Die bei Birus und Donat abgedruckte Übersetzung Stephan Packards lautet: »Die poetische Funktion bildet das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination ab.« (Jakobson 2007, I, 170) Der Unterschied zwischen Projizieren und Abbilden ist durchaus erheblich. Im Folgenden wird aus beiden Übersetzungen zitiert, immer infolge des Kontrollblicks auf das englische Original (Jakobson 1981, 18–51). 40 Über die Gründe dieses Missverstehens habe ich in dem Aufsatz Was genau heißt: ›Projektion des Äquivalenzprinzips‹? – Roman Jakobsons Lehre vom Ähnlichen (Simon 2018c) nachgedacht. Sie liegen wohl darin, dass Jakobson zu vorschnell in die stark differenzbetonte Variante des westeuropäischen Strukturalismus eingeordnet wurde, während der osteuropäische Strukturalismus ein durchaus anderes Gepräge hat. Zudem ist Jakobsons Literaturwissenschaft stärker als seine Linguistik formalistisch orientiert. Vielleicht wird man sogar von einer vorherrschend rhetorischen Bezugnahme reden müssen, sodass die Eingliederung Jakobsons
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tizitätsformel so verstanden, als ob Dichtung dann zustandekäme, wenn möglichst viele Äquivalenzen aus dem Paradigma auf die Textoberfläche eingestellt werden. Die Äquivalenzen selbst werden oft als Dichotomienbündel im Sinne der strukturalen Semantik gedeutet, sodass Jakobsons Poetizitätsprinzip in der Rezeption den Grundverfahren des auf Saussure folgenden Strukturalismus eingelesen wird (s. hierzu genauer: Simon 2018c). Wenn Jakobson nun aber ausdrücklich von der Projektion des Äquivalenzprinzips spricht, dann handelt es sich um eine durchaus rätselhafte Formulierung. Was ist damit gemeint, wenn nicht die Projektion von Äquivalenzen, sondern die ihres Prinzips behauptet wird? Die Unterscheidung von Prinzip und Prinzipiat (bzw. Prinzipiiertem) ist essentiell; ohne diese Ebenendifferenz lässt sich die Differenz von steuernden Prinzipien und durch sie erzeugter Anwendung nicht denken. Die poetische Funktion richtet ihre Aufmerksamkeit auf die »Spürbarkeit der Zeichen« (Jakobson 1979, 93), ihr Prinzip ist also überall die Aufrauung der Materialität der Sprache, die Modellierung der Signifikantenseite. Indem dadurch Ähnlichkeiten erzeugt werden, wirkt diese Modellierung als generierendes Prinzip. Diese an sich simple Bestimmung zieht eine immense Konsequenz nach sich, die so weitgehend gegen den Logozentrismus des Strukturalismus gerichtet ist, dass die strukturalistische Jakobsonrezeption geradezu notwendig in die Irre ging. Man hat vor allem die Achse der Selektion als Saussure’sches Paradigma verstanden und dieses dann semantisch gedeutet, nämlich als Äquivalenz paraphrasierender Terme. Etwas erweitert hat man es metriktheoretisch als Regelset von Metrikformen (Versfüße, Verseinheiten, Strophenformen, Gedichtformen) interpretiert und das Gedicht als Ergebnis einer wiederholenden Projektion solcher Formen verstanden. Aber diese Deutungen sind zu sehr in der Idee der Regelhaftigkeit von Semantik und Form befangen. Die Pointe von Jakobsons Poetizitätskonzept besteht gerade nicht darin, dass der poetische Text primär Veränderungen im Gefüge der Semantik (so Greimas 1971), im Gefüge der Normativitäten (so Link 1983, 166 u.ö.) oder im Gefüge der linguistischen Ebenen (so Posner 1972) vornimmt. Jakobson ist viel radikaler. Als Kratyloge und wilder Semiotiker besteht sein Poetizitätsprinzip schlicht nur in der materialen Äquivalenz, also in der Änderung der Lautspuren oder der literalen Texturen, also in poetischer Etymologie (phoné) oder in Anagrammatik (littera). Was durch diese Veränderung äquivalent gesetzt wird, strukturiert den Diskurs der Poesie. Folglich kann Jakobson gerade nicht an
in eine strukturalistische Theoriebildung, die Saussures Terminologie folgt, ein mehrfacher Fehlgriff ist. – Im Folgenden wiederholt meine Argumentation den Aufsatz (Simon 2018c), über etliche Sequenzen auch wörtlich.
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das linguistisch gängige Konzept des Paradigmas, welches semantisch austauschbare Terme oder regelparallele Formen enthält, anschließen. Projiziert wird vielmehr, was ähnlich macht (poiesis). Wenn im vorangegangenen Kapitel vermutet wurde, dass die Poesie die drei selbstreferentiellen Funktionen gegenüber den drei Bühler’schen vorzieht, dann kann diese These jetzt vertieft werden. Die poetische Funktion macht ähnlich, sie missachtet damit per definitionem die kommunikationspragmatischen Signifikanzen. Wenn der normalen Kommunikation die Stabilität des Kommunikationsinhalts angelegen sein muss und sie deshalb die drei selbstreferentiellen Funktionen in ihre Dienstbarkeit zu nehmen versucht, dann geht die davon befreite poetische Funktion ganz andere Wege. Ihr wird wichtig, was sie hinsichtlich der Spürbarkeit der Zeichen äquivalent setzen kann. Sie spielt in einem ganz anderen Register. Semantik ist ihr eher nebensächlich, Materialität der Sprache hingegen zentral. Deutlich wird dies spätestens aus dem folgenden Zitat, in dem Semantik aus lautlicher Äquivalenz folgt: Zusammengefaßt heißt das: lautliche Äquivalenz, die als konstitutives Prinzip auf die Sequenz projiziert wird, zieht unweigerlich semantische Äquivalenz nach sich, und auf jeder sprachlichen Ebene ruft jede Konstituente einer solchen Sequenz nach einer der beiden korrelativen Erfahrungen, die Hopkins treffend als »Vergleich um der Gleichheit willen« und »Vergleich um der Ungleichheit willen« definierte. (Jakobson 1979, 108)
Jakobsons Überlegungen gehen dabei ungewohnte Wege. Er zählt bei Gedichtinterpretationen die Verteilung der Lautgruppen auf Phonem- und Buchstabenebene und benennt dabei sichtbar werdende Wiederholungsmuster als grammatische Metaphern oder Figuren, grammatische Reime oder allgemeiner als grammatischen Bau.41 Die poetische Funktion formiert ihr Äquivalenzprinzip offenkundig nicht erst auf der Ebene der parole, sondern schon hinsichtlich der basalsten sprachlichen Register, auf der Ebene der distinktiven Merkmale, also vor der Wortbildung. In der Linguistik herrscht die Vorstellung, dass die distinktiven Merkmale eine Matrix von artikulatorischen Eigenschaften von Lauten darstellen (Jakobson/ Fant/ Halle 1951), aus denen die Sprache zwecks Wortbildung eine Auswahl trifft. Die distinktiven Merkmale sind als solche nicht bedeutungstragend, ermöglichen aber auf einer höheren Ebene semantische Kodierungen. Die Matrix dieser lautlichen Unterscheidungen wird metaphorologisch gemeinhin als eine Art von ruhiger Fläche konzeptualisiert: ein unaufgeregtes Angebot für das Anbringen von späteren Unterscheidungen, welches durch konventionalisierte Kodierungen der Sprachgemeinschaft genutzt wird.
41 Jakobson 2007, I, 257–301 und Jakobson und Pomorska 1982, bes. 98–109.
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Der Begriff der grammatischen Figuralität unterstellt nun aber, dass schon die distinktiven Merkmale keineswegs nur eine gleichbleibende, quasi transzendentale Lautmatrix bilden. Sie können individuell sein, dem Tonus eines Menschen folgen, seine Stimmlage abbilden, seinen Atmosphären und Stimmungen entsprechen, sodass z. B. in einer Dichtung vermehrt und sprachstatistisch auffällig dunkle Vokalgruppen auftauchen. Schon die phonetischen Distinktionen werden poetisiert. Wenn dieser Beobachtung Plausibilität zugesprochen werden kann, dann zeigt sich Jakobson als ein Sprachdenker der Echolalien (Heller-Roazen 2008) und der kratylischen Mimikry (Genette 2001). Am Grund der linguistischen Terminologiematrix hat die poetische Funktion die Macht, den Logozentrismus der Sprache nachhaltig zu unterwandern. Diese Unterwanderung nimmt ihren Anfang auf der Lautebene, aber sie kann sich auch als Bevorzugung bestimmter Satzbautypen, ausgewählter Flexionsformen oder der Wahl von Konjunktionen zeigen. Bevor überhaupt die Ebene der parole mit ihren rhetorischen Figuren und Tropen erreicht ist, wirkt die poetische Sprache nach Jakobson immer schon poetisch modellierend auf die systembestimmenden Elemente, also auf ihre Grammatik ein. Aus diesen Bemerkungen erhellt, dass die Projektion des Äquivalenzprinzips keinesfalls nur die Projektion paradigmatisch äquivalenter Terme für Positionen des Syntagmas sein kann. Dies würde eine komplette Sprachformation schon voraussetzen, die dann erst durch ein paar Kunstgriffe, also sekundär, poetisiert werden würde. Jakobsons Ansatz ist weitaus radikaler. Die poetische Funktion modelliert den Sprachprozess von der ersten elementaren Ebene aus. Das heißt auch, dass ihrem Zugriff die Macht zugesprochen werden muss, die normale Sprache bis hinunter zu ihren atomaren Bestandteilen zu erschüttern, zu zerlegen und zu zerteilen, um sie im Sprachleib einer Dichtung ab origine neu zu bestimmen. Jakobsons Kurzversion »Jede Sequenz ist ein Simile« (Jakobson 1979, 110) macht deutlich, dass die poetische Funktion starke Züge einer wilden Semiose trägt, also geradezu das Gegenteil des Logozentrismus strukturalistischer Verfahren ist. Die Gleichsetzung der sprachlichen Sequenzen hinsichtlich der Materialität der Botschaft kann in allen Registern der Sprache stattfinden. Ein Blick in Jakobsons Lektüreverfahren zeigt die immense Bandbreite solcher sequenziellen Similes. Die bekannteren unter ihnen decken sich noch mit der elocutio der Rhetorik oder den Kunstgriffen der Poetik, wie etwa bei Assonanz, Reim, Paronomasie, figura etymologica, Parallelismus etc. Viel interessanter sind aber die soeben benannten Phänomene, sofern sie nicht mehr auf der Ebene des Phänotextes liegen, sondern genotextuell wirksam sind. Figural strukturierte Verteilungen von Vokalen und Konsonanten, gestalthaft gegliederte Rhythmen von Wortbildungstypen (morphologisches Register) oder Abfolgen von Satzbaumustern schreiben
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der Sprache eine so tiefe Selbstreferenz ein, dass der poetische Diskurs als Sprache sui generis zu denken ist. Julia Kristeva hat mit ihren Begriffen des textuellen Doubles (Kristeva 1972b, 352–355) und des Paragramms (Kristeva 1972a) den Versuch unternommen, die poetische Sprache als eine solche zu denken, die die gerichtete Aussageform und damit die Prädikationslogik von Grund auf unterwandert, indem sie durch plurale Selbstbezüglichkeiten an jedem Knotenpunkt eine unhintergehbare Mehrdeutigkeit instituiert. Derart tiefgreifende Ummodellierungen würden nicht möglich sein, wenn sie erst auf der Ebene einer schon etablierten semantischen Struktur tätig würden. Dass Jakobson darauf insistiert, dass die poetische Funktion rein materielle Ähnlichkeiten vorzieht und die Semantik gleichsam hinterherlaufen lässt (s. o.), ist folglich konsequent. Im Sinne dieser Überlegungen ist das poetische Äquivalenzprinzip in der Tat schon auf der Phonemebene der distinktiven Merkmale anzusetzen, die insofern auch die Ebene bildet, die man als einzige rein materielle Ebene der Sprache bezeichnen kann. Wenn Jakobson die Vokalverteilung in einem Gedicht untersucht, dann geht es ihm folglich nicht um in der älteren Literaturwissenschaft gern analysierte Phänomene, nach denen etwa das Auftreten dunkler Vokale eine melancholische Stimmung ausdrücken soll – solche Effekte auf der Ebene der gepflegten Semantik sind für Jakobson nachrangig. Vielmehr wird die Lautverteilung als autonomes Gesamtsystem des Textes analysiert, sodass daraus eine Figur entsteht. Diese wiederum kann dann auf andere Figuren abgebildet werden, die etwa auf der syntaktischen Ebene gefunden werden. Jakobsons Verfahren besteht darin, die Rückführung materieller Textdispositive auf Semantisches solange aufzuschieben, wie sich die Möglichkeit weiterer Simile-Bildungen ergibt. Da Ähnlichkeiten als solche keine klare Regel haben und auf vielen Ebenen gleichzeitig vorkommen, ist eine derart freigesetzte Kombinatorik des Ähnlichen letztlich kaum mit einer irgendwie kontrollierbaren Stoppregel zu versehen. Warum soll man nicht den irrealen Modus mit dem Fehlen qualifizierender Epitheta vergleichen (Jakobson 2007, II, 271) oder ein paronomastisches Band zwischen partizipialen Formen als mythologische Metamorphose behaupten können (Jakobson 2007, II, 271), so etwa die Annahmen in der berühmten Analyse von Baudelaires Les Chats? Der Nachweis solcher Ähnlichkeiten ist linguistisch ›objektiv‹, also durch pure Deixis zu leisten. Gerade indem Jakobson seine Analyse von aller Semantik und ebenfalls von jeglicher Autorintention loslöst, gewinnt er einen Raum nahezu unendlicher Beziehungen. Diese Beschreibung macht vollends deutlich, welche Radikalität im Begriff des Äquivalenzprinzips steckt. In einem ersten und zugleich elementaren Verständnis von Jakobsons Grundidee in seiner Programmschrift Linguistik und Poetik besteht die poetische Funktion in nichts anderem als in der permanenten
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Äquivalentsetzung der parole-Dimension der Botschaft auf allen Ebenen, beginnend bei den Phonemen und endend beim unwichtigsten Aspekt, der Semantik. Projektion des Äquivalenzprinzips heißt mithin nur oberflächig, dass das Syntagma – die geäußerte Rede, der geschriebene Text – hinsichtlich seiner Signifikantenseite so ummodelliert wird, dass in der Lauttextur, in der Morphologie, in der Syntax Ähnlichkeiten hervortreten. Vielmehr: Schon in der genotextuellen Tiefe ist das ganze Sprachsystem der Poesie durch Ähnlichkeiten strukturiert, sodass poetische Sprache zu gerichteten semantischen Aussagen nur mehr sekundär in der Lage und Dichtung folglich grundsätzlich ambig ist. Diese Deutung kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass sich die poetische Funktion, wenn sie zum Prinzip erhoben wird, gegen den Begriff der Kommunikation wendet. Ursprünglich, in ihrer Dienstfunktion zur Absicherung des Kommunikationserfolges, blieb die poetische Funktion in die kommunikative Pragmatik eingebunden, sie erzeugte dabei weitgehend nur Redundanz. Aber als Textprinzip gesetzt ist sie von den sechs Funktionen tatsächlich diejenige, deren transformierende Kraft den Begriff der Kommunikation als solchen sprengt. Je mehr und je tiefer die Sprache auf ihre materialen Ähnlichkeiten hin durchgearbeitet wird, desto weniger steht der geistige Inhalt – als Telos der Kommunikation – im Vordergrund. An dessen Stelle tritt eine intensive Signaturenlehre der Sprache, ein Verweissystem nach innen hinein, mithin eine Selbstreferenz des Sprachlichen, die nicht mehr ›etwas‹ auszusagen hat. Man kann es als einen Glücksfall betrachten, dass Jakobson Anfang der 1960er-Jahre zwar wusste, dass er dem poetischen Text mit den Mitteln der satzorientierten Linguistik nicht beikommen konnte, aber die Textlinguistik noch nicht vorfand. So wich er auf ein Kommunikationsmodell aus, welches prima vista vollständig dysfunktional erscheinen musste, sofern poetische Rede eben nicht pragmatische Mitteilung, sondern Manifestation von sprachlicher Selbstbezüglichkeit ist. Jakobson musste also gleichsam durch das Kommunikationsmodell hindurchgehen und es von innen her umstülpen wie einen beim Ausziehen umgedrehten Handschuh. Er gewann mit diesem kontraevidenten und letztlich nur aus der wissenschaftsgeschichtlichen Situation ableitbaren Schritt die Möglichkeit, Poesie gerade deshalb so stark als einen Modus von Selbstbezüglichkeit zu formulieren, weil sie die Macht zugesprochen bekommt, Kommunikation als solche zu dekonstruieren.
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6.1.3 Die Matrix der poetischen Selbstreferenz (re-entry der Funktionen in die poetische Funktion) Das eine Äquivalenzprinzip, um das es mit der poetischen Funktion geht, ist also formuliert. Es stellt sich nunmehr die Frage, wie sich dieses eine Prinzip in die gegliederte Pluralität von Selbstreferenzen auffächern lässt. Kann man eine Typologie der Selbstreferenzen auf der Basis von Jakobsons Theoriebausteinen entwickeln? Widerspräche sie nicht der soeben behaupteten wilden Semiose? In Jakobsons Linguistik und Poetik findet sich eine aufschlussreiche Formulierung, die auf eine auszudifferenzierende Matrix von Selbstreferenzen schließen lässt: The supremacy of the poetic function over the referential function does not obliterate the reference but makes it ambiguous. The double-sensed message finds correspondence in a split addresser, in a split addressee, as well as in a split reference. (Jakobson 1981, 42) Der Vorrang der poetischen Funktion vor der referentiellen löscht den Gegenstandsbezug nicht aus, sondern macht ihn mehrdeutig. Die doppeldeutige Botschaft findet ihre Entsprechung in einem geteilten Sender, einem geteilten Empfänger und weiter einer geteilten Referenz. (Jakobson 1979, 111)
Die Begriffe Vorrang bzw. supremacy erinnern an das alte Dominanztheorem des russischen Formalismus.42 Zu Recht wurde daran kritisiert, dass ein bloßes quantitatives Übergewicht von poetischen Verfahren und Kunstgriffen einen Text nicht poetisch mache (Frank 1985, 178 f.). Dass Jakobson aber einen ganz anderen Gedanken verfolgt, zeigt das Zitat mit seiner Betonung auf der nicht nur quantitativen Dominanz, sondern der qualitativen Veränderung der anderen Funktionen. Sie werden geteilt und die Teile erscheinen im poetischen Text als Pluralisierung der jeweiligen Funktion. Es ist zudem wichtig, dass Jakobson hier die drei Bühler’schen Funktionen nennt (emotive, konative, referentielle), nicht jedoch auch die beiden verbleibenden selbstreferentiellen (phatische, metasprachliche). Formalisiert man den Gedanken mittels des re-entry-Begriffs von Luhmann, dann lässt sich von einem re-entry der anderen Funktion in die
42 Das Funktionenmodell des russischen Formalismus wurde durch das Konzept, jeweils gewisse Funktionen als dominant anzusetzen und andere in die Latenz treten zu lassen, flexibilisiert, sodass dadurch eine Anwendbarkeit auch auf die Literaturgeschichte (›literarische Evolution‹) gewonnen wurde. Insbesondere Juri Tynjanov hat dabei den Begriff der Dominante benutzt (Tynjanov 1982, 42 u.ö.), der aber insgesamt in den Schriften der russischen Formalisten rekurrent ist (Hansen-Löve 1978, 315–333 und Hansen-Löve 1986).
6.1 Theorie der poetischen Selbstreferenz – Roman Jakobson und die Folgen
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poetische Funktion43 sprechen, sodass sie gemäß der Definitionsvorgabe der poetischen Funktion (Äquivalenzprinzip) umgemodelt, transformiert oder aufgespalten und pluralisiert werden. Es ergibt sich das grundlegende Schema der poetischen Selbstreferenzen: 1. re-entry der emotiven Funktion in die poetische Funktion = poetisierte Emotivität: Aufspaltung und Pluralisierung der poetischen Senderinstanz, also der Funktion Autorschaft 2. re-entry der konativen Funktion in die poetische Funktion = poetisierte Konativität: Aufspaltung und Pluralisierung der poetischen Empfängerinstanz, also der Leserkonstrukte 3. re-entry der referentiellen Funktion in die poetische Funktion = poetisierte Referentialität: Aufspaltung und Pluralisierung der Referenz, also Produktion von Fiktionalität Wendet man denselben Schematismus auf die beiden verbleibenden Funktionen an, dann ergibt sich eine Selbstreferentialität zweiter Stufe. Gegenüber den Bühler’schen Funktionen, die durch die poetische Funktion in den Modus der Selbstbezüglichkeit erster Stufe versetzt werden, findet hier eine Selbstreferentialisierung schon selbstreferentieller Funktionen statt, also eine solche zweiter Stufe. Diese Charakteristik ist der Grund dafür, dass exegetisch das nicht geringe Problem entsteht, die Funktionen nur mit Mühe unterscheiden zu können:44 4. re-entry der phatischen Funktion in die poetische Funktion = poetisierte Phatik: Aufspaltung und Pluralisierung der poetischen Medialität (in der Regel: Schriftlichkeit), also die systemische Etablierung einer schriftpoetologischen Dimension in der Tiefengrammatik der Poesie; Schreibszene 5. re-entry der metasprachlichen Funktion in die poetische Funktion = poetisierte Metasprache: poesiespezifische Aufspaltung und Pluralisierung der
43 Zum re-entry-Begriff von Luhmann vgl. GLU 152–154. Das Konzept, den Dominanzbegriff durch eine Transformationsmatrix auf der Basis des re-entry-Begriffs zu ersetzen, habe ich in einer langen Reihe von Studien entwickelt und angewandt, u. a. in Simon 2009, 201–226. 44 Immanente Poetologie (poetische Metasprache) und Poetik der Schreibszene (poetische Phatik), aber auch Allegorien des Lesens (poetische Konativität) und Allegorien des Erzeugens (poetische Emotivität): Diese Weisen in sich reflektierter Selbstbezüglichkeit lassen sich exegetisch kaum distinkt unterscheiden. Eine textimmanente Poetik der Schreibszene wird immer metasprachliche Züge besitzen und zugleich die Senderfunktion mitthematisieren. Exegetisch wird also eine akkurate Zuweisung von Textbeobachtungen auf die Funktionen nicht immer sinnvoll sein. Dies freilich spricht nicht gegen die Konstruktionsbasis, sondern vielmehr für den Gebrauch ästhetischer Urteilskraft.
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semantischen Selbstbezugnahmen, also Etablierung dessen, was gemeinhin als immanente Poetik jedem poetischen Text zugesprochen wird Es seien diese fünf Typen der poetischen Selbstreferenz die ›Grammatik des Poetischen‹ genannt. Man kann definieren: Sofern die poetische Funktion die anderen fünf Funktionen qualitativ transformiert hat, ist ein Text poetisch.45 Und: Das Grundprinzip der poetischen Funktion ist die Äquivalenz als solche, aber zugleich soll gelten, dass die poetische Funktion dieses Prinzip inhaltlich durchsetzt, indem sie die anderen Funktionen jeweils gemäß der Äquivalenz durcharbeitet. Dies heißt, dass (ad 1.) die Autorschaft in poetischen Texten nicht nur zerlegt und pluralisiert wird, sondern dass die Bestandteile des Autornamens in der Regel anagrammatisch permutiert zirkulieren, weil sie materialiter (durch Buchstabenversetzungen) äquivalent gesetzt wurden. In der Folge sind Autorimago und Autorname sehr oft auf verschiedene literarische Akteure aufgeteilt (s. dazu Kap. 7). Ebenso (ad 2.) werden die Leserkonstrukte (realer Adressat, idealer Leser, Modellleser, missverstehender Leser, göttlicher Universalleser etc.) äquivalent gesetzt, in der Regel durch eine Reihe von variierenden Lektüren der Sujetereignisse, wobei als ›Lektüre‹ hier auch die Reaktionen und Handlungen anderer Figuren bezeichnet seien (s. dazu Kap. 9). Indem (ad 3.) die Referenz in eine Vielzahl von Referenzhinsichten aufgespalten wird, um daraus eine entautomatisierende Neukombination entstehen zu lassen, bildet sich ein Fiktionsraum, der durch die Äquivalenz aller seiner Elemente definiert ist. Die Kohärenz der poetischen Welt – im achtzehnten Jahr-
45 Diese knappe und – wie ich meine – elegante Definition löst ein entscheidendes Theorieproblem, das Jakobson selbst markiert. Seine Diskussion des US-amerikanischen Wahlslogans ›I like Ike‹ (Jakobson 1979, 93) arbeitet sich an der poetischen Gestalt der kleinen Sequenz ab, ohne dabei ein trennscharfes Poetizitätskriterium benennen zu können. In der Jakobsonrezeption wiederholt sich das Ritual, wenn das Ahistorische der poetischen Funktion betont oder komponentenanalytisch argumentiert wird. Solange die poetische Funktion quasi isoliert neben den anderen Funktionen steht und ein bloß quantitativ gruppierendes Dominanzmodell vorhanden ist, überzeugt die Macht der Poetizität nicht. Anders sieht es bei einem qualitativen re-entry-Modell aus. ›I like Ike‹ ist keine Poesie, weil klar ist, wer wem eine Botschaft zukommen lässt. Mit anderen Worten: Emotive und konative Funktion sind nicht poetisiert – und dürfen es auch nicht sein, sofern die Sequenz eine Werbung ist. Werbung ohne identifizierbare Sender und Empfänger wäre sinnlos. Ein poetischer Diskurs liegt hingegen vor, wenn alle Funktionen poetisiert sind, mithin die poetische Funktion nicht einfach nur im Vordergrund steht, sondern vielmehr die transformative Macht besitzt, die ganze poetische Grammatik durchzuführen.
6.2 Form versus Selbstreferenz: Erste Bestimmung von ›Prosa‹
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hundert: ihre Wahrscheinlichkeit als kosmologische Möglichkeit – resultiert poetisch aus der Äquivalenz der referentiellen Versatzstücke (s. dazu Kap. 8). Die Poetisierung der beiden an sich schon selbstreferentiellen Funktionen (s. dazu Kap. 10) führt zu einer überraschenden Verinhaltlichung. Wenn nämlich die poetische Funktion an der Materialität der Sprache ansetzt, dann wird dies bei den beiden selbstreferentiellen Funktionen zum Problem. Diese haben sich von der primären Ebene der sprachlichen Materialität losgelöst und verhalten sich zu ihr im Modus einer formalen Rückkopplung, sie besitzen folglich keine primäre Materialität. Die metasprachliche Reformulierung ist eine semantische Rückkopplung auf die objektsprachliche Kommunikation und die phatische Funktion ist im Regelfall die Markierung der Schriftlichkeit, die mit der Existenzform des Buches an sich schon gegeben ist. Der Status, zweite oder gedoppelte Selbstreferenz zu sein, bringt die poetische Phatik und die poetische Metasprache in die Situation, sich ihren Inhalt (Materialität) auf dieser zweiten Ebene schaffen zu müssen. Das ist eine paradoxe Konstellation: Die poetische Funktion muss sich hier ihren Bezug selbst schaffen (poiesis). Möglich wird dies durch Allegorisierung. Die poetische Funktion transformiert die beiden anderen selbstreferentiellen Funktionen, indem sie deren Eigenlogik allegorisch adressiert. So führt die Poetisierung des Kommunikationskanals (ad 4.) in den Texten zu einer durchgehenden Allegorisierung der medialen Szene, die oft in vielfachen Varianten zirkuliert: Situationen des Schreibens, Lesens, Mitteilens, Allegoresen der Sprachlichkeit im thematischen Material, z. B. in der Deutung eines Vogelzugs schwarzer Raben als Schriftzug (Wilhelm Raabe, Das Odfeld) oder in der Auslegung eines fechtenden Bären als Schreibbewegung (Kleist, Das Marionettentheater). Schließlich ist die Poetisierung der metasprachlichen Funktion (ad 5.) genau das, was man gemeinhin als immanente Poetik bezeichnet hat. Allerdings wird die These nun ausgeweitet: Letztlich ist jede thematische Szene poetologisch dann ausdeutbar, wenn sie als selbstreferentielle Allegorie auf die Poetik des Textes gelesen wird.
6.2 Form versus Selbstreferenz: Erste Bestimmung von ›Prosa‹ Schon in dieser ersten Formulierung der poetischen Grammatik wird deutlich, dass sich Poetizität nicht durch Form und nicht durch Mimesis ins Werk setzt, sondern durch eine Manifestation der selbstreferentiellen Register der Sprache. Die Szene des poetischen Textes stellt sich als eine solche dar, in der die Produktions- und Rezeptionsbedingungen der poetischen Welt selbstbezüglich thematisiert werden (poetisierte emotive und konative Funktion), auf allen Ebe-
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6 Theorie der Prosa
nen anagrammatische Verfahren vorliegen und in der eine immanente Poetik und eine Allegorisierung der Medienbedingungen vorhanden sind (poetisierte metasprachliche und phatische Funktion). So verstanden besteht die Dichtung vor allem aus der umfassenden Instrumentierung ihrer eigenen Grammatik bzw. ihrer eigenen selbstreferentiellen Matrix. Die überraschende Umkehr der Sichtweisen auf Dichtung, die mit dem russischen Formalismus einherging, ist erneut zu konstatieren: Von einem formalistischen oder strukturalistischen Standpunkt aus gesehen besteht Dichtung nicht darin, dass sie sich mit ›der Welt‹ auseinandersetzt. Vielmehr elaboriert sie ihre eigene strukturelle Ermöglichungsmatrix, indem sie sich dafür thematische Anlässe oder Vorwände sucht. Primär ist nicht ihr Referenzbezug (Mimesis), sondern ihr Selbstbezug, den sie freilich verinhaltlichen muss, weshalb sie sich sekundär mit Sujets ausstattet, derer sie sich durch externen Bezug bedient. Wenn Form aus Handlungsweisen als mimetisch formierter Praxis entsteht,46 wird deutlich, dass Poetizität im nunmehr explizierten Sinne ein Gegenprinzip bildet. Form resultiert aus sedimentierten Handlungsablauftypen, welche einer referentiell orientierten Praxis entspringen, Poetizität hingegen entsteht aus der Manifestation der selbstreferentiellen Potentiale der Sprache. Das eine Prinzip ist die ›Seinsumkehr‹ des anderen (um den durchaus belasteten Terminus hier einmal zu nennen). Die interessante Beobachtung besteht nun aber darin, dass diese beiden Prinzipien, so unterschiedlich sie sind, gerade deswegen aufeinander angewiesen bleiben. Reine Selbstreferentialität würde zu einer thematischen Verarmung von Dichtung führen, reine Mimesis hingegen zu einem Realismus, der den Bezug zur Poetizität verliert. Tatsächlich verträgt sich die Notwendigkeit der poetischen Grammatik, zum Zwecke ihrer Manifestation thematische Vorwände suchen zu müssen, mit dem Prinzip der Mimesis, solche Themen durch Referenzbezug aufzufinden. Es lässt sich an dieser Stelle eine Innen-Außen-Unterscheidung einführen. Die Außenseite poetischer Texte besteht darin, dass sie ›etwas‹ artikulieren, also ein Thema haben, welches an einen Weltbezug gekoppelt ist. Entsprechend nimmt die Erstlektüre diese welthaltigen Aussagen wahr, als Aussagen-über ein Etwas, welches dadurch den Status des Referenzobjekts erhält. Erzählungen berichten über Ereignisse, Gedichte haben Gegenstände und Themen, als Naturgedicht also Naturgegenstände, ggf. auch nur Stimmungen. Diese Themen tragen
46 Die explizite Gegenüberstellung von Form versus Selbstreferenz verlangt nach einem ausgeführten Formbegriff. Dazu finden sich im weiteren Verlauf der Argumentation Hinweise. Sehr ausführlich und schon im Hinblick auf die gegenwärtige Theoriebildung wurde der Formbegriff diskutiert in: Simon 2016b und Simon 2018a. Formulierung und argumentative Sequenzen dieser Studien sind in den gegenwärtigen Text eingegangen.
6.2 Form versus Selbstreferenz: Erste Bestimmung von ›Prosa‹
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das Gepräge von Objektkorrelaten, sodass der mimetische Aspekt als der erste und vorherrschende erscheint. Erst in fortgesetzten Lektürewiederholungen findet eine Aufmerksamkeitsumkehr auf die Innenseite statt, durch die zunehmend der allegorische Charakter des thematischen Materials oder die materialen Äquivalenzen der Sprache selbst wahrgenommen werden. Zunehmend verflüchtigt sich der Mimesisaspekt, es tritt die Manifestation poetischer Selbstreferenz in den Fokus der Aufmerksamkeit. Beschreibt man die Verhältnisse so, dann entsteht zwischen Mimesis und Manifestation eine oszillierende Bewegung, die nach beiden Seiten hin offen ist. Formen referieren als sedimentierte Handlungsablauftypen auf Praxis und sind damit referentiell verankert, die Manifestation der selbstbezüglichen Potentiale referiert auf die eigene poetische Grammatik. Zwischen beidem, Fremdund Selbstreferenz der Dichtung, findet eine Pendelbewegung statt, in der sich auf jeder Stufe erneut eine gegenseitige Transformation einstellt. Diese Beschreibung behauptet also, dass Form und Selbstreferenz zwei genuin unterschiedliche Prinzipien sind, die dennoch beide in einer Dichtung interagieren und ihr gewissermaßen das Leben geben. Für den umfangreichsten Teil der poetischen Texte sind daher die Konfliktpotentiale, die zwischen den beiden Grundprinzipien entstehen können, funktional, sie dienen dem inneren Kräftespiel des Werks. Deswegen werden Modi der poetischen Selbstreferenz gemeinhin als formverstärkende Verfahren gedeutet. Insbesondere bei der Gedichtanalyse gilt die unausgesprochene Maxime, dass etwa ein Sonett erst dann ein gutes Sonett wird, wenn es über seine Form hinausgehend weitere Selbstreferenzen mobilisiert. Ein schlechtes Sonett wird es freilich dann, wenn diese Selbstreferenzen überhandnehmen und die Form unterwandern. So wurde Rilkes Sonette[n] an Orpheus der Vorwurf gemacht, die Sonettform durch ein Übermaß von Binnenreimen, Assonanzen, Alliterationen und weiteren Parallelismusfiguren zu überfrachten. Rilkes Sonette sind insofern ein paradigmatischer Fall für den Konflikt von Form und Selbstreferenz. Ihre Kunst besteht darin, die Oszillation der beiden Prinzipien als permanenten Konflikt ästhetisch fruchtbar zu machen. Prosa in dem avancierten Sinne, in dem hier das engere Textkorpus adressiert ist, kann nun definiert werden. Wenn Dichtung auf die qualitative Dominanz von poetischer Selbstmanifestation umstellt und jegliches thematische Material umfassend als bloße Instrumentierung der poetischen Grammatik darstellt, liegt Prosa vor. Sie stellt die poetische Grammatik selbst auf die Textbühne, macht sie zu ihrem primären Thema und präsentiert die thematischen Vorwände, die dazu weiterhin nötig sind, als Maskierungen, meist im Sinne einer humoristischen Kontingenz. Prosa optiert also entschieden für die Seite der Selbstreferenz, sodass sie sich dekonstruktiv zur Formseite verhält. Sie ist
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damit als hochreflexive Dichtung eine Art von Literaturwissenschaft, allerdings im Modus der Fiktionalität, der wilden Semiose und der pluralen Kodierung. Arno Schmidt nannte dieses Prosaschreiben in Zettel’s Traum »Meta=Litteratur« (Schmidt BA IV/I, 517). Zugleich ist eine sehr viel niederschwelligere Bestimmung von Prosa festzuhalten. Sie sei durch Verwendung des substantivierten Adjektivs markiert: Das Prosaische lässt sich auch als konstitutives Moment für Poesie überhaupt deuten. Selbst bei Texten, die sich vorwiegend aus einem dominierenden Formzusammenhang ergeben, wird notwendigerweise eine Dimension poetischer Selbstreferenz zu behaupten sein. Die Texte, die dem engeren Korpus avancierter Prosa angehören, ergeben sich also aus einer umfassenden Dominanz der dargestellten poetischen Grammatik über die sonstigen Formbestimmungen des herkömmlichen Systems poetischer Redeweisen. In den traditionelleren Texten aber ist das Prosaische immer auch als mitlaufende, die Formen poetisierende poetische Funktion vorhanden. Das Argument lässt sich auch so wenden, dass die Differenz von Form versus Selbstreferenz im Falle der dem Kanon folgenden Texte der Ermöglichungsgrund für ihre Dekonstruktion ist, während sich die avancierten Prosatexte nicht dekonstruieren lassen, weil sie immer schon auf der Seite ihrer sie konstituierenden ebenso wie sie unterlaufenden Selbstreflexion stehen (s. schon Simon 2018a, 49–51).
6.3 Zerteilung: Poetische Funktion nach innen gewendet Es sei eine sehr allgemeine Bemerkung vorangestellt: Negativität entsteht bei fortgesetzter Selbstreferenz ohne die Synthesisfunktion der Form. Selbstreferenz als solche kann keine Positivität begründen, sie ist vielmehr Rückgang zu sich im formalen Sinne. Sie zerteilt und setzt die zerteilten Elemente als Modi des Selbstbezugs. Es wäre die Aufgabe von Form, daraus eine Positivität zu machen. Die Form tritt bei der hier in Rede stehenden Prosa allerdings in den Hintergrund. Ist Prosa deshalb negativistisch? Dem Grundzug der poetischen Grammatik folgend lässt sich sagen, dass die Literatur ihre Verfahrensweise inhaltlich instrumentiert. Macht sie aus einem ästhetischen Formalismus der Zerteilung eine Metaphysik der Negativität? – Im Folgenden wird zuerst die Zerteilung zu untersuchen sein; der Bezug auf Negativität wird später folgen (s. Kap. 14), als Inhaltskorrelat der formalen Voraussetzungen. Die These ist zweigliedrig: Die poetische Selbstreferenz ist ein gegenüber der poetischen Form eigenes und sie dekonstruierendes Prinzip. Und: Für die Prosa ist entscheidend, dass sie Darstellung der Grammatik der Poesie ist –
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nicht nur auf der Ebene der ästhetischen Phänomenbeschreibung, sondern indem sie die tiefenstrukturelle Grammatik auf die Textbühne stellt. Die Grammatik der Poesie ›zerteilt‹ die primären kommunikativen Funktionen. Um diesen Gedanken einer tieferreichenden Erörterung zugänglich zu machen, bedarf die Binnenstruktur der poetischen Grammatik einer weiteren Analyse. Sie wird ihren Ausgang bei dem Verhältnis der drei selbstreferentiellen Sprachfunktionen zu den drei fremdreferentiellen Sprachfunktionen nehmen. Die phatische, poetische und metasprachliche Funktion folgen einer aufsteigenden Linie: Zuerst wird das pure Vorhandensein des Kommunikationskanals (phatische Funktion), dann der materiale Aspekt der Kommunikation (poetische Funktion), schließlich die Bedeutung der Kommunikation (metasprachliche Funktion) thematisch. Im Falle der mündlichen Kommunikation also: zuerst der bloße Schall, dann die verbale Artikulation, schließlich die lexikalische Bedeutung des Sprechakts. Für die Schriftlichkeit gilt entsprechend: zuerst die pure Bedingung der Lesbarkeit, sodann die Modellierung des Signifikantenaspekts, schließlich die Produktion der Bedeutung. Die poetische Funktion nimmt hierbei die Mitte ein, bei ihr ist das Wort vorhanden, es ist aber noch nicht primär auf seine Bedeutung bezogen (bei der phatischen Funktion würde ein Sichräuspern reichen, bei der metasprachlichen Funktion liegt schon ein Diskurs vor). Diese Beobachtung macht zunächst evident, dass die poetische Funktion aufgrund ihrer Mittelstellung die Kraft hat, an die beiden anderen Funktionen anzukoppeln und deren Bestimmungen teilweise in sich aufzunehmen. Die Fokussierung auf den Materialitätsaspekt des sprachlichen Signifikanten strahlt auf die bloße Markierung der Geräuschhaftigkeit des Kommunikationskanals ebenso aus wie mit der Seite des Signifikats die Formierung der Bedeutung tangiert ist, die ja unmittelbar mit dem Wort als sprachlichem Zeichen gegeben ist. Aufgrund dieser Mittelstellung bildet die poetische Funktion im Gefüge der drei selbstreferentiellen Funktionen Jakobsons nicht nur eine Scharnierstelle, sie ist vielmehr die Vermittlung der sprachlichen Selbstreferentialität in poeticis. Darauf aufbauend wird eine weitere Beobachtung wichtig, sie wurde schon kurz erwähnt. Die drei selbstreferentiellen Funktionen verdoppeln jeweils spezifisch das an sich einfache Vorhandensein der drei fremdreferentiellen Funktionen. Bei Karl Bühler sind Sender, Empfänger und sprachliches Zeichen (Nachricht hinsichtlich des Darstellungsaspekts) als die basalen Einheiten der Kommunikation ungeschieden und insofern ganz bei sich. Durch die phatische Funktion aber werden Sender und Empfänger neben ihrer Tatsache, dass sie jeweils durch den Kommunikationskanal verbunden sind, auch darin markiert, dies zu sein. Sie sind also doppelt vorhanden, in ihrer einfachen und primären Funktionalität und als das diese Funktionalität Markierende. – In der Poesie wird dieses Verhältnis
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umgekehrt, indem die verdoppelnde Markierung gegenüber der dann nur noch sekundären Kommunikation primär gesetzt wird. Um Jakobsons Beispiel zu bemühen: Im Telefongespräch sprechen Sender und Empfänger nicht nur ihre Nachricht, sondern markieren durch weitere akustische Signale ihre Präsenz im Medium. Sie sind also auch noch als mediale Subjekte vorhanden. Und weiter: Die Nachricht, die faktisch vollzogen wird, besteht eben deshalb aus dem Inhalt und zusätzlich der Markierung des Kommunikationskanals. Kein Telefongespräch wird ohne diese akustischen Signale stattfinden, keine direkte Kommunikation wird ohne Blickkontakt, Gestik und Mimik erfolgen können, keine schriftliche Kommunikation (im vordigitalen Sinne) wird ohne das eye-tracking, ohne die visuelle Gestalterkennung der Schrift oder ohne den taktilen Kontakt mit der Papierseite vorhanden sein. Selbst die Nachricht ist nicht mehr nur als solche und allein mit sich selbst vorhanden, sondern darin eigentümlich verdoppelt, dass sie mit phatischen Markierungen versehen ist. Wenn nun diese Markierungen ihrerseits aus ihrer Dienstfunktion, die Kommunikation zu unterstützen, herausgeholt werden, um als eigenes System zu fungieren, dann befindet sich diese zweite Ebene der Selbstreferenz auf dem Weg zu einer poetischen Verwendung. Es ist der Doppelungsaspekt der selbstferentiellen Funktionen, der für die poetische Selbstbezüglichkeit von Wichtigkeit ist. Kafkas Türhüterparabel Vor dem Gesetz hat etwa aus dem phatischen Aspekt des Eintretens in einen Raum durch permanente Verdopplungen ein eigenes poetisches System erzeugt, welches, formal betrachtet, vor allem die Selbstbezüglichkeit der poetischen Phatik artikuliert. Hinsichtlich der metasprachlichen Funktion gilt Ähnliches: Sender und Empfänger treten in eine semantische Rückkopplungsschleife ein, indem der Empfänger das Verstehen der Bedeutung dadurch sicherstellt, dass er sie noch einmal mit eigenen Worten sagt und sich beim Sender die Bestätigung holt, das Gemeinte getroffen zu haben. Damit wechseln Sender und Empfänger ihre Funktion, genauso wie im poetischen Text die Funktion Autorschaft in ihrer Auffächerung die symmetrische Entsprechung in der Systematik der Leserkonstrukte findet. Beide Instanzen sind deshalb einander so ähnlich, weil sie einander wechselseitig substituieren, analog der in der Soziologie bekannten Perspektiven- bzw. Rollenübernahme (Mead 1973, 300 f., 420–427 u.ö.). Auch hier schlägt die durch die sprachliche Selbstreferentialität erfolgende Verdopplung auf die Nachricht durch. Die Paraphrasierung des Gemeinten durch die Rückkopplung (dasselbe noch einmal anders sagen) unterminiert die einfache Identität der Nachricht, verschiebt ihren Fokus um kleine Nuancen und überantwortet sie dem Spiel der Differenzen. Erneut gilt, dass die Dichtung gerade an diesem Strukturmerkmal ihr vorrangiges Interesse hat. Sie baut nicht die einfache Selbstreferenz (metasprachlicher Gegencheck) aus, sondern die doppelte (rückgekoppelter Gegencheck) und sorgt
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dadurch dafür, dass die Metasprache in den poetischen Diskurs so hineingleitet, dass sie wiederum Objektsprache wird. Man kann deshalb auch sagen, dass Dichtung vom Prinzip her das Paradoxieverbot, dem die Unterscheidung in Objekt- und Metasprache diente, unterläuft. In der Dichtung wird permanent eine objektsprachliche Sequenz als Allegorie der immanenten Poetik gelesen und zwischen unterstelltem Sender und modelliertem Empfänger hin- und hergespielt. Wenn ausgehend von Bühlers Modell die Kommunikation durch die metasprachliche Funktion abgesichert und stabilisiert wird, dann erfolgt in der selbstbezüglichen Dichtung des exakte Gegenteil: Kommunikation wird in die Autopoiesis des dichterischen Textes hineingezogen, u. a. durch das Dominantsetzen der metasprachlichen Funktion über die drei primären Funktionen. Die poetische Funktion schließlich trägt dem Sender die aufgeraute Artikulation an, damit der Empfänger eine modellierte Information identifizieren kann. Für die Nachricht heißt dies, dass an die Stelle einer gleichförmigen Bedeutungslinie Schwerpunktsetzungen treten, die als solche nicht allein aus der Bedeutung resultieren, sondern ihr einen sinnlichen, Aufmerksamkeit erzeugenden Rhythmus verleihen. Überblickt man diese Beschreibung, dann wird man konstatieren müssen, dass in der Kommunikation Sender, Empfänger und Nachricht zwar einerseits als sie selbst vorhanden sind, andererseits aber gemäß der Modellierung durch die drei selbstreferentiellen Funktionen auch noch vervielfältigt vorliegen. Kommunikationstheoretisch dient diese Vervielfachung zunächst der stärkeren Modellierung der Information. Kommunikation wird aber genau dann sistiert, wenn die poetische Funktion die Definitionshoheit innehat. Der entscheidende Punkt ist, dass die poetische Funktion gegen den Kommunikationsaspekt der Kommunikation arbeitet. Ihr kommt dabei zugute, dass sie zwischen bloßem Schall (phatische Funktion) und Bedeutung (metasprachliche Funktion) mitten inne schwebt. Sie kann deshalb die Funktionalität von Kommunikation selbst in den Zustand des Oszillierens versetzen. Tatsächlich ist für eine Theorie der Poetizität der Ansatz bei einem Kommunikationsmodell kontraevident. Dichtung teilt nicht etwas mit, sie manifestiert sich als Sprache.47 Jedes Gedicht würde seinen Zweck verfehlen, wenn es nur eine Nachricht überbringen wollte; es ist unlösbar an die Art und Weise seiner
47 Die Betonung einer Sprachdimension, die ich hier Manifestation nenne, kann sich auf die Tradition der Sprachphilosophie berufen. Theologisch sei an das verbum internum erinnert, welches bei Herder und Humboldt als inneres Wort wieder auftaucht und nicht dem Kommunikationspartner zugesprochen ist, sondern dem sich über die Welt und sich selbst verständigenden Subjekt. Sprache allein aus Kommunikation verstehen zu wollen, wird vor diesem Hintergrund als Verkürzung kenntlich. Charles Taylor hat vor geraumer Zeit eine ähnliche Un-
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Artikulation gebunden, sodass diese Teil der Nachricht wird – womit freilich die Isolierbarkeit der Nachricht im herkömmlichen Sinne von Kommunikation verloren geht. Dass Jakobson, um Poetizität zu verstehen, von einem Kommunikationsmodell ausgeht, ist der historischen Situation seiner Theoriebildung geschuldet. Die Linguistik war bis in die 1960er-Jahre hinein vor allen Dingen eine Theorie des Satzes. Die Textlinguistik, die Jakobson eigentlich gebraucht hätte, stand noch nicht auf der Tagesordnung. Deshalb wohl suchte er seine Zuflucht bei einem formalisierten Kommunikationsmodell, das er so reformulieren musste, dass der gerade nicht kommunikative (nämlich: selbstreferentielle) Grundzug der Dichtung deutlich wurde. Man kann geradezu von einer List der historischen Situation sprechen. Jakobsons Überlegung ist wohl deshalb so überzeugend, weil das der Kommunikationstheorie abgeschaute Funktionenmodell gerade in der kybernetischen Variante von Shannon die ganze Arbeit sichtbar macht, die nötig ist, um der Sprache diejenige Kehre zu geben, die sie von referenzbezogener Mimesis ablöst und zur Poetizität führt. Die poetische Funktion als die vermittelnde Mitte der drei selbstreferentiellen Funktionen hält den Kontakt zur bloßen Medienmarkierung (phatische Funktion) und ist auf dem Weg zur Bedeutung (metasprachliche Funktion), um diese beiden Dimensionen gleichwohl in der Schwebe zu halten und sie dem primären Aspekt einer Herausmodellierung sprachlicher Materialität als Modus von Selbstreferenz zu unterstellen. Poesie ist deswegen weder durch Medientheorie noch durch Bedeutungsanalyse angemessen zu denken. Sie ist mit beidem verbunden, aber vor allem ist sie das distinkte Oszillieren48 dieser Aspekte. Medientheoretisch ließe sich die phatische Funktion als solche in ihrer Funktionalität festlegen, technisch ausgerichtete Medientheorien versuchen dies zu leisten. Aber unter der Definitionshoheit der poetischen Funktion wird eine derartige technische Durchrationalisierung ›poetisiert‹. Ähnliches gilt für die metasprachliche Funktion: Dichtung ließe sich im Sinne einer strukturalen Semantik analysieren, aber auch dies führt an der Frage der Poetizität vorbei, da es in der Dichtung nicht primär um Bedeutung geht. Somit lässt sich eine Schlussfolgerung ziehen. Die Aktivität der drei selbstreferentiellen Funktionen führt zu einer Vervielfachung durch die drei fremdreferentiellen Funktionen. Durchformalisiert: Der Sender (emotive Funktion) wird phatisch-medial und metasprachlich-semantisch markiert, ebenso der Empfänger und die Nachricht hinsichtlich ihres referentiellen Sachaspekts – und alle diese terscheidung benutzt, die für seine Sprachphilosophie bis in neuere Zeiten prägend geblieben ist: Taylor 1980, 282 f. und Taylor 2017, Kap. I.1. u.ö. 48 Der Terminus des distinkten Oszillierens sei hier aus anderem Kontext geborgt; er taucht in der Bildtheorie von Jean-Luc Nancy auf (Nancy 2006, 109–133).
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Aufspaltungen werden durch die poetische Funktion wiederum äquivalent gesetzt. Es ergibt sich also die folgende Kreuzklassifikation: Tab. 4: Aufspaltungen der poetischen Grammatik. Ebene der basalen poetischen Grammatik
Poetische Emotivität: Funktion Autorschaft
Poetische Konativität: Funktion Lesen
Poetische Referentialität: Fiktionalität
nochmalige Selbstreferentialisierung erster Stufe
Autorschaft aufgespalten: . phatisch-medial . metasprachlichsemantisch
Lesen/Rezeption aufgespalten: . phatisch-medial . metasprachlichsemantisch
Referenz/Fiktion aufgespalten: . phatisch-medial . metasprachlichsemantisch
zweite Stufe: nochmalige Poetisierung der ersten Stufe der Selbstreferentialisierung der poetischen Grammatik
I. Poetisierung der phatisch-medialen Autorschaft II. Poetisierung der metasprachlichsemantischen Autorschaft
I. Poetisierung der phatisch-medialen Rezeption II. Poetisierung der metasprachlichsemantischen Rezeption
I. Poetisierung der phatisch-medialen Referenz/Fiktion II. Poetisierung der metasprachlichsemantischen Referenz/Fiktion
Die Aufspaltungen (mittlere Ebene des Schemas) werden poetisch äquivalent gesetzt (untere Ebene des Schemas), rein formal nämlich werden sie sinnlich (Materialitätsaspekt des Zeichens = Signifikant) als ›dasselbe‹ ausgesprochen. Zugleich gilt: Diese Vervielfachung wird kommunikativ nicht finalisiert, sondern verbleibt in der schwebenden Aktivität des distinkten Oszillierens, weil in der Poesie die poetische Funktion das Definitionsapriori innehat. Deshalb ist Dichtung nicht Kommunikation; sie spielt mit Kommunikation, sie versetzt deren Konstituenten in eine Als-ob-Bewegung, sie vervielfacht die Bausteine der Kommunikation und entpragmatisiert sie gerade dadurch. – Das Schema der Aufspaltung der poetischen Grammatik sei im Folgenden kurz durchkommentiert. Wenn durch die poetisierte Funktion Autorschaft phatisch-medial verstanden wird, dann heißt dies vor allen Dingen, dass der Name des Autors selber zum Kommunikationsmedium wird. Die Anagrammatisierung des Eigennamens wird gewissermaßen zum Kommunikationskanal der Funktion Autorschaft. Und zweitens: Die Poetisierung der metasprachlich gedeuteten poetischen Emotivität führt dazu, dass die Semantik der Autorschaft sich über den ganzen Text erstreckt und der Text immer und grundsätzlich auch als autobiographische Aussage des Au-
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tors gelesen werden kann und faktisch auch gelesen wird: Der Text wird dann zur metasprachlichen Aussage des Autors über sein eigenes Leben.49 Wenn die poetisierte Funktion Lesen phatisch-medial interpretiert wird, dann spielt der Text auf der Ebene der dargestellten Kommunikationskanäle Varianten des Verstehens und der Lesbarkeit durch. Dieses Durchspielen kann aber auch semantisch-metasprachlich stattfinden, also in den Szenarien des Interpretierens und Lesens. Sehr oft sind in den Texten explizite Szenographien der Schriftlichkeit, des Schreibtisches, der Leseszene, des Aktes des Lesens vorhanden. Wenn wir uns mit der poetisierten Referenz, also der Fiktionalität des poetischen Textes auseinandersetzen, dann wird Fiktion phatisch-medial so dargestellt, dass die Kommunikationskanäle dysfunktional miteinander verschaltet werden. Metasprachlich-semantisch wird Fiktionalität so organisiert, dass die Deutung einer alternativen Welt die Deutungsmuster der normierten Metasprache außer Kraft setzt. Alle diese Aufspaltungen der poetischen Grammatik werden nun aber durch die poetische Funktion wiederum äquivalent gesetzt. Mit anderen Worten: Die poetische Funktion sorgt zunächst dafür, dass die poetische Grammatik zerlegt wird, um dann nach den Prinzipien der Ähnlichkeit erneut zusammengeführt zu werden. Dieses Zusammensetzen folgt nun aber tatsächlich einer wilden Semiose, die vor allem nach dem Prinzip materieller Ähnlichkeiten gestaltet ist. Poetische Welten haben eben deshalb eine eigene Wirklichkeit, weil sie erstens den Zusammenhang der ersten Welt zerlegen und zweitens einen anderen Modus der Neuorganisation besitzen. Der für eine Theorie der Prosa entscheidende Gedanke lässt sich aus einer naheliegenden Verschiebung des Blickwinkels ableiten. Aus der Sichtweise der drei selbstreferentiellen Funktionen findet eine Vervielfachung durch die drei fremdreferentiellen Funktionen statt. Jakobson ist in diesem Sinne immer auch als Theoriker der Texterweiterung (amplificatio) gelesen worden. Seine Masterfigur, der Parallelismus, entsteht aus der Vorstellung, eine Sequenz werde in Variationen vervielfältigt und textexpansiv eingesetzt.
49 Diese Aussage lässt sich auf eine sehr allgemeine hermeneutische Grundfigur zurückführen. Wilhelm Dilthey hat schon um 1900 in seinen Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft (Dilthey 1981, 233–272) die sehr grundsätzliche Erkenntnis formuliert, dass die Sinnsynthesen geistiger Produkte allesamt autobiographisch imprägniert sind. Die einzelnen Erlebnisse werden in der Weise zu Narrationen oder Sinnzusammenhängen geführt, wie eine stets individuelle Weltsicht sie konstruiert. In diesem Sinne ist jedes geistige Produkt ›autobiographisch‹. – Wenn nun gilt, dass in der Dichtung die poetisierte Emotivität immer auch poetologisch markiert ist, dann wird damit eine implizit autobiographische Dimension mitformuliert.
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Genau derselbe Prozess muss aber aus der Sichtweise der drei fremdreferentiellen Funktionen als Zerteilung erscheinen (diaeresis).50 Für die selbstreferentiellen Funktionen ist es kommunikationstheoretisch funktional, die in ihrer Einfachheit vorhandenen Basisfunktionen der Kommunikation jeweils noch einmal zu profilieren – dies dient der Optimierung und Verbesserung. Verdopplung oder Vervielfachung meint hier selbstreferentielle Systemkontrolle durch absichernde Redundanz.51 Stehen aber die selbstreferentiellen Funktionen unter der Prämisse der poetischen Funktion, die ja sowieso schon die vermittelnde Mitte in diesem Gefüge darstellt, dann verlieren diese Funktionen ihre primäre pragmatische Bestimmung. Einmal poetisiert werden sie Teil jenes distinkten Oszillierens, das die poetische Funktion auszeichnet. Indem die phatische Funktion Teil der poetischen wird, wird sie zur poesieinternen Darstellung der kommunikativen Bedingungen, also auf thematischer Ebene zur Schreibszene. Indem die metasprachliche Funktion Teil der poetischen wird, verliert sie ihre pragmatische Bestimmung, als Kommunikation-über die Bedeutung abzusichern; sie wird als Teil des poetischen Textes zu dessen immanenter Poetik, mithin selbst zum Moment dessen, was zu interpretieren ist. Dieses Gefüge zieht die drei fremdreferentiellen Basisfunktionen der Kommunikation in sich hinein, indem die vormalige Vervielfachung nunmehr durchweg poetisiert wird. So erscheint insgesamt dieser Prozess als Zerteilung und Aufsplittung52 durch Ausdifferenzierung. Vom Ziel möglichst eindeutiger Kommunikation her betrachtet, ist eine solche Mehrzahl entpragmatisierter Sender-, Empfänger- und Nachrichtenfunktionen dysfunktional. Im poetischen Text finden sich also pluralisierte 50 Vgl. Simon 2012: In dieser Studie wurde der Gedanke, dass Jakobson nicht nur als Theoretiker der amplificatio, sondern als einer der diaeresis zu lesen sei, in Bezug auf die Anagrammatik des Autornamens formuliert. Im gegenwärtigen Kontext wird dieses Konzept nun ausgeweitet. 51 Michel Serres hat mit seinen Überlegungen zur Logik des Parasitären eine analoge Gedankenfigur etabliert. Parasitäre Partizipationen ergeben sich aus der Extendierung von Strategien der Absicherung. Genau betrachtet sind es aber gerade solche Verdopplungen, die kulturschaffend sind. Wenn neben einem primären Verfahren dasselbe noch einmal als Reserve für den Ausfall des ersten Verfahrens etabliert wird, dann sind es diese sekundären Regelkreisläufe, in denen sich die Parasiten einnisten. Aber tatsächlich erblühen hier erst diejenigen kulturellen Tätigkeiten, die vom Druck direkter Funktionalität befreit sind (vgl. Serres 1987). – Ganz ähnlich entsteht die Dichtung dort, wo die drei Bühler’schen Primärfunktionen nicht nur durch die drei selbstreferentiellen Funktionen abgesichert werden, sondern wo ihre Selbstbezüglichkeit zum Apriori wird. 52 ›Aufsplittung‹, s. das schon gegebene Zitat (»split«): »The supremacy of the poetic function over the referential function does not obliterate the reference but makes it ambiguous. The double-sensed message finds correspondence in a split addresser, in a split addressee, as well as in a split reference.« (Jakobson 1981, 42).
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Sender- und Empfängerkonzepte sowie plural markierte Nachrichten: Es liegt anstelle von gerichteter Kommunikation eine zerstreute Konstellation derjenigen Funktionen vor, die vormals Kommunikation haben sicherstellen sollen. Was aus der einen Perspektive als Absicherung durch Vervielfachung erscheint, ist aus der Perspektive der poetischen Grammatik vor allem Zerteilung und Zerlegung. Die Dichtung setzt das sekundäre Moment der Redundanz als primäres Moment, welches die vordem prioritäre Kommunikation überformt. Die poetische Funktion macht alle diese zerteilten Momente äquivalent, wobei Äquivalenz hier vor allem materiale Ähnlichkeit meint. Um bei schon benutzten Beispielen zu bleiben: Johann Paul Friedrich Richter gibt sich den Schriftstellernamen Jean Paul, den er als Funktion Autorschaft die Vorrede seiner Bücher signieren lässt, um in manchen dieser Bücher eine Figur mit dem Namen Jean Paul auftreten zu lassen. Arno Schmidt erscheint in dem Text Dr. Mac Intosh: ‹PIPORAKEMES!› als Schmidt, der Besuch von Dr. Mac Intosh bekommt, dessen Name ein Anagramm von Arno Schmidt ist. Äquivalenz ist hier also zunächst ganz wortwörtlich als Übereinstimmung der Buchstaben zu verstehen. Auf diese Fährte der Materialität des Signifikanten gesetzt, finden sich in den Texten weitere Äquivalenzen, zunehmend auch semantische. Wichtig ist aber, dass eine solche Vervielfältigung kommunikativ als Zersetzen der Kommunikation, als ihr Zerfasern und Aufbrechen erscheinen muss. In der Immanenz des poetischen Textes sind der Sender (im Singular) und die Nachricht (im Singular) nicht mehr identifizierbar, entsprechend ist die Kommunikation nicht gerichtet, zumal zusätzlich auch der Empfänger aus einer Vielzahl von immanenten Leserkonzepten besteht. Erneut gilt, dass die poetische Funktion die Vorstellung der Kommunikation komplett invertiert, sie schaltet das Kommunikationsmodell auf Selbstreferenz um. Zerteilung als primäres Ergebnis der Poetisierung aller Textfunktionen führt auf einen zutiefst ambivalenten Sachverhalt. Nur im Ausnahmefall realisieren poetische Texte das Maximum der in ihrer spezifischen Grammatik zu Grunde gelegten Möglichkeiten. Folgen Texte dem Mimesisparadigma, dann tendieren sie in der Regel dazu, sich mit einer zurückhaltenden Modellierung der Normalgrammatik durch die poetische Grammatik zufriedenzustellen. Nach der hier vorgetragenen These ist es das Spezifikum der fortgeschrittenen Prosa, das System der poetischen Grammatik als solches auf die Textbühne zu stellen und es in seinen maximalen Möglichkeiten poetisch zu realisieren. D. h.: Prosa folgt zuvörderst und im ersten Schritt der Logik der Zerteilung. Was immer in die Prosa Einzug hält – Sinnsysteme, poetische Formen, Wissenszusammenhänge, mythische Gestalten, Formen des Lebens –, wird von ihr nicht in dieser Geformtheit aufgenommen, sondern in einem aggressiven Akt zerteilt, zergliedert, atomisiert. Prosa stellt sich gegen die Form. Sie tut dies in Absetzung vom Roman, der von
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den in ihm eingelagerten Formen abhängig bleibt und mit ihnen arbeitet.53 Prosa, die wie diejenige von Arno Schmidt gegen alle symbolischen Mächte arbeitet, ist in ihrem ersten Akt eine denkbar radikale Destruktion, deren Darstellungskanon zunächst aus nichts anderem bestehen kann als aus der Offenlegung dieser zergliedernden Energie: Die Grammatik der Poesie, betrachtet von der Seite der Zerteilung.
6.3.1 Zerteilung – einige Schlussfolgerungen (Bezug zur Lyrik; Manierismus) An diesem Punkt der Argumentation sind einige Einordnungen und Schlussfolgerungen vonnöten. Zunächst ist zu unterstreichen, dass mit dem namhaft gemachten Prinzip der Prosa in der grundsätzlichsten Weise eine Alternative, eine Gabelung in der Verankerung der Theoriesprachen vorliegt. Die herkömmliche Theoriebildung des literaturwissenschaftlichen Formalismus geht von einem Normalzustand der Sprache – der im russischen Formalismus übrigens nicht selten ›Prosa‹ genannt wird – aus, um durch Verfahren der Verfremdung und Entautomatisierung eine Aufkörnung der Sprache zu begründen, die den poetischen Effekt erzeugt. Dieses Modell setzt die Normalgrammatik der Sprache voraus und bestimmt die poetische Sprache als interne Lizenz verschiedener Abweichungen durch ästhetische Verfahren. Diese Verfahren wurden als Kanon der poetischen Funktion verstanden. In diesem Modell bleibt freilich die Normalgrammatik das vorherrschende Paradigma, die ästhetischen Abweichungen liegen innerhalb der an sich nicht infrage gestellten Regeln der Wortbildung, der Satzbildung, der Textkohärenz, der Lizenzen zu Tropen und Figuren und der Fundierung der Semantik in der jeweiligen kulturellen Enzyklopädie. Ganz anders stellt sich die Lage dar, wenn die Grammatik der Poesie nicht die Konkordanz zur Normalgrammatik sucht, sondern vielmehr ihren kompletten Umbau betreibt, sodass nichts unangetastet bleibt: Die Worte werden aufgebrochen, die Syntax existiert nur rudimentär, ein mehrfacher Schriftsinn unterläuft die Möglichkeit, eine literale Primärbedeutung manifest machen zu können,
53 Für die Poetik des Romans ist die Identifizierbarkeit der in ihn eingehenden kleineren Formen konstitutiv. Dies gilt schon für die Theoriebildung der Frühromantik, in der allerdings im Verlauf der Theorieevolution die Unterscheidung von Romantheorie und Prosatheorie aufgetaucht ist (Simon 2013, 193–209). Rüdiger Campe hat in einigen Studien wiederholt deutlich gemacht, dass die Romanpoetik Formen braucht, um den Roman als Transformation von Formen zu beschreiben (Campe 2009; Campe 2014; Campe 2016). – Der radikale Ansatz der Prosa besteht jedoch darin, durch die Arbeit der Selbstreferenz, die faktisch eine Arbeit der Negativität ist, derart zersetzend zu sein, dass Formen nicht mehr textkonstitutiv sein können.
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selbst wesentliche Schranken wie die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit oder die Differenz von intra- und extradiegetischer Perspektive werden souverän missachtet. Die Normalgrammatik ist zum Verhandlungsgegenstand der Grammatik der Poesie geworden – und es scheint, dass es von hier kaum einen Weg zu dem gängigen Poesiebegriff gibt, der seine Plausibilität aus dem subtilen Umgang mit den Variationsmöglichkeiten der Normalgrammatik zieht (man denke an Autoren wie Thomas Mann oder Peter Handke: subtile Virtuositäten der Variation, die dem Gefängnis ihrer Subtilitäten aber auch verhaftet bleiben). Nach dieser Beschreibung ist von einer hypertrophen Struktur der Überbietungen und Verkehrungen auszugehen. Die hier gemeinte avancierte Prosa nimmt keine kleineren Änderungen an der Sprache vor, sie tritt vielmehr mit dem Gestus einer neuen Sprachgestalt auf, die die aggressive, ins Atomare gehende Zerteilung der normalen Sprache zur notwendigen Voraussetzung erklärt. Mit der Mutation von Änderungskategorien ist solchen Texten nicht mehr beizukommen, sie fordern einen genuinen Neuansatz. Prosa im hier gemeinten Sinne verweist auf ein eigenes Prinzip. Daraus folgt eine umfangreiche Neubewertung des poetologischen Kanons. In der europäischen Geschichte der Poetik war es die Lyrik, die aufgrund ihrer Versifizierung das Paradigma der Poetizität bildete. Noch Roman Jakobson schrieb fast ausschließlich seine literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu lyrischen Texten. Wenn es die Prosa ist, welche die Grammatik des Poetischen auf die Textbühne stellt und die poetische Selbstreferenz zum primären Kanon macht, dann liegt eine ganz andere Wendung vor. Nicht mehr die Lyrik, sondern – von der Poetiktradition her gesehen – ihr schieres Gegenteil, die Prosa, wird zum Paradigma der Poetizität. Die Theorie der Prosa avanciert zu dem Ort, an dem die Frage nach der Disziplinarität von Literaturwissenschaft gestellt und verhandelt werden kann, sofern diese ihr Zentrum im Begriff der Poetizität findet. Eine solche Umkehrung diskursiv eingespielter Selbstverständlichkeiten macht eine tiefreichende Debatte von Grundkonzepten erforderlich. Anstelle von Mimesis ist von der Darstellung der Matrix von Poetizität auszugehen, anstelle von Form ist poetische Selbstreferenz anzusetzen, anstelle einer pragmasemiotischen Rhetorik ist eine hypertrophe Rhetorik – eine wilde Semiose – zu denken. Die Theorie der Prosa besetzt die Schlüsselposition des mit dem russischen Formalismus neu entstandenen Kanons der literaturwissenschaftlichen Disziplinarität mit ihrem Zentrum, der Poetizität. Folgt man diesem Gedanken, dann stellt sich freilich die Frage, ob der Begriff der Prosa (oder: das Prosaische) in jedem Fall die angemessene Bezeichnung ist. Sieht man einmal davon ab, dass in der historischen Begriffssemantik die Hegel’sche Bestimmung von der Prosa der Verhältnisse (im Gegensatz zu
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einer vergangenen Poesie des Lebens) vorherrschend ist (vgl. Barck 2003), gäbe es einige Gründe, eine beträchtliche Anzahl von hier vorgestellten Gedankenfiguren auch anders zu benennen. Für den Kanon der behandelten Autoren sind z. B. der Begriff des Manierismus (Zymner 1995) oder eine Romantheorie der selbstreflexiven ästhetischen Moderne (vgl. Pott 1990, mit einem vergleichbaren Textkorpus) vorgeschlagen worden. Die unten zu begründende Idee einer vor der Form liegenden Stofflichkeit könnte historisch ebenfalls andere Benennungen dringlich machen. Tatsächlich ist zu konzedieren, dass der Terminus Prosa in dem hier vorgelegten Versuch eine weit über die bisherige historische Begriffssemantik hinausgehende Vertiefung erfährt und darin Kontakt zu theoretischen Konzepten literaturwissenschaftlicher und philosophischer Art aufnimmt. Auf diese Weise wächst dem Begriff ein Bedeutungsumfang zu, der zunächst irritieren mag. Um dieser Irritation entgegenzuwirken, sucht das vorliegende Buch immer wieder aufs Neue den Kontakt zu traditionellen Begriffsbestimmungen der Poetik, aber auch der philosophischen Tradition aufrechtzuerhalten. Diese Rückbindung an Argumentationsmuster der alten Poetik und der Philosophie soll, so zumindest die Intention, dem Begriff der Prosa diejenige literaturwissenschaftliche Fundierung sichern, die ihm zugleich die Lizenz zu einer durchaus weit ausholenden begrifflichen Vertiefung und Erweiterung erteilt. Man mag aus diesen Bemerkungen heraushören, dass in dem vorliegenden Versuch eine fortlaufende Reflexion des Verhältnisses von Literatur und Philosophie zum Thema wird. In diesem Sinne sind aus dem formalistischen Haupttheorem, dass die Prosa die Grammatik der Poesie als solche zu ihrem Hauptthema macht, und aus der näheren Bestimmung, dass diese Tätigkeit zunächst die negative Seite einer Zerteilung besitzt, eine Reihe inhaltlicher Schlussfolgerungen oder zumindest thematischer Kopplungen abzuleiten. Aufgrund der poetologischen Aktivität der Zerteilung – sind Affinitäten zur weltanschaulichen Negativität und zu pessimistischen Materialismuskonzepten vorhanden: Zerteilung korrespondiert mit Epistemologien, die grundsätzlich nicht monistisch, sondern dualistisch angelegt sind und die Kontakt zu atomistischen Modellen unterhalten; – ist die Anagrammatik ein zentrales Paradigma: Für die Prosa ist nicht das Wort die elementare Größe, sondern der Buchstabe; entsprechend erfolgt eine Neukonstruktion von einer Ebene her, die in der Linguistik als differenzbezogen, aber noch nicht als bedeutungstragend bezeichnet wird; – ist eine Theorie des poetischen Satzes zu denken: Prosa unterläuft die Normalgrammatik durch die schiere, syntaktische Synthesis erschwerende Länge hypotaktischer Satzlabyrinthe (Jean Paul) oder auch durch Unterbietung der syntaktischen Synthesisform (Arno Schmidts snapshots);
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fallen teleologische Form-Paradigmen aus: Auf thematischer Ebene ist Prosa durch enge rekursive Verhältnisse gekennzeichnet, die grundsätzlich gegen eine zeitkonforme Entwicklungslogik ästhetischer Form gerichtet sind und ein enges Netz von Selbstreferenzen, Wiederholungen und Parallelen etablieren, sodass eine textuelle Welt entsteht, die sich gleichsam aus ihren eigenen Parallelwelten entfaltet, indem sie diese permanent übereinanderlegt.
Zerteilung zeigt sich mithin als zentrales Paradigma, als für die Prosa notwendige Implikation der Poetizität infolge ihrer starken Konzentration auf den Kanon der poetischen Selbstbezüglichkeiten. Die literaturwissenschaftlich ausgerichteten Theorieteile zur Poetik des Wortes (Anagrammatik) und zur Poetik des Satzes werden mit metaphysischen Überlegungen zu pessimistisch-materialistischen Dualismuskonzepten zu verbinden sein, um die spezifische ästhetische Gestalt von Prosa denkbar zu machen.
6.4 Ikonische Poiesis der Prosa Die nunmehr erreichte Formulierung einer poetischen Grammatik als Leitfaden poetischer Selbstreferenz gibt Anlass, an dieser Stelle die weiteren Argumentationsschritte zu skizzieren. Die bislang formalistisch-kalkülhaften Überlegungen bedürfen einer Ergänzung, eigentlich sogar einer tiefgehenden Dekonstruktion. Schon der Ansatz Jakobsons bei einem Kommunikationsmodell ist für Fragen der poetischen Selbstreferenz durchaus kontraevident. Die damit einhergehende formalistische Terminologie, die von Funktionen, Sender, Empfänger und Botschaft spricht, ist für die Beschreibung poetischer Texte nicht per se zielführend – bei Jakobson entsprang sie einer historischen Verlegenheit (s. o.). Deshalb werden die nächsten Schritte eine verschiebende Konkretisierung des Grundmodells der poetischen Grammatik zum Inhalt haben. Wie stellt sich der Formalismus der fünf basalen Selbstreferenzen auf die Textbühne? Wie verinhaltlicht sich die Selbstbezüglichkeit? Oder anders: Wie entsteht aus einem Formalismus die konkrete Bildlichkeit der Textszenarien? Wie sind Ikonizität, Auf-die-Bühne-Stellen und formale Matrix in ihrem Zusammenhang zu denken? Ausgangspunkt ist die Analyse der poetischen Emotivität (Funktion Autorschaft), die als konkrete Verkörperung, als Sprache des Einzelnen in seiner sprachartikulierten Leiblichkeit zu reformulieren ist. Zweitens wird mit der Bestimmung der poetischen Referentialität (Fiktionalität) eine Ontologisierung des selbstreferentiellen Formalismus der poetischen Grammatik betrieben. Sprachmagie ist die ontologische Verfahrensweise der
6.4 Ikonische Poiesis der Prosa
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Selbstreferenz. Es wird sich erweisen, dass es sprachmagische Verfahren sind, die in den avancierten Prosatexten die fiktionalen Räume und Zeiten instituieren. Mit der poetischen Emotivität und der poetischen Referentialität stehen also zunächst zwei Argumente zur Diskussion, die die Konkretion und die Verkörperung ins Zentrum stellen und somit auch eine gewisse Gegenbewegung zum bislang durchgeführten Formalismus vollziehen. Die Analyse der poetischen Konativität (Funktion Lesen) vertieft diese beiden Felder, indem die Lesetätigkeiten als Theorie des konkreten Verstehens reformuliert werden. Dies meint: Lesen wird als textimmanente Kategorie rekonstruiert, nämlich als die Art und Weise, wie sich die literarischen Figuren gegenseitig durch ihre Interaktion deuten, entziffern und lesen. Mit diesem Ansatz wird eine Neudeutung der Interaktion zwischen den poetischen Figuren gewonnen. Es wurde mehrfach betont, dass auf der exegetischen Ebene die genuin selbstreferentiellen Funktionen schwer auseinanderzuhalten sind. Die poetische Phatik als Schreibszene ist immer auch Teil der poetischen Metasprache. Man kann versuchen, die Unterscheidung zwischen Schreibszene und immanenter Poetik beizubehalten, aber angesichts der weitgehenden metaphorologischen Lizenzen, die sich die Prosatexte nehmen, wäre dies ein zu pedantisches Unterfangen. Wenn Prosa in der grundsätzlichsten Weise die verkörpernde Instrumentierung der poetischen Grammatik ist, dann ist sie geradezu notwendig in jedem ihrer thematischen Momente immer auch immanente Poetik. Und insofern Prosa die poetische Grammatik auf die Textbühne stellt, führt dies wohl immer auch zur Schreibszene. Prosa entwirft Szenographien, deren Inhalt die gleichsam animierte Diskursgrammatik des Poetischen ist, auf Schriftwissen angewandte Schriftbewegung, also Schreibszene. Es wird sich zeigen, dass die angedeuteten Analysen nicht nur eine dichte Beschreibung der Prosatexte leisten, sondern auch den Grundriss einer Literaturwissenschaft skizzieren, die auf dem Begriff der Selbstreferenz aufbaut. Dieses Argumentationsprogramm bildet den Kern des vorliegenden Buches. Es wird dann durch Nachträge, Vertiefungen und Hinzufügung weiterer Theoriesprachen vertieft werden, insbesondere aber durch einen zweiten Durchgang durch eine Matrix der Selbstbezüglichkeit, die sich schlicht an den linguistischen Grundeinheiten Wort, Satz und Text orientiert. Das Grundtheorem, Prosa sei das Auf-die-Bühne-Stellen der poetischen Grammatik, erfährt in jedem der Analysegänge eine Vertiefung, deren gemeinsamer Nenner in einer Tätigkeit besteht, die ikonische Poiesis genannt sei (vgl. Simon 2009, bes. Kap. III.2.). Die Kraft der Poesie, etwas darzustellen, indem es im Text zwar in Form von Buchstaben – als Worte, Sätze, Texteinheiten – auftritt,
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6 Theorie der Prosa
aber immer auch als Vergegenwärtigung (evidentia, energeia, hypotyposis)54 eine Bildproduktion bewirkt, hat in einer Theorie der poetischen Selbstreferenz eine Schlüsselstellung inne. Im alten, die europäischen Poetiktraditionen dominierenden Mimesisparadigma war durch den Referenzbezug auf Welt oder Natur (imitatio naturae) und durch die Abhängigkeit der Formbegriffe von Handlungsweisen55 die poetische Darstellungskraft als Implikat von Referenz mitgesetzt. Wenn Mimesis in allen ihren Varianten eine in Zeichenabfolgen wiederholte Formulierung von Weltbegebenheiten ist, dann ist deren Vergegenwärtigung allein schon durch die referentiellen Szenographien mitgesetzt. Anders sieht es bei einer Theorie poetischer Selbstreferenz aus. Zunächst ist dem Formalismus von fünf re-entries in die poetische Funktion keine mitgesetzte Ikonisierung eingeschrieben. Die poetische Funktion besteht nach Jakobson vorderhand nur in der Aufrauung der Stimme, der Markierung des Signfikantenaspekts, also in der Durchmodellierung der Sequenz nach dem Prinzip der Äquivalenz. Dass der poetische Text notwendig eine bestimmte Weise des Heraustretens in die Sichtbarkeit ist, dass er Szenographien erzeugen muss und eine innere Anschaulichkeit (Willems 1989) konstitutiv produziert, ist in dem Formalismus, der aus der Weiterentwicklung von Jakobson entspringt, nicht schon mitgedacht; vielleicht ist es allein aus einem formalistischen Paradigma auch gar nicht denkbar. Selbstreferenz als solche impliziert keine ikonische Poiesis. Deshalb gewinnt diese eine Scharnierfunktion im Übergang von der poetischen Grammatik zur poetischen Performanz.
6.5 Die poetische Funktion neu interpretiert Die Jakobson’sche Systemformel lässt sich an dieser Stelle präzisieren (vgl. zum Folgenden: Simon 2018c). Die Frage, was genau projiziert wird, wenn es um das
54 Aristoteles, Rhetorik (III. Buch, 1411b = 1993, 192): Vor-Augen-Führen (pro ommaton poiein). Cicero, De oratore: »Denn es macht großen Eindruck, bei einer Sache zu verweilen, die Dinge anschaulich auszumalen und fast so vor Augen zu führen, als trügen sie sich wirklich zu.« (III, 202 = 1991, 573 f.). Quintilian, Institutio oratoria: »Die Figur nun, die Cicero als Unmittelbarvor-Augen-Stellen bezeichnet, pflegt dann einzutreten, wenn ein Vorgang nicht als geschehen angegeben, sondern so, wie er geschehen ist, vorgeführt wird [...]« (9,2,40 = 1995 II, 287). Vgl. Kemmann 1996. 55 Ein handlungstheoretisches Modell der aristotelischen Mimesis schlägt Paul Ricœur vor: Praxisformen (z. B. Handlung) führen zu symbolischen Repräsentationen (z. B. Narration), welche in der Rezeption wiederum praxisbezogen rekonfiguriert werden. Mimesis fächert sich dreifach auf, sodass sich Formprozesse als Umdeutungen von Handlungsweisen zeigen und in diese zurückgeführt werden (Ricœur 2007, I, 87–135).
6.5 Die poetische Funktion neu interpretiert
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Prinzip der Äquivalenz (und nicht um die Äquivalenzen) geht, lässt sich nun elegant bestimmen. Die poetische Funktion projiziert die fünf re-entries so, dass ein Text poetisch wird, indem er die poetische Grammatik nicht in abstracto, sondern in konkreter Ikonisierung (ikonische Poiesis) auf die Textbühne stellt. Man wird wohl den Terminus der Projektion genauer bestimmen müssen. Entweder man verzichtet auf ihn und ersetzt ihn durch Begriffe wie Transformieren, Modellierung oder Umbilden. Oder man bestimmt ihn genauer, vielleicht im mathematischen Sinne als präzise Abbildung von arithmetischen Verhältnissen auf geometrische oder im Sinne der Mengenlehre als Projektions- bzw. Koordinatenabbildung. Im Kern ist es darum zu tun, dass die poetische Funktion ihren eigenen Inhalt erzeugt, also nicht nur formalistisch bleibt. Indem sie die Positionen des Kommunikationsmodells zuerst zersetzt und zerlegt, um diese Einzelteile dann als ähnliche zu behandeln, erzeugt sie pluralisierte Sender, Botschaften, Empfänger, Schreibszenen und Metasprachen. Diese – der Inbegriff der poetischen Grammatik – werden im Text als thematische Positionen, also textuell ikonisiert, dargestellt. Die poetische Grammatik transformiert sich zu ›erscheinenden‹ Positionen des poetischen Textes. Oder: Die poetische Grammatik projiziert oder überträgt ihre abstrakt-kalkülhafte Logik auf die konkret-poetische Textualität und erzeugt somit die Textwirklichkeit. Das Prinzip der Äquivalenz ist demnach: die poetische Grammatik. Die Jakobson’sche Systemformel lässt sich mithin umformulieren: Die poetische Funktion transformiert das Syntagma, indem sie die Prinzipien der anderen, poetisierten Sprachfunktionen in der Form vielfacher Variation zur Darstellung bringt. (Simon 2018c, 134)
Oder kürzer: Die poetische Funktion baut das Syntagma als ikonisierte Darstellung der poetischen Grammatik.
Mit diesen Formulierungen kann die schwierige Frage, wie die Projektion des Prinzips der Äquivalenz – im Unterschied zu Projektion der Äquivalenzen – verstanden werden kann, beantwortet werden. Die Frage lautet also: Wie lässt sich die poetische Grammatik in Darstellung überführen? Wie gewinnt poetische Selbstreferenz ikonische Präsenz? Die nachfolgenden Kapitel versuchen, jedes für sich, darauf eine Antwort zu geben.
7 Poetische Emotivität: Funktion Autorschaft, Theorie des literarischen Charakters Im Roman, so die traditionelle poetologische Auskunft, entstehen literarische Charaktere aus einem mimetischen Bezug. Weil der Romanheld ein Begehrensziel hat und sich gegen Opponenten durchsetzen muss, während er von Helfern unterstützt wird, ergibt sich die Basismatrix der Romanerzählung aus klaren Dichotomien: Held vs. begehrte Person (vulgo: das Liebespaar), Helfer vs. Opponent.56 Diese Funktionen werden durch einen reichen mimetischen Weltbezug orchestriert. Das Dirigat dafür übernimmt der Erzähler. Die Erzählung installiert ihr Erzählziel als ein referentielles Etwas (das ›Was‹ der Narration, der Gegenstand der Diegese).57 Dazu braucht sie ein ausdifferenziertes Personal, das sich zu diesem Ziel in verschiedenen Hinsichten verhält, wobei dieses Verhalten aus Weltwissen (Mimesis)58 abgeleitet wird. Die Erzählung baut also mit dem zu behandelnden Thema eine immanente Fremdreferenz auf, aus der der mimetische Bezug zur nachzuahmenden Wirklichkeit motiviert wird. Eine Theorie der poetischen Selbstreferenz, die zudem nicht vom Zusammenhang von Mimesis und Form ausgeht, wird diese Konstellation einer durch einen Erzähler dirigierten Aktantenmatrix wegen des darin konstitutiven Fremdbezugs nicht wiederholen können. Die Gegenthese lautet vielmehr, dass in den hier in Frage stehenden Prosatexten die Figuren der fiktionalen Welt im Kern aus einer Pluralisierung der poetisierten Emotivität (Funktion Autorschaft) resultieren, also nicht aus Oppositionsbildungen, die funktional zu Handlungszielen entstehen und die durch fremdreferentielle Bezüge instrumentiert werden. Die Bindung an Weltwissen und einem daraus entspringenden reichen Ensemble von Charaktereigenschaften wird in den Prosatexten lockerer. Die direkte Folge ist, dass damit das Erzähldirigat funktional marginalisiert wird und in nicht wenigen Fällen tatsächlich zu einer weiteren Variante der Funktion Autorschaft wird. Damit treten Zur strukturalen Herleitung der aktantiellen Basismatrix von Narration vgl. Greimas 1971, 157–177. Diegese meint die erzählende Vermittlung, die nicht als direkte Rede von Figuren erscheint. Narrative Diegesis ist also in der Regel auktoriale Mitteilung über das, was passiert: der Sachverhalt, das Thema der Erzählung, eingebettet in das Gesamt der erzählten Welt. Vgl. Genette 1994, 162–165; Schmid 2008, 86–95; Lahn/Meister 2008, 117–119. Im Kontext der Erzähltheorie ist narrative Mimesis der Terminus, der die Aktionen handelnder Figuren, insbesondere ihre wörtlichen Reden bezeichnet. Der literarische Charakter wird also mimetisch, weithin durch Weltwissen über Charakterformen erzeugt. Zugleich artikuliert er sich seinerseits mimetisch, nämlich durch direkte Rede. Vgl. Schmid 2008, 9 f., 26–29; Lahn und Meister 2008, 117–119. https://doi.org/10.1515/9783110775570-007
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entscheidende Vermittlungsebenen des narrativen Diskurses durchaus in den Hintergrund, mitunter werden sie humoristisch markiert, in der Sache aber unterwandert. Ein solches Theoriedesign für den Begriff des literarischen Charakters ist ungewöhnlich. In der Poetiktradition ist gerade die Konstitution der poetischen Akteure stark auf das Mimesisparadigma59 bezogen, verbunden mit rhetorischen Kategorien der Personalität, ausgreifend auch auf moraltypologische Charakterlehren, die etwa in der Tradition des Theophrast stehen. Dass das literarische Personal wesentlich aus Selbstreferenz geboren wird, ist demgegenüber ein zunächst kontraevidenter Gedanke, vor allem, wenn man ihn begrifflich zuspitzt. Gerade im gegenwärtigen Argumentationskontext ist jedoch darüber nachzudenken, wie sich die poetische Grammatik in die Verkörperung der poetisch handelnden Akteure begeben kann. Wie kann ein zunächst sehr abstrakter Formalismus zur konkret individualisierten Äußerungsform der poetischen Emotivität in dem Sinne werden, dass letztlich das gesamte poetische Personal in dem Verdacht steht, nichts anderes als eine Variantenreihe der poetischen Senderinstanz zu sein? Der Weg zu einer Beantwortung dieser Frage wird einige Umwege zu gehen haben. Der entscheidende Schritt besteht zunächst darin, die poetische Grammatik auf radikale Weise mit einem noch auszuführenden Begriff der ›Inkarnation‹ zu verbinden, um sie von einer Abstraktheit kalkülhafter Kombinatorik in solche Selbstverhältnisse zu überführen, die von vornherein als verkörperte auftreten. Dieser Schritt – er wird sogleich mit Merleau-Pontys Begriff des chair vollzogen werden – soll im grundsätzlichsten Sinne verstanden werden. Das meint, dass er eigentlich nicht ein zweiter und nachfolgender Schritt nach dem ersten der Etablierung der poetischen Grammatik ist, sondern vielmehr als gleichursprünglich zu denken ist. Selbstverhältnisse sind immer sofort konkret, individualisiert, verkörpert und nicht erst infolge einer erst hinzutretenden personificatio des Geistes bzw. der poetischen Grammatik.
Zur Erinnerung: Bei Aristoteles ist Nachahmung (Mimesis) primär die Nachahmung von handelnden Charakteren (vgl. Arist. Poetik 1449b und 1450a). In der Begriffsgeschichte wurde daraus schnell die imitatio naturae, sodass Nachahmung so verallgemeinert wurde, dass sie mit Weltbezug, also mit Nachahmung von Welt gleichgesetzt werden konnte. Losgelöst von Charakteren, sofern sie handeln und als Handelnde sprechen, wurde damit das Nachahmungsparadigma schlussendlich zu einer Debatte über den Referenzbezug von Dichtung. Vgl. Petersen 2000 und in durchaus anderer Pointierung: Uhlmann 2018.
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7.1 Körpergebundene Intransparenz der Selbstwahrnehmung Maurice Merleau-Ponty macht auf eine rätselhafte Eigenschaft der menschlichen Wahrnehmung aufmerksam. Wenn wir etwas sehen, dann sehen wir immer auch Teile unseres eigenen Körpers, zumindest die Abschattierungen der Nasenflügel, je nach Gesichtsform die halbtransparenten Umrisse der Wangen oder der Augenbrauen, und fast in jeder Situation im unmittelbaren Vordergrund Hände und Arme, gegebenenfalls Bauch und Beine.60 Nie wird etwas gesehen, ohne dass derjenige, der sieht, seine eigene körperliche Präsenz im Gesichtsfeld nicht auch mitsehen würde. Ebenso rätselhaft wie sonderbar ist es, dass diese elementare Tatsache der Wahrnehmung kaum je bewusst ist und systematisch verdrängt wird. In kaum einer Erinnerung dessen, was wir gesehen haben, sind diese Nasenflügel oder der Stirnknochen noch vorhanden. Die Gedächtnisbilder sind von der Markierung dessen, der sie durch sein Sehen erzeugt und im Gesehenen mitpräsentiert hat, gereinigt. Das bekannte Bild einer konkreten Wahrnehmungssituation von Ernst Mach veranschaulicht die Sachlage sehr gut. Der Blick aus dem linken Auge beinhaltet nicht nur die erblickte Fremdreferenz, sondern auch Teile des eigenen Körpers, den Nasenflügel, die Augenhöhle. Zur Rätselhaftigkeit dieser Beobachtung gehört, dass zwar unser Körper immer mitgesehen wird, er aber zugleich nie vollständig gesehen werden kann. Es gibt keine Möglichkeit, selbst nicht bei komplexen Stellungen von Spiegeln, den eigenen Körper, der immer da ist und meist vergessen wird, als solchen zu sehen, selbst wenn man ihn sehen wollte. Wir sehen immer nur Vorder- oder Seitenansichten von uns, an uns herunterschauend fehlt immer der wesentliche Mittelpunkt. So ist der Körper konstitutiv immer da und konstitutiv nie vollständig präsent; zugleich wird sein Dasein systematisch negiert – und zwar von der Wahrnehmung selbst, nicht durch einen bewussten Akt –, während die stets unvollständige Präsenz der Selbstwahrnehmung wiederum kaum ein Bewusstsein davon hat, dass wir uns unseres Körpers nie inne zu werden in der Lage sind, obwohl wir ihn selbstverständlich als unsere Unmittelbarkeit anerkennen und uns seiner gewiss zu sein glauben.
Vgl. etwa Merleau-Ponty 2004, 22: »[…] ich sehe den Tisch nur, wenn er in deren [Auge, Leib; R.S:] Reichweite gerät; über ihm gibt es die undurchdringliche Masse meiner Stirn, unter ihm die undeutlicheren Umrisse meiner Wangen«. – Derartige Bemerkungen zur konkreten Phänomenologie der Wahrnehmung, die immer im Leib passiert, zugleich vom Leib exterritorialisiert wird, leibgebunden bleibt, vom Leib ermöglicht und zugleich behindert wird, ziehen sich durch das Gesamtwerk von Merleau-Ponty, so in seinen Essays im Umkreis von Das Auge und der Geist (2003, zuerst 1961), aber auch schon in der Phänomenologie der Wahrnehmung (zuerst 1945).
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Abb. 4: Selbstschau des Ich, aus: Ernst Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen. Jena 1886, 14.
Es handelt sich um einen Fall von Selbstreferenz, der grundlegend unvollständig bleibt. Offenkundig lässt sich die sinnliche Selbstwahrnehmung weder transparent noch umfassend machen, und offenkundig verdrängt sie schon im Wahrnehmungsprozess die selbstbezügliche Markierung, ohne sie aber je auslöschen zu können. Merleau-Ponty ergänzt diese Überlegungen auch durch eindringliche Paradoxien der sich entziehenden Selbstpräsenz schon auf der somatischen Ebene: Zweifelsohne ist es nicht ausschließlich mein Leib, der wahrnimmt: ich weiß nur, er kann mich am Wahrnehmen hindern, ohne seine Zustimmung kann ich nicht wahrnehmen; im Augenblick des Wahrnehmens verschwindet er, und die Wahrnehmung erfaßt ihn niemals dann, wenn er wahrnimmt. Wenn meine linke Hand meine rechte berührt und ich mit meiner rechten Hand die linke Hand, die gerade berührt, bei ihrer Arbeit überraschen will, so mißlingt diese Reflexion des Leibes auf sich selbst immer im letzten Augenblick: in dem Augenblick, in dem ich mit meiner rechten Hand meine linke spüre, höre ich imgleichen auch auf, meine rechte Hand mit meiner linken zu berühren. (Merleau-Ponty 2004, 24)
Wenn Johann Gottfried Herder in seiner Phänomenologie des Sehens davon spricht, dass das Sehen das Subjekt von sich wegschleudert und es ganz ans Gesehene hingibt – »wir sind zu zerstreut, zu sehr aus uns geworfen« (Herder
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DKV 4, 236) –, dann scheint das Sehen geradezu derjenige Sinn zu sein, der so umfassend auf Fremdreferenz ausgerichtet ist, dass er den Selbstbezug geradezu verneint: Wir kennen unsre Seele so wenig, wie unser Gesicht, weil wirs nicht studieren; wir studieren andre Physiognomien nur um sie zu erkennen, wenn sie uns begegnen; uns selbst studieren wir nicht, weil wir nicht nötig haben, uns zu begegnen. Wir sehen und studieren nur Erscheinungen; wie wir Erscheinungen geworden sind, studieren wir nicht. (Herder DKV 4, 236)
Aber tatsächlich ist Herders Beschreibung auf instruktive Weise unvollständig. Genau betrachtet besteht der primäre Effekt der selbstreferentiellen Markierung des sehenden Ichs im Gesehenen darin, Fremdreferenz in ein Koordinatennetz einzulesen, für das Karl Bühler in seiner Sprachtheorie den Terminus der IchJetzt-Hier-Origo gefunden hat (Bühler 1978, 102–120). Indem die Teile unserer körperlichen Gegenwart im Blickfeld eine Rahmung bilden, werden die Inhalte des Gesehenen funktional in Bezug auf diese Rahmung bestimmt. Wir sehen nicht die Welt, sondern denjenigen Ausschnitt, den unsere körpergebundene Perspektive aus ihr herausschneidet, sodass die Welt eine Funktion unserer rahmensetzenden Körperlichkeit ist. Schon die Vorstellungen haben also, entgegen üblicher Vermutungen, durch diese Rahmungen Bildcharakter.61 Aber genau diese Eigenschaft wird aus undurchschaubaren Gründen verdrängt, sodass uns unsere Vorstellungen als ›reine‹ Gegebenheit des in ihnen Präsenten erscheinen, die wir erst durch einen Bewusstseinsakt – eine Art ikonisches cogito62 – zu unseren Bildern von etwas machen. Wir eignen uns mithin bildpro-
Diese Behauptung steht im direkten Widerspruch zum landläufigen Vorstellungsbegriff, auch zu dem der Phänomenologie. Vorstellung wird der Akt genannt, in dem etwas vorstellig wird und der ganz in dem Diesen-Gegenstand-Meinen aufgeht. So argumentiert Husserl (s. dazu Pöltner 2004, 595), um die Vorstellung sogleich vom Bild mit dem Argument zu unterscheiden, dass das Bildbewusstsein ein fundierter Akt sei (Pöltner 2004, 596). Merleau-Ponty mit seiner Ontologie des wilden Seins (Bermes 2004, 145–159) und Bühler mit seiner Ich-Jetzt-Hier-Deixis durchkreuzen aber diese eingängige Unterscheidung durch den Nachweis, dass das in der Vorstellung Vorgestellte eben nicht die reine Präsenz des Inhalts sein kann, weil das vorstellende Subjekt in seiner Leiblichkeit immer auch schon im Vorgestellten mit dabei ist, stärker noch: dem Vorgestellten einen Rahmen gibt, der implizit miterscheint, aber immer wieder vergessen wird. Vgl. Husserls Aneignung der Vorstellung zu einem das Bild erzeugenden Bewusstseinsakt in seinen Ausführungen zu Phantasie und Bildbewußtsein: »Denn hier kommt es darauf an, explizit sich zu Bewusstsein zu bringen, dass die Bildlichkeit erst Sinn hat durch ein eigenes Bewusstsein, dass einen ähnlichen Inhalt haben nicht soviel heisst wie ein Bild auffassen, sondern dass Ähnliches für Ähnliches zum Bild erst wird durch das eigenartige und schlecht-
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duzierend etwas an, das als Vorstellung schon Bildcharakter hatte, bevor es zum gängigen Begriff der Vorstellung depotenziert wurde. In einem kühnen Sprung lässt sich definieren: Während der Bezug auf Referenz (Mimesis) die Selbstpräsenz des Körperichs ausblendet, wird eine konkrete Aisthesis der primären Selbstimplikation gewahr, die in allen fremdreferentiell orientierten Akten vorhanden ist. Die einer solchen Wende von der abstrakten Referenz zur konkreten Selbstreferenz entsprechende literarische Geste ist die der Prosa. Merleau-Ponty hat diesen Gedanken schon in seinem frühen Buchfragment über die Prosa der Welt (um 1950) zu umkreisen versucht (Merleau-Ponty 1993), aber zu einer wirklichen Formulierung konnte er erst in seinen spätesten Texten gelangen. In diesem Sinne wird im Folgenden die Theorie der poetischen Emotivität als eine intransparent bleibende Selbstanalyse des konkreten Sprechens aus der Verkörperung heraus anzusetzen sein. Der abstrakte Begriff des Senders, der im bislang formalistischen Kontext zunächst bequem war, weil er sich gegen weitere Verschaltungen nicht zur Wehr setzte, wird nun also durch das verkörperte Sprechen im Kontext der Prosatexturen ersetzt. Wie ist der Zusammenhang zwischen Aisthesis und Prosa zu denken? Im achtzehnten Jahrhundert vollzieht sich die entscheidende Wende vom Mimesisparadigma zum Dispositiv der Darstellung.63 Ihren wesentlichen Impuls erhält sie von der philosophischen Ästhetik, deren innerer Kern die Frage nach der konkreten aisthesis des Subjekts ist. Die philosophische Ästhetik bezieht ihren grundlegenden Impuls zunächst aus einer Theorie der Wahrnehmung als Gnoseologie der unteren Vermögen. Baumgartens Aesthetica tritt insofern als Wahrnehmungstheorie auf, vollzieht aber sogleich eine Verlagerung der Argumentation auf die Kunst. Baumgarten folgt dabei dem Gedanken, dass zu einer Theorie der unteren Vermögen vor allem dort zu kommen sei, wo diese selbst schon mit intelligiblem Gepräge hervortreten. Dies ist in der Kunst der Fall, in der sinnliche Präsenz zugleich Geist ist. In der Geschichte der philosophischen Ästhetik geht bei einigen ihrer wichtigsten Vertreter – vor allem bei Hegel – der Bezug zur Wahrnehmungstheorie verloren, indem Ästhetik vor allem Theorie des Kunstschönen wird. Das wahrnehmungstheoretische Grundanliegen der Ästhetik wird hingegen von Au-
hin primitive Bildlichkeitsbewusstsein, ein primitives und letztes so wie das Wahrnehmungsoder Gegenwartsbewusstsein.« (Husserl 2006, 19). Die historische Rekonstruktion habe ich in meinem Buch Die Idee der Prosa (Simon 2013) darzustellen versucht; sie sei hier kurz rekapituliert, mit dem Ziel, den systemrelevanten Gedanken, der sich in der historischen Semantik versteckt, herauszuarbeiten. – In der folgenden Sequenz bedürfte jeder Satz eines umfangreichen Fußnotenapparates und einer elaborierten Ausführung, Entsprechendes ist in der erwähnten Monographie leicht zu finden.
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toren wie Herder, Moritz, dem frühen Schiller oder Jean Paul weitergeführt. In diesen Theorien wird die Kunst nicht mehr als Nachahmung von Wirklichkeit verstanden, sondern als Darstellung des dichten Gewebes der sinnlichen Wahrnehmung. Kunst wird zum Artikulationsmedium der sinnlichen Seite von Subjektivität, in Fortführung und zugleich Gegenwendung zur idealistischen Subjekttheorie der Neuzeit. In der Gnoseologie des achtzehnten Jahrhunderts ist es vor allem das Theorem vom Seelengrund, fundus animae (Adler 1988), welches dabei eine wichtige Rolle spielt. Leibniz’ Begriff der petites perceptions weiterführend, entsteht die Vorstellung, dass unsere Seele permanent in Aktion ist und auch unterhalb unserer bewussten Wahrnehmungsschwelle Perzeptionen in sich aufnimmt (Simon 2016c). Diese kleinsten sinnlichen Wahrnehmungspartikel, in Leibniz’ Monismus als cognitio obscura verstanden, fallen in die Seele hinein und lagern sich an ihrem Grund ab, wo sie sich, so die Vermutung, gruppieren, Muster bilden und somit eine eigene sinnliche Struktur etablieren. Die Assoziationspsychologie des englischen Empirismus, damit verbunden die unter dem Namen der Erfahrungsseelenkunde auftretende frühe Psychopathologie mit ihrem Theorem der fixen Ideen und die in der Wolff’schen Schulphilosophie fortgeführte Leibniz’sche Monadentheorie verbinden sich vor allem bei Herder und Moritz zu einer Theorie, in der eine komplexe, meist synästhetisch angelegte Wahrnehmung das genealogische Prius des ganzen Erkenntnisapparats innehat. Es entsteht eine vorfreudsche Theorie des Unbewussten, in welcher der Seelengrund als unendlich verdichtetes Chaos, als undurchdringlicher Wald (Baumgarten 2007 I, 542/3, § 574) oder als inneres Afrika (Jean Paul I/6, 1182) gedeutet wird. An dieser Stelle entsteht eine neue Funktionsbestimmung von Kunst. Ihre Aufgabe ist es, die Darstellung dieser inneren opaken Fülle zu übernehmen. Dabei ist die Darstellung des fundus animae nicht mit der Nachahmung der neuen Möglichkeiten empfindsamer Subjektivität zu verwechseln. Kunst wird vielmehr zum Sprachrohr einer sensuellen Komplexität, des dichten Gewebes der Aisthesis. Sie ist eine Art von Analyse des Seelengrundes, die vor allem deshalb erfolgversprechend ist, weil es eine starke Strukturanalogie zwischen dem dichten Wald der Sinne und der dichten Textur poetischer Selbstreferenz gibt. Die Wahrnehmung funktioniert analog zu einer Textproduktion, die als Komplexitätsmaschine vielfacher Rekursionen zu denken ist. Herder schreibt an einer zentralen Stelle: Der tiefste Grund unsres Daseins ist individuell, so wohl in Empfindungen als Gedanken. Bemerkt nur in einzelnen Fällen, aus wie sonderbaren Keimen und Samenkörnern jenem und diesem die Saat seiner Leidenschaften wachse? Wobei der Eine kalt bleibt, dabei glühet der Andere: alle Tiergattungen unter einander sind vielleicht nicht so verschieden, als Mensch vom Menschen.
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Würde ein Mensch den tiefsten, individuellsten Grund seiner Liebhabereien und Gefühle, seiner Träume und Gedankenfahrten zeichnen können, welch ein Roman! […] Man sollte jedes Buch als den Abdruck einer lebendigen Menschenseele betrachten können; je lebendiger und wahrer der Abdruck ist, je weniger der Verfasser hofierte und ein elendes Allgemeingeschwätz zwischen den vier Ecken des Randes gab; wie sonderbar und einzeln dünkt es uns öfters! Oft ists ein Rätsel ohne Auflösung, eine Münze ohne Umschrift […] Der bescheidnere Weise urteilt, wie Sokrates über Heraklits Schriften, suchet mehr im Geist des Urhebers, als im Buch zu lesen: je mehr er dahin eindringt, je lichter und zusammenhängender wird Alles. Das Leben eines Autors ist der beste Kommentar seiner Schriften, wenn er nämlich treu und mit sich selbst Eins ist, nicht einer Herde an Wegscheiden und Landstraßen nachblöket. (Herder DKV 4, 365 f.)
Hier wird die Konjunktion zwischen Aisthesis und Kunst augenfällig. Herder nennt die grundlegend individuierte Wahrnehmung einen Roman. Würde ein Mensch seiner konkreten Aisthesis bis in den Grund nachgehen wollen, dann träfe er auf eine irreduzible Individualität, als ins Fleisch eingelassene Wahrnehmung, die als solche letztlich nur durch eine Autobiographie beschrieben werden kann, die den aisthetischen fundus animae der jeweiligen Person zu analysieren hätte. Von Mimesis und Weltbezug und ebenso von den daraus folgenden poetischen Formen ist dabei keine Rede mehr, vielmehr geht es um die Eignung und Fähigkeit des poetischen Diskurses, die kleinsten Verästelungen der Seelenkräfte nachzeichnen zu können. Vielleicht müsste man offensiver formulieren: Es geht nicht um ein Nachzeichnen, sondern um eine strukturhomologe Poiesis. Dichtung produziert mit ihren Mitteln genau die Dichte, die im Seelengrund vorliegt. Beide Tätigkeiten, Aisthesis und Poesie, folgen ganz ähnlichen Verfahren, gewissermaßen einer Wahrnehmungsrhetorik auf der einen Seite, einer Textrhetorik auf der anderen Seite. Aufschlussreich ist nun, dass der Seelengrund (fundus animae) eine Art innerer Unendlichkeit besitzt und nie abschließend analysierbar ist. Auch darin ist eine starke Analogie zum poetischen Kunstwerk zu sehen. Offenkundig sind sinnliche Selbstreferenz und textuelle Rekursion genau solche Formen des Selbstbezugs, die konstitutiv intransparent bleiben. Was bei der Wahrnehmung der unendlich dichte Wald der petites perceptions ist, kann in der Dichtung dann dargestellt werden, wenn sie die nur relative Dichte der Form transzendiert und durch Umschaltung auf Selbstreferentialität eine analoge Dichte erzeugt: Rekursionen kennen im Gegensatz zur Form keine Stoppregel, sie lassen sich immer wieder auf sich selbst anwenden und unendlich verdichten. Deshalb sind Aisthesis vor der Form und selbstreferentielle Prosa nach der Form miteinander verkoppelt.
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Mit diesem historischen Exkurs ist zugleich ein systematischer Konnex erreicht. Die im achtzehnten Jahrhundert erfolgende Umschaltung vom Mimesisparadigma auf das Paradigma der Darstellung betreibt zugleich eine Verlagerung wesentlicher Theorieenergien vom alten formdominierten Genre der Poetik auf das neue philosophische Genre der ästhetischen Theorie. In ihr werden – sofern man nicht dem Hegel’schen Weg folgt – Kunst und aisthesis aneinandergekoppelt. Es fehlt bei dieser grundlegenden Umschichtung des poetologisch-ästhetiktheoretischen Diskurses im achtzehnten Jahrhundert freilich das entscheidende Gegenstück zur aisthesis, nämlich: eine explizite Theorie poetischer Selbstreferenz als Antwort auf die anthropologische Selbstreferenz. Eine solche wird in der Literaturwissenschaft erst im zwanzigsten Jahrhundert, mit dem russischen Formalismus, in Angriff genommen. So entsteht die aufschlussreiche Konstellation, dass zwei Weisen der Selbstbezüglichkeit zueinander in Beziehung zu setzen sind, die sinnliche verkörperte Seite der Subjekttheorie und das Konzept poetischer Selbstreferenz (poetische Grammatik). Der Begriff der Prosa lässt sich hier vertiefen. Prosa vollzieht nicht einfach nur die Dominanz der Selbstreferenz über die Form, sondern viel wesentlicher die Einstellung auf die konkrete Selbstreferentialität körpergebundener Aisthesis, welche an die Stelle einer bloß notierenden Wahrnehmung von Welt tritt. Wenn also der Formalismus der poetischen Grammatik in einer seiner Dimensionen eine Pluralisierung der emotiven Funktion betreibt, dann motivieren sich die Prosatexturen diesbezüglich daraus, eine tiefgehende Analyse der Funktion Autorschaft, also ihrer eigenen generischen Instanz, zu schreiben. Wenn Arno Schmidt sein gesamtes literarisches Personal als stellvertretende Instanzengruppierungen seiner eigenen Psyche inszeniert64 oder wenn Jean Paul lauter Jean Pauls auftreten lässt und auch andere Figuren seiner Texte Wiedergänger seiner selbst sind, dann ist dies nichts anderes als eine konkrete Verkörperung von Selbstreferenz – so als hätte der hier rekonstruierte Jakobson Merleau-Ponty gelesen und erkannt, dass die Formalismen immer nur körpergebunden, im Fleisch eingelassen (chair),65 zu denken sind. Und dieses Denken angemessen zu schreiben, führt zur Prosa, denn ›Inszeniert‹: Tatsächlich ist hier nicht gemeint, dass das literarische Personal die Repräsentanten von Arno Schmidts wirklicher Psyche sind. Sie sind eine Inszenierungsform dieser Möglichkeit. Vor allem der späte Schmidt entwickelt seine poetischen Akteure aus einer Instrumentierung der Freud’schen Instanzen, Über-Ich, Ich und Unbewusstes, von Schmidt um die vierte Instanz des Humors ergänzt. Die Interaktion der Figuren erscheint dann als inneres Gespräch der Psyche mit sich selbst und wird damit zu einer Darstellung des fundus animae – um den Sprung von einer historischen Semantik zu einer anderen zu machen. Chair, am besten mit ›Fleisch‹ zu übersetzen, ist bei Merleau-Ponty der Begriff, der die Tatsache zum Ausdruck bringt, dass menschliche Selbstbezüge immer nur als auch körperliche denkbar sind, eingelassen in die je konkrete Weltlichkeit. Stärker noch: Jegliches menschliche
7.1 Körpergebundene Intransparenz der Selbstwahrnehmung
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die Selbstdarstellung der Autorschaft ist unhintergehbar sowohl intransparent als auch in sich unabschließbar. So wie im Sehen immer der Sehende vorhanden ist und immer vergessen wird und so wie unsere sinnliche Selbstpräsenz nie vollständig sein kann, ist in einer literarischen Tätigkeit, die die poetische Grammatik selbst auf die Textbühne stellt, die emotive Funktion (Autorschaft) immer vorhanden, aber nie zu vervollständigen, weshalb sie sich permanent pluralisiert. Prosa ist also deshalb die unaufhörliche Tätigkeit des Selbstbezugs, weil dieser, als jeweils verkörperter, nie zu reiner Präsenz vervollständigt werden kann und sich deshalb vervielfältigt, verschiebt oder verdoppelt. In der Prosa ist das Selbstverhältnis der Autorschaft immer schon in die Textualität verstrickt, in das Fleisch des eigenen Schreibens inkarniert – und genau dieses Verwobensein in die sinnliche Textur wird in avancierter Prosa geschrieben. In abstracto mag man Prosa als ein die poetische Grammatik Auf-die-TextbühneStellen verstehen, in concreto ist dies aber jeweils die tatsächliche Selbstexplikation eines autobiographischen Substrats – der nicht subjektiven aisthesis im Subjekt –, welches sich auf der unmöglichen Suche nach seiner Selbsttransparenz befindet, um diese Unmöglichkeit weiß und sich humoristisch immer wieder selbst vor sich bringt. Jean Pauls schöne Formulierung dazu lautet, dass »im Humor das Ich parodisch heraustritt« (JP I/V, 135), sodass folglich seine Selbstreferenz anschaulich wird und sich zugleich wieder entzieht: Parekbase von Subjekttheorie und ihre humoristisch-parodistische Einkassierung im gleichen Akt. Entsprechend bleibt die poetische Metasprache in dieses System einer jeweiligen monadischen Perspektive eingeschlossen. Die ganze Zeit wird der Text erklärt, aber dies steigert nur seine Erklärungsbedürftigkeit. Ähnlich die phatische Funktion: Sie allegorisiert permanent den Schreibakt und seine Materialitäten, steigert aber gerade dadurch die Rätselhaftigkeit des Schreibens, aus purer Materialpraxis Geist entspringen lassen zu können. Was in den vorangehenden Kapiteln als poetische Grammatik geradezu kalkülanalog hergeleitet wurde, bedarf also einer Konkretion immer dann, wenn diese Grammatik ins Fleisch (chair) des Textes eingeht – also immer uno actu. An die Stelle einer gleichsam perspektivenlos betrachteten Matrix poetischer Selbstreferenzen tritt deren Verkörperung mitsamt ihrer konstitutiven Intransparenz infolge eines nicht möglichen Konzepts umfassender Selbstbeobachtung. Im Falle
Handeln passiert immer in diesem fleischlichen Bezug sowohl zu sich selbst als auch zur Welt – und nicht erst dann, wenn ein Subjekt beginnt, über sich selbst zu reflektieren. Dem etablierten Begriff des Leibes haftet noch die Subjekt-Objekt-Trennung an, während MerleauPonty ein konkretes Eingewobensein des Körpers in das Fleisch der Welt zu denken versucht, letztlich also einen reflexionstheoretischen Ansatz durch eine Ontologie ersetzt. Vgl. Maurice Merleau-Ponty 2004, 168 f., 313 f. u.ö. Vgl. ebenso Angehrn 2013.
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7 Poetische Emotivität
der Prosa, die dennoch die Option der poetischen Selbstreferenzen beibehält, führt dies zu einer sehr radikalen Autobiographisierung. In Paul de Mans rhetorischer Theorie des Autobiographischen erfolgt die Anrufung (Apostrophe) eines ehemals gewesenen Subjekts durch ein gegenwärtiges so, dass eine Antwort ergeht (Prosopopöie), die als sprechende Stimme des autobiographischen Subjekts ertönt. In seinem Aufsatz Autobiographie als Maskenspiel ist zu lesen: Es ist die Figur der Prosopopöie, die Fiktion der Apostrophierung einer abwesenden, verstorbenen oder stimmlosen Entität, wodurch die Möglichkeit einer Antwort gesetzt und der Entität die Macht der Rede zugesprochen wird. Eine Stimme setzt einen Mund voraus, ein Auge und letztlich ein Gesicht, eine Kette, die sich in der Etymologie des Namens der Trope manifestiert: prosopon poien, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben. Die Prosopopöie ist die Trope der Autobiographie […]« (de Man 1993, 140)
An diesem Zitat fällt der Singular auf: eine Entität, ein Gesicht, eine Stimme. Aber wie ist dieses Modell zu denken, wenn Selbstbezug konstitutiv problematisch wird, also mit einer unhintergehbaren Aktdifferenz der Selbstreflexion und mit einer Nichtrepräsentierbarkeit schon des eigenen Körpers einhergeht? Offenkundig wird dann die auf die Apostrophe antwortende Stimme in sich brüchig und polyperspektivisch werden müssen; sie zerfällt in viele Einzelstimmen. Anstelle einer Prosopopöie ertönen mehrere Teilaspekte des Autobiographischen, zumal in einer poetischen Situation, in der alles auf Selbstreferenz gestellt ist. De Mans Überlegung ist also in erheblicher Weise zu korrigieren. Das Autobiographische (oder besser: das autobiographische Substrat, s. u.) wird zumindest in der avancierten Prosa zur vielstimmigen Antwort auf die Apostrophe. Die Aufsplittung der poetischen Senderinstanz ist nicht nur aus dem Funktionenkalkül herleitbar, sondern auch und sehr wesentlich aus der Gegebenheit konkreter Selbstbezüglichkeit.
7.2 Das autobiographische Substrat der Prosa Die handelnden Akteure gehören zur erzählten Welt. Der Erzähler organisiert diese erzählte Welt und ist zumindest im Erzählakt vom Erzählten unterschieden. Dementsprechend lernen wir im literaturwissenschaftlichen Proseminar, Erzähler und erzählte Charaktere zu unterscheiden und sie folglich nicht zu vermischen. Sie handeln auf unterschiedlichen Ebenen der Erzählung. Und wir lernen auch, Erzähler und Autor zu unterscheiden, selbst wenn sie sich sehr nahe zu sein scheinen und sogar denselben Namen tragen. – Im Falle der avancierten Prosa
7.2 Das autobiographische Substrat der Prosa
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sind diese beiden Grundsätze der Erzähltheorie subversiv zu unterlaufen.66 Die Akteure gehen aus der Aufspaltung der Funktion Autorschaft hervor (s. u.). Zweitens ist ein autobiographisches Substrat zu behaupten, um dessen Darstellung es geht. Die These lautet also, dass es sich hier um einen Prozess von Selbstbezug handelt: Der reale Autor in seiner Geist/Körper-Gegebenheit stellt den nichtsubjektiven Grund seiner Subjektivität – also den fundus animae – dar, indem er ihn mannigfach aufspaltet und diese Teile dann ikonisiert, d. h. als Figuren handeln lässt. In den Prosatexten befinden wir uns im Kopfinnentheater der Funktion Autorschaft, auf der inneren Textbühne, die radikal veräußerlicht wird, indem die ikonische Poiesis diese Teile des stets unvollständig repräsentierten Selbst (s. Merleau-Ponty) auf die Rennbahn der Charaktere schickt (JP I/5, 252). Ausgehend von Diltheys elementarer Hermeneutik67 lässt sich behaupten, dass grundsätzlich jede Dichtung autobiographisch fundiert ist. Sofern ihre elementaren Verknüpfungsverfahren immer speziellen Sinnsynthesen folgen, in denen, nach Dilthey, atomare Erlebnisse zu Sinnkomplexen verbunden werden, ist diese Tätigkeit immer auch – und wohl vorherrschend – autobiographisch. Die Bindekräfte für die Einzelerlebnisse folgen nach Dilthey den Syntheseschemata individuell geprägter Lebenskonstruktion. Diese Dimension elementarer Herme Diese Subversion findet in der Narrativik selbst statt, nämlich in der ernsthaften Debatte darüber, ob es einen Erzähler überhaupt geben kann. Es handelt sich hier um einen unendlichen Regress: Jeder im Text manifest vorhandene Erzähler muss seinerseits wiederum durch einen von ihm unterschiedenen und ihn ins Werk setzenden Sprechakt gesetzt worden sein. Hinter jedem vorhandenen Erzähler steht ein ihn gebender Erzähler. Stellte man diesen ebenfalls auf die Textbühne, so bedürfte dieser Akt wieder eines im Hintergrund bleibenden neuen Erzählers usw. Ergo: Den einen letzten Erzähler kann es nicht geben. Die auftretenden Erzähler wiederum sind den literarischen Akteuren näher als der gebenden Stimme, sodass es gute Gründe gibt, auf den Begriff des Erzählers zu verzichten. Für eine derart selbstreferentielle und intellektuell gewitzte Literatur, wie sie mit der avancierten Prosa vorliegt, ist die Dekonstruktion des Erzählers naheliegend. – Zur Problematik des Erzählerbegriffs vgl. Igl 2018. Dilthey hat in seinem Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften eine in der Fachgeschichte der Literaturwissenschaft kaum beachtete Grundlegung der Hermeneutik geleistet. Er geht von dem Gedanken aus, dass das Leben zunächst aus isolierten Erlebnissen besteht, die erst durch Deutungsakte zum narrativen Kontinuum des Lebensromans verbunden werden (elementare Hermeneutik). Damit ist schon der Gegenstandsbereich der Dichtung in sich ›hermeneutisch‹. Die Dichtung bezieht sich auf diese Konstruktion ihrerseits in unbewusster Anwendung solcher Sinngebungsakte, während die professionelle Hermeneutik aufgerufen ist, die zugrundeliegende Struktur zu erkennen. Selbstverstehen und Fremdverstehen beruhen daher auf einer gemeinsamen Konzeptbasis. Weil dieser Kategorienapparat auf der ersten Stufe Sinngeschehen im autobiographischen Selbstbezug fundiert, ist jede Dichtung basal autobiographisch (und ebenso jede Exegese). Gemeint ist hier nicht die bewusst unternommene autobiographische Konstruktion, sondern vielmehr eine vorbewusste und insofern auch nicht subjektive Sinngebung. Vgl. Dilthey 1981, bes. 235–272.
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7 Poetische Emotivität
neutik wird in der Regel mit den Formmomenten der Dichtung synthetisiert. Sie stellt sich also narrativ, dialogisch-dramenbezogen oder lyrisch-ausdrückend dar, je nach den Sinnbildungsformen der Genres. Wenn Prosa im hier gemeinten Sinne das Formmoment weitgehend zurückdrängt, dann kann diese Synthese von Form und individuell (autobiographisch) geprägter Sinnkonstruktion nicht vollzogen werden. Prosa reagiert darauf erneut, indem sie die Verfahrensweisen elementarer und autobiographisch geprägter Hermeneutik explizit macht: Selbstreferenz besetzt den durch den Rückzug von Form freigewordenen Raum, und in diesem Fall ist es konkret individuierte Selbstreferenz. Viele Prosatexte zeichnen sich durch eine geradezu radikale autobiographische Selbstbezüglichkeit aus. Arno Schmidts Zettel’s Traum ist eine literaturwissenschaftliche Erörterung des Werks von Poe und seiner Übersetzbarkeit, vor allem aber eine tiefgehende Selbstanalyse, in der die Figuren die psychischen Instanzen der inszenierten Gesamtpersona darstellen, sodass man geradezu von einer humoristischen Psychoanalyse in eigener Sache sprechen kann. Abend mit Goldrand wiederholt dies nicht nur, sondern erzählt in einem seiner Textsysteme die Biographie ihres Autors. Uwe Dicks Sauwaldprosa ist eine fortlaufende autobiographische Selbstdarstellung, die sich der vielen literarischen Diskurse als IchMasken bedient. Michael Lentz’ Schattenfroh basiert auf der eigenen Biographie und auf der Familiengeschichte in der Kleinstadt Düren. Jean Pauls Gesamtwerk lässt sich als allegorische Selbstanalyse verstehen, wahrscheinlich könnte man geradezu die Biographie der von Jean Paul so genannten literarischen Figur Jean Paul erzählen; seine Selberlebensbeschreibung und seine Konjektural-Biographie machen das autobiographische Substrat, das etwa im Leben Fibels oder im Siebenkäs steckt, nur explizit. Auch Hans Wollschlägers Herzgewächse sind expressis verbis eine instanzentheoretische Auseinandersetzung mit den eigenen grundlegenden Energievektoren. Wilhelm Raabes vor allem spätes Werk schafft eine literarische Topographie seiner unmittelbaren Lebenssphäre (Braunschweig, Weserbergland, Harz), die als Schauplatz von Lokalhistorie erzählt wird, wobei ein Gesamtbild des idealen Autorsubjekts als Inbegriff historischer Kräfte entsteht, während seine Akteure Wiedergänger seiner selbst sind. Fischarts Geschichtklitterung beginnt mit einer selbstbezüglichen Textallegorie, in der ein ganz Europa unterlegtes Grabmal als Fundort des Textes ausgegeben wird, sodass ein textueller Riesenkörper die Topographie der im Folgenden erzählten Sequenzen umfasst: Das Erzählen ist eine Begehung des eigenen inneren Körpers, der immer schon der Hohlraum seiner eigenen Grabstätte ist. Europa wird dabei gerade durch die Orte definiert, welche die Stationen von Fischarts eigener Lebensgeschichte ausmachen. Paul Wührs Das falsche Buch benutzt den Stadtraum München für eine komplexe Selbstinszenierung, die dann in seinem Tagebuch Der faule
7.2 Das autobiographische Substrat der Prosa
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Strick sowohl offengelegt als auch erneut kaschiert wird. Finnegans Wake und auch der Ulysses sind in ihren Verweissystemen die Artikulation von James Joyce’ literarischer Enzyklopädie und letztlich nur aus diesem Bezug heraus zu entziffern: Joyceforschung ist insofern der Kunstgriff einer Bauchrednerei vom unterstellten generischen Subjekt her, wobei erneut ein relativ konstanter Raum, Dublin, das Korrelat für die darin zirkulierenden membra disiecta der Autorschaft bildet. Diese Liste ließe sich fortführen. Wichtig ist freilich, den Eindruck zu vermeiden, es handle sich hier um die bloße Elaborierung schlechter Subjektivität. In seiner Ästhetischen Theorie bemerkt Adorno einmal, dass die Kunst da am objektivsten werde, wo sie rückhaltlos subjektiv sei, indem gerade das idiosynkratische Subjekt mit offenen Nervenenden die Impulse der falschen Wirklichkeit am präzisesten registriere (Adorno 1981, 68 f.). Die verstörteste Reaktion in ihrer grundstürzenden Idiosynkrasie ist es, die überhaupt nur das Objektive, nämlich die Entstellungen der falschen Welt, artikulieren kann. Es geht also nicht um Subjektivität, sondern um den fundus animae, wenn vom autobiographischen Substrat der Prosa die Rede ist. Dies ist ein weiterer Grund für den immensen Umfang der meisten dieser Texte. Die Ausbuchstabierung der petites perceptions an der Schnittstelle von Realität und Seelengrund erfordert eine umfassende Bestandsaufnahme schon auf der Materialebene, während auf der textuellen Verfahrensebene die vielfachen Selbstbezüglichkeiten jedes einzelne Moment pluralisieren, um diese Vervielfachungen erneut in die sich gegenseitig hervorbringenden Querverbindungen einzuschreiben. Der Gang in das autobiographische Substrat zielt auf den nicht subjektiven Grund von Subjektivität ab, also auf eine genealogische Analyse der Funktion Autorschaft (poetisierte emotive Funktion), sofern sie konkretisiert, verkörperlicht ist. Der metaliterarische Charakter der Prosa markiert dies explizit. Jean Paul gibt in seiner Vorschule der Ästhetik dafür eine Art von Rezeptanweisung. Die bestimmtesten besten Charaktere eines Dichters sind daher zwei alte, lang gepflegte, mit seinem Ich geborne Ideale, die beiden idealen Pole seiner wollenden Natur, die vertiefte und die erhabne Seite seiner Menschheit. Jeder Dichter gebiert seinen besondern Engel und seinen besondern Teufel; der dazwischenfallende Reichtum von Geschöpfen oder die Armut daran sprechen ihm seine Größe entweder zu oder ab. […] Der ideale Prototyp-Charakter in des Dichters Seele, der ungefallne Adam, der nachher der Vater der Sünder wird, ist gleichsam das ideale Ich des dichterischen Ich; und wie nach Aristoteles sich die Menschen aus ihren Göttern erraten lassen, so der Dichter sich aus seinen Helden, die ja eben die ihm selber geschaffnen Götter sind. (JP I/V, 212 f.)
Hier wird die Matrix der literarischen Akteure aus der grundlegenden Selbstreferenz des autobiographischen Substrats abgeleitet. Ein Autor hat ein Ideal-Ich seiner selbst und bildet dazu das Gegenteil, ein Negativ-Ich (Engel und Teufel,
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7 Poetische Emotivität
Adam vor und nach dem Sündenfall). Alle anderen Charaktere sind Abstufungen zwischen diesen beiden Extremen. Damit wird das komplette Figurenensemble in Jean Pauls Texten zu einer Variationsreihe, die aus einer Selbstanalyse abgeleitet wird. Ähnlichkeiten zu Arno Schmidts Instanzentheorie drängen sich durchaus auf, wenn man Schmidts psychoanalytische Kodierung der Instanzen nicht zu dogmatisch nimmt. Historisch lässt sich an die seit der Antike bestehenden Textsorten denken, in denen vermögenstheoretische Instanzen der Seele miteinander disputieren und so die Ökonomie des Seelenhaushaltes verhandeln.68 Ähnlich tritt in der Prosa eine in eine Figurenreihe aufgefächerte Funktion Autorschaft auf, die sich gerade durch diese Veräußerung nicht mehr auf eine Subjektivität beziehen lässt, sehr wohl aber auf den jeweils individuierten fundus animae, das autobiographische Substrat, welches die basalen Materialzusammenhänge und die leibliche Rhetorik der daraus entspringenden Synthesen beinhaltet. Eine besonders intensive Etablierung der emotiven Funktion findet sich auf den ersten ca. 60 Seiten von Michael Lentz’ Schattenfroh. Der Text baut langsam eine Wahrnehmungsbedingung auf, die entfernt an das philosophische Denkexperiment des körperlosen Geistes (brain in a vat, Putnam 1982) erinnert, der vollständig in sich eingeschlossen ist. Konstruiert wird eine limitierte Wahrnehmung aus dem Inneren eines Kastens heraus (Lentz 2018. 9 f.), der Schritt für Schritt geöffnet wird, zuerst für die Augen, dann für das Hören. Immer mehr Medienkanäle werden an den Kasten angebunden (Lentz 2018. 18 u.ö.), bis schließlich das Subjekt, das man sich folterähnlich mit einem den Kopf umschließenden Gehäuse versehen vorstellt, in einer Zelle eine Tischplatte bekommt (Lentz 2018, 27), die ihm als Schreibunterlage dient. Sie ist aber zugleich der Freud’sche Wunderblock, in dem die Gedächtnisspuren eingeschrieben bleiben. Ihre Entzifferung bildet das Schreibprogramm von Schattenfroh, sodass äußere Schreibszene (Tischplatte) und innere Gedächtnisformation (Wunderblock als Denkmodell für die Psyche) zusammenfallen. So etabliert sich ein Wahrnehmungssubjekt, das zugleich die Schreibszene figuriert (phatische Funktion) und ein Aufschreibesystem zwischen primärer Wahrnehmung und sofort notierendem Schreibvorgang instituiert, während sich die Assoziationen an die Situation einer Gefängniszelle während der NS-Zeit verdichten. Der langsame Aufbau einer Möglichkeit der Artikulation und des Schreibens buchstabiert komponentenanalytisch die textimmanente Genese der Funktion Autorschaft, die in dem Moment formal als vollzogen gelten kann, als die Todesliste der bei einem Bombenangriff auf die Kleinstadt Düren Getöteten wiedergegeben wird (Lentz 2018, 61–136). Schattenfroh etabliert somit eine lang-
Erinnert sei an die Tradition des Soliloquiums, vgl. dazu Butzer 2008.
7.2 Das autobiographische Substrat der Prosa
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sam vom abstrakten Denken zur Verkörperung voranschreitende Genese des konkret individuierten Autorsubjekts. Es handelt sich geradezu um die Szenographie der Verkörperung, dargestellt als Prozess, der durch permanente Selbstanwendung zum realen Fleisch (chair) der autobiographisch imprägnierten Sprache führt. Der Text lässt sich als Geburtsvorgang der emotiven Funktion lesen, für die das Geburtstrauma in der Schrift besteht, die bloß die Namen der Getöteten auflistet. Auch Paul Wühr beginnt sein großes Prosaexperiment Das falsche Buch (1983) mit der langsam durchbuchstabierten Genese der Schreibmöglichkeit. Indem ein Ich den Stadtraum München begeht, spaltet es sich permanent auf, wobei auf kunstvolle Weise unklar bleibt, ob es sich nicht einfach nur um einen Spaziergang mit Hund handelt, bei dem sich begegnende Hunde beschnuppern, während deren innere Monologe, die höchst literarischer Natur sind, wiedergegeben werden. Da es sich um die großen Plätze und Straßenzüge Münchens handelt, liegt die Assoziation zum Kyniker (Hund: griechisch κύων kýōn, gen. κυνός kynós) nahe – aber das ist nur eine These im komplexen Geflecht der mit Hamanns Wurfschaufel vielfach geworfenen Musenverdopplungen (Wühr 1983, 39). Poppers, die erste dem Ich hinzukommende Ergänzung der textimmanenten emotiven Funktion, ist rein spracherzeugt, sofern man dies von einem Hund sagen kann: »Vom Himmel hoch, da kommt er her: ein Papierflieger. Landung: das Modell ist tunesisch. Der Name: Poppers« (Wühr 1983, 40). Soweit handelt es sich um eine schrifterzeugte (Papierflieger) Herabkunft (vom Himmel her oder hoch) eines Akteurs, als ironische Fortsetzung von Hamanns Gedanken der Herablassung des göttlichen Geistes (Kondeszendenz, vgl. Reuter 2005). Die beiden folgenden Sätze machen aber deutlich, dass der neue Akteur eine Ichabspaltung ist, zwar keine Permutation des eigenen Namens, aber umso körperlicher eine musengeküsste oder hundebeschnüffelte Ichverdopplung: »Und da ich schon nicht diesen Namen küssen wollte, wünschte ich die Person zu küssen. Erfüllung des Wunsches. Und das war ich: zu zweit.« (Wühr 1983, 40) Gleich auf der nächsten Seite fällt der Blick des Hundes perspektivenbedingt unter den himmlischen Rock einer Frau, dort auf die rosa Unterwäsche, in die ein Zwickel (eine unterfütternde Stofflage) eingesetzt ist. Unter Anwendung einiger semantischer Operationen entsteht der nächste Akteur: »Ich subtrahiere: minus Rock, minus Zwickel: ist gleich Rosa. Keine Farbe mehr. Sondern ein Name. Der ihre. In Wahrheit: ein großes Ereignis. Geburt. Sie war da. Und es gab sie. Ich war jetzt zu dritt. Das Ganze hatte sich ein zweites Mal geteilt.« (Wühr 1983, 41) So entstehen durch Ichteilung Aktanten, die Folgen der Pluralisierung der poetisierten Emotivität sind. Sie changieren im weiteren Textverlauf hinsichtlich ihres Subjektstatus und bleiben mehrfach lesbar: als Hunde (Kyniker), Kinder (unschuldige Poesie), Schauspieler (poetische Performanz) oder Puppen mit unterschiedlichen Refe-
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renzsystemen auf erfundene oder reale Historie. Das falsche Buch entwickelt so eine komplexe Szene der Autorschaft, in der Schritt für Schritt die gesamte poetische Grammatik auf die Textbühne gezaubert wird. Das Zaubermittel besteht vorrangig aus einem System engster Intertextualität: »Ich bin bis unter den Friedhof belesen.« (Wühr 1983, 40) Auch der Beginn der Sauwaldprosa Uwe Dicks etabliert eine Autorposition, die aus einer explizit gemachten Pluralität besteht. »Hundert Jahre hin, tausend her! Es ist so reichlich Annodazumal noch nicht zu Ende geworden; auch in mir, einem Kollektiv von Personen verschiedener Jahrhunderte.« (Dick 2001, 9) Im selben Zusammenhang: »Das ganze Werden kulminiert in mir: Angeborenes und Angeeignetes, Lokalgeschichte, Erinnerung an einen fernen Alltag, geweckt durch Klänge und Gerüche, schlägt um in Gegenwart und steigert sie.« (Dick 2001, 10) So wird der textimmanente Autor zu einem intertextuellen Makroanthropos, der sich maskiert, aber dabei immer als er selbst auftritt. Die bevorzugten Masken in der Sauwaldprosa sind Ezra Pound, Jean Paul, Karl Kraus, Fischart und Arno Schmidt. Zu Letzterem macht sich Uwe Dick den Witz, ihn zum bayerischen Mundartdichter, der sprachlich inkognito bleiben will, zu übersetzen: Im Sauwald war Arno Schmidt bereits, als er schrieb (Kaff/auch Mare Crisium): Die eingestreuten irdischen Szenen sind, … , dem bayerischen Volxleben entnommen; da er jedoch weder das Land kennt, noch den Dialekt seiner Bewohner, auch Bergländer notorisch nicht ausstehen kann, und vor allem eine Lokalisierung unmöglich machen wollte, wurden die beobachteten Ereignisse und Gestalten zur Tarnung in ein Gebiet nördlich der unteren Weser verlegt. (Dick 2001, 282)
So gesehen, ist der Sauwald auch nichts anderes als Dublin und Uwe Dick ein zweiter James Joyce. Die Frage, wer hier spricht, wird angesichts der Vervielfachung der Subjektposition zu einem Vexierspiel der Selbstreferenz.
7.3 Inkarnierte Funktion Autorschaft: Typologische Verkörperung der Selbstreferenz In der Prosa liegt ein Prinzip der Akteurkonstitution vor, das aus der Selbstpluralisierung der poetisierten emotiven Funktion besteht. Der Prosatext zerlegt seine Funktion Autorschaft: Er macht sie zunächst überhaupt explizit zum Thema, führt sie dann in eine Aufspaltung und versetzt diese Teile (seiner selbst) in poetische Äquivalenz. Jean Paul spaltet sich in Ideal und Negation auf, Paul Wühr in die Selbstzerlegung seiner Intertextualität, Uwe Dick in historische Sprechmasken, die aber immer er selbst sind, Arno Schmidt in die psychischen Instanzen seiner selbst etc. Diese Zerlegungen, Zerteilungen oder Aufsplittungen (Jakobson
7.3 Inkarnierte Funktion Autorschaft
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1981, 42: a split addresser) werden im Prosatext so behandelt, wie es ihrer Herkunft aus poetischer Selbstreferenz entspricht: Sie werden als Variationsreihe von Selbstbezüglichkeiten durchgespielt, sodass insgesamt eine komplexe Szenographie der Funktion Autorschaft entsteht. In-Szene-Setzen der poetischen Grammatik: Diese Grundfunktion der Prosa führt auf die bildkritische Poiesis auch der emotiven Funktion (s. dazu unten). Der entscheidende Punkt besteht in der konkreten Verkörperung. Wo der Roman die vergleichsweise einfache mimetische Übersetzung von welthaltigen Erfahrungen in fingierte Textakteure betreibt, muss Prosa das Kunststück vollbringen, den Formalismus der Selbstreferenz als von vornherein inkorporierten – fast möchte man sagen: inkarnierten – zu denken. Denn erstaunlicherweise sind es tatsächlich die Modelle der Inkarnation, der Kondeszendenz und der Eucharistie, die die bevorzugte Strategie der Prosatexte bilden, poetische Grammatik und verkörperte Selbstreferenz eng zu führen. Es ist einmal mehr Jean Paul, der für den Sachverhalt die expliziteste Formulierung gibt. Er depotenziert zunächst die Naturnachahmung zur Darstellung von Ideen (vgl. JP I/5, 43). Dies meint, dass der primäre Darstellungszweck, die Inhalte der Ideen zu formulieren, sich nur insofern der Naturnachahmung bedient, als die Darstellung thematische Vorwände braucht, um ihr Ziel zu erreichen. Die Ideen sind dabei keine platonischen, sondern diejenigen, die auf der inneren Imaginationsbühne der Einbildungskraft erzeugt werden. Jean Paul horizontalisiert, Herders kopernikanischer Wende69 folgend, die Metaphysik zur Anthropologie, in der die Ideen aus der engen Selbstreferenz des autobiographischen Substrats geboren werden. Ihre poetische Darstellung bedient sich der Mimesis nur thematisch, viel zentraler ist ein eucharistischer Akt, der das Mimetische zum poetischen Stoff umwandelt, welcher sich dann selbst seine Form baut. Es handelt sich dezidiert um eine poetische Theorie der Selbstreferenz:
Folgte man der Argumentation von Ulrich Gaier, dann hätte Herder eine kopernikanische Wende vollzogen, in der der ›Sehe-Punkt‹ aus der Monadologie von Leibniz zu einer anthropologischen Wende verallgemeinert wurde. Schon 1765 schreibt Herder: »Alle Philosophie, die des Volks sein soll, muß das Volk zu seinem Mittelpunkt machen, und wenn man den Gesichtspunkt der Weltweisheit in der Art ändert, wie aus dem Ptolomäischen, das Kopernikanische System ward, welche neue fruchtbare Entwickelungen müssen hier nicht zeigen, wenn unsre ganze Philosophie Anthropologie wird.« (Herder DKV I. 134) Kant, der den Begriff der kopernikanischen Wende 1787 in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft benutzte, hätte dann nur eine transzendentalphilosophische Zweitauflage von Herders Initiative geboten. Vgl. das Nachwort von Ulrich Gaier in Herder DKV I, 813–816 sowie den Stellenkommentar auf S. 994.
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7 Poetische Emotivität
Man kann dieses mit einem scharfsinnigen Kunstrichter sehr gut »Darstellung der Ideen durch Naturnachahmung« nennen. […] Die äußere Natur wird in jeder innern eine andere, und diese Brotverwandlung ins Göttliche ist der geistige poetische Stoff, welcher, wenn er echt poetisch ist, wie eine anima Stahlii seinen Körper (die Form) selber bauet, und ihn nicht erst angemessen und zugeschnitten bekommt. (JP I/5, 43)
Offenkundig ist das Christentum mit seiner gegenüber dem antiken Mimesismodell ganz anders gelagerten Verhältnisbestimmung von Geist und Körper besser dazu geeignet, die Verkörperung komplexer Figuren der Selbstbezüglichkeit denkbar zu machen. Jean Paul nimmt die Mimesis und mit ihr den Formbegriff nur als Material (Stoff), welches in der Einbildungskraft umgebaut oder transsubstantiiert wird, um aus dieser grundlegenden Selbstreferenz dann den Körper zu erstellen. Im Falle der Poesie besteht dieser Körper aus den Ideen und ihrer sprachlichen Formulierung, also bezüglich der Funktion Autorschaft oder der poetischen Emotivität aus dem Ideal-Ich, seinem Gegenbild und der dazwischen liegenden Variantenreihe. Die sprachliche Artikulation bestimmt Jean Paul entsprechend konzis als »Wurzelworte des Charakters« (JP I/5, 227), da er sich nicht in vieldeutigen Taten, sondern in seinen Worten, seiner Sprache darstellt: »Jeder Charakter als personifizierter Wille hat nur sein eignes Idiotikon, die Sprache des Willens, der Leidenschaften u.s.w. vonnöten […]« (JP I/5, 228). Jean Pauls Theorie des Charakters lässt sich mithin als Theorie der Verkörperung von Selbstreferenz hinsichtlich der emotiven Funktion rekonstruieren: Die poetische Grammatik wird ikonisiert, auf die Textbühne gestellt, der literarische Akteur, geboren aus der Instantiierung des autobiographischen Substrats bekommt mit der Sprache seinen Körper, mit der textuellen Agensfunktion seine Szenen und Situationen. Was er ausagiert, ist im Gegensatz zum Roman aber nicht mimetisch gewonnenes Weltwissen, sondern bildgewordene Selbstanalyse.70
Entsprechend hat sich die Jean-Paul-Forschung zuweilen darüber gewundert, wie ihr Autor es schaffe, derart intensive Charakterentwürfe zu zeichnen, ohne ein entsprechendes Weltwissen mobilisieren zu können. Seine Akteure sind im Grund äußerst unwahrscheinliche Charaktere, die aber dennoch in dieser poetischen Welt überzeugend sind. Sie sind es nicht am Maßstab der Mimesis, sondern als Darstellung von autorschaftsbezogener Selbstreferenz. – Max Kommerell hat in seinem großen Jean-Paul-Buch intensiv auf diese Verhältnisse hingewiesen. Wenn dies gilt: »Jean Paul hat die Welt verloren« (Kommerell 1977, 70), dann wird die Welthaltigkeit seiner literarischen Figuren zu einem Rätsel. Jean Paul löst es, indem er, so Kommerell, Grundideen wie Tod, Leib, Ich, Nichts oder Gott (Kommerell 1977, 71) im »Erdengang der Seele« (ebd.) so darstellt, dass er sie den Charakteren zum Austrag übergibt. Kommerell ist in der Jean-Paul-Forschung eigentlich der einzige Autor, der seine Rekonstruktion von einer Verwunderung her, von einem eigentlichen Rätsel aus in Angriff nimmt: Warum lesen wir Jean Pauls Charakterkonstrukte angesichts der Tatsache, dass ihr Autor von der Welt nichts wusste und alles nur aus sich selbst abgeleitet hat? Die Frage ist radikal – und sie führt
7.3 Inkarnierte Funktion Autorschaft
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Man kann die Vermutung nicht abweisen, dass die bei Jean Paul und anderen so stark hervortretenden Bezugnahmen auf christliche Semantik entschieden mit der Umorientierung vom Mimesisparadigma hin zur Darstellung von Selbstbezüglichkeiten zusammenhängt. Erich Auerbach hat in seinem Buch Mimesis (1946) und flankierend in seinem Aufsatz Mimesis und Figura (1938) darauf hingewiesen, dass die typologische Denkform des Christentums eine eigentümliche Dialektik der Selbstreferenz in sich birgt. Wenn die Profanereignisse der vorchristlichen Geschichte vom heilsgeschichtlichen Standpunkt her insgesamt typologische Vorformen dessen sind, was sich in Christus erfüllt, dann besteht das Ensemble der Figuren und Gestalten aus ein und demselben Substrat: So deutet Adam als Typos (Vorbild) auf Christus als Antitypos (Erfüllung) hin oder Odysseus am Mastbaum auf Christus am Kreuz. Konsequent durchgeführt wird damit das komplette Alte Testament ins Neue Testament bzw. die Profangeschichte in die Heilsgeschichte aufgehoben. Und da Christus selbst wesentlich Inkarnation ist, wird durch die Typologie alles Erscheinende als Inkarnation von Geist betrachtet. Eine andere Realität als die der variierenden Darstellung des Heilsgeschehens kann es unter diesen Prämissen nicht geben. Damit liegt ein wirkmächtiges Modell dafür vor, wie aus einer intelligiblen Matrix via Inkarnation eine komplexe Matrix erscheinender, in Fleisch verkörperter Charaktere und Situationen erzeugt werden kann. Nachahmung der Wirklichkeit würde hier als poetisches Verfahren den Kern der Sache verfehlen. Wo die Welt typologisch gedacht wird, muss sich poetische Darstellung an den Ideen orientieren. Für die Poetik hat Erich Auerbach und, ihm nachfolgend, Walter Benjamin mit seinem Konzept des dialektischen Bildes diesen Gedanken adoptiert. Im Nachwort von Mimesis formuliert Auerbach: Für die gedachte Anschauung bedeutet ein auf Erden geschehener Vorgang, unbeschadet seiner konkreten Wirklichkeitskraft hier und jetzt, nicht nur sich selbst, sondern zugleich auch einen anderen, den er vorankündigt oder bestätigend wiederholt; und der Zusammenhang zwischen Vorgängen wird nicht vorwiegend als zeitliche oder kausale Entwicklung angesehen, sondern als Einheit innerhalb des göttlichen Planes, dessen Glieder und Spiegelungen alle Vorgänge sind; ihre unmittelbare irdische Verbindung untereinander ist von geringerer Bedeutung, und die Kenntnis desselben ist für die Interpretation zuweilen ganz entbehrlich. (Auerbach 1959, 516)
auf Fragestellungen, die in einer Romanpoetik kaum zu lösen sind. Es ist wohl kein Zufall, dass Kommerell in seiner Monographie auch ein Kapitel zur Prosa hat (»Singende Prosa«, Kommerell 1977, 30–66). Es führt nicht auf den Gedanken einer Theorie der Prosa, sondern verbleibt im Rahmen der Kunst der Prosa. Gleichwohl wirft Kommerells sehr eigentümliche Literaturwissenschaft einige entscheidende Fragen auf.
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7 Poetische Emotivität
Mit dieser Überlegung wird zweierlei etabliert: Erstens sind alle Erscheinungen im Grunde dasselbe (nämlich Figuration Christi), zweitens aber eröffnet die jeweils unvollständige Präsenz der künftigen Erlösung im jeweiligen Typos die Möglichkeit eines neuen Realismus, der mit der vollständigen Verkörperung, der kreatürlichen Sündhaftigkeit und des für sich selbst intransparenten Verworfenseins durchaus umgehen kann. Die Relation von Selbstreferenz und konkreter Verkörperung ist im Figura-Denken des Christentums zentral. Man wird bei dieser Überlegung die grundlegende Paradoxie, die sich im Begriff der analogia entis (Przywara 1932) darstellt, freilich nicht vergessen dürfen. In ihr ist einerseits die Ähnlichkeit von allem mit allem gedacht und zugleich die absolute Unähnlichkeit der signatura rerum zu Gott. Je ähnlicher alles untereinander ist, desto unähnlicher ist es zu Gott. In der analogia entis übersteigt und transzendiert sich der Bezug des horizontal Seienden zu seinem ganz anderen, vertikal Verursachenden. Zwar verweist alles auf seinen letzten Grund, des in Christus anschaulich gewordenen Gottes, aber dieser Grund ist wiederum ein Prinzip, das auf einer ganz anderen Ebene anzusetzen ist und sich jeder Darstellung entzieht. Das typologische Denken steht somit inmitten einer grundsätzlichen, dreifach aufgefalteten Darstellungsparadoxie: Es vollzieht permanent Selbstreferenz, es denkt diese Selbstreferenz als radikales Geworfensein in die Fleischlichkeit und es entzieht zugleich den Grund und Konstruktionspunkt dieser Selbstreferenz, weil er grundsätzlich geistiger Natur ist und selbst Christus nur hinsichtlich des Sohn-Aspekts erscheint. Tatsächlich ist mit dieser dreifachen Bestimmung ziemlich genau eine Reformulierung des hier im Namen einer Theorie der Prosa versuchten Prinzips der Poetizität gegeben. Die poetische Funktion erzeugt in ihrer poetischen Grammatik eine Ähnlichkeit von allem mit allem – »Jede Sequenz ist ein Simile« (Jakobson 1979, 110) –, zugleich aber entzieht sich die konkret verkörperlichte Selbstwahrnehmung ihrer eigenen Inbesitznahme und führt somit zu einer andauernden Arbeit der sich verschiebenden Selbstidentifizierung. Man wird sagen können, dass das, was hier Prosa genannt wird, in seiner Tiefenstruktur statt Mimesis und Form vielmehr Darstellung und Selbstreferenz betreibt und somit einem wesentlich aus dem Christentum herkommenden Denkmuster folgt, unbeschadet der mitunter scharfen Opposition, die die Prosatexte zum Christentum oft einnehmen. Auf den ersten Seiten von Wührs Das falsche Buch, inmitten der sich immanent pluralisierenden Funktion Autorschaft, steht das sprechende Ich nicht mehr allein auf der Straße (»In der Wüste, alias Parkplatz, war ich plötzlich nicht mehr allein«, Wühr 1983, 39). Es entspinnt sich ein kurzer Dialog:
7.3 Inkarnierte Funktion Autorschaft
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Sie hier? fragte ich. Auf meinem Platz? Wenn er keine Leier ist, ja. Weder Leier noch Pinsel, lachte ich. Jetzt wurde Johann Georg bestimmter: die Leopoldstraße ist der Stiel. Dann ist die Münchener Freiheit die Schaufel, erklärte der Magus in Norden. Eine Wurfschaufel für meine Muse, sagte Hamann. Ich sagte: eine Wurfschaufel für mein falsches Buch. (Wühr 1983, 39)
Johann Georg Hamann, der vielleicht intensivste Theoretiker der Kondeszendenz und der aus allen dogmatischen Bindungen entlassenen theologischen Typologie, spielt hier die Rolle einer sehr seltsamen Muse. Jedenfalls ist es seine Wurfschaufel, die dem falschen Buch in dieser Herabkunft aus dem Himmel der Intertextualität den Inhalt gibt. Zitiert wird der erste Satz aus der Aesthetica in nuce: Nicht Leyer! – noch Pinsel! – eine Wurfschaufel für meine Muse, die Tenne heiliger Litteratur zu fegen! – – (Hamann N II, 197)
Mit dieser Initiationsszene stellt sich Wührs Prosatextur intensiv in die Tradition einer Poetik, in der die Sprechsituation aus einer in sich ausdifferenzierten Variantenreihe der Selbstreferenz entsteht: Was immer an Selbstverdopplungen und Aufspaltungen des Ich in diesem Text auftreten wird (s. dazu oben), ist, wenn es im Konzeptrahmen Hamann’scher Theologie geschieht, stets typologisch und analogisch aufeinander bezogen. Überträgt man Wührs poetische Analyse der emotiven Funktion in eine Lektüre von Arno Schmidts Instanzentheorie, dann lässt sich eine interessante Entdeckung machen. Beide Autoren eint ein dezidiert antichristlicher Affekt auf der Textoberfläche, während sie doch in ihrem scharfen Geist-Körper-Dualismus durchaus christlich zu nennen sind, vielleicht sogar, gesteigert, als Gnostiker zu bezeichnen wären. Arno Schmidts Instanzentheorie zerlegt die Funktion Autorschaft in die drei zu Akteuren werdenden Instanzen Unbewusstes, Ich und ÜberIch, sodass die Interaktionen der poetischen Figuren als inneres Gespräch der Psyche, quasi als Soliloquium, zu rekonstruieren sind (s. o.). Aber im Gegensatz zu Freud führt Schmidt eine vierte Instanz ein, die er als Humor bezeichnet. Psychoanalytisch gesehen handelt es sich dabei um den das Geschehen der Psyche in ihren drei Instanzen von außen beobachtenden Analytiker, der bei Schmidt im Gegensatz zum Therapeuten keinen Heilungsversuch unternimmt, sondern das Triebgeschehen humoristisch beobachtet und kommentiert und die Analyse als zutiefst komische und in jeder Hinsicht vergebliche Bemühung verlacht. Dieser Humor erscheint bei Schmidt durchaus auf derselben Ebene wie die drei anderen Instanzen, also als weitere literarische Figur, aber zugleich kommt ihr die Position des Außenbeobachters zu. In Abend mit Goldrand ist es A&O, der einerseits Figur unter anderen ist, andererseits aber in seinem wesentlichen metaphysi-
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7 Poetische Emotivität
schen Bedürfnis gleichsam vertikal aus der Interaktion herausragt und als einziger in der Lage ist, in der Nacktheit der Ann’Ev’ den gnostischen Lichtstrahl der Erlösung zu erkennen. Strukturell gesehen bleibt der Humor inkompatibel zum von ihm Belachten, er ist gewissermaßen die metaphysische Komikseite des sonst nur in seinem Ernst auftretenden Gottes. Der Humor macht, mit einem Wort Jean Pauls, alles gleich (JP I/5, 125), ist demgegenüber aber das Ungleiche. Unschwer zu sehen ist, dass dies die Definition der analogia entis (s. o.) wiederholt. So wie bei Paul Wühr Hamann von oben herab in den Text eintritt und mit seiner Wurfschaufel lauter Analogien stiftet und ähnlich dem Humorkonzept bei Jean Paul ist Arno Schmidts vierte Instanz diejenige Funktion, die alles auf den Nenner des Verlachens bringt, zu diesem Tatbestand selbst aber in metaphysischer Distanz steht, wie der christliche Gott, als es ihn noch gab und als er die Welt noch ernst nehmen konnte. Die These analogischer Typologie, die anhand von Jean Pauls christlicher Metaphorik71 und mit Bezug auf Wührs HamannMuse als korrespondierendes Modell zum Problem der sich entziehenden Selbstreferenz der emotiven Funktion in Anschlag gebracht werden kann, lässt sich modelltheoretisch offenkundig bei Arno Schmidt weiterschreiben. Aus Gott ist der über das Schlamassel grimmig lachende Psychoanalytiker geworden, dessen einziger Kommentar in der Geste fortlaufenden Humors besteht, in der alles typologisch aufeinander bezogen wird, nur dass aus Christus nun das zynische Lachen geworden ist. Dass sich das Modell einer selbstreferentiell gewendeten Typologie auch ohne theologischen Beistand denken lässt, macht Uwe Dick deutlich: »Alles Schlechte kommt von oben« (Dick 2001 291). Wenn also in der Sauwaldprosa der Geist nicht inkarniert oder die poetische Grammatik nicht ins Bild verkörpert wird, ist eine andere Materie zu suchen: nicht Fleisch, sondern Wald und Holz, bekanntlich die etymologische Herkunft von materia. »Wortwege genug. […] Die rätselhafte Tiefe unberührter Wälder« (Dick 2001, 291). Also geht es »dem Walde zu, wo ich besser bekannt bin« (Dick 2001, 292), und zweifelsohne Zur christlichen Metaphorik als Produkt der Säkularisation hat Hans Blumenberg (1974, 119–140) wichtige Beobachtungen beigesteuert. Nach seiner These setzt die durch die Aufklärung betriebene Enttheologisierung metaphorische Potentiale vordem dogmatisch gebundener Sprache frei, die Jean Paul metaphorisch ausnutzt. So hört sich Vieles bei Jean Paul christlich an, ohne es im ›eigentlichen‹ Sinne zu sein. Der Humor, den Jean Paul als Umkehrung der Erhabenheit deutet (JP I/5, 125), besitzt in seiner Grundausrichtung an einer metaphysischen Vertikale einerseits das christliche Momentum des Aufstiegs ins Himmlische, andererseits aber die antichristliche Dimension, in die Gegenrichtung hinab zur Welt zu blicken und sie als misslungen zu verlachen. Man sieht, dass diese Spanne von Himmel und Hölle genau den Bereich ausmisst, den Jean Paul in seiner Charaktertheorie als Spanne zwischen himmlischem Ideal-Ich und höllischem Gegen-Ich behauptet.
7.4 Gehirntiere
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handelt es sich um ganz besondere silvae poeticae, nämlich um solche, deren Intertextualität eine konkrete Selbsteinschreibung in die Materie präfiguriert. Ein Lob Arno Schmidts hört sich bei Uwe Dick so an: Abschröckliches in den Blattern – ob der Riesenbibliotheken, die notwendig seien, jener thalassalen Type Skripten zu beweltyin: affentheurlich naupengeheurliche FISCHARTistische liternarrische AufsKreuzlegWortRätsel hecke der stiernackige, hinterm Schauerfeld stirnwolkende, einzlgängerische PolyglottErotoMonomane aus – und hochgelahrte DechriffrierKombinaToren felgten erörternd seinen Spuren auf DÄUBLER komm raus und abjOYCElich in die VERNE(s) schweifend, lügt auch der GOETHE noch so nah: (Dick 2001, 283)
Das sind lauter Versprecher oder Verschreibformen, lautlich konkret-mimetischer Natur, schriftlich aber etymistisch-selbstreferentiell. Die Funktion Autorschaft stellt sich bei Uwe Dick mithin als ein Maskenwechseln in den poetischen Wäldern der Intertextualität dar. Die Sauwaldprosa ist darin aufschlussreich, dass sie vorderhand keine fiktionale Welt mit handelnden Charakteren etabliert, sondern weithin nur aus dem Räsonnement der Funktion Autorschaft besteht, welche sich aber in literarischen Maskenreden darstellt. Dick zeigt somit ebenfalls eine generische Formation der poetisierten Emotivität, indem er es erst gar nicht bis zu literarischem Personal kommen lässt, sondern vorher auf der generischen Ebene der intertextuellen Masken innehält. Wenn Wühr bis unter den Friedhof belesen ist (s. o.) und er seine Selbstteilung qua Selbstpluralisierung von diesem Repertoire her instrumentiert, dann öffnet, um im Bild zu bleiben, Uwe Dick die Sargdeckel dieses Friedhofs. Er findet dort die Masken seiner Ahnenreihe, also seinen Stoff, sein Material und übersetzt materia konsequent zurück in die einst wörtliche Bedeutung: Holz. Daraus wird der Wald, aus dem Text geboren wird, also wiederum materia, diesmal in der Bedeutung matrix, die Gebärmutter. Aber es ist ein seltsamer Wald, faktisch gar nicht so einfach zu lokalisieren (Dick 2001, 8 f.) und vor allem voller Säue, die, da sie nicht lachen, als geborene Humoristen grunzen (bayerisch sprechen).
7.4 Gehirntiere Die für die Prosa charakteristische Umstellung auf Selbstreferenz impliziert einen Habituswechsel auch bei der poetisierten Emotivität. Im Formparadigma hätte die Funktion Autorschaft eine innere Werdegesetzlichkeit, ein zeitlich sich erstreckendes Integrationsmodell, selbst auch dann, wenn man Form als offenen Prozess anlegt. Wenn aber die poetische Emotivität von vornherein aus einer vielfach vollzogenen Aufspaltung eines nie habhaft zu werdenden Sprechens besteht und
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7 Poetische Emotivität
wenn sie zwischen diesen disiecta membra der Autorschaft intensive Querverbindungen, Analogien und Selbstverhältnisse etabliert, dann entspricht dieser Textlogik der Habitus schneller Intelligenz. Es geht nicht um Form, die lebend sich entwickelt (Goethes Motto zu seinen Sonetten), sondern um einen anderen Zeitmodus, nämlich um die beschleunigte Gangart permanent bemerkter Selbstverhältnisse. Prosatexte legen oft ihre Emphase auf Scharfsinn, Witz, Intelligenz. Sie lassen eine Wahrnehmung nicht zeitlich wachsen, sondern verbinden sie sofort mit einer Vielzahl von Bezügen, mit einem in Gleichzeitigkeit anspringenden System mehrfachen Schriftsinns. Wenn bei Joyce eine Wahrnehmung ins Textuniversum Eingang nimmt, muss sich das semiotische System geradezu überproportional an all den Anknüpfungen und Verschiebungen, an allen Tropen und Figuren der Ähnlichkeit abarbeiten. Intelligenz etabliert schnellsten Beziehungssinn, sie ist immer schon da, bevor Form überhaupt Fuß fassen könnte. Der Gestus nervöser Hochbegabung führt zu Verknüpfungsweisen, die jederzeit eine umfassende Enzyklopädie in Gang setzen, sobald auch nur ein Notat in diese pluridimensionalen Beziehungsnetze hineinfällt. Man wird mit einer Intelligenz zu rechnen haben, die immer schon über die Wahrnehmung hinausdrängt und sie durch ein vitales Assoziationsbündel überlagert. Arno Schmidts Pointe »Mein Herz gehört dem Kopf« (BA Suppl./2, 123) formuliert dies in Zuspitzung: Die Verhältnisse sind immer schon rekursiv und reflexiv, jede erste Wahrnehmung wird immer nur als zitierte verarbeitet und weiterverknüpft. Arno Schmidt hat in diesem Zusammenhang von Gehirntieren (BA II/2, 243–284; IV/1, 343) gesprochen, der Terminus steht bei ihm in aufschlussreichem Zusammenhang zum Begriff des feinsten Selbstmordes (BA II/2, 101). Denn das Schicksal der Hochbegabten besteht eben darin, sich an ihrer Substanz, die nichts anderes ist als ihr Beziehungssinn, zu ernähren – also sich selbst auszubeuten, bis zur entleerenden Verausgabung. Ästhetische Intelligenz ist gemeinhin kein Begriff der Poetik oder der Kunsttheorie, wahrscheinlich ist auch dies eine Folge des dominierenden Formparadigmas. Weil aber Prosa auf Selbstreferenz umstellt, ist ihr primärer Gestus als Intelligenz zweiter Sinnlichkeit zu beschreiben. Dies meint: Ihr wird das semiotische Material der immer schon zu vollziehenden Selbstverhältnisse geradezu zur unmittelbaren Sinnlichkeit, zum eigentlichen Körper. Eine Literaturgeschichte der ästhetischen Intelligenz liegt nicht vor, sie wäre zu schreiben. In ihr hätte die Frühromantik einen prominenten Ort einzunehmen. Bei Friedrich Schlegel ebenso wie bei Novalis werden Gedanken so schnell in der allgemeinen Begriffschemie (Chaouli 2004) weitergereicht, wie ein halbes Jahrhundert früher, in der Aisthesiologie der Leibniz-Wolff’schen Theoriebildung, petites perceptions im fundus animae verlinkt wurden. Der Terminus der ›Intelligenz als zweite Sinnlichkeit‹ meint diese Verhältnisse, in denen Gedanken aus ihrer
7.5 Conclusio: Ikonische Poiesis der poetischen Emotivität
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Disziplin und Disziplinarität entlassen werden und in eine wilde Enzyklopädie münden, in der ihre Verknüpfung, ihr Austausch und ihre Mesalliancen so schnell vonstattengehen wie in der ersten Wahrnehmung der simultane Wechsel der verschiedenen Sinne. In der Frühromantik werden nicht mehr sinnliche Notate einem fundus animae eingelesen, sondern mögliche Begriffsverbindungen so gehandelt, als wären sie Aisthesis. Was Carl Schmitt pejorativ als subjektivierten Okkasionalismus der Romantik beschrieben hat (Schmitt 1998, 19 und Kap. II.2.), ist die eigentliche Modernität: Denken wird zur zweiten Natur, sobald die Anthropologie auf selbstreferentielle Kybernetik umstellt und den Typus des nervösen Hochdruckintellektuellen erzeugt (Koschorke 1999, Kap. II). Die avancierte Prosa unterhält zu dieser anthropologischen Disposition intensive Querverbindungen: Intelligenz unterläuft Form infolge ihrer antiteleologischen Geschwindigkeit; sie erzeugt Netze mehrdimensionaler Beziehungsketten; sie kultiviert Witz und Scharfsinn; sie agiert als zweite kulturelle Natur, als wäre sie die erste.
7.5 Conclusio: Ikonische Poiesis der poetischen Emotivität Die Analyse der poetischen Emotivität, sofern sie nicht mimesisorientiert, sondern vorherrschend selbstreferentiell verstanden wird, führte zu der Überlegung, sämtliche in den Prosatexten personal auftretende Akteure als durch Aufspaltung erzeugte Varianten der an sich intransparenten Aisthesis, des nicht restlos aufzuhellenden anthropologischen Substrats zu deuten. Damit wird die für die Narratologie so zentrale Unterscheidung von erzählerischer Vermittlung und erzählter Welt mitsamt handelndem Personal unterlaufen und marginalisiert. Es liegt eine grundlegend andere Theorie des literarischen Charakters vor. Weil Prosatexte ihre poetische Grammatik als solche auf die Textbühne stellen, kollabiert die narratologische Unterscheidung vom Was des Erzählten (Diegese, Thema, erzählte Welt) und Wie des Erzählens (Vermittlungsapparat der Narration, Erzähler) infolge dominanter Selbstreferenz. An deren Stelle tritt eine Logik der Selbstkonfrontation durch Aufspaltung und Zerlegung der je eigenen aisthetischen Konstitution. So wird jede Instanz, welche spricht, zum verschobenen Sprechen der Funktion Autorschaft (emotive Funktion), die sich nur durch eine andauernde Selbstproduktion dem Paradox entziehen kann, dass Selbstbeobachtung Selbstverlust impliziert. Es entsteht durch diese Gesamtlage das Problem, wie Selbstreferenz überhaupt auf die Textbühne kommen kann, wie der Geist Körper bzw. Textkörper wird, wie die poetische Grammatik sich im Modus handelnder Akteure darstellt. An dieser Stelle wurde als vorherrschendes Modell (nicht als ausschließliches) die in den
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7 Poetische Emotivität
Texten expressis verbis verhandelte christliche Semantik debattiert: Inkarnation, Kondeszendenz, Eucharistie, christliche Typologie etc. Dieses Modell betreibt eine Verbildlichung der poetischen Grammatik, die hier nur aus Darstellungsgründen zunächst in ihrem puren Formalismus entwickelt wurde. Tatsächlich aber existiert sie von vornherein nur im Modus ihrer eigenen ikonischen Poiesis. Sie ist permanentes Heraustreten-aus-sich, evidentia-Produktion ihrer selbst, Auf-die-Bühne-Stellen des Geistes als das, was er ist: verkörpertes Dasein vom Grunde her. Es geht hier keineswegs um eine Verchristlichung, sondern um die grundstürzende Frage, wie im Gegensatz zum horizontal angelegten und zu Formen führenden Mimesismodell ästhetisches Erscheinen gedacht werden kann, wenn die Konstruktionsbasis Selbstreferenz ist. Offenkundig ist dies nur durch eine Bildgebung denkbar, aber so, dass mit dem Bild nicht ein Zweites hinzukommt. Dabei ist der Gedanke entscheidend, dass Bild und Sprache, Anschauung und Unterscheidung gleichursprünglich sind (Simon 2009, 19–33) und als aufeinander angewiesene Darstellungsmodi einander in Gegenseitigkeit hervorbringen. Prosa ist der Name für diejenigen Texte, die in Ermangelung von Form radikal auf die Dimension ikonischer Poiesis stoßen müssen und ihrer Intelligenz die ästhetisch angemessene Bildlichkeit zuschreiben.
8 Poetische Referentialität: Fiktionalität der Prosatexte? Welches Weltverhältnis kann durch ein literarisches Verfahren aufgebaut werden, das primär auf Selbstreferenz basiert? Man sieht, dass diese Frage in sich paradox ist. Sie wiederholt in einem gewissen Sinne das terminologische Paradoxon der poetischen Referentialität, die sich als selbstbezügliche Fremdbezüglichkeit paraphrasieren lässt, eine contradictio in adiecto. Aber die Frage als solche bleibt bestehen und ist substantiell. Es gibt menschliche Semiosen, die vornehmlich auf Selbstreferenz ausgerichtet sind. Für sie stellt sich die Frage nach der Möglichkeit eines Weltbezugs in grundsätzlicher Weise. Wenn vom sprachlichen Standpunkt her Weltbezug primär Kommunikation ist, Kommunikation in der Dichtung aber unter die Prämisse von Selbstreferenz gestellt wird, dann wird solche ›poetische‹ Kommunikation unweigerlich unter dem Aspekt des Scheiterns einer auf Fremdreferenz gerichteten Intentionalität beobachtet werden. Dieser Gedanke soll hier zunächst den Grundansatz bilden: Die Referenzwahl der avancierten Prosa, also ihre Option poetischer Fiktionalität, besteht in der Analyse von auf Selbstbezug umgestellter Kommunikation, also faktisch dysfunktional verlaufender Kommunikation. Wird Kommunikation weitergeführt, obwohl sie den Kommunikationszweck der Fremdreferenz nicht erreicht und stattdessen in Selbstverhältnissen verstrickt bleibt, dann wird sie sich als eine solche realisieren, die gegen sich selbst arbeitet. Vorderhand scheitert sie also, allerdings ist im Falle avancierter Prosa davon auszugehen, dass solches Scheitern gewollt ist und in zweiter Reflexion der Darstellung der falschen Welt dient – womit der Begriff der poetischen Referentialität erreicht wäre. Erneut wird sich zeigen, dass der Schauplatz avancierter Prosa in der Sache die äußerst reflektierte Matrix der Selbstreferenz ist, die textuell inszeniert, also in Fleisch und Blut übersetzt, als Handeln fiktionaler Akteure im Modus des Verfehlens von Weltbezug aufgeführt wird. Kommunikation, auch misslingende, ist nur denkbar unter der Prämisse des Vorhandenseins einer Welt, in der Kommunikation stattfindet. Der Ansatz also bei der Kommunikation reicht nicht tief genug, weil er das Weltgefüge der poetischen Fiktionalität, in der eine These über Kommunikation vorgebracht wird, immer schon voraussetzt. Eine tiefgehende Analyse der poetischen Referentialität muss also letztlich dieses Weltgefüge selbst thematisieren. Dies wird im Folgenden im zweiten Schritt, anlässlich der Einführung von Raum und Zeit – als ins Spezifische zu führende Chronotopoi der Prosa – in Angriff genommen.
https://doi.org/10.1515/9783110775570-008
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8 Poetische Referentialität: Fiktionalität der Prosatexte?
Damit liegt ein gestaffeltes Argumentationsprogramm vor. Zuerst wird die These ausgeführt, dass die Fiktionsstrukturen der avancierten Prosa das Paradoxon der poetischen Referentialität dergestalt vorstellig machen, dass Kommunikation als im Grunde misslingend dargestellt wird. Sodann werden die textonotologischen Voraussetzungen für eine solche Platzierung von Kommunikation bedacht.
8.1 Fundus animae – Prosa des Lebens – Formen der Synchronisation Hegel hat das prosaische Leben als eines beschrieben, das von dem System der Bedürfnisse (Rechtsphilosophie §§ 189–208; Hegel VII, 346–369), durch das sich die arbeitsteilige bürgerliche Gesellschaft definiert, bestimmt wird. In diesem Sinne wird das Adjektiv ›prosaisch‹ seit dem achtzehnten Jahrhundert als Bezeichnung für die der subjektiven Innerlichkeit entgegenstehende harte Realität der bürgerlichen Arbeitswelt benutzt (Barck 2003). Spricht man von der Prosa des Lebens, dann ist gemeinhin das Gewebe der durchgängigen Organisiertheit, der sich verfestigten Strukturen und der Reglementierung durch Rechtsprechung und ökonomische Verhältnisse gemeint. Eine Theorie der Prosa wird diese bei Hegel sich zum Ausdruck bringende Bedeutung aufnehmen müssen, allerdings in einer durchaus dekonstruktiven Bewegung. Sie sei in einem schnellen Gedankenvollzug formuliert: Der Terminus ›Prosa des Lebens‹ soll im Folgenden die tatsächliche Alltagskommunikation bezeichnen, der Terminus ›Synchronisation‹ hingegen die interaktionistischen Rahmungen und symbolischen Formen, welche die Alltagskommunikation überhaupt erst kommunikabel und dem System der Bedürfnisse zuträglich machen. In der Interaktionssoziologie existiert die aufschlussreiche Methodik, genaue Skripte von tatsächlich stattfindender Alltagskommunikation anzufertigen (Soeffner 1989, bes. 185–210). Ihre langsame und präzise Analyse zeigt eindrücklich, dass alltägliche Interaktion ein Minenfeld von Missverständnissen, Inkohärenzen, asymmetrischen Taktungen und ausufernder Redundanz mit zielungewisser Konklusion ist. Der tatsächliche Ablauf sprachlicher Interaktion im Alltag – also die reale Prosa des Lebens – entwickelt bei einem close reading ihrer schriftlichen Transkripte immer wieder den verblüffenden Effekt einer geradezu komischen Absurdität. Sie spottet allen Kohärenzbedingungen, die die Akteure selbst formulieren würden. Offenkundig liegt eine intensive Diskrepanz zwischen der objektsprachlichen Praxis und ihrer metasprachlichen Wahrnehmung vor.
8.1 Fundus animae – Prosa des Lebens – Formen der Synchronisation
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Das eigentliche Rätsel der Alltagskommunikation ist, dass sie trotz ihrer grotesken Abgründigkeit recht gut funktioniert. Sie tut dies nicht auf der Ebene ihrer tatsächlichen Interaktion, sondern auf einer Ebene, die hier Synchronisation genannt sein soll. Sprachliche Alltagshandlungen sind eingebettet in Handlungsablauftypen, Routinen und institutionelle Habitus (Luckmann und Schütz I), in kommunikative Rituale (Soeffner 1992) oder Rahmungen (Goffman 1980), die für die Synchronisation der Akteure zuständig sind. Wie absurd aus der Nähe besehen zum Beispiel Begrüßungsrituale bei der Analyse ihrer schriftlichen Transkriptionen auch sein mögen, in der mündlichen Interaktion garantiert der Ritualcharakter der Szene, also die Rahmung durch Alltagstheatralität, den Kommunikationserfolg. Die Synchronisation der Kommunikationsteilnehmer findet nicht in der Realität ihrer Kommunikation statt, sondern auf der Ebene der symbolischen Formen. So gesehen, adressiert Hegels Prosabegriff geradezu gegen seine Intentionen die Synchronisationsebene. ›Prosa des Lebens‹ soll im Folgenden aber der Name für die tatsächliche Interaktion, unterhalb der Synchronisationsebene, sein. Diese Unterscheidung zwischen einerseits einer basalen Prosa des Lebens, die sich durch Asynchronie, Missverständnisse und groteske Interaktionsschleifen auszeichnet, andererseits einer Synchronisation durch symbolische Formen, Rituale und theatralische Rahmen ist für die Theorie der Prosa entscheidend. Die Beobachtung lautet, dass die avancierten Prosatexte ein geschärftes Sensorium für die hinter der Synchronisation sich versteckenden Verwerfungen ausgebildet haben. Während der literarische Realismus des neunzehnten Jahrhunderts vor allem die Nachahmung der Synchronisationsformen der Kommunikation betrieben hat (Ausnahmen: s. u.), zeichnen sich die Prosatexte dadurch aus, dass sie sich auf die erste und zugleich basale Kommunikation, nämlich auf deren faktische Inkohärenz, auf das tatsächliche Misslingen zwischenmenschlicher Sprachverständigung beziehen. Jean Pauls Katzenberger ist in dieser Hinsicht realistischer als es Fontanes Gesprächsszenen sind. Erneut sei an dieser Stelle die Unterscheidung von Nachahmung und Darstellung benutzt: Von einer Nachahmung der basalen Kommunikation lässt sich kaum mehr sprechen, wenn sich die Konkretheit der jeweils ganzen Kommunikation mitsamt ihrer mimischen und gestischen Zeichen, ihren Kleidungskodes und räumlichen Szenographien aufgrund ihrer Komplexität einer Wahrnehmung offenkundig entzieht. Es sind die komplexitätsreduzierenden Synchronisationen, die in der Regel wahrgenommen und folglich nachgeahmt werden können. Der Realismus der Realisten ist in diesem Sinne Nachahmung der Synchronisationsebene von Kommunikation (und also eigentlich das Verfehlen basaler Realitäten). Die Darstellung der tatsächlichen Kommunikation kann hingegen erst in der Schrift genuin erzeugt werden (poiesis), sie resultiert in den Prosatexten vielleicht aus einem impliziten Wissen der Unterscheidung von basaler Prosa des Le-
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8 Poetische Referentialität: Fiktionalität der Prosatexte?
bens versus Synchronisation, aber sie muss im anderen Medium der Schrift gemäß ihrer semiotischen Verfasstheit spezifisch immer erst hervorgebracht werden. Noch einmal also: Indem Jean Pauls groteske Konstruktion in Dr. Katzenbergers Badereise auf die Verwerfungen und Brüche von Kommunikation zielt, ist sein Text ›realistisch‹ und paradoxerweise zugleich schrifterzeugt. Er stellt insofern eine Art der Selbstbezüglichkeit dar (Darstellung statt Nachahmung). Die Behauptung lautet also, dass Prosa die schriftgenerierte Darstellung jener (mündlichen) Prosa des Lebens ist, die vor ihrer Synchronisation liegt und durch diese in der Regel verdeckt wird. Es liegt hier eine starke Analogie zum Theorieaufbau der philosophischen Ästhetiken des achtzehnten Jahrhunderts vor. Das Theorem des fundus animae nimmt systemstrukturell genau die Stelle ein, welche die Prosa des Lebens im jetzt definierten Sinne innehat. Wenn im achtzehnten Jahrhundert in der Nachfolge von Leibniz der fundus animae als der Seelengrund bestimmt wird, in den die unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegenden kleinen Wahrnehmungen (petites perceptions) hineinströmen, ohne dass sie durch das Subjekt oder eine andere Instanz geordnet würden, dann stellt sich dieser Seelengrund als eine nicht mehr kontrollierbare und auch nicht aufklärbare Dichte im Inneren des Subjekts dar (s. dazu oben, vgl. Simon 2016c). Die philosophischen Ästhetiken, allen voran jene Baumgartens und Herders, haben ihr wesentliches Theorieziel darin gesehen, diesen chaotischen Wald im Inneren des Subjekts dadurch zu bändigen, dass er in ästhetische Form übersetzt wird. Die Unterscheidung von fundus animae und ästhetischer Form ähnelt strukturell derjenigen der Prosa des Lebens und ihrer Synchronisation. Die avancierten Prosatexte, die ihre Semiosen ›nach den Formen‹ vollziehen, finden ihre primäre Referenz in diesem von der Form gleichsam zugedeckten Feld entweder der komplexen Alltagskommunikation oder dem ihr korrespondierenden inneren Terrain des Seelengrundes. In diesem Sinne ist das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) von Moritz, in dem die pathogenen und kommunikationsverhindernden Clusterbildungen des fundus animae mit ihren fixen Ideen Gegenstand sind, ein präzises Analogon zur ungeregelten und chaotischen ›Prosa des Lebens‹. Tatsächlich hat Moritz auf dieser Konzeptbasis seine eigene autobiographische Prosa im Anton Reiser aufgebaut. Ausgehend von diesen Überlegungen kann nunmehr bestimmt werden, wie sich die poetische Referentialität im Fall der Prosa darstellt. Normalerweise wird Fiktionalität als neuorganisierende Kombination von durch Nachahmung in Sprache übersetzten Realitätsbausteinen gedacht.72 Für die Prosa aber besteht
Dieser Grundgedanke wird seit dem achtzehnten Jahrhundert (Bodmer, Breitinger) bis in die gegenwärtigen Debatten geführt. Noch Wolfgang Isers Unterscheidung von Textrepertoires
8.2 Radikaler Realismus
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der poetische Referenzbezug in der Darstellung des fundus animae oder in der poetischen Erzeugung der Prosa des Lebens im erklärten Sinne. Prosa ist damit Darstellung von Aisthesis, sei es die innere oder die der sozialen Interaktion. Es geht ihr nicht primär um den Aufbau einer realistischen Szene, einer möglichen Welt mit nachvollziehbaren Handlungen – wenngleich dies nicht ausgeschlossen ist. Wichtiger ist ihr die Darstellungsfunktion einer vor der Form liegenden Dichte, einer waldigen Materialität und Stofflichkeit. In diesem Sinne kann man sagen, dass Prosa einen gesteigerten, geradezu radikalen Realismus kennt. Ihr Humor ist in der konkreten Groteske der tendenziell misslingenden Alltagskommunikation verankert, allerdings gerade nicht in einem formdominierten oder mimetisch-referentiellen Bezug.
8.2 Radikaler Realismus Roman Jakobsons Umgang mit dem Referenzproblem ist elegant. Er spricht vom Kontext, auf den sich die sprachliche Tätigkeit bezieht und in den sie eingebettet ist (Jakobson 1979, 88). Die Frage einer expliziten Bezugnahme stellt sich mit dieser Terminologiewahl nicht. Referenz ist in der Dichtung nach Jakobson nicht durchgestrichen, sie wird überlagert durch andere sprachliche Dominanzen (Jakobson 1979, 92 f.). Jakobson macht diese Bemerkungen eher nebenher, eine Theorie der literarischen Fiktionalität gerät nicht in seinen Fokus. Dennoch ist sein Grundansatz mit anspruchsvolleren Fiktionalitätstheorien kompatibel. Deren Überlegung lautet, dass fiktionale Welten aus einer auswählenden Neukombination von Referenzpartikeln oder auch ganzen Sinnsystemen entstehen (s. o.). Diese Neukombination folgt bestimmten Kohärenzmodellen, um die Wahrscheinlichkeit möglicher Welten zu gewährleisten. Die Referenzpartikel können aus einem Puzzle punktueller, aber verfremdet übernommener Bezugnahmen bestehen oder auch aus abstrahierten Sinnsystemen, die auf der Ebene ihrer strukturformierenden Tätigkeit entautomatisierend neu justiert werden. Vermögenstheoretisch werden die Bezugnahmen aus dem Weltwissen bezogen (Gedächtnis) und durch produktive Phantasie (Einbildungskraft) neu kombiniert. Dieses Argumentationsschema liegt den gängigen Fiktionalitätstheorien zugrunde. Man kann bemerken, dass Fiktionalität vor allen Dingen einen starken Zug zu Kohärenz hat: Die Sinnsysteme dürfen sich
(resultierend aus der symbolischen Aufnahme von Realität durch Selektion) und Textstrategien (als Neuorganisation) schreibt dieses Konzept weiter; vgl. Iser 1976, Kap. II und Iser 1993, Kap. I.3.
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8 Poetische Referentialität: Fiktionalität der Prosatexte?
nicht widersprechen, die fingierte Realität muss stabil sein, punktuelle Bezugnahmen dürfen nicht den imaginierten Möglichkeitsraum sprengen. Anders formuliert: Fiktionalität basiert intensiv auf Synchronisationsleistungen ihrer materialen Elemente. Nun versteckt sich in diesem Grundkonzept eine tiefe Paradoxie. Offenkundig ist Fiktionalität jederzeit auf ästhetisch verfremdete Referenzbezüge angewiesen, während sie zugleich alle diese Bezüge für ihre Welt umkodiert. Fiktionalität ist mithin selbstreferentielle Fremdreferentialität, also die zur Selbstbezüglichkeit umorientierte Fremdbezüglichkeit. Einfacher formuliert: Jede poetische Welt wird voller semiotisierter Realitätspartikel stecken, auf der Ebene punktueller Einzelreferenzen ebenso wie auf der Ebene benutzter Sinnsysteme. Der Stoff der Dichtung fällt nicht vom Himmel, er kommt aus den umgebenden Kontexten. Aber in jedem Detail ist er umgearbeitet, in poetische Selbstreferenz eingelesen. Somit ist Fiktion realitätsbezogen und zugleich realitätsverneinend, referenzaffin und zugleich selbstbezüglich. Kein Detail einer Dichtung kann intentione recta auf Realreferenz zurückbezogen werden, aber nichts kann in einer Dichtung ohne Fremdreferenz Bestand haben. Stabile fiktionale Welten kommen zustande, indem die Dichtungen diese tiefgegründete Widersprüchlichkeit dadurch entparadoxieren, dass sie die Synchronisationsverfahren untereinander aufs Engste verfugen. Wir folgen willig den Begebenheiten einer fiktionalen Welt, solange eine solche Synchronisation der Elemente und Bausteine darüber hinwegtäuscht, dass die gesamte Konstruktion im Grunde unhaltbar ist. Der Verdacht, dass die Dichter lügen würden, begleitet die Fiktionen als notwendige Reflexion auf ihre Haltlosigkeit von Anfang an (Grübel 2019). Wenn nun Prosa der Name für das Auf-die-Bühne-Stellen der poetischen Grammatik ist, dann wird sie im Falle der poetischen Referentialität (re-entry der Fremdreferenz in die Selbstreferenz der poetischen Funktion) ihrem Zug zur selbstreflexiven Meta-Literatur folgen und die Fiktionsparadoxie aufdecken, die normalerweise kaschiert wird. Wie kann Prosa die Grundparadoxie selbstreferentieller Fremdreferenz darstellen? – Sie kann dies durch zwei Strategien tun: Erstens ist ihre poetische Welt die der misslingenden Kommunikation und zweitens wird gerade dies sprachmagisch instituiert (s. u.). Das soll heißen: Misslingende Kommunikation ist der Vollzug selbstreferentieller Fremdreferenz. Kommunikation, indem sie poetisch in Selbstbezug umorientiert wird, destruiert ihre Adressierung und unterwandert ihr eigenes Apriori. Sie kann nur noch im Modus des Scheiterns auftreten, sobald das poetische System von Mimesis auf Darstellung der poetischen Grammatik umorientiert ist. Avancierte Prosa unterwandert also die Synchronisationsebene und konstruiert quasi auf dem Nullniveau der Interaktion sprachliche Tätigkeiten, die
8.3 Bloße Synchronisation: Stifter (Exkurs)
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thematisch als misslingende Kommunikation zu lesen sind, poetologisch aber als tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Problem der poetischen Referentialität.
8.3 Bloße Synchronisation: Stifter (Exkurs) Die meisten Prosatexte beziehen sich auf die Prosa des Lebens, die unterhalb der Synchronisationsformen liegt und gemeinhin von ihnen verborgen wird. Lässt sich auch eine Umkehrung denken? Ist eine Prosa möglich, die zwar die Unterscheidung zwischen Prosa des Lebens versus Synchronisation vollzieht, aber die Seite der Synchronisation als solche darstellt? Wenn die Prosa des Lebens die Frage ist, auf welche die Synchronisation die Antwort sein will, dann würde es sich bei einer Darstellung der Synchronisationsformen um ihrer selbst willen gleichsam um die Rätselgestalt einer Antwort ohne Frage handeln. Dieser seltsame Fall liegt beim späten Adalbert Stifter vor. Eine Begegnung des Ich-Erzählers mit einem Bediensteten, den er lange nicht gesehen hat, erstarrt in zeremonieller Tautologie: Da kam mir Wilhelm entgegen, der sehr alt geworden war, und sagte: »Seid Ihr doch der Vetter Rupert?« »Ich bin es, und Du bist Wilhelm,« antwortete ich. »Ja,« sagte er, »und seid gegrüßt, Ihr müßt warten, der Herr wird erst in einer Stunde kommen.« »Ich werde warten,« entgegnete ich, »sei mir auch Du gegrüßt, Wilhelm.« »Was die Zeit vergeht,« sagte Wilhelm, »und ich habe Geschäfte, setzt Euch nur in dem Hause auf einen Stuhl.« »Thue Deine Geschäfte,« antwortete ich, »gehe in das Haus, ich werde hier im Freien warten.« »Nun, so thut, wie Ihr wollt,« sagte er. Nach diesen Worten ging er in das Haus; ich aber setzte mich in ein Stück Schatten, das von dem Überdache auf die Bank vor dem Hause herabfiel. (Stifter 2003, 159)
Noch offenkundiger tritt der Ritualcharakter der Kommunikation in der zentralen Liebesszene hervor. Stifters Spättext Der Kuss von Sentze handelt von dem seltsamen Mythos einer Familie, die eine Typologie von Kussformen kennt und die oft bedenklich inzestuöse Partnerwahl davon abhängig macht, ob zwei einander Küssende in der Art ihres Küssens übereinstimmen. Dazu müssen sie vorher diese Typologie kennengelernt haben. So treffen Hiltiburg und Rupert aufeinander und teilen sich durch Austausch eines Schlüsselworts in einer seltsam tautologischen Interaktion mit, dass sie die entsprechenden Schriften gelesen haben:
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[...] dann trat ich in der Mitte des Saales zu ihr, und sagte: »Hiltiburg, hast Du die Schriften gelesen?« »Ich habe sie gelesen,« antwortete sie. »Ich habe sie auch gelesen,« sagte ich. Dann sprach ich wieder: »Weißt Du das Wort?« »Ich weiß es,« antwortete sie. »Ich weiß es auch,« sagte ich. Dann fragte ich: »Soll ich das Wort sprechen?« »Sprich es,« antwortete sie. Sie stand da, da sie dieses sagte, vor mir und hatte ihre beiden Arme an den Körper nieder hängen. Ich legte meine Hände auf ihre Schultern und sagte leise: »Hiltiburg, mit Gott.« »Rupert, mit Gott,« antwortete sie noch leiser. (Stifter 2003, 170)
Auf dieses Gespräch folgt der Kuss, der von den beiden Experten in Kusstheorie als Liebeskuss identifiziert wird, was dann unweigerlich zu Liebe und Heirat führt. Stifter tilgt offenkundig den Inhalt der Kommunikation und lässt sie nur über den Ritualcharakter der Synchronisation laufen. Die Tautologie ist deshalb die ultima ratio des Textes. Die miteinander Redenden haben schon längst das Vertrauen darin aufgegeben, über eine inhaltliche Interaktion, sei es eine problemorientierte oder eine die Intimität explizierende, zueinander finden zu können. Sie vertrauen auf den familialen Kode, der darin besteht, Synchronisationsfunktionen zwischen Kussformen zu definieren. Die Prosatexte Stifters nähern sich deshalb einer Textlogik an, die man entfernt mit der Minimal Music vergleichen könnte. Minimale Verschiebungen und Wiederkehr des Gleichen werden zum inhaltlichen Argument für eine so lebenswichtige Entscheidung, wie es die Partnerwahl ist. Selbst die Versicherung der Liebenden, sich gefunden zu haben, bleibt in der Wiederholung des bloßen Schemas, in der Repetition des Rahmens stecken, wie eine Sequenz aus Der fromme Spruch zeigt. Die seltsame Zeichensetzung, in der das Komma innerhalb der die Rede markierenden Anführungsstriche steht, stellt zusätzlich den artifiziellen Charakter der Sequenz heraus: »Gerlint,« rief Dietwin, »ich kann es nicht ertragen, wenn dein Auge auf irgend einen Mann blickt.« Gerlint wendete sich um, und rief: »Dietwin, ich kann es nicht ertragen, wenn dein Auge auf ein Weib blickt.« »Gerlint,« rief Dietwin. »Dietwin,« rief Gerlint. Und plötzlich faßten sie sich in die Arme, umschlangen sich, und küßten sich auf den Mund. »Dein Auge blickt auf mich als Gattin, Gerlint,« sagte Dietwin. »Und deines blickt auf mich als Gatte, Dietwin,« sprach Gerlint. »Ich will dich auf den Händen tragen, Gerlint,« sagte Dietwin. »Ich werde dir ein treues, gehorsames Weib sein,« antwortete Gerlint.
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»Wir werden gemeinsam schalten und wirken,« sagte Dietwin. [...] »Und nun sind unsere Gedanken eins,« sprach Dietwin. »Sie sind ein Gedanke,« sagte Gerlint. »Und werden es bleiben,« antwortete Dietwin. »Jetzt muß alles rasch ins Werk gesetzt werden.« »Wie es dein Wille ist, Dietwin,« entgegnete Gerlint. »Nun den Kuß als Bräutigam,« sagte Dietwin. »Als Braut,« antwortete Gerlint. Und sie gaben sich den Verlobungskuß. (Stifter 2005, 1503f.)
Stifters späte Texte sind Grenzexperimente. Sie höhlen den romanspezifischen Realismus dadurch aus, dass sie minimale Handlungen allein durch die Permutation der Rahmenbedingungen von Kommunikation stattfinden lassen. Damit entsteht eine interessante Variante von Selbstreferenz, in der die symbolische Form der kommunikativen Synchronisierung als solche durch dysfunktionale Betonung entautomatisiert wird. Der getragene zeremonielle Ernst des Textes befindet sich überraschend nahe am Umschlagspunkt zu einer slapstickhaften Komik. Henri Bergson hat in seiner Theorie des Lachens die kontraevidente Automatisierung des Lebens als eine der Quellen für Komik ausfindig gemacht (Bergson 2011). Stifters Zeremonialwesen reicht an diese Erkenntnis heran, ohne sie zu ergreifen. Indem der ganze Text monoton dieser Geste folgt, sinkt die nur kurz aufscheinende Vitalität der Komik in sich zusammen. So gerinnt die Textbewegung zu einer ornamentalen Ritualität, in der die prosaspezifische Selbstreferenz auf die Tautologie als ihrer negativen Erfüllungsgröße aufläuft. Stifters späte Erzählungen, aber auch der Witiko, wären in dieser spezifischen Ausprägung als Varianten von Prosa im hier diskutierten Sinne zu bedenken.
8.4 Magischer Realismus Sprachmagie ist die Prozessontologie der Selbstreferenz. Wenn Prosa primär das Auf-die-Textbühne-Stellen der poetischen Grammatik ist, dann hat sie infolge dieser basalen Selbstbezüglichkeit nur einen lockeren Bezug zu Wirklichkeitskorrelaten. Wie aber erzeugt sie dann ihre fiktionalen Szenographien? Die konsequente Antwort kann nur lauten, dass Prosa dies ebenfalls durch Rekursion auf ihre eigenen Bedingungen vollzieht, nämlich mittels der Reifizierung ihrer Diskursgrammatik, also durch das In-Szene-Setzen ihrer semantischen Dispositive. In den Texten erscheint diese nicht nur, aber auffallend oft als Sprachmagie, welche die poetische Selbstbezüglichkeit in die Ontologie einer dargestellten Welt überführt – einer Welt folglich, deren Substanz Sprache ist. Dass Kafkas Strafko-
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lonie die wörtliche Umsetzung der Redewendung sei, dass jemandem etwas wie auf den Leib geschrieben sei (z. B. dem Schauspieler eine Rolle), ist dabei noch ein relativ einfaches Verfahren. Tatsächlich reicht aber die Sprachmagie tiefer, sie führt mitten hinein in die signatura-rerum-Lehre, in die These von der Sprachlichkeit der Welt und in die damit einhergehenden Lektürekonzepte. Der Einsatzpunkt für die Sprachmagie lässt sich im Kontext des bisher Ausgeführten recht präzis bestimmen. Wenn Prosa die Darstellung misslingender Kommunikation ist, lassen sich dann überhaupt stabile Szenen der Interaktion denken? Wie ist eine Handlungswelt literarisch vorstellbar, die die Insuffizienz des Miteinanderhandelns zu ihrer Prämisse erklärt? Wenn das Ausweichen auf die Synchronisationsebene der Kommunikation ausfällt – dies wäre, wie ausgeführt, die Option des Romans –, dann braucht die Sprache der Interaktion eine andere Wirkmacht, um sich gegen den Zerfall in Nichtidentität zu schützen. Es handelt sich um sprachmagische Akte, in denen sich Prosa kontrafaktisch gegen ihre eigene Negativität ins Leben ruft. Arno Schmidts Aus dem Leben eines Fauns beginnt so: Auf die Sterne soll man nicht mit Fingern zeigen; in den Schnee nicht schreiben; beim Donner die Erde berühren: also spitzte ich eine Hand nach oben, splitterte mit umsponnenem Finger das ‹K› in den Silberschorf neben mir, (Gewitter fand grade keins statt, sonst hätt ich schon was gefunden!) (In der Aktentasche knistert das Butterbrotpapier). Der kahle Mongolenschädel des Mondes schob sich mir näher. (Diskussionen haben lediglich diesen Wert: daß einem gute Gedanken hinterher einfallen). Die Chaussee (zum Bahnhof) mit Silberstreifen belegt; am Rande mit Rauhschnee hochzementiert, diamonddiamond (macadamisiert; – warn Schwager Coopers nebenbei). Die Bäume standen riesenstramm und mein Schritt rührte sich dienstfertig unter mir. (Gleich wird der Wald links zurückweichen und Felder ankommen). Auch der Mond mußte mir noch im Rücken hantieren, denn manchmal zwitschten merkwürdig scharfe Strahlen durchs Nadelschwarz. Weit vorn stach ein kleines Auto die aufgeschwollenen Augen in die Morgennacht, sah sich langsam zitternd um, und wandte mir dann schwerfällig den rotglühenden Affensteiß her: gut, daß es wegfährt! Mein Leben?!: ist kein Kontinuum! (nicht bloß durch Tag und Nacht in weiß und schwarze Stücke zerbrochen! Denn auch am Tage ist bei mir der ein Anderer, der zur Bahn geht; im Amt sitzt; büchert; durch Haine stelzt; begattet; schwatzt; schreibt; Tausendsdenker; auseinanderfallender Fächer; der rennt; raucht; kotet; radiohört; »Herr Landrat« sagt: that’s me!): ein Tablett voll glitzernder snapshots. (Schmidt BA I/1, 301)
Die ersten Sprachgesten dieses Textes sind magische: mit den Fingern zeigen, in den Schnee schreiben, die Erde berühren. Die Wirkmacht dieser Magie wird zugleich ironisch depotenziert, aus dem Donner wird das Knistern von Butterbrotpapier. Aber die Bewegungsform des Subjekts bleibt magisch: Der raumgreifende Schritt bewirkt das Zurückweichen des Waldes, selbst der Mond scheint nicht so vorgehen zu können, wie er das normalerweise tun wollte. Das zu einem gefährlichen Tier personifizierte Auto weicht zitternd vor dem sprechenden Subjekt zurück und lässt nur
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noch, flüchtend, den rot glühenden Affensteiß sehen. Dieser magischen Grundgeste korrespondiert schon im zweiten snapshot der Verweis auf eine offenkundig kurz vorher stattgefundene Diskussion, die vom sprechenden Subjekt negativ bewertet wird. Wenn einem die besten Gedanken immer erst im Nachhinein einfallen, dann sind Diskussionen weitgehend misslingende Kommunikationen. Der letzte zitierte snapshot formuliert die grundlegende Nichtidentität des Sprechenden, sodass seine soziale Rolle nicht mehr adressierbar ist. Dieser Textanfang instituiert die Korrelation von sprachmagischer Selbstbehauptung und Negativierung der sozialen Rolle, sodass das Misslingen der Kommunikation durch die Wirkmacht der poetischen Rede kompensiert wird. Arno Schmidts Textanfänge haben fast ausnahmslos diese Grundstruktur, in der ein durch Sprache sich artikulierender Machtwille kontrafaktisch zur negativistischen Welt steht. Sprachmagie erzeugt Wirklichkeit auch dann, wenn der kommunikative Rahmen darauf eingestellt ist, vor allem Misslingen und Fehlleistungen stattfinden zu lassen. Vielleicht müsste man sogar forcierter formulieren: Gerade aufgrund dieser Negativität entsteht die trotzige Geste einer sprachlichen Selbsterzeugung. Die erste Seite der Sauwaldprosa kennt diesen Gestus ebenfalls, die Anfangssequenz von Schattenfroh arbeitet daran, ein komplexes Aufschreibesystem als Reaktion auf eine klaustrophobische Verhörsituation aufzubauen. Die in der Prosa dargebotenen Szenographien haben insgesamt die Charakteristik, dass die Krise fremdreferentieller Sprachorientierung durch eine hypertrophe Positivierung selbstreferentieller Sprachlichkeit gekontert wird. Es ist also die Konvergenz von Sprachmagie und radikalem Realismus zu denken. Die literarische Konsequenz aus dieser paradoxen Ausgangslage lautet für die Prosa: Ganz im Sinne der Fiktionalitätstheorie von Wolfgang Iser besteht die prosaspezifische poetische Referenznahme (Fiktionalität) darin, die Relation von Prosa des Lebens und Synchronisation zu entautomatisieren, also die Fiktionalitätsrepertoires (Iser 1976, 87–143) verfahrenstechnisch umzustrukturieren (Iser 1976, 143–174). Auf diese Weise entsteht ein magischer Realismus, der primär mit den Mitteln der Wortmagie arbeitet, ohne dabei den grundlegenden Realismus der Prosa aufzugeben. Arno Schmidt formuliert diesen Sachverhalt explizit in Abend mit Goldrand: Freilich: ›überlebm‹ kann man nicht mit bloßem Realismus; sondern nur mit ›phantastischem Realismus‹. (Schmidt BA IV/3, 130)
In Abend mit Goldrand ist es geradezu ein Strukturschema, dass sich semantische Einheiten in der nachfolgenden Szene zu tatsächlichen Ereignissen verwandeln. Ein eindrückliches Beispiel ist der Bericht von Ann’Ev’, ihr habe in der Kindheit, die sie in Luxembourg verbracht habe, einmal ein Mann einen beim Spiel davonrollenden Ball wieder zugeworfen. Es habe sich, so rekonstru-
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iert sie in einer überraschenden Volte der erinnernden Konkretion, um A&O gehandelt, den sie in der Gegenwart der Handlung getroffen und lieben gelernt habe, ohne von der weit zurückliegenden und zufälligen Begegnung gewusst zu haben. Kaum dass sich diese Anamnesis einstellt, erscheint ein Ball: ANN’EV’ (sie unwillich abschüttlnd): »Nichts geht ohne Lohn! –: wie soll ich d’nn jetz dem A&O gegnüber tretn?; (wo die Ann’Ev’ ii ihm gestern solche Avanc’n gemacht hat?!).«; (sie reißt d eigroßn Spiegl vd Wand; hält ihn sich vor: – und starrt in d SpieglBild ihres Schoßes: ? – sie murmelt): »Der Kopf wird zur Eule; die Ø zur Katze; die Hände flieg’n als FlederMäuse davon. – (?) –: Ich erinner’ mich jetz: im ›Le Bon Livre‹, (? ner Buchhandlung; auf der Avenue d’la Liberté), hab ich, vor Jahr’n, sein’n Nam’m gelesn. – (?): ›Zufall‹?: iss ne unerwartete Form von Geschick.« MARTINA (sehr vorsichtich): »Der A&O wár ma’ in Lux’mburg – so ’55? –«; (oder ’57?) (Sie beobachtet, etwas besorgt \ ängstlich, Jene; Die den Bissen – (gelbe Marmelade, auf roter Marmelade) – unbeweglich vor dem offnen Munde hält –,–,– er fällt ihr, langsam, aus der Hand ... – ANN’EV’ (stammelnd): »Ich war noch ein ganz kleiner ... unnützer Fisch ... –: der fö Opapp hatt’ mir’n Ball geschenkt ... rot=weiß=groß der war Mir ... wo=hin? gefall’n ... –: da kam ein Mann und holte \ gab ihn Mir ... ich weinte; und dann noch ’n Silberling? ... – ... «
(sie starrt, immer diese leere Hand vorm Mund, auf den Acker; –; über den ein mächtijer, rot=weißer Ball angerollt kommt: selbständig. Hält an. ?. Läuft weiter, eine Miete (KartoffelMiete) entlang; und um deren Ende herum. Näher. –: über eine zweite weht er hinweg: hopps. Er dreht sich kokett: ?: ? –. Betrudlt die Straße. Und landet, schließlich, vorm JägerZaun, links. –) ANN’EV’ (vor Erinnerung schluchz’nd): »›Dr. HILLER’s Fefferminz‹ muß drauf steh’n ... «; (er fürcht’t sich wohl, vor’m vieln Klee=hier ... ) MARTINA (intressiert & voller caperbility hüpft hin –: ? – sie kommt mit ihm, unterm weit gehöhlt’n Arm, zurück): »Tatsächlich. –: Du, den leg’ ich Uns hinter’s Haus;« (was Zugelaufnes kann man ja behaltn, wie?): »– und dann spiel’n Wir nachher mit ihm.«; (das’ss ja lustich: wo kaum ’n Wind geht! (Na; er iss aber auch federleicht. Sie hebt ihn, ballancierend, auf d 5 rechtn FingerSpizz’n: – ? –)) ANN’EV’ (ihr trüb’ zusehend): »Der bleibt Dir nich –«; (sie senkt das Gesicht. / Der Ball auf Martina’s Hand wird blasser; seine Streifung wie die des Morgenrots, seine Grundfarbe weißblau=himmlisch; er löst sich rasch auf –.) (Schmidt BA IV/3, 183 f.)
Diese Sequenz ist nahezu unauslotbar und ein treffendes Beispiel für die komplexe Mehrfachkodierung der Prosatextur. Das Auftauchen des Balls ist zunächst Wortmagie. Indem die Erinnerung zum Wort findet und das Wort poetisch gespro-
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chen wird, erscheint auch der Referenzgegenstand des Zeichens, jedoch so, dass er offenkundig keine stabile Realität im Sinne der ersten Ontologie gewinnt. Sein tatsächliches Erscheinen ist gewissermaßen schon fiktiv, die Apparition wird sofort verblassen. Innerhalb des Textes ließen sich allerlei Querverweise etablieren, nicht nur zum öfter diskutierten und mehrfach im Fernsehen angeschauten Fußball, sondern auch zur Weltkugel auf der Rückseite von Boschs Triptychon Der Garten der Lüste und also auch zur boule de neige aus dem vierten Bild von Abend mit Goldrand (BA IV/3, 27: »Buhl de Nääsch«). Wichtiger ist aber die seltsame Bewegungschoreographie dieses Balles, der nur vordergründig vom (nicht wehenden) Wind bewegt wird und mitunter auch die Eigenart hat, sich gegen den (nicht wehenden) Wind zu bewegen. Er folgt zunächst der Furchung des Ackers. In der symmetrischen Mitte von Abend mit Goldrand gibt es eine Szene, in der Martina und Ann’Ev’ miteinander plaudernd die Straße auf und ab gehen, sie werden dort die »BoustrophedonFräulein« (BA IV/3, 158) genannt. Offenkundig folgt der Ball dieser Etymologie. Wörtlich lautet die Übersetzung von Boustrophedon: ochsenwendig oder furchenwendig (s. o.). Gemeint ist das Hin-und-Her-Gehen des Ochsen auf dem Acker, indem er einen Pflug zieht, am Ende des Ackers wendet und so Furche für Furche der Erde einschreibt. Dass der Ball dann aber den Acker quert, ist der Hinweis auf eine andere textuelle Referenz, nämlich wohl, nach allen Anspielungen auf Rilke in Abend mit Goldrand, eine Neu- und Umschreibung von dessen berühmtem Dinggedicht Der Ball. Der Bezug erschließt sich, wenn man den in Rilkes Gedicht nach oben geworfen Ball und damit die vertikal stehende Flugfigur in die Horizontale der Prosatextur umlegt. Arno Schmidt schreibt Rilkes Ball-Gedicht neu, nämlich als Prosa. Damit entpuppt sich die Déjà-vu-Referenz Ann’Ev’s auf eine frühere Begegnung mit A&O als eine weitere textuelle Selbstreferenz. Ann’Ev’ und A&O sind in diesem Text über alle Zeiten hinweg verbunden, in ihren vergangenen Existenzformen und Wiedergeburten und ebenfalls in ihrer Verabredung, sich in ihrer zukünftigen neuen Gestalt in hundert Jahren erneut zu treffen. Damit wird die Liebesgeschichte zwischen den durch ihren zu großen Altersunterschied nicht zueinander Findenden vom Text in die Tiefenstruktur der Selbstbezüglichkeiten eingeschrieben. So wie der Ball in Rilkes Gedicht in seinem Flug nach der Wendung wieder an seiner eigenen Flugbahn vorbeikommt, passiert er hier die Furchen der Prosa, um in dem einen Liebespaar die Weltgeschichte der Liebe überhaupt zu figurieren. Abgründig wird die Angelegenheit dadurch, dass Ann’Ev’ zu Beginn der Szene in einem Spiegel ihr eigenes Geschlecht anschaut (»Ø« ist bei Schmidt das Zeichen für das weibliche Genital), dessen Gestalt im eigroßen Spiegel zwischen Kopf und Eule oszilliert. In Ann’Ev’s Geschlecht wird die Geschichte der Liebe tatsächlich immer wieder neu geboren (der Kopf des Neugeborenen), aber sie weiß in ihrem unbestimmbaren
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Alter, auf das im Bild der Eule angespielt wird, von dieser Wiederkehr. Es ist schon der Name, der dies andeutet: Eva als Urmutter des Menschengeschlechts, Anna als Mutter Marias und somit als Großmutter von Jesus (Keller 2001, 46 f.). Die zitierte Sequenz zeigt sich also als eine komplexe poetologische Reflexion. Ann’Ev’ steht für das generative Textprinzip, also für die Rekursionslogik der Selbstreferenz, als die sich die Wiederholungsmuster der immergleichen Basisgeschichte der Liebe darstellen. Allegorisiert wird dies in der doppelten Spiegelung des Ortes der Geburt, einerseits im Kopf des Neugeborenen, andererseits in der Eule als der Figur des Alters und der Weisheit. Dass diese thematische Selbstreferenz auch die der Prosa ist, macht der Text in der Umlegung der Rilke’schen Ballfigur auf die Horizontale der Prosatextur deutlich, also in der Umlegung des Versprinzips auf den engen und zudem gequerten Acker der Prosaschrift. Dies alles wird im Text als unmittelbare Realität dargestellt. Semantische Verhältnisse werden zur fiktionalen Wirklichkeit. Abend mit Goldrand hat nicht nur die Weltgeschichte der Liebe zu einem ihrer thematischen Gegenstände, vielmehr stellt der Text auch den Mechanismus dar, durch den ein in Sprache formulierter Einfall zur fiktionalen Realität wird: nämlich durch nichts anderes als dadurch, dass die Sprache es behauptet. In diesem elementaren Sinne ist Dichtung Sprachmagie, aber es ist dieser avancierten Prosa aufgetragen, auch diese Einsicht nicht nur zu haben, sondern sie als das Prinzip ihrer Textgenese zu vollziehen. Eigentlich gilt dies für den ganzen Text. Unmittelbar wird das, was gesagt ist, Realität im Rahmen der fiktionalen Handlung. Die Sprache ist hier direkt erzeugend: ikonische Poiesis. Sofern avancierte Prosa die poetische Grammatik auf die Textbühne stellt, deckt sie auch das sprachmagische Implikat der Erschaffung von (fiktionaler) Realität durch das Wort auf. Es sei für diese Verhältnisse ein zweites Beispiel, eine zweite Lektüre gegeben. Michael Lentz hat in seinem großen Prosawerk Schattenfroh die unmittelbar eine Szene inaugurierende Sprachmagie zum Prinzip der komplexen Abfolge von Aufschreibesystemen gemacht (s. auch oben). Der Text beginnt mit einer Schreibszene, in der ein Ich in einer Zelle vor einer Tischplatte sitzt, während der Kopf von einem Kasten umgeben ist, der mit Geräuschen und Seheindrücken gespeist wird. Diese Impressionen werden uno acto zu einer automatischen Niederschrift auf der Tischplatte, die nach Freuds Wunderblock (Freud 1982, III, 363–369) modelliert ist (Lentz 2018, 27). So wird ein Medienumlauf instituiert, in dem Schreiben und Wahrnehmen identisch sind, sodass folglich alles, was in dem Buch, das der Leser gerade liest, geschrieben wird, dort zu fiktionaler Realität gerinnt. So entsteht aus dieser Grundsituation eine Reihe von sprachmagischen Instituierungen:
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Wenn Sie jetzt das Wort »Ratte« sagen, wird die Eröffnung des Prozesses wiederholt, wenn Sie das Wort »Ratte« nicht sagen, werden Sie sofort hingerichtet. Die Wiederholung eröffnet die Möglichkeit, dass Vater wiederkommt, ich werde, bei Bedarf, einiges stilistisch verbessern können, außerdem wird sie mein Buch noch fülliger erscheinen lassen, also sage ich das Wort »Ratte«. Durch einen krötenbesetzten Torbogen schreitet eine unansehnliche Gestalt, eine Ratte [...] (Lentz 2018, 192)
Augenfällig gibt sich der Text nicht die geringste Mühe einer irgendwie realistischen Herleitung der entstehenden Szenographien. Die These, dass die Welt aus einem göttlichen Sprechakt entstanden sei und dass sie folglich zu lesen wäre, wird in Schattenfroh so unmittelbar wörtlich genommen, dass das Sprechen immer auch schon das Tun ist. Es geht dabei nicht um die magische Schwundstufe des Performativen, sondern um ein Schreiben aus einer göttlichen Position heraus: Der Autor erschafft mit dem magischen Sprechakt die Referenz. »Bitte die Bibel durchblättern, die Schriften der Propheten, denke ich, da erscheint die Bibel, Seite für Seite, die Stelle sucht sich selbst und hat sich schon gefunden: Jesaja [...]« (Lentz 2018, 215). Die Entstehung aus dem Wort, die gemäß der anfänglichen Schreibszene unmittelbar mit der Visualität verbunden ist, geschieht dermaßen direkt, dass eine Intention auf Sprachmagie nicht mehr nötig ist. Michael Lentz’ Schattenfroh agiert mit so selbstverständlichem Realismus auf der Ebene seiner Textontologie, wie Menschen die Welt auf der Stufe der ersten Ontologie als naturwüchsig gegeben annehmen. Gegenüber diesen beiden relativ einfachen Stellen entwirft Schattenfroh vor allem auch rekursive Aufschreibesysteme mit mehreren Instanzen. So erscheint eine Himmelsfrau mit Kind, begleitet von einem Ton, der aus einem Schofarhorn kommt, dieses wiederum gehört einem Engel, aus dessen Mund ein scharfes Schwert hervortritt. Aus diesen allegorischen Instanzen entsteht eine Schriftproduktion: Ich denke sehr ernsthaft darüber nach, dass mir nun diese Frau mit Kind die Feder führt, von einem Engel vermittelt, der ihre und meine Sprache spricht. Und ich schreibe, was sie durch den Engel spricht, mit der Feder in mein bereits geschriebenes Buch, dessen unsichtbare Schrift ich lesend schreibend sichtbar mache. Ich frage den Engel, ob ich nicht auch schreiben solle, was ich sehe, und wem ich das Geschriebene schicken solle. Da antwortet der Engel, ich solle schreiben, was ich höre, denn mir werde eingegeben, was ich sehe, nichts sähe ich, als was ich nicht hörte. (Lentz 2018, 249)
Dieses kleine Aufschreibesystem arbeitet mit einem hermeneutischen Übersetzer oder Dolmetscher (Engel), einer Waffe, deren Stich der Schriftzug ist (Schwert als Stilus), einer ertönenden Engelsmusik (Schofarhorn: Sphäre der Mündlichkeit), einer Quelle der Nachrichten (Sprache der Mutter als generisches Prinzip) und schließlich der Tatsache, dass diese ganze Szene anschaulich vorhanden ist
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(Visualität als ontologische Garantie: Boschs Gemälde zu Johannes auf Patmos). Bei dieser Auseinanderlegung der Komponenten der Schreibszene ist aber vollkommen klar, dass sie als semiotische Tätigkeit uno actu die Wirklichkeit des Gesagten instituiert, das Schreiben also ein Sprechen, ein Sehen, ein Machen ist – subjektunabhängig und zugleich immer nur subjektive Tätigkeit. In Schattenfroh wird eine Enzyklopädie solcher Aufschreibesysteme durchformuliert. Sie haben oft medientechnische Grundstrukturen73, bauen sich aber auch zu großen, vor allem christlich geprägten allegorischen Systemen auf. Uwe Dicks Sauwaldprosa beginnt mit einer Anrufung des Handlungsortes, also des Sauwaldes, der trotz gewisser topographischer Eckdaten nicht wirklich lokalisierbar ist. So wird die Anrufung ein Ins-Leben-Rufen, was schon auf der ersten Seite zu einer humoristischen Reflexion über die Kraft des poetischen Wortes, also des Namens führt: Namen saan Schicksal, sagt der in Eisenbirn, an einen Holzapfelbaum gelehnt. I hoaß Krieger – und hob zwoamoi eirucka miassn. Der Dachdecker, bei dem wo i glernt hob, hot si Schindler gnennt. Da war bloß des L zvui; dees hob i oiwei hergnomma für mei Lechmi. Und mei Oide war a geborene Jung, und is aa jung gstorbm! (Dick 2001, 5)
Namensmagie ruft den Schauplatz hervor, die Dialektvariante ist angesichts des bayerischen Lokals nur stimmig, ebenso die frotzelnde Depotenzierung (»[...] die Wohnung aller Rätsel ist wohl doch der Kopf!«, Dick 2001, 7), auf die dann die deutliche Formulierung folgt, dass der derart ins Leben gerufenen Wirklichkeit ontologisch nicht zur Gänze über den Weg zu trauen ist: »Und hier begann das seltsam traumhafte Spiel der sogenannten Wirklichkeit, das Wandern von Weichbild zu Weichbild, der Sauwaldspuk am helllichten Tage.« (Dick 2001, 7). Die Liste der in Anspruch genommenen Sprachmagien ließe sich fortsetzen: Finnegans Wake ist auch eine Ansammlung von Zaubersprüchen, Arno Schmidts magische Bannflüche beschränken sich keineswegs auf die Textanfänge, in Raabes Odfeld gelingt der Texteinstieg über die Deutung einer magisch-prophetischen Rabenschrift. Wichtiger aber als solche explizit markierte Sprachmagie ist das Schema als solches: dass aus einer sprachlichen Wendung unmittelbar die textuelle Möglichkeit generiert wird. Kafka, Kleist oder Jean Paul erzeugen viele ihrer Textsequenzen aus dem Wörtlichnehmen von Rede-
So wird etwa der Gang durch einen dunklen Tunnel zu einer Begehung des Inneren einer camera obscura: »Die abrupt eintretende Dunkelheit lässt mich Blitze sehen, aufstiebende und zu Boden taumelnde Funken sind Schrift in der Luft, es sind meine Augen, die schreiben, und das Wort, das sie schreiben, geschieht. Der Gang durch den Torgang ist der Gang durch eine Camera obscura.« (Lentz 2018, 320).
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wendungen oder Sprichwörtern. Sprache geht hier rekursiv auf sich selbst zurück, um Wirklichkeit aus ihrer eigenen Semiose heraus entspringen zu lassen, statt Referenz außerhalb ihrer selbst zu suchen, wie es der abendländische Mimesisdiskurs vorschrieb. Indem Prosa das Antidot zur Form und der mit der Form gegebenen Referenz auf Handlungsverläufe ist, muss sie allein auf ihre sprachliche Diskursgrammatik vertrauen und folglich poetische Referentialität (Fiktionalität) aus sich selbst erzeugen. An dieser Stelle sei das Argument für die poetische Referentialität kurz rekapituliert, um die theoriegenerativen Schritte ins Gedächtnis zu rufen: Ausgehend von der Beobachtung, dass Alltagskommunikation ein Abgrund von Missverständnissen und Grotesken ist, dokumentieren Prosatexturen die Einsicht, dass Kommunikation nicht auf der Inhaltsebene, sondern auf der Metaebene kontrafaktischer Selbstinaugurierung der Sprache funktioniert. Aus dieser Unterscheidung resultiert zunächst die Option eines radikalen Realismus als Darstellung grotesker Kommunikation ohne Synchronisierung, dann bei Stifter die Darstellung bloßer Synchronisierung ohne inhaltliche Debatte. Schließlich aber entsteht die Idee eines magischen Realismus dadurch, dass die Instituierung der symbolischen Formen der Synchronisation als ein der Sprachmagie analoger Akt entdeckt wird, der dann entautomatisiert wiederum mit einer Radikalisierung, nunmehr der Sprachmagie, durchgeführt wird. Poetische Referentialität bezieht sich unter den Bedingungen gesteigerter poetischer Selbstreferenz also nicht mehr auf eine geformte Welt, die mit den Formen der Mimesis nachzuahmen wäre, sondern vielmehr auf eine Darstellung dichter Kommunikation (oder des dichten Seelengrundes) oder auf eine Darstellung der generativen Macht der Sprache in dieser Kommunikation – durch welche das gesprochene Wort zugleich wunscherfüllend Realität wird. Lakonisch kommentiert Schmidt seinen Realismus: »Nur die Phantasielosn flüchtn in die Realität; (und zerschellen dann, wie billich, daran.)« (Schmidt BA IV/3, 188) Es kann hier an einen weiteren Gedanken angeknüpft werden, den der Negativität. Behauptet wurde, dass Selbstreferenzen, weil sie rekursiv in und auf sich selbst verfahren, Kontinuitäten außer Kraft setzen, sowie Zerteilungen und Zerschneidungen begünstigen. Auf der Inhaltsebene stellt sich dies als ästhetische Negativität dar. Sprachmagien der avancierten Prosa sind trotzige Schöpfungskonkurrenzen – als Widerspruch zur misslungenen Welt, zugleich aber als Bestätigung der Negativität. Schmidts Bannsprüche oder Lentz’ unmittelbare Inaugurierungen führen in der Regel zu keinem guten Ende. Ihr sprachmagisches Momentum steht quer zur Stabilität metaphysischer Systeme, eher artikuliert sich ein subversiver Eigensinn, der sich der Verallgemeinerung entzieht. Wenn Sprachmagie die Prozessontologie der Selbstreferenz ist (s. o.),
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dann instituiert sie Negativitäten: instabile Szenarien, insulare und unintegrierte Einzelaspekte, schiefe, geradezu idiosynkratische Verhaltensweisen.
8.5 Chronotopoi der Prosa Fragt man nun im Rahmen der Erörterung poetischer Referentialität nach der Art und Weise, wie in Prosatexten Fiktionalität, also der Entwurf fiktionaler Welten organisiert wird, dann ist notwendigerweise über Raum und Zeit als den wesentlichen Konstituenten von Weltkonstruktion zu sprechen. Es soll dies mithilfe des Bachtin’schen Terminus des Chronotopos (Bachtin 1989) angegangen werden, also auf der Basis der Vermutung, dass in der Literatur Raum und Zeit einander durchdringende Dimensionen sind. Bachtin geht davon aus, dass Romanformen bestimmte Raum-Zeit-Modellierungen besitzen, so etwa folgt der Abenteuerroman dem Prinzip des gedehnten Raums und der Plastizität der Zeit, die zu großen Geschwindigkeiten befähigt ist, während der satirische Roman Motivreihen so miteinander kombiniert, dass daraus die Grundstruktur der verkehrten Welt entsteht. Solche Reihen können sein: Essensformen, Todesarten, Nachbarschaften des Wortklanges, Enzyklopädien der Schimpfformen und Schmähsprüche etc. Die Räumlichkeit des satirischen Romans besteht aus einer Reihenbildung, die durch eine oberflächige ad-hoc-Kausalität der zeitlichen Verknüpfungen synthetisiert wird. Der idyllische Chronotopos wiederum friert den Zeitstrahl geradezu ein, macht Zeit flächig und weitet sie zum tendenziell bewegungslosen Idyllenort aus. Gibt es nun eine Bestimmung der Chronotopoi der Prosa? Bachtins Überlegungen zielen auf den Roman, wenngleich er beim humoristisch-satirischen Roman auch Texte und Autoren behandelt, die zum Prosakorpus zu zählen wären, etwa Lukian oder Rabelais. Wie also wären die Raum-Zeit-Ordnungen der Prosa zu denken, d. h. die Chronotopoi von Texten, die plural kodiert sind, die tendenziell keinen realismusverbürgenden sensus litteralis besitzen und die statt Weltbezug zuvörderst aus dem Grundgedanken der Selbstreferenz zu konstruieren sind? Die Antwort auf diese Frage wird beim Grundprinzip der poetischen Selbstreferenz anzusetzen sein. Es haben sich zwei durchaus gegenläufige Textprinzipien etabliert. Das eine geht nach innen und minimiert; es wurde als Zerteilung analysiert. Das andere Textprinzip expandiert nach außen und maximiert, indem es die Diskursgrammatik des Poetischen in Szene setzt, sie instrumentiert und sie letztlich über die poetische Emotivität Fleisch werden lässt; es wurde als ikonische Poiesis interpretiert. Es liegt also ein doppelter Rhythmus vor, eine Zerteilung und eine ikonische Expansion. Prosa hat eine intensive anagrammatische Dimension und eine intensive bildliche Artikulation, die beide zu umfangreichen Szenographien führen.
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Den beiden grundlegenden Textprinzipien poetischer Selbstreferenz folgend, wird es deshalb minimierende und maximierende Chronotopoi geben. In den mimetisch orientierten, fiktionalen Welten des Romans wird die der menschlichen Handlungswelt korrespondierende mittlere Ebene durch vorderhand realistische, also wahrscheinliche Chronotopoi aufgebaut. Die avancierte Prosa tendiert jedoch dahin, entweder sehr kleine Räume mit minimalen Zeitverschiebungen oder sehr große Räume mit maximalen Zeitartikulationen zu entwerfen. Minimierungen von Chronotopoi können sein: Zelle, Leuchtturm, Zimmer, Höhle, Insel, Innenraum des Kopfes. Maximierungen von Chronotopoi sind überraschend oft in unendliche Dimensionen wachsende Häuser wie in Danielewskis House of Leaves oder auch ganze Kontinente, etwa in Fischarts Geschichtklitterung, in der Europa als Handlungsraum zugrunde gelegt wird. Interessanterweise gibt es sogar die Kombination von Minimierung und Maximierung, nämlich bei einem bevorzugten Topos der Prosa, dem Wald. Der Wald ist einerseits tendenziell unendlich groß. Andererseits aber ist er aufgrund seiner Unüberschaubarkeit und infolge des Einsturzes seiner ihn konstituierenden semantischen Unterscheidungen an jedem seiner Orte immer derselbe, sodass Größe und Kleinheit konvergieren. Uwe Dicks Sauwaldprosa und Oswald Eggers Diskrete Stetigkeit spielen im Wald, grundsätzlich aber bildet der Wald fast in allen Prosatexten eine unverzichtbare metaphorische und auch metaphorologische Basis. Ähnliches gilt für die Schlacht und das Schlachtfeld: In jedem einzelnen Ort findet eine irreduzible Besonderheit statt, ein Überblick über das Ganze ist von den einzelnen Standpunkten her nicht möglich, das Ganze als solches entzieht sich, trotz aller Steuerungsversuche, einer vorhersagbaren Ordnung. Das ästhetische Pendant der Schlacht ist das Panorama, es findet sich als ikonisches Paradigma in Arno Schmidts Pharos oder von der Macht der Dichter sowie im zweiten Buch von Zettel’s Traum und auf den letzten 200 Seiten von Michael Lentz’ Schattenfroh. Das große panoramatische Gemälde mit Tendenz zum Wimmelbild taucht ebenfalls in Schmidts Abend mit Goldrand auf. Es handelt sich hier um Boschs Garten der Lüste, ein Gemälde, das wiederum in Schattenfroh und in Bora Ćosićs Die Tutoren seinen Auftritt hat. Der Garten der Lüste kann insofern als der wichtigste ikonische Intertext der Prosa bezeichnet werden.
8.5.1 Die Zeitlichkeit der Form (ausgehend von Aristoteles) Um einen Begriff der Zeitlichkeit von Dichtung zu erlangen, ist erneut ein Rückgang zu Aristoteles und also zum Ausgangspunkt der europäischen Poetik ratsam, um dann in der nun schon eingespielten Gegenbewegung das davon abweichende
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Prinzip der Prosa zu formulieren. Ausgehend von Aristoteles lässt sich nämlich die Zeitlichkeit der Form recht präzis bestimmen. Das Mimesisparadigma der alteuropäischen Poetiktradition hat die poetische Form, anknüpfend an Aristoteles, ihn aber weiter- und umformulierend, in kompakter Weise definiert. Die Nachahmung bezieht sich bei Aristoteles auf handelnde Menschen hinsichtlich ihrer gut ausgebildeten oder vernachlässigten Anlagen,74 später unter dem Einfluss des lateinischen Imitatiobegriffs auf die Nachahmung der Natur (Petersen 2000, 37–52). Die Bestimmung der Gegenständlichkeit der Nachahmung korrespondiert dabei einem Handlungsbegriff, der im Feld der Referenzgegenstände fundiert ist und von daher die Arten und Weisen der Nachahmung steuert. Entsprechend geht Paul Ricœur (2007, bes. I, 87–135) von einer mehrfachen Mimesis aus. Mit ›Mimesis I‹ benennt er die lebensweltlichen Praxisformen, also die Handlungsweisen, die von Akteuren zur Umsetzung ihrer Praxisziele ausgeführt werden; dies ist das Feld der durch die Nachahmung adressierten Referenz. ›Mimesis II‹ ist die Nachahmungsart, mit der der Dichter auf diese Referenz zugreift. Aristoteles hat dafür am Anfang seiner Poetik eine Schematisierung der drei elementaren poetischen Sprechsituationen gegeben, die man als zeichentheoretische Abbildung der drei grundlegenden Praxisformen wird lesen können.75 So führen, nach Paul Ricœur (2007), die lebensweltlichen
Vgl. Aristoteles 2011, 4 = 1448 a1. Diese Stelle wurde oft verkürzend übersetzt: Noch Fuhrmann spricht davon, dass die handelnden Menschen gut oder schlecht wären (Aristoteles 1982, 7). Zum »Modus der Darstellung« (Aristoteles 2011, 5 = 1448 a18) schreibt Aristoteles: »Denn auch in denselben Medien und bei denselben Gegenständen kann die Nachahmung einmal im Modus des Berichts eines Erzählers geschehen – entweder mit einem Wechsel der Erzählperspektive, wie Homer es macht, oder in ein und derselben, nicht wechselnden Perspektive –, oder die nachahmenden (Künstler) lassen alle (Charaktere) als Handelnde und Akteure auftreten.« (Aristoteles 2011, 5 = 1448 a20) Man wird betonen müssen, dass hier noch nicht die traditionelle Gattungstrias, die von späteren Konzeptbildungen her Aristoteles rückwirkend unterstellt wurde, vorliegt: Modi und Gattungen sind zweierlei. Aber Aristoteles unterscheidet grundlegende Sprechsituationen, nämlich erstens den Modus des berichtenden Erzählers, also diejenige Einstellung eines Sprechenden, die zur poetischen Form des Narrativen führen wird, zweitens den Modus, in ein und derselben Perspektive zu sprechen, also diejenige Einstellung einzunehmen, die später als die dem Gedicht unterstellte Redeweise des lyrischen Ichs gedacht werden wird, und drittens den Modus, Akteure mit ihren je eigenen Perspektiven auftreten zu lassen, also eine Einstellungskonstellation zu inszenieren, die auf die poetische Form des Dramas abzielt. – Das Zitat lässt freilich eine andere Lektüre zu, welche der erzählerischen Rede die interne Unterscheidung zudenkt, entweder im Wechsel oder in der Konstanz der Erzählperspektive zu sprechen, sodass das Lyrische hier gar keinen möglichen Ort erhält. In der Poetiktradition wird im Anschluss an Aristoteles (und Platon) gemeinhin nur eine zweifache Gattungsunterscheidung in Drama und Erzählung angenommen, vgl. Genette 1990, 7–31 et passim und Arbogast Schmitt in Aristoteles 2011, 258–268.
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Praxisformen im Bereich Mimesis I, also Handlung, Sprechen und Sichausdrücken, im Bereich Mimesis II zu Narration, Drama und Lyrik. Die grundsätzlichen anthropologischen Handlungsformen im Praxisfeld von Mimesis I werden auf der Ebene der poetischen Mimesis II in Sprechsituationen, also in sprachliches Handeln übersetzt. Mit dieser Bestimmung ist der Begriff der poetischen Form aber noch nicht vollständig erfasst. Paul Ricœur kennt eine dritte Ebene, die ›Mimesis III‹, die er als Rekonfiguration des Rezeptionsakts bestimmt. Bei Aristoteles ruht nämlich die poetische Form nicht in sich – als poetischer Text oder Werk –, sondern sie wird wiederum einem fortlaufenden Prozess überantwortet. Die fragmentarische Poetik führt dies nur für die Tragödie explizit durch, aber man wird daraus ein allgemeines Schema ableiten können. Mit Bezug auf Max Kommerells Aristotelesstudie lässt sich formulieren (Kommerell 1984, 58–60): Die vorliterarische Praxisform konflikthaften Interagierens findet ihren symbolisch konzeptualisierten Erfüllungsgegenstand in der Tragödie (Übertragung von Mimesis I in Mimesis II). Der Tragödientext des Dichters findet seinen Erfüllungsgegenstand in der Theateraufführung (Übertragung von Mimesis II in Mimesis III). Die Theateraufführung hat den Zweck einer Katharsis der Rezipienten, welche ihren Erfüllungsgegenstand darin findet, dass das animal symbolicum zum zoon politikon, also zu einem mündigen Teilnehmer der Polis wird (Bestimmung der rekonfigurierenden Funktion von Mimesis III). Unter aristotelischen Prämissen ist dieser ganze Prozess ›Form‹ zu nennen. Nicht der Dramentext als solcher ist schon die vollständig bestimmte poetische Form, sondern vielmehr ist als Form der gesamte entelechische Prozess zu verstehen, der über die drei Weisen der Mimesis zu dem Ziel führt, durch die beschriebenen komplexen Übersetzungsprozesse den Bürger zum fähigen Mitglied der Polis werden zu lassen. Form ist also der Begriff für einen zeitlichen Prozess, der einer prinzipiell horizontal gerichteten Linie von Übersetzungen folgt. Dieser Prozess besitzt eine klare Teleologie. Sie ist bei Aristoteles noch nicht moralphilosophisch definiert, sondern vielmehr in seiner Ontologie der entelechischen dynamis fundiert, in der es um die Ausbildung von Anlagen und Vermögen geht. Eine moralphilosophische Reformulierung liegt freilich nahe, sie beginnt schon mit Horaz, für den die Dichtung auf belehrende und unterhaltende Weise nützlich sein soll, wobei die Nützlichkeit moralisch qualifiziert wird. Die europäische Poetikgeschichte spielt in diesem Feld viele Varianten durch, bei Gottsched ist etwa die Natur selbst von vernünftiger Art, sodass ihre mit gesundem Verstand erfolgende Nachahmung quasi von selbst zu einer natürlichen Moral führt. Die Zeitlichkeit der poetischen Form resultiert also aus ihrer doppelten Verankerung in einer nicht ästhetischen Sphäre. Form bezieht sich auf eine ihr vorangehende menschliche Praxis und sie mündet ebenfalls in eine solche, nämlich ihr nachfolgende Praxis, die durch den Vermittlungsprozess gesteigert ist. Da-
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durch entsteht eine tiefe Spannung, die in dem Moment historisch manifest wird, in dem sich im achtzehnten Jahrhundert die Autonomieästhetik etabliert. Sofern Form (im Sinne von Aristoteles) der Name für den ganzen dreiteiligen Prozess ist, ist – modern gesprochen – das eigentliche Kunstwerk in doppelter Weise heteronom bedingt. Von den beiden Außenpositionen des dreiteiligen Prozesses her gesehen, ist die Form des poetischen Artefaktes nicht autonom. Von der mittleren Position des dreiteiligen Prozesses her gesehen, muss poetische Form, will sie autonom bleiben, Wege finden, diese beiden Außenpositionen entweder von sich abzustoßen oder sie zu integrieren. Zeittheoretisch ist dabei der Weg vorgezeichnet: Wenn Form im Zuge der Autonomieästhetik die Felder der Mimesis I und der Mimesis III von sich abweist, dann tut sie dies, indem sie deren Zeitlichkeiten in sich aufnimmt. Wenn also Mimesis II – der manifeste poetische Text – zur Gegenwart des autonomen Kunstwerks wird, dann wird sie die Vergangenheit von Mimesis I und die Zukunft von Mimesis III in sich integrieren müssen. Mimesis I liegt vor dem Kunstwerk, ihr Feld bietet die Gegenstände der mimetischen Referenznahmen; Mimesis III liegt nach dem Kunstwerk, ihr Feld bietet die rekonfigurierten Praxisformen zukünftigen, ästhetisch informierten Handelns (z. B. ›Bildung‹ in der Goethezeit). Somit ist die Gegenwart des Kunstwerks die gleichzeitige Reflexion der Vergangenheit und der Zukunft. Im Kunstwerk ist mithin alles immer schon geschehen und zugleich muss alles immer noch erfüllt werden. Das Kunstwerk hat immer schon das vor ihm Liegende dargestellt und zugleich ist es als diese Versammlung der Zeit in sich vollständig daraufhin angelegt, sie erst noch ausdeuten zu müssen. Immer ist alles schon gesagt und alles muss noch gesagt werden. Autonomieästhetisch also (und deshalb benutzte ich hier den Terminus ›Kunstwerk‹) löst sich die Kunst einerseits aus dem handlungstheoretischen und pragmasemiotischen Kontext der von Aristoteles herkommenden Entelechie, sie tut dies aber andererseits dadurch, dass sie diesen Kontext in sich hineinkopiert, ihn also als Funktion der eigenen Autopoiesis darstellt. Deshalb hat das Kunstwerk diejenige Form der Zeitlichkeit, alle Zeiten in sich zu haben – im Modus des Zugleich. In der Rhythmik seiner Selbstauslegung entfaltet das Kunstwerk seine komplexe Zeitlichkeit freilich wieder gemäß einer internen Entelechie. Autonomieästhetisch nämlich wird das Kunstwerk autopoetisch zum lebendigen Prozess, weil es seine intern gewordenen Zeitlichkeiten explizieren muss: im Roman als Bildungsgeschichte, im Gedicht als metaphorische Durchführung, im Drama als Konsequenzlogik des dargestellten Handelns. Man kann sagen, dass die Abwendung von den externen Entelechiepositionen dazu führt, dass im Kunstwerk die Entelechie wiederkehrt und zu dessen immanentem Prozesscharakter wird. In diesem Sinne wird Form zur lebendigen Gestalt, zu dem Versuch, im Kunstwerk als einer permanenten Gegenwart sowohl die eigene Vergangenheit als auch die
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eigene Zukunft strukturell zu implizieren. Die grundlegende Zeitdifferenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist in der autonom gewordenen ästhetischen Form keinesfalls aufgehoben, sie ist vielmehr zum Definiens des Kunstwerks selbst geworden, als permanente Verkreuzung der drei Zeitmodi.
8.5.2 Chronotopoi der Prosa: Parallelwelten, Durchdringungen Die Zeitstruktur der poetischen Selbstreferenz ist von gänzlich anderer Art als die der poetischen Form. Die Poetisierung aller anderen sprachlichen Funktionen ebenso wie die Poetisierung aller sprachlicher Ebenen – der Phoneme, der Worte, der Wortmorphologie, der Syntagmen, der Satzsyntax, des Textes – führt zu der Grundvorstellung einer expandierenden Fläche. Sie ist der eigentliche Chronotopos der Prosa, eine an sich paradoxe Verbindung von Raum (Fläche, ggf. als Gebäude aufgefaltet) und Zeit (dynamische Expansion in alle Richtungen zugleich), welche vor allem dazu dient, Selbstreferenz zu ermöglichen. Derjenige poetische Text, der vor allem die poetische Selbstreferenz vorantreibt, expandiert auf allen Ebenen, pluridimensional in alle Richtungen. Er stellt die sprachlichen Register dar – vor allem aber: Er überführt alle diese Artikulationen rekursiv in Ähnlichkeiten, auch in Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Funktionen und Registern. Dies alles braucht Zeit, aber diese Zeit hat nicht den Charakter einer Gerichtetheit, einer entelechischen Prozesshaftigkeit. Liest man einen Text, der weniger einer Form als vielmehr der poetischen Selbstreferenz folgt, dann findet ein arhythmisches Lesen statt, ein permanentes Realisieren von Ähnlichkeiten und Entsprechungen, ein Zurückblättern, ein jeweils neues Konstruieren. Lesen ist letztlich eine unterbrochene Tätigkeit, ein immer wieder erneutes Ansetzen, in letzter Konsequenz wird das Lesen als Prozess tiefgehend in Frage gestellt. Jedes Finden einer neuen Äquivalenz, jeder neu auftauchende Parallelismus konfiguriert den bisher gelesenen Text neu, folglich legen sich Lektüregeschichten im Plural übereinander, ohne dabei eine Teleologie zu vollziehen. Ich beschreibe hier Leseerfahrungen, wie sie sich etwa bei Gedichten von Paul Celan einstellen. Die Erstlektüre eines solchen Gedichtes führt meist nicht einmal zu einem Literalsinn. Erst langsam wird man gewisse Ähnlichkeiten aufspüren, sodass eine literal-denotative Bedeutung paradoxerweise nur über die konnotativen Bedeutungsebenen erzeugt werden kann. Evidenter noch lässt sich eine solche Textlogik anhand großer Prosatexte ausmachen, man denke an James Joyce oder Arno Schmidt. Die Textmenge dieser großen Texte stellt den Leser vor die Herausforderung, keinen nennenswerten primären Handlungssinn feststellen zu können und vom ersten Satz an immer schon einem kaum
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zu bändigenden mehrfachen Schriftsinn konfrontiert zu sein, der aber nicht in der Basis einer primären literalen Sinnebene zu verankern ist. Solche Texte etablieren nicht selten eine Ontologie der Parallelwelten. Anstelle der prozesshaften Entwicklung innerhalb einer unterstellten fiktionalen Welt, wie es bei durch Form bestimmten Texten der Fall ist, wird hier eine Logik paralleler Zeitmonaden, paralleler Räume und Sinnbezirke etabliert. Das Denken in Äquivalenzen, das historisch gewisse Ähnlichkeiten zum christlichen Figuraldenken unterhält, macht Zeit folglich flächig. Arno Schmidt hat es in Julia, oder die Gemälde klar formuliert: »Die Fläche ist heilig; der Raum ist profan« (Schmidt BA I/3, 118). Interessanterweise ist dieses Zitat als eines zur Zeit dieser Textualität zu lesen, wie aus einer Bemerkung aus der Seelandschaft deutlich wird (vgl. Simon 2016b): Hellsehen, Wahrträumen, second sight, und die falsche Auslegung dieser unbezweifelbaren Fänomene: der Grundirrtum liegt immer darin, daß die Zeit nur als Zahlengerade gesehen wird, auf der nichts als ein Nacheinander statthaben kann. ‹In Wahrheit› wäre sie durch eine Fläche zu veranschaulichen, auf der Alles ‹gleichzeitig› vorhanden ist; denn auch die Zukunft ist längst ‹da› (die Vergangenheit ‹noch›) und in den erwähnten Ausnahmezuständen (die nichtsdestoweniger ‹natürlich› sind!) eben durchaus schon wahrnehmbar. (Schmidt I/1, 394)
In Julia, oder die Gemälde findet sich auch eine Schlüsselallegorie für diese mehrfach geschichteten Zeitflächen. Es gibt dort eine Figur mit dem Namen Tausendeins, die in einer sehr seltsamen Behausung lebt: Das WohnGebäude ein Ding, ungefähr wie’s Geburtshaus der Jungfrau von Orleans – allein die Haltung der AußenWände hat etwas Unheimliches, nichteuklidisches; (ein intressantes Gebäude [...]). [...] weit eher meint der verwirrte Besucher, aus Versehen auf die Rückseite des Gobelins dieser Welt geraten zu sein, obwohl eine gewisse reziproke aladinische Pracht sich nicht verheimlichen läßt: die ZimmerDecken kunstvoll nach innen \ unten gewölbt, und so dreckig, daß selbst Anfänger daraus wahrsagen könnten; die Wände geschmackvoll ungetüncht, aber dicht mit Gemälden bedeckt, sämtlich in SchwarzweißManier gehalten and of monotonous vice. Ein immer (nimmer) gedeckter Tisch – planks upon tressels – mit 18 Bestecken, deren keines dem andern gleich ist: keine Tasse ähnelt auch nur entfernt der anderen, und kein Teller sieht einem solchen gleich . ... . (?): bei Uns wischt Niemand Staub – alles Gerät wirkt wie mit einem feinen Nebelschleier überzogen – alles ist unaufgeräumt, und also nicht ohne Behagen. Zum Halsbrechen unvergleichlich geeignete Stiegen führen zu den obern Stockwerken & Gelassen: kein Engel, der es nicht persönlich probiert hat, glaubt die Zahl der fehlenden Stufen. (BA IV/4, 131)
M.C. Escher hätte derlei vielleicht ansatzweise malen können. Aber nur ansatzweise. Das Gebäude der Tausendeins ist die Allegorie des unendlich in sich hineingefalteten Textes, der permanent rekursiven Ähnlichkeiten, die es in jedem
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einzelnen Moment nötig machen, mit der Textlektüre von Julia, oder die Gemälde wieder von vorne zu beginnen. Es ist ein endloses metaphysisches Schachspiel, an die Unendlichkeitskalküle von Borges erinnernd. Zeit ist hier von der Vorstellung des linearen Zeitstrahls mit den Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denkbar weit entfernt. Sie ist eher eine pulsierende Fläche, ein permanenter Modus der Ausdehnung, mehrdimensional und räumlich nur insofern, als der Raum ein metaphorischer Darstellungsmodus der Zeit ist. Noch das Schema des Raums hängt ja, über den Begriff des Linienziehens, an der Vorstellung der linearen Zeit. Man wird wohl mit Blick auf diesen Textraum die Vorstellung der pulsierenden Zeitfläche komplexer anlegen müssen. Tatsächlich besteht jede realisierte Äquivalenz in einer aufschießenden, vertikalen, mit dem Moment der Plötzlichkeit verbundenen Erfahrung. Das Argument lautet hier, dass die Ebene z. B. der poetischen Phatik (Schreibszene) als Fläche zu denken sei, ebenso die Dimension der poetischen Metasprache (immanente Poetik) etc., sodass viele Flächen entstehen, die sich zueinander wiederum in Korrespondenzverhältnissen befinden. Das führt zu der Vorstellung des nichteuklidischen Textraums, der aus lauter nach innen gerichteter Schrift besteht. Die einzelne Äquivalenz ist vertikal ausgerichtet, aber sie bildet mit den Äquivalenzen ihrer Selbstreferenzklasse ein Gefüge, das als expandierende Fläche bezeichnet werden kann, sodass viele solcher Flächen als pluridimensionales Textgebäude zu beschreiben sind. Eine andere Formulierung für den Sachverhalt findet sich im Begriff der Parallelzeiten. Prosatexte dekonstruieren die Ontologie der Verlaufswelt (erste Ontologie) so grundlegend, dass die Zeit zu einem vertikal stehenden Register von verschiedenen Zeitformen wird: Schmidts mehrdimensionales Haus ist dafür ein Bild. In Lentz’ Schattenfroh ist die Behörde des Vaters ein solches Textgebäude, in dem sich plötzlich in einem bis dahin verborgen gebliebenen Zwischenstockwerk eine große Bibliothek befindet, in der die Bücher das Eigenleben ihrer verschiedenen Zeiten austragen, bis hin zu einer regelrechten Bücherschlacht (Lentz 2018, 440–459). Bei Arno Schmidt verbindet sich mit der Idee der Parallelzeiten der Gedanke einer Ontologie der Flucht. Wenn aufgrund der Negativität des Weltzustandes das Dasein in dieser Welt unerträglich wird, wird die Frage nach einer Fluchtmöglichkeit zu einer existentiellen. Zunächst könnte man davonlaufen, aber da die Welt eine Kugel ist und es also nur eine schlussendlich wiederkehrende Oberfläche gibt, ist hier kein Entrinnen möglich. Auch das Abtauchen in eine Hohlwelt ist nur eine Scheinlösung. Stärker als diese räumlichen Fluchtoptionen sind die zeitlichen. Was wäre, wenn man quasi nur noch scheinhaft in der Welt der ersten Ontologie leben würde, tatsächlich aber in lauter Parallelwelten existierte? Letztlich ist dieser Zustand der des Lesens: Der Körper nimmt noch an seiner biologischen Re-
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produktion teil, aber die Imagination lebt in anderen Welten, folgt anderen Rhythmen und Empfindungen, kennt ihre eigenen Zeitmaße. Arno Schmidts gesamtes Werk dreht sich um die Frage, ob man diese zweite Ontologie genauso stabil und solide machen kann, wie es die erste Ontologie scheinbar ist. Vor dem Hintergrund der Philosophie von Arthur Schopenhauer, in der die Welt der ersten Ontologie als bloßer Schein entlarvt wird, versucht Arno Schmidt, das Lesen und Schreiben und damit letztlich die Sprachmagie zur eigentlichen Ontologie zu befördern. So existiert das lesende Subjekt in lauter parallelen Seinsmodi, in alternativen Welten, in unterschiedlichen Zeichensystemen. Deren Zeiten überlagern sich, durchdringen einander und erzeugen Effekte, die innerhalb der einen normalen Verlaufszeit nicht denkbar wären. Der theologische Begriff für eine solche Durchdringung lautet Perichorese (Stemmer 1983). In Schmidts letztem Text Julia, oder die Gemälde findet sich diese Stelle: KASTELLAN (leicht amüsiert): [...] »Nein. Neinein. ä=Ist Ihnen bekannt, was man unter ›Perichorese‹ versteht?« RAUCH (murmelt): »›Perhaps the deepest and darkest corner of the whole theological abyss‹, wie schon GIBBON ... hängt zusammen mit DreieinigkeitsDebatte.« (Johannes Damascenus; Cudworth.« JHERING (langsam; sich ebenfalls erinnernd): »Ja: wie Vater=Sohn=Hl. Geist Drei & doch gleichzeitig Eines seien – etwa wie bei FREUD Ich=Überich=Ubw auch die Persönlichkeit bilden. – Weit darüberhinaus gehend (auch wichtiger) iss aber der allgemeinere Begriff, der ›Durchdringung‹: wenn etwa zwei sehr verschiedene Welten (sag’n wir von anderen Dimensionen) einander ›berühren‹ bzw an einer Stelle durchdringen – dann könnte diese Berührungsfläche eine Art ›Wechsel‹ (à la ›WildWechsel‹) darstellen, der den Übergang (zumindest die ›EinSicht‹) aus einer Welt in die andere ermöglichte.«; (die simpelste Illustration des Gemeinten liefert der Traum; wo ich auch eine hamburger Straße entlang gehe, und, nahtlos, im 50 Jahre späteren Bargfeld lande.) KASTELLAN (lebhaft): »Ganz recht: so eine Stelle liegt hier, im Fürstentum, vor; wo 2 – genauer 2½ – Welten ineinanderstecken. Die meisten Gehirne sind so gebaut, daß sie nur 1 davon wahrnehmen, (dies zB eines der typischen Kennzeichen des ›Wissenschaftlers‹); aber=ä mit Hilfe gewisser Apparaturen (denken Sie mein’twegen an etwas wie ›PolarisationsBrillen‹) lassen sich auch Phänomene der anderen zeitweilig sichtbar machen. [...] (BA IV/4, 125)
Hier ist das Theorem der Parallelwelten klar formuliert, man wird diese Stelle mit der oben zitierten vom mehrdimensionalen Haus der Tausendeins zusammenlesen müssen. Parallelwelten implizieren Parallelzeiten. Insofern Prosatexte primär der Schriftontologie der Selbstreferenz (Sprachmagie) folgen, wird man diese Parallelzeiten als ontologische Reifizierung des intensiven Lesens, also des faktischen Lebens in Parallelzeiten, verstehen können.
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Wieder ist es Michel Lentz in Schattenfroh, der eine ähnliche Überlegung formuliert: »[...] wir sehen klar in die Tiefe und durch alle Schichten, jede Vergangenheit ist uns gleich gegenwärtig [...]« (Lentz 2018, 19). Uwe Dick findet in der Sauwaldprosa zu einem ähnlichen Gedanken: »Hundert Jahre hin, tausend her! Es ist so reichlich Annodazumal noch nicht zu Ende geworden; auch in mir, einem Kollektiv von Personen verschiedener Jahrhunderte« (Dick 2001, 9 – s. o.). Wenig später bekennt das redende Subjekt: »Das sind die Projektionen, die mein Gehirn, nach dem Prinzip des Assoziativspeichers gebaut, regelmäßig in Bewegung setzt, sobald das Reizwort Niederbayern fällt« (Dick 2001, 19). Was vorher also als imaginierte Realität im Text stand, ist – über eine Synapsenverschaltung von Sprachnachbarschaften im Gehirn entstanden – unmittelbare Sprachmagie: Denken ist Sehen ist Schreiben. Und da der Assoziationsspeicher aus einem Kollektiv von Personen verschiedener Jahrhunderte besteht, ist der Sprachwald dieser Prosa eine Schichtung von Geschichte, was hier im Wesentlichen heißt, dass sich die Textstimmen verschiedener Lektüren und somit verschiedener historischer Semantiken als jeweilige zeitliche Weltentwürfe melden und sich in paralleler Gleichzeitigkeit gegenseitig durchdringen. Diese Durchdringung wird bei einigen Autoren bis ins Wort hineingetrieben, insbesondere bei Joyce und Arno Schmidt. Dort wird durch Techniken der Um- und Falschschreibung in einem Ausgangswort eine Pluralität von Wörtern aktiviert, sodass man nicht einmal mehr auf der Ausgangsebene des Wortes (Substantiv, Verb) einen gesicherten Literalsinn annehmen kann. Autoren der avancierten Prosa greifen oft die nationalsprachliche Integrität des Wortes an: Schmidts Etymsprache ist dafür nur ein Beispiel, Joyce’ vielsprachige Texturen und Kofferwörter, Jean Pauls Doppelwörter, Michael Lentz’ Anagramme, Hans G. Helms Fa:m’ Ahniesgwow und Oswald Eggers Wortpermutationen vervollständigen diese Reihe. Das Wort wird so selbst schon zu einer Fläche von Worten. Der Zeitmodus des Lesens, der dadurch im Wort selbst gewendet wird, folgt erneut einer gegenrhythmischen Faltung in sich selbst hinein. Dies ist vielleicht der Ort, um eine kryptische Bemerkung zum christlichen Figuraldenken zu platzieren: Die Ähnlichkeiten werden erst im Zustand der Erlösung ihre Verankerung gefunden haben. Sie sind in der Zukunft verankert, einer solchen, die im grundsätzlichsten Sinne nicht aus der Gegenwart folgt. Deshalb ist Walter Benjamins dialektisches Bild nur als radikaler Bruch der Jetztzeit zu verstehen. Solange die Welt unerlöst ist, expandieren die Ähnlichkeiten und Äquivalenzen zu Parallelwelten, zu Schöpfungskonkurrenzen gegenüber der ersten Ontologie, und bei Arno Schmidt ganz ernsthaft zu dem Versuch, die zweite Ontologie ontologischer zu machen als die erste (Ende der kryptischen Bemerkung). Es liegen also, um kurz zu resümieren, zwei vollkommen verschiedene Zeitvorstellungen vor. Am Begriff der Form und der ihr zukommenden entelechi-
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schen Prozesshaftigkeit realisiert sich Zeit als Linearität ihrer drei wesentlichen Momente, wobei man diese Zeit durchaus nicht auf die simple chronikalische Zeit herunterbrechen muss. Sie kann auch als jeweilige Eigenzeit gedacht werden, in dem Sinne, in dem Schelling in den Weltaltern den Terminus der Eigenzeit gebraucht (Schelling 1946, 78). Auch McTaggarts A- und B-Reihe wäre hier zu verorten, trotz der wesentlichen Differenz der beiden Reihen.76 Identisch bleibt bei ihnen die Gerichtetheit der fortschreitenden Zeit. Weil Form substantiell an das Moment vor der Form (lebensweltliche Praxisteleologie) und an das Moment nach der Form (Rezeptionsteleologie) gebunden ist, und weil autonom werdende poetische Form diese Doppelbindung in sich hineinkopiert, bleibt Form zeitlich gesehen prozesshaft gerichtet; wäre es anders, dann verlöre sie ihr Gestaltmoment, ihre innere Anschaulichkeit. Die Chronotopoi des Romans gemäß Bachtin sind deshalb als Formen beschreibbar, nämlich als gerichtete Bewegungen durch einen darauf zugeschnittenen Raum. Anders verhält es sich mit dem Chronotopos der Prosa. Die Zeitlichkeit der poetischen Selbstreferenz in der avancierten Prosa ist in der beschriebenen Weise mit jeder Äquivalenz rekursiv, sodass ein enges Gefüge entsteht, eine Verdichtung-in-sich, die, rhetorisch gesprochen, als amplificatio expandiert, aber als solche richtungslos ist. So formuliert es Lentz im Vorbeigehen: »Was heißt ›vorhin‹? Vor und hin. Davor. Das ist Fluch und Segen des Lesens, dass keine Zeit mehr ist.« (Lentz 2018, 622) Wenn Form an Nachahmung gebunden bleibt, so ist für die Poetizität der Selbstbezüglichkeiten der Begriff der Darstellung zentral: Darstellung der Register bzw. Rasterungen der Sprache, Darstellung der Äquivalenzen und Parallelen, intensive Suche nach den Signaturen des falschen Lebens, bezogen auf die Signaturensprache der Erlösung (erneut eine kryptische Bemerkung). Man kann die Zeit der Form als horizontal-syntagmatischen Verlauf, die Zeit der selbstreferentiellen Poetizität als vertikal-paradigmatische Rekursivität bezeichnen. Jakobsons Projektionsformel ließe sich also auch zeittheoretisch reformulieren, als Projektion der aufschießenden Zeitpunkte der Äquivalenzen auf die fließende Prozesszeit der Formen. Formen würden so als Trägermedium für die Plötzlichkeit der Äquivalenzen dienen. In der fortgeschrittenen Prosa tritt freilich dieses Syntagma in den Hintergrund, die Textrekurrenzen bewegen sich weitgehend in einem nichteuklidischen Textraum der multidimensionalen Bezüge.
Nach McTaggart (2007) besteht die A-Reihe der Zeit als modalzeitliche Struktur von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, während die B-Reihe der Zeit als relationale Lagezeit von Vorher und Nachher konzeptualisiert wird. Diese beiden Zeitreihen sind jeweils genuine Konzepte und nicht aufeinander zurückführbar, während sie sich in ihrer Grundanlage widersprechen. McTaggart schlussfolgert daraus das Nichtsein von Zeit.
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Anschließend an diese Überlegungen lässt sich eine spekulative These formulieren: Man kann poetische Texte (fast immer) nach dem Konflikt ebenso wie nach der temporären Konkordanz von formorientierter Prozesszeit und äquivalenzorientierter Expansionszeit analysieren. Anders, mit Blick auf Auerbachs Figura/Mimesis-Konzept, formuliert: Poetische Texte besitzen im Normalfall eine antike Dimension als entelechischen Prozess und eine christliche Dimension als auf Erlösung ausgerichtete Zeiterfahrung der Ähnlichkeiten, deren jede vertikal aufschießt, um insgesamt ein pulsierendes Gefüge der Zeitexpansion zu bilden. Einfache Formen verfügen nur in Ansätzen oder in ihrer Latenz über die Ähnlichkeitszeit, relativ komplexe poetische Texte setzen auf instabile und deshalb dekonstruierbare Konkordanzen beider Zeitkonzepte. An Prosa ausgerichtete Textualitäten zerstören hingegen das Formmoment.
8.5.3 Exemplifikationen der Prosa-Chronotopoi als Konvergenz von Minimalismus und Maximalismus (Wald, Zimmer, Haus, Panorama) Oswald Eggers 2008 publizierter Band Diskrete Stetigkeit beginnt folgendermaßen (Egger 2008, 9):
Abb. 5: Oswald Egger: Diskrete Stetigkeit Poesie und Mathematik. Frankfurt am Main 2008, 9.
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Der Wald ist ein Ort der Prosa. Der Begriff Materie, von lateinisch mater, matrix hängt etymologisch mit dem Holz, dem bevorzugten Baustoff, zusammen. Prosa definiert sich nicht über Form, sondern über Selbstreferenz, sie gibt sich ihre eigene Materie, da sie mangels Weltbezug keine Themen, keinen literarischen Stoff, keine Materie durch Nachahmung übernimmt. Wenn man nun den Wald als einen Ort bezeichnet, dann ist dies schon problematisch. Denn der Wald ist kein Ort, jedenfalls fehlt ihm genau das, was man gemeinhin zur Definition eines Ortes anführt, nämlich die Identifizierbarkeit einer bestimmten Stelle durch das Vorhandensein stabiler Kontexte, welche eine Ortung ermöglichen. Würde man versuchen, eine Phänomenologie des Waldes zu entwerfen, dann würden die folgenden Bestimmungen auftauchen, die allesamt die Unterscheidungen unterlaufen: Einmal im Wald, ist man zwar draußen, aber auch drinnen, im Wald (die Differenz von innen und außen kollabiert). Im Wald befindet sich der Wald als Blätterdach über einem und als Waldboden unter einem (die Differenz von oben und unten wird unscharf). Nah und fern sind im Wald keine objektiven Größen (die Entfernungsschätzung wird ungenau). Weil man im Wald keinen Überblick hat, kann eine kurze Entfernung durch Hindernisse wie Schlucht oder Fluss einen langen Umweg nach sich ziehen, sodass das Nahe ferner sein kann als eine vermeintliche Ferne (die Unterscheidung von nah und fern kollabiert). Im Wald herrscht Zwielicht (die Differenz zwischen hell und dunkel wird unscharf). Der Wald ist nicht anfassbar, er ist kein Begriff und keine Metapher. Er ist sinnlich und unsinnlich zugleich. Der Wald ist der Ort der Verwandlungen, der Maskerade, des Versteckens, Rückzugsort auch der Randexistenzen: Räuber, Eremit, Partisan, Ausgestoßener. Im Wald kann man sich verirren, man kann sich verstecken; der Wald ist Rückzugsort, aber auch unheimlich und grausam. – Diese wenigen Bemerkungen zeigen, dass sich der Wald einer phänomenologischen Beschreibung weitgehend entzieht (s. dazu Harrison 1992). Wenn man im Wald geht, bewegt man sich zwar, aber der Wald bleibt, obwohl er mit jedem Schritt anders aussieht, derselbe, als ob er mit dem Gehen mitginge. Insofern ist paradoxerweise das jeweilige Im-Wald-Sein ein Zustand der Minimalisierung, während der Wald selbst sehr groß sein kann. Er ist aber überall immer genauso klein wie der Überblick dessen, der in ihm ist, gerade reicht. Kleine Extension und große Extension fallen zusammen. Somit ist der Wald ein Wahrnehmungsformat, das immer wieder auf Selbstbezüglichkeit hinausläuft und somit keine Materie ist, aber permanent sich selbst erzeugt, als Materie der Selbstreferenzen. Oswald Eggers Text beginnt mit dem Anklang an die berühmte DanteStelle, den Eintritt in die Höllenkreise. Schon der erste Satz verbindet mit dem Im-Wald-Sein die Weglosigkeit. Die Stämme der aufragenden Bäume ähneln einander, ohne entscheidende Unterschiede auszubilden; insofern ist alles iden-
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tisch und unterschieden zugleich. Die Diffusion der Unterscheidung selbst geht weiter, sogar Unterscheidungen zwischen Felsen und Tannen, Grünfläche und Bodenfläche kollabieren, sodass sich die Frage nach dem Ich sofort stellt und radikalisiert: Zuerst als Frage nach der Lokalisierung des Ichs, dann als Frage, ob das Ich überhaupt gewesen ist, dann als Frage, welche das Ich als solches infrage stellt. Die Unterscheidung zwischen der Subjekt- und der Objektseite des Agierens wird ebenfalls sofort aufgeworfen, indem der Wald, so Egger, selbst mitrückte und das Sehfeld vor sich her, hinausschob. Ein Zustand des Taumelns resultiert aus diesen verschwindenden Unterscheidungen, er ergreift offenkundig auch die Sprache selbst, die mit Worten wie Zasern, Winden-Kork, umbern, Heistern, Limpf-lichten einen Vokabelbestand aufruft, der zumindest eine Recherche aufnötigt und jedenfalls kein direktes Entziffern ermöglicht. Der Text selbst wird waldig, er verstrickt sich in seiner Lautsubstanz wie ein Durch-den-Wald-Taumeln sich in den Unterscheidungen, die keine mehr sind, verstrickt, Füße in Schlingpflanzen, der Kopf in störenden Ästen. Die Phänomenologie des Waldes wird sprachlich zu einer Prosaerfahrung. Uwe Dicks Sauwaldprosa platziert die Praxis der Prosa ebenso wie ihren Begriff im Wald und Michael Lentz kennt den Wald als Modell einer Ästhetik der Abwesenheit und des permanenten Entzugs: »Der Wald verbarg sich in sich selbst« (Lentz 2018, 190) und »Denn nun wandere der Wald« (Dick 2001, 26). Arno Schmidts Abend mit Goldrand beginnt mit einem Spaziergang durch den Wald, wie überhaupt bei Schmidt der Wald eine zentrale metaphorologische Basis des literarischen Systems ist. Wilhelm Raabe ist ein literarischer Waldgänger, teilweise auch Fischart. Wenn man die Diffusion der Unterscheidungen als eine allegorische Darstellung der Zeichentheorie verstehen würde, dann zeigt sich der Wald als das Instabilwerden des Zeichenverkehrs überhaupt. Die Dinge sind nicht mehr richtig zu bezeichnen, lauter unterschiedene, aber nicht zu unterscheidende Baumstämme stehen um einen herum wie fremde Buchstaben eines unleserlichen Textes. Anstatt von oben drauf zu schauen und die Syntax sowie das Vokabular zu kennen, ist derjenige, der sich im Wald befindet, in einer Situation der Unlesbarkeit gefangen. Insofern kann man sagen, dass der Wald auch die Allegorie der misslingenden Kommunikation, der instabil bleibenden Semiose ist. Immer adressierbar, ohne adressiert worden zu sein, immer erkennbar, ohne konzeptualisiert werden zu können, immer greifbar, ohne dass man davon einen Begriff haben könnte: Der Wald ist Inbegriff einer Verstrickung, einer Wiederkehr des allzu Ähnlichen, die alle Unterscheidungen verwischt. Vielleicht ist der Wald der ausgezeichnete Ort (Chronotopos) bzw. Nicht-Ort der Prosa (weder Ort noch nicht Ort), ausgezeichnet auch dadurch, dass ein jeweiliges Momentum im Wald einen minimalen Ort beschreibt, während der
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Wald auch eine maximale Extension haben kann, sodass hier Minimalismus und Maximalismus zusammenfallen. Für die Prosa sei zunächst der Minimalismus betont. Die minimalste Extension eines Handlungsraums ist wohl das Zimmer, vielleicht eine kleine Zelle, in extremis sogar eine grabähnliche Enge. Schattenfroh spielt, so eine mögliche Lektüre, in der objektiv recht kleinen Zeitsequenz, in der das wahrnehmende Subjekt während einer Computertomographie in der weißen Röhre liegt. Das ist zweifelsohne ein klaustrophobischer Zustand, in unserer Kultur vielleicht die am meisten geteilte Erfahrung einer Raumangst. Alles, was in Schattenfroh gelesen werden kann, ist die Projektion einer Gehirnwasserschrift auf umgebende weiße Wände. Auch der Anlass der Computertomographie wird genannt, es ist eine Krebsuntersuchung (Lentz 2018, 229–231), sodass sich das Subjekt mit der Angst einer möglicherweise tödlichen Erkrankung in diese Röhre begibt, in der schon das Einatmen zum Kontakt mit den Wänden führt. Wie gesagt: dies kann die kleinste Zelle sein, eine grabähnliche Einsperrung des Körpers. In Samuel Becketts Prosaroman Malone stirbt kommt der Held nie aus seinem Zimmer heraus, er liegt, kann nur noch Kopf und Arm bewegen, das ganze Prosaelaborat existiert innerhalb dieses relativ kleinen Raums, ähnlich ist es in Endgame. Tatsächlich braucht man für die Prosa keine äußere Handlung, das Begehen der inneren Textbühne des Kopfinnentheaters würde vollkommen ausreichen. Vielleicht hat sogar schon Jean Paul dieses Experiment vollzogen. Es wäre jedenfalls die These zu verhandeln, dass die Idylle vom Schulmeisterlein Wutz keine literarische Biographie ist, sondern vielmehr die Erfindung des in seinem Bett liegenden und seinen Tod erwartenden Schulmeisterleins, das vielleicht überhaupt nie aus diesem Bett herausgekommen ist. Dieser minimale Raum kann aber die ganze Welt beinhalten, sofern sie sich im Kopf dessen, der redet, befindet. Das Wort Kopfinnentheater, das in die Nähe des Terminus vom Auf-die-Textbühne-Stellen zu rücken ist, impliziert in vollständiger Konsequenz das Grundprinzip der Selbstbezüglichkeit. Alles, was im Text phänomenal auftaucht, ist eine Zeichengeburt des fortlaufenden Sprechaktes. Samuel Beckett setzt dabei auf eine asketische Prosa der minimalsten Bewegungen, während Michael Lentz in Schattenfroh die klaustrophobische Situation mit dem Gedächtnis und seinen verschiedenen Latenzschichten koppelt, um auf diese Weise letztlich die ganze Kultur aus dem initialen Moment der Selbstreferenz heraus zu entwickeln.77 Es handelt sich in Schattenfroh um den geradezu technischen Anschluss des stillgestellten Subjekts an eine Schreibtischplatte, die sich als Freud’scher Wunderblock entpuppt. So wird dem Subjekt die latente Memoria der Kultur, die in diesem Wunderblock gespeichert ist, eingelesen (Lentz 2018, 27–34).
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Eine andere Möglichkeit, die Situation im Zimmer oder im Haus zu expandieren, hat Mark Z. Danielewski im Jahr 2000 mit seinem überraschenden Buch House of Leaves vorgestellt. Das Konstruktionsprinzip besteht hier darin, in einem Haus ein Zimmer zu installieren, dessen Extension sich zunächst nur um ein Weniges verändert, um anzuwachsen, bis es schließlich so groß ist, dass es nicht mehr in das Haus hineinpassen kann. Es zeigt sich dann eine Tür, dahinter eine Treppe und dieser Treppe folgend eine Vielzahl weiterer räumlicher Extensionen, die schließlich eine räumliche Unendlichkeit kreieren. Die Begehung dieser Raumparadoxie führt zu einer dichten Prosatextur, in der sämtliche textuellen Expansionsmodi durchgespielt werden, sodass das Prinzip der fortlaufenden Textverfertigung in diesem Fortgebäude allegorisiert wird. Man sieht hier schon, dass interessanterweise der kleine Schauplatz – ein Haus oder darin auch nur ein Zimmer – durch eine forcierte Textexpansion zu einer räumlichen Unendlichkeit wird. Schon bei der Wohnstatt von Tausendeins aus Arno Schmidts Julia, oder die Gemälde war von einem Wohnhaus der Rede, welches aber aufgrund seiner nichteuklidischen Bauweise letztlich zu einem kosmologischen Gebilde wurde, dessen Treppenstufen nicht einmal die Engel zählen können (s. o.). Der kleine Ort wird durch Reduplizierung oder durch rekursive Selbstanwendung, also durch einen Mechanismus von Selbstreferenz, zum größten Ort – zu einem Chronotopos, der als paradoxe Kippfigur angelegt ist. Ein Meister dieser Vervielfältigung ist auch der argentinische Autor Jorge Luis Borges, dem es in seinem kurzen Text Die Bibliothek von Babel gelungen ist, aus der Idee eines Buches und seiner zeitlich nicht begrenzten Permutation um jeweils nur einen Buchstaben die Idee einer Bibliothek entstehen zu lassen, die so groß ist, dass man einen gestorbenen Bibliothekar einfach über das Geländer in das Treppenhaus wirft, weil er sich während seines andauernden Falls komplett auflöst. Borges braucht für sein Kalkül nur die Buchstaben des Alphabets und ein paar Interpunktionszeichen, um die Behauptung aufzustellen, dass sich in dieser Bibliothek jedes mögliche Buch befindet, sowie von einem jeden dieser Bücher eines mit einem Druckfehler, eines mit einem anderen Druckfehler, permutiert zu solchen mit ganz vielen Druckfehlern sowie jede mögliche Fortsetzung zu jedem dieser möglichen Bücher sowie sämtliche möglichen Widerlegungen all dieser Bücher sowie vor allem lauter Bücher, in denen nur eine zufällige und unsinnige Abfolge von Buchstaben steht, sodass es noch keinem Bibliothekar gelungen ist, ein sinnvolles Buch gefunden zu haben – obwohl alle Bücher der Weltliteratur vorhanden sein müssen. Diese Bibliothek ist das Universum, es resultiert aus nichts anderem als aus der Weiterkombination von wenigen Zeichen innerhalb des begrenzten Raumes von zwei Buchdeckeln. Der kleine Raum eines Buches enthält kombinatorisch alle möglichen Bücher als Abbild der Unendlichkeit des Universums.
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Interessanterweise scheinen also die minimale und die maximale Extension zu konvergieren. Und es scheint so, als hätten die Prosatexte ein Faible gerade für diesen Konnex von minimalistischen und maximalistischen Chronotopoi. Wenn in Finnegans Wake, dessen fiktionaler Handlungsraum ebenfalls recht klein ist, um die 70 verschiedene Sprachen zu finden sind, dann entsteht schon allein deshalb eine nicht mehr kontrollierbare Unendlichkeit der Übersetzungsvorgänge einer Sprache in die andere, sodass aus dem kleinen Topos die Welt der Sprachen entsteht. Und wenn gemäß Arno Schmidt die eigentliche Energie der Sprache eine libidinöse ist, die die Grenzen der nationalsprachlichen Idiome unterwandert, dann gibt es letztlich keine Stoppregel dafür, den sexuellen Inhalt eines deutschen Wortes dadurch zu explizieren, dass es phonetisch etwa zu einem englischen oder französischen Wort weitergespielt wird, sodass deren sexuelle Bedeutung dann dem deutschen Ausgangswort untergeschoben wird. Systematisch durchgeführt, ergibt sich eine durchlaufende zweite Motivierung der kompletten Sprache – man müsste vielmehr sagen: der gesamten Sprachfamilie – als durchgängig sexualisierte Sprachlichkeit. Was bei Schmidt im Einzelbeispiel eher unfreiwillig komisch wirkt, wird nach etlichen 1000 Seiten beängstigend konsequent. In der frühen Schlüsselerzählung Pharos, oder von der Macht der Dichter entwirft Arno Schmidt die Situation, dass auf einer kleinen Insel zwei Männer um die Vorherrschaft eines Leuchtturms kämpfen. Beschrieben wird die oberste Ebene des Leuchtturms: 3. April. Ich hatte immer gedacht, um die Rotunde ziehe sich oben ein breites Stück Mauerwerk oder Eisenblech; aber als ich heut früh an einer Schnur zog, schoben sich Vorhänge zurück und gaben den ganzen oberen Teil des Kranzes frei. Ich sprang auf und schrie empor; denn mich umgaben die wundersamsten Glasmalereien. Dort, wo eben die Sonne aufging, lag ein weites lachendes Tal, von einem (gewiß) leise brausenden Fluß durchströmt mit waldigen Ufern, und einzelnen Felsen, die in der Sonne erröteten, rosig und nackt. Dann ein mittäglich stilles Kornfeld, ein Weg dran vorbei. Ein abendlicher See, über den leichte Nebel wehen; ein Junge am Ufer, mit einem Schiffchen in der Hand, der stumm in die schwebenden Nähen sieht. Auch eine bläulich und silbern erglimmende Nacht; weite Waldoberflächen im Mond, und eine helle leere Stadt hoch im Hochland.: und Alles geht ineinander über, ohne Rahmen, ohne Begränzung. / Ich habe ein Fernglas aufs äußerste gestellt, und seh’ sie mir genauer an: Ritterburgen auf steilen Felsen, spielende Kinder, schreibende Gelehrte; ein Mädchen. – Lang über diese Bilder nachgedacht. Sie widersprechen unserem Begriff von ›Rahmung‹; (selbst unsere ›Modernsten‹ haben ja noch diese viermalgeknickte Midgardschlange). Man könnte (müßte?) ganz andere ›Außenränder für Bilder‹ erfinden; verlaufend in schattige Waldgründe, so daß das ›Hauptbild‹ nur den hellen Brennpunkt darstellte. (Wie ’ne Landkarte: wo ja auch die interessantesten Stellen die Ränder durchbrechen!). / Der Turm müßte ›Die Ganze Welt‹ heißen! [...] (Schmidt BA IV/3, 261 f.)
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Die Konstruktion erinnert an das Panorama, also an jene Bildtechnik des neunzehnten Jahrhunderts, bei der ein Rundbau innen mit einem umlaufenden Gemälde versehen wird, welches auf einer zu ersteigenden Plattform, einem Turm im Turm, betrachtet werden kann. Der Betrachter steht dabei nicht einem Tafelbild gegenüber, sondern wird von einem großformatigen Gemälde umgeben, sodass sich schon allein von der Größendimension her seine Souveränität auflöst (Koschorke 1990b, 138–172). Zudem hat er immer den größten Teil des Bildes in seinem Rücken. Hier bei Arno Schmidt ist die Rotunde des Leuchtturms offenkundig mit einer komplexen Maltechnik versehen worden. Der Text berichtet im Folgenden davon, dass sich unter verschiedenen Einfallswinkeln des Lichtes verschiedene Motive und gemalte Landschaften sehen lassen. Der Leuchtturmwärter blickt also keinesfalls auf die Unendlichkeit des umgebenden Wassers, er sieht es nicht einmal mehr. Das einfallende Licht sorgt vielmehr dafür, dass Bilder nach innen, in den Leuchtturm hineinprojiziert werden. Dieses paradoxe Panorama ist eine treffliche Allegorie für die innere Unendlichkeit selbstbezüglicher Literatur- und Bildproduktion.78 Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass in Michael Lentz’ Schattenfroh fast 200 Seiten dem großen Bauernkriegspanorama von Werner Tübke gewidmet sind.79 Auch hier wird ein beengter Innenraum durch inverse Projektion zu einer Darstellung extensiven Weltgeschehens. Man wird vielleicht die Wimmelbilder von Hieronymus Bosch hinsichtlich der Bildästhetik mit den Panoramen locker verbinden können, jedenfalls ist der Garten der Lüste das zentrale Bild der Prosatexte, es strukturiert Abend mit Goldrand, teilweise Schattenfroh, ebenso auch Die Tutoren von Bora Ćosić (s. o.). Es sollte deutlich geworden sein, um was es bei den Chronotopoi der Prosa geht. Engste und kleinste Räume expandieren zu größten, weltenzyklopädischen Raum-Zeit-Tableaus. Warum das so ist, ist evident: Es ist die rekursive Funktion der Selbstreferenz, die durch permanente Verdopplung, durch wiederholtes Einkopieren und durch fortlaufende Permutation – also durch ein zeitliches Verfahren – dafür sorgt, dass eine Grundzelle zu einer letztlich die ganze Welt erfassenden Kette weiterer Zellen wird, eine textuelle Zellenfortpflanzung. Eigentlich verfügen alle Prosatexte über solche Chronotopoi. In Wilhelm Raabes Odfeld besteht die Handlung darin, dass eine Gruppe von Flüchtenden versucht, den zufällig sich ergebenden Bewegungen einer Schlacht auszuweichen. Diese Fluchtmanöver führen dazu, dass die Gruppe am Ende wieder an dem Ort
In Zettel’s Traum findet sich ab BA IV/1, 152 eine ausführliche Analyse des Textprinzips Panorama. Das Panorama befindet sich in Bad Frankenhausen. Über die sehr aufwändig gestaltete Webseite lässt sich ein virtueller Spaziergang in diesem Panorama simulieren (Zugriff am 27.9.2021): https://www.panorama-museum.de/de/.
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ankommt, an dem die Flucht begonnen hat. Der Ort aber, ein Kloster, ist zerstört, mit der Ausnahme eines einzigen Zimmers, in dem ein apokalyptischer Rabe die Bibliothek des Mönchs zerfleddert hat. Wilhelm Raabe dichtet seinen Raben als Apokalypse der Zeichen (Koschorke 1990a). Auch hier ist die Textbewegung selbstreferentiell, ein Flüchten und Ankommen in einer Kreisbewegung als Verschiebung zur Nichtidentität. Wenn die Prosatexte schließlich im zwanzigsten Jahrhundert in der Stadt ankommen, hat sich an den Bewegungschoreographien wenig geändert, sei es in Joyce’ Ulysses oder in Steins The Making of Americans. Die Zeichenlogiken dieser Chronotopoi können also sehr genau angegeben werden: Es geht um einen zeitlichen Prozess fortlaufender Selbstreferenz bei fortlaufender Produktion von Nichtidentität durch permanente Verschiebung. So allgemein formuliert, lassen sich die Raum-Zeit-Logiken ganz genau auf die Behauptung abbilden, dass Prosatexte misslingende Kommunikation darstellen. Sie finden ihre Szene in diesen Chronotopoi, in denen der kleinste Ort und die größte Weltextension paradox zusammenfallen. Eine ausführlichere Erörterung hätte weitere Chronotopoi der Prosa zu beschreiben: Hohlwelten, Höhlen und Krypten, Labyrinthe, das Verlorensein in der Schrift, Fortgebäude als dynamische Architekturen, sich in sich verschachtelnde Unendlichkeiten nach innen, allerlei Bibliotheken, Archive und Bildrepositorien, vor allem aber die Prozesslogik der Schrift selbst, die alle diese Abbildungen kleinster auf größte Räume infolge ihrer skripturalen Selbstreferenz vollzieht. Parallele Welten und rhythmische Expansionen in allen Dimensionen gleichzeitig sorgen dafür, dass die flächige Zeit der Prosa und die selbstreferentiell verschachtelte Raumlogik einen engen Konnex eingehen und zu einer Spezifik der prosatypischen Chronotopoi führen. Angesichts solcher Raum-Zeit-Konstellationen wird es auch ein weiteres Mal evident, dass deren Instituierung letztlich nur über den Zaubertrick einer sprachmagischen Selbsteinsetzung stattfinden kann.
8.5.4 Die ganze Zeit (Oswald Egger) Die vorangehenden Ausführungen haben den Chronotopos der Prosa stärker vom Begriff des Raumes als von einem Zeitkonzept her entwickelt. Dies mag seinen Grund darin haben, dass seit jeher die Metaphorik des Raumes als modellbildendes System für die Theorie der Zeit benutzt worden ist.80 Hans Blumenberg mutmaßt in seiner Theorie der Unbegrifflichkeit: »Aber wenn Kant die Zeitbestimmung in der ›Widerlegung des Idealismus‹ der zweiten Auflage der ›Kritik der reinen Vernunft‹ argumentativ einsetzt, wird unverkennbar, daß auch bei ihm die Metaphorik des Raumes der Zeitanschauung zu Grunde liegt und aus ihr nicht zu eliminieren ist. Es mag sein,
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Innerhalb des engeren Korpus der Prosatexte liegt mit Oswald Eggers Hauptwerk Die ganze Zeit (2010) ein Text vor, der den Versuch unternimmt, ausgehend vom Begriff der Zeit eine Prosatextualität engster Selbstreferenzen zu entwickeln (s. dazu Simon 2021). Egger nimmt zunächst einen klassischen Weg. Das Grundparadox der abendländischen Philosophie der Zeit besteht in dem Nachweis, dass Zeit nicht ist oder zumindest nicht denkbar sei: Als Vergangenheit ist sie nicht mehr da, als Zukunft ist sie noch nicht vorhanden, als Gegenwart entzieht sie sich dem Zugriff – also kann ihr, wenn sie in allen drei Zeitmodi nicht ist, insgesamt kein Sein zugesprochen werden. DIE ZEIT OHNE ZEIT war (schon) ein Loch im Loch durch noch (und noch) ein Loch: denn als Vergangenes ist sie nicht mehr, als Zukünftiges noch nicht, und als Gegenwärtiges zerfällt sie, sofern ich sie in Abschnitte abschnitt, wiederum in gestückelten Fitzchen des Jetzt. (Egger 2010, 441)
Augustinus hat in der Zeitphilosophie seiner Confessiones81 auf dieses Problem mit einer subjekttheoretischen Wende reagiert. Im Subjekt sind die Modi der vergangenheitsbezogenen Erinnerung und der zukunftsbezogenen Erwartung in der gegenwartsextensiven Dauer vorhanden, also existiert Zeit hinsichtlich dieser Schematisierung. Egger formuliert dies so: VON DAUER SEIN. Existierte, eine Zeitlang, allein die Gegenwart? Und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bildeten nicht drei Zeitmaße; und nur die Gegenwart erfüllt die Zeit, wohingegen Vergangenheit und Zukunft zwei mit der Zeit auf die Aufmerksamkeit bezogene Ausmaße annehmen. In bezug auf ihre Ausdehnung oder Dauer waren Kommendes oder Geschehenes Teil eines umfassenderen Vorkommnisses: einer größeren Gegenwart von Dauer. (Egger 2010, 399)
Die unmittelbare Schlussfolgerung für eine literarische Phänomenologie der Zeitwahrnehmung bestünde also darin, eine jeweilige Dauer zu beschreiben. Die ganze Zeit besteht in ihrem Umfang von über 700 Seiten darin, eine Ansammlung von solchen textuell expandierten Dauereinheiten zu sein, als kurze Prosablöcke, als Vierzeiler und zudem in der Form von Zeichnungen, die in unterschiedlichster Art Verknotungen, Zeitschematisierungen oder einfach nur Kritzeleien darstellen. Egger nimmt also Augustins Philosophie der Zeit wortwörtlich. Man kann an dieser Stelle Husserls Zeitphilosophie ergänzend hinzufügen. Seine Begriffe der Protention und der Retention nehmen den Grundgedanken
daß das mit Sachverhalten des Gehirns zusammenhängt, in dem genetisch die Leistungen der Raumvorstellung älter sind als die der Zeitvorstellung.« (Blumenberg 2001, 197). Zur Philosophie der Zeit bei Augustinus liegt eine reich kommentierte Übersetzung des entscheidenden Buchs XI. der Confessiones vor. Kurt Flasch (2004) hat in seiner detaillierten Deutung diesen Komplex umfassend dargestellt.
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von Augustinus auf. In seiner Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins spricht Husserl vom Zeitstrahl als der Längsintention, der sich eine Querintentionalität entgegenstellt (Husserl 2013, 89 = § 39). Weil der Zeitverlauf einerseits die Erfülltheit der je gegenwärtigen Urimpression ist, andererseits aber Nahvergangenheiten und Antizipationen an sich heranzieht, besteht die zeitlich konstituierte Wahrnehmung aus dieser Dopplung von reiner Gegenwart und von zugleich in ihr mitgeführten Zeitsynthesen. Husserl entwickelt dafür das Diagramm der Zeit, nach dem ein Gegenwartsmoment aus der Urimpression und der Synthese mit den davor stattgefundenen Gegenwartsmomenten (die ihrerseits aus Urimpression und Synthese resultieren) besteht. So ist der Fortlauf der Zeit eine Art von Fächer – Husserl benutzt das Denkbild des Kometenschweifs (Husserl 2013, 33 = § 11) –, in dem die Zeitlinie die Synthesen der vorangehenden Linienpunkte mitrepräsentiert (Husserl 2013, 30 = § 11):
Abb. 6: Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Hrsg. v. Rudolf Bernet. Hamburg 2013, 30 = § 11.
Husserl bemüht für dieses Schaubild unglücklicherweise die Metaphorik des Herabsinkens. Vertikale Zeitachsen mit ihrem die Verlaufsform sprengenden Charakter sind aber in diesem Modell keineswegs gedacht. Es verbleibt in der horizontalen Dimension, da die mitgeführten früheren Synthesen ihrerseits Anreicherungen des Zeitstrahls sind. Die Querintentionalitäten stehen nicht senkrecht zur horizontalen Linie, sondern verbreitern sie. Das Schaubild wäre also aus der fälschlich vermuteten Vertikale zu befreien und auf die Fläche umzulegen. Die mitgezogenen Synthesen – eigentlich sind es immer Synthesen von Synthesen – liegen auf derselben Ebene wie die Gegenwartsimpression, nur gleichsam in der Fläche quer dazu (deshalb Husserls Querintentionalität). Erst wenn man Bewusstsein und Reflexion einer vertikalen Metaphorologie unterstellen würde, läge die Metaphorik vom Herabsinken nahe. Bleibt man aber bei der Zweidimensionalität, dann denkt Husserl die Zeitfläche, welche durchaus durch
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den Zeitstrahl dominiert ist, aber eben die retentionalen Synthesesynthesen mit sich führt. Das Bild vom Kometenschweif ist insofern angemessener. Indem Husserl aus der Formalisierung des Augustin’schen Grundgedankens das Bild einer Zeitfläche erzeugt, ist die Basis für das Haus der Zeit gelegt. Eggers Die ganze Zeit beginnt nämlich durchaus nicht mit dem referierten Theorem des Augustinus, sondern mit derjenigen Passage aus den Confessiones (X. Buch), in der das Gedächtnis als in sich unendlicher Innenraum vorgestellt wird. Augustinus schreibt hier der antiken Idee von den Gedächtnisarchitekturen eine christliche Wende ein (Yates 1991, 49–51). Die Lehre von der Memoria ist in den Rhetoriken von Cicero, Quintilian und in Ad Herennium formuliert worden (zusammenfassend: Yates 1991, 11–33). Man kann sein Gedächtnis trainieren, indem man einen Gedächtnisinhalt in ein lebendiges und leidenschaftliches Bild übersetzt (imago agens) und dieses Bild in einen imaginären Innenraum stellt. Ein komplexer Gedächtnisinhalt wird über eine Abfolge solcher Bilder repräsentiert. Der sich erinnernde Gedächtniskünstler muss nun nur noch in seiner Imagination diesen Raum abschreiten und anhand der Reihenfolge der Bilder die durch sie aufbewahrten Gedächtnisinhalte aufrufen, um sein Gedächtnis auf diese Weise benutzen zu können. Die imagines agentes sind gewissermaßen Gedächtniskonserven, konzentrierte Gegenwart des Gedächtnisinhaltes durch die Umsetzung in Bildkonstellationen. Der Gang durch das Gedächtnis ist ein Gang durch eine Art von Museum. In diesen Überlegungen ist die Endlichkeit des Raumes eine Grundvoraussetzung: Der Gedächtniskünstler muss sich in einer endlichen Topographie, die seine Memorierfähigkeit nicht übersteigt, jederzeit orientieren können. Augustinus macht aus diesem endlichen Memoriaraum der Rhetoriken einen unendlichen. Es entstehen so »ungeheure Räume von Gedächtnissen« (Egger 2010, o.Pag., [17]), das Gedächtnis ist eine »große Halle«, von der aus sich »unsagbare Gänge« verzweigen (Egger 2010, o.Pag., [11]), der »Thesaurus des Gedächtnisses« stellt sich als »weiter Innenraum, immens als unendlich« dar (Egger 2010, o.Pag., [15]). Die zitierten Stellen stammen aus dem unpaginierten Prolog zu Die ganze Zeit. Er besteht aus einer sehr eigenwilligen Neuübersetzung der entsprechenden Stellen bei Augustinus. Die Memoriaarchitektur der klassischen Rhetoriken wird bei Augustinus zu einem unendlichen Gedächtnisraum, der einerseits Abbild der Unendlichkeit Gottes ist, andererseits aber die Zeitphilosophie auf eine sehr hintergründige Weise umsetzt. Durch diesen Coup einer Umdeutung der Memoria zum Schematismus der Zeitlichkeit entsteht ein paradoxes Kippbild. Jede Zeitdauer hat einerseits einen bestimmten Ort im unendlichen Gebäude der Zeit, andererseits korrespondiert sie mit allen unsagbaren Gängen dieses Gebäudes, sodass Vergangenheit und (göttliche) Zukunft in jedem Zeitmoment anwesend sind. Die Basis für dieses Gebäude, architektonisch ge-
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sprochen die Fundamentplatte, bildet das Husserl’sche Zeitschema. Darauf aufbauend wird aus den imagines agentes der Raum der Zeit entwickelt. Oswald Egger nimmt in Die ganze Zeit diese Überlegung wortwörtlich. Sein Text besteht nur aus einzelnen Bildern jeweiliger Zeitdauer, welche dadurch zu imagines agentes werden. Aber im Gegensatz zur intakten Metaphysik des Augustinus verbinden sich diese Zeitbilder nicht zu einem von Gott wohlbehüteten und gepflegten Organismus der Zeitlichkeit. Egger schreibt radikale Zeitbilder der Endlichkeit, die jeweilige Zeitdauer ist vor allem geprägt durch defekte Abbrüche, die zu grotesken Verkörperungen führen: Das Licht verdickt sich, birst es aus den Falten der Häute selbst, gräulich, wild, zückend, über diese wachsstarr geflixten Gesichter. Doch der Mond sticht unflätig, und der Sand begann zu kochen. (Egger 2010, 63)
Dieses beliebig herausgenommene Zitat einer Zeitdauer oder eines imago agens mag ein Rätselbild formulieren, vor allem aber fällt die Negativität auf. Die Falten von Häuten bersten, der Mond bringt den Sand zum Kochen – es entsteht das Bild einer lebensfeindlichen Destruktion. Die Zeitdauer, die dieser Text – sein Geschriebenwordensein und sein Gelesenwerden – in Anspruch nimmt, mag Erinnerungen und Erwartungen (Vergangenheiten und Zukünfte) implizieren, aber sie sind schwer in eine explizite Formulierung zu überführen. Somit bleibt die Dauer in sich unvollständig, defekt. Oswald Egger häuft derartige imagines agentes der jeweils unvollendeten Zeitdauer zu einem solchen Haufen (sorites; vgl. Egger 2010, o.Pag., [13]) von Kleintexten, dass sich ein paradoxer Effekt einstellt. Sein Buch Die ganze Zeit wird selbst zu einem unendlichen (Text-)Gebäude, zu einer Architektur, deren Gänge sich verzweigen, zu einem paradoxen Ort, in dem mangels topographischer oder semantischer Stabilität eine Orientierung nicht mehr möglich ist. Die ganze Zeit wird zu einem Fortgebäude,82 zur Darstellung der Zeit selbst gerade dadurch, dass die Zeitmomente jeweils defekte und offene Dauern darstellen. Wo Augustinus in der Unendlichkeit seines Gebäudes die Unendlichkeit Gottes affirmiert, ratifiziert Egger die – mit Hegel zu sprechen – schlechte Unendlichkeit eines Haufens von lauter grotesken und entstellten Einzelbildern, die jedoch in dieser Menge einen Text
Der Terminus taucht bei Johann Gottfried Herder auf. In seiner Bückeburger Geschichtsphilosophie gibt es die Formulierung vom Tempel Gottes, der als Fortgebäude durch die Jahrhunderte hinweg besteht (Herder DKV IV, 89). Der Terminus bezieht sich also auf ein sich mit der Zeit fortbauendes, sich veränderndes Gebäude, das nie eine finite Gestalt findet, dabei immer dieses eine Gebäude ist, aber vor allem eine zeitliche Seinsform besitzt.
8.5 Chronotopoi der Prosa
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bauen, der faktisch genau die Unendlichkeit ist, von der Augustinus gesprochen hat. Denn jedes dieser imagines agentes ist eine Kundgabe der jeweils zeitlich gebundenen Selbstreferenz des sprechenden Subjekts, das sich, indem es sich in seiner jeweiligen Dauer artikuliert, gerade dadurch verfehlt. Die Aktdifferenz der Selbstreflexion lässt kein reflexives Ergreifen des tuenden Inneseins zu, sodass man in Die ganze Zeit vor lauter Selbstreferenz weder ein Selbst noch eine Referenz namhaft machen kann. Im Ergebnis ist dieser Text eine Grenzform radikaler Prosa: permanente Selbstbezüglichkeit, die so radikal wird, dass sie vollkommen ohne Ankerpunkt atomistisch in die Bilder reiner Kundgabe defekter Zeitmonaden zerfällt, jedoch gerade dadurch den unendlichen Raum der Zeit erfahrbar macht. Man kann aus Eggers Die ganze Zeit für den Chronotopos der Prosa einige sehr wesentliche Bestimmungen ableiten. Danielewskis House of Leaves führt seine expandierenden Räume zwar nicht in dem Maße in engste Selbstreferenzen, wie es bei Egger der Fall ist. Aber dass Zeit zu einer Fläche wird, auf der eine Architektur aus Zeit zu bauen ist, verweist auf einen Gedanken, der in der Wohnung der Tausendeins in Arno Schmidts Julia ebenso am Werk ist wie in Danielewskis expandierenden Zimmerfluchten. Während normalerweise literarische Chronotopoi gegenüber der Zeit eine stärkere Raumorientierung aufweisen, kann die avancierte Prosa mit einer Gegenbewegung aufwarten. Wohl infolge des temporalen Schematismus der Selbstbezüglichkeit spielen Zeitparadoxa in den Texten eine zentrale Rolle – man denke etwa auch an die Unmittelbarkeit, mit der Michael Lentz in Schattenfroh historische Zeiten, nicht selten in den Flächen von Tafelgemälden repräsentiert, aufeinander abbildet und ineinander überführt. Ferner ist an Rolf Niederhauser zu erinnern, der seine Prosa direkt aus der titelgebenden Zeitparadoxie entwickelt: Seltsame Schleife (2014). Wenn die ästhetische Zeit nicht mehr formgebunden ist, dann scheint sie die Möglichkeit zu gewinnen, zu anderen Schematisierungen finden zu können als zu derjenigen, die aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder aus dem Vorher und Nachher eine teleologische Konsequenzlogik in aestheticis macht.
8.5.5 Reziproke Radien (Arno Schmidt) Auf das Problem, wie ein endliches, durch seinen Körper (»PeriferieHaut«, BA IV/1, 1313) begrenztes Subjekt die Welt darstellen kann, hat Arno Schmidt eine überraschende Antwort:
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8 Poetische Referentialität: Fiktionalität der Prosatexte?
[...] stellt Euch n gewöhnliches KoordinatnSystem vor; um den Mittlpunkt den ›EinheitsKreis‹ – (? –: weil der Radius ›1‹ sein soll; (der reciproke Wert von x iss ja 1/x, gelt?)) – um ihn herum also, unendlich nach alln Seitn hin, erstreckt sich das WeltAll. Nun ists möglich, die gesamte (unendliche!) Außnwelt, völlig korrekt ›im engstn Kreise‹ unterzubring’n – bzw, (da die Welt ja unstreitig, bis zu ei’m gewissn Grade, Unsere Vorstellung ist): durch Externalisation des KreisInhaltes, die Umwelt bis an den ›Rand‹ mit den Possn Unsrer Innerei’n projektiv zu erfülln. (?) –: ›punktweises konstruieren‹, wird Euch sofort dartun, was Ich meine: wenn ein Punkt 2 cm von der, ihn ›spieglndn‹, PeriferieHaut entfernt ist, liegt er id Inneren Welt nur 1/2 = 0,5 cm vom Mittlpunkt. Ist er 10 cm weit?: nähert er sich dem Zentrum auf 1/10 = 0,1 cm. Dsheißd: je=weiter er hinaus rückt?;: desto mehr=nähert sich sein Abbild dem Mittelpunkt; (›und wäre dieses‹ der Vorgang, den Ihr als ›Wahrnehmung der Außnwelt‹, als Speicherung von deren Eindrückn, bezeichnen könntet; als Verstauung & Verteilung auf die (4) Instanzn des psychischn Apparates. Daß dieser Vorgang jedoch einer glattn Umkehrung fee’ich sei, weiß der dümmsde Töffl aus seinen Träumen!; wozu auch, cum grano salis, das Halluzinieren aller Sortn gehören soll; (ja: bis zur Paranoia hinauf; meinthalbm); also auch die LG’s; also auch die Kunstwerke der Menschn ... ?« (BA IV/1, 1313)
Das Modell der reziproken Radien (BA IV/1, 1313) lässt offenkundig die poetische Referentialität aus der poetischen Emotivität entstehen. Denn es sind die vier psychischen Instanzen, die aus der Aufteilung der Funktion Autorschaft resultieren, welche in dem inneren Kreis topographisch angeordnet und reziprok nach außen projiziert werden. Der Mittelpunkt des Kreises (Null) ist das Unbewusste, seine schlussendliche Unanalysierbarkeit wird mit dem unendlichen Abgrund im Subjekt in Verbindung gebracht (man denke an dieselbe Systemfunktion des fundus animae in der Anthropologie des achtzehnten Jahrhunderts). Reziprok nach außen projiziert wäre näherungsweise die Null das Unendliche; da aber ein Inhalt des Unbewussten immer schon eine Verendlichung ist, wird es sich in der mathematischen Analogie numerisch um eine sehr kleine Zahl handeln, die reziprok außerhalb des Radius eine große Zahl sein muss und also weit entfernt liegt. Arno Schmidts Theorem lautet mithin, dass sich das Unbewusste in den literarischen Texten im Hintergrund, in der Kulisse darstellt, im umgebenden Landschaftsbild etwa: »daS ubw’Sde wimmBuhlt am \ im Horizo’ont \ Hurizo’ont« (BA IV/1, 1312). Die beiden Instanzen Ich und Über-Ich bevölkern hingegen den Mittel- und Vordergrund der Textbühne, wobei das Über-Ich die Funktion eines beaufsichtigenden Regisseurs einnimmt und das Ich die Nebenrollen spielt, die das Über-Ich ihm zugesteht. Die vierte Instanz, der Humor, taucht als Souffleur auf und gibt seine humoristischen Kommentare (vgl. BA IV/1, 1315). Blickt man in die Szenarien der Schmidt’schen Texte vor allem im Umkreis von Zettel’s Traum, dann wird man im Aufbau der jeweiligen Szene sehr präzise Entsprechungen zu dieser Theorie finden können. Schmidt selber hat in seinen Interpretationen zu Karl May und zu Adalbert Stifter das Theorem der reziproken Radien ausführlich zur Anwendung gebracht.
8.5 Chronotopoi der Prosa
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Die Implikationen dieses Modells sind weitreichend. Es handelt sich nicht nur um einen oberflächigen Schematismus, der auf dem idiosynkratischen Tick einer mathematisierten Analogiebildung beruhen würde. Der Ausgangskreis ist vielmehr eine Darstellung der körperlichen Bedingtheit und Endlichkeit des Subjekts, dessen eigene Unverfügbarkeit (Unbewusstes als Null), projiziert in die Welt, als Horizontkulisse auftaucht. Der optische Mechanismus, der sich im Schema der reziproken Radien darstellt, erinnert an die Technik der camera obscura und entfernt an die Physiologie des Auges.83 Indem nun die umgebende Welt und der Innenbereich des Auges sowie des Gehirns über den grundlegenden Projektions- und Abbildungsmechanismus verkoppelt sind, liegt genau die Konstellation vor, die MerleauPonty mit seinem Begriff des chair (s. o.) beschrieben hat: Zwischen dem Subjekt und der Welt herrscht gerade keine Subjekt-Objekt-Trennung, sondern vielmehr das Kontinuum einer sinnlichen Textur. Die gesehene Welt bleibt die je meinige Welt, teils durch den Sehakt konstruiert, teils durch die verursachende Massivität der Dinge bewirkt. Indem der Kreis also die körpergebundene Endlichkeit eines jeweiligen Sehe-Punktes (durchaus im Sinne von Leibniz: point de vue) symbolisiert, sind die reziproken Radien trotz ihres Grundansatzes gerade bei der Mathematik kein abstrakter Formalismus. Sie beantworten vielmehr in geradezu inkarnierter Konkretion die paradoxe Frage, wie menschliche Endlichkeit in der Lage sein kann, eine fiktionale Welt darzustellen, deren Extension weit über diese Endlichkeit hinausreicht. Die dafür in Anspruch genommene Hypothese ist die einer Unendlichkeit im Inneren des Subjekts. Bei Arno Schmidt ist es das Unbewusste, das als Projektionskorrelat für die das endliche Wahrnehmungsvermögen übersteigende Fertigkeit der Welt den Widerhalt bietet. Aus dieser Rekonstruktion wird ein zweites Moment deutlich. Es gibt bei Arno Schmidt – und wohl allgemein in den meisten Texten der avancierten Prosa – durchaus eine fiktionale Welt. Sie wird aber nicht durch Nachahmung generiert, sondern durch Darstellung. Die generative Struktur dieser Darstellung ist die poetische Emotivität, also die sich durch interne Aufspaltung pluralisie-
Vgl. zur Modellbildung der Augenphysiologie nach dem Mechanismus der camera obscura: https://de.wikipedia.org/wiki/Camera_obscura, dort insbes. die Abbildungen. – Jauslin 2008, 222: »Reduziert man dieses Theater auf seinen Grundriß, so gelangt man zur korrekten Abbildung des Wahrnehmungsorgans, das sich seinerseits als Variante des Schmidt’schen Einheitskreises darstellt: mittels eines Systems von Verkürzungen rekonstruiert das Auge in einem geschlossenen Theater die Außenwelt von neuem [...].« – Historisch gesehen, wurde die camera obscura oft als Ebenbild des Auges gedeutet, so u. a. bei Leonardo da Vinci. Tatsächlich wird aber das Abbild auf der Netzhaut nicht durch einen Projektionsmechanismus weiterverarbeitet, sondern digital durch Nervenreize ans Gehirn weitergegeben. Zur Technik der camera obscura vgl. (18.11.2021): https://de.wikipedia.org/wiki/Camera_obscura.
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8 Poetische Referentialität: Fiktionalität der Prosatexte?
rende Funktion Autorschaft. Deren immanente Dynamik baut die literarische Szene als Projektions-Korrelat der Handlungsschemata dieser Aktanten. Arno Schmidts reziproke Radien sind in dieser Hinsicht ein besonders eindrückliches Modell, weil hier in der deutlichsten Weise die Herkunft der fiktionalen Welt aus der Selbstreferenz der Funktion Autorschaft zu sehen ist. Bei einer sehr viel weiter geführten und tieferreichenderen mathematischen Formalisierung würde man beim Werk von Oswald Egger ankommen. Dessen textgenerative Logik folgt in nicht wenigen Texten der Grundstruktur der Riemann’schen Fläche. Tatsächlich ist hierfür eine Aktantialisierung der Textsemantik wie in Schmidts Instanzentheorie nicht mehr in jeder Hinsicht zielführend. Die Riemann’sche Fläche beschreibt eine topographische Abbildungsrelation, in der jeder Punkt einer Fläche mit jedem Punkt derselben Fläche verbunden ist, sodass man sich diese Fläche als in sich gekrümmte und komplex selbstreferentiell rückbezogene vorstellen kann. Der Wald, der oben als Handlungsort der Prosa am Beispiel von Oswald Egger beschrieben wurde, trägt Züge einer solchen Riemann’schen Fläche. In diesem Modell ist die Projektion geradezu unendlich komplex geworden, sie besteht nicht nur aus vier Aktanten wie bei Arno Schmidt, sondern letztlich aus der Relationalität jedes sprachlichen Elements, Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Auch bei Oswald Egger ist diese Projektion trotz ihrer mathematischen Formalisierung eine ganz konkrete Verkörperung. Gerade weil jeder Punkt mit jedem verbunden ist, zerfasert sich die Subjekt-Objekt-Trennung in ein dezentrales Netz von Verbindungen, sodass quasi die sinnliche Textur (chair) als solche zur textuellen Darstellung findet. Prosa als Wendung eines jeden ihrer Elemente erreicht in diesen Szenarien die ultima ratio ihres Prinzips.
8.6 Methodologische Zwischenbemerkung Es sei an dieser Stelle eine knappe methodologische Zwischenbemerkung gestattet. Sie betrifft die Frage der Argumentationsreihenfolge im Anschluss an die letzten Überlegungen zu Arno Schmidts reziproken Radien. Dass die detaillierte Ausführung der poetischen Grammatik mit der emotiven Funktion begonnen wurde und zur poetischen Referentialität fortschritt, ist kein Zufall. Die Grundüberlegung ist: Die poetische Senderfunktion besteht aus der Aufspaltung der Funktion Autorschaft, sodass alle im Text handelnden Figuren letztlich abgespaltene Teile einer unterstellten84 Gesamtpersona sind.
Man wird diese Unterstellung wohl treffen müssen. Textanalytisch ist sie als solche aber nicht in der Hinsicht relevant, dass es um die Rekonstruktion der Schriftstellerpersönlichkeit
8.6 Methodologische Zwischenbemerkung
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Wir treffen also in Prosatexten immer nur auf Ich-Teile des Konstrukts ›Autor‹. Soweit die These zur poetischen Emotivität. Jetzt lautet die These zur poetischen Referentialität: Diese Ich-Teile werden hinsichtlich ihres Miteinanderredens dargestellt, und es zeigt sich, dass sie sich grundsätzlich nicht verstehen und lauter Fehlleistungen produzieren. Die literarische Szene folgt also aus der Aufspaltung der Senderinstanz. Da die Szene der misslingenden und grotesken Interaktionen ihrerseits einen pragmatischen Kontext voraussetzt, entsteht die Notwendigkeit, eine fiktionale Welt zu kreieren. Als deren formale Charakteristik wurde der prosaspezifische Chronotopos analysiert. So entsteht also die poetische Referentialität aus der poetischen Emotivität. Wenn ich im nächsten Kapitel von der poetischen Konativität, also der poesieimmanenten Rezeptionsästhetik sprechen werde, dann werde ich dieses Argument anders perspektiviert noch einmal wiederholen, indem ich behaupte, dass jede schieflaufende Kommunikation zugleich die Schematisierung eines Aktes des Lesens oder des Rezipierens des Textes ist. Prosatexte stellen permanent ihre eigene Hermeneutik, ihren eigenen Vorgang des Sichselbstverstehens dar, allerdings im Modus der Negativität, also als Fehllesen und Missverstehen. Man kann nun sehr genau sehen, dass mit den drei grundlegenden Funktionen des Kommunikationsmodells eine dreifache Perspektivierung eines einzigen Grundgedankens vorliegt. Die dargestellte Welt in den Prosatexten ist eine Welt systematischen Scheiterns von Kommunikation. Sie besteht aus dem in seine Einzelteile zerlegten Ich, welches sich selbst vergeblich zu verstehen versucht und dies alles in der Szene einer expliziten Kommunikation anschaulich macht. Somit liegt eine klare Schematisierung vor. Die poetische Emotivität besteht aus dem zersplitterten Ich, welches seine Einzelteile wiederum zu Akteuren personifiziert (ikonische Poiesis). Die poetische Konativität figuriert das Sich-selbst-Verstehen als scheiterndes. Die poetische Referentialität ist der Name für die ganze dargestellte Szene, der Rahmen für diese Kommunikationsverhältnisse. Es geht also grundsätzlich um Kommunikation oder, allgemeiner gesprochen, um menschliche Semiose, also um das ganze Repertoire der Zeichen-Tätigkeiten. Diese Semiose wird aus drei ginge. Es handelt sich hier nicht um ein biographistisches Modell. Es würde im Übrigen auch keine weiteren Erkenntnisse erbringen, handelt es sich doch bei den Autorbildern avancierter Prosa allzu oft um Lebensentwürfe, die sich weitgehend in das Schreiben übersetzt und aufgelöst haben. Die biographische Rekonstruktion dieses Lebens würde auf das Schreiben zurückführen und also nur eine weitere Selbstreferenz vollziehen, die als solche immer schon in den Texten steht. – Gleichwohl ist die Unterstellung, dass die in den Texten explizit gemachte Genese des literarischen Personals sich aus der Aufspaltung der Autorsubstanz herschreibe und dass diese Autorinstanz (›Funktion Autorschaft‹) konkrete Bezüge zum tatsächlichen Schriftsteller habe, sinnvoll. Sie kann Lektüren leiten und sie kann auf die transformierende Kraft des poetischen Systems bei der Einkopierung realer Ereignisse aufmerksam machen.
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8 Poetische Referentialität: Fiktionalität der Prosatexte?
verschiedenen Perspektiven dargestellt: produktionsästhetisch aus der Perspektive des Senders, rezeptionsästhetisch aus der Perspektive des Empfängers und fiktional aus der Perspektive des Aufbaus der Szene – dreimal derselbe Gedanke, jeweils unter anderen Gesichtspunkten (Tab. 5). Es ist diese Systematik, die für die Reihenfolge der vorgetragenen Argumente ausschlaggebend ist. Tab. 5: Darstellung der Semiose aus produktionsästhetischer, rezeptionsästhetischer und fiktionaler Perspektive. Bühlers drei Sender Grundfunktionen: (Ausdrucksfunktion)
Sachverhalt / Bezug Empfänger auf Referenz (Apellfunktion) (Darstellungsfunktion)
Poetisierung der Poetisierte Emotivität drei Grundfunktionen:
Poetisierte Referentialität
Gedeutet als:
Aufgespaltene Funktion Autorschaft = im Text agieren lauter Ich-Teile
Darstellung der Szene Die Ich-Teile der Kommunikation kommunizieren im bzw. Semiose Modus der Negativität = Missverstehen
Produktionsästhetische Darstellung der Semiose
Darstellung der Szene Rezeptionsästhetische der Semiose Darstellung der Semiose
Poetisierte Konativität
Quintessenz: Eine Gesamtpersona Autor zerlegt sich, animiert und personifiziert diese IchTeile (Fleischwerden als ikonische Poiesis), stellt diesen Selbst-Verkehr als Szene dar (szenische Darstellung als ikonische Poiesis) und deutet den kommunikativen Zeichenprozess mit sich selbst als systematisches Selbstverfehlen (negativistische Hermeneutik). Dieser explizit gemachte Selbst-Verkehr qualifiziert Prosa als radikale Darstellung des autobiographischen Substrats im schon explizierten Sinne.
Die Szene der Kommunikation oder der Semiose, die hier beschrieben wird, ist von vornherein eine, die im inneren Bereich der Prosa stattfindet, auf der inneren Textbühne des unterstellten Autokonstrukts, als Kopfinnentheater einer maximal elaborierten Selbstreferenz. Natürlich wird dabei der Bezug auf Kommunikationserfahrungen der Realwelt nicht ausgeschlossen, aber das Apriori des ganzen Konstrukts ist und bleibt Selbstreferenz.
9 Poetische Konativität: inverse Kommunikationen – Text als Funktion Lesen Wie ist poetische Konativität unter den verschärften Bedingungen von Selbstreferenz zu denken? Natürlich nur als Sich-selbst-Lesen. Die Konstellation ist evident: Wenn die literarische Szene der Prosa das sprachmagische Darstellen der misslingenden Kommunikation unter den Bedingungen in sich paradoxaler Chronotopoi ist (poetische Referentialität) und wenn die literarischen Akteure instanzentheoretische Abspaltungen und Reduplikationen der Funktion Autorschaft sind (poetische Emotivität), dann kann, was textintern im Modus des Lesens (poetische Konativität) vorstellig wird, nur ein interner Lektüreverkehr zwischen diesen literarischen Positionen sein. Die Leitidee lautet für das Folgende: Das Sich-selbstLesen der abgespaltenen und pluralisierten Autorschaftsfiguren findet im Modus des Missverstehens statt. Und verschärft: Jede Kommunikation ist als Akt des Lesens zu rekonstruieren, weil die Figurenkommunikation in der fiktionalen Textwelt durch die sprachmagische Instituierung erzeugt wurde, also letztlich personifizierte Sprech- oder besser Schreibakte sind, die einander lesen. Es geht im Folgenden also nicht primär um den Entwurf der Szene misslingender Kommunikation (also: poetische Referentialität), sondern um die inhaltliche Dimension des Verstehens im Modus asynchroner schriftlicher Akte. In ihrer Literaturtheorie hat Julia Kristeva den interessanten Terminus der écriture-lecture geprägt (Kristeva 1972a, 164, 170–174). Die beiden üblicherweise getrennten Tätigkeiten Schreiben und Lesen werden mit diesem Begriff als in sich verflochtene Einheit verstanden. Man kann den Grundgedanken schon auf der phänomenalen Ebene plausibel machen. Jeder, der einen Text schreibt, liest ihn dabei auch. Tatsächlich wird es sogar so sein, dass gerade bei anspruchsvollen Texten der Anteil des immer wieder aufgenommenen Lesens des schon geschriebenen Textes denjenigen Zeitanteil übersteigt, den der eigentliche Schreibakt in Anspruch nimmt. Niemand liest den Text intensiver und öfter als derjenige, der ihn gerade schreibt. In diesem Sinne ist vielleicht das Wort ›schreiben‹ irreführend, da das Textproduzieren wesentlich aus dem Lesen des vorhandenen Textes besteht. Auf einer grundsätzlicheren Ebene aber geht jeder Textproduktion die ganze individuelle und kollektive Geschichte der Alphabetisierung, der Einführung in die schriftlich geprägte Kultur, der Lektüre des jeweiligen Schrifttums, in dessen Kontext geschrieben wird, und schließlich des Lesens der für die eigene Produktion notwendigen anderen Texte voraus. Kein Mensch fängt jemals damit an, dass er schreibt. Lektüren sind die conditio sine qua non für das Schreiben, ebenso wie im Schreiben das Lesen eine notwendige selbstreferentihttps://doi.org/10.1515/9783110775570-009
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9 Poetische Konativität: inverse Kommunikationen – Text als Funktion Lesen
elle Schleife darstellt. Die dem Text gegenüber der Mündlichkeit in größerem Ausmaß zugesprochene Kohärenz und Stimmigkeit resultieren aus der Praxis, sich auf die schon produzierte Zeichenkette zurückzubeziehen, sie also zu lesen, bevor wiederum geschrieben wird. Das Schreiben ist in jedem einzelnen seiner Vollzüge eigentlich nichts anderes, als ein erweiterter Modus des Lesens. Man kann es wohl auch so formulieren, dass der Schreibende im grundsätzlichsten Sinne überhaupt nie etwas Neues schreiben kann. Er formuliert Teile des bisherigen Schrifttums um. Es geht also um Umgruppierung, um ein rewriting, um die schriftlich niedergelegte Tätigkeit der Lese oder des Einsammelns von Zeichen, die dadurch etwas anders gestellt werden – und nur dies ist der Text, der geschrieben wird. Deshalb ist jeder Text intertextuell, unabhängig davon, ob er seine Bezüge auf andere Texte explizit macht oder nicht. Innerhalb einer Theorie poetischer Selbstbezüglichkeit wird man also mit der Funktion Lesen nicht primär eine sozialhistorische Referenz adressieren (empirische oder historische Leserforschung), sondern eine der Schrift und dem Geschriebenen inhärente Dimension. Letztlich ist jede Kombination von Zeichen ein Akt des Lesens. Schon die Verbindung von Subjekt und Prädikat in der Satzaussage beinhaltet einen Akt des Lesens, insofern die Prädikation bestimmte Aspekte des Satzobjektes versteht, aufnimmt oder als semantisch anschlussfähig in dem Sinne betrachtet, dass Subjekt und Prädikat zu koppeln sind. Der Satz ist diese Kopplung, welche sich als Lektüre des Subjekts durch das Prädikat (und auch umgekehrt, s. u.) verstehen lässt.
9.1 Kommunikation als Missverstehen und die Lesbarkeit der Welt Eine Theorie der poetischen Konativität im Rahmen poetischer Selbstreferenz wird den Begriff des Lesens ebenso ausweiten müssen, wie es mit dem Begriff der poetischen Emotivität der Fall gewesen ist. Dort wurde die Konstellation der literarischen Charaktere in den Prosatexten als Versammlung von Autorstimmen verstanden, jetzt wird die Kommunikation dieser literarischen Charaktere im weitesten Sinne als gegenseitiges Lesen zu interpretieren sein. Dabei sind zwei Prinzipien grundlegend. Niklas Luhmann hat in seinem Aufsatz über die »Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation« die Pointe formuliert, dass Menschen deswegen kommunizieren, weil sie sich nicht verstehen (Luhmann 2001, 77–93, bes. 78–80). Würde man Kommunikation vom Begriff des gelingenden Verstehens aus rekonstruieren wollen, dann könnte man nicht begründen, warum überhaupt so viel und geradezu permanent kommuniziert wird. Wenn Verstehen der Normalfall wäre, dann würde Ego Alter den Kommunika-
9.1 Kommunikation als Missverstehen und die Lesbarkeit der Welt
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tionsinhalt mitteilen, und Alter würde bestätigen, es verstanden zu haben. Damit wäre die Kommunikation beendet. In dieser Weise aber funktioniert das Kommunizieren offenkundig nicht. Es hat weitaus komplexere Eigenschaften, die sich nicht allein in der Übermittlung von Sachverhalten erschöpfen und die bei näherer Betrachtung für das fortlaufende Kommunizieren wichtiger sind: soziale Aspekte, das Aufrechterhalten des Kommunikationskanals, die Artikulation jeweils eigener Befindlichkeiten, die Begierde nach Anerkennung. Wenn aber diese beiherspielenden Aspekte das primäre Kommunikationsziel, also die Mitteilung von etwas, überformen, dann entsteht ein Zielkonflikt. Während sich das Gelingen von Kommunikation in ihrem Abbruch realisieren müsste, tendieren die genannten anderen Kommunikationsfunktionen dahin, Kommunikation aufrechtzuerhalten. Anders gewendet: Das Fortlaufen der Kommunikation steht in einem latenten Widerspruch zum gleichwohl in der Regel zu unterstellenden Willen auf ihr Gelingen. Luhmanns Intuition besteht in dem Gedanken, dass wir deswegen so viel miteinander reden, weil gegenseitiges Verstehen unwahrscheinlich ist. Weit besser als aus ihrem Gelingen lässt sich das Fortlaufen der Kommunikation aus ihrem Misslingen herleiten. Diese Überformung des Sachaspekts der Kommunikation durch verschiedene soziale Aspekte entspricht, gewendet in poetische Selbstreferenz, der Überformung des Bühler’schen dreistelligen Zeichenmodells durch die drei weiteren selbstreferentiellen Funktionen bei Roman Jakobson. In der Diskussion des Funktionenmodells von Jakobson wurde schon darauf hingewiesen, dass für den poetischen Text das Dreieck von Sender, Empfänger und Sachaspekt quasi nur das Sprungbrett für eine weitaus elaboriertere Umformung in Selbstbezüglichkeiten darstellt. So wie in der normalen Kommunikation der reine Sachaspekt nur in Ausnahmefällen dominiert, tritt im poetischen Text die Sachaussage in den Hintergrund, eigentlich wird sie sogar systematisch verhindert. Eine Dichtung, die sich in einer expositorischen Sachaussage zusammenfassen und aussagen ließe, wäre keine. Während also schon in der normalen Kommunikation Verstehen unwahrscheinlich ist, wiederholt sich diese Grundstruktur vielfach potenziert in der Dichtung. Prosa, als diejenige Poesie, die sich als Meta-Literatur aus dem reflexiven Wissen über die Diskursstruktur der poetischen Grammatik heraus generiert, geht folglich den Schritt, diese Basis der Kommunikation, das Missverstehen, in den Vordergrund treten zu lassen. Nicht die Synchronisationsmedien, die sich über das immer schon vorhandene Aneinander-Vorbeireden legen, sondern die genaue Darstellung dieser vielfachen Verfehlungen wird avancierten Prosatexten zu ihrem innersten Anliegen. Wenn dem so ist, dann stellt sich die Frage, warum überhaupt kommuniziert wird. Die ultima ratio, dass angesichts der Konstatierung von Negativität besser gleich geschwiegen werden sollte, begleitet nicht wenige Prosatexte, von denen
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9 Poetische Konativität: inverse Kommunikationen – Text als Funktion Lesen
viele sich als ausformulierte Thanatologie lesen lassen. Arno Schmidts Abend mit Goldrand endet auf der Plotebene der Schöpfungsgeschichte mit dem Zerfall der Welt, dem Instabilwerden des Schöpfungszusammenhangs, Lentz Schattenfroh mit verblassender Schrift, Wollschlägers Herzgewächse mit einem verklingenden Wiegenlied: nach all dem diskursiven Aufwand ein Zerfall ins Nichtsein. Dass die Texte in ihrem Negativismus aber vorhanden sind und nicht vielmehr nichts ist, folgt wiederum aus dem Begriff des Lesens. Die grundlegende Annahme besteht darin, dass menschliche Semiose keiner sie vollständig abweisenden Welt gegenübersteht, sondern einer solchen, aus der Sinn entgegenkommt (Barthes 1990), Lesbarkeit sich anbietet (Blumenberg 1981a), Logizität und Vernünftigkeit zumindest soweit vorhanden sind, dass für die semiotischen Register korrespondierende Korrelate existieren. Auf das Entziffern der Wirklichkeit antwortet etwas, es gibt offenkundig Responsivität, vielleicht sogar ein Antwortregister (Waldenfels 2007). Es lässt sich darüber spekulieren, ob eine vollständige und umfassende Negativität überhaupt denkbar ist. Ihre Artikulation jedenfalls ist eine begründbare Position und damit formaliter das Gegenteil von Negation. Die Darstellung von Missverstehen, Abbruch und aneinander Vorbeireden ist auf der Inhaltsebene negativistisch, auf der Ebene der Kommunikationsstruktur aber durchaus von dem Optimismus getragen, einer Entzifferung zugetragen zu werden, wie es Samuel Beckett in Worstward Ho in präziser Verknappung zum Paradoxen ausspricht: »Say ground. No ground but say ground« (Beckett 1983, 8–9). Damit entsteht eine latent paradoxe Grundbewegung: Inhaltliche Negativität trifft auf die Intensität eines entziffernden Lesens, mithin auf logosfordernde und logosfähige Strukturen. Diese Grundparadoxie ist dem vorliegenden Theorieaufbau zutiefst eingeschrieben, kann aber jetzt erst artikuliert werden. Die Ausbuchstabierung der poetischen Diskursgrammatik hat zu zwei basalen Verfahren geführt: einerseits zur Zerteilung, andererseits zur ikonischen Poiesis, welche die poetische Grammatik verkörpert auf die Textbühne stellt. Zerteilung resultiert in Negativität, ikonische Poiesis aber führt zur Affirmation des Darstellens, des Darbietens und des Sich-in-Szene-Setzens. Das Grundmotiv von Adornos Ästhetischer Theorie, dass die Kunstwerke, seien sie auch zutiefst schwarz, immerhin wollen müssen, dass sie sind, sodass sie ihre Erscheinung bejahen müssen und über dieser Affirmation sich mit Schuld beschweren angesichts des depravierten Weltzustandes, formuliert die Grundparadoxie.85 Prosa
Adorno, Ästhetische Theorie: »Kunstwerke begeben sich hinaus aus der empirischen Welt und bringen eine dieser entgegengesetzte eigenen Wesens hervor, so als ob auch diese ein Seiendes wäre. Damit tendieren sie a priori, mögen sie noch so tragisch sich aufführen, zur Affirmation.« (Adorno 1981, 10) – »Keiner fehlt die Spur von Affirmation, insofern eine jegliche durch ihre schiere Existenz über die Not und Erniedrigung des bloß Existierenden sich erhebt.
9.2 Personificatio der anagrammatischen Permutation des Eigennamens
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kennt strukturell die Notwendigkeit der Zerteilung, der atomaren Zerlegung bis über die Grenze des sinnhaft Gestalteten hinaus, aber sie kennt strukturell auch die Notwendigkeit, eben dies in die Erscheinung zu stellen und damit dieses Dasein des an sich Negativen zu wollen und zu bejahen – andernfalls existierten die Texte nicht. Poetische Konativität, in Selbstreferenz versetzt, ist aus dieser Grundparadoxie heraus zu denken. – Wie ist sie in literaturwissenschaftliche Exegese zu überführen?
9.2 Personificatio der anagrammatischen Permutation des Eigennamens (Schattenfroh) Das Ich in Schattenfroh, es trägt textintern den Namen Niemand oder ist einfach der Sohn, befindet sich in einem Kerker: Drei Monate und 25 Tage lang wurden meine Hände tagsüber hinter dem Rücken gefesselt, der Strick lief etwa einen Meter über mir durch einen Metallring, der an einem Balken angebracht war, der Strick war lang genug, dass ich mich auf einen Eimer setzen konnte, der mir als Abort diente, auch hatte die Fessel genug Spiel, meine Hosen ein Stück weit herunterzulassen. Wollte ich mich legen, riss es mir die Arme nach oben, was starke Schmerzen verursachte. Aus dieser Haltung kam ich nur schlecht wieder auf die Beine. Also stand ich fast den ganzen Tag oder saß auf dem Eimer. […] Nachts bringt man mich in den Balkenverschlag. (Lentz 2018, 386)
Die Grundkonstellation dieser Szene ist historisch bekannt. Es handelt sich um die brutalen Haftbedingungen des böhmischen Theologen Jan Hus, die er 1414/ 15 in Konstanz erleiden musste, bevor er hingerichtet wurde. Jan Hus gilt als Vorläufer des reformatorischen Protests gegen den europäischen Katholizismus. In Schattenfroh ist die Hauptperson – wie der Name schon sagt – Niemand, sodass er sich immer nur durch Immersionen in andere, historische oder fiktive Figuren oder in Gemäldeabbildungen Gestalt verschaffen kann. Unter diesen Folterbedingungen beginnt Niemand Stimmen zu hören, sie fangen an, sich Namen zu geben: sie hießen »Lache mit Lenz«, »Macht in Zelle«, »Alle Chemnitz«. »Mein Elchlatz«, »Am Elch Litzen«, »Zelle am Nicht«, »Tanz mich Elle« oder »Allich Zement« (Lentz 2018, 387)
Je verbindlicher Kunst sich selbst ist, je reicher, dichter, geschlossener ihre Gebilde gestaltet sind, desto mehr tendiert sie zur Affirmation, indem sie, gleichgültig in welcher Gesinnung, suggeriert, es seien ihre eigenen Qualitäten die des Ansichseienden jenseits von Kunst. Die Apriorität des Affirmativen ist ihre ideologische Nachtseite. Sie lenkt den Widerschein der Möglichkeit auf das Existierende noch in dessen bestimmter Negation.« (Adorno 1981, 239).
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9 Poetische Konativität: inverse Kommunikationen – Text als Funktion Lesen
Es handelt sich um Permutationen des Autornamens Michael Lentz, also um eine Umgruppierung der Buchstaben der Autornamens, mithin um Anagrammatik. Die folgenden Seiten bestehen darin, dass diese Stimmen sich artikulieren und mit Niemand ins Gespräch kommen. So fordert »Lache mit Lenz« Witzblättchen ein und zeigt einen seltsamen Humor (Lentz 2018, 388), während »Am Elch Litzen« auf Nachfrage gesteht, »er sei nichts als sein Name und sein Name sei nichts. […] Leider hört er seitdem nicht mehr auf, über sein belangloses Leben zu klagen« (Lentz 2018, 389). Ein Lichtblick ist aber »Zelle am Nicht«, nicht allein deswegen, weil sie weiblich ist, sondern weil Niemand sich mit ihr geistreich unterhalten kann und sie allerlei weiterführende Literaturhinweise zu bieten hat (Lentz 2018, 389 ff.). »Allich Zement« schließlich respektiert Niemand nicht im Mindesten, hält alles für ein Geschwafel und würde ihn am liebsten abschaffen (Lentz 2018, 394). Diese relativ kurze Sequenz bestätigt zunächst die Grundannahme für die poetische Emotivität im Fall poetischer Selbstreferenz. Das Figurenensemble ist aus einer pluralisierten Aufspaltung der Funktion Autorschaft entstanden. Allerdings entwickelt es sich nicht als harmonisches Stimmenkollektiv, sondern als widersprüchliche Vielheit von Stimmen, die zu keiner inhaltlichen These über diejenige Entität, die mit dem Namen Michael Lentz zugrunde gelegt ist, führt. Die Stimmen sind Lesarten von Michael Lentz, aber sie etablieren keinen kohärenten Schriftzug. Auf der inhaltlichen Ebene bestehen sie aus Konflikten, direkten Widerlegungen und schlichtem Slapstick. Dass sie kein kohärentes Charakterbild ihres materialen Ursprungs – dieser besteht ja nur in der Buchstabenabfolge des Eigennamens – ergeben, dekonstruiert auf der ersten inhaltlichen Ebene die Funktion Lesen. Aber auf diese Ebene lagert sich eine zweite inhaltliche These, die in der Vermutung besteht, dass die Verschiedenheit und Zerrissenheit der Stimmen eine direkte Abbildung der Folterqualen von Niemand sind, sofern er gerade aus der Immersion in Jan Hus spricht. Die faktische Dissoziation des Ich in seine anagrammatischen Aufspaltungen wäre dieser Lesart gemäß eine Darstellung von Negativität, Sprache des Leidens, die gerade durch ihre Zerrissenheit beredt wird. Auf einer poetologischen Ebene wird die Sequenz jedoch noch einmal in anderer Weise sprechend, denn die ganze Situation transformiert sich in ein für den Text grundlegendes Bestrafungsritual, welches der Vater seinem Sohn wahrscheinlich dadurch zugefügt hat, dass er ihn in einen dunklen Keller einsperrte. So wird die ganze Kerker-Sequenz zu einem Baustein, der mit den anderen Kerkerszenen zusammengelegt werden kann und insgesamt auf ein sehr dunkles autobiographisches Substrat verweist. Schattenfroh ist auf einer ganz wesentlichen Ebene seiner Sinnsysteme die symbolische Durchformulierung der Verheerungen, die das Bestrafungsregime des Vaters in der Symbolproduktion des Sohnes
9.3 Lesen des Nichtlesbaren (Kaff auch Mare Crisium)
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angerichtet hat. Aber auch diese These ist wiederum dekonstruierbar, weil die Vater-Sohn-Konstellation ihrerseits zur Allegorie einer umfassenden historischen Negativität wird, in der die Brutalitäten der frühneuzeitlichen Bauernkriege, der Gestapofolter und der Bombenangriffe der Alliierten auf die westdeutschen Städte zum eigentlichen Thema eines nun auch historischen Romans werden. Aber auch diese Lektüre wäre dekonstruierbar durch eine weitere, die überhaupt auf die folterähnliche Leidensgeschichte der Inkarnation anspielt, also darauf, dass Verkörperung per se Schmerz impliziert und folglich jedem weltlichen Dasein eine christusähnliche Passion eingeschrieben ist. Der Vorname Michael, anspielend nicht nur auf den deutschen Michel, sondern auch auf den Erzengel Michael, ebenso wie auf Kleists Michael Kohlhaas, wurde dem Sohn mit der wesentlichen Begründung gegeben, dass man amtlicherseits den Namen Jesus nicht geben dürfe (Lentz 2018, 143 f.). Michael also ist der Ersatzname für Jesus, sodass die Leidensszenen neben den familialen Ursprüngen und neben den historischen Bezügen die christliche Dimension der schmerzbehafteten Fleischwerdung überhaupt gewinnen. – Diese Zusammenhänge werden im Text durch ein komplexes System der Aktantenaufspaltungen generiert, sodass das gesamte Ensemble der Figuren mit ihren wechselnden Identitäten als Vervielfältigung der Funktion Autorschaft bei gleichzeitiger inhaltlicher Verrätselung erscheint. Schattenfroh zu lesen, heißt, permanent Thesen über Identifikationen aufzustellen und sie wieder zu verwerfen. Genau dies aber ist das Lesen: ein Zusammentragen von Zeichenensembles (Lese wie in der Weinlese), eine Etablierung von inhaltlichen Kohärenzen und sodann ihre Infragestellung bei fortschreitender Einsicht in die grundstürzende Negativität, die in der Abweisung all solcher Sinnsynthesen besteht. Das Buch ist eine Rätselgestalt, eine Serie von Aufschreibesystemen, in denen Sinn produziert und entzogen wird, genauso wie unser Entziffern von Welt immer genug Sinnkorrelate findet, um es nicht abzubrechen, aber nie genug, um es erfolgreich beenden zu können.
9.3 Lesen des Nichtlesbaren (Kaff auch Mare Crisium) Ganz besondere Experimente an den äußersten Rändern des Lesens gibt es bei Samuel Beckett. Ein älteres Ehepaar sitzt in Mülltonnen, wird der Deckel abgenommen, führen sie wirre Reden und erwähnen ein Tandem. Dass ihnen die Beine fehlen, wird wohl mit einem Unfall zusammenhängen, den sie bei der gemeinsamen Ausfahrt erlitten haben. So zumindest lautet eine These, die vor allem dazu dient, dem rätselhaften Zustand eine Erklärung zu geben. Vielleicht stimmt sie schon deshalb nicht. Glücklicherweise liegt meistens der Deckel auf den Mülltonnen.
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9 Poetische Konativität: inverse Kommunikationen – Text als Funktion Lesen
Ein anderes Grenzexperiment findet sich in Arno Schmidts Prosa Kaff auch Mare Crisium. Die denkbar lebensfeindlichste Umgebung ist wohl die Mondoberfläche. Das Lesen als Entzifferung entgegenkommenden Sinns muss angesichts sinnloser Krater und tödlicher Grundvoraussetzungen schon vom Ansatz her scheitern. Genau dort aber spielt ein gewisser Teil von Schmidts Kaff. Man kann den Text geradezu als mustergültige Studie in Bezug auf die Aporien eines hermeneutischen Entzifferungsversuches angesichts einer selbstbezüglich gewordenen Negativität rekonstruieren. Berühmt sind die ersten Zeilen: Nichts Niemand Nirgends Nie!: Nichts Niemand Nirgens Nie!: (die Dreschmaschine rüttelte schtändig dazwischen, wir konnten sagen & denken was wir wollten. Also lieber bloß zukukken.) »’dollaus. – […]
(Schmidt BA I/3, 11)
Jörg Drews (2014) hat die erste Seite von Kaff einer intensiven Lektüre unterzogen, weshalb hier nur über die allerersten Sätze gesprochen werden soll. Es handelt sich, um auf der pragmatischen Ebene zu beginnen, um einen Spaziergang eines Mannes mit einer Frau, beide beobachten eine Mähmaschine bei ihrer Fahrt über das Feld. Das rhythmisch sich wiederholende Geräusch des Mähens und Dreschens wird in der zweimaligen Formel Nichts Niemand Nirgends Nie lautmalerisch wiederholt. Schon das ist ein Akt des Lesens: Inhaltliche Negativität, also das Vernichten der Pflanzen, wird hier in Sprache übersetzt und folglich zu einem Sinngeschehen. Die Formel selbst ist ein mehrfaches Zitat, sie taucht fast in dieser Form am Ende von Jean Pauls erstem Roman Die unsichtbare Loge auf: Ein negativistischer Prosaautor zitiert den anderen, auch dies eine Lektüre. Vielleicht fällt es auf, dass bei der Wiederholung im Wort Nirgens das d verlorengegangen ist. Das hat eine unvollkommene Welt so an sich: Es geht irgendwie immer etwas verloren, etwas fällt weg, ganz ohne Grund, eine Wiederholung bleibt fehlerhaft, zuerst nur durch eine kleine Lücke, dann verschleift sie sich immer mehr. Ein Christ könnte diese Sätze nicht sagen, sie würden die göttliche Garantie für die creatio continua, also für die Aufrechterhaltung der Schöpfung, infrage stellen und damit Gottes Allmacht bestreiten. Übersetzt man die negativistische Formel in Positiva, so müsste sie lauten: Etwas, Jemand, Hier, Jetzt. Das wäre ein schöner Schöpfungsoptimismus und eigentlich zugleich der perfekte Anfang für einen Roman oder gar für ein Epos: Jemand ist hier und jetzt mit etwas beschäftigt, Dinge sind vorhanden, ein Charakter ist vorzustellen, eine Handlung kündigt sich an, Welt existiert. Kaff beginnt mit der Negation genau dieser Anfänglichkeit, eigentlich negiert dieser Anfang die Möglichkeit des Anfangs. Da der Mähdrescher offenkundig sehr laut ist, können sich die beiden Spazierengehenden nicht verständigen, das
9.3 Lesen des Nichtlesbaren (Kaff auch Mare Crisium)
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literarische Genre des ländlichen Spaziergangs ist also auch gleich negiert. Immerhin können sie denken, was sie wollen, es zu singen und zu sagen, ist aber nicht möglich. Sie schauen nur. Das erste Wort, das gesagt wird, lautet: ’dollaus. Man weiß nicht so recht, was soll es bedeuten. Vielleicht: Das sieht aber toll aus. Vielleicht auch: Was für ein Tollhaus. Vielleicht deswegen: Die ganze Schöpfung ist ein Tollhaus. Auf der zweiten Seite, schon etwas entfernt von der Dreschmaschine, entspinnt sich der folgende Dialog: Man lackiere 1 Gerät giftgrün & knallroth: dann wirz dem Deutschen Bauern heilich sein: »10 Oxen + 1 Bauer = 12 Schtück Rinnt=Vieh: Mörike!« /: »Puritanisch & trostlos, Honich? Hier? – a): Das mußtú sagn! – b) Geh mir mit sogenannten ‹rianten Gegenden›!«. – (Zu Schnecken ohne Haus sagten wir: »Na; Schneck?«; zu solchen mit Haus: »Nun? Herr Schneck?« – wir hatten schon zu lange Mieter sein müssen, um in dieser Beziehung noch irgend Rückgrat zu haben.) – »Mänsch, iss das lankweilich! – Gipp ammall BILD.« / Es enthielt eben die unschätzbare russische Aufnahme von der Mondrückseite, nischt wie ‹LOMONOSSOFF› und ‹ZIOLKOWSKY›: »Potz Osservatore Romano & Kraßny Flot!«. / Die Baskenmütze oben drauf blieb unbeweglich; aber ihr Cape wexelte im Wint die Geschtallt. (Nackt & mit 1 Sonnenblume im Haar. Möcht’ ich Dich sehen. Aber dazu iss jetz nich die Jahres=Zeit.: »Nee.« beschtätichte sie eisenseitich=rundköpfich. ‹Kopf auf Weiblichem befesticht›.) »Mänsch iss dos lankweilich.«
(Schmidt BA I/3, 12)
Es etabliert sich ein pragmatischer Handlungskontext. Während der männliche Akteur mit beträchtlichem Phantasieaufwand und literarischer Bildung der ländlichen Szene arkadische Dimensionen abtrotzt – Stichworte: Mörike, Honig – und gleichzeitig wieder einmal gegen die Bauern wettert, die die Landschaft verschandeln, hat die holde Weiblichkeit wenig beizutragen. Ihr ist der ländliche Spaziergang langweilig. Selbst der lustige Einfall zur Schnecke ändert daran nichts. Schaut man sich die Interaktion der beiden Sprechenden an, so wird man konstatieren müssen, dass sie zur Gänze aneinander vorbeireden. Sie möchte eigentlich gar nicht spazieren gehen und findet die Gegend, es handelt sich um ein Kaff86 in der Lüneburger Heide, unausstehlich, er hingegen macht allerlei Gesprächsangebote, auf die sie aber nicht eingeht, genauso wenig wie er ihre Langeweile ernst zu nehmen gesonnen ist. Die beiden, so erfährt man später, haben sich auf ein Wochenende in der Heide einquartiert, um herauszufinden, ob ihre
Kaff kann aber auch bedeuten: Spreu vom Weizen. Diese semantische Spur führt schon zu Beginn des Textes auf die hochgestapelten Heuhaufen, die dann später im Selenitengestein des Mondes ihre Entsprechung finden.
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Liebesbeziehung tragfähig genug ist, gemeinsam eine Wohnung zu nehmen. Das Ergebnis wird, nach einer Serie von Desillusionierungen und Missverständnissen, am Ende des Textes negativ sein (Nichts Niemand Nirgends Nie – auch in Liebesdingen). Die Wendung zur Leseszene, die der Text insgesamt volzieht, findet aber genau in diesem zitierten Textteil statt. Gelangweilt von der Heidelandschaft, fordert sie ihren Begleiter auf: Gipp ammall Bild. Die etwas rätselhafte Bemerkung ist von einer solchen konkreten Eindeutigkeit, dass man sie gerade deshalb so schwer entziffern kann. Gemeint ist die westdeutsche Bild-Zeitung, in der sich eine russische Aufnahme von der Mondrückseite findet. Die beiden russischen Namen sind die Namen von zwei Mondkratern. Kaff auch Mare Crisium erschien 1960, die Handlung spielt 1959. Es ist die Zeit, in der die Sowjetunion gegenüber den USA einen Vorsprung im Raumfahrtprogramm besaß. Der sogenannte Sputnikschock bezeichnet den Schrecken des Westens darüber, dass die Sowjetunion in der Lage war, mit einer Trägerrakete einen Satelliten in die Erdumlaufbahn zu schicken, womit zugleich die Möglichkeit eines Raketenangriffs auf die USA im Raum stand. Die Lunik-Missionen der Sowjetunion bestanden in unbemannten Mondsonden, die erste Bilder von der Mondoberfläche lieferten. Solche Bilder sind in der damaligen Bild-Zeitung wiedergegeben worden. Die Spaziergängerin interessiert sich für diese Sensation mehr als für die norddeutsche Heidelandschaft. Nun besteht die Handlung des Textes darin, dass der männliche Begleiter ein längeres Gedankenspiel in Gang setzt und der von der Gegenwart gelangweilten Begleiterin eine Mondhandlung erfindet. Unvermerkt rückt schon auf den beiden ersten Seiten des Textes der Kahlschlag des Mähdreschers das flache Feld in die Nähe der Mondoberfläche. Die Heuhaufen haben zudem gewisse Ähnlichkeiten mit den auf der ersten Seite erwähnten »Tütenzelten von Seleniten«, also den zeltartig aufgerichteten Heubündeln. Mondlandschaft und abgemähtes Feld legen sich ikonisch übereinander. Die Mondhandlung, die markiert wird, besteht aus der Fiktion, dass sich nach einem atomaren Schlag, der das Leben auf der Erde unmöglich macht, ein Restbestand der Menschheit auf den Mond flüchten konnte, wo unter äußerst prekären und elenden Umständen ein instabiles Leben möglich ist, während der Ost-West-Konflikt fortgesetzt wird. Es etabliert sich ein Zwei-Spalten-Text, sodass die mühsame Liebeshandlung vom phantasiereichen Karl an jeder sich anbietenden Stelle durch eine kommentierende und sie lesende Parallelhandlung auf dem Mond ergänzt wird. Man kann sagen, dass die Fruchtlosigkeit der Liebesbeziehung, das kaffartig-elende Ambiente eines heruntergekommenen Heidedorfes und die lebensfeindliche Wirklichkeit der Mondoberfläche, vor allem des dortigen Mare Crisium, einander interpretieren oder lesen. Erst langsam versteht man bei der Lektüre, dass der Grund dieser wechselseitigen Nega-
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tivitäten wohl darin zu liegen scheint, dass die Frau – Hertha ist ihr Name – in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs vergewaltigt wurde. Die Sache ist allerdings äußerst komplex, denn, um von der Funktion Autorschaft zu sprechen: Es ist wohl der imaginierte Arno Schmidt, der im belgischen Kriegsgefangenenlager Opfer einer Vergewaltigung hätte sein können (vgl. Clausen 1992, 60 f.), während seine Ehefrau Alice Schmidt bei der Flucht aus den Ostgebieten Kontakt mit der Soldateska der Roten Armee gehabt hatte. Auf der biographischen Ebene der nachweisbaren Faktenlage lässt sich weder zu Arno noch zu Alice Schmidt behaupten, dass sie Vergewaltigungsopfer gewesen seien. Da es sich hier aber um kollektive Schicksale handelt, sowohl hinsichtlich der sexuellen Misshandlungen zwischen den Soldaten als auch hinsichtlich der zahllosen Vergewaltigungen deutscher Frauen durch die Rote Armee und wohl auch durch die Alliierten (Eichhorn und Kuwert 2011, Gebhardt 2015), bedarf es keines Nachweises einer konkreten biographischen Tatsache. Aktantenlogisch trägt nun Hertha das Vergewaltigungsschicksal von Karl aus. Im Namen Karl verstecken sich mit AR die beiden Anfangsbuchstaben von Arno, der Name Hertha steht für das härtere Schicksal. Es liegt hier also das interessante Beispiel einer aktantiellen Pluralisierung mitsamt Geschlechterwechsel vor, eine Spezialität von Arno Schmidt. Diese Überlegungen verdichten sich zu einer umfassenden These: Die beiden auf gegenseitige Liebe hoffenden und deshalb ein Probewochenende absolvierenden Akteure beraten hinter allen ihren Schattenspielen den Umgang mit einer Versehrung, für die sie keine wirklichen Sprachmöglichkeiten haben. Deshalb projizieren sie ihre erkaltete Sexualität in Ersatzhandlungen. Die kastrierende Dreschmaschine ist dafür nur ein Anfang. Dass die Heidelandschaft langweilig und abgestorben ist, ist für Hertha die Projektion ihrer getöteten Libido, während selbiges für die Mondgeschichte von Karl gilt. Eine Negativität liest die andere, eine Krypta entziffert die andere, aber keine ist in der Lage, inmitten dieses komplexen Entzifferungsspiels eine Art von Klartext zu sprechen, der eine therapeutische Möglichkeit anböte. So besteht der gesamte Text aus einer einzigen Lektüreanstrengung zwischen abgespaltenen Ich-Teilen einer unterstellten Funktion Autorschaft, bei der es lauter verschlüsselte Szenen katastrophal verlaufender Sexualität gibt, ohne dass die Akteure in der Lage wären, dieses Trauma ihrer Generation formulieren zu können. Sie bleiben verstrickt in die Kulissenschieberei der Symptome. Ihr Aneinander-Vorbeireden funktioniert wie ein Trauma: Mit schlafwandlerischer Sicherheit liest die Mondgeschichte die sexuelle Katastrophe von Hertha, immer hat Karl eine passende Wendung seiner improvisierten Narration zur Hand, mit sicherem Gespür für die in der Symbolik sich versteckenden Abgründe. Tatsächlich ist der Mondkrater, in den wie in einen tie-
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fen Abgrund hinein ein Akteur der Mondhandlung hineinfällt, ein sehr verstörendes Bild für die getötete, also trockengelegte Vagina des Vergewaltigungsopfers. Aber lässt sich diese Lektüre als exegetische Tatsache behaupten? Tatsächlich handelt es sich nur um eine Lektüre, die man durch geschicktes Arrangieren der Indizien freilich zu einer sehr dichten Interpretation führen kann. Kaff auch Mare Crisium ist genau betrachtet ein weiterer Text, für den gilt, dass ein sensus litteralis, also eine vorherrschende erste Handlung, eigentlich nicht vorliegt. Die erwähnte Liebesgeschichte ist zweifelsohne nur ein äußeres Transportmittel für viel substantiellere Sinnsysteme. Die Vergewaltigungsgeschichten aus dem Kriegsgefangenenlager und aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs bilden eines dieser Sinnsysteme. Ein weiteres ist die metaphysische Position des Textes, also die Position der Gnosis, in welcher im Gegensatz zum Christentum die Welt als metaphysisch misslungen gilt und alle Erlösung nur in radikaler Weltverneinung erstrebt werden kann. Ein genauer Blick auf den Text zeigt zudem, dass die gesamte Struktur kurioserweise nach dem Nibelungenlied organisiert ist (Damaschke 1986), welches de facto eine Kriegshandlung erzählt, in der Liebesverhältnisse durch scheiternde Brautwerbungen zu selbstvernichtenden Kriegshandlungen führen (Kuhn 1980). Gewiss ist auch die Textpoetik ein wichtiges Sinnsystem: Schon durch die Schreibweise entziffert der Text das, was er sagt. Das referentiell ausgesprochene Wort wird durch Falschschreibung gegen sich gewendet und zum Kommentar über sich selbst gemacht, sodass die boustrophedische Prosabewegung auf engstem Raum vorliegt. Die Funktion Lesen ist in dieser Lektüre das eigentliche Triebmoment des Textes. In paradoxer Zuspitzung lässt sich sogar sagen, dass das Lesen umso intensiver wird, je katastrophaler und negativistischer die Dinge auf der Handlungsebene sich gestalten. Gewissermaßen ist Lesen überhaupt die einzige Tätigkeit, die übrig bleibt: in Permanenz versetztes Entziffern der fortlaufenden Katastrophe. Für Kaff auch Mare Crisium gilt exakt, was über die Eigentümlichkeit von Prosatexten ausgeführt wurde: Die Szene wird durch die Sprache erzeugt. Die Heidelandschaft als solche ist eine brachliegende Ödnis, sie wird einzig und allein durch die ikonische Produktivität vor allem von Karl überhaupt erst produziert. Die Schnecke mit oder ohne Gehäuse ist allein durch die Sprache in den Text gekommen, für Hertha wäre sie nicht einmal wahrnehmbar gewesen. Die initiale Übertragung der Heuhaufen auf die Steingebilde der Mondoberfläche findet eben genau, wortwörtlich, durch das Hinüberreichen von ›Bild‹ statt, also der Zeitung ebenso wie der ikonischen Poiesis. Ab diesem Moment besteht der Text aus nichts anderem als aus der permanenten Übertragung und Gegenübertragung einer Fruchtlosigkeit auf die andere. Die fiktionale Welt dieses Textes ent-
9.4 Lesen als Durchdringung
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wickelt sich aus der personificatio der Übertragungseffekte, ein sprachmagisches In-Szene-Setzen einer initialen Metapher. Bevölkert wird der Text mit Figuren, die ein Grundproblem der im Hintergrund stehenden und rein konstruierten Funktion Autorschaft austragen, verteilt auf die Heidehandlung und auf die Mondhandlung, inklusive eines Geschlechterwechsels. Damit wird das poetische Personal aus der poetischen Emotivität abgeleitet. Diese aber wird in spezifischer Weise gelesen, sodass die poetische Konativität darin besteht, trotz einer umfassenden Leseanstrengung vor allen Dingen Missverstehen, Misserfolg und Abbruch zu produzieren. Die beiden Probeliebenden müssen am Ende der Handlung in sprachloser Resignation einsehen, dass die Nähe ihrer Verletzungen jegliche Beziehungsarbeit ausschließt. Prosatheoretisch sind also die bislang erarbeiteten Kriterien in klarer Prägnanz vorhanden. Und man sieht sofort, dass man diesem Text verständnislos gegenüber steht, wenn man ihn mit traditionellen Kategorien des Romans zu lesen versuchen würde. Nachahmung der Wirklichkeit, Darstellung einer epischen Breite von Welt, Liebeshandlung und Etablierung einer ökonomisch sicheren Bürgerlichkeit: Alle diese Motive des traditionellen Romans kratzen hier nur an der Oberfläche. Tatsächlich liegt ein Text mit mehrfachem Schriftsinn vor, mit komplexen Selbstreferenzen, mit einem Personal, das aus der Aufspaltung einer unterstellten Funktion Autorschaft entsteht, einer Interaktion, in der literarische Charaktere Negativität mit Negativität lesen. Die bislang entwickelten Kategorien einer Prosatheorie greifen hier besser als die herkömmlichen Begriffe.
9.4 Lesen als Durchdringung In seiner Sauwaldprosa schreibt Uwe Dick über Arno Schmidt: »Im Sauwald war Arno Schmidt bereits, als er schrieb (Kaff/auch Mare Crisium): die eingestreuten irdischen Szenen sind, … , dem bayerischen Volxleben entnommen« (s. o.; Dick 2001, 282). Was passiert, würde man die Aussagen ernst nehmen, dass Arno Schmidt in Wirklichkeit ein bayerischer Volksschriftsteller gewesen sei und dass Kaff, so wäre zu schlussfolgern, eigentlich von Uwe Dick alias Arno Schmidt geschrieben worden wäre? Es läge, wenn es stimmte, dass Schmidt und Dick identisch sind, ein seltsamer Fall von Durchdringung vor. Hier liest nicht eine Lektüre eine andere, sondern das Lesen ist ein solches Identischwerden, eine solche tatsächliche und reale Durchdringung, dass die Differenz zwischen écriture und lecture vollständig aufgehoben ist. Die intensivste Lektüre ist diejenige, die sich so in das Gelesene hinein auflöst, dass sie zur Produktion dessen wird, was vorher nur das Objekt der Lektüre gewesen ist. Für eine solche Durchdringung gibt es einen
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Namen. In der Theologie nennt sich die trinitarische Durchdringung von Vater, Sohn und Heiliger Geist Perichorese (s. o.). Jede dieser drei Instanzen liest die beiden andern, aber tatsächlich sind sie immer nur eines, eine ungeschiedene Einheit, in der, was gelesen wird, zugleich gesprochenes Wort ist – und was Gott spricht, ist bekanntlich Realität, also unsere Welt. Was wir vor uns sehen und zu lesen versuchen, ist Sprache und die ultima ratio der Lektüre besteht darin, die Seiten zu wechseln und so sprechen zu können, wie derjenige es konnte, dessen Produkte wir zu entziffern versuchen. Auf diese spekulative Idee läuft die poetische Konativität der Prosa hinaus. Ausgesprochen ist sie am bündigsten in den Versen des Angelus Silesius (i. e. Johannes Scheffler): Freund es ist auch genug. Jm fall du mehr wilt lesen, So geh und werde selbst die Schrifft und selbst das Wesen. (Angelus 1984, 285)
Wie bereits gesehen, ist den Prosaautoren die Perichorese nicht unbekannt geblieben (s. o.; Schmidt BA IV/4, 12587). Welten lesen einander, indem sie sich durchdringen. So entsteht die Hauptfigur von Arno Schmidts Text Julia, oder die Gemälde aus einer intensiven Lektüre. Ganz langsam löst sie sich von der Textseite ab, ist erst sehr flach, zweidimensional und eher transparent, bevor sie Körperlichkeit gewinnt, aber nie vollständig inkarniert. Sie ist im Moment der Durchdringung gestaltgewordene Übergänglichkeit. Das ist zweifelsohne eine Utopie des Lesens: so zu lesen, dass die Prozessualität des Übergangs andauert, in Permanenz versetzt und zugleich reale Gestalt wird. Die Grunderfahrung bei der Lektüre komplexer Selbstimplikationen besteht darin, dass es in Lektürebewegungen plötzliche Umschlagspunkte gibt, in denen Lektüre sich für einen Moment fast ununterscheidbar in das Gelesene hineinlegt und mit ihm verschmilzt. Aber kaum, dass der Leser sein Glück realisiert, im Text aufzugehen und aufgehoben zu sein, löst sich die Lektüre wieder vom Gegenstand. Vielleicht liest man nur um dieser Erfahrung willen. Im Kontext der hier vorgetragenen Überlegungen bezieht sich die poetische Konativität auf die sprachmagische Instituierung der poetischen Referentialität und auf das Inkarnationsgeschehen der poetischen Emotivität. So gesehen ist es kein Wunder, dass das Lesen mit der Poiesis identisch werden will.
»[…] ä=Ist Ihnen bekannt, was man unter ›Perichorese‹ versteht?« […] »Ja: wie Vater=Sohn=Hl. Geist Drei & doch gleichzeitig Eines seien – etwa wie bei FREUD Ich=Überich=Ubw auch die Persönlichkeit bilden. – Weit darüberhinaus gehend (auch wichtiger) iss aber der allgemeinere Begriff, der ›Durchdringung‹ […]« (Schmidt BA IV/4, 125).
9.4 Lesen als Durchdringung
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Inmitten einer Ekphrasis zu Michael Triegels Gemälde Deus absconditus, auf dem u. a. ein mit einem weißen Laken verhangenes Kreuz zu sehen ist, schreibt Michael Lentz in Schattenfroh: Das Zauberwort heißt Perichorese. Ist der Widerspruch im Menschen oder ist er in Gott? Nur Gott kann sich selbst in Frage stellen. Wer aber ist Gott? Und was heißt hier ›verborgen‹? Ist es nicht allzu plump, einen Vorhang vor die Sache zu hängen und sie als verborgen auszugeben? Ein Theatervorhang, der die Lust des Bürgers in stiller Erwartung vor dem Guckkasten ködert? Der Vorhang hat sich verselbständigt. Er ist die Sache geworden. Die Gedanken stammeln, und sie tun recht daran. (Lentz 2018, 620)
Dass der Vorhang die Sache geworden ist, ist das Ergebnis einer sprachlichen Durchdringung der ikonischen Dichte. Man kann auf dem Gemälde Hände und Füße des Gekreuzigten sehen, während es den Anschein hat, als würde hinter dem Laken die den Körper andeutende Kontur fehlen. Es ist eine permanente Oszillation des Sehens zwischen aktiver Ergänzung des heiligen Leibes und dem Eingeständnis, dass er fehlt. Aber indem das Sehen derart intensiv die Realpräsenz des Bildes zu entwickeln versucht, produziert es selbst die Realität, auf deren Suche es sich befindet. In der Durchdringung schwindet die Unterscheidung von Vorhang und Körper, von Vater und Sohn, von Inkarnation und Hauch. Lesen, Schreiben, Sehen: Diese drei Tätigkeiten sind identische Äußerungen desselben Vermögens der Poiesis, die sich medial differenziert. In Schattenfroh wird es vollkommen lakonisch formuliert: Was ich auch denke, ich sehe es. Versuche ich, unzusammenhängend zu denken, sehe ich unzusammenhängende Bildfolgen. Beim Bemühen, zusammenhängend zu denken, um mich an einer zusammenhängenden Bildabfolge erfreuen zu können, stelle ich fest, dass es nichts Unzusammenhängendes gibt […] (Lentz 2018, 47)
Denken also wird zum Sehen. Aber eben auch zum Geschriebenen: Alles, was ich denke und sage, ist lesbar […].
(Lentz 2018, 167)
Aus einer ganzen Serie nahezu identischer Aussagen in Schattenfroh lässt sich eine Ableitungsreihe bilden: Denken ist Sehen, Sehen ist Schreiben, Schreiben ist magisches Instanziieren des Wirklichen, welches sofort auch gelesen werden kann, da alles dies Artikulationsmodi des Denkens sind. Indem das Sehen des Vorhangs den abwesenden Gekreuzigten deshalb mitsieht, weil er fehlt, sieht dieses Sehen so, wie Gott in seiner Seinsweise nie sehen kann – deshalb wohl auch der Titel des Gemäldes: Deus absconditus. Eine solche Ekphrasis ist jedenfalls keine im herkömmlichen Sinne, da es um die Durchdringung dessen geht, was, weil es nicht zu denken ist, als Gedanke geschrieben wird, um gelesen zu werden, aber so, dass die Gedanken dabei ins Stammeln geraten. Das Lesen versucht via Perichorese und Durchdringung zur Produktivität des generativen
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Logos durchzudringen, was insofern möglich ist, als Prosa im Kern die sprachmagische Instituierung ihrer eigenen Diskursgrammatik ist, während es zugleich vollkommen außerhalb der Reichweite des Lesens liegt, das Wesen selbst zu werden (s. o.: Angelus Silesius). Damit ist das Lesen bei seiner Selbstreferenz angekommen, nämlich einer dekonstruktiven. Die ikonische Poiesis kann sich nicht selbsttransparent machen, ihre Lektüre gewinnt immer nur den Status ausdifferenzierter Diskurse (literaturwissenschaftlich gesprochen). Aber dennoch muss sie der Utopie der Durchdringung anhängen, weil ohne sie kein Lesen sinnvoll wäre (theologisch gesprochen).
9.5 Lesen als Paradoxierung der Anthropologie (Jean Paul) Die Hauptlinie der großen Romane Jean Pauls folgt der Auslegeordnung des Staatsromans (Jordheim 2007). Die unsichtbare Loge, Hesperus, Titan und wohl auch Der Komet oder Nikolaus Marggraf kreisen um das Phantasma der Erziehung des zukünftigen Regenten im Zusammenhang mit der Legitimation von Herrschaft unter feudalistischen Bedingungen. Es handelt sich aber zugleich um anthropologische Romane – und zwar durchaus in einem verschärften Sinne. Die literarischen Charaktere lassen sich als personifizierte Theoriebausteine im anthropologischen Argumentationsfeld des commercium-Problems rekonstruieren. Das commercium mentis et corporis beschreibt in der Nachfolge von Descartes das Problem, wie angesichts des Zweisubstanzendualismus von res cogitans und res extensa die Einheit des Menschen gedacht werden könnte.88 Die Philosophie von Descartes war in der Etablierung eines philosophischen Idealismus als Ausdeutung der res cogitans und in der Etablierung einer materieorientierten Naturwissenschaft als Ausdeutung der res extensa außerordentlich erfolgreich. Die Theoretiker des achtzehnten Jahrhunderts sahen weithin keine Notwendigkeit, diesen Zweisubstanzendualismus zu bestreiten; die Alternative, zum Aristotelismus zurückzukehren, stellte sich nicht.89 Gleichwohl wurde die Evidenz namhaft gemacht, dass in der menschlichen Existenz Geist und Körper zusammenhängen,
Die sog. commercium-Debatte war in den 1980er- und 1990er-Jahren ein umfangreiches Forschungsfeld, welches hier zu dokumentieren nicht der Ort ist. Vgl. stellvertretend: Schings 1980, Riedel 1994. – Mein kurzer Problemaufriss orientiert sich u. a. an den genannten Studien. Die zentrale Ausnahme ist Goethe, dessen monistischer Ansatz die Grundproblematik der Anthropologiedebatte unterläuft. Nicht zufällig schließt Goethe etwa mit seinem Entelechiebegriff an Aristoteles an (Anglet 1998).
9.5 Lesen als Paradoxierung der Anthropologie (Jean Paul)
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etwa Einflüsse auf die eine Komponente direkte Folgen auch für die andere habe. So stellte sich die Frage nach dem Zusammenhang bzw. der Gemeinsamkeit (commercium) von Geist und Körper bei paradoxer Beibehaltung des Theorems, dass res extensa und res cogitans als einfache Substanzen definitionsgemäß keinerlei Überschneidung haben können. In der Ausdeutung dieser in sich paradoxen Problemlage wurde seit dem siebzehnten Jahrhundert eine Reihe von Lösungsmodellen vorgeschlagen: prästabilierte Harmonie, Okkasionalismus, influxus physicus, anima Stahlii u. a. Gleichzeitig wurden in den vermögenstheoretischen Schriften der Aufklärung die beiden Opponenten Geist und Körper intern ausdifferenziert, sodass der Geist in Verstand, Vernunft und Geist im engeren Sinne, der Körper in die fünf Sinne und die unteren Vermögen (Gedächtnis, Einbildungskraft) aufgespalten wurde, in vielen Texten in weitaus differenzierterer Nomenklatur. Jean Paul benutzt in seinen Staatsromanen diese anthropologische Matrix zum Aufbau seiner Charaktere, wobei er das Staatswesen als institutionalisiertes commercium denkt. Der Staat wird zu einem idealen Haushalt nach dem Modell eines anthropologisch integrierten Menschen, welches das Kräftespiel von materiellen und geistigen Komponenten zu einem stabilen commercium auszutarieren hat. So erscheint der ideale Regent zugleich als Theorielösung des Anthropologieproblems, seine Konstitution ist gleichzeitig seine Fähigkeit, die verschiedenen Kräfte des Staatswesens einer harmonischen Zusammenfügung zuzuleiten. Nur: Dieses Ideal einer Anthropologie sowie einer Staatspolitik scheitert. Im Titan, der auf der Oberfläche seiner Plotstruktur so etwas wie ein Happy End vorweisen kann, besteht der Preis des Gelingens im Tod fast aller zentralen Akteure. In den anderen Staatsromanen, die fragmentarisch bleiben, wachsen sich die Schwierigkeiten der anthropologischen und politischen Problemlösungen zu Aporien aus, die die Kommunikation der Charaktere und damit das Gelingen des Staatswesens im Kern beschädigen, sodass Szenen misslingender Kommunikation und scharfer Abbrüche letztlich auch das ästhetische Finalproblem des Romans aufwerfen. In diesem Sinne kann man sagen, dass Jean Pauls Versuch, Staatsromane zu verfassen, in ein Schreiben führt, welches Prosa zu nennen ist. Anthropologietheoretisch wird bei Jean Paul die Differenz von Körper und Geist über größere Aktantengruppen dargestellt. Das Hofpersonal gerät im Sinne traditioneller Hofkritik zu einem erstarrten Maschinenwesen, zu kalter Materie und zur Verkörperung einer mechanischen Herrschaftsbürokratie, die die Menschen grotesk auf ihre Funktionseigenschaften reduziert. Im anthropologischen Körper des Hofes bildet dieses Personal die Materie (res extensa). Die res cogitans, der geistige Teil, wird durch empfindsame Frauen und pietistische Geistliche repräsentiert. Ihnen obliegt das Geschäft, dem materialistischen Körper des Staates
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Geist einzuhauchen. Gegen den Materialismus des Hofpersonals sind diese Akteure zunächst machtlos, aber ihre Wirkung soll sich vor allem beim Regenten entfalten. Das commercium wird bei Jean Paul – Schillers Geisterseher folgend – verschwörungstheoretisch den Zeremonienmeistern der Intrige überantwortet. Es handelt sich in den Romanen jeweils um die Person, die um die Identität des verborgenen Prinzen weiß und die dessen Erziehung insgeheim steuert: im Titan Don Gaspard, in der Loge Ottomar, im Hesperus Lord Horion. Der zukünftige Regent soll dann das commercium selbst sein, insbesondere im Titan der Held Albano. Wichtige Nebenfiguren zeigen die Problematik dieses Ansatzes: So ist der im Titan scheiternde Schoppe als objektive Reflexionsaporie der idealistischen Philosophie zu verstehen, die insbesondere bei Fichte auf eigene Faust das commercium zu erzeugen versucht. Roquairol, ebenfalls im Titan, figuriert als die subjektiv-ästhetizistische Reflexionsaporie eines Lebensentwurfs, der sich nur aus sich selbst zu gründen versucht. Diese Aktantengruppen oder Charaktere werden in die Handlung geschickt, um sowohl den Staat zu gründen als auch die anthropologische Fragestellung zu lösen. Jean Paul lässt sie scheitern, Schoppe im Wahnsinn, Roquairol im Bühnenselbstmord, die Frauen an der Lebensunfähigkeit ihrer Geistexistenz, das Hofpersonal in der Selbstratifizierung ihrer bloßen Materieexistenz, die handlungssteuernden Hauptintriganten an der negativen Dialektik ihrer instrumentellen Auffassung von Herrschaft. Wenn im Titan am Ende des Romans tatsächlich ein Regentenpaar den Thron besteigt, dann liegt hinter ihm ein Leichenfeld. Die problematischen Charaktere haben das commercium nicht überlebt, während Albano alle seine vormals vorhandenen Eigenschaften abgelegt hat und als platonische Herrschergestalt der reine transparente Wille ausgleichender Vernünftigkeit geworden ist. Jean Pauls Inszenierung der Anthropologie, gedacht als Allegorie auf das Staatswesen, kommt zu einem denkbar negativen Fazit. Misslingende Kommunikation zwischen den verschiedenen Gruppierungen, Eingeschlossensein in den jeweiligen Perspektiven und vollständiges gegenseitiges Unverständnis führen zu Interaktionsszenen, die insgesamt der literarischen Welt der Satire – also der einzigen namhaft zu machenden Tradition der Prosa – zugehören. Wie verstört die Kommunikation schon in den Staatsromanen Jean Pauls ist, lässt sich daran ablesen, dass die das commercium befördernden Intrigenfiguren von einer Semantik des Todes überzogen sind. Don Gaspard wird zu Beginn des Titan wiederbelebt, Ottomar wurde als Scheintoter schon eingesargt, Lord Horion muss erst durch eine Staroperation das Augenlicht gegeben werden. Das commercium, also dasjenige, was zwischen Geist und Körper das Gemeinsame ist, wird auf diese Weise recht eindeutig artikulierbar: Es ist der Tod. In Jean Pauls Romanen steht Kommunikation im Zeichen der Todesverfallenheit; der gemeinsame Nenner aller Missverständnisse und Zerwürfnisse ist der Tod.
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Wenn die These lautet, dass die Kommunikationen der literarischen Charaktere deshalb Vorgänge des Lesens sind, weil in avancierter Prosa die Aktantenmatrix aus der Selbstreferenz des autobiographischen Substrats hervorgeht, mithin eine Instanz des Selbst eine andere liest, dann lässt sich dies schon bei Jean Pauls Staatsromanen deutlich sehen. Gelesen wird die Genese der Prosa aus dem Scheitern einer Konstitution des Subjekts und des Staates gleichermaßen. So wenig, wie ein commercium für die einzelne Psyche namhaft gemacht werden kann – es sei denn, es handle sich um den Tod –, so wenig können die literarischen Charaktere einander lesen. Sie bleiben im Solipsismus ihrer vermögenstheoretischen Herkunft eingeschlossen: Der Materialist sieht die Welt materialistisch, der Spiritist spirituell, ein gemeinsamer Körper etabliert sich nicht, weder anthropologisch, noch symbolisch oder politisch. Es ist die umfassend gewordene Satire, die den nur negativen Zusammenhang leistet, als literarische Analyse des Missverstehens. Indem auf diese Weise das narrative Konzept des Staatsromans ebenso scheitert wie eine mögliche Bildungsgeschichte des Subjekts, sprengt der Roman bei Jean Paul seine erzählerischen Fesseln und befreit sich zur Prosa, am sichtbarsten im Komischen Anhang zum Titan. Indem die das Subjekt eigentlich garantierende Anthropologie als eine solche gelesen wird, die ihre Vermögen agonal gegeneinander vereinzelt, statt sie zu integrieren, wird der Textkosmos Jean Pauls für eine Reihe von Selbstbezüglichkeiten frei. Die einzelnen Akteurspositionen sind nicht mehr in ein Narrativ eingebunden, stattdessen verstärken sie ihre jeweils eigene Charakteristik. Am deutlichsten wird dies im Titan, an dessen Konzept immer schon bemängelt wurde, dass die interessanten, mit Problemsubstanz ausgestatteten Charaktere ausscheiden, während der immer blasser werdende Albano reüssiert. Was sich im Romankontext andeutet, tritt bei Jean Paul schließlich dort deutlich hervor, wo sich die Prosaschreibweise gegen die narrativen Pläne des Romans durchsetzt. Dies geschieht mit Nachdruck in den Flegeljahren (1804/5). Auch hier besteht die Ausgangssituation in einem anthropologischen Experiment. Die Zwillinge Walt und Vult finden nach langer Zeit des Getrenntseins infolge einer Erbschaftsangelegenheit wieder zusammen und gehen eine gemeinsame Lebensepoche an, in der Hoffnung, als Zwillinge einander verstehen zu können, also das Apriori Jean Pauls, Kommunikation als Missverstehen zu gestalten, außer Kraft zu setzen.90 Die Aktantenkonstruktion ist aufschlussreich: Der Text spielt
Der emphatische Gründungsversuch eines Verstehens sei komplett zitiert: »O Zwilling, wer ist verwandter? bedenke! Wenn Körper Seelen ründen und Herzen gatten, so dächt’ ich, ein Paar Zwillinge – um neun Monate früher einander verschwistert als alle andere Kinder – in ihrer zweischläferigen Bettstelle des ersten Schlafes ohne Traum – teilend alle und die frühesten und wichtigsten Schicksale ihres Lebens – unter einem Herzen schlagend mit zweien – in
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nur noch in einigen wenigen Hinweisen auf den Staatsroman an (z. B. JP I/2, 657), aber die subjektive Integrität bleibt gleichwohl von einer intersubjektiven Struktur abhängig. Walt erscheint zunächst als Idylliker, mit diesem teilt er die Beschränktheit; zugleich aber besitzt er die Fähigkeit des Enthusiasmus, die bei Jean Paul den hohen Menschen zukommt. Diese seltsame Konstruktion, in der Materialismus und Geistexistenz verschmolzen werden, wird unter der Prämisse der geistigen Minderbemitteltheit des Helden vorgenommen. Walt kann die Differenz zwischen der Seligkeit kleinster Verhältnisse und dem alles Materielle transzendierenden Zug ins Intelligible nur deshalb überbrücken, weil er dazu dumm genug ist. Dies will heißen: Er ist komplett zum Gegenstand der Satire geworden. Ähnliches gilt für seinen Bruder Vult, der in der Grundanlage innerhalb der Konstruktionsmatrix Jean Pauls der Logik des sogenannten deutschen Romans (s. u.) folgen sollte und also selbst ein satirischer Humorist sein müsste. Er wird aber zu einem Kleinstadtradikalen depotenziert, seine Bedürfnisse bleiben letztlich kleinbürgerlich, seinen Witzen und seinem Entlarvungstheater fehlen die weltverachtende Intensität. Jean Paul hat seine Romanpoetik ebenfalls anthropologisch fundiert. Seine drei Schulen des Romans bilden erneut den Geist/Körper-Gegensatz aus (vgl. JP I/5, § 72): Der italienische Roman ist dem transzendenzbezogenen hohen Menschen gewidmet, der niederländische Roman dem materiebezogenen Idylliker. Der deutsche Roman ist im Wechsel der beiden anderen Romanarten satirisch grundiert, womit erneut die Satire die Position des commerciums einnimmt.91 Die Flegeljahre würden wie der Siebenkäs dem deutschen Roman zugehören,92 wenn Jean Paul nicht schon längst das Kollabieren seiner eigenen poetischen Anthro-
einer Gemeinschaft, die vielleicht nie im Leben mehr vorkommt – gleiche Nahrung, gleiche Nöten, gleiche Freuden, gleiches Wachsen und Welken – beim Teufel, wenn ein solcher Fall, wo im eigentlichsten Sinn zwei Leiber eine Seele ausmachen, wie ja der alte und erste Aristoteliker, nämlich Aristoteles selber, begehrt zur Freundschaft; zum Sakerment, wenn von solchen Personen nicht der eine Zwilling sagen dürfte, er sei mit dem andern geistig genug verwandt, Walt, wo wäre denn noch Verwandtschaft zu haben auf Erden?« (JP I/2, 803). Die Abbildung der Jean Paul’schen Romantypologie in die Geist/Körper-Unterscheidung ist nicht die einzige Deutungsmöglichkeit. Niederländischer, deutscher und italienischer Roman können auch hinsichtlich der Stilniveaus konzeptualisiert werden: genus humile, genus medium, genus grande. Auch eine gattungspoetologische Ausdeutung liegt nicht fern: Schäferroman, Schelmenroman, höfischer Roman. Im Kontext der Ichphilosophie Fichtes, die für die Vorschule der Ästhetik immer auch mitbedacht werden muss, ließe sich die Analogie zu NichtIch, Wechselwirkung und Ich ziehen. – Eine intensive Debatte dieser Deutungsoptionen und ihrer Querverbindungen kann hier nicht geführt werden. Sie wird an anderer Stelle aufgenommen werden. So die Zuordnungen in der Vorschule der Ästhetik: JP I/5, 254.
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pologie betrieben hätte. In den Flegeljahren sind die anthropologischen Unterscheidungen in die Mikrologie grotesker Szenen und Auftritte eingebrochen. Die Zwillinge treffen in ihrem Versuch, ein intimes Verstehen herzustellen, immer nur auf Differenzen: Wo Walt dem Bedürfnis seiner Idyllenexistenz nachgehen will, wittert Vult falsche Affirmation; wo Walt sich zu erhabenen Transzendierungsbewegungen aufschwingt, reagiert Vult mit sarkastischem Zynismus. Anthropologisch reformuliert: Wo Walt seinem materiellen Teil Recht zukommen lassen will, agiert Vult intellektuell und umgekehrt disqualifiziert sein Zynismus als reductio ad materiam Walts Geistexistenz. Kommunikationstheoretisch nennt man das asymmetrische Interpunktion: Will Ego a dann Alter non a und umgekehrt. Anthropologisch aber zeigen sich die beiden Grundgegensätze Geist und Körper als einander ausschließende Systeme. Die Zwillinge, die sich besser verstehen können sollten als Menschen sonst es vermögen, etablieren ein System, in welchem gegenseitiges Verstehen notwendig scheitert. Als die Zwillinge ihren Versuch einer intimen Interpenetration (um Luhmanns Begriff zu zitieren) schließlich aufgeben, artikuliert es Vult mit der Metapher vom Lesen: Wir beide waren uns einander ganz aufgetan, so wie zugetan ohnehin; uns so durchsichtig wie eine Glastür; aber, Bruder, vergebens schreibe ich außen ans Glas meinen Charakter mit leserlichen Charakteren: du kannst doch innen, weil sie umgekehrt erscheinen, nichts lesen und sehen als das Umgekehrte. Und so bekommt die ganze Welt fast immer sehr lesbare, aber umgekehrte Schrift zu lesen. (JP I/2, 1081)
An dieser Stelle fällt die Aktantialisierung der Anthropologie mit der poetischen Konativität zusammen. Die Romanhandlungen Jean Pauls zeigen sich als eine Experimentalanordnung, die der Entzifferung der menschlichen Konstitution dient. Das Lesen des autobiographischen Substrats führt aber nicht in eine funktionierende Anthropologie, sondern in die abgrundtiefe Vereinzelung einer jeweiligen Position. Jean Pauls Werk nach den Staatsromanen der 1790er-Jahre formuliert deshalb vor allem solche Charaktere aus, die die Selbstreferenz der Prosa zur Wahrheit der grotesken Gestalt vorantreiben. Katzenberger, Schmelze, Fibel und andere haben das anthropologische Paradigma, sofern es am Gelingen des commercium mentis et corporis orientiert ist, hinter sich gelassen. Gelesen werden in diesen Akteuren die Figuren und Tropen der Selbstreferenz. Wenn Jean Paul in die Reihe der Gnostiker zu stellen ist (Simon 2016d), dann unterliegt mitsamt der Schöpfung auch die Konstruktionsbasis der menschlichen Natur dem Irrtum und dem Misslingen. Was übrig bleibt, sind die seltsamen autoreferentiellen Grotesken, die dem Lesen eine kaum lösbare Aufgabe stellen.
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9.6 Erste, zweite, dritte Lektüre – Lesen als Dissemination Mutmaßlich im Jahr 1797 arbeitet Friedrich Schlegel an einer Bestimmung der Philologie.93 Es entstehen zwei Hefte Zur Philologie, die fragmentarische Bemerkungen enthalten, gleichwohl aber auf ein größeres Konzept abzielen. Einer geduldigen Rekonstruktion stellen sich diese beiden Hefte in erstaunlich systematischer Kohärenz dar.94 Man kann sie zunächst rein reflexionslogisch herleiten. Als erste Reflexion sei das Reflektieren über einen Gegenstandsbereich bezeichnet; es entspringt aus einem unmittelbar vorliegenden Interesse an der Sache und bleibt in allen Bestimmungen an diese Sache gebunden. Als zweite Reflexion sei das Reflektieren über die Art und Weise, wie über diese bestimmte Sache oder diesen bestimmten Gegenstandsbereich reflektiert wird, bezeichnet; es geht hier also um die kategoriale Logik einer fest umrissenen sachgebundenen Reflexionstätigkeit. Als dritte Reflexion sei das Reflektieren über die Grundstruktur des Reflektierens überhaupt bezeichnet; es geht hier also um die kategoriale Logik von Reflexion überhaupt, letztlich also um das Denken des Denkens. Diese drei Ebenen des Reflektierens oder des Denkens werden seit jeher in der Philosophie unterschieden, in wünschenswerter Klarheit etwa in Hans Wagners Philosophie und Reflexion (1980). Auf die Philologie angewandt, kommt Friedrich Schlegel zu den folgenden Bestimmungen. Zunächst ist die philologische Tätigkeit, als erste Reflexion, eine bestimmte Leidenschaft. Als durchaus bedingtes Wissen (Schlegel 2015, 69) gilt ihr Interesse den Details des Textes und seiner Überlieferung. Insofern besitzt der Philologe einen Enthusiasmus für das Historische (Schlegel 2015, 37: »historischer Enthusiasmus«), der sich in der mikrologischen Vielheit (Schlegel 2015, 14), in der Tätigkeit des Sammelns, Exzerpierens (Schlegel 2015, 33) und Archivierens zum Ausdruck bringt. Man wird durchaus zum Philologen geboren (Schlegel 2015, 41), die entsprechende Bildung (Schlegel 2015, 73) wächst dem derart talentierten Subjekt gleichsam naturwüchsig zu. Werden diese Talente und Fähigkeiten in der philologischen Praxis gepflegt, ausgebaut und geordnet, dann entsteht eine neue Ebene, die zweite Re-
Zur Datierung vergleiche das Nachwort von Samuel Müller in Schlegel 2015, 244–248. Zur Forschung vgl. Hagemann 2013, Limpinsel 2013, König 2013, Arndt 1997 und Benne 2015, 460–515. Allen Beiträgen ist ein gewisser Wille zur Systematisierung eigen, bei gleichzeitiger Zurückhaltung angesichts der Tatsache, dass Schlegel selbst eine abschließende Durchformulierung seines Konzepts nicht vorgelegt habe. – Ich werde im Folgenden einen Hauptgedanken aus der systematischen Logik der Reflexion entwickeln, ihn aber nicht in die detaillierte Lektüre der Hefte Zur Philologie überführen.
9.6 Erste, zweite, dritte Lektüre – Lesen als Dissemination
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flexion oder nach Schlegel: ein zweiter Cursus.95 Es bildet sich das Bedürfnis nach einer Theorie der Philologie, nach einer kunstförmigen und zunehmend disziplinären Ausformulierung der philologischen Tätigkeiten im Sinne eines wohlgeordneten und methodengeleiteten Aggregats. In dieser Theorie der Philologie werden die Bestimmungen, Kategorien und Verfahrensweisen jeweils hinsichtlich der Angemessenheit auf den spezifischen Gegenstand, die Überlieferung und die vorzulegende Form der Texte modelliert. In der Durcharbeitung dieses Theoriegebäudes entstehen sodann Fragen, die auf eine dritte Ebene abzielen, diejenige der Theorie der Theorien (Denken des Denkens). Ist ein gewisser Grad der Komplexität der entworfenen Theorie der Philologie erreicht, wird das Problem entstehen, wie eine Theorie eines Gegenstandsbereichs überhaupt aufzubauen ist. Denn eine Theorie ist nie nur Theorie von etwas, sondern immer auch als Theorie in sich selbst bestimmt hinsichtlich dessen, was Theorie überhaupt zu sein vermag. Hier wird der Bereich des unbedingten Wissens insofern betreten, als das Wissen sich nur aus sich selbst heraus bestimmt, aus den allgemeinen Gesetzen des Denkens, Wissens, Reflektierens (Schlegel 2015, 77). Nach Schlegel liegt hiermit der dritte Cursus vor. Vollständig ist die Philologie dann durchlaufen und bestimmt, wenn alle drei Cursus nicht nur einmal, sondern in einer Rhythmik der Wiederholung und gegenseitigen Wechselwirkung absolviert worden sind. Schlegel nennt dies die cyclische Methode.96 Dieses Modell ist eine komplexe Definition auch und vor allem des Lesens: »Studium verdient nur das Lesen genannt zu werden, was cyklisch ist.« (Schlegel 2015, 141) Die Erstlektüre eines poetischen Textes erfolgt aus einem unmittelbaren Interesse, aus Leidenschaft und vielleicht aus Enthusiasmus. Die primären Tätigkeiten bestehen darin, durch Sammeln, Archivieren, Gliedern und Beschreiben eine möglichst komplexe Wahrnehmung der Sache selbst, nämlich des Textes zu erzeugen (erste Reflexion). Lesen ist hier ein schon komplex ausgebildetes Sensorium für den Text. Zugleich aber bleibt dieses Lesen eigentümlich textgebunden, es prozediert weitgehend immersiv, also zuhanden der vom jeweiligen Text vorgegebenen Ordnungen. Erst die Zweitlektüre gewinnt zu diesen Tätigkeiten reflektierende Distanz (zweite Reflexion): Die literaturwissenschaftliche Tätigkeit wird sich dessen bewusst sein, dass die Beobachtungen aus referenzbestimmenden Theorierahmen heraus erfolgt sind und dass folglich die Methode der Abhandlung
Zum Begriff des Cursus vgl. Schlegel 2015, 89, 172 u.ö. Zu beachten ist hier, dass Schlegels Begrifflichkeit nicht konstant verläuft. So findet sich etwa an der Stelle Schlegel 2015, 172 (II, Bl. 17r) der Begriff Cursus nicht, während es sich gleichwohl um die intensive Beschreibung der Cursus handelt. Zum Begriff des Cyclus und der cyclischen Methode vgl. Schlegel 2015, 90, 136–143 u.ö.
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transparent zu machen ist. Damit liegt eine theoretische Modellierung vor, die als Bestimmung zugleich eine Limitation ist. Lesen stellt sich unter die Kohärenzmöglichkeiten und -zwänge, die durch das, was philologische Erkenntnis zu leisten imstande ist, vorgegeben sind. Insofern Lesen in einer Disziplin erfolgt, wird es diszipliniert. Zu diesen Tätigkeiten kann es noch einmal eine Theoriebildung geben (dritte Reflexion), in der das Lesen seine eigene Grundstruktur thematisiert, also etwa Begriffe wie Intertextualität, Entschlüsselung etc. klärt. Wenn das Lesen in dieser dreifachen Hinsicht und in der Wechselwirkung aller drei Ebenen bestimmt ist, dann liegt ein philologisches Lesen vor (»Aber was ist denn überhaupt Lesen? Offenbar etwas Philologisches.«, Schlegel 2015, 144). Rekonstruiert man bis zu diesem Punkt Schlegels Hefte Zur Philologie, dann entsteht eine kohärente Idee des Lesens. Ein genauer Blick in Schlegels Begriffspolitik zeigt allerdings, dass gerade in Bezug auf den Begriff der Prosa eine sehr tiefgehende Dekonstruktion letztlich auch des Lesens vorliegt. Schlegel hat eine genaue Idee davon, dass die Philologie in einer Schreibweise stattfindet, die Prosa zu nennen ist. Prosa ist aber auch ein Begriff der Gegenstandsebene von Philologie. Damit taucht die schon zu Beginn des vorliegenden Buches thematisierte Verschlingung von Objekt- und Metasprache auf. Ausgehend vom Notat 14 aus den Literarischen Notizbüchern (ebenfalls 1797) besteht die wahre poetische Prosa in der charakterisierenden Mitteilung über das Schöne, also in einem exegetischen Text, als Philologie, Literaturwissenschaft, philosophische Ästhetik. 14. Charakteristik. – Eigne Gattung in welcher die Darstellung vom Eindruck des Schönen die Hauptsache ist. – Poetisch, poetische Ganzheit, rhapsodischer Zweck (Plat[o’s] Ion) – i. e. Mittheilung des Schönen. Diese Gattung war den Alten unbekannt. – Alles P[oetische] in der Form vermieden; nur der Geist und Stoff sei p[oetisch]; der Ausdruck so prosaisch als möglich. – 〈Es giebt also wahre poetische Prosa. Aber das P[oetische] geht leicht über ins Rh[etorische], welches der Tod des Philos[ophischen], Hist[orischen] und Philol[ogischen] ist. –〉 (Schlegel 1957, 20 f.)
Diese Schreibweisen sind Schreibweisen in Prosa. Sie sind ›wahr‹ aufgrund des wissenschaftlichen Geltungsanspruchs, den sie stellen; sie sind ›poetisch‹ hinsichtlich des Stoffes und Geistes, weil ihr Gegenstand die Poesie ist. Damit wird ein genuiner Begriff von Prosa definiert, der zunächst auf der Seite der wissenschaftlichen Schreibweise steht (expositorische Textgattung, nicht fiktionale Dichtung). Nun findet sich im Fragment 116 der Athenäums-Fragmente – und auch sonst sehr oft – die Aussage, dass die romantische Poesie bzw. der Roman Poesie und Prosa vereinen soll (Schlegel 2011, 32 f.). Damit steht die neue Form der Poesie ihrer wissenschaftlichen Beschreibung nicht abstrakt gegenüber, im Gegenteil: Die neue Form der Poesie nimmt die Literaturwissenschaft in sich auf, Literatur-
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wissenschaft ist ein Teil dieser neuen Literatur und Dichtung. Tatsächlich beschreibt Friedrich Schlegel mit seinem Kritikbegriff insgesamt ein System, in dem kritischer Diskurs und poetischer Diskurs als Teile eines einzigen Zusammenhangs interdependent gedacht werden. Die romantische Poesie ist diejenige Bewegung, die diese beiden wesentlichen Momente des Systems Kunst – poetische Rede und exegetisch-philologischer Text – nicht nur unterscheidet, sondern poetisch zusammenführt. D. h. die Poesie kennt eine ihr immanente Literaturwissenschaft oder ein ausformuliertes Register immanenter Poetik. Die These lautet nun: Sofern die der Literatur immanente Literaturwissenschaft unmarkiert vorhanden ist, liegt das vor, was Schlegel Roman nennt. Sofern dies aber markiert wird und zum eigentlichen Gegenstand der Literatur wird, liegt das vor, was Prosa zu nennen ist. Denn tatsächlich kann sich die fiktionale Literatur eben genau ihre immanente Poetik zum eigentlichen Thema machen – also Darstellung der poetischen Grammatik sein. In diesem Fall läge keine Romanerzählung mehr vor, sondern eigentlich eine Analyse der Konstituentien dessen, was Dichtung ist, mithin eine poetische Analyse der poetischen Funktion bzw. eine Darstellung der poetischen Grammatik. Aber diese Analyse findet auf der Seite der Poesie statt. Dies kann in der Tat nicht mehr über den Begriff der poetischen Form analysiert werden, sondern muss über den Begriff der Selbstreferenz gedacht werden. Mit dieser Erkenntnis ist Schlegel so weit, eine Theorie der avancierten Prosa im Unterschied zur Romanpoetik zu formulieren. Der Begriff des Lesens wird durch dieses Manöver, mit dem Schlegel die Unterscheidung von philologischem Gegenstand und Philologie zugunsten des Prosabegriffs gleichzeitig unterläuft und weiterführt, zu einer komplex oszillierenden, ins Paradoxe tendierenden Angelegenheit. Zusammen mit dem Prosabegriff überquert das Lesen die Unterscheidung von Objekt und Erkenntnis. Lesen ist zugleich immersiver Objekt-, also Text(mit)vollzug und reflektierende Konzeptualisierung, also facere und factum in einem – und deshalb unmöglich. Wenn man nicht gleichzeitig im Fluss sein und ihn beobachten kann, dann tut das Lesen von Prosa genau dies. Denn Prosa als Meta-Literatur ist in ihrem fiktionalen Vollzug Reflexionsbewegung, sie ist aktantiell vorgestellte Elaborierung der poetischen Grammatik. In der Prosa wird die poetologische Selbstbezüglichkeit als poetische Handlung oder als Interaktion poetischer Charaktere als Personifikationen von Theoriepositionen dargestellt. Das Lesen ist deshalb mitgehender Mitvollzug als Reflektieren. Die Theorie-Praxis-Verschlingung des Lesens führt zu einer Gedankenfigur, die aus der Dekonstruktion bekannt ist. Paul de Man begründet die Unmöglichkeit des Lesens damit, dass als Voraussetzung des Lesens für jede Sequenz eines poetischen Textes entschieden sein müsste, ob sie eigentlich (wörtlich) oder uneigentlich (übertragen) gelesen werden solle (de Man 1988, 41). Wisse
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man dies nicht, könne man mit dem Lesen nicht beginnen. Wäre es aber schon gewusst, würde dem Lesen genau die Anstrengung entzogen werden, die den poetischen Text auszeichnet. Wenn das Lesen aber entscheiden muss, ob etwas eigentlich oder uneigentlich gemeint sei, dann liegt eine petitio principii vor, das Ergebnis und die Voraussetzung des Lesens koppeln sich in falscher Rekursivität. Deshalb ist Lesen von Literatur unmöglich, ein permanentes Aufschieben des Verstehens infolge der immer wieder stornierten Frage nach der Un/ Eigentlichkeit, also ein Verbleiben im Nichtverstehen.97 Für avancierte Prosa radikalisiert sich die Sachlage noch. De Man analysiert in der Regel Kanontexte mit weithin intakten Formen, sodass er seine Dekonstruktion als Konflikt von Form und Selbstreferenz ansetzen und mithin seinen eigenen Text der Dichtung gegenüber unterscheiden kann. Avancierte Prosa aber dekonstruiert sich selbst, sie hat geradezu ihren dekonstruktiven Meta-Text in sich eingeschrieben und präsentiert sich als diejenige Meta-Literatur, die genau das auf ihrer vermeintlichen Objektebene macht, wovon die Dekonstruktion behauptet, es sei die Metaebene. Das Lesen solcher Texte kann mithin nicht nur nicht die immersive Frage der Un/Eigentlichkeit entscheiden, es kann ebenso wenig darüber Rechenschaft ablegen, ob es Literatur oder Literaturwissenschaft sei, Vollzug oder Dekonstruktion. Das Lesen ist in diesem Sinne unmöglich geworden. Der Sachverhalt ist auch so formulierbar, dass eine Erstlektüre von Finnegans Wake oder Abend mit Goldrand nicht denkbar ist. Aber man kann mit der zweiten Lektüre beginnen, abgesehen davon, dass der Anfang mit der Drittlektüre besser wäre. Avancierte Prosa überspringt die erste Objektebene (erste Reflexion) und verkauft ihre Rekursivitäten als ihre Unmittelbarkeit. Jedes erste Lesen ist immer nur nachträglich möglich gewesen, aus der Sicht der Anfänglichkeit aber nie. Diese hoch paradoxe Situation des Lesens ist die Bestimmung der poetischen Konativität avancierter Prosatexte. Anstelle solcher Paradoxien des Lesens kann der Leseakt auch so bestimmt werden, dass die Erstlektüre in sich reflexiv, also zu einem permanenten Neuansetzen, einem Stottern oder Ruminieren wird. Fischart hat dies formuliert, als »genau sorgfeltiges lesen«, das Kauen und Wiederkäuen zu kultivieren habe, anstatt die Worte wie bloße Suppe in sich aufzunehmen:
In den topisch gewordenen Formeln am Ende seines Aufsatzes über Semiologie und Rhetorik spricht Paul de Man die Situation des Lesens als unmöglicher Tätigkeit aus. Die Rede ist von einem »Zustand fortwährender Unwissenheit« oder von einer Differenz zwischen Literatur und Literaturwissenschaft, die trügerisch sei. Es geht um Paradoxien: »Jede Frage über die rhetorische Form eines literarischen Textes ist notwendigerweise eine rhetorische Frage, die nicht einmal weiß, ob sie wirklich fragt.« (De Man 1988, 50)
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Derwegen erprecht das beyn fleissig durch genau sorgfeltiges lesen, unnd stätem unauffhörlichem nachsinnen, und sauget darauß dz substantzialisch wesenlich Marck, nit wie der erstbenant Hundsklemmer, die Gerberzullen für minckelend Schmär. Schlappert nit auff Chorherrisch die Wort in euch, wie der Hund die Sup, sonder kauet und widerkauet sie wie die Küh, distilliert sie durch neun balcken, so findet ihr die Bon, das ist, findet was ich durch diese Pitagorische unsimpele simbolen, unnd geheime losungen gesuchet hab: inn gewisser hoffnung dadurch euch gantz trucken auß dem bad außgezwagen und abgeriben heimzufertigen. (Fischart 1963, 26)
Ein intermittierendes, arhythmisches und in jeder Geste sich wendendes Lesen würde die Paradoxie der unmöglichen Erstlektüre dadurch bearbeiten, dass sie die Zweit- und Drittlektüre schon in sich mitlaufen lässt. Der Preis, der dafür zu entrichten ist, besteht in einer intensiven Verlangsamung des Lesens. Dadurch entsteht eine weitere Paradoxie. Weil avancierte Prosatexte in der Regel umfangreich sind, führt eine Verlangsamung des Leseaktes zur Unwahrscheinlichkeit, die Lektüre je bewältigen zu können. Friedrich Schlegel hat mit seinem Prosabegriff von diesen Paradoxien eine Ahnung gehabt (nur eine Ahnung, nicht mehr). Interessanterweise unterbreitet er einen überraschenden terminologischen Vorschlag für die Aktantenkonstituierung aus dem Tatbestand zweiter Reflexion heraus. Sein Begriff des Mimus zielt darauf, die personificatio von Theorie zu denken. Schlegel geht dabei von der antiken Theaterform des Mimus aus. So wie dort Typen auf dem Theater präsentiert werden, ähnlich wie später in der Commedia dell’Arte, dient der Mimus in der Literatur dazu, Theoriepositionen zu Aktanten zu machen, die als mimetische Masken agieren. Es geht also um Personifikationen, darum, Positionen mit Agens-Charakter zu versehen. Wenn er formuliert: »Die Historie ein ep[ischer] Mimus, daher das Historische des Romans« (Schlegel 1957, 24), dann wird in diesem Fall das Historische als epistemischer Gegenstand in die Seinsweise des mimischen Agierens versetzt und auf diese Weise literaturfähig. Sogar für die Charakteristik, also die Interpretation des poetischen Textes, gilt die individualisierende Personifikation: »Alles was kritisirt werden soll, muß ein Individuum sein – aber die Individualität muß in der Char[akteristik] nicht Hist[orisch] sondern mim[isch] dargestellt sein.« (Schlegel 1957, 76) Das ›Mimisieren‹, also die Überführung einer Theorie in literarische Gestalt, kann auch bei einer dazu kaum fähigen Theorie versucht werden und durchaus scheitern; jedenfalls wäre in diesem Sinne die rhetorische Frage zu lesen: »Woher kommts daß Transcendentaldichter so oft das absolute Objekt haben mimisiren wollen?« (Schlegel 1957, 85) Entsprechend ist es die Übersetzung in den Mimus, die überhaupt erst die poetische Fiktion erzeugt: »Illusion ist der poetische Effect, wenn Mimik hinzukömmt.« (Schlegel 1957, 50) Mit dem Begriff des Mimus hat Schlegel
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also ein Instrument zur Hand, mit dem er die literarische Darstellung der poetischen Grammatik denken kann. Damit ist die Argumentation erneut an dem Schmelzpunkt der Theorie der Prosa angelangt. Schlegels gesamtes Theoretisieren wird im mimischen Personifizieren in die poetische Praxis übersetzt, sodass Prosa beide Seiten der Unterscheidung – Literaturtheorie und Literatur – umfasst. Das Lesen wird damit zu einer Tätigkeit, die zugleich objektvergessen immersiv und theorieorientiert reflektierend ist, sodass die Frage nach dem epistemischen Status des jeweils Gelesenen in den Zustand einer permanenten Oszillation überführt wird. Jean Pauls Aktantialisierung der Anthropologie folgt genau demselben Muster, ebenso Arno Schmidts instanzentheoretische Deutung der Psyche. Weil der Ort der avancierten Prosa einer ist, an dem die reflexionslogische Topographisierung kollabiert, entsteht einerseits die spezifische wilde Semiotik der Prosa, andererseits aber ihre Unmöglichkeit, gelesen zu werden – was wiederum durch erneute Rekursivität in der Prosa selbst kodiert wird. Somit zeigt sich das so bestimmte Lesen als Wiederholung des Grundgedankens der Prosa, nun aber von der Seite der dargestellten Rezeption her.
10 Poetische Phatik und poetische Metasprache Indem die drei für das Zeichenmodell gemäß Bühler grundlegenden Funktionen durch die poetische Funktion in Selbstreferenz übertragen wurden, ist zunächst zu konstatieren, dass für die Selbstreferenz zweiter Stufe nur noch eine wenig aussagekräftige Verdopplung übrig zu bleiben scheint. Die poetische Phatik fragt nach dem Funktionieren des Kommunikationskanals, sofern er auf den Diskurs der Poesie hin in Selbstreferenz übertragen wurde, mithin ist sie inhaltlich ausbuchstabierte Darstellung der Schreibszene. Die Schreibszene war aber die ganze Zeit schon thematisch und tauchte bei der Funktion Autorschaft (sofern Autorfigurationen ›schreiben‹) ebenso auf wie bei der Darstellung der Kommunikation und ihrer hermeneutischen Lektüre (sofern Autorfigurationen einander ›lesen‹). Die poetische Metasprache ist der Name für die immanente Poetik. Insofern aber die Prosatexte von vornherein Meta-Literatur sind und sie ihren Grundimpuls aus der Darstellung der poetischen Grammatik ziehen, prozedieren sie immer schon auf der Ebene der immanenten Poetik. Man könnte meinen, dass die poetische Phatik und die poetische Metasprache somit schon abgehandelt worden wären. Diese Vermutung läge sachlich allein schon deshalb nahe, weil gemäß der vorgetragenen Deutung von Roman Jakobsons Modell der sechs Funktionen sowohl die phatische Funktion als auch die metasprachliche Funktion selbst schon Verfahren der Selbstreferenz darstellen. Die phatische Funktion fügt der Kommunikation nichts Neues hinzu, sondern thematisiert nur das Funktionieren der Kommunikationskanäle. Die metasprachliche Funktion erzeugt ebenfalls keine neuen Inhalte, sondern eine semantische Rückkopplung explizierender Art auf das schon Vorhandene. Werden diese beiden selbstreferentiellen Funktionen durch die Poetisierung noch einmal selbstreferentialisiert, dann entsteht eine Selbstreferentialität auf zweiter Stufe, also letztlich nur noch einmal eine Reflexion der Tatsache, dass die hier gemeinten Prosatexte selbst schon wesentlich aus Reflexion bestehen. Die schon gegebene Reflexion von ihrer erneuten Reflexion zu unterscheiden, fällt schwer. In der Tat ist es in der exegetischen Praxis kaum möglich, diese Formen der Selbstbezüglichkeit passgenau zu unterscheiden. Bei dieser – schon wiederholt getätigten – Aussage möchte ich bleiben, gleichwohl aber dennoch den Versuch unternehmen, poetische Phatik und poetische Metasprache als ein eigenes Register zumindest theoretisch zu bestimmen und folglich zu unterscheiden. Für die poetische Phatik bietet sich immerhin ein relativ klares Konzept an. Wenn es in ihr spezifisch um die Medienstruktur des poetischen Textes geht, dann bestünde ihr Thema in der selbstreflexiven Darstellung der Materialität https://doi.org/10.1515/9783110775570-010
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der Prosatexturen auf der Ebene der Nachrichtenkanäle. Es würde also bei der poetischen Phatik auch vom Schreiben und vom Lesen die Rede sein, dies aber in medientheoretischer Konkretheit. Julia Kristeva mit ihrem Begriff der écriture-lecture würde mithin nicht unter die poetische Phatik fallen, weil es hier um ein kulturtheoretisches und poetologisches Konzept geht. Wenn aber von den ganz konkreten Materialitäten der Textualität die Rede ist, also etwa von der Frage, ob mit Bleistift auf Papier geschrieben, ob ein Computer benutzt, ob der Text lektoriert wird, wie die Verhandlungen mit dem Verlag aussehen und wie die Buchgestaltung stattfindet, dann liegt eine Bezugnahme auf die konkrete Materialität der Schreibszene vor. Auch die Marktbedingungen, also etwa Werbekampagnen und im Schreibprozeß kalkulierte Rezeptionsfragen gehören zum erweiterten Kreis der Schreibszene. Sie deckt sich mithin nicht mit der Frage der allgemeinen Poetik des Lesens und Schreibens. Die medientechnisch konkrete Materialität der poetischen Produktion (poetische Phatik) umfasst erstens die Schreibszene im allerengsten Sinne, also in der Regel den Schreibtisch und die Schreibmaterialien, zweitens die Materialität in einem weiteren Sinne, also die Wohnung und die Lebensumstände, dazugehörend auch die ökonomische Situation und drittens die Materialität im markttechnischökonomischen Sinne, also die Gegebenheiten des Buchmarktes, der Verlagssituation und der eigenen Existenz als Autor. Diese drei Felder buchstabieren die Schreibszene in einem konkreten Sinne aus, und folglich lautet die Behauptung, dass Prosatexte an diesen Realitäten teilhaben, sie darstellen und sie als Bestandteil der poetischen Grammatik in ihre Textpolitik aufnehmen. Man wird allerdings sagen können, dass diese konkreten Aspekte der Schreibszene ebenso Teil des autobiographischen Substrats (poetische Emotivität) sind. Tatsächlich sprechen viele Texte der avancierten Prosa sehr umfangreich von ihren Schreibszenen. Für die poetische Metasprache gilt noch radikaler als für die poetische Phatik, dass durch die Selbstreferentialisierungen von Autorschaftsfunktion, dargestellter Welt und Rezeptionsvorgang jeder thematisch dargestellte Zug immer schon auch ein poetologischer ist. Deshalb bleibt für die poetische Metasprache nur die lakonische Bestimmung übrig, dass angesichts radikalisierter Selbstbezüglichkeit grundsätzlich jede Textsequenz unter dem Verdacht steht, eine zu sein, in der die immanente Poetik des Textes allegorisch artikuliert wird. Wenn jemand vor einer verschlossenen Tür steht, kann damit die Verschlossenheit des Textgebäudes symbolisiert sein; wenn jemand einen Spaziergang macht, kann damit die Begehung einer Texttopographie gemeint sein; wenn eine Figur sich in einem Gewitter wiederfindet, kann damit das poetologische Paradigma des Erhabenen heraufzitiert sein; eine Fahrt mit der Fähre oder ein Gang über eine Brücke kann zur Metapher für Übersetzung werden – grundsätzlich ist kaum eine thematische Sequenz eines Textes davor gefeit, im Sinne solcher poetologischer Allego-
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resen ausgelegt zu werden, zumal wenn es sich um Texturen mit starker Selbstbezüglichkeit handelt. Die poetische Metasprache weitet also die Selbstanwendung des Textes auf sich selbst auf den gesamten Text aus und bleibt nicht nur bei den Fragen der Senderfunktion, der Empfängerfunktion, der Konstituierung der poetischen Welt und der Schreibszene stehen. Diese Überlegungen zeigen, dass sich poetische Phatik und poetische Metasprache theoretisch durchaus vom allgemeinen Charakter stark selbstreferentieller Prosatexte abheben lassen. In der exegetischen Praxis dürfte sich diese Unterscheidungsarbeit allerdings verschleifen. Es ist müßig, angesichts einer konkreten Schreibszene in einem Text darüber zu räsonieren, ob sie zur poetischen Phatik oder zum autobiographischen Substrat gehört. Das re-entry-Kalkül scheint bei fortlaufender Selbstanwendung die anfängliche distinktive Kraft zu verlieren. – Diese Bemerkung sei die Begründung dafür, poetische Phatik und poetische Metasprache nicht in extenso zu erörtern.
11 Poetik des Prosa-Worts: poetische Etymologie Avancierte Prosatexte sind radikal auch darin, die integrale Einheit des Wortes in Frage zu stellen. Fischarts Geschichtklitterung nutzt die Situation der Übersetzung von Rabelais’ französischer Vorlage nicht nur dazu, den deutschen Wortschatz zu erweitern. Poetologisch interessanter sind seine Verschmelzungen von Wortspiel und Etymologie (Schank 1978), die durch die Übersetzung in eine Szene der Mehrsprachigkeit versetzt werden. So sieht eine Definition des Poeten beispielsweise wie folgt aus: O ihr Potulente Poeten, potirt der pott und bütten, unnd potionirt euch potantlich mit potitioniren, compotiren unnd expotiren, dann potiren und appotiren kompt von petiren und appetiren, unnd pringt potate poesei, dieweil potantes sind potentes. Unnd Potentaten sind Potantes. (Fischart 1963, 29)
Fischart bastelt wortspielerisch ein Ensemble von Scheinetymologien: Lat. potulentus (trinkbar), lat. potiri (teilhaftig werden), lat. potio (das Trinken), lat. potare (sich volltrinken), lat. potitare (saufen) hängen mit dem Trinken zusammen, letztlich also mit dem Topos der poetischen Inspiration infolge der Trunkenheit. Lat. potesse (können, vermögen) verweist hingegen auf das Vermögen zur Dichtung (poiesis und poeta) (vgl. Fischart Glossar, 36). Die ähnlich klingenden deutschen Wörter Pott (Topf) und Bütt (Bottich, Weinfass) vervollständigen eine Textur, die, laut gelesen, vor allem durch intensive Klanganalogien auffällt. Dem näheren Blick erschließen sich aber Umdeutungen des Wortmaterials. So handelt es sich bei »potionirt« wohl um eine Falschschreibung von portioniert, womit das Einteilen des Getränkes gemeint ist. Trinken wird sodann auf den Appetit zurückgeführt, die Trinkenden werden zu denjenigen, deren Können zur Poesie führt. Diese ganze Serie von Scheinableitungen motiviert sich aus einem Wortbestand, in dem lateinische, deutsche, französische und ggf. altgriechische (poiesis) Herleitungen benutzt werden. Das Wort ist die Keimzelle einer solchen Textexpansion. Dabei wird aber das Wort selbst nicht als feste Basisgröße zugrunde gelegt, sondern zum Material einer umfassenden Manipulation. Fischart bildet unter den Prosaautoren mit diesem Verfahren keine Ausnahme. Jean Paul hat dem Wortbestand eine ganze Abhandlung gewidmet (Über die deutschen Doppelwörter, 1820), und schon in der Vorschule der Ästhetik befassen sich einige Kapitel mit dem Stilbegriff und der deutschen Sprachgeschichte. Dort findet sich das bemerkenswerte Plädoyer gegen den Sprachpatriotismus der Sprachreiniger und für die Internationalität der Sprache im Sinne einer »Gastfreundlichkeit für ausländische Wörter« (JP I/5, 310): »Wenn wir unhttps://doi.org/10.1515/9783110775570-011
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sere Sprache aus allen Sprachen brauen: so bedenke man, daß es darum ist, weil wir eben aus allen lernen und wir ein Allerweltvolk sind, ein kosmopolitisches.« (JP I/5, 309) In der Folge dieses Arguments löst sich bei Jean Paul das jeweilige Wort aus dem Kontext der deutschen Sprache heraus und betritt den Raum der größeren Sprachfamilie. Zugrunde gelegt ist also im Inneren des Wortes eine Mehrsprachigkeit, die von Jean Paul ganz selbstverständlich in Anspruch genommen wird. Brisant wird diese Vielsprachigkeit, wenn sie mit dem Wortspiel gekreuzt wird (s. Vorschule, § 52). Jean Paul unterscheidet akustischen von semantischem Witz und deutet den akustischen als »Vexierbild«, das mitunter aus der Überschneidung von unterschiedlichen Sprachen resultiert: Was ist aber das Wortspiel? Wenn der unbildliche Witz meistens auf ein gleichsetzendes Prädikat für zwei unähnliche Subjekte auslief, das nur von der Sprache den Schein der Gleichheit erhielt: so kommt ja der optische und akustische Betrug des Wortspiels gleichfalls auf ein solches Vexierbild hinaus, das zwar nicht sinn-, aber klangmäßig zweien Wesen angehört. Daher oft in der einen Sprache das unbildlicher Witz ist, was in der andern ein Wortspiel ausmacht; z. B. wenn Foote auf des Lords Frage, ob er früher am Galgen oder an der Lustseuche sterbe, versetzt: »Es kommt bloß darauf an, was ich früher annehme (embrace und embrasser), Ihre Grundsätze oder Ihre Geliebte« – so ist dieser Einfall gerade bei uns kein Wortspiel, da wir nicht sagen: Grundsätze umarmen. (JP I/5, 192 f.)
Dieses Wortspiel basiert auf der Klangähnlichkeit der französischen Wörter, während Jean Paul die deutsche Übersetzung mitsamt dem das Wortspiel ermöglichenden französischen Wortbestand gibt, sodass die zitierte Stelle zugleich Übersetzung, Rückübersetzung, Witz und Witzerklärung ist. Würde man nun durch Taktiken der Falschschreibung die Klammer weglassen und im Deutschen eine Möglichkeit finden, die Mehrsprachigkeit der Sprache im Wort selbst durchscheinen zu lassen, dann wäre man bei Arno Schmidts Etymsprache (s. u.). Jean Pauls Beispiel für die Kunst des Falschschreibens zitiert einen genialen Kritiker, der sich erlaubte, »aus dem falschschreiberischen »Krietik« eines Gegners Kriegtic zu machen, also vier Sprachen zu rufen – die heterographische, das deutsche g, die Abteilung, die englische – « (JP I/5, 194). Jean Paul geht aber entschieden weiter, er stellt die Frage nach der poetischen Funktion98 und bietet als Antwort seine Variante der poetischen Etymologie (Jakobson 1979, 111) an: »[…] denn wenn in der Ursprache stets der Klang des Zeichens der Nachhall der Sachen war: so steht einige Ähnlichkeit der Sachen bei der Gleichheit ihres Widerhalles zu erwarten« (JP I/5, 193). Diese For-
»Spielt denn nicht die ganze Poesie, erstlich mit Bildern, dann mit den Klängen des Reims und Metrums?« (JP I/5, 193).
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mulierung wird wenige Zeilen später mit ihrem Gegenteil konfrontiert, wenn der Reiz des Wortspiels im »Zufall, als wilde Paarung ohne Priester« (JP I/5, 193) gefunden wird. Ursprache und Zufall: Das passt nur noch humoristisch zusammen. Etymologie und Wortspiel finden mithin als widersprüchliche Vereinigung von Motiviertheit und Arbitrarität am selben sprachlichen Ort statt: im Wort selbst. Das Wortspiel koppelt durch phonetische Motiviertheit an die Ursprache an, ist aber de facto dem Zufall von Klangähnlichkeiten geschuldet, welche umso öfter auftreten, je mehr Sprachen ins Kalkül gezogen werden. Die mit Fischart und Jean Paul kurz referierten Wortbasteleien unterscheiden sich durchaus von Bachtins Poetik des vielstimmigen Wortes. Bachtin (1979) spürt im Wort divergierende Intentionalitäten auf, die durch den sozialen Gebrauch entstehen, sodass der primären Denotation eine Reihe an Konnotationen hinzugefügt werden. Solche Vielstimmigkeit ist hier nicht gemeint. Erst Kristevas Radikalisierung von Bachtin im Konzept des Paragramms (Kristeva 1972a) nähert sich dem Prosawort an, trifft aber dennoch nicht die radikale Spreizung im Innern des Wortes, welche aus Übersetzung, immanenter Mehrsprachigkeit, Scheinetymologie, phonetischer Analogie und semantischem Witz entsteht. In dieser Kombinatorik sind das Wortspiel ebenso wie das Anagramm schlicht eine in der Sprache liegende Wahrscheinlichkeitsoption (vgl. Starobinski 1980), eine strukturelle Matrix. Im Leben Fibels wird es lakonisch ausgesprochen: 24 Buchstaben können 1 391 724 288 887 252 999 425 128 493 402 200 mal versetzt werden (JP I/6, 489)
Aus diesen Versetzungen entstehen alle auf diesem Alphabet basierenden Sprachen sowie alle dadurch möglichen Analogien. Das einzelne Wort verfügt somit nur scheinhaft über eine feste Form. Tatsächlich birgt es den ganzen kombinatorischen Mechanismus in sich, der zu seiner Entstehung führte und der im Wortinneren eine komplexe, kaum je eruierbare Matrix von kleinen differentiellen Entscheidungen impliziert. Das Prosawort arbeitet daran, diese Tiefenschicht zu heben, freilich einzig in humoristischer Absicht. Schmidts Verschreibkunst und Jean Pauls »falschschreiberische Krietik« erheben keinen wissenschaftlichen Anspruch auf etymologische Richtigkeit. Im Gegenteil, indem sie Etymologie von vornherein als Scheinetymologie auftreten lassen, entwickeln sie die Ansicht, dass wilde Semiose die jeder Regelung vorangehende Wahrheit sei. In Finnegans Wake findet sich das Kofferwort: Bababadalgharaghtakamminarronnkonnbronntonnerronntuonnthuuntrovarrhounawnskawntoohoohoordenenthurnuk (Joyce 1950, 3)
Es enthält zehnmal das Wort Donner, zusammengesetzt aus zehn verschiedenen Sprachen. Joyce invertiert das Verfahren des Prosaworts, indem er die in-
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terlinguale Substanz explizit macht. Statt in einem Wort durch Verschreibkunst die anderen Wörter anzudeuten, lässt er sie aus der Latenz hervortreten. Jean Pauls ›Krietik‹ ist nur die Kurzform, im Wort versteckt sich ein ganzes wildes Paradigma, das, in die syntagmatische Verlaufsform überführt, ein langes Wort ergeben würde. Wenn Prosa derart die Worte auffächert, werden sie äquivalent zu sich selbst. Sie setzen ihre innere Pluralität als ihre Selbstreferenz, indem die in ihnen angezeigten anderen Worte stets aus einer Äquivalenzbeziehung entspringen. Der Zug avancierter Prosa zu grundsätzlich starker Selbstbezüglichkeit erfasst mithin auch das Prosawort. Wie bei allen anderen Ebenen der poetischen Funktion besteht die Voraussetzung solcher Selbstbezüglichkeit in einer vorangehenden Zergliederung und Aufspreizung. Wie ist also das poetische Wort in Bezug auf den Grundschematismus der poetischen Funktion zu denken?
11.1 Poetisches Wort und poetische Funktion Die grundlegende Grammatik der poetischen Selbstreferenz ist mit den fünf reentries in die poetische Funktion ausgewiesen. Die möglichen Selbstverhältnisse des poetischen Diskurses erschöpfen sich aber nicht in dieser Matrix. Wahrscheinlich lassen sich poetische Selbstreferenzen aus prinzipiellen Gründen nicht vollständig erfassen und systematisch, am besten gar in einer Typologie, darstellen. Wenn Sprache das Organon der signatura rerum ist,99 dann kann jedes sprachliche Phänomen auf jeder linguistischen Ebene mit jedem Phänomen auf den anderen Ebenen hinsichtlich qualifizierbarer Äquivalenzen verbunden, mithin als Selbstreferenz gedeutet werden. Die daraus resultierende Kombinatorik ist nicht erschöpfend darstellbar, so wenig wie die signatura rerum begrenzbar und finalisierbar wäre. Die Linguistik unterscheidet typographische, graphemische, phonetische, phonologische, morphemische, syntaktische, semantische Ebenen. Aber schon diese Aufzählung ist hinsichtlich der Systematik und der Vollständigkeit strittig, erst recht aber die Aufzählung ihrer jeweiligen ›Inhalte‹. Zudem liegen diese Ebenen quer zu anderen kulturellen Archiven der sprachlichen Selbstbezüglichkeiten, z. B. der Rhetorik. Letztlich würde eine Erfassung dessen, was in der Sprache ›poetisierbar‹ ist, mit dem konvergieren, was überhaupt sprachlich bezeichnet werden kann, insofern eine sprachliche Äußerung derart umformulierbar ist, dass sie mit einer anderen eine Ähnlichkeit hat – und sei es auch
Vgl. dazu Agambens Aufsatz Theorie der Signaturen (Agamben 2009, 41–99).
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nur die Anzahl der Buchstaben. Noch radikaler wird man davon ausgehen können, dass die Unterscheidung von wörtlichem Sinn und tropologisch gewendeter Selbstreferenz als solche problematisch ist.100 Dann aber würde sich in letzter Konsequenz die Möglichkeit auflösen, die Benennung von Selbstreferenzen sprachlicher Art überhaupt durchzuführen, weil sie mit der Tätigkeit der Sprache, so zu bezeichnen, dass immer auch die Selbstbezeichnung mitgeführt wird, deckungsgleich ist. Angesichts dieser sehr grundsätzlichen Überlegung liegt eine pragmatische Reduktion der Analyseschichten nahe. Im Folgenden wird von den Ebenen des Wortes, des Satzes und des Textes gesprochen. Diese Eingrenzung folgt den Prosatexten selbst. Sie unterlaufen auffallend oft die in der Dichtung weithin akzeptierte Gegebenheit des Wortes, sie entautomatisieren die Finalform des Satzes und sie etablieren Rekursionsformen auf der Ebene der Textstrukturen. Sehr oft verbinden sich diese drei Artikulationen. Es gibt bei Arno Schmidt Zusammenhänge zwischen der Etymsprache (Wortebene), der Satzform (snapshots) und den textuellen Makrostrukturen, nicht anders bei Jean Paul oder James Joyce. Offenkundig führt forcierte Selbstreferenz zuerst und primär zu einer Zerlegung der vermeintlich naturwüchsigen Einheiten der Sprache, um sodann ihre Elemente mit Hilfe starker Analogien, Äquivalenzen und Selbstreferenzen neu zu gruppieren. Im Fall des Wortes sei zunächst an die ›Kunst der Prosa‹ erinnert. Sofern diese als stiltheoretische Fortsetzung der Rhetorik aufgefasst werden kann (s. o.), erfolgt die Konzentration auf das Wort im Sinne der Tropenlehre der elocutio, in der vor allem die Ersetzung der Einzelwörter (im Gegensatz zu den mehrere Wörter umfassenden Figuren) im Zentrum steht. In der Kunst der Prosa wird das Wort als körnichtes Wort, als Machtwort, als Rückgang auf die Wörtlichkeit der nationalsprachlichen Wörter und ihrer inhärenten Bildlichkeit thematisch (s. o.). Die vorderhand der avancierten Prosa gewidmete ›Theorie der Prosa‹ wird das Wort freilich in radikalerer Weise anzugehen haben. In der Poesie wird das Wort beim Namen gerufen. Roman Jakobson schreibt in Linguistik und Poetik den durchaus nicht selbstevidenten Satz: »In der Dichtung lebt die innere Form des Namens, das heißt der semantische Wert seiner Konstituenten, wieder auf« (Jakobson 1979, 118). Bei zusammengesetzten Wor-
Vergleiche zu dieser Diskussion, vom Standpunkt der Grammatik her, Stockhammer (2014) und, vom Standpunkt der Rhetorik her, Schüttpelz (1996). Das Argument lautet, dass ein grammatisch inkorrekt scheinender Sprachgebrauch ein bewusstes Stilmittel sein kann, sodass Falsches auf anderer Ebene richtig wird. Gleiches gilt für den tropologischen Sprachgebrauch: Die sogenannten rhetorischen Mittel beschreiben Abweichungen von einem unterstellten normalen Sprachgebrauch, die eben dadurch die Lizenz der Richtigkeit erlangen.
11.2 Poetische Funktion als Zerteilung des Wortes
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ten bilden zunächst die einzelnen Worte die Konstituenten, aber Jakobson wird dies nicht gemeint haben. Es sind die Buchstaben, die die Konstitutionselemente des Wortes sind. Aber sie haben als solche keinen semantischen Wert. Dem Schema strukturaler Linguistik gemäß haben die Buchstaben zueinander allein differentielle Werte, der Buchstabe ›A‹ hat per se keine Bedeutung. Die Aussage Jakobsons ist durchaus rätselhaft. Ein paar Zeilen weiter findet sich in Jakobsons Aufsatz die Formulierung, dass die Poetizität »in einer vollständigen Neubewertung der Rede und aller ihrer Teile« bestehen würde: »So wird in der Dichtung jedes sprachliche Element in eine Figur dichterischen Sprechens verwandelt« (Jakobson 1979, 119). Wie fast jedes Theorem der 1960er-Programmschrift bedarf es einer gewissen theoretischen Anstrengung der Rekonstruktion, um diese Sätze zu verstehen und um die Schlussfolgerungen, die zur Frage des poetischen Wortes führen, ziehen zu können. Es sind drei Schritte, die hier notwendig sind. Erstens: Ganz offenkundig denkt Jakobson die poetische Funktion nicht nur als Texterweiterung (amplificatio) infolge der Verdoppelungen und Parallelisierung, sondern auch als Textzerteilung (diaeresis). Die poetische Funktion zerlegt die Worte und bewertet ihre Bestandteile, also die Buchstaben und die Silben, neu. Zweitens: Die Neubewertung der Buchstaben im Wort kann letztlich nur bedeuten, dass sich das zerteilte Wort in seinem inneren Raum neu organisiert. In einem Wort etablieren sich mit denselben Buchstaben weitere Worte. Jakobson nennt dies poetische Etymologie (im Folgenden wird der Begriff der Anagrammatik vorgezogen). Drittens: Man kann die in einem Wort versteckten anagrammatischen Wörter als die Prädikate des Ausgangswortes (Satzsubjekt) deuten, also das anagrammatische Wort als konzentrierten Satz verstehen. Diese Interpretation liegt insbesondere deshalb nahe, weil im poetischen Satz die Relation von Satzsubjekt und Prädikation sowieso schon aufgelöst ist (s. u. Kap. 12) und damit die Möglichkeit eröffnet wird, die Prädikate grundsätzlich auf die Stelle zu projizieren, die in der Ausgangsform des Satzes die des Subjekts gewesen ist.
11.2 Poetische Funktion als Zerteilung des Wortes Der Begriff der Zerteilung wurde schon in den Erörterungen zur Grammatik der Poesie eingeführt und ausführlich debattiert. Durch die drei selbstreferentiellen Funktionen (phatische, poetische, metasprachliche) werden die drei fremdreferentiellen Funktionen (emotive, konative, referentielle) pluralisiert, also einerseits durch amplifizierende Parallelismen vervielfältigt, andererseits gerade durch diese Vervielfältigung auch zerstreut, zerteilt, zerlegt. Mit der transfor-
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mierenden Kraft der poetischen Funktion, die zwischen Materialität (phatische Funktion) und Bedeutung (metasprachliche Funktion) oszilliert, tritt das Moment der Zerteilung in den Vordergrund. Die poetische Sprache ist umso schwerer auf Form hin finalisierbar, je mehr sie Bedeutung auf Sprachmaterialität (et vice versa) abbildet: Der Fortgang der Semantik tritt permanent gegen die Resistenz des Phatisch-Materiellen an, muss sich an einer semantischen Neudeutung materialer Rekurrenzen versuchen und verstrickt sich so zunehmend in enge Selbstverhältnisse. Besonders evident wird diese Dimension der Zerteilung dort, wo die Sprache ihre letzte bedeutungstragende Ebene hat, beim Wort. Wird der Satz oder die Sequenz im Satz zerteilt, dann kann der Text immerhin noch auf das Wort zurückkommen, aber die Zerteilung des Wortes führt zu den Buchstaben, die, zumindest vom Standpunkt der Linguistik aus gesehen, ihrerseits nicht mehr semantisch kodiert sind. Wenn Jakobson die Begriffe »poetische Etymologie« (Jakobson 1979, 111) und »tönende Paronomasie« (Jakobson 1979, 112) benutzt, dann argumentiert er offensichtlich von der Idee her, dass die poetische Selbstreferenz nicht nur in Richtung der Texterweiterung (Amplifikation), sondern auch in diejenige der Zerlegung des Textes in seine elementarsten Bestandteile hinein formierend wirkt (distributio,101 Diärese102). Dies sind, wie angedeutet, in den Wörtern die Phoneme oder, wenn man von der Schriftlichkeit der Texte als der materialen Basis der poetischen Alchemie ausgeht, die Buchstaben.103 Die poetische Funktion weitet also nicht nur das Wort in die Sequenz und die Sequenz in den Text aus, sondern sie geht auch in das Wort hinein und modelliert dessen Bestandteile: In »der Dichtung wird jede spürbare Ähnlichkeit in der Lautgestalt im
Distributio ist zunächst die Gliederung einer ganzen Rede in ihre Teile und Untereinheiten; in diesem Sinne steht sie der dispositio nahe. Später taucht die distributio als amplifizierender ornatus auf, als Verteilung (Distribuierung im logischen Sinne) der Redeteile auf den Redeverlauf. Vgl. Kalivoda 1994. Die Diärese (diaeresis) ist im engeren Sinne die Zerlegung einer einsilbigen Lautfolge in zwei Silben zwecks Einpassung einer Silbensequenz in eine metrische Struktur (Lausberg, 1990, 261; § 486Eʼ)). In einem weiteren Sinne handelt es sich um die auf die Laute bezogene Zerteilung eines sprachlichen Materials. – In der Logik gilt die Diärese (diaeresis) als fortgesetzte Dichotomisierung eines Begriffs. Aber auch die koordinierende Häufung von Unterbegriffen eines Begriffs zum Zweck der Verteilung einer Begriffssemantik oder einer Bildvorstellung in den Redeverlauf kann gemeint sein. Vgl. Peters 1994. Buchstaben sind freilich nicht die schriftlichen Repräsentationen der Phoneme; vgl. Stetter 1999. Aber gerade weil die Buchstaben differenzieren und nicht nur die phoné abbilden, sind sie in der Frage der poetischen Anagrammatik eigens zu behandeln.
11.2 Poetische Funktion als Zerteilung des Wortes
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Hinblick auf die Ähnlichkeit und/oder die Verschiedenheit in der Bedeutung ausgewertet.« (Jakobson 1979, 113) Jakobson findet also zu einem denkbar radikalen Gedanken: Genauso wie die poetische Funktion den Text in allen seinen Ebenen vom Wort bis zur Textgestalt strukturiert, greift sie auch ins Innere des Wortes ein (Simon 2012a). Die Buchstaben oder Phoneme werden als solche motiviert. Liegt diese Motivation der Buchstaben vor, dann arbeitet der Text anagrammatisch (figura etymologica), werden die Phoneme motiviert, arbeitet er klangbildlich (tönende Paronomasie). Es entsteht die Idee einer poetischen Etymologie, also eines Rückganges auf die Wurzeln eines Wortes nicht im sprachgeschichtlichen Sinne, sondern insofern, als der aus Wörtern bestehende Textraum zum Raum materialer Selbstbezüglichkeit wird. Da die Poesie über nichts anderes verfügt als Worte im Modus starker Selbstbezüglichkeit, müssen diese erstens textintern bezeichnen (semantisch-referentielle Funktion als textinterne Deixis am Phantasma, s. Bühler 1978, § 8), zweitens poetisch-materiell aufeinander verweisen (Paronomasie) und drittens in semantischer Hinsicht neu motiviert werden (Anagrammatik). Eine solche (fiktionale) Textwelt erlangt ihre Stabilität also unter anderem aus den sie gleichsam fixierenden Worten, mithin einerseits aus den Rekurrenzen der sich verwurzelnden sprachlichen Grundideen der Texte, andererseits aus den Ähnlichkeiten der Worte untereinander. In diesem Sinne sind die Worte zwar die Operationsmodi des Textes, zugleich aber die Namen des fiktionalen Raumes: Sie bezeichnen nicht nur, sondern sie sind auch die Benennung ihres Tuns. Jakobson hat dies auch so ausgedrückt, dass in der Poesie jedes Wort als zitiertes auftritt: »Jede poetische Mitteilung ist eigentlich zitierte Rede mit all den eigentümlichen und verwickelten Problemen, welche die ›Rede innerhalb der Rede‹ dem Linguisten auferlegt.« (Jakobson 1979, 111) Als Oberbegriff für diese Überlegungen sei der Terminus ›poetische Anagrammatik‹ benutzt. Es wird hier schon deutlich, dass der Begriff nicht allein im herkömmlichen, engeren rhetorischen Sinne der Buchstabenumstellung mit exakt identischem Buchstabenmaterial gedacht wird. Sofern poetische Anagrammatik für die diäretische Anwendung der poetischen Funktion auf das Wort steht, wird man das poetische Namennennen vom engeren Terminus der Anagrammatik loslösen müssen und ihn zu erweitern haben.104 Die poetische Funktion geht also in das Innere des Wortes hinein, sie nennt die Worte beim Namen oder besser: bei dem Namen, der ihnen im inneren Eine solche Erweiterung schlägt Haverkamp (2000) vor, wenn er mit Starobinski (1980) argumentiert, dass letztlich die ganze materielle Substanz eines Textes zugleich der Inbegriff seiner kombinatorischen Formulierungsmöglichkeiten ist, Anagrammatik mithin die unauslotbare Latenz (Haverkamp 2002) aller im Text auftauchenden Phänomene ist.
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Raum der jeweiligen Textwelt gegeben ist. Diese Gegenbewegung sei hier nochmals betont, sie ist für eine Theorie der Prosa entscheidend. Tatsächlich ist es ein eigener Denkakt, die poetische Funktion primär als Zerteilung und ihre Leistung zuerst als Dekonstruktion des Satzes, dann als zergliedernde Analyse des Wortes zu verstehen. Jakobson selbst hat, wie seine Orientierung an der Lyrik zeigt, zwischen poetischer Form und Poetizität qua Selbstreferenz keinen Konflikt gesehen und folglich wohl die Zergliederung immer nur als Durchgangsstation neuer und formkompatibler Konstruktionen aufgefasst. Dass die poetische Funktion aber in der grundsätzlichsten Weise invers gehen kann und muss, sich nach innen wendet, dass sie zergliedert, statt am Parallelismus orientierte Kohärenz zu schaffen – diese Dimension zu sehen und zu theoretisieren, lag nicht in Jakobsons Horizont. Das boustrophedonische Momentum der Prosa erfordert aber eine solche Freilegung der in Jakobsons Theoremen implizit in Anspruch genommenen Konzepte. Machen die Texte die Zerlegung als Basisoperation explizit? Dass sich im poetischen Text vor allem auf der Ebene der Eigennamen des literarischen Personals eine große Spannweite zwischen anagrammatischer Permutation und sprechenden Namen findet, bedarf keines eigens geführten Nachweises.105 Wenn aber Prosa nach der hier vorgetragenen These ihre Grammatik auf der Textbühne eigens darstellt und sogar in dieser Darstellung ihre wesentliche Tätigkeit erblickt, dann wird sie die Ebene der Anagrammatik auch schon in der Dimension der bloßen Zerteilung aufzeigen. Ein Schlüsseltext ist in dieser Hinsicht – erneut, aber jetzt unter anderem Gesichtspunkt –Arno Schmidts Kühe in Halbtrauer. Zwei Männer bereiten in der Heide eine neu gekaufte Hütte zum wochenendlichen Ferienaufenthalt vor, das baldige Eintreffen ihrer Ehefrauen erwartend. Dabei hantieren sie mit einer Kreissäge, unter anderem um Eisenbahnschwellen zwecks Gewinnung von Brennholz zu zerkleinern. Als die Ehefrauen erscheinen, sind die beiden wegen des permanenten Lärms taub geworden. Die kleine Geschichte beginnt mit einer Reflexion über das Entstehen der »Mienen = und Gebärden = Sprache« (Schmidt BA I/3, 337). Diverse Theorien werden ausgeschlossen – so die Kommunikation von aggressiven Nachbarskindern, Dieben oder abhörgefährdeten Politikern –, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, »daß es zwei ältere Männer an der Kreissäge
Für die Jean-Paul-Forschung hat Eduard Berend (1942) eine materialreiche Studie zur poetischen Namengebung vorgelegt, die den Vorteil hat, rein positivistisch zu sein und somit der anagrammatischen Lektüre offenzustehen. Sprechende Namen finden sich in Wilhelm Raabes Werk allerorten, angefangen bei Stopfkuchen alias Schaumann über Velten Andres (andere Welten) bis hin zu Noah Buchius. In allen diesen Fällen stehen Studien aus, die die anagrammatische Verteilung der sprechenden Namen in der Textualität nachweisen.
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gewesen sein müssen; nach ungefähr 40 Minuten« (ebd.). Somit erzählt der Text die Genese einer gestischen Sprache aus einer Sprache der Zerkleinerung, die tatsächlich bis an die Wurzeln (Etymologie) reicht. Das holzig-waldige Material wird so beschrieben: Also die Stämme stapelten hoch und schwarz, die Schwellen höher & noch=schwärzer. Auch ‹Wurzelholz› lagerte im Geländ’, tatzig, von Menschen nimmermehr zu zerkleinern – da selbst Otje, total frappiert ob der bestialischen Formen, vom ‹grafischen Element im Winter› gefaselt hatte, enthielt ich mich, jeglicher Überstimmung gewiß, des hier zuständigen Ausdrucks: mit der Nervenkraft kann man Besseres anfangen. Noch bedeckte ein ‹abgebrochener› Feldschuppen den Boden; Bretter, Latten, Ständer; alles, (wie hätte HOMER sich sehr richtig ausgedrückt?) ‹reichgenagelt›: »Sag bloß davon nichts dem Sägenbesitzer!« (Schmidt BA I/3, 340)
Schon das Wortspiel von Eisenbahnschwellen und Bahnkörper (Schmidt BA I/ 3, 340) führt auf den Schwellkörper, der das eigentliche Ziel der Kreissäge ist. Die Sprachzerkleinerung findet in tiefstem Symbolgelände statt. Eingeschaltet sind Erzählungen der beiden Freunde über ihre Militärzeit im Zweiten Weltkrieg: einerseits die Geschichte von der absichtlichen Fehlberechnung nach einem Schießbefehl mit der Folge des Danebenschießens (Schmidt BA I/3, 346 f.), andererseits eine sehr chiffrierte Erwähnung von Feldbettgestellen unter Bedingungen des Eingesperrtseins und der Kriegsgefangenschaft (Schmidt BA I/3, 339) mit dem Hinweis auf Brüssel (Schmidt BA I/3, 347). Die Dechiffrierung führt auf den Zusammenhang von sexueller und militärischer Aggression, auf den mit Impotenz und Danebenschießen (im doppelten Sinne) zu antworten ist. Schmidt war in Brüssel in Kriegsgefangenschaft, ein enger Motivzusammenhang lässt eine homosexuelle Vergewaltigung mutmaßen (»(Und die Erinnerungen ‹Militär› und ‹Bettstellen› hatten wir noch gratis: jede einzelne davon hätte genügt, uns Halb = Greise bis an unser Lebensende zu beschäftigen!)«, Schmidt BA I/3, 338 f.). In Verbindung mit dem Zeugungsverbot der Gnosis resultiert eine Sexualität, in der das Ejakulat danebengeht, unterbrochen oder anal fehlplatziert wird, so wie, übertragen, im fehlgeleiteten Schießbefehl. Dass die Männer die Kreissäge am tertium comparationis der Schwellkörper ansetzen, ist insofern eine angemessene Tätigkeit und negiert das Schießenkönnen militärisch und sexuell. Die traumatische Erfahrung, die offenkundig nur chiffriert formuliert werden kann, bringt sich in einer verstummenden Sprache zum Ausdruck (um es angemessen paradox zu formulieren). Denn die Kreissäge zerkleinert ihr Material – den Stoff im eigentlichen Sinne: Holz, hyle, materia –, das Wurzelholz ist. Es geht der Sprache an die Wurzeln, den Worten also an die Buchstaben. Zunächst entstehen daraus schlüpfrige Kalauer, etwa wenn »‹reichgenagelt›« als obszöner Ausdruck des Geschlechtsverkehrs lesbar wird, der, aus Latten
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und Ständern bestehend, homosexuell ist, wie der leicht verschobene Dichtername (Homer = Homo) mutmaßen lässt. Dann aber wird die Sprache gestisch, die Kreissäge übernimmt (zu Beginn von Kaff ist es ein Mähdrescher): Ich schob verwildert den Unterkiefer vor; schritt hinum zum Hebel; und ruckte machtvoll – (voll Macht; voll=macht Schrumm) –: ?. / – –: ?? – /: ! : sss=SSS=SSSIII – und der naja‹Klang› durchpfiff derart bös die feuchte Stille, der Apparat vibrierte derart heftig, daß wir doch erst erneut unsern Mut zusammennehmen mußten. /: »Erst die dünnsten Stangen, ja? –« – : – –. /: – – ! /: – – –: –: !!! – Ei das ging ja scharmant! (Schmidt BA I/3, 345)
Der sprachliche Kastrationsakt wird recht explizit gemacht, wenn eine Eiche (Penis-Eichel) förmlich wie Wunderkerzen sprüht und unvermittelt der Bezug zu zwei Wörterbüchern hergestellt wird.106 Kühe in Halbtrauer berichtet von einer denkbar radikalen Selbstreferenz, sie schneidet in den entblößten Leib der Sprache: »Ein Krach wie im Kriege? O ja!« (Schmidt BA I/3, 346). Die boustrophedonische Gegenwendung ist hier eine gegen den Kern der Transgression. Wenn der Satz seiner Form folgend über sich hinaus zum nächsten Satz drängt, dann ist die eigentliche Triebmacht des Über-sich-hinaus-Gehens als die wohl grundlegendste Transgression zweifelsohne die Sexualität. Sie, die männliche, bekommt es in Schmidts Text mit der Kreissäge zu tun. So wird tatsächlich die engste Selbstbezüglichkeit an der unmittelbarsten Materialität durchgespielt: Der Versuchung zum Faschismus kann nur durch die Zerstörung eines jeglichen Formtelos begegnet werden, so die implizite These des abgründigen Textes. An die Stelle der Sexualität tritt die Sprache, an die Stelle der Satzform die stumme Gestik, an die Stelle des Wortes dessen Zerlegung in seine Wurzeln (Schmidts Etyms). Grundsätzlicher lässt sich wohl eine inverse Bewegung als Gegenposition der über sich hinaus treibenden Form nicht denken. Kühe in Halbtrauer bietet keine neue Synthese für die fragmentierte Sprache, im Gegenteil. Bei Schmidt ist jede neue Position immer noch schlimmer als die vorangehende. Kühe in Halbtrauer ist in diesem Sinne als die Schlüsselerzählung lesbar, die zu Schmidts Etymsprache führt, also zur durchgängigen Anagrammatisierung der Wörter – und es ist deutlich, dass bei Schmidt die Ausgangsgröße für die Etymsprache das Wort ist. In Jean Pauls abgründigster Reflexion zur Materialität der Sprache – im Leben Fibels – wird ein vergleichbar grundsätzlicher Rückgang hinter die Semiose ver »Es sprühte & schrillte & fiff, im treibriemigen Zug = Wind. –: »Mensch; das’ss doch noch Eiche!!« (Denn die Eisenbahnschwellen wunderkerzten förmlich! »Ob das aber Tropsch = Lüssack recht sein wird?«: »Scheiß Gay = Fischer!«). Meinethalben.« (Schmidt BA I/3, 346) – Zu den zitierten Wörterbüchern s. o. – Zur Forschung zu Kühe in Halbtrauer vgl. Czapla 1993, 142–159; Goerdten 2011, 41–65.
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sucht.107 Jean Paul projiziert in diesem Text die barocke Epistemologie auf die romantische – also in Bezug auf die Leselernmethoden die Buchstabiermethode auf die Lautiermethode –, aber ohne dabei eine sinnvolle Synthese formulieren zu können oder auch nur zu wollen. Fibel, der Protagonist, ist die Personifikation der Leselernfibel, mit der die Kinder in die Schrift eingeführt werden. Es konkurrieren zwei Leselernsysteme: die alte Buchstabiermethode, bei der die Kinder die Buchstaben einzeln, unterstützt von Merkbildern, lernen und die neue Lautiermethode, die ein kontexteingebundenes Nachsprechen oder besser Nachsingen der Buchstabensequenzen in das Zentrum stellt. Die rationalistische Buchstabiermethode basiert auf der barocken ars combinatoria, die romantikaffine Lautiermethode auf einer Pädagogik der transzendentalen Nachahmung (vgl. dazu Kittler 1995, 37–68). Jean Pauls Trick besteht darin, Fibel in einen romantischen Kontext zu versetzen, ihm aber letztlich einen sprachlichen Atomismus zuzuschreiben, dem die rationalistische Syntheseform abhandengekommen ist, während er gleichzeitig in das Ganzheitsverständnis der romantischen Epistemologie nicht hineinkommen kann. So ist es vor allem eine vollständige Atomisierung und Zerlegung der Sprache, die den dann folgenden Synthesen vorangeht. Schon zu Beginn des Textes wird der Konflikt deutlich. Der Vater, ein Vogler, spricht die Sprache der Natur, wenn er die Vögel versteht und sie mit seiner nachahmenden Stimme anlocken kann. Die inhaltsleer schwätzende Mutter hingegen vertritt die gesellschaftliche Form der Sprache, als bloße Konventionalität. Damit ist die Genderkodierung vertauscht: Die romantikaffine Natursprache müsste eher der Mutter, die gesellschaftliche Rationalität dem Vater zukommen, der freilich die Natur betrügt, wenn er gefangene Vögel anmalt, um sie als teurere Exemplare verkaufen zu können. So ist die Natursprache also nicht am mütterlichen Ort der Symbiose und am Ort des Vaters ist keine Sprache der symbolischen Ordnung. Fibel steht mitten inne zwischen zwei Sprachkonzepten, deren Gendercharakteristik er zudem nicht richtig zuordnen kann. Seine Schrifterfindung resultiert aus diesem symbolisch leer gelassenen Raum. Bei einem Weihnachtsfest verfertigt er willkürliche Alphabete, mit denen er sich selbst beschert. Diese erste Schreibszene ist komplex. Gebacken werden Marzipanbüchlein; Fibel schreibt in Form des Backens dazu Alphabete, während die Mutter schläft. Es handelt sich also nicht um eine Lautierszene; die Mutter bleibt stumm. Sie hält zum Beten an, aber erst nach Fibels Schriftübungen. Sie initiiert nicht das Lautieren, das tut de facto der Vater mit seiner Natursprache, die aber zugleich durch die Prügel des verstörten Kriegsveterans verstellt ist. Fibels rein formale Schriftübung ist das Ergebnis davon, dass die Mutter ansonsten
Vgl. zum Folgenden Simon 1991/1992, dort auch mit Hinweisen auf die Forschung.
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nur schwätzt, aber keine symbiotische Bindung von Sprache und Mütterlichkeit eingeht und dass der Vater eine Natursprache führt, die jedoch die symbolische Funktion ausfallen lässt. Als misslungene Ehekommunikation wird die Tautologie der Form zu Fibels Sprachszene, die nichts als reine Materie (Backwerk) erzeugen kann. Jean Paul inszeniert einmal mehr den satirischen Zusammenfall von abstrakter Form und bloßer Stofflichkeit. Als reale Gabe des Weihnachtsfests wird die vertrackte Szene zudem ontologisiert. Klar wird, dass bei dieser Schriftproduktion keine Semiotik im Spiel ist: Als Backwerk sind die Buchstaben nur Stoff – der zudem aufgegessen wird –, der Schrift fehlen die konventionellen Bedeutungen (die sonst schwätzende Mutter schweigt) ebenso wie die Naturtöne. Fibel erfindet also vollkommen leere Zeichen (schon das Wort ›Zeichen‹ ist in dieser Formulierung unpassend). Diese Grundparadoxie einer andauernden Produktion von Signifikanten ohne Signifikate wird im Text umfassend durchgespielt: Fibel nimmt in der Kirche Geld ein, versteht aber den Inhalt der Predigten nicht; das Geld wird zur Materialität ohne Referenten. Makulaturblätter werden gegen ihren Inhalt rezipiert, wenn Fibel sie personalisiert und substantialisiert. Da in einem Buch ›gedruckt‹ steht, wird ein Herr Gedruckt unterstellt (Paratexte wörtlich nehmen); eine gelehrte Feder wird einem Vogel ausgerissen (Redensart wörtlich nehmen); infolge des Lesens des Staatskalenders wird die Ordnung des Staats bewundert (ein Adressverzeichnis als Weltmodell nehmen). So zirkulieren in diesem Text sinnlose Produktionen: angehäufte Totgeburten der Mutter, durch einen gefundenen Ring erworbenes, aber zurückgehaltenes Geld als leere Produktivität, schließlich die Lektüre eines erstandenen Buches ohne jedes inhaltliche Verständnis. Fibels Sprachübung entspringt aus der unmöglichen Überblendung zweiter Epistemologien, nämlich einer rationalistischen Episteme der Sprachatomisierung, der jedoch die Kombinationsregeln abhandengekommen sind, und einer transzendentalen Episteme, die das generische Leistungsvermögen der romantischen Natursprache in Anspruch nimmt, ohne jemals durch den Muttermund der FRAU (Kittler 1995, 68–88) sozialisiert worden zu sein. Entscheidend ist der ABC-Traum Fibels, der ihn zur Erfindung der Fibel führt. Fibel gewinnt eine Möglichkeit, das mechanische Syllabieren der Buchstabiermethode zu reformieren. Dort besteht das Problem, dass die Nennung der Buchstabennamen nicht zur Artikulation des Wortes führt. Indem Fibel den Buchstabennamen flexibilisiert oder besser: permutiert (h als ausgesprochenes ha zu hi, hu, ho, he etc.), kann er die Artikulation des Buchstabens der Artikulation des Zielwortes annähern. Das Syllabieren gewinnt also Effekte der Lautiermethode, ohne dass das Buchstabieren mit seinem rationalistischen Prinzip der Kombinatorik preisgegeben werden müsste. Damit bleibt Fibel beim unverstandenen Buchstaben, gewinnt aber die Option, eine Fibel zu entwerfen, für
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die er das Druckprivileg ergattert, also zum Monopolisten auf dem Markt für das elementarste aller Schulbücher wird. Der Kreis schließt sich, wenn nach der Fiktion des Textes alle jetzt lesenden und schreibenden Menschen diese basale Kulturtechnik mit Fibels Fibel erlernt haben: ein Aufschreibesystem, das vollgültig als präzise Parodie von Kittlers ›Aufschreibesystem 1800‹ durchgehen kann. In der Lobrede des Magister Pelz wird Fibel zur transzendentalen Ermöglichungsbedingung der Schriftkultur überhaupt: Er hat das Abcbuch gemacht. Wer schon bloß bedenkt, was Buchstaben sind und wie sie einen Kadmus durch ihre Erfindung unsterblich gemacht – und Fibel hat sie bekanntlich forterhalten und gelehrt, Erhaltung aber ist zweite Schöpfung, conservatio altera creatio –; wer nur gelesen, daß unbedeutende Menschen schon dadurch auf die Nachwelt gekommen, daß sie den vorhandnen Buchstaben noch einige hinzuerfanden, z. B. Evander, der den Römern aus dem Griechischen die Buchstaben h r q x y z zuführte, indes unser Fibel auch die übrigen 18 darbringt – wer nur obenhin erwägt, daß über diese Vierundzwanziger kein Gelehrter und keine Sprache hinauszugehen vermag, sondern daß sie die wahre Wissenschaftslehre jeder Wissenschaftslehre sind und die eigentliche, so lange gesuchte und endlich gefundne allgemeine Sprache, aus welcher nicht nur alle wirkliche Sprachen zu verstehen sind, sondern auch noch tausend ganz unbekannte, indem 24 Buchstaben können 1 391 724 288 887 252 999 425 128 493 402 200 mal versetzt werden – […] ein Mann, sag’ ich, der nun dies alles überschlüge und addierte, würde schwerlich sich der Frage enthalten: wer ist wohl größer als Fibel? Und doch kann ich dem darüber außer sich seienden Manne antworten: Fibel selber ist größer. Denn dem Höchsten hat er noch ein oder ein paar Giebel aufzusetzen gewußt, und der Mann ist in demselben Abcbuch ein paar hundert Sachen auf einmal; oder wodurch sonst hätte der Selige sich so viele Ehrensäulen aus Sachsen, Franken, Vogtland abgeholt, als daß er nicht bloß Prosaist ist, sondern Dichter, nicht bloß Dichter, sondern Formschneider und Kolorist und Naturforscher und das übrige? (JP I/6, 489 f.)
Nicht ein ABC-Buch hat Fibel gemacht, sondern das ABC-Buch, das Buch der Bücher gewissermaßen – nicht umsonst sind Fibel und Bibel anagrammatisch fast deckungsgleich (die Bibel mit ihren zwei B ist ein bisschen tautologischer als ›Fibel‹). Seine Fibel ist die Meta-Wissenschaftslehre, also das Buch, das selbst der Fichte’schen Philosophie als uneinholbare Voraussetzung vorangeht. Buchstabentheoretisch kann es nichts Geschriebenes geben, das nicht als Permutation von Fibels Fibel denkbar ist. Die Fibel, die im Anhang vom Leben Fibels (JP I/6, 550–562) mitgegeben ist, besteht aus der Tabelle der Buchstaben, der Kombinationstabelle der möglichen Zusammenstellungen von Vokalen und Konsonanten, einigen christlichen Basistexten (die zehn Gebote, das Vaterunser etc.) und schließlich den bebilderten Non-Sense-Merksprüchen zu den einzelnen Buchstaben. Es bleibt dabei vollkommen offen, wie von den Buchstaben zu den Texten zu kommen sei. Fibels Sprachpraxis besteht faktisch in einer puren Materiali-
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sierung der bloßen Schriftelemente, der Buchstaben. Der Schritt zur Schrift selbst, zum sinnvollen Text, bleibt ein Rätsel, für das allerlei vor allem satirische Scheinerklärungen aufgeboten werden, so unter anderem die Alchemie.108 Jean Paul kann mit dem Leben Fibels ein Sprachmodell anbieten, das die reine Materialität der Buchstaben zur generischen Instanz der Literatur macht. Der ganze Text Leben Fibels ist insofern ein einziges anagrammatisches Textuniversum, ein Wörtlichnehmen der Schrift auf allen Ebenen – aber basal vom Wort ausgehend –, und insofern auch eine die Anagrammatik begründende, zugleich aber über sie hinausgehende Meditation zur Materialität. Das Anagramm im engsten Sinne besteht aus der Umstellung von Buchstaben eines gegebenen Wortes. Weiter aufgefasst, kann die figura etymologica zur Anagrammatik gerechnet werden, obwohl sie keine Buchstabenidentität der beteiligten Worte fordert, sondern nur denselben Wortstamm. Auch die Paronomasie als klangähnliches Wortspiel (Fibel/Bibel) gehört ins erweiterte Umfeld der Anagrammatik, ebenso das Polyptoton als Abwandlung der Flexionsform. Tatsächlich geht Jean Paul aber weit über diese Änderungskategorien auf Wortebene hinaus, wenn er Redewendungen und Sprichwörter benutzt, um szenische Einfälle oder literarische Handlungen zu generieren. So untersucht ein Rektor humoristisch die Läuse auf Fibels Kopf, um dem teleologischen Gottesbeweis, nach dem das Allerkleinste und Niedrigste im Gesamtplan Gottes gerechtfertigt sei, Nachdruck zu verleihen (JP I/6, 394 f.). Ein späteres Wortspiel, nach dem eine Laus von einem jugendlichen Kopfe zu heben, bedeute, ihm einen Floh ins Ohr zu setzen (JP I/6, 495), macht die Läuse als Gedanken lesbar, die Fibel so in den Kopf kommen, wie sie auf ihm herumtanzen. Der Kopf ist bei so gedankenintensiven Überlegungen zur transzendentalen Basis der Wissenschaftslehre natürlich ganz unverzichtbar, im Falle Fibels allerdings ist es nur dessen bloßer materieller Zustand. Wörtlich genommene Sprache generiert die Szene und diese die Handlung, denn der Rektor setzt Fibel tatsächlich – sozusagen – einen Floh ins Ohr, nämlich den, sich an der akademischen Sphäre zu orientieren. Poetische Anagrammatik ist also auszuweiten, sie erfasst das ganze Gebiet materieller Manipulationen der Zeichensubstanz mit ihren semantischen Effek-
In Leben Fibels fällt bei der Beschreibung der Buchherstellung in der Fibelmanufaktur eine Farbensymbolik auf, die an die Alchemie erinnert: Die Schwärzung ist die Tintenmischung durch Pelz (Tinte kochen, auch: Text setzen, Text drucken), die Weißung ist die Vergoldung durch Pompier, die Rötung ist Fibels Rotwerden (JP I/6, 458: Fibel wurde blutrot und Pelz würde einen Kessel Druckerschwärze austrinken), später die Abendröte seiner verklärten Altersexistenz. Die Abfolge von Schwärzung, Weißung und Rötung folgt den Grundschritten der Alchemie, vgl. Priesner 2011, 22 f. und Biedermann 1976, 300.
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ten. In allen diesen Zusammenhängen besteht die unverzichtbare Voraussetzung in einer wesentlich nicht semantisch gesteuerten Zerlegung der Sprachelemente, in der rein stofflichen Manipulation auf Wort- oder Buchstabenebene. Jean Pauls Leben Fibels bietet einen Kosmos der Sprachzergliederung und der kurzschlüssigen Semantikeffekte angesichts bloßer Materiekonstellationen. Die Grundidee, rationalistische und romantische Epistemologie so übereinanderzulegen, dass sie gegenseitig Nullpositionen erzeugen, macht deutlich, dass das Zerlegen ein eigener Akt ist, der auch ohne Synthese textgenerativ bleiben kann, wenn nur die Sprache konsequent wörtlich genommen wird. Die aus dieser Erörterung folgende These ist so weitreichend und grundsätzlich, dass sie geeignet ist, ganze Forschungsroutinen in Frage zu stellen. Sie lautet: Zumindest der spätere Jean Paul schreibt seinen Text vor allem als Permutation der materiellen Buchstabenbasis, ebenso wie der spätere Arno Schmidt vor allem die Etyms als den eigentlichen Motor der literarischen inventio betrachtet. Zu lesen wäre vorderhand ›materiell‹, nicht semantisch, wie sich an der folgenden Sequenz aus dem Katzenberger demonstrieren lässt: Du warme Verblendete! – So wie wir alle merken, bildet sie sich ein, den Poeten Nieß durch Preisen für ihren Vater zu gewinnen, für einen Mann, der ihm doch ins Gesicht gesagt, seine Nasenwurzel sei zu dünn. Schwerlich sind Wurzelwörter eines solchen Ärgers je auszuziehen, und aus der Nasenwurzel wird in Nieß – da es etwas anderes sein würde, wäre statt der Eitelkeit bloß sein Stolz beleidigt worden – immer etwas Stechendes gegen den Doktor wachsen. (JP I/6, 115)
Der Eigenname ›Nieß‹, der vorher schon paronomastisch zum Narziss (JP I/6, 98) weitergespielt wurde, wird jetzt zunächst zum ›Preisen‹ (resultierend aus ›Poeten‹ und ›Nieß‹), dann zur intermediären Nase (aus Nieß und Narziss) geführt, von daher zum Kompositum ›Nasenwurzel‹, an dessen zweiten Bestandteil (Wurzel) das Kompositum ›Wurzelwörter‹ (Jean Pauls Terminus für die Etyms) anschließt. Das Stechende in Nieß wird zunächst ganz wörtlich als ›ß‹ (lautlich korrespondierend: ›bloß‹, ggf. auch ›Stolz‹) lesbar gemacht, ikonisch aber auch mit ›dünn‹ assoziiert, eine Spitze, die mit der phonetischen Horizontale der vielen w-Alliterationen in dieser Passage kontrastiert. Dass das ganze Buchstabenspiel einer warmen Verblendeten zugesprochen wird, die gegen den wurzelbezogenen Vater gerichtet ist (w- und v-Alliterationen), etabliert expressis verbis eine Gegenbewegung: Verblendung meint den blendenden Widerschein als harten Rückstoß, also sprachlich genau die boustrophedonische Kehre (versus), die dieser Text in seiner engen internen Verschränkung gegen die Linearität suchenden Lektüren aufbaut. ›Lesen‹ wird unter diesen Bedingungen engster Selbstbezüglichkeiten zu einem schwierigen Unterfangen oder, nimmt man auch dieses Wort wörtlich –
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Lesen bedeutet (Ein)Sammeln (legere), hörbar noch im Wort Weinlese –, zur überhaupt erst tatsächlichen Einlösung dessen, was es verspricht. Der Textverlauf konstituiert sich durch die Ausstreuung – man denke an Derridas Dissemination – der Wortbestandteile, also aus der Nutzbarmachung vorangehender Wortzerteilungen. Es handelt sich nicht mehr um Anagrammatik in dem engsten Sinne, nach dem ein Wort buchstabenidentisch ein anderes Wort bildet, sondern um eine Verflechtung von starken Wortsignalen als den wesentlichen Bestandteilen der Kernworte einer Passage. Jean Paul schreibt in seinem Leben Fibels eine Theorie des Wortes und seiner Permutierbarkeit. Es handelt sich um eine Theorie des Anagrammatischen, in der allein durch Buchstabenverschiebungen aus Wörtern Wörter entstehen. Die Basis der Sprache selbst ist nach dem Leben Fibels anagrammatisch. Analog zu Arno Schmidts sprachtheoretischer Kettensäge zerlegt Fibel die Sprache in ihre bloßen Elemente, infolge einer unverstandenen Anwendung leerer Natursprache auf schiere Materialität (Buchstaben als Backwerk): Zerlegung, Zerreibung, Aufsplitterung und Aufspaltung stehen am Beginn sowohl von Schmidts Etymsprache also auch von Fibels anachronistischer Kreuzung von Buchstabier- und Lautiermethode. Der Befund stimmt mit der These überein, dass Jakobsons poetische Funktion auch nach innen gewendet verstanden werden kann: nicht allein als Textexpansion durch Parallelismus, sondern auch als Orchestrierung diäretischer Zerlegung im Wortinneren.
11.3 Eigennamen Inwiefern geht die derart entstehende poetische Anagrammatik in die Struktur der spezifischen poetischen Grammatik ein? Eine erste Vermutung führt dahin, dass die poetische Anagrammatik vor allem die phatische und die emotive Funktion erfassen wird. Es deutet sich eine Typologie anagrammatischer Verfahren an. Welche Möglichkeiten von anagrammatisch neu geformten Wörtern sind denkbar, welche re-entries lassen sich sinnvollerweise behaupten? Der re-entry der phatischen Funktion in die poetische Funktion führt zur poesieimmanenten Schreibszene, also zur Darstellung der materiellen Basis der Poesie. Auf der Buchstabenebene des poetischen Textes dürfte sich, sofern von der Schriftlichkeit die Rede ist, die poetisierte Phatik als Buchstabenpermutation des Schreibakts und seiner ganzen Szene darstellen. In Wilhelm Raabes Odfeld lautet der Name des Protagonisten Noah Buchius, semantisiert also: die von Noahs Kulturbeginn herreichende Archivierungsfunktion des Buches. Tatsächlich kennt der Text eine ausführliche Beschreibung der Klosterzelle von Buchius, die zugleich eine Studierstube ist, in der gelesen und geschrieben wird und die zudem ein Pri-
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vatmuseum oder kurioses Archiv darstellt, in dem bis zur Sintflut zurückdatierte Artefakte, die Buchius in der Umgegend gesammelt hat, aufbewahrt werden. Dieser anfangs wohlgeordneten Schreibszene ist ein Gegenprinzip zugeordnet, als weitere anagrammatische Kodierung. Buchius, der eine Rabenschlacht beobachtet hat, nimmt einen flügellahmen Raben mit in seine Behausung, aus der er kurz darauf vertrieben wird. Der Rabe verweist anagrammatisch auf den Autornamen Raabe. Der Text schildert im Folgenden den vom Schlachtgeschehen im sinnlosen Kreisgang auf dem Odfeld herumgetriebenen Buchius, während in der Klosterzelle der Raabe den sorgsam gehüteten Schreib- und Archivplatz verwüstet. Die Ordnung des Buches wird durch das Schreiben Raabes vollständig zerfleddert, in die Einzelteile bloßer übrigbleibender Materialität zerlegt. Raabe baut zwischen dem Raben und seinem Protagonisten Noah Buchius enge Analogien auf. Beide sind Figurationen des Schreibens; insofern der Rabe aber den Schreibtisch des Noah Buchius verwüstet, ist er auch ein Leser. Infolge der sprechenden Namen wird man die gesamte Handlung, also den Gang über das Odfeld – besser: die ausweichende Kreisbewegung um die Schlacht herum – ebenfalls als allegorische Schreibszene lesen können. Schreiben ist skripturale Begehung eines Odfelds, ein Ort der Schlacht, Destruktion der wohlgeordneten Archive, Negation der von Noah herrührenden Kulturarbeit. So wird der ganze Text zur Auseinandersetzung zweier Ordnungen: der gepflegten des Buches und des Archivs versus der infragegestellten Ordnung, in der Noahs Kulturstiftung durch die Apokalypse des Raben (Raabe) widerrufen wird. Auch diese Prosa zerlegt, atomisiert und hinterlässt wörtlich ein Schlachtfeld der Negativität. Es sind die Namen – Noah, Buchius, Ra(a)be –, deren interne Dynamik den ganzen Text zur Allegorie der Schreibszene werden lassen. So tauchen die Fundorte der in Noahs Archiv versammelten Artefakte in dem Kreisgang wieder auf, als wörtlich genommenes Museum, werden aber einer nach dem anderen durch die Schlacht von Ordnung in Unordnung versetzt. Dieses öde Feld – letztlich wohl die Papierseite – ermöglicht nicht einmal mehr die boustrophedonische Furche, es handelt sich nur noch um ein Gewühl von Schlamm und Blut. Raabes radikaler Text liest sich so als eine Prosavariante dunkelster Negativität. Die erste Referenz des Namenwerdens der Worte ist der Eigenname. Folglich wird sich die poetisierte emotive Funktion als Variation des Eigennamens des Autors in die Wortsubstanz einschreiben.109 Raabes Odfeld ist insofern nicht nur
Zur Thematik der Eigennamen in poetischen Texten liegen etliche Studien vor, meist behandeln sie die Namengebung im Werk eines bestimmten Autors. Vgl. Debus 2002; Birus 1987; Kohlheim 2007 und 2015.
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wörtlich genommene poetische Phatik, sondern auch Exegese der Funktion Autorschaft, also der emotiven Funktion. In Arno Schmidts Piporakemes ist der Name des Besuchers ›Dr. Mac Intosh‹ ein Anagramm von ›Arno Schmidt‹. Giannozzo, die Hauptfigur aus Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch im Komischen Anhang zum Titan ist die Nacht des Jean,110 also Jean Pauls dunkelster Text als Beerdigung des Humoristen. Der Autorname schreibt sich in diesen Texten tief in die Buchstabensubstanz der Eigennamen ein, insofern wird man diese Dimension immer als poetologische zu verstehen haben, also als poetisierte Metasprache, welche auf Buchstabenebene eine textinterne Deixis auf die Selbstexegese der Autorschaft vollzieht. Im Falle enger Selbstverhältnisse ist es wahrscheinlich, dass der Adressat eine Variation des Senders ist, sodass die poetisierte konative Funktion ebenfalls an der Dissemination des Eigennamens partizipieren wird. Der erste und im extremen Fall auch einzige verständige Leser des Prosatextes ist sein Autor, folglich wird das Schreiben zu einer Selbstadressierung. Besonders deutlich wird dies in Uwe Dicks Sauwaldprosa, wenn Dick mit den Worten dicht und Dickicht spielt (Dick 2001, 50), also den Sauwald nicht nur als Handlungsort konzipiert, sondern als ein vielgestaltiges Gehör seiner eigenen Prosarede, die eben nicht in den (lyrischen) Wind, aber in den Wald der engen Stofflichkeit gesprochen ist.
11.4 Der immanente Raum des Wortes (Schmidts Etymsprache in Zettel’s Traum) Der wohl umfassendste Versuch, eine Poetik des Wortes zu entwerfen, findet sich in Arno Schmidts Zettel’s Traum. Deshalb soll hier eine ausführlichere Darstellung folgen – als exemplarische Analyse der vielleicht am meisten fortgeschrittenen Poetik des Wortes. Das große Buch ist als Selbstanalyse Schmidts,111
Gian lässt sich zu Jean übersetzen: Gian als Kurzform von Giovanni, im Deutschen ist Johann die Entsprechung, dazu wiederum im Französischen Jean. Nozze könnte als verschliffene Form von ital. notte (Nacht) gelesen werden. Nozze hat ital. die Bedeutung von Hochzeit, also Giannozz(o/e) gleich: die Hoch-Zeit des Jean (Johann Paul Friedrich Richter). Ital. noce heißt Nuss, also ggf. auch: die Nuss des Jean im Sinne von das Wesen des Jean (in nuce). Indem die vier Protagonisten von Zettel’s Traum auch personalisierte Instanzen der Psyche sind, ist der Text als Soliloquium (Butzer 2008) von Unbewusstem, Ich, Über-Ich und Humor zu lesen, d. h. als Psychoanalyse dessen, in dem sich dieses Kopftheater seiner Persönlichkeitsinstanzen abspielt.
11.4 Der immanente Raum des Wortes (Schmidts Etymsprache in Zettel’s Traum)
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als Übersetzungstheorie anlässlich des Werks von Edgar Allan Poe,112 als Entwurf einer eigenen Literaturtheorie113 und als fiktionale Handlung114 Prosa im eigentlichen Sinne: ein die Gattungsgrenzen ignorierendes Kontinuum von Dichtung und Dichtungstheorie, plurifokal angelegt, ohne einen eigentlichen und primären Literalsinn zu haben. Arno Schmidt führt den Begriff der Etyms auf den ersten Seiten von Zettel’s Traum ein.115 Es sei, so der Schriftsteller und Hauptprotagonist Pagenstecher, eine simple Angelegenheit. »Etyms will be Etyms« (Schmidt BA IV/1, 30), lautet eine der ersten Formeln. Die Tautologie verweist darauf, dass es sich um etwas so Einfaches handele, dass anstelle komplexer Begriffsvorkehrungen elementare Evidenzen ausreichen. Etyms sind die in jeder sprachlichen Sequenz angelegte Möglichkeit einer oder mehrerer sexueller Kodierungen des Wortmaterials – um eine weniger tautologische Kurzdefinition zu geben. Diese Möglichkeit wird durch eine Verschreibkunst markiert, durch die die Wörter zwar phonetisch korrekt und insofern realismuskonform geschrieben werden, aber orthographisch eine Gestalt gewinnen, durch die im Wort eine Reihe anderer Wörter aufscheint. Es entsteht ein »Janus = Effekt« mit »Sinnwendewippchen« (Schmidt BA IV/1, 30). Schon das Wort Verschreibkunst – im Untertitel von Abend mit Goldrand zu finden – lässt sich z. B. zur Vers-(ch)reib-Kunst ummodeln und so einem tieferen
Arno Schmidt arbeitet zeitgleich zu Zettel’s Traum zusammen mit Hans Wollschläger an der Übersetzung des Gesamtwerks von Poe und benutzt Zettel’s Traum als literarischen Ort für die theoretische Durchdringung des Übersetzungsproblems. Die Etymsprache ist zunächst ein Analyseinstrument für das Werk von Poe, dann zunehmend ein allgemeines literaturwissenschaftliches Werkzeug und schließlich eine poetische Verfahrensweise. In den Kontext von Schmidts Literaturwissenschaft gehört auch seine Projektionstheorie (stage allegory und reziproke Radien, s. Jauslin 2008, 203–230), mit der er die Struktur der literarischen Welt (Aufbau der Szene) zu denken versucht. Jenseits der autobiographischen Dimension ist die Instanzentheorie auch ein Verfahren, um die Mechanismen der ästhetischen Kreativität zu verstehen. Zudem ließe sich die Etymsprache in ihren zahlreichen Äquivalenzverfahren als Variante der poetischen Funktion deuten. Arno Schmidt entwirft eine erstaunlich dichte Literaturwissenschaft, die Rechenschaft über die Figurenkonstitution, den Aufbau der poetischen Welt und die Mechanismen der poetischen Sprache ablegt. Zettel’s Traum kennt eine rudimentäre Handlung, die um die Theoriearbeit einen fiktionalen Rahmen zieht. Andere, nicht weniger theorieintensive Texte Schmidts sind durchaus reicher an Handlung. Die in Zettel’s Traum vorhandene Handlung markiert einen eigenen literarischen Anspruch: Es handelt sich um eine performative Inszenierung von Theorie, somit also um Wissenspoesie. Sie stellt die Theorie auf den Prüfstand des literarischen Experiments, sich in der narrativen Interaktion ihrer Theoreme darstellen zu sollen. Hinsichtlich des Gesamtwerks gilt der Radioessay zu Joyce als die erste Stelle, an der der Begriff der Etyms eingeführt wird: Schmidt BA II/3, 249.
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poetologischen Sinn zuführen. In der Regel betreibt die Etymschreibweise aber eine Sexualisierung der Sprache, durchaus im humoristischen Sinne als »Schalks = Esperanto« (Schmidt BA IV/1, 30). Kunstworte werden so zu »Cun(s)tworte[n]« (Schmidt BA IV/1, 30), wobei ›cunt‹ englisch ein vulgärer Terminus für das weibliche Geschlechtsteil ist: ›Fotzenworte‹ ist mithin die unbewusste Bedeutung der lexikalischen Über-Ich-Kodierung von ›Kunstworte‹. Die primäre Leseerfahrung von Zettel’s Traum besteht in dem wachsenden und zunehmend enervierten Erstaunen darüber, dass solche Umschreibungen offenkundig immer möglich sind. Jedes Wort ist in ein obszönes permutierbar, zumal wenn gilt, dass man sich dabei verschiedener Nationalsprachen bedienen, also z. B. einem deutschen Wort eine englische Etymspur einlesen kann. Das Unbewusste hält sich nicht an Sprachgrenzen, es ist ein mehrsprachiges Esperanto. Diese Mehrsprachigkeit bedarf einer Deutung.116 Zunächst entwirft Schmidt eine sexuelle Semiotik, deren Mächtigkeit so groß sein soll, dass sie das primäre Zeichensystem – die Sprache – komplett ummodellieren kann.117 Schon dies ist eine sprachphilosophisch ebenso wie poetologisch äußerst riskante Versuchsanordnung. Es geht um die umfassende Umkodierung der Sprache durch ein sekundäres System, dessen Umfang koextensiv zum primären Sprachsystem angesetzt wird. Semiotisch und kulturtheoretisch handelt es sich um eine sehr weitreichende Initiative. Innerhalb der Semiotik wird die Sprache als das erste und modellbildende System angesehen, andere Systeme sind als sekundäre von ihr abgeleitet (Nöth 2000, 98, 215 und Lotman 1981, 22–37). Wenn Schmidt mit Freud behauptet, dass die normale Sprache nur eine Art von Ich- oder Über-Ich-Phänomen ist, zu
Die Etymsprache ist in der Schmidtforschung wiederholt debattiert worden, leider allzu oft unter Einlassung auf Schmidts mitunter apodiktisch geäußertem Geltungsanspruch. Dies führt dann in der Forschung schnell zur Relativierung von Schmidts Thesen. So äußern sich kritisch zur Anwendung der Etymmethode auf die Szene der Mehrsprachlichkeit: Jurczyk 2010, 55; Stündel 1984, 16–19. Dass das Unbewusste polyglott veranlagt sein soll, ist in dieser Formulierung tatsächlich kontraevident. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass Schmidts Taktik der Sprachzerlegung und Sprachatomisierung auf die Ebene der distinktiven Merkmale (s. o.) hinabreicht. Von dieser Ebene her ist der Neukombination der Worte keine nationalsprachliche Grenze gesetzt. Das Polyglotte des Unbewussten lässt sich im Sinne Schmidts also recht einfach plausibel machen. – Eng damit verbunden ist Schmidts ebenfalls weithin kritisiertes Theorem, dass die Sprachassoziationen durch die »Lagerung der Worte im Gehirn« gegründet wären (Schmidt BA III/4, 252). Aber auch hier braucht man nur die realen Nachbarschaften der distinktiven Merkmale zu unterstellen, um Schmidts Theorem in eine akzeptable Form umzuschreiben. In der Traumdeutung schreibt Freud lakonisch: »Man darf sagen, es gibt keinen Vorstellungskreis, der sich der Darstellung sexueller Tatsachen und Wünsche verweigern würde.« (Freud II, 365) Freud unterlässt es, über die sprachphilosophischen Konsequenzen nachzudenken, die unweigerlich entstehen, wenn ein sekundäres Sprachsystem die Mächtigkeit des primären Sprachsystems erreicht.
11.4 Der immanente Raum des Wortes (Schmidts Etymsprache in Zettel’s Traum)
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der die Sprache des Unbewussten den eigentlichen, mächtigeren und umfassenderen Triebgrund darstellt, dann wird eine folgenreiche Umkehrung behauptet. Das üblicherweise primäre System der Sprache wird gegenüber der Etymsprache zum sekundären. Diese Umkehrung zieht die ganze Literatursprache in eine Inversionsbewegung hinein. Gegenstand der literarischen Mimesis ist nun eine Sprache, die subversiv gegen eine andere Sprache arbeitet und dabei eine umfassendere semiotische Extension behauptet. Zweitens wird mit den Etyms eine generische Macht behauptet. Auf der Ebene der Sexualität ist dies selbstevident, die semiotische Behauptung aber lautet, dass die mit den Etyms betriebene Sexualisierung der Sprache den generischen Triebgrund der Sprache offenlegt, ihre unbewussten Triebschicksale zum Vorschein bringt und damit explizit macht, warum überhaupt gesprochen wird. Drittens führt die sexuelle Kodierung der sprachlichen Sequenzen auf der Inhaltsebene der vorgestellten literarischen Welt zu einem Panoptikum der Verkörperungsgrotesken, die den Wortgrotesken der Etyms entsprechen. Damit ist der folgenschwere Schritt von einer analytischen Kategorie zu einer solchen angedeutet, die die Poiesis des literarischen Textes betrifft. Die Formel vom pornographischen Lachkabinett118 ist auszuweiten. Die Welt selbst mit allen ihren Begebenheiten wird zu einer absurden und grotesken Abfolge von Szenen dysfunktionaler Körperlichkeit, wenn konsequent jede soziale Verhaltensweise und jeder sprachliche Ausdruck zum dreckigen Witz depotenziert wird und entsprechende Verkörperungen gefunden werden. Das Lachen, das über das seinen ohnmächtigen Begierden folgende Körpertheater ergeht, ist ein humoristisches – Humor im Sinne Jean Pauls verstanden. Schmidts Poetik erfindet mit der vierten Instanz den Humor als Mitspieler der Psyche. Der Trick ist genial: Freud, der Analytiker, der neben der Couch sitzt und dessen Blick die Interaktionen von Über-Ich, Ich und Unbewusstem beim Patienten kühl beobachtet, wird von Schmidt zum Humoristen gemacht und von der Couch in die Psyche des Patienten hineinbefördert. So wird der Humor zur vierten Instanz. Anstatt von der Beobachterposition und mit Außensicht zu therapieren, verlacht der Analytiker immanent, mitten im Geschehen, dieses Ansinnen angesichts einer heillos grotesken Welt. So gibt es keine externe psychoanalytische Beobachtung mehr, sondern einzig und allein eine Selbstbeobachtung,119 deren maximale Potenz zu einer Selbsterkenntnis führen
Schmidt BA I/3, 315: »[…] im Alter handelt sich’s sowieso nur noch um eine Art pornografischen Lachkabinetts […]«. Mit dieser Theoriefigur löst Schmidt ein Hauptproblem der Etymsprache, nämlich den Widerspruch zwischen der Behauptung, die Etyms seien Sprache des Unbewussten und ihrer gleichzeitig vollkommen bewusst eingesetzten Wirkmacht. Eigentlich müssten sich die Etyms
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kann, die ins durchaus bittere Selbstverlachen mündet. In diesem Sinne stellt die umfassende Sexualisierung einen humoristischen Beitrag zu einer conditio humana dar, in der die Groteske der Normalzustand ist. Es geht Schmidt also um eine inverse Ausweitung der Semiose, um eine generische Poetik und um ein Vehikel zur Erzeugung grotesker Körpertheater. Verallgemeinert man diese drei Aspekte, dann lässt sich die Etymtheorie von Zettel’s Traum als pansemiotische Wort- und Körpergroteske ab ovo beschreiben. Es sei im Folgenden der Versuch unternommen, die Sprengkraft der Etymsprache über den Begriff der optischen Etyms zu rekonstruieren. Mit diesem Zugang wird der Anschluss an das schon vorgetragene Theorem gesucht: dasjenige einer sprachmagischen Grundgeste der avancierten Prosa, resultierend aus der ikonischen Instantiierung der poetischen Grammatik. Der Begriff der optischen Etyms kommt in Zettel’s Traum genau an einer Stelle vor. Das Wort optisch findet sich 14-mal, Optik 8-mal; Etym hingegen verzeichnet 396 Fundstellen – so die Auskunft der elektronischen Bargfelder Ausgabe.120 Philologisch gibt es also kein zwingendes Argument, optischen Etyms irgendeine Relevanz zuschreiben zu müssen. Die Stelle lautet: Himmel mit sympathetischen Cirren=Figurinen (Circren=Figurinen) be=zeichnet?: auch Etyms; optische, die was von STURM murrmtn (Schmidt BA IV/1, 31)
Die Aussage ist irritierend. Wolkenformationen (hier: Cirruswolken, etymistisch zu Circen verschoben) können durchaus Figuren bilden, ihre Entzifferung ist ein beliebtes Spiel im Bereich des Zeichenlesens. Nicht wenige Liebesgedichte projizieren ihren Gegenstand in Wolkenfiguren. Aber die Wolke selbst ist nicht spracherzeugt, sie ist ein Phänomen der Gegenstandswelt.121 Da Etyms aber kalkulierte Falschschreibungen sind, die den Wörtern weitere, meist sexuelle Sinndimensionen zudenken, kann eine Wolkenfigur ein Etym nur dann sein, wenn sie tatsächlich spracherzeugt ist.
wie bei Freud als unwillkürliche Fehlleistungen zeigen, anstatt kalkuliert zu sein. Indem Schmidt mit dem Humor die Selbstbeobachtung in den Instanzenapparat der Psyche hineinnimmt, kann er den benannten Widerspruch abmildern. In Zettel’s Traum beherrscht Pagenstecher alle Finten der Etymsprache, während Paul in seinem halbbewussten Vorsichhinmurmeln den Etyms eher ausgeliefert ist. Vgl. zur Widersprüchlichkeit von Unbewusstem und Kalkül Jurczyk 2010, 54; Stein 2012, 129–139; Stündel 1984, 19; Strick 1993, 68–74, 84. 25.11.2021: https://www.arno-schmidt-stiftung.de/eba/search. Innerhalb der Autorensemantik von Arno Schmidt wäre zu den Wolken allerdings viel zu sagen, beginnend mit frühesten Texten, endend bei der Wolkenfahrt in Abend mit Goldrand. Sie figurieren als ideales Reich der Dichtung. Es ist aber wohl zu viel interpretiert, die zitierte Stelle mit diesem Motivkomplex zu belasten.
11.4 Der immanente Raum des Wortes (Schmidts Etymsprache in Zettel’s Traum)
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Diese Bemerkung führt in einen Abgrund. Denn nur dann ist eine Wolke, deren Figuration vom herankommenden Sturm murrt, ein optisches Etym, wenn ein sprachlicher Prozess unmittelbar eine ontologische Tatsache zu schaffen vermag. Liegt ein Fall von Sprachmagie vor? In einem Interview mit Gunar Ortlepp benutzt Arno Schmidt den Terminus, als ob er ihm und zudem seinem Gesprächspartner geläufig sein müsste: Arno Schmidt: Ja, auch dort [Bezug ist: Stifter, R.S.] läßt sich ja mit einer optischen Etymmethode nachweisen, was, wes eigentlich das Herz des Mannes überfloß, das ist unleugbar vorhanden. Sie werden in »Zettel’s Traum« vieler, viele solcher Analysen finden, an kleineren Gebilden, aber es sind etwa 50 oder 60. (Schmidt 2006, 94)
In Zettel’s Traum gibt es bis zu 60 Textsequenzen, die »einer optischen Etymmethode« folgen? Was ist damit gemeint? Der rätselhafte Terminus scheint trotz seiner nur einmaligen Nennung in Zettel’s Traum in Schmidts Nomenklatur verankert zu sein und er scheint eine durchaus nicht geringe textgenerative Dimension zu bezeichnen. Offenkundig ist eine tiefergehende Recherche nötig, schon um überhaupt rekonstruieren zu können, was genau der Begriffsgehalt sei. Wenige Zeilen vor dem Auftauchen des Begriffs optisches Etym wird formuliert: Ist es sehr schwer, Euch vorzustellen, daß ›Der Urmensch‹ die Sprache, besonders die Einzel=›Worte‹, gar nicht als ›seine Werkzeuge‹, vielmehr als einen ›ganz verdammten Zauber‹, in verbis herbis et lapidibus, betrachtet haben könnte? Daß er mit irgndeiner Buchstabmverbindung – etwa ›S=U=S=I‹: ! – sein Pferd rufen konnte?: und es kam! (Schmidt BA IV/1, 31)
Die später fallende und kryptisch bleibende Bemerkung »Etymzauber; (plus optischem)«122 unterstützt den Verdacht, dass optische Etyms unmittelbar instantiierende Wirkung haben. Stärker noch als performative Sprechakte erzeugen sie aus Sprachgeschehen Ontologie, als ob Etymverfahren direkt erzeugende Kraft hätten. Zu vermuten ist, dass diese Mächtigkeit eben mit der Sexualisierung der Sprache zusammenhängt: Die Kopulation der Etyms erzeugt quasi neues Leben, also in der Literatur die Szene, Situation, Handlung etc.
Unmittelbarer Kontext für die kommentierende Bemerkung ist die folgende Paraphrase einer literarischen Szene: »»Es gibt nämlich auch = dort einen ›Nixenbrunnen‹: ›Die Quelle schoß aus ihrer Höhle … das gothische Wasser = Becken … eine reizende Jungfrau traf hier einen Lord Ravenswould … bei Sonnenuntergangsfarben … blutigrote Wasserblasen … Lucia erscheint Edgar wie ›the nymph of the fountain‹ – nun brauch ich nich = Dír zu übersetzen, was ›Nymphen‹ seien: kurz, eine ›Schamlippenfontäne‹ sprudelt dort lustig herfür. Zuweilen menstruirt.« / (: »–king!«; stieß er betroffen aus). /« (Schmidt BA IV/1, 61).
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Es ist erstaunlich, dass Schmidt, der die Etymtheorie vor allem auch als Entzauberung der Dichterpriester und ihrer weihevollen Metaphysiken eingeführt hat, eine sprachmagisch fundierte Poetik anbietet. Aber die Verweise auf die Tradition der Sprachmagie und auch der adamitischen Sprache123 sind zu genau gesetzt, als dass sie übersehen werden könnten. In Zettel’s Traum findet sich ein Exkurs zu Jakob Böhmes Theorie vom androgynen Adam, der vor dem Sündenfall beide Geschlechter in sich trug. Pagenstecher führt dies als Beweis für seine Exegese von Poes Ausspruch »ADAM was the first Diddler« (Schmidt BA IV/1, 1007)124 an. Die Böhme-Stelle ist durchaus komplex, das Argument lautet hier, dass Adam vor dem Sündenfall »die magische Schwängerung in sich hatte« (Böhme, zit. in: Schmidt BA IV/1, 1007). Mit dem Sündenfall und dem Auseinandertreten der Geschlechter beginnt dann die Zeugungsgeschichte des Menschengeschlechts. Auf die Etyms angewandt: In der adamitischen Sprache wird es die Dichotomie von Normalsprache und Etymsprache nicht gegeben haben, Adams Sprechen ist ursprüngliches Benennen (nach 1 Mose 19–20) und somit adäquates Mitvollziehen der Schöpfung. Der Sündenfall zerstört diese Sprache, sie zerfällt und unterdrückt ihre eine Seite, die der Etyms. Tatsächlich aber reichen diese zurück bis zur Szene im Garten Eden: (Adam ~ Edden ~ Etym!)
(Schmidt BA IV/1, 1007)
Dass Adam der erste Betrüger ist, hat somit eine komplexe Bedeutung. Nach dem Sündenfall ist Adams Sprache gespalten, aus der Schöpfungsinnigkeit entlassen. Adam ist als erster Betrüger aber auch ein Lügner, mithin der erste Dichter. Und da Schmidts Poetik bekanntlich nicht die Originalgenies lobt, sondern das Plagiat und da er gegenüber der vermeintlichen Erfindung immer die kuriose Variante und das Verzeichnen ins sprachliche Trollwesen vorzieht, ist der sündige Adam, als Betrüger, sein Leitstern, nicht hingegen der Adam, der sich noch im Besitz der adamitischen Sprache befindet. Aber dennoch partizipiert Adam an den Resten der vormaligen Sprachmächtigkeit – und dies sind die Etyms. Arno Schmidt schreibt sich also in eine alteuropäische Tradition ein, in der die Sprache (eigentlich: das Wort) Adams und dann das Hebräische als eine Ursprache galt, in der sprachmagisch das Benennen kein konventioneller Akt,
Vgl. auch die Hinweise auf die adamitische Sprache in Schwänze (Schmidt BA I/3, 330), der Terminus des Adam Kadmon findet sich bei Schmidt BA III/2, 255, 274; BA III/3, 215, 303, 485. Vgl. Strick 1993, 74 f. Weiter unten auf der Seite ist das Zitat variiert: »ADAM was the Fürst Diddler« (Schmidt BA IV/1, 1007).
11.4 Der immanente Raum des Wortes (Schmidts Etymsprache in Zettel’s Traum)
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sondern das Treffen des Wesens der Sache sein soll und deswegen ontologische Macht besitzt. Nur, kurioserweise, ist aus Adams Sprache Etymsprache geworden, eine durchaus dreckige Sprache der Sexualität. Nur ein derart gebildeter Verächter des Christentums wie Arno Schmidt kann der Ansicht sein, mit dieser Wendung die Sache selbst getroffen zu haben – nämlich die Verfasstheit der Sprache nach dem Sündenfall. In Zettel’s Traum wird die Ursprache eingeführt: Die Sprache von Tsalal, nach der das erste Buch benannt ist, referiert auf Poes Gordon Pym-Roman, und darin auf die einsame Südseeinsel, deren kannibalische Bewohner eine eigene Sprache sprechen. In Zettel’s Traum wird sie bündig identifiziert: Die ›Sprache von Zalal‹ ist, ganz=simpl, ein, absichtlich leicht=korrumpiertes, Hebräisch; versehen mit den reduplizierenden Endungen der Südsee=Sprachen. (Schmidt BA IV/1, 35)
Da bei Poe der Kannibalismus als Essen von Eingeweiden dargestellt ist und Schmidt auf diesen ersten Seiten von Zettel’s Traum vor allem solche Stellen einer Etymanalyse unterzieht, die auf die Eingeweidestellen bei Poe verweisen, wird man die Etymsprache als eine Inkorporationsgeste deuten können. Die Ursprache ist eine Maschine der Zerkleinerung der Sprache, ihrer im Kauakt geschehenden Zerlegung in die atomaren Bestandteile sowie ihrer nachfolgenden Inkorporation. ›Hebräisch‹ ist in dieser Lektüre nur eine Art Deckname (Deckerinnerung) für einen Akt, der vor allem durch zersetzende Analysis eine Ebene erreicht, in der alle Sprachen ihr Gemeinsames finden: die distinktiven Unterscheidungen der phoné als Letztbasis für Laut- und Wort-Assoziationen. Nach Babel ist dies dasjenige Hebräisch, verstanden als Metapher für Ursprache, welches sinnvollerweise in exegetische und auch poetische Verfahren umgesetzt werden kann. Schmidts Etymsprache ist in diesem Sinne ein Anzapfen der Energien und Triebgründe der sprachlichen Urschrift.125 Dass dieser Akt der Zerlegung und Zerreibung nationalsprachlicher Wortgestalt eine unhintergehbare Voraussetzung der Etymsprache ist, führt zu der wichtigen Einsicht, dass sie dem Tode verschwistert ist. Zutritt zur Etymsphäre erhält nur, wer diesen Akt vormaliger Sprachdestruktion mitvollzieht. So zeigt sich,
Das Zitat geht weiter: »Und ›Tsalal‹ selbst?«; (P.) /: »Die 3 Grundrisse der Höhlen ergeben, nach dem äthiopischen Alfabet – (ich zeig Dir’s dann, daheim, im alten PIERER) – das Wort ›Tza = l(e) = mou(n)‹: das aus dem AT mehrfach bekannte ›Zalmon‹.« (Schmidt BA IV/1, 35). Es wird hier deutlich, dass die Sprache von Tsalal immer schon als Schrift gedacht ist, sodass Schmidts poetische Etymologie eigentlich eine Anagrammatik darstellt. Die an die phoné angelehnte dialektale Konkretheit der Ver-Schreibung der Wörter ist nur die Außenseite, wichtiger ist die allein der Schrift zugängliche Neudeutung des jeweiligen Wortes.
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11 Poetik des Prosa-Worts: poetische Etymologie
dass auch hier Eros und Thanatos untrennbar miteinander verbunden sind. Was immer aus dem Sprachgrund der Etyms an generischer Kraft entsteht (Eros), entstammt zugleich dem Totenreich der kannibalisierten Wörter (Thanatos). Die Sprache von Tsalal verbindet ursprachliches Hebräisch mit der Inkorporation von Eingeweiden. Sexualität ist beim späten Schmidt als allgegenwärtige Thematik eine Deckerinnerung für tieferliegende Verhältnisse. In Zettel’s Traum wird die pornographische Sprachphantasie von einem Impotenten lanciert, die Produktivität führt auf einen todesaffinen Nullpunkt zurück (Pagenstecher kann nur noch die Papierseite – page – stechen). Schmidts Interviewpraxis hat sich vom Trickstertum seiner Protagonisten wenig unterschieden. Der ganze komplexe Zusammenhang ist daher in höchster Lakonie nachlesbar, sodass dem wissbegierigen Interviewer nur das ratlos gestotterte ›ja‹ übrigbleibt: Arno Schmidt: […] Ich habe den Namen [Etymsprache] übrigens deshalb gewählt, man hat getadelt, man, einer, das war Herr Drews, der hat gesagt, das sei schlecht gewählt, Etym, man denkt da an Etymologie, na also Etymos heißt das Echte an sich auf griechisch, nicht, aber ich habe in »Zettel’s Traum« natürlich nur die artigsten Wortspielereien schon vorgehabt mit Atom, man kann ja von einer wahren Etymbombe sprechen, ja, oder von der Etymspaltung Gunar Ortlepp: Ja. Arno Schmidt: oder auch von Adam, wenn man es jetzt englisch ausspricht, Adam, Sie sehen denn in Buch IV, da treten mehrere Elementargeister auf, ’s ist ’ne hübsche Geschichte, das ist die Szene am Teich, ja, wo die ganzen Verwandlungen stattfinden, die großen, Gunar Ortlepp: Ja. Arno Schmidt: da sagt auch einer der Elementargeister, ruft dem andern zu: »one of the chaps peaks adams«. Also einer hat die adamitische, die Ursprache, die Etymsprache, Gunar Ortlepp: Ja.
(Schmidt 2006, 81)
11.5 Die ikonische Poiesis der Etymsprache (Zettel’s Traum) Mit der adamitischen Sprache und der Sprachmagie sind historische Echoräume benannt, der Sache nach aber auch spekulative Modelle. Hinsichtlich der literarischen Verfahren wird man mit etwas weniger Spekulation auskommen wollen. Im Folgenden sei deshalb von ikonischer Poiesis gesprochen, die den Transfer von der genotextuellen Etymebene auf die Ebene des Phänotextes leistet. Gemeint ist damit der Mechanismus des poetischen Textes, seine eigene erscheinende Textwirklichkeit (Phänotext) herzustellen, indem Prozesse der Ikonisierung und
11.5 Die ikonische Poiesis der Etymsprache (Zettel’s Traum)
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Verfahren des Übersetzens in thematische Konstellationen stattfinden. Erst dies führt zum poetischen Text, weshalb von einer ikonischen Poiesis gesprochen werden kann (Simon 2009, 241–259). Die Grundstruktur gilt insofern für jede Dichtung. Im Falle von Arno Schmidt liegt allerdings die Besonderheit vor, dass er mit seiner Etymtheorie die genotextuellen Verfahren, also die tiefenstrukturellen Verhältnisse der Textsemantik, selbst formuliert, d. h. eine Dichtung schreibt, die als Meta-Literatur (Schmidt BA IV/1, 517: »Meta = Litteratur«) ihre eigene Literaturwissenschaft mit sich führt. Die Verfahrensidee einer Umsetzung von Semantik in Ikonizität ist als solche nicht neu. Kafka etwa schreibt nicht wenige Texte, die sich als Ikonisierung von genotextuellen Kernen darstellen. Der Strafkolonie etwa liegt die Redewendung ›Jemandem ein Urteil auf den Leib schreiben‹ zugrunde. Auch schon der frühe Schmidt kennt solche Verfahren, aus kleinen generativ wirkenden Sprachzellen ganze Textuniversen zu entwickeln: Seelandschaft mit Pocahontas folgt einigen Grundmotiven des Pocahontas-Mythos (Theweleit 1999), Kosmas oder vom Berge des Nordens setzt das Schema eines Weltbildmodells in eine narrative Bewegung um. Die Besonderheit von Schmidts Literaturmodell besteht aber darin, das poetische Wort als generativen Kern zugrunde zu legen, im Gegensatz etwa zu Kafkas Redewendungen. Als Beispiele seien zwei Etymspinnen aus Zettel’s Traum zitiert, um die generative Matrix zu verdeutlichen, die aus einem Etymkern resultiert. Deutlich wird, dass hier keine narrativen Pläne vorliegen, sondern Strukturen, die man linguistisch als Paradigma bezeichnen würde, wenngleich es sich nunmehr um wilde Paradigmen handelt (Schmidt BA IV/1, 856 und 854): scorta Hure (scorcher = versengen, brennen)
scor Scorpion GiftStich scoria Lava ~ Scheiße
scorn Verachtung
a score 20
Noch anzuschließen Scoresby Escorial scorbut (~ syph) scorn(ful) score = Kerbe Ritze scortuus = Fell
(the whole tribe of scarabaeus Mistkäfer
Abb. 7: Etymspinne scor, aus: Arno Schmidt: Zettel’s Traum (BA IV/1, 856).
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11 Poetik des Prosa-Worts: poetische Etymologie
magic ~ Zauberei! to bewitch magnetism + maggot = Made Maguntiacum Usher: Totenfut! vigilieren
Magellanic clouts (Astron.)
mag
magnolia (Tulpenbaum) magnalia = große bedeutsame Dinge magpie’s nest magnet = fut! ›magdalence = Nuttle
Mag mug = ›Lady Madelein (Usher) mist & fog & Meg langes magnus ›dripping wet‹ groß Frauenzimmer Maulwerk magnificatio = magma in ›Earth‹ Erhebung, lava = scoria. Maga = Vergrößerung Abk. f. Black- mag. Ma : Große magged = exhausted Mutter woods Mag Abb. 8: Etymspinne mag, aus: Arno Schmidt: Zettel’s Traum (BA IV/1, 584).
Die Etymmethode, in der Sache schon in den Ländlichen Erzählungen entwickelt und in Zettel’s Traum nach erneuter Freud- und Joycelektüre dann ausformuliert, elaboriert die genotextuelle Ebene der Sprachbewegung in einem Maße, dass sie selbst auf die Phänotextebene durchbricht. Sprache ist zuvörderst mit Sprache beschäftigt, das wilde Paradigma zu entziffern, obliegt nicht mehr der Literaturwissenschaft; es steht als solches schon im Text. Der unmittelbare Effekt ist in Zettel’s Traum ein Zurücktreten der durchaus mimesiskonformen Handlungswelt, die nunmehr nur im Gespräch von vier Personen besteht. Allerdings verrät ein intensiverer Blick, dass Zettel’s Traum selbst schon die Dialektik von paradigmaorientiertem Genotext und handlungsbezogenem Phänotext austrägt. Vor allem das vierte und das siebte Buch verlassen die Ebene der Schmidt’schen Literaturwissenschaft und führen in ein Reich mythogener Verwandlungen. Damit wird aufgenommen, was auch schon vorher in Kleinszenen immer wieder aufblitzte: Etymkonstellationen drängen zur Figuration auf der Handlungsebene des Textes. Dies wird Schmidt wohl auch gemeint haben, wenn er von 50 oder 60 kleineren Gebilden gesprochen hat, die in Zettel’s Traum der optischen Etymmethode folgen; ihnen sind die beiden Großgebilde der Bücher IV und VII an die Seite zu stellen. Meine Überlegung geht von Zettel’s Traum aus, konzipiert aber das gesamte Spätwerk – also alle Typoskripte – als den Zusammenhang einer konsequenten und eindringlichen Denkbewegung. Arno Schmidt arbeitet im Ernst an einer magischen Ontologie der Poesie, die Momente des magischen Realismus durchaus aufgreift, aber dennoch weitaus radikaler ist. In Abend mit Goldrand wird der Terminus erwähnt und in ebenso zunächst oberflächiger Weise verwendet,
11.5 Die ikonische Poiesis der Etymsprache (Zettel’s Traum)
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wie an der Stelle in Zettel’s Traum. Olmers, der instanzentheoretisch das Unbewusste repräsentiert, macht auf Naturerscheinungen aufmerksam: OLMERS (erstaunt=indigniert): »[…] Aber Momentma’: iss Dir dás schon ma aufgefall’n? (Er richtet, nach Norden, (aber nicht zum FischerHaus; sondern, der starkn Neigung nach … ) –) –): »Kuck ma selber hin. (Und laß Dich, gänzlich entspannt, von optischn Etyms überkomm’m: Was erblixDu?).« A&O (muß für sich anders einstellen: – ? –): »N BirknStamm. Den da schräg=links vor Uns, an der Straße. –«; (er vergrößert stärker: ? –, – und muß dann doch lach’chn): »Du meinst die Stellen, wo einmal Äste gesessn habm? Die Narbm der Ansätze? – Tz, Meingott!«; (es sieht aber auch frappant aus, so die wulstumgebenen Spalte; etwas rötlich innen; und da=rum die weiße Haut) OLMERS (siegesbewußt): »lauter Ø, gelt? – Genau wie dieser MaisAnbau, der hier seit’n paa Jahrn ›eingeführt‹ wordn iss: die derbm Kolbm; das rotgrünbärtije Gefaser dran, als Schamhaar: ein traumhaft=unbewußter PhallusCult unsrer liebm Klappmdorfer.« (Schmidt BA IV/3, 88)
Es handelt sich um eine Parallelstelle zur zitierten Cirruswolke aus Zettel’s Traum. Während dort aber eine Erzählstimme aus dem Off spricht, artikuliert hier das Unbewusste, um vom humoristischen Ich (A&O) verlacht zu werden. Wenn das Unbewusste in den Dingkorrelaten der Erscheinungswelt lauter Geschlechtsabbildungen erblickt, dann gewährt es Einsicht in seinen Triebmechanismus, aber eben deshalb auch in die Kurzschlüssigkeit, mit der das Unbewusste seine Triebinteressen aufs Direkteste durchsetzen möchte. Das bloße Identischsetzen an sich vager Geschlechtsanalogien reicht Olmers. Er fällt damit weit hinter die Poetik zurück, die in Zettel’s Traum grundgelegt ist. Tatsächlich wird man den Begriff der optischen Etyms zweiteilen müssen: Für Akteure, die instanzentheoretisch das Unbewusste vertreten, erschöpft sich ein optisches Etym in der kurzschlüssigen Identifikation von Geschlechtsformationen und vorfindbaren Dingkonstellationen. Für eine Textlogik aber, die alle Vermittlungen der in Zettel’s Traum grundgelegten Poetik gegangen ist, sind die optischen Etyms eine ästhetische Wahrnehmungsform, die die ontologische Macht besitzt, Etymverhältnisse zur anschaulichen Situation zu verwandeln. Es handelt sich um eine sehr seltsame und unvermutete Aufnahme alter sprachmagischer und an der adamitischen Sprachmächtigkeit orientierter Dichtungsauffassungen. In Abend mit Goldrand wird das Gemeinte am deutlichsten umgesetzt. Die ersten vier Bilder beinhalten das Gespräch von Martina und Ann’Ev’. Ein dichtes Anspielungsnetz lässt es wahrscheinlich werden, dass hier eine Schöpfungsszene im Sinne der Gnosis vorliegt. Martina übernimmt die Rolle der Sophia, Ann’Ev’ ist ein abgespaltener Teil der Gottheit, mithin der Demiurg, der Sophia behilflich ist, am göttlichen Willen vorbei eine stümperhafte und
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11 Poetik des Prosa-Worts: poetische Etymologie
misslungene Schöpfung in Gang zu setzen. Ihr Gespräch beim Waldspaziergang dient u. a. der indirekten Exposition der Charaktere. Diese sind dann im 5. Bild vorhanden. Eine traditionelle Lektüre sieht hier die klassische Exposition, wie sie aus dem ersten Akt des Dramas bekannt ist. Aber die Dinge sind vertrackter: Auf der Ebene der ikonischen Poiesis wird das vordem Gesprochene im nächsten Bild anschauliche Realität, so als wäre das Sagen ein Tun, ein in die Realität Zaubern, eine ontologische Instantiierung aus dem Sprechakt heraus. In diesem Fall handelt es sich bei dem Personal um die Äonen, die gemäß Gnosis im inneren Raum der Gottheit zirkulieren, aber durch den illegitimen Schöpfungsakt nach außen gezwungen werden. Entsprechend sind die Alten, die Rotte, die Dorfbewohner, sowie Martina und Martin Abstufungen der inneren Charaktere Gottes. Sie werden nun verdinglicht, realisiert und durch das poetische Fiat zur ontologisch verbürgten Realität. Diese Serie von Umsetzungen von vordem im Diskurs Besprochenen setzt sich fort. Die Bilder 5 bis 9 von Abend mit Goldrand bestehen aus einer komplexen Wechselwirkung von Medienkonsum, dadurch angestoßener Etymproduktion und deren realer Umsetzung durch die ontologische Macht optischer Etyms. So lässt sich die Rotte auch als Realisierung dessen deuten, was die Alten im Fernsehen zu sehen bekommen. Zugleich betritt die Hackländeranalyse die Gefilde des kollektiven Unbewussten des neunzehnten Jahrhunderts und liefert damit eine archäologische Vorgeschichte der Trivialkultur, die sich medial im TV fortsetzt und an deren etymistischer Umsetzung der Aufbau der Szene in diesen ersten Bildern arbeitet. Beschlossen wird diese komplexe Abfolge des In-Szene-Setzens von Etymgängen durch eine Badeszene, in der, assistiert durch A&O, die beiden Frauen in die phylogenetische Tiefe der Geschichte des Lebens eintauchen, hinab bis in die Urgründe des Mineralisierten. Diese hier nur kursorisch angedeutete Lektüre macht hinreichend deutlich, dass die ganze Staffelung der Szenenabfolge zuvörderst die Bildwerdung etymistischer Verhältnisse ist. Man hat über unbewusste Strukturen (Bild 8 und 9) debattiert, und in den nächsten Bildern (9 und 10) wird das Unbewusste selbst zum Handlungsort. Man schaut TV (Bild 7), und sofort generiert sich die Rotte als dem Medium entsprungene Realität. Man disputiert aus verschiedenen Thesenlagen heraus (Bild 5), und im nächsten Bild wird diese Perspektivik als reale Bewegung der Akteure im Garten, gegliedert in Gruppen, anschaulich gemacht. Diese Beobachtung führt zu der sehr weitreichenden These, dass die Staffelung der thematischen Szenen und Tableaus in den drei Typoskripten insgesamt einem klaren Schema folgt: Immer wird zuerst im Gespräch eine Etymkonstellation entwickelt, die dann im nächsten Kapitel als realisiert erscheint. Die Szenen sind vor allem ins Bild gesetzte Sprachbewegungen, also Etymkonstellationen,
11.6 Optische Etyms in Zettel’s Traum – einige Hinweise
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die durch optische Etyms textontologisch instantiiert werden. Die Schule der Atheisten macht sich diese geradezu zum Thema, wenn zu Beginn des Textes Zettel’s Traum zitiert wird126 und dann eine im TV gesehene Faustoper durch Kolderup humoristisch in Genderverkehrung wiedergegeben wird. Kolderup ist in diesem Text eine Art von Schopenhauerprinzip. Er erfindet die Welt als seinen Willen und seine Vorstellung, immer ad hoc auf die Geschehnisse reagierend, um im nächsten Handlungsschritt ontologiemächtig die Dinge durch Etymzauber so zu steuern, dass die Lebensform seines Reservates im Spiel der Großmächte erhalten bleibt. Die Schule der Atheisten ist Schmidts Probe auf die Wette der Spontanerfindung der Welt infolge der Einsicht in die Etyms: »Wer die Etyms hat, ist der Herr der Wort = Weltn!« (Schmidt BA IV/1, 223). Julia, oder die Gemälde versucht diese Ontologie zu vertiefen, indem theologisch die Perichorese und medientechnisch die Hologrammsimulation aufgeboten werden.
11.6 Optische Etyms in Zettel’s Traum – einige Hinweise Aus der vorgeschlagenen Grundstruktur wird nun deutlich, wie tief Arno Schmidts vier letzte Großtexte miteinander verbunden sind. Tatsächlich arbeitet aber auch schon Zettel’s Traum an dem beschriebenen Transfer, Etymkonstellationen via optische Etyms in die literarische Szene zu überführen. Eines der 50 oder 60 kleineren Gebilde, die in Zettel’s Traum der optischen Etymmethode folgen, findet sich bei der Erörterung der Kanufahrt in Poes Pym, nach der Flucht von Tsalal. Die Beschreibung der Meeresszenerie ist komplex und schwer zu deuten. Milchiges Licht, abwechselnde Farbeffekte und schneeartiger Niederschlag bei gleichwohl tropischen Temperaturen stellen die Exegese vor einige Probleme. Pagenstecher bietet eine frappierende Lösung. Der dreijährige Edgar Allan Poe wurde von der schauspielenden Mutter ins Theater mitgenommen, in seine frühkindliche Wahrnehmung haben sich die Lichteffekte der Bühnentechnik eingebrannt. Die Naturszene ist dieser Lektüre zufolge eine Projektion des Unbewussten, die Poe seinen verschütteten Erinnerungen entnimmt. Zu erklären bleibt der seltsame Niederschlag, Schnee oder herabrieselnde Vulkanasche scheiden aus verschiedenen Gründen aus. An dieser Stelle passiert das Folgende: (Aber das was geschah, war fast noch netter)) / (Fr klapperte heftig in ihrer Jagdtasche, (tarnte sie nich doch ein hergehauchtes: »Garnichwáhr!« damit?); entnahm dann, um Geräusch & Geschäftigkeit zu rechtfertigen, ein Puderdöschen, so groß wie 1 Fünfmarkstück &
Schmidt BA IV/2, 14: »Das StehPult, mit dem Großen Buch d’rauf AN DEN GRENZEN DER SPRACHE […].«.
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11 Poetik des Prosa-Worts: poetische Etymologie
bespähte sich spieglynx: ..?.. / ((pudor=Döschen: anscheind so viel Schönste im ganzn Land als es Frauen giebt (aber 1 Symptomhandlung à la maitresse!)) (Schmidt BA IV/1, 45)
Pagenstecher übersetzt: Es handelt sich um Puderwolken, die von den Balletttänzerinnen hinter dem Vorhang beim Aufpudern erzeugt wurden und die auf den in einem Korb abgestellten dreijährigen Poe herabrieselten. Franziska vollzieht also die gesuchte Etmyspur als reale Handlung, indem sie ein Puderdöschen hervorkramt – und sie tut dies vollkommen unbewusst. Gerade dies wird zum Argument: (Fr war errötet; ihre Bäckchen sagten tapfer): »Dá=rann hab’ich aber wirklich nich gedacht Dän –«. /: »›Gedacht‹ nicht. Aber es gibt auch ein ubẃ =Wissen; und dàs hat Dich, traumhaft, zur bildlichen Darstellung des Sachverhalts bewogen: Theater wird, am sichersten durch ›Theater‹ dargestellt!« (Auch): »Nein=Paul; in seinem bw=Erinnern war ihm das ganze Bühnen(un)wesen nicht mehr auffindbar: wohl aber steckt es, an Etyms gebunden, im ganzen Werk.[«] (Schmidt BA IV/1, 45)
Von der bildlichen Darstellung des Sachverhalts ist die Rede. Genau dies ist mit den optischen Etyms gemeint. Es gibt eine kommunizierende Verbindung zwischen den Unterbewusstseinen von Pagenstecher und Franziska, sodass die Etymmethode des einen zur realen Verkörperung bei der anderen wird. Eine Durchdringung der Bewusstseine, später Perichorese genannt, liegt vor, auf der Basis offenkundig ein und derselben intersubjektiv geteilten Substanz, die nichts anderes sein kann als die Ursprache: Tsalal, Etymsprache, Hebräisch, adamitische Sprache – allesamt Decknamen für die die Einzelsprachen hinter sich lassende Sprachförmigkeit des Unbewussten. ›Puder‹ wird also zum Schlüssel zuerst einer Poe-Analyse, dann aber via Etymzauber zur Szene (Franziskas Puderdöschen): Die poetische Welt entspringt bei Arno Schmidt aus der ontologischen Mächtigkeit des Wortes, insofern es Etymkraft hat, also durch poetische Etymologie bzw. Anagrammatik auf die instantiierende Kraft adamitischer Sprache zurückgreifen kann. Gegenüber den Cirruswolken auf den allerersten Seiten von Zettel’s Traum oder den vaginalen Astlöchern aus Abend mit Goldrand ist diese Stelle deutlich komplexer. Für den hier stattfindenden Prozess zeichnen weder ein auktorialer Erzähler noch eine der Figuren verantwortlich. Es handelt sich um ein Geschehen der Sprache selbst, aber so, dass Sprechen und Realität ein und derselbe Prozess sind. Weil Pagenstecher den Zugang zu den Etyms hat, können offenkundig Prozesse in Gang gesetzt werden, die das bloße Zeichenhandeln in tatsächliches Handeln in der Realität überführen. Man wird dies mit Recht Sprachmagie nennen können. Es ist kaum vorstellbar, dass es sich bei dieser Sprachkonzeption nur um 50 oder 60 kleinere Stellen handeln soll. Wie ist Zettel’s Traum zu lesen, wenn die
11.6 Optische Etyms in Zettel’s Traum – einige Hinweise
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Etymsprache unmittelbar instantiierende Kraft hat? Muss man nicht davon ausgehen, dass schlechterdings alles, was in diesem Text auf der vorgeblichen Handlungsebene passiert, Etymgeschehen ist? Wird die literarische Szene im Hinblick auf die sie erzeugenden Etymkonstellationen gleichsam transparent und durchsichtig? Während die Akteure ihre Etymanalysen betreiben, sind sie ja die ganze Zeit in Interaktion, Debatte und szenischer Beweglichkeit vorhanden. Man mag sich dem von ihnen Gesprochenen widmen. Aber vielleicht sind Handlung und Situation in gleichem Maße Etymsprache. Der Spaziergang von vier Personen ist dann nicht einfach nur ein thematischer Vorwand zur Befestigung der dabei geführten Reden. Er wäre vielmehr ein permanenter und vollkommen ernst gemeinter Schöpfungsakt aus der generativen Kraft der Etymsprache heraus, mithin permanente Sprachkopulation mit einer stante pede erfolgenden Geburt. Einige Seiten nach der Puderszene erreichen die vier Akteure einen kleinen Bach, den die beiden Frauen zum Anlass nehmen, in ihm ein Bad zu nehmen. Grundbegriffe der Literaturtheorie von Pagenstecher sind schon eingeführt, dabei fällt insbesondere auf, dass das Unbewusste mit Wassermetaphorik umschrieben wird, mehrfach ist etwa von einem Unterstrom die Rede. Das Hervortreten des Unbewussten in den Etyms scheint metaphorologisch eine Parallele im Hervortreten von Flüssigkeiten zu finden. Die Spekulationen kulminieren in dem Theorem, dass »Damen = Urin« (Schmidt BA IV/1, 64) bei Poe einen umfangreichen Symbolkomplex bildet, der sich um die »Etym=Hydra« (Schmidt BA IV/1, 64) ›crystal‹ gruppiert. Dass auf das Bad eine Szene folgt, in der die beiden Frauen nur halb durch Büsche verdeckt urinieren, ist eher nebensächlich. Zu erwägen ist vielmehr die Überlegung, ob die beiden im Wasser schwimmenden Frauen eine inverse Etyminstantiierung des Poe’schen crystal-Komplexes sind. Wenn das kleine Flüsschen den Unterstrom des Unbewussten figuriert, dann ist es dergestalt von innen nach außen verlegt, dass folglich die darin planschende Weiblichkeit, dem Bild folgend nach innen zurückversetzt, eine Aktantialisierung des Unbewussten darstellt – beobachtet von den beiden Poe-Exegeten. Die Szene macht transparent, um was es geht, wenn Poe im Spiel ist. Verhandelt wird die das Leben gebende Fruchtbarkeit der Etymsprache, zu der Poe einen Zugang eröffnet. Letztlich aber dient Poe nur dazu, von der Macht der Ursprache zu reden. Die vorgeschlagene Deutung ist freilich um einen wesentlichen Punkt zu ergänzen. Das Bächlein kann auch der Todesfluss, Styx, sein. Ein solcher fließt deutlich erkennbar durch Caliban auf Setebos.127 Der Grund für diese Schmidt BA, I/3, 511: »Ich lehnte mich auf die, zumindest im Mondlicht grüngestrichen wirkende, Eisenbrüstung, sah dem polie = glattn Wasser zu; (und das Wehr poly = glotterte im dummfm Wasser = Rausch: müßte also eigentlich ‹Die Glotter› heißen. Die aus der Gegend herströmt, wo die Totn = Sprachn lagren: ein Ausflug in die Gegend, wo die Worte hausn.«.
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11 Poetik des Prosa-Worts: poetische Etymologie
zutiefst ambivalente Kodierung lässt sich formulieren. Um auf die Ebene des ursprachlichen Etymgeschehens gelangen zu können, ist, wie gesagt, ein Akt der kannibalistischen Einverleibung, der die Sprache zerhackenden und zerreibenden Inkorporation vonnöten. Die Sprachmagie von Arno Schmidt kommt nicht vom Leben her, sondern vom Tod. Das unterscheidet sie von allen theologischen Varianten instantiierender Adamssprache. Entsprechend ist der Blick der beiden Exegeten auf die Frauen im Wasser einer auf zwei Todesarten: Wilma, die große Mutter, und Franziska, die umso gefährlicher ist, als ihre Erotik sich noch vor der verschlingenden Weiblichkeit befindet. Unausweichlich aber wird sie einmal an die Stelle ihrer Mutter treten und den, der sich ihr anheimgegeben hat, in seiner Autonomie vernichten (vgl. zu diesem Modell Dietz 1993). Pagenstechers Schutzschild ist seine Impotenz, wohl eine Folge der vollständigen Verschiebung generischer Kräfte von der realen Sexualität auf die Verbalsexualität. Gezeugt werden hier nur noch Etyms, deren Leben im Zwischenreich todesgetränkter Literatur stattfindet. Zettel’s Traum, gelesen vom Konzept der optischen Etyms her, stellt sich, so meine Überlegung, noch einmal anders dar. Gefordert ist die Entzifferung jeder einzelnen Szene und Situation als perichoretische Darstellung von EtymKonstellationen. Der Text ist ein Sprachtheater, eine Groteske der Sexualität vor allem, weil es im Kern um die generische Macht des Logos und um die Todesverfallenheit dessen, der nur die Sprache hat, geht. Das Spätwerk von Arno Schmidt ist von einer Poetik des Wortes her zu lesen.
11.7 Das Prosa-Wort Dem Wort kommt in der avancierten Prosa eine eigene Poetik zu. Sofern Prosa im hier gemeinten Sinne ihre gesamten Register unter das Prinzip der poetischen Selbstreferenz stellt und vor allem Darstellung der poetischen Grammatik ist, muss dieser Grundzug auch das Wort erfassen. An Fischart, Jean Paul, Joyce und Schmidt wurde exemplarisch aufgezeigt, dass die poetische Funktion nicht nur textamplifizierend, sondern auch wortzergliedernd gedacht werden kann. Sie zerlegt das Wort und baut seine Bestandteile nach Äquivalenzprinzipien um, seien diese phonetischer oder semantischer Art. Die Zerlegung ist radikal. Nicht zufällig spielen dabei Urszenen des Essens eine Rolle, bei Fischart in den Fressorgien, bei Schmidts Poe-Referenz im Verzehr der Eingeweide; und auch bei Jean Paul wären die Essensszenen einer Analyse wert. Im Kauen, also beim Arbeiten mit den linguistischen Werkzeugen, wird die Nahrung zerlegt – eine strenge Analogie zum diäretischen Prozess der Wortzergliederung bis hinunter auf Buchstabenebene und sogar bis auf die Ebene der distinktiven Merkmale.
11.7 Das Prosa-Wort
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Deshalb zeigt sich das Prosawort als immanent mehrsprachiges. Bei den genannten Autoren ist die sprachliche Faktur so angelegt, dass sie das Paradigma der Nationalsprache übersteigt. Der Neuaufbau des Wortes, von der Matrix der Phoneme her, kann verschiedene Sprachen adressieren. In einer poetischen Welt, in der das Wort keine gegebene Größe ist, besteht mithin die Möglichkeit, ausgehend von der reinen Kombinatorik der Phonemmatrix den Übergang von einem Wort der einen Sprache zu einem anderen Wort einer anderen Sprache zu vollziehen. Arno Schmidts selbstverständlich gehandhabte Sprachsexualisierung in der Etymsprache bedient sich ausführlich des Englischen und des Französischen – um die beiden für ihn wichtigsten Sprachen zu nennen –, um im deutschen Wort die im Etym gelagerten Triebschicksale zu entziffern. Übersetzung, hybride Semiose, plurale Semantik, Scheinetymologien und lautliche Analogien gehören entsprechend zum inneren Definitionsbestand des Prosawortes. Traditioneller ausgedrückt wäre von Wortspielen, poetischer Etymologie, Anagrammatik und Poetik des Eigennamens zu sprechen. Diese Phänomene sind Teil des Ensembles, aber durchaus nicht das Zentrum. Das Prosawort kommt von einer Poiesis her, die einerseits in ihrer Geste der Zerteilung radikal ist, andererseits aber auch eine sprachmagische, instantiierende Kraft besitzt.
12 Der poetische Satz Es ist mitunter erstaunlich, welche Desiderata trotz der ganzen Betriebsamkeit der universitären Literaturwissenschaft zu konstatieren sind. Mit Michail Bachtins Schriften existieren Ansätze zu einer Poetik des Wortes, Poetiken der literarischen Textualität liegen ebenfalls vor, seltsamerweise aber klafft zwischen Wort und Text eine große Lücke. Eine Theorie des poetischen Satzes ist nicht vorhanden. In der Lyriktheorie wird über den Vers nachgedacht, über den Begriff des Enjambements kommt der Satz als grammatische Größe ins Spiel, aber meist nur indirekt. In stiltheoretischen Studien werden Eigenarten etwa Wieland’scher Sätze von denen anderer Autoren unterschieden, aber auch hier rückt der Satz selbst kaum in den Fokus. Es scheint also durchaus ein Problem der Theoretisierung zu geben. Wie kann man sich den Satz zum theoretischen Gegenstand machen, zumal unter poetologischen Prämissen? Die Autoren haben, im Gegensatz zur Literaturwissenschaft, offenkundig weniger Schwierigkeiten, den Satz als Gegenstand ihres Nachdenkens zu identifizieren. Jean Paul schreibt in der Vorschule der Ästhetik (§ 45): Die Menschen hoffen (in ihrem halben Lese-Schlafe) stets, im Vordersatze schon den Untersatz mitgedacht zu haben und mithin die Zeit, welche sie mit dem Durchlesen des letzten verbringen, angenehm zur Erholung verwenden zu dürfen – wie fahren sie auf (das kräftigt sie aber), wenn sie dann sehen, daß sie nichts errieten, sondern von Komma zu Komma wieder denken müssen! (JP I/5, 176)
Die Relation von Vorder- und Untersatz (an sich schon eine interessante Unterscheidung) wird hier als Rückstoß interpretiert: Der poetische Satz – es sei unterstellt, Jean Paul rede an dieser Stelle nicht vom normalen Satz der Sachprosa – nötigt den Rezipienten, zu einer Gegenbewegung. Denn der ›Untersatz‹ ist logisch nicht untergeordnet, sodass man sich bei seiner Lektüre ausruhen könnte. Im Gegenteil, er fordert zum Denken auf, offenkundig deshalb, weil etwas Neues hinzugefügt wird. Dann aber wird die aus der Logik herkommende Terminologie von Vorder- und Untersatz aus den Angeln gehoben. Wenn der Untersatz auffordert, den durch den Vordersatz bequem gewordenen semantischen Raum neu denken zu müssen, dann kann der erfolgende Rückstoß sogar dazu führen, dass der Untersatz zum neuen Vordersatz wird und den vormaligen Vordersatz in Haftung nimmt. Diese Bewegung geht gegen die Grundrichtung oder Teleologie des normalen sowie des logischen Satzes. Jean Paul formuliert an dieser Stelle eine Grundfigur dessen, was in den folgenden Ausführungen als poetischer Satz herausgearbeitet werden wird. Der Satz wird in einem Theorierahmen, der einer stilistisch orientierten Kunst der Prosa folgt, vor allem rhythmisch bestimmt (s. o.). In dieser Hinsicht https://doi.org/10.1515/9783110775570-012
12 Der poetische Satz
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bleibt er formkompatibel. Denn der Rhythmus besteht aus gestalthafter Wiederholung, er baut zudem eine gerichtete Spannung auf. Wenn Prosakunst an der Rhythmik der Sätze und an ihrem Numerus arbeitet, dann werden zu gedanklichen und erzählerischen Abfolgemustern auf der syntaktischen Ebene der stilistischen Modellierung Entsprechungen aufgebaut. Diese Aussage gilt für die Kunst der Prosa, sofern diese den jeweiligen Prosaformen zu folgen hat. Wenn Prosa im hier gemeinten Sinne – als grundlegende Umstellung von Form auf Selbstreferenz – sogar eine Kontraposition zur Form ist, dann wird sie sich auch gegen die Form des stilistisch gepflegten Satzes richten. Gibt es dafür Modelle? Kann man den Satz der avancierten Prosa denken, in dem von Form auf Selbstbezug umgestellt wird, also die Satzform durch Selbstbezug unterlaufen wird? Der Satz, der das Fortschreiten subvertiert und eine inverse Wendung vollzieht, wurde in der philosophischen und semiotischen Tradition (Hegel und Peirce) als spekulativer Satz diskutiert. Bei diesen Überlegungen ist anzusetzen. Der poetische Satz geht freilich über den philosophischen Satz hinaus, er vollzieht, was philosophisch nur auf der Ebene des Gehalts ausformuliert wird, performativ. Diese komplexen Zusammenhänge, die zudem eine tiefe bildtheoretische Dimension besitzen, stehen im Folgenden zur Debatte. Bevor mit der Beschreibung dessen begonnen wird, was als Form des Satzes gelten kann, ist eine Bemerkung zu machen. Im Folgenden wird sich die Argumentation wiederholt einer Äquivokation bedienen, wenn der Begriff des Subjekts im satzgrammatischen Sinne und im Wortverstand von Subjektivität benutzt wird. Der Grund für diese Initiative folgt nicht allein den Hegel’schen Argumenten (s. u.), sondern auch der Analyse der Satzform nach Greimas (s. u.), in der der Satz aktantiell instrumentiert wird, um den Agenscharakter der Narration und ihrer Akteure herzuleiten. Da in der Literatur, im Gegensatz zur linguistischen Funktionsbeschreibung, die Satzelemente vitalisiert und als Schemata für größere Textisotopien benutzt werden, liegt ein Ansatz nahe, der die grammatische Position des Subjekts mit den Bestimmungen von Subjektivität anreichert.128
Im Folgenden finden sich längere wörtliche Passagen aus einem schon publizierten Text: Simon 2012b. Das damalige Interesse an einer bildtheoretischen These wird nun aber nur noch als Durchgangsstation für die Poetik des Prosasatzes benutzt.
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12 Der poetische Satz
12.1 Die Form des Satzes als Prädikation: logisch, bildtheoretisch und narratologisch Die folgenden Überlegungen versuchen die Satzform in einem ersten Schritt dadurch zu eruieren, dass die Frage nach der Prädikation gestellt wird. Der Satz hat eine Form, sie drängt zur Narration. Im Satz – so die Grundvorstellung – führt ein Subjekt eine Agensbewegung, spezifiziert durch das Verb, auf ein Objekt aus. Es steht ein Aneignungsmodell im Hintergrund, insbesondere dann, wenn der Satz als Prädikation formalisiert wird. Das Subjekt prädiziert sich Eigenschaften, die dadurch zu seinem Besitz zählen. Die Prädikation wird oft als sprachliche Universalie bezeichnet: »Prinzipiell ist keine Sprache denkbar, deren volle Aussagen nicht die Form der Prädikation hätten« (Lewandowski 1985, II, 795), so die bündige Auskunft in einem gängigen Wörterbuch der Linguistik. Schon im kindlichen Einwortsatz scheinen die Verbalphrasen Prädikatsfunktion zu haben, während das Subjekt nicht artikuliert wird. Der Zweiwortsatz enthält schon diejenige Relation, mit der ›etwas über etwas‹ ausgesagt wird. Der Satz schließlich vollzieht die Prädikation expressis verbis. Geht man vorerst nur bis zum Satz, so kann man feststellen, dass die sprachlichen Einheiten insgesamt zwar nicht in der Realität ihrer Artikulationen, aber in ihrer Handlungsform auf die Prädikation hin angelegt sind. Dabei wird deutlich, dass die Prädikation nicht etwas zum Subjekt hinzufügt, sondern es vielmehr bestimmt und qualifiziert, also den Besitz als einen von Bestimmungen und Charakterisierungen vollzieht. Folgt man dieser Idee, dann entsteht das Schema der Addition: Durch die Prädikation wird eine Reihe von Bestimmungen eingesammelt und einem Satzsubjekt zugeschrieben. Verbunden durch die Klammer des Subjekts lässt sich in diesem Raum des Addierten von Eigenschaft zu Eigenschaft gehen. Formalisiert man die Gangarten, dann wird man den Additionsraum zum logischen Raum machen, wobei die Logik als Lehre von den Übergängen in diesem Besitz von Eigenschaften erscheint. Eine solche Grundvorstellung basiert auf der Limitation der Verben, die auf das Hilfsverb ›sein‹ oder ›gelten‹ (für alle a gilt, dass ... ) oder ›geben‹ (es gibt mindestens ein a, welches ... ) reduziert werden. Daraus resultieren die vier Typen der Relation von Subjekt und Prädikat, die für die Syllogistik grundlegend sind: – Jedes S ist P (allgemein bejahendes Urteil, SaP) – Kein S ist P (allgemein verneinendes Urteil, SeP) – Einige S sind P (teilweise bejahendes Urteil, SiP) – Einige S sind nicht P (teilweise verneinendes Urteil, SoP) Auf dieser Grundlage kann vorangegangen werden (logischer Gang): Der Satz hat die Form, durch die Logifizierung seines Additionsschemas einen Gang zu
12.1 Die Form des Satzes als Prädikation
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etablieren. Die Satzlogik ebenso wie die Linguistik behaupten, in diesem Wesenskern die Satzform identifizieren zu können. Der Satz ist also gerichtet im Sinne eines Formtelos: in sich durch eine vollzogene Prädikation, über sich hinaus durch den Gang im Raum der Bestimmungen und Eigenschaften. Blicken wir an dieser Stelle zu einem der zentralen Orte der Bildtheorie, nämlich zu Husserls Phänomenologie des Bildes (Husserl 2006, 17–36). Im Eröffnungsschritt nimmt Husserl vermöge eines Bildlichkeitsbewusstseins anhand eines physischen Dings, dem Bildträger (Gemälde, Photographie) eine Unterscheidung vor: Das Bildobjekt als das repräsentierende Bild oder als die ikonische Erscheinungsweise und das Bildsujet als das im Bild thematisch Gemeinte werden unterschieden. Anders formuliert: Das Gemälde ist als solches kein Bild, sondern ein Gegenstand der Wahrnehmung, wir können es sehen, anfassen oder riechen. Gibt das Gemälde seine Gabe, nämlich das Bild, dann unterscheiden wir das physische Ding der Wahrnehmung vom Bild, d. h. wir bestimmen unsere Vorstellung dazu, das Vorgestellte als Bild und das im Bild Vorgestellte als Bildsujet zu haben. Diese Bestimmung nimmt eine Qualifizierung anhand eines Zugrundeliegenden (sub-jectum) vor. Es sei die These aufgestellt, dass hier das Schema der Prädikation vorliegt. Genauer: Es handelt sich nicht um einen expliziten sprachlichen Vollzug und erst recht nicht um etwas, das die explizite Form der Proposition hat, aber es werden unterscheidende Bestimmungen an etwas vorgenommen. Und diese Bestimmungen geben dem Sehen eine kritische Einschränkung: Das Sehen soll nicht alles zugleich und ungeschieden wahrnehmen, sondern es soll anlässlich eines Gemäldes das Bild sehen, welches die Seinsart der artifiziellen Präsenz (Wiesing 2005) hat und weder betastet, noch gerochen werden kann. Das Sehen soll also auf eine sehr eigentümliche Weise, indem es sieht, gleichsam das Reale am Gesehenen virtualisieren. Bilder gibt es erst, wenn wir in der Lage sind, ein ikonisches Etwas – Hans Jonas nennt das Bild in diesem Sinne den eidetischen Gegenstand (Jonas 1994) – in die Sphäre der raum- und zeitenthobenen ikonischen Poiesis zu stellen, es also wiederum auch nicht zu sehen, indem wir unser Sehen ontologisch gegenläufig bestimmen. Die Kuh, die zum Gras sagen könnte: Verweile doch, du bist so schön, würde in der Lage sein, ein Bild zu sehen – aber es wäre schnell eine recht magere Kuh, weil sich ihr Sehen vom Wirklichen losgelöst hat. Damit das Sehen zum Bild kommen kann, muss ein prädikationsanaloges Schema vorliegen, das eine Vorstellung zum Bild qualifiziert, also in der Tat eine Seinsqualität zu einer anderen macht. Im Kern ist diese Fokussierung von Etwas-als-Bild die qualifizierende Bestimmung eines der Wahrnehmung Zugrundeliegenden (sub-jectum, als Bildträger) für die innere Konzeptbildung, denn die Vorstellung wird offenkundig nur durch eine Aufmerksamkeitsmarkierung zum Bild promoviert. Diese noch vor dem eigentlichen Sprechakt liegende Markie-
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12 Der poetische Satz
rung, Herder nennt sie inneres Merkwort (Herder DKV 1, 722–729), hat starke Analogien zur Prädikation, denn es wird das jederzeit in der Vorstellung Vorhandene eigens zu einer Form konzentriert, indem es sich für das Bewusstsein vom gesehenen Ding zur artifiziellen Präsenz transformiert. In diesem Sinne verfügen nur solche Wesen über Bilder, denen die Möglichkeit eines nichtpraktischen Verhältnisses zu den Dingen offensteht, also die Möglichkeit, etwas im Zwischenraum der theoretischen Erwägung stehen zu lassen. Das Bild entspringt mithin zwar nicht einem Sprechakt, aber doch einem sprachkonformen Schema der Prädikation. Vielleicht kann man so weit gehen, dass man dieses Schema, etwas als etwas zu bestimmen, gleichsam vor die Disjunktion von Sprache versus Bild setzt: Ohne Unterscheidung kann nichts gesehen werden, aber man hat schon sehen müssen, um daran Unterscheidungen zu treffen. Die gemeinsame Wurzel dieser chiastischen Theoriefigur (Simon 2009, 98–107) ist das Schema der Prädikation, die einerseits die Form der Bestimmung als solche ist, andererseits aber als Bild vorstellig wird. Es gibt Theoretiker, die in der Trennung von Sprache und Bild, von Unterscheiden und Sehen, noch den gemeinsamen Grund erinnern. So kennt Herder den Terminus des Bildwortes (Borsche 2010), Peirce denkt den Satz in der Relation von Erstheit und Zweitheit als ikonisches Bestimmungsverfahren (s. u.) und Wittgenstein deutet den Satz als Bild der Wirklichkeit: »4.01: Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit.« (Wittgenstein 1984, 26) Im Bild zeigt sich das Ergebnis der Prädikation und im Satz vollzieht das sprachliche Verfahren die Prädikation. Die Form des Satzes, bestimmt als Prädikation, bildet also schematisch – vielleicht im Sinne eines weitergedachten Schematismus Kant’scher Provenienz – die erst im Bildbewusstsein erfolgende Konstituierung des Bildes ab und zeigt damit auf, dass das Bild keine naturwüchsige Tatsache der Wahrnehmung ist, sondern aus einer intellektuellen Operation entsteht. Der immanente Prädikationsvorgang, dem die bildtheoretische Grundunterscheidung von Bildträger und Bild innewohnt, drückt sich im Satz als die Bestimmung der bildgebenden Eigenschaft des Bildträgers aus (Bildobjekt, also das Bild als eidetischer Gegenstand), indem zugleich das Bildsujet, also das im Satz thematisch Ausgesagte, miterzeugt wird. Der Satz produziert in diesem Sinne permanent ikonische Korrelate.129
Die vielleicht kurioseste Durchführung dieses Theorems hat die Dudenredaktion seit 1935 mit dem Bildwörterbuch vorgelegt, das den Versuch, die Bedeutung eines Wortes durch ein Bild zu erklären, dadurch realisiert, dass den Substantiven (als den möglichen Satzsubjekten) jeweils ein Bild zugeordnet wird, sodass sich eine vollständige Enzyklopädie der bildlich erfassten Kultur findet (aktuell: Duden Band 3; beworben mit: »30.000 Begriffe in Bildern«). – Die Tradition der Bildwörterbücher reicht weiter zurück, erinnert sei an Comenius’ Orbis pictus oder auch an die frühneuzeitlichen Anatomieatlasse.
12.1 Die Form des Satzes als Prädikation
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Es sei ein dritter Baustein – nach der Charakterisierung der Satzform und nach ihrer bildtheoretischen Beschreibung – hinzugefügt. Die Satzform hängt mit der Narration zusammen, vielleicht ist sogar die logische Gangart (s. o.) nur ein abkünftiger Modus der Erzählung. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass man die Prädikation als sprachliche Universalie bezeichnen kann. Mit einem wohl noch größeren Recht kann man dies von der Erzählung behaupten. Vor geraumer Zeit hat Michael Tomasello erneut auf die erstaunliche Tatsache aufmerksam gemacht, dass unbeschadet der möglichen Formen der Sprachen die elementare Erzählung in allen Sprachen vorhanden ist (Tomasello 2009, 330 f.). Egal ob Sprachen ideographischer oder alphabetischer Natur sind, ob sie einen analytischen oder synthetischen Bau haben, ob sie Formen wie den Dualis, das Passiv oder mehrere Vergangenheitsformen kennen oder nicht: In allen Sprachen wird erzählt. Aus der Perspektive des Märchenforschers kann man hinzufügen, dass sogar die elementare Handlungsform der Erzählung, nämlich das Zaubermärchen, überall in wiedererkennbarer Weise auftritt. Roland Barthes hat in seiner strukturalistischen Phase einmal gemutmaßt, dass die Menschheit überhaupt nur eine kleine Anzahl von Basiserzählungen kennt – und seitdem ist man, um einen Buchtitel zu zitieren, gerne und oft auf der Suche nach den Seven Basic Plots (Booker 2009). Gewinnt die Sprache ihre Universalität auf der Ebene der Erzählung? Die Erzählung handelt in der elementarsten Form davon, dass ein Handlungsagent durch sein Begehren auf ein Objekt bestimmt wird. Dieses Objekt, das das Sein des Akteurs bestimmt, ist das Prädikat, welches von der Ebene der Erzählung auf die Ebene des Satzes hinuntergegeben wird. Die weitreichende Vermutung lautet also: Die Prädikation im Satz ist nur eine abgeleitete und formalisierte Funktion des ursprünglichen, in der Erzählung artikulierten Handlungszusammenhangs. Generisch betrachtet, gibt die Erzählung ihren elementaren Kern ›a hat ein Begehren auf x‹ an den Satz weiter, in welchem das vom Subjekt begehrte Objekt in der Form der Prädikation vorstellig wird. Man hat die Erzählung gerne als einen großen Satz bezeichnet (Barthes 1988, 106: »Die Erzählung ist ein großer Satz«). Aber vielleicht eröffnet die Umkehrung, den Satz als die verkleinerte Erzählung zu verstehen, einen interessanteren Zugang. Es sei also das Experiment unternommen, die Sprache einmal nicht in der aufsteigenden Richtung vom Wort bis zum Satz zu denken, sondern sie von der erzählenden Rede her zum Satz hinunter zu führen. Den fortgeschrittensten Stand einer Grammatik der Erzählung bieten die Überlegungen des französischen Semiotikers Algirdas Julien Greimas (1971). Er setzt an der Propp’schen Analyse des Zaubermärchens (Propp 1975) an und fragt nach der Möglichkeit der Verallgemeinerung des Erzählmodells. Um überhaupt in Gang zu kommen, braucht jede Erzählung eine anfängliche Störung, mit der sie einen Gleichgewichtszustand verändert und die Not-
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wendigkeit der Reparatur einführt. Deshalb liegen ein Schadensstifter und eine geschädigte Person vor. Hinzu kommt jemand, der den Schaden behebt. Der Geschädigte kann sich natürlich selbst helfen; strukturalistisch gesprochen, übernimmt er damit die neue Funktion des eigentlichen Helden, des Handlungssubjekts. Vielleicht braucht der Held Unterstützung: Zaubermittel, technisches Material, Informationen. Also etabliert sich ein Helfer. Während nun der Held tätig wird und in aller Regel sein Zuhause verlässt, muss dort jemand dafür sorgen, dass das stabile weltdefinierende Zentrum nicht kollabiert. Artus hält den Artushof in Ordnung und gewährleistet dessen Stabilität, während seine Ritter im Wald Ungeheuer besiegen. Oder: Während Odysseus in der Welt umherreist, sorgt seine Frau Penelope dafür, dass sein Haus erhalten bleibt. Fast immer ist jemand da, der den Herkunftsort des Märchenhelden hegt und pflegt. Der Mythentheoretiker Mircea Eliade (1954) hat entdeckt, dass viele mythologische Systeme über eine zentrale weltdefinierende Stabilitätsachse verfügen, die sogenannte axis mundi. Jemand muss also zu Hause bleiben und aufpassen, dass das gesamte semantische System justiert bleibt; er muss also den Helden semantisch fernsteuern, damit dieser noch weiss, warum und für wen er kämpft. Dies nennt Propp den definierenden Sender mit der einzigen Funktion »Aussendung des Helden/Auftraggeber« (Propp 1975, 79). Es liegen also bei einer aktantiellen Definition der elementaren Erzählung vor: Schadensstifter, geschädigte Person, eigentlicher Held, Helfer, definierender Sender. In tatsächlichen Erzählungen kann die geschädigte Person mit dem Helden, der auch zugleich sein eigener Helfer ist und zudem noch die Macht der Definition hat, identisch sein. Es ist aber dennoch sinnvoll, die Aktantenrollen zu unterscheiden, selbst wenn sie in einem Akteur zusammenfallen. Dieses Aktantenmodell formalisiert Greimas in einem weiteren Schritt durch drei Unterscheidungen (Greimas 1971, 161–165): 1. Subjekt vs. Objekt (Propp: Held vs. gesuchte Person): Ein Aktant entwickelt ein Begehren auf ein Wunschobjekt und sucht es. Das Begehren ist die Motivation, die Suche führt auf das narrative Verfahren. 2. Adressant vs. Adressat (bei Propp nur eine vage Analogie: Vater der gesuchten Person vs. König, der den Helden bei der Heimkehr belohnt): Insgesamt geht es hier um die Struktur, dass jemand die initiierende Adressierung für die Handlung des Helden vornimmt (Adressant, Sender) und jemand der Empfänger für die Handlung sein muss (Empfänger). Sehr oft sind beide identisch. 3. Adjuvant vs. Opponent (Propp: Helfer vs. Schadensstifter): Es gibt ein Ensemble von unterstützenden Maßnahmen für den Helden und ein Ensemble von gegen den Helden gerichteten Maßnahmen. Werden diese Maßnahmen aktantialisiert, dann ergeben sie Adjuvant und Opponent.
12.1 Die Form des Satzes als Prädikation
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Innerhalb der psychoanalytischen Erzählung hat das Subjekt das Begehren auf ein Wunschobjekt, es wird dabei durch erlaubte Verfahren unterstützt (Adjuvant) und durch verbotene gehindert (Opponent) und es agiert im Namen einer sendenden Instanz (der Vater als Adressant), welche eigentlich die Normen der Gesellschaft adressiert (Adressat). Die These lautet nun, dass diese Kernerzählung das eigentliche Universal der Sprache ist. Die Erzählung als solche findet oberhalb des Satzes statt und damit in einem Raum, in dem die Divergenzen der sprachtypologisch verschiedenen Sprachformen soweit überwunden sind, dass eine Möglichkeit der narrativen Übersetzbarkeit gewonnen wird, selbst wenn sich Quell- und Zielsprache satzgrammatisch stark unterscheiden. Der Grund für diese erstaunliche Konvergenz liegt wohl schlicht im anthropologischen Universal der Handlung. Wenn Menschen handeln, dann agieren sie intentional auf Objekte, wobei sie teils unterstützt und teils behindert werden, einen Auftrag ausführen und eine Adressierung ihrer Handlung kennen. Die elementare Struktur der Erzählung bildet die elementare Praxisform menschlichen Handelns ab. Es liegt nun nahe, die Frage der Prädikation genau mit dieser Form der Erzählung zu verbinden. Was sich in unseren Satzgrammatiken als Satzobjekt darstellt, entspricht dem begehrten Objekt der Erzählung, während die gesamte Prädikation, vor allem also das Verb, die genaueren Umstände der Objekterlangung benennt. Und wenn es die Erzählung ist, welche mit dem Objekt des Begehrens seine komplette Szene zu entwerfen hat, dann wird auch klar, dass die Frage des Bildes mit dieser sprachlichen Tätigkeit zusammenhängt. Denn die Erzählung malt die Szene aus, sie orchestriert das begehrte Objekt zu einer ikonisch präsentifizierten Entität, sie lässt die Welt, die in der Sprachlichkeit überhaupt als implizit logosförmig unterstellt wurde, nunmehr explizit entstehen. In der Erzählung wird jemandem, der das Erzählte nicht erlebt hat, die Szene der Handlung vor Augen geführt. Derart muss die Erzählung ihr Ziel in der sprachlich evozierten Bildlichkeit finden, während der Großteil der klassischen Malerei eben genau darin seine Hauptaufgabe sah, den Plateau gewordenen Inbegriff der Erzählung zu malen, nämlich die mythologische Szene. Der Satz kondensiert diese Verhältnisse in die denkbar konzentrierteste Form. An ihm ist abzulesen, dass ein Handlungssubjekt vermöge der Bestimmungsfunktion des Verbes ein Begehren auf ein Satzobjekt hat und seinerseits durch dieses Satzobjekt bestimmt wird. Die Deutung des Satzes hinsichtlich der Prädikation kann nun näher bestimmt werden. Bezüglich der Erzählung kann man sagen, dass das Sein des Handlungsträgers funktional darin besteht, das Objekt seiner Begierde zu erlangen: Der Akteur ist derjenige, der etwas haben will – dies ist seine Definition.
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Ganz entsprechend ist das Satzsubjekt nichts anderes als das, was ihm durch die Bestimmung der Prädikation zugesprochen wird. Der Satz macht also eine Aussage, in der eine formale und zugrundeliegende Position eine Qualifikation erhält. Genau betrachtet ist dies das Schema, welches oben mit Husserls doppelter Unterscheidung angedeutet wurde: Der zugrundeliegende Bildträger erhält die Qualifikation, nicht als er selbst, sondern als das gesehen zu werden, was er zeigt (›Bildobjekt‹) und dies hinsichtlich dessen, was darin gezeigt wird (›Bildsujet‹). Die Prädikation wandert in das Subjekt zurück und bestimmt es als das, was es durch den Satz sein soll. Peirce hat diesen Gedanken in seiner spekulativen Grammatik in wünschenswerter Klarheit formuliert (Peirce 1983, 64–98). Es geht ihm um eine ikonische Theorie des Satzes, nach der das Satzsubjekt eine Zeigefunktion (Index) ist, die vermittelst des Verbs auf ein Objekt zeigt, welches ein Bild ist (Ikon). Der Satz (Proposition) baut eine Relation zu einer für sich bestehenden Erstheit (Ikon), auf die verwiesen wird (Index), auf. Dieser Satz besteht aus »zwei Teilen« (Peirce 1983, 68) und ist als Satz eine logische Tatsache, er bezeichnet etwas: Referenz heißt hier, dass eine Zweitheit auf eine andere Kategorie verweist, nämlich auf eine Erstheit. Referenz wird also nicht als Bezug zum Ding in der Welt verstanden, sondern als Zeigen des Bildes vermöge des Satzes. Dieser so simple wie grundlegende Gedanke formalisiert das Satzsubjekt zur bloßen Zeigefunktion auf ein Objekt, welche als Ikon erst quasi den Weg der Prädikation zurückgehen muss, um das Subjekt mit Inhalt zu füllen.130 Damit ist, um zu einem Zwischenfazit zu kommen, die Form des Satzes mehrfach und sich ergänzend bestimmt: Der Satz ist eine Relation zwischen einem Agens-Subjekt und einem begehrten Objekt, wobei deren Bezug durch das Verb spezifiziert wird (Prädikation). In dieser Form bietet sich die Prädikation zu einer Formalisierung an, welche aus dem Additionsraum der das Satz-Subjekt charakterisierenden Objekt-Eigenschaften bei Limitation der Verben eine Gangart der logischen Verknüpfungen zuschreibt: Der Satz geht über sich hinaus. Dies tut er auch, wenn er als Schema der Narration gedacht wird, bildet er doch die Rancières Gedanke, den Satz aus den beiden Bestimmungen der grammatisch integrierenden Funktion und des ikonisch desintegrierenden Bruches herzuleiten (Rancière 2005, 57 f.), lässt sich als verkürzte (und eigenwillige) Interpretation von Peirce deuten. Das Satzsubjekt als Index stellt den Bezug her, der den Satz grammatisch konstituiert, während das Ikon als Prädikat zunächst ganz für sich steht, als gleichsam selbstgenügsame Erstheit, die nicht die Tendenz hat, von sich her eine Ebene der Zweitheit etablieren zu wollen. Freilich ist bei Peirce die Erstheit selbst überhaupt nur dann vorhanden, wenn sie von einer Zweitheit her fokussiert wird. Insofern ist dieses Sein-in-sich der Erstheit immer schon eine Relation und also in negativer Weise eine integrierende Funktion. Liest man Rancière als Deutung von Peirce, dann wird man konstatieren müssen, dass Rancière die Erstheit hypostasiert.
12.2 Der spekulative Satz (Philosophie)
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erzählerische Grundbewegung eines vom Subjekt aus gesteuerten Handlungsbegehrens ab. Die mit einer Handlung gegebene Ausgangssituation wiederum kommt als Szenographie der grundlegenden Bildlichkeit entgegen, die ihrerseits von der Satzform geleistet wird, wenn man die Prädikation als Bilddeutung eines Bildträgers (sub-jectum) deutet. Die Form des Satzes ist mithin zielgerichtet. Sie zielt auf den nächsten Satz. Der Satz bleibt nicht bei sich, ihm ist das Voranschreiten – logisch oder narrativ oder ikonisch – eingeschrieben. Sprachliche Formen und insbesondere die Formen der Literatur (Gattungen) basieren mithin in der einen oder anderen Weise auf dieser Formbestimmung des Satzes. Richtet sich die Prosa gegen die Form, dann wird sie einen starken Impuls haben, den Satz in seiner Form anzugreifen, ihn in Frage zu stellen. Natürlich, nicht jede Prosa realisiert sich notwendigerweise als syntaktischer Ikonoklasmus, aber dennoch ist gerade diese Dimension, wie nachzuweisen sein wird, in vielen Prosatexten auffällig. Der Gang zu diesem argumentativen Nachweis wird zunächst eine Zwischenstation beim Theorem des spekulativen Satzes einlegen.
12.2 Der spekulative Satz (Philosophie) Schon bei Peirce (1983: Kap. »Spekulative Grammatik«) erscheint der Satz als eine Funktion der wechselseitigen Präsentifikation des Subjekts durch seine Prädikation und des in der Prädikation evozierten Objekts durch die indexikalische Bezugnahme des Subjekts. In diesem Sinne vollzieht der Satz die bildkonstituierende Unterscheidung, indem er weder das Subjekt hypostasiert (der Bildträger ist nicht das Bild) noch das Bild und seinen Inhalt (Bildobjekt und Bildsujet) aus dem Satzgefüge in eine scheinhafte ontologische Autonomie entlässt. Der Satz führt also auch zu einer verändernden Bestimmung des Satzsubjekts. Er ist in dieser Peirce’schen Deutung als Bewegung einer Wechselbestimmung gedacht, ganz so, wie Hegel den spekulativen Satz versteht. In ihm erleidet das vorstellende Denken, das sich mit der dargestellten und fixen Unterscheidung von Subjekt und Prädikat beruhigen will, einen, wie Hegel sich ausdrückt, hemmenden Gegenstoß: Vom Subjekte anfangend, als ob dieses zum Grunde liegen bliebe, findet es, indem das Prädikat vielmehr die Substanz ist, das Subjekt zum Prädikat übergegangen und hiermit aufgehoben; und indem so das, was Prädikat zu sein scheint, zur ganzen und selbständigen Masse geworden, kann das Denken nicht frei herumirren, sondern ist durch diese Schwere aufgehalten. – Sonst ist zuerst das Subjekt als das gegenständliche fixe Selbst zugrunde gelegt; von hier aus geht die notwendige Bewegung zur Mannigfaltigkeit der
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12 Der poetische Satz
Bestimmungen oder der Prädikate fort; hier tritt an die Stelle jenes Subjekts das wissende Ich selbst ein und ist das Verknüpfen der Prädikate und das sie haltende Subjekt. Indem aber jenes erste Subjekt in die Bestimmungen selbst eingeht und ihre Seele ist, findet das zweite Subjekt, nämlich das wissende, jenes, mit dem es schon fertig sein und worüber hinaus es in sich zurückgehen will, noch im Prädikate vor, und statt in dem Bewegen des Prädikats das Tuende – als Räsonieren, ob jenem dies oder jenes Prädikat beizulegen wäre – sein zu können, hat es vielmehr mit dem Selbst des Inhalts noch zu tun, soll nicht für sich, sondern mit diesem zusammen sein. (Hegel III, 58 f.)
Das Satzsubjekt holt sich nicht in einer Geste der Addition ein Prädikat hinzu, um mit diesem Besitz seine logische oder narrative Gangart zu vollziehen, sondern es geht als es selbst in die Prädikation hinüber, dorthin, wo sich der eigentliche substantielle Inhalt findet. Das Prädikat bekommt so eine eigene Schwere und ist nicht einfach einzusammeln und dem Raum der Addition zuzuordnen. Vielmehr erfährt das Satzsubjekt durch die Prädikation einen Widerstand. Erst das Wissen über diesen Gegenstoß etabliert das wissende Ich als das zweite Subjekt, welches den Inhalt der Prädikation in sich aufgenommen hat und durch sie bestimmt wurde. Stärker noch: Diese Bestimmung schlägt so auf das Satzsubjekt zurück, dass es darüber nicht unverändert bleibt. Hegels Kritik am herkömmlichen, undialektischen Philosophieren besteht in diesem Zusammenhang darin, dass der Denkvorgang nicht als Ordnen eines Sacks von Begriffen zu verstehen sei. In der Idee einer formalisierten Begriffslogik bleibt das Satzsubjekt durch die Prädikationsakte unverändert, es sammelt seinen Besitz und ordnet ihn, sodass der Additionsraum zu einem logischen Raum wird, in dem konstant bleibende Merkmalsbündel (Begriffe) vorliegen. Tatsächlich aber, so Hegel, ist jede von der Widerständigkeit des Prädikats auf das Subjekt zurückstoßende Inhaltsbestimmung auch eine Veränderung des Subjekts. Die Aneignung von substantiellen Bestimmungen verändert das Subjekt in sich; es macht Erfahrungen; es wird reicher und auch anders. Der semantische Prozess des Satzes lässt seine Relationsglieder nicht schlichtweg als dieselben bestehen, die sie vor dem Satzvollzug noch gewesen sind. Durch die Satzrelation geschieht es, dass das Subjekt infolge der neuen Bestimmung ein anderes geworden ist, als es vor der Bestimmung gewesen war. Die formale Logik ignoriert, so Hegels tiefgreifender Vorwurf, dass Denken eine Bewegung ist, die die sich Bewegenden in ihrem Wesen ergreift. Wenn ein Begriff in komplexe semantische Zusammenhänge eingeht, gewinnt er an Bedeutung, an Signifikanz. Letztlich verändert sich mit einer Prädikation der Ort des Satzsubjekts im differentiellen Gefüge der Unterscheidungen. Der spekulative Satz hat seinen Namen von dem spiegelnden (speculum) Hin und Her zwischen Subjekt und Prädikat. Durch diese Beschreibung wird der Satz als in sich gehemmt vorgestellt. Er kann seine Gangart nicht sofort an-
12.3 Der poetische Satz (Prosa)
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treten, seine über ihn hinausdrängende Formbestimmung wird durch den spekulativen Rückstoß aufgehalten. Bei Hegel schlägt diese Theorie des Satzes durchaus auf die philosophische Methodik des Darstellens zurück, bis in die Syntax der Sätze, die oft selbst eine dialektische Bewegung abbilden. Diese Darstellungsweise bleibt weithin im Dienst des Gedachten, sie ist eine Funktion des philosophischen Gedankens. Vor allem aber etabliert Hegel, indem er die traditionelle Satzform unterläuft, eine neue Form, sodass ihm die Formsubversion nicht der Anlass sein kann, das Moment der Subversion als solches voranzutreiben. Genau an dieser Stelle aber setzen die Überlegungen zum poetischen Satz an.
12.3 Der poetische Satz (Prosa) Die einfachste, den Überlegungen des russischen Formalismus folgende Bestimmung würde lauten, dass die Satzform dann spürbar wird, wenn ihr Formmoment unterbrochen, entfremdet oder entautomatisiert wird. Was Hegel mit dem spekulativen Satz auf der Ebene des philosophischen Gedankens beschreibt, ist poetisch als materiale Performanz zu denken und im Falle der Prosa vor allem als formdestruktive Bewegung, in der der Rückschlag des Satzes nicht zu einer Bereicherung des Satzsubjekts führt, sondern vielmehr zu seiner Dissemination, Zerstreuung oder Nichtidentität. Die grundlegende Energie der Prosa richtet sich als Selbstreferenz auch syntaktisch gegen die Form. Und sie wird, wie bei allen anderen Gedankenfiguren, die bislang erörtert wurden, mit einer Geste der Zergliederung, der Zerreibung und der Aufsplittung einhergehen. Zunächst sei jedoch an die Schematisierung des Satzes und seiner Satzglieder erinnert, die im lyrischen Vers vorgenommen wird – ist doch die Reflexion des Verhältnisses von Satz und Vers in der traditionellen Poetik der einzige Ort, an dem wenigstens ansatzweise der Satz in poeticis thematisch wird. Der Vers entspricht nicht dem Satz, aber er korrespondiert mit syntaktischen Einheiten, oft mit dem Ende von Satzgliedern, sehr oft mit dem Abschluss eines Kolons. Das Kolon wird oft als Satzteil beschrieben, ist aber eher die rhythmischsyntaktische Konvergenz von Artikulations- und Atemeinheiten mit grammatischen Gliederungen. Im Regelfall umfasst ein Vers ein bis drei Kola und endet mit einer syntaktischen Gliederungsmarkierung (Punkt, Komma etc.). Ist dies nicht der Fall, dann liegt ein Kunstgriff vor: Als Enjambement gilt die Sichtbarmachung der syntaktischen Form durch ihre Störung infolge des Nichtzusammenkommens von Versende und Ende einer syntaktischen Gliederungseinheit. Durch das Enjambement wird also der Satz keineswegs außer Kraft gesetzt, er wird vielmehr betont, durch eine poetische Entautomatisierung der syntakti-
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schen Form eigens aktualisiert und herausgestellt. Insofern die Versform die Satzform auf diese Weise unterstützt, liegt in der Lyrik zunächst eine Betonung der Form vor, sowohl im Normalfall einer Korrespondenz von syntaktischer und lyrischer Versfinalisierung als auch im Fall des Enjambements. Tatsächlich entspricht dieser Form die Instituierung eines lyrikspezifischen Subjekts. Das lyrische Ich lässt sich in diesem Zusammenhang als Aktantialisierung des Satzsubjekts lesen. Es ist die formale Integrationsklammer der im Gedicht ausgesagten Prädikationen (vor allem: Tropen und Figuren), also prima vista der Name für den Raum der Addition der Prädikate. Der Vers finalisiert sich doppelt – durch Reim und Metrum – und trägt durch diese Form dazu bei, den satzanalogen Additionsraum des lyrischen Ichs als Summe der Versaussagen entstehen zu lassen. Somit kann man sagen, dass sich die Lyrik auch hier formaffirmativ verhält. Tut sie dies nicht, etwa in der Lyrik Paul Celans, dann lautet der Vorschlag, von einer Prosaisierung der lyrischen Form zu sprechen. Diese Affirmation der Satzform findet in der Prosa nicht statt. Wo die Lyrik noch aus der Außerkraftsetzung der Satzform im Enjambement ein Argument für die Form macht, sprengt die Prosa diesen Raum der Form. Deshalb ist in der Prosa die Markierung des Satzes radikaler, sie erfolgt aus einer Position ›nach der Form‹ heraus. Der Terminus des poetischen Satzes wird hier aus diesem Grunde für die Prosa reklamiert. Erst sie treibt den Satz über den Raum seiner Form hinaus, um dergestalt seine poiesis von Grund auf reflektieren zu können. Der poetische Satz überführt also den Gegenschlag des spekulativen Satzes in eine syntaktische Performanz, sodass der Gegenschlag nicht mehr, wie im philosophischen Diskurs, in den Gedanken zurückgeführt werden kann. Syntaktische Selbstreferenzen führen zu spezifischen Effekten. Diese Aussage kann folglich nur in einer Reihe von Exegesen plausibel gemacht werden, die diese Performanz nachvollziehen.
12.4 Der poetische Satz als Apokoinu (Wollschläger) In Hans Wollschlägers Herzgewächsen findet sich eine radikale Aussetzung des Satzes. Der Text besteht aus mehr oder weniger langen Abschnitten, die syntaktisch mitten in der grammatischen Sequenz beginnen und auch enden, wobei der Übergang zum nächsten Abschnitt meist nur sehr lockere oder gar keine grammatischen oder syntaktischen Anschlüsse sucht. Typographisch wird mit normaler oder kursiv gesetzter Type und mit verschiedenen Schriftgrößen gearbeitet. Anfangs scheinen dadurch die Abschnitte voneinander unterschieden zu sein, aber auch dieser Eindruck wird durch zunehmende Verschränkungen der typographischen Optionen aufgehoben. In den Abschnitten finden sich keine
12.4 Der poetische Satz als Apokoinu (Wollschläger)
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Satzendpunkte. Es sind Doppelpunkte und Gedankenstriche, die den Schematismus der Satzgliederung evozieren: [...] : ihr Blick irrte ab – ging : über mich hinweg – über Wände und Einwände – weiß ge : spie gellte Flächen – ein : leises Schillern weiß ein : schallhaftes Lächeln spiegelte sich leise schillernd darin – ge : knittert – Kalk – ge : wand sich alt ge : kalktert – wehrend – ich : den Kopf gegen die wandte den während ich whostend den Kopf gegen die Fenster – ich : wer – ich : öffnete hustend den rechten Flügel : hakte halbschräg ein : und es fing Licht in eine Licht in Eine Lichtwelt : [...] (Wollschläger 1982, 19)
Um mit einer kleinen Beobachtung zu beginnen: Es findet sich vor und nach dem Doppelpunkt jeweils ein Spatium. Bei einem grammatisch eingesetzten Doppelpunkt würde zwischen letztem Buchstaben und anschließendem Punkt oder Doppelpunkt der Abstand fehlen, der sich dann aber vor dem nächsten Satz einstellt. Die Doppelpunkte bei Wollschläger erzeugen, ähnlich wie die Gedankenstriche, eher Beiordnungen, weniger haben sie eine grammatische Funktion. Man wird wohl noch entschiedener beschreiben müssen: Wollschlägers Text erzeugt geradezu umfassend einen Effekt, den die Rhetorik mit dem Terminus Apokoinu131 benennt. Eine syntaktische Sequenz ist grammatisch in beiden Richtungen integrierbar, nach vorne und nach hinten. So kann das Wort »wehrend« noch die Gegenwehr der weiblichen Person meinen, zugleich aber führt es die Bedeutung von ›während‹ mit und legt den Fokus auf das Handeln des Ichs. Tatsächlich nötigt der Text dem Leser eine intermittierende, stockende Lektüre auf, die sich permanent rückversichert, indem sie Hypothesen über die syntaktische und semantische Integrierbarkeit aufstellt. Der Text ist boustrophedonisch organisiert (s. o.). Schon die Wände am Anfang des Wollschlägerzitats sind neben der unterstellten Primärbedeutung weiß gekalkter Zimmerwände auch Einwände, sodass der abirrende Blick auch – vielleicht vor allem – eine Infragestellung des Ich vornimmt. Dabei ist der ganze Text voll von Echoeffekten und Gegenwendungen, fast schon als wäre er eine Allegorie auf seinen boustrophedonischen Charakter: Die weißen Wände sind wie Spiegel; es handelt sich aber vor allem um akustische Spiegelungen (»gellte«), also um Echos, die als Schallwellen schillernd oszillieren; gegen diese Gegen-
Das Apokoinu gehört zur constructio (und dort zu den Verkürzungen, Brachylogie) und hat die Eigenart, dass eine Satzsequenz doppelt beziehbar ist: vom vorangehenden Satzgebilde her und ebenso vom nachfolgenden. Ein gern zitiertes Beispiel aus Schillers Wilhelm Tell lautet: »Was sein Pfeil erreicht,/Das ist seine Beute,/Was da kreucht und fleugt.« Die beiden ersten Verse ergeben einen Satz, ebenso die beiden letzten, womit die mittlere Sequenz grammatisch doppelt in Anspruch genommen ist.
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wendungen gibt es die Gegenwendung des Ichs als Gegenwehr (»wehrend«); schließlich findet sich eine Wendung von Licht gegen Licht durch das halbe Öffnen der Fenster. Permanent kehrt sich der Text gegen seine Richtung, das Lesen selbst gerät in eine Krise. Wer Wollschlägers Herzgewächse durchlesen will, kann dies nur in einem ersten Akt der Textvergewaltigung tun, dem dann endlose Repetitionsakte der Wiederherstellung folgen. Es handelt sich um ein Textlabyrinth, das seine innere Unendlichkeit aus der Permanenz von Selbstbezüglichkeiten bezieht, die wesentlich aus der Unterbrechung der Satzform entstehen. Die Herzgewächse stellen den Rückschlag der Prädikation auf Dauer und versetzen die Satzrelation von Subjekt und Prädikat in einen Zustand, den man erneut mit Nancys bildtheoretischem Begriff als distinktes Oszillieren bezeichnen kann (Nancy 2006, 109–133). Wo Hegel das bereicherte Subjekt dann doch in der Form dialektischen Denkens stabilisiert, wird bei Wollschläger das Satzsubjekt tendenziell auch das Satzobjekt. Die systematisierte Apokoinu-Struktur hält die Satzrelation in der Schwebe, welche durch den Doppelpunkt, umgeben von Spatien, markiert wird. Anstelle von forminitiierender Prädikation findet sich hier eine syntaktische Schaukelfigur. Man mag in den Herzgewächsen durchaus erzählerische Makrostrukturen finden, aber die Textbewegung auf der Ebene, die einmal die des Satzes gewesen ist, vollführt engste Konstellationen von Selbstreferenz. Tatsächlich ist bei Wollschläger syntaktisch alles in boustrophedonische Autoreflexivität versetzt, das Ich kann nicht anders wahrnehmen als immer schon in der Form vielfacher Wiederholungen, Kommentierungen und Selbstbegegnungen.
12.5 Der poetische Satz als Wurm-Fort-Satz der Logik (Jean Paul) Zu Beginn des zweiten Bändchens des Siebenkäs findet sich eine der vertrackten Vorreden Jean Pauls, deren erste Hälfte zwecks einlässlicher Interpretation im Folgenden Stück für Stück zitiert sei (JP I/2, 146–149). Organisiert ist die Textpassage als Abfolge von Heischesätzen, also als Abfolge eines deduktiven, streng schlussfolgernden Gedankenganges, der allerdings sofort ad absurdum geführt wird. Vorrede vom Verfasser des Hesperus Ich kann Folgendes schlußkettenweise heischen (postulieren), und zwar in Gleichnissen. (JP I/2, 146)
Schon der erste Satz ist, liest man ihn als Heischesatz, ein performativer Widerspruch. Adelung schreibt in seinem Wörterbuch:
12.5 Der poetische Satz als Wurm-Fort-Satz der Logik (Jean Paul)
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Der Heischesatz, des -es, plur. die -sätze, in der Philosophie, ein praktischer Satz oder Übungssatz, welcher aus einer Erklärung geschlossen wird, weil man mit Recht heischen oder fordern kann, daß man ihn einräume; ein Forderungssatz, Postulatum. (Adelung II, 1088)132
Da der Terminus Heischesatzes eine strenge Logik, nämlich das Schlussfolgern in Ketten und das logische Fordern der Konsequenz meint, stellt sich Jean Pauls Satz in den Widerspruch zu sich selbst, wenn er behauptet, dass er in Gleichnissen organisiert sei. Blickt man auf die historische Semantik des Wortes Gleichnis, so besitzt es im achtzehnten Jahrhundert durchaus auch die Nebenbedeutung für das, was heute Bild genannt wird.133 Damit ist sofort der Konnex von Bildlichkeit (Gleichnisse) und Logik (Schlussketten) als Basisbestimmungen der Satzform etabliert, freilich nur, um gerade diese beiden Konstituenten der Form zu unterlaufen. Indem Jean Paul in diesem Satz die Satzform selbst zitiert, kann man den Satz hinsichtlich seiner syntaktischen Form – es wird der einzige Satz bleiben, den man ohne Weiteres verstehen kann – nur als
Das Grimmsche Wörterbuch führt aus: »HEISCHESATZ [Lfg. 10,4], m. postulatum. der ausdruck war zu anfang des 18. jh. in der mathematik üblich: postulatum, ein geheischter satz. KIRSCH cornuc.; postulatum, ein heischesatz, wird insgemein ein satz genennet, den man ohne beweis zu geben von einem andern fordern kann. mathemat. lex. (1747) 1, 1032. CHR. V. WOLF verpflanzte das wort mit etwas geänderter bedeutung in die philosophie: die erwegungs-sätze, welche aus einer erklärung hergeleitet werden, nenne ich grund-sätze; die übungssätze, welche man aus einer erklärung schlieszet, heischesätze. vernünft. gedanken v. d. kräften des menschl. verstandes (5. aufl. 1727) s. 78; und seither erscheint es mehrfach angewendet: was ich hier blosz postuliere (nämlich die annahme, es habe eine sehr frühe sammlung von nachrichten über Christi leben existirt) wird sich in der folge zeigen, dasz es wirklich so gewesen. man müszte gar nicht wissen, wie neugierig die menge nach allem ist, was einen groszen mann betrift, für den sie einmal sich einnehmen lassen, wenn man mir diesen heischesatz streitig machen wollte. LESSING 11, 496; ich nehme dieses als einen heischesatz an, dasz die vorstellungskraft der seele sich nach lage der körper richtet. RABENER sat. 2 (1761) 278; frevelt man aber mit einem philosophen, so erbittert man gewis ein ganzes heer junger schriftsteller, welche das lehrgebäude ihres abgotts durch heischesätze, lehrsätze, grundsätze, und aufgaben, vertheidigen. 293; ein ernsthafter, nüchterner, förmlicher, strenger mann, der .. den kopf voll definizionen, lehrsätze, heischesätze und korollarien hatte. WIELAND 15, 172; heischesätze, apophthegmen, philosopheme .. ersinn ich in éiner woche unzählige. J. PAUL Titan 2, 1.« (Grimm DWb »Heischesatz«, Bd. 10, Sp. 901). Im Eintrag »Gleichniß« finden sich bei Adelung u. a. folgende Definitionen: »Ein körperliches Bild, welches eine andere Person oder Sache abbilden oder doch vorstellen, einige Ähnlichkeit mit derselben haben soll [...] Ein Wort oder eine Rede, welche eine uneigentliche oder bildliche Vorstellung einer andern Sache enthält. [...] In engerer und gewöhnlicherer Bedeutung, eine Rede, welche eine andere Sache unter einem sinnlichen Bilde begreiflich macht« (Adelung II, 716).
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Parodie lesen. Signalisiert ist damit auch, dass dieser Prosaautor das Prinzip der Prosa bis hin zur Frage des Satzes durchreflektiert hat. Manche Schriftsteller, z. B. Young, zünden ihren Nervengeist an, der wie anderer Geist (eau de vie) alle Personen, die um das flimmernde Dintenfaß herumstehen, mit einer täuschenden Totenfarbe anwirft und bestreicht; – nur leider schaut beim Kunststück jeder nur den andern an, und keiner in den Spiegel; in den Menschen und in den Schriftstellern wird durch die Nachbarschaft der allgemeinen Sterblichkeit um sie her nichts als ihre Empfindung der eignen exzeptivischen (ausnehmlichen) Unsterblichkeit erhöht; aber dies labt uns alle ungemein. (JP I/2, 146 f.)
Der Satz ist nahezu unlesbar, er muss verlangsamt, Satzglied für Satzglied entschlüsselt werden. Schon diese Gangart der Langsamkeit stellt sich gegen das Formtelos des Fortschreitens. Eau de vie ist der Name für Schnaps. Manche Schriftsteller zünden ihren Nervengeist an, nämlich: Sie bringen sich in den angeregt temperierten Zustand der poetischen Produktion. Man erwartet, dass mitgeteilt wird, wie Schriftsteller dies tun; kurz: Man erwartet einen Vergleich. Dieser jedoch bleibt aus. Man muss den Satz mehrmals lesen, um zu verstehen, dass die Syntax die oberflächige semantische Verbindung – manche Schriftsteller zünden ihren Nervengeist an, indem sie Schnaps trinken – durchaus nicht vollzieht. In einem gewissen Sinne bleibt der Satz unvollständig. Diese elliptische Form wiederholt sich. Denn der Nervengeist bestreicht alle um das Tintenfass herum stehenden Personen mit Totenfarbe. Auch hierfür erwartet man eine Erklärung, aber diese bleibt aus, was sogleich, nämlich nach dem Gedankenstrich, gesagt wird. Eine sehr seltsame Konstruktion. Bei dem Satzteil vor dem Gedankenstrich scheint die Aussage zu sein: Der Zustand poetischer Produktion, in den manche Schriftsteller geraten, dadurch dass sie sich den Nervengeist anzünden (während andere Schnaps trinken), hat zur Folge, dass alle Personen das Antlitz des Todes bekommen. Die um das Tintenfass herum stehenden Personen sind als das im poetischen Prozess imaginierte Personal zu deuten, das ja, materialiter gesehen, aus der Tinte entsteht. Das ist eine radikale Aussage: Der poetische Prozess macht den Poeten zum Toten, er findet sich umstellt von seinen fiktiven Figuren, die seine Totenwächter sind. Schreiben tötet. Die poetische Schrift ist das Medium des Todes. Noch genauer: Eigentlich betreibt der Poet seinen Tod, indem er sich verausgabt, seine eigene Lebenssubstanz in seine Figuren steckt, die als Tote um sein Tintenfass stehen. Der zweite Teil des Satzes, nach dem Gedankenstrich, beginnt mit der Aussage, dass leider keiner bei diesem Kunststück zuschaut. Dieses Kunststück: Das ist zunächst der Text selbst, aber auch die ästhetische Selbsttötung des Dichters. Die performative Schleife, die hier gezogen wird, gibt zu verstehen,
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dass man zuerst falsch gelesen haben würde, wenn man den Nervengeist mit dem Schnaps identifiziert hätte. Das Kunststück dieses Textes besteht folglich darin, die semantische Verknüpfung gegen die syntaktische Ellipse zu führen. Und dabei schaut niemand richtig hin. Niemand schaut in den Spiegel, welches der Spiegel erstens der Selbstreflexion und zweitens der Spiegel dieses Textes ist. Weil jeder nur den anderen anschaut, weicht jeder sowohl dem Tod als auch der Lektüre aus. Am Tod der anderen – der Nachbarschaft der allgemeinen Sterblichkeit – erfährt ein Mensch, der sich der Selbstreflexion enthält, fälschlicherweise nur die Empfindung der eigenen Unsterblichkeit. Dieses falsche Dasein, das der mit dem Spiegel gesetzten Reflexion und dem Spiegel des Lesens ausweicht, wird überraschenderweise im letzten Syntagma positiv gewertet: »[D]ies labt uns alle ungemein«. Auch diese Wendung ist radikal: Weil wir dem genauen Lesen ebenso ausweichen wie dem Reflektieren über unsere todesverfallene Sterblichkeit, erfahren wir Linderung und Labung. Es ist gut, dass wir nicht permanent daran denken, dass wir sterben werden. Und ebenso ist es gut, dass wir Text-Kunststücke wie das vorliegende in der Regel nicht genau lesen. Was würde passieren, wenn wir es genau lesen würden? Die Lektüre des Romans würde sterben. Das Lesen der Prosatextur würde zu lange dauern, man würde mit dem Roman nie fertig werden. Die Handlung, der Fortgang im Text: Dies beginnt zu sterben durch die übergenaue Lektüre, die freilich die einzige ist, die den Text versteht, und folglich die einzige, die versteht, dass die poetische Schrift das Medium des Todes ist. Hier schreibt Schreiben gegen das Schreiben – eine Form des feinsten Selbstmordes. Jean Paul inszeniert eine denkbar radikale Figur. Er schreibt einen (elliptischen) Satz, den man bei normaler Romanlesegeschwindigkeit nicht verstehen kann, sodass er unterstellen kann, dass er nur überflogen werde, was uns alle ungemein labt. Dies ist die Form dieses Satzes: bloße Oberfläche. Inhaltlich gibt der Satz sein Geheimnis nur preis, wenn man gegen den Roman die Prosatextur liest. Dann sagt der Satz, dass er beim ›normalen‹ Lesen nicht verstanden werde und dass er, würde er verstanden, den Verstehenden in die Gesellschaft von Toten einführt. Form wird gegen Selbstreferenz geführt, wobei Form Oberfläche, Selbstreferenz die eigentliche substantielle Tiefe ist. Daraus ergibt sich nun, dünkt mich, die Folge leicht✶, daß ein Dichter im fünften oder funfzigsten Stockwerk zwar Gesänge, aber keine Hochzeit und Haushaltung machen kann, geschweige ein gutes Haus: gleicht er nicht den Kanarienvögeln, die zum Hecken einen größern Bauer brauchen als zum Singen? (JP I/2, 147)
Nach den nicht unerheblichen Schwierigkeiten des zweiten Satzes verspricht der dritte Satz, dass die nächste Heischeaktion »leicht« fallen wird. Aber tatsächlich ist das nun folgende Gleichnis ziemlich dunkel, und der Text wird
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auch dadurch nicht einfacher, dass er noch mit einer Fußnote (s. u.) versehen ist. Zunächst zum Obertext: Das erste Wort lautet »daraus«. An was genau schließt der dritte Satz an? Es sei das Nächstliegende, nämlich die Labung, als Textreferenz vermutet. »Daraus«, dass wir uns laben, indem wir den Tod verdrängen und nicht genau lesen, folgt leicht, dass ein Dichter nicht gänzlich von vorne beginnen kann. Nämlich: Ein Dichter baut das Haus nicht von Beginn an, er gründet seine Haushaltung nicht ab ovo, er macht auch keine Hochzeit, die überhaupt die Dinge erst in Gang setzt. Vielmehr ist ein Dichter immer schon im Haus, so wie der Kanarienvogel, der in seinem engen Bauer singen kann, aber mehr Platz bräuchte, wollte er wirklich zeugen (hecken). Der Dichter zeugt nicht, er bleibt impotent; er singt nur; er gründet keine Familie, keine Haushaltung und baut kein Haus. Sein Gesang ist direkte Folge seiner Unfähigkeit, realiter zu zeugen. Wenn diese Kette von Aussagen aus dem zweiten Satz resultiert, dann heißt das, dass ein Dichter deswegen Gesänge singt – anstatt zu zeugen –, weil er den Tod in seiner Radikalität reflektiert, den Text als Medium des Todes in seiner unendlichen Langsamkeit schreibt und bei all dem ein Wissen davon hat, dass es aus Gründen der Labung besser sei, dieses Wissen nicht zu haben. Wessen Konstitution von dieser Art ist, der baut kein Haus, gründet keine Haushaltung, hält keine Hochzeit – er wird Dichter und singt Gesänge. Er baut nur Fiktionen, er kann nicht aushecken, sondern nur singen, egal wie viele Kapitel er geschrieben hat. Die Fußnote zum dritten Satz, ironischerweise beim Wort »leicht« platziert, ist geeignet, eine vollständige Verwirrung hervorzurufen. Sie lautet: ✶
Da der obige Kettenschluß als solcher seinen Zusammenhang haben muß: so hab’ ich ihm einigen durch bloße Worte und Übergänge zu erteilen gesucht und die Glieder der Schlußkette in etwas durch den Faden der Rede verbunden; und man mag sie etwan für einen Bandwurm halten, in dem jedes Glied wieder ein eigner, privatisierender, idiopathischer Wurm ist. (JP I/2, 147)
Zunächst wird der Jean Paul’sche Text mit einem Bandwurm verglichen, dessen einzelne Glieder sich wiederum zu eigenen Würmern entwickeln. Dieses Gleichnis ist eine recht gute Beschreibung für die Art und Weise des digressiven Schreibens Jean Pauls. Denn es scheint offenkundig zu sein, dass in der Stillage der humoristisch-digressiven Textualität eine Logik vorherrscht, nach der ein Satzglied so an das andere anschließt, dass es dem Text nicht um den Fortlauf des Arguments geht, sondern im Gegenteil um ein Anhalten, Verkomplizieren und Auffächern. Die Elemente autonomisieren sich gegen den Textzusammenhang. Dieser Vorgang der Autonomisierung, der sich in der Regel als Witz, Gleichnis, Metapher oder Allegorie auslegt, hat freilich, geht man der Metapher des Wurms nach, eine weitaus tiefere Bedeutung. Es ist nicht nur ein Witz des
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philosophischen Unverstandes, wenn man den philosophischen Terminus der Monade mit dem Wort Made assoziiert. In der Tat ist nämlich die unterste Form der Monade der Wurm. Die Zeitgenossen im achtzehnten Jahrhundert haben sich als diejenige monadische Wahrnehmung, die auf dem untersten perzeptiven Niveau stattfindet, nämlich vollkommen verworren und dunkel ist und von der Welt keine klare Wahrnehmung kennt, den Wurm vorgestellt. So dient in Klopstocks Frühlingsfeier die Frage nach den Wahrnehmungsbedingungen des Wurmes als Nagelprobe auf die Frage nach der göttlichen Teleologie des Weltzusammenhangs. Dass der sich teilende Wurm mit jedem Glied wieder ein eigener Wurm wird, der privatisiert und idiopathisch ist, denkt mithin selbst den Wurmteilen die monadische Logik der selbstreferentiellen Schließung zu. Das heißt nichts anderes, als dass Jean Paul seine Satzkonstruktion auf der syntaktischen Ebene gemäß monadologischer Modellvorstellungen denkt. Der eine Satz öffnet sich nicht zum anderen – so wenig, wie die Monade Fenster hat. Nicht einmal im Satz öffnet sich ein Satzglied dem anderen. Wenn die Satzglieder Monaden sind, also primär daran interessiert sind, ihren internen witzigmetaphorischen Fokus auszuformulieren, statt dem textuellen Fortgang – der Form des Satzes – zu dienen, so realisiert sich ein Text als Abfolge von Wurmbestandteilen, von monadischen Einheiten, von bildlichen Maden. Das ist ein radikaler Gedanke. Indem Jean Paul die Monadologie textlinguistisch ernst nimmt, dementiert er sogar auf der Ebene der Syntax und der semantischen Kohärenz das textuelle commercium, nämlich den linearen Textfortgang. Entsprechend lakonisch lässt sich die Fußnote denn auch über die Frage des Textzusammenhanges aus. Nur weil der Kettenschluss einen Zusammenhang haben muss, hat Jean Paul oberflächig versucht, ihm einen Zusammenhang zu erteilen und einen Faden der Rede »in etwas« zu etablieren. Die Fußnote dementiert also, dass diesseits einer bloßen rhetorischen Übung überhaupt ein Zusammenhang vorhanden wäre. Ironischerweise ist aber gerade diese Aussage eine, die performativ den fehlenden Zusammenhang erzeugt. Denn wenn die Kohärenz dieses Textes darin besteht, gewollt keinen Zusammenhang zu haben, dann wird der Text dadurch zusammengehalten, dass er den Charakter des Nichtzusammenhängenden hat. Es ist gar nicht so einfach, der textuellen Kohärenz zu entkommen. Und was tut denn, wenn dieses richtig ist, die Feder des Schriftstellers? Sie zieht wie eine Knabenfeder die Schrift, die die Natur schon mit bleicher Bleifeder in den Leser geschrieben, mit ihrer Dinte gar aus. Der Saite des Autors tönen nur die Oktaven, Quinten, Quarten, Terzen der Leser nach, keine Sekunden und Septimen; unähnliche Leser werden ihm nicht ähnlich, sondern nur ähnliche werden ihm gleich oder ähnlicher. Und damit steht und fällt mein vierter Heischesatz: das Hufeisen des Pegasus ist die Bewaffnung am Wahrheit-Magnete, er zieht uns dann stärker; wiewohl wir hungrige Vögel
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sind, welche auf die Trauben des Poeten fliegen, als wären sie wahre, und die bloß den Jungen für gemalt ansehen, der schrecken sollte. (JP I/2, 147)
Auch zu Beginn des vierten Heischesatzes, der syntaktisch aus vier Sätzen (fünf – wenn man den Doppelpunkt im letzten Satz als Satzende liest) besteht, indiziert ein kleines Wörtchen – »denn« – den vermeintlich logisch schlussfolgernden Anschluss an den vorhergehenden Absatz. Eine Sequenz mehrerer Sätze als einen einzigen Heischesatz zu bezeichnen, unterläuft ein weiteres Mal die Form, die zumindest in der formalen Logik, als Verkettung von Schlussfolgerungen, syntaktische Klarheit hinsichtlich dessen, was eigentlich prädiziert worden ist, fordert. Der poetologisch wichtige Passus redet davon, dass die Dichtung Nachahmung des Wirklichen sei. Damit ist sie die Explikation des vorangehenden Passus, denn als Nachahmung bleibt sie auf das Vorausgesetztsein des Wirklichen angewiesen und könnte ihr Haus nicht von Grund auf neu bauen. Die Dichtung ahmt nach, wie der Knabe Buchstaben lernt, indem er mit seiner Feder die Bewegung nachmalt, die ihm als Gestalt eines Buchstabens vorgegeben ist. Da es ein und dieselbe Natur ist, kann man auch davon ausgehen, dass die Schrift nachgezogen wird, die ebenfalls im Leser vorhanden ist. Jean Paul bringt diesen ins Rezeptionsästhetische geführten Gedanken in ein musikalisches Gleichnis. Die konsonanten Intervalle (Oktaven, Quinten, Quarten, Terzinen) sind aufgrund der Verwandtschaft zwischen den Tönen so aufgebaut, dass bei zwei Tönen immer der eine Ton als mitschwingend im anderen enthalten ist. Sie dienen als Modell dafür, dass die Nachahmung in ihrem Verhältnis dem Nachgeahmten ähnlich bleiben muss, also auch die Schrift des Dichters der inneren Schrift des Lesers. Hingegen ist die Unähnlichkeit der dissonanten Intervalle (Sekunden, Septimen), bei denen der Abstand zwischen zwei Tönen nur zu sehr entfernten, wahrnehmungspraktisch kaum wahrnehmbaren Schwingungen führt, kein Modell für eine glückende Wahrnehmung, weil so weder die Wirklichkeit noch der Leser ins Verhältnis zur Dichtung gesetzt werden können. Man sieht: Dieser Passus gibt eine bündige Bestimmung der Dichtung als Nachahmung und damit eine Begründung für die Aussagen des vorangehenden Absatzes. Allerdings wird Nachahmung nicht als direkte Bezugnahme auf Wirklichkeit verstanden, sondern als Proportionalitätsanalogie, also als Konkordantschaltung von harmonischen Verhältnisbestimmungen. Nachahmung ist in dieser Weise von der erkenntnistheoretischen Zumutung direkter referentieller Bezugnahme befreit. Indem sie sich auf Relationsbestimmungen bezieht, bleibt sie zeichenintern, statt realitätsabbildend zu sein. Wenn die Dichtung Nachahmung ist, dann steht sie zum Nachgeahmten in einem Verhältnis; sie behauptet keine (auch nur partielle) Identität mit dem Nachgeahmten.
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Von dieser Identität sind fälschlich die Vögel ausgegangen, als sie die Trauben auf dem Bild des Zeuxis für wahr haben nehmen wollen. Die Wahrheit, um die es hier geht, besteht aber erneut in einer Verhältnisbestimmung, nicht in einer Identifizierung. Deshalb ist auf der Differenz zu bestehen. Das Musenpferd Pegasus wird aus diesem Grund zwar magnetisch von der Wahrheit angezogen, aber es klebt nicht an ihr fest. Dichtung als Nachahmung zu bestimmen bedeutet in diesem Fall, die Wahrheit der Nachahmung an der Wirklichkeit auszurichten, aber gleichzeitig die Differenz zwischen Nachahmung und Wirklichkeit aufrechtzuerhalten. Diese latent paradoxe Struktur, sowohl identisch werden zu wollen, als auch different bleiben zu müssen, wird im vierten Heischesatz durchformuliert – in einer Kette von Gleichnissen. Der Terminus der Ähnlichkeit (Analogie) ist dabei präzis gesetzt, als mittlere Position zwischen Identität und Differenz. Nachahmung wird erneut hinsichtlich einer direkten Bezugnahme auf Realität unterlaufen zugunsten einer Verhältnisbestimmung. Jetzo macht sich der Übergang zum fünften Heischesatze von selber: daß der Mensch eine solche Achtung für jedes Altertum hegt, daß er sie sogar fortsetzt, wenn dasselbe bloß noch der Deckel und die Larve des Giftes ist, der es aufgelöset. Ich mache hier absichtlich zwei Belege dieses Satzes gar nicht namhaft – nämlich die in Wurmmehl zerfressene Religion und die ebenso zerkrümelte Freiheit –, sondern halte mich als Lutheraner nur an den dritten, die Reliquien, an denen man, wenn sie von den Würmern aufgefressen worden, (nach dem Jesuiten Vasquez✶) noch das anzubeten hat, was übrig ist, die Würmer eben. Taste daher nie den Wurmstock deiner Zeiten an, du wirst sonst sein Fraß; eine Million Würmer gelten schon einem guten Lindwurme gleich. ✶ Dictionnaire philosophique. Art. Reliques. (JP I/2, 147 f.)
Ist man in der Lektüre unwahrscheinlicherweise bis hierher (»soweit«) gekommen, dann macht sich, so die ironische Bemerkung, der Übergang zum nächsten, dem fünften Heischesatz, der wiederum aus mehreren Sätzen besteht, von selbst. Das Altertum134 darf nicht negiert werden; man würde eine ganze Sinntradition ignorieren und stünde ohne alles da. Wichtig aber ist, selbst noch in den heuti-
Ich interpretiere im Obertext »Altertum« als Antike, möchte in der Fußnote aber eine weitere Lektüre andeuten. Sie nimmt ihren Ausgang bei der Formulierung »jedes Altertum«. Wenn jede Zeit ihr eigenes Altertum bildet, muss die Antike nicht unbedingt der einzige Referenzanker des fünften Heischesatzes sein. Die Kombination von Lutheraner und Reliquien führt auf eine andere Spur. Gerade die Protestanten (=Würmer) nagen an der Autorität der Heiligen und ihrer Reliquien, zerfressen sie in der Enthemmung sogar (Bildersturm). Der strenge Katholik (Vasquez) dagegen verehrt selbst noch die derart atomisierte Reliquie im Wurm. So gelesen wäre der Katholizismus das Altertum des Protestantismus. Abgründig wird der Text aber darin, dass sich ein solcher Protestantismus durch selbstinduzierten Wurmfraß ebenfalls zersetzt. (Mit Dank an Nicolas Fink).
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gen Würmern und der zerkrümelten Freiheit Sinn aufzuspüren. »Von selbst« macht sich diese Schlussfolgerung, weil die Gleichnisse des vorherigen Passus allesamt aus der Antike genommen wurden und damit als lebendiger Beweis für die geäußerte Schlussfolgerung dienen. In einem gewissen Sinne führt der fünfte Heischesatz auch schon die Zerbröselung des antiken Stoffes und seine Umwandlung in moderne Wurmsätze vor. Denn zweifelsohne ist er vollkommen unantik, weil er Dichtungsbestimmungen der Moderne so formuliert, dass sich entgegen aller Klarheit die monadische Struktur der Sätze aus ihrer Ikonizität notwendig ergibt. Indem Jean Paul die Sprache wörtlich nimmt, bricht er auf ihren gleichnishaft-bildlichen Kern durch und kompliziert damit Prosa in ein gewundenes Bilddenken. Die Wurmmetapher, die in der Fußnote zum dritten schlussfolgernden Postulat eine monadische Syntax begründete, wird nun aufgenommen und konkretisiert: Wir brauchen den antiken Stoff, um unsere Gleichnisse zu machen, aber wir benutzen die moderne Sprache, weil uns die griechische Einfachheit verlorengegangen ist und wir monadisch schreiben, nämlich in Umwegen und Windungen, als großer Text-Lindwurm. Selbst wenn die antiken Zeugnisse zerfressen worden sind, bleibt ihre Substanz doch in den Würmern enthalten. Auch so kann man Intertextualität denken. Das Vertilgen und vollständige Zermahlen macht erneut die Gegenposition zur Form deutlich. Der Anschluss an die Antike ist bei Jean Paul nicht als Umformung verstanden. Vielmehr wird die Form vollkommen zersetzt und dient einem ganz anderen Prinzip nur als Futter. Und dieses Prinzip ist das der Selbstreferenz, die sich im Modus der monadischen Syntax darstellt. Dieses muß angenommen werden, wenn anders der sechste Heischesatz einen Sinn haben soll: daß kein Mensch völlig gleichgültig gegen alle Wahrheiten sein kann. Ja sogar, wenn er auch nur noch poetischen Spieglungen (Illusionen) huldigt und offen steht, so ehret er eben dadurch die Wahrheit, da in jeder Dichtung gerade das Wahre der berauschende Bestandteil ist, wie in unsern Leidenschaften bloß das Moralische berauscht. Eine Spieglung, die durchaus nichts wäre als eine, würde eben deshalb keine mehr sein. Jeder Schein setzet irgendwo Licht voraus und ist selber Licht, nur entkräftetes oder vielfach zurückgeworfenes. Nur gleichen die meisten Menschen unserer nicht sowohl aufgeklärten als aufklärenden Zeiten den Nachtinsekten, die das Taglicht fliehen oder mit Schmerzen empfinden, die aber in der Nacht jedem Nachtlicht, jeder phosphoreszierenden Fläche zuflattern. (JP I/2, 148)
Der sechste Heischesatz schließt nun in negativer Wendung zum Vorhergehenden, aber doch ganz konsequent im Sinne von Jean Pauls Ästhetik an das Bisherige an. Bislang war nämlich weitgehend von der Dichtung als Nachahmung die Rede (Nachahmung in einem komplexen, nahezu anti-referentiellen Sinne) und von der formalen Struktur der modernen Poesie, monadische Text-Wurmgebilde zu entwerfen. Nun führt Jean Paul, nachdem er also die Seite der Nachahmung
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besprochen hat (die poetischen Materialisten der Vorschule) den Gegenpol ein: den Begriff der Wahrheit, welcher sich über die pure Nachahmung erhebt (die poetischen Nihilisten der Vorschule). Die ganze Gleichnisreihe, die im sechsten Passus vorstellig wird, versucht den Nachweis zu führen, dass alle Nachahmung nur im Dienste der Darstellung der Ideen, also im Dienste der Wahrheit sinnvoll sein kann (vgl. § 5 der Vorschule, JP I/5, 44–47). Man kann Nachahmung als Spiegelung des Wirklichen verstehen, aber Jean Pauls Argument lautet, dass jeder durch den Spiegel entstandene Schein das Licht der Wahrheit zur Voraussetzung haben muss. In der Tat wird jeder Entschluss zu einer bestimmten Nachahmung von einer Instanz gesteuert, die selbst nicht nachgeahmt sein kann, weil sie die Nachahmung als solche indiziert und lenkt. Eine solche Idee der Wahrheit ist grundsätzlich anzunehmen, selbst bei einem Menschen, der alles für Illusionen hält. Um das Argument zu stützen, wird dem ästhetischen Schein (videtur) ein notwendig begleitendes lucet zugesprochen, ein Licht, das nicht ausschließlich aus der ästhetischen Als-ob-Struktur folgt. Die ›Heischesätze‹ werden offenkundig immer länger und halten sich nicht mehr an die grammatische Einheit des Satzes. Doppelpunkte, Semikola und Gedankenstriche haben tendenziell dieselbe Funktion wie ein Satzpunkt. Jean Paul führt sein Schreiben zunehmend aus der Klammer des Satzes heraus, um ein argumentatives Netz zu etablieren, das wie anfangs angekündigt mit Gleichnissen arbeitet. Auch das Licht-Argument ist ein metaphorologisches; es leitet das im ästhetischen Schein vorhandene Aufscheinen der Wahrheit nicht begrifflich her. Die Gräber der besten Menschen, der edelsten Blutzeugen sind gleich herrnhutischen eben und platt, und unsere ganze Kugel ist ein auf diese Art plattiertes Westmünster – ach wie viel Tränentropfen, wie viel Bluttropfen, welche die drei Eck- und Standbäume der Erde, den Leben-, den Erkenntnis- und den Freiheitbaum, befeuchteten und trieben, wurden vergossen, aber nie gezählt! Die Weltgeschichte malet an dem Menschengeschlecht nicht, wie der Maler an jenem einäugigen König, bloß das sehende Profil, sondern bloß das blinde; und nur ein großes Unglück deckt uns die großen Menschen auf, wie totale Sonnenfinsternisse die Kometen. Nicht bloß auf dem Schlachtfeld, auch auf der geweihten Erde der Tugend, auf dem klassischen Boden der Wahrheit türmet sich erst aus 1000 fallenden und kämpfenden unbenannten Helden das Fußgestell, auf dem die Geschichte einen benannten bluten, siegen und glänzen sieht. Die größten Heldentaten werden zwischen vier Pfählen getan; und da die Geschichte nur die Aufopferungen des männlichen Geschlechtes zählet und überhaupt nur mit vergossenem Blute schreibt: so sind in den Augen des Weltgeistes unsere Annalen gewiß größer und schöner als in den Augen des Welthistorikers; die großen Aufzüge der Weltgeschichte werden nur nach den Engeln oder Teufeln geschätzt, welche darin spielen, und die Menschen zwischen beiden werden ausgelassen. (JP I/2, 148 f.)
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Der achte Passus, also der siebte Heischesatz, ist zu lang, um ihn komplett zu kommentieren. Betont sei, dass ein neuer Bereich der Mimesis formuliert wird. Es geht nun um die Darstellung des von der Historie Übergangenen, um die empirische Unendlichkeit von Alltagsgeschichten, wie der Siebenkäs eine ist. Auf diesem Feld ist garantiert, dass Sinnproduktion nie zu einem Ende kommt. Mit anderen Worten: Jean Paul entwickelt einen neuen Gegenstandsbereich für die moderne Literatur. Er insistiert darauf, dass hinter dem einen Helden tausend Unbenannte stehen, dass hinter den Männern der Weltgeschichte die ungenannten Frauen mitzudenken sind. Anstatt nur die guten und die bösen Akteure zu denken (Engel oder Teufel), müssen die Menschen, die bei einer Historiographie der Täter vergessen werden, literarisch der Erinnerung zugeführt werden. Während bislang der Text eine Zählung der Heischesätze durchgeführt hat, fällt diese nun weg. Der Leser weiß folglich nicht, ob eine neue Schlussfolgerung vorliegt oder nur eine Erläuterung zum sechsten Heischesatz. Immerhin könnte der namhaft gemachte neue Gegenstandsbereich der Literatur auch als Konkretisierung des Lichts der Aufklärung verstanden werden. Das sind die Gründe, worauf ich mich steife, wenn ich keck genug behaupte, daß wir aus den gefüllten Freudenblumen, sobald wir zu heftig an sie riechen, ohne sie ausgeschüttelt zu haben, unvermutet ein Marterinsekt hinaufschnaufen können durchs Siebbein ins Gehirn✶; und wer, man sage mir, holt das Kerbtier dann wieder heraus? – Hingegen aus Blumenstücken und deren gemalten Blumenkelchen ist wenig Bedenkliches zu schnupfen, weil ein gemaltes Gewürm, ein Wurmstück, immer bleibt, wo es sitzt. – – Das ists, was ich in Gleichnissen zu heischen habe. Was das Publikum heischet, ist meine Meinung über gegenwärtige Blumenstücke. [...] ✶ Im 3ten Stück des Lichtenbergischen Magazins für die Physik etc. wird das Beispiel einer Frau erzählt, die aus einer Blume einen Wurm ins Gehirn hinaufzog, der sie mit Wahnsinn, Kopfschmerzen usw. marterte, bis er lebendig wieder aus der Nase zurückging. (JP I/2, 149)
Der letzte Passus bekräftigt den Gedanken eines neuen Gegenstandsbereiches durch ein Bild, das genau gelesen werden muss. Die Freudenblumen sind nämlich negativ gewertet. Die bekannten Geschichten der Sieger werden in Freudenblumen dargeboten. Wer zu intensiv an diesen Blumen riecht, würde in der Gefahr stehen, die ganze in ihnen verborgene Geschichte des Unheils, des Leides und der Ungerechtigkeiten den Unterlegenen und Ungenannten gegenüber unvermutet ins Gehirn hinauf zu schnaufen. So wie Jean Paul die Weltgeschichte sieht, sind die Freudenblumen der Sieger Marterinstrumente. In den Gegensatz dazu stellt er seine Blumenstücke – und man wird, um diesen Gegensatz wirklich akzentuieren zu können, die christologische Dimensionen des Romantitels mitlesen müssen. Es handelt sich hier um die Blumen der Passion. Denn der Titel parallelisiert den Ehestand mit den Blumenstücken, und das
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Ehe-Martyrium des Siebenkäs wird nur allzu offensichtlich mit der Passionsgeschichte zusammengebracht (Neumann 1996). An den Blumen der Passion zu riechen, führt nicht in die Falschheiten, die den Freudenblumen der Sieger gegeben ist. Dass Jean Paul diese Blumenstücke in der Tat positiv gewertet gegen die Negativwertung der Freudenblumen absetzt, wird ein weiteres Mal aus der Wurmmetapher deutlich. Die Wurmmetaphorik zeigte sich als zentrales Bild der Jean Paul’schen Textlinguistik, als Kernmetapher dieser eigentümlichen Textualität. Andere Stellen stützen dies: Ein Advokat ist gar nicht irre zu machen, er mag seinen Perioden eröffnen und fortstoßen wie er will – sein Periode ist ein langer Bandwurm, den ich ohne Schaden prolongiere, abbreviere (verlängere, abkürze) – denn jedes Glied ist selber ein Wurm, jedes Komma ein Periode. (JP I/2, 184)
Weil im Rahmen des Eingedenkens des Leides, im Rahmen also der Blumenstücke der Passion, die semantischen Einheiten monadisch als Wurmstücke in sich abgeschlossen sind, sind sie nicht im Sinne einer allzu einfachen Metaerzählung der Sieger teleologisierbar. Jean Paul’sche Blumenstücke schließen sich in sich ab, sie krümmen sich gleichsam in sich ein, wie sich ein Körper um die Stelle seines Schmerzes windet. Dies ist, zuletzt, die Formbestimmung einer solchen Art des Schreibens: Schmerzgeste. Es liegt eine Poetik des Leidens vor, zumindest eine solche, die sich mit Negativität solidarisch erklärt. Nach Adorno ist moderne Kunst Sprache des Leidens (Adorno 1981, 35 f.) – Jean Paul wäre einer der wichtigsten Autoren, die für dieses Theorem genannt werden können. »Das ists, was ich in Gleichnissen zu heischen habe.« (JP I/2, 149) – Auf gerade drei Seiten hochkomplexer, dem ersten Blick unleserlicher Prosa gibt Jean Paul in dieser Vorrede ein Konzentrat seiner Ästhetik. Er diskutiert den Mimesis-Charakter von Poesie, indem er Nachahmung de facto unterläuft und durch Darstellung von Ideen kontert. Er behandelt die monadische Selbstreferenz als Opposition zur Satzform. Er bestimmt den Wahrheitsbegriff und charakterisiert Kunst als Sprache des Leidens. Dies alles wird dargeboten in einer Rede, deren Performanz selbst eine theorieintensive Konstellation der Bildlichkeit der Sprache vorstellig macht. Nach dieser Lektüre erscheint der Text als ein dichter und kohärenter argumentativer Zusammenhang. Vor dem close reading hat er wohl zu denjenigen Texten gehört, die ein Jean-Paul-Leser mitunter überschlägt, um mit dem Lesen voranzukommen. Wenn man nach dieser einen Lektüre die These aufstellt, dass alle als unleserlich geltenden Passagen Jean Pauls eine solche dichte argumentative Konstellation formieren, dann wird man mit Recht behaupten können, dass Jean Paul unter den großen Dichtern der am wenigsten gelesene ist.
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Für die Theorie des poetischen Satzes stellt Jean Pauls Konzept der monadischen Satzwürmer eine zentrale Bestimmung dar. Die logische Form des Satzes wird mehrfach gesprengt. Zunächst autonomisiert sich die Bildlichkeit und wird als solche, ohne stützende Begrifflichkeit, zum Argument. In der Form des Satzes, so wie sie oben beschrieben wurde, dient die in der Prädikation erzeugte Ikonizität als Basisszenographie der Narration. Wenn Jean Paul aber die Bildlichkeit logisch einsetzt, also argumentiert statt zu erzählen, dann subvertiert er die Satzform schon durch diese Strategie. Tatsächlich ist die Bildlichkeit des Textes derart verblockt, dass erst eine mühsame Entzifferung zu einer argumentativen Rekonstruktion findet. Der Satz ist dabei nicht mehr die Formklammer, in der das Denken stattfindet. Es sind die Bilder (Gleichnisse), sofern sie in Selbstbezüglichkeit versetzt werden. Das will heißen: Das Lesen muss sich hier gegen den Fortgang setzen, sich verlangsamen und auf die Gleichnisse einlassen, sie meditieren und entschlüsseln. Ikonizität dient nicht als Ausgangspunkt für eine semantisch zu finalisierende Narration, sondern wird für sich selbst komplex. Der Satz zerfällt in intensive Bildinseln, die jeweils interne Eigenarten für sich reklamieren. Insofern ist bei Jean Paul der Satz ein Wurm-Fort-Satz, bei dem jede Sequenz ein Wurm für sich selbst ist, in einer Schmerzgeste in sich gekrümmt. Die monadische Syntax, die sich an die Stelle des Formtelos setzt, das dem Satz normalerweise zukommt, führt also zu einer weiteren Variante boustrophedonischer Schriftlichkeit. Der Leseprozess wird in engste Selbstverhältnisse überführt, Bildeinfall korrespondiert mit Bildeinfall, statt einem horizontalen Fortgang der Redelinie zu folgen. Für die Poetik des Satzes im Kontext der Theorie der Prosa sind Jean Pauls Heischesätze aufschlussreich. Indem mit dem Terminus der Logik die Satzform und das Schema der Prädikation adressiert werden, entsteht zunächst eine klare Formidee. Sie wird grammatisch nur im ersten Heischesatz bestätigt, dort aber semantisch sofort auch unterlaufen, indem mit dem Terminus Gleichnis das Konzept der Merkmalsaddition ausgesetzt wird. Der folgende Text sprengt dann die Satzeinheit sowohl durch größere Textzusammenhänge als auch durch Isolierung der Satzsequenzen (geteilte Würmer) gegen die Satzklammer. Der Satz als solcher wird bei Jean Paul mithin zweifach angegriffen, sodass genau dasjenige passiert, was in der Vorschule (s. o.: JP I/5, 176) formuliert ist: Der Jean Paul’sche Satz erlaubt es nicht, sich im logischen Raum des Vordersatzes auszuruhen, weil dann sowieso nur noch Subsumiertes folgen würde. Das Gegenteil ist der Fall: Der Satzfortgang bringt den Satzanfang in eine Krise, das entstehende Hin und Her etabliert einen Textraum, der durch den Satz nicht mehr zusammengehalten werden kann. Poetische Selbstreferenz im avancierten Prosatext zerstört die Telosform des Satzes.
12.6 Der poetische Satz als stillgestellte Explosion: Arno Schmidt
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12.6 Der poetische Satz als stillgestellte Explosion: Arno Schmidt Die Urszene des Schmidt’schen Satzes findet sich gegen Ende seines Kurzromans Aus dem Leben eines Fauns (1953). Es handelt sich um die Beschreibung eines Bombenangriffs, dessen Wucht die Satzform sprengt. Schmidt hat seine Texteinheiten snapshots genannt und mit der Assoziation an den Photoapparat die primäre, auch die Forschungsdebatte prägende Medienreferenz benannt. Vielleicht ist aber die Explosion135 die zentralere Szene, zumal sich mit dem Bombeneinschlag ein dem Blitzlicht des Photographierens analoger, schockhaft stillstellender Beleuchtungseffekt ergibt. Der Himmel erhielt die Gestalt einer Säge, die Erde ein roter lebhafter Teich. Und schwarze zappelnde Menschenfische: ein Mädchen mit nacktem Oberkörper sprengte kekkernd heran, und die Haut hing ihr um die verschrumpften Brüste als Spitzenkrausen; aus den Achseln wehten ihr die Arme hinterher wie zwei weiße Leinenbänder. Die roten Wischlappen am Himmel schrubbten polternd Blut. Ein langer Plattenwagen voll gekochter und gebackener Menschen schwebte auf Gummirädern lautlos vorbei. Immer wieder erfaßten uns luftige Riesenhände, hoben uns an und warfen uns. Unsichtbare rempelten uns aneinander, bis wir vor Schweiß und Ermattung zitterten (mein schönes schwitzendes Stinkmädchen: komm doch weg!) Ein vergrabener Spiritustank rüttelte sich frei, rollte sich auf wie Marienglas auf heißer Hand, und zerging in einen Halemaumau (aus dem Feuerbäche gossen: ein Polizist gebot bestürzt dem rechten davon Einhalt und verdampfte im Dienst). Eine fette Wolkige richtete sich am Magazin auf, blähte den Kugelbauch und rülpste einen Tortenkopf hoch, lachte kehlig: o wat!, und knotete kollernd Arme und Beine durcheinander, wandte sich steatopyg her, und fortzte ganze Garben von heißen Eisenrohren aus, endlos, die Könnerin, daß die Sträucher bei uns knixten und plapperten. Eine glühende Leiche fiel schmachtend vor mir auf die Kniee, und brachte ihr qualmendes Ständchen; ein Arm flackerte noch und schmorte keck: mitten aus der Luft war sie gekommen, »Vom Himmel hoch«, die Marienerscheinung. (Die Welt war überhaupt voll davon: wenn wieder ein Dach hochklappte, schossen sie von den Simsen wie Taucher, gehelmt oder mit nacktem Haar, flogen ein bißchen, und platzten unten wie Tüten. In Gottes Bubenhand!). Aus Rubinglas pulste eine Feueraktinie in döblinener Waldung, schwankte huldvoll mit hundert Armtrossen (an deren jeder ein nesselnder Fussel wallte), dann tauchte sie zögernd tiefer ins Nachtmeer, und plänkelte nur noch verstohlen. Ein dreistöckiger Bunker begann sich zu regen: er brummte verschlafen und bewegte Schulterblättriges; dann warf er gurgelnd Dach und Wände ab und die senkrechte Morgenröte
Georges Felten hat in diesem Zusammenhang von einer Poetik des Brennens gesprochen und das Zucken der Gewitterblitze mit in die Überlegungen aufgenommen (Felten 2013, 128–137). Die Genese des snapshots aus dem Bombenblitz und die damit zusammenhängenden Schlussfolgerungen für die Poetik des Satzes sind bei Felten aber nicht bedacht.
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machte uns gleich Kleider aus feuerfarbenem Taft und viele hitzige Rosengesichter (bis der schwarze Schlag die Erde unter uns wegzog wie ein Sprungtuch: Ein Auto mit Löschpersonal stürzte wirbelnd vom Himmel, krümmte sich ein paarmal und verreckte nickend im Kies; die Leichen lehnten animiert umeinander). (Schmidt BA I/1, 381 f.)
Als erstes fällt auf, dass der Text eine eigentümliche schriftbildliche Form hat. Er ist in einzelne, durch die hängende Formatierung markierte Abschnitte gegliedert, die offenkundig eine andere Funktion haben, als es bei der Absatzsetzung normalerweise der Fall ist. Es wird also eine neue Gliederungseinheit eingeführt, die tendenziell größer ist als der Satz, aber kleiner als der normale Textabschnitt. Damit entsteht die Frage, ob hier eine Formeinheit vorliegt, die aus dieser Mittelstellung heraus sowohl die Satzform als auch die Textgliederung aufgreift und vielleicht angreift. Medienhistorisch ist der Bezug für die snapshot-Einheiten klar: Vorbild eines solchen Schreibens ist die Filmtechnik, die aus der Beschleunigung von Einzelbildern resultiert. Mimetisch ist aber ein ganz anderer Ursprung zu behaupten. Snapshot, als Begriff aus der Photographiertechnik, meint zunächst das spontan treffende und eine Situation richtig erfassende Photobild, den Schnappschuss, aber eben auch ganz wörtlich den Schuss (shot), der aggressiv durch das Blitzlicht des Photoapparates erzeugt wird, also den Schock – seit Benjamin ein Terminus der modernen Ästhetik (Benjamin I, 503, 541, 613 f., 615 f. u.ö.). In der Szene am Ende des Fauns ist das jeweilige Blitzlicht die Detonation einer einschlagenden Bombe. Was sich derart ins Bild stellt, ist die von der Wucht der Explosion zerrissene Welt, im Zustand einer seltsam verlangsamten, fast zeitlupenhaften Überrealität. Was in der unterstellten Wirklichkeit in rasender Geschwindigkeit zerstört und auseinandergerissen wird, gerinnt im snapshot in die Stillstellung. Das TextPhoto ermöglicht es, in der verlangsamten Zeit die Einzelteile der zerreißenden Wirklichkeit genau zu sehen, besser: zu lesen. Diese Kombination aus Verlangsamung und überfallartigem Schrecken – also auch: beschleunigter Zeit – gibt der Szene eine geradezu traumatisierende Wirklichkeit. Die Anfänge der snapshots sind kursiv gesetzt. In seinem Text Berechnungen II gibt Schmidt den Grund dafür an: Es handelt sich um die Kombination von »erster Lichtstoß als Initialzündung; und spätere reflektierend gewonnene Kleinkommentare« (Schmidt BA III/3, 275). Tatsächlich machen die Schreckensbilder nur den einen Teil des Textes aus. Ein anderer, wesentlicher Teil besteht aus Kommentaren und etabliert eine zweite Realität. Die kursiv gesetzten Worte treten in die Funktion des Satzsubjekts ein – obwohl sie diese Funktion syntaktisch oft nicht innehaben –, zu der der nachfolgende Text eine Art von Kommentar bildet. Man kann an das Konzept des Photoalbums denken, sodass die kursiven Worte die pictura darstellen und der folgende Text die subscriptio. In-
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sofern vollzieht der Schmidt’sche Text präzis die ikonische Basisform des Satzes, jedoch phänotextuell außerhalb der Satzsyntax. Die Narration hingegen wird unterbrochen, es entsteht ein Mosaik (s. u.) von intensiven Schockbildern. Somit subvertiert der mimetische Impuls Schmidts den Satz, indem er seine Ikonizität zu Schockbildern steigert, syntaktisch die Satzform sprengt und zugleich die Narration blockiert. Eine zweite, sehr viel ausführlichere Ebene des Kommentars drängt sich auf. Der Bombenangriff wird in einer eigentümlichen Weise personalisiert und zum Tun einer mythischen Macht erhoben. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass es die Flugzeuge der Alliierten sind, die das Unheil bringen. Vielmehr wird der Himmel selbst gestalthaft zu einer Säge, luftige Riesenhände heben die Menschen empor, eine Wolke verwandelt sich in eine Person und zeigt ihr Können durch feurige Vernichtung, eine infolge der Detonation durch die Luft geschleuderte Leiche gerät zur Marienerscheinung. Es scheint so, als wäre hier ein übermächtiges Kollektivsubjekt am Werk, nämlich die Welt selbst, welche mit den ameisenhaft hetzenden Subjekten ein übles Vernichtungsspiel treibt. Es ist keinesfalls so, dass hier in einer neutralen oder gar guten Welt Menschen einander Schlimmes antun, sondern vielmehr wird die Szene so geschildert, als wären die Menschen einer umfassenden mythischen Macht ausgeliefert (»Gottes Bubenhand«), welche sie hin und her wirft, um sie zu vernichten. Die Welt tritt als Leviathan auf, als übermächtige und böse Totalität. Auch diese Beschreibung ist für die Frage nach dem Satz relevant. Denn es zeigt sich, dass das, was die Prädikation für ein Satzsubjekt sein sollte, tatsächlich einen umfassenden mythischen Agenscharakter zugesprochen bekommt. Die kommentierenden Prädikate der subscriptio bereichern das pictura-Subjekt nicht, sondern überfluten es mit einer umfassenden Negativität. Wo im spekulativen Satz das Hin und Her zwischen Subjekt und Prädikat als substantielle Erfahrung gewertet wird, findet sich bei Schmidt die Ausbuchstabierung der Vernichtung. Zwar sind in diesem Text die Sätze für sich genommen syntaktisch einigermaßen intakt, aber die Texteinheit selbst unterwandert das Satzschema tiefgreifend. Wenn die Welt in dieser Weise zerrissen wird, dann zerspringt jegliches Kontinuum, der Zusammenhang der Welt. Narration ist hier nicht der Schlüssel, der schließen könnte. Programmatisch wird dies am Anfang des Romans artikuliert: »Mein Leben?!: ist kein Kontinuum! [...]: ein Tablett voll glitzernder snapshots. / Kein Kontinuum, kein Kontinuum!: so rennt mein Leben, so die Erinnerungen (wie ein Zuckender ein Nachtgewitter sieht): Flamme [...] / Aber als majestätisch fließendes Band kann ich mein Leben nicht fühlen.« (Schmidt BA I/1, 301 f.)
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Auf der ersten Seite des Textes wird das, was am Ende des Textes harte Realität sein wird, als ästhetisches Verfahren eingeführt. Was wir lesen, ist das, was durch eine Flamme, einen Blitz sekundenlang übergrell sichtbar wird. Ein epischer Fluss kann so nicht mehr entstehen. Die Behauptung, dass Schmidts Textualität Kontinua zerstört, führt sehr weit. Nicht nur die Erzählung wird ausgesetzt. Letztlich geht es gegen den gesamten Körper einer vermeintlich intakten Sprache. Nachdem die beiden Liebenden aus dem Bombenangriff entkommen sind, sagt der Protagonist: Aber wenn Einem die Sprache im Munde brennt: Mir!
(Schmidt BA I/1,387)
Die Verstörung, die hier stattfindet, trifft alle Ebenen. Im Faun ist die Grammatik der Sätze noch einigermaßen intakt, jedenfalls weithin zu erkennen. Das wird bei Arno Schmidt nicht immer so bleiben. Die Verstörung, die Zerstörung trifft nicht nur den Text und seine Einheit (die Erzählung), sondern auch den Satz und konsequenterweise dann auch das Wort. Spätestens ab Zettel’s Traum wird Arno Schmidt die Wörter aufbrechen und aus ihrem Inneren eine ganze Katastrophengeschichte der Subjektivität entwickeln. Er musste dazu Anfang der 1960er-Jahre ausführlich Sigmund Freud lesen, um zu einer ebenso kuriosen wie interessanten Weiterentwicklung des Modells der Psychoanalyse zu kommen. Festzuhalten ist: ›kein Kontinuum‹ – diese Formel umfasst die Zerstörung der Erzählung, die Zersprengung des Satzes, das Aufbrechen des Wortes. Schließlich irritiert in der Sequenz des Bombenangriffs eine grammatische Eigentümlichkeit, die seltsamerweise beim Leseprozess nicht auffällt, aber immense Konsequenzen nach sich zieht. Der Text ist in der Vergangenheitsform geschrieben, während doch die gesamte Redeperspektive aus den Wahrnehmungsnotaten des Ichs entspringt. Schmidts Text befindet sich in der Nähe des inneren Monologs, unterscheidet sich jedoch von ihm durch seinen diskontinuierlichen Schockcharakter, vor allem aber dadurch, dass das Präteritum der expressionistischen Stilgeste und also dem Charakter der Präsentifizierung widerspricht. Dieser Text wurde, so gibt das Tempus zu verstehen, aus klarer zeitlicher Distanz zum evozierten Ereignis zu Papier gebracht. Da Schmidt die Narration unterläuft, lässt sich hier nicht mit der Kategorie des epischen Präteritums (dazu Hamburger 1957, 63–78) argumentieren. Tatsächlich wird man die Vergangenheitsform als Entzug des (Satz-)Subjekts gegenüber seinen Prädikationen lesen können, als grammatische Entsprechung zu den Fluchtstrategien, die den Schmidt’schen Protagonisten als Trickster (Dietz 1993) auszeichnen. Die These lautet mithin, dass die kursiv gesetzten Sequenzen (die snapshotBilder, in der Funktion des Satzsubjekts) vor allem eine schockhafte Präsenz hervorrufen, selbst dann, wenn sie im Präteritum stehen. Der nachfolgende, meist längere Kommentar (in der Funktion der Prädikation) realisiert dann aber
12.6 Der poetische Satz als stillgestellte Explosion: Arno Schmidt
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die Vergangenheitsform, die vorher in der literarischen Geste überspielt wurde. Man liest »Ein vergrabener Spiritustank rüttelte sich frei« (s. o.) trotz der grammatischen Form durchaus präsentisch, nicht aber den nachfolgenden Passus. Damit wird die temporale Teleologie der satzanalogen Grundanlage gesprengt: ein Rückstoß gegen die Satzform. Denn durchaus paradox wird der Präsenzimpuls gegen seine energetische Intensität als bloße Vergangenheit durchsichtig gemacht. Dem Schock wird beschieden, dass alles immer schon vorbei ist, seine Emphase und auch sein Grauen längst in der Vergangenheit liegen. Interpretiert man Schmidts zwischen Satz und Textabschnitt oszillierende Einheiten satzförmig, dann wendet sich in ihnen die Satzrichtung gegen sich selbst. Aus dem Leben eines Fauns verfährt hinsichtlich dieser Subvertierungsweisen noch relativ gemäßigt, man kann den Text ›realistisch‹ lesen, sofern man die komplexe Mehrfachlektüre unterschlägt – der resultierende Oberflächentext bleibt dann als solcher intakt. Das ändert sich beim späten Schmidt. In Abend mit Goldrand findet sich dieser kleine Wortwechsel: A&O (plötzlich die Hand auf dem Herzen ... –: wenn Sie drinnen geblieben wär’ –: wäre Sie dann gestorben?!!). ANN’EV’ (antwortet sofort, als hätte sie seine Gedanken gehört): »Ihr hättet es so genannt.« (Schmidt BA IV/3, 97)
Schmidt deckt hier eine Eigentümlichkeit auf, die in dieser Prosa systematisch zum Normalfall gemacht wird: Die Figuren reagieren nicht nur auf das Gesprochene, sondern auch auf das nur Gedachte anderer Figuren und zuweilen sogar auf die Falschschreibung, etwa wenn Martina, vom Chemieunterricht erzählend, das Wort ›Scheidekunst‹ sagt, dieses aber als »ScheideKunst« geschrieben wird, und Ann’Ev’ darauf antwortet, indem sie die nun mögliche Assoziation an die weibliche Scheide weiterspielt (Schmidt BA IV/3, 17), als ob sie, eine Figur im Text, das geschriebene Wort hätte lesen können. Schmidt nennt dieses Verfahren Perichorese (Schmidt BA IV/4, 125), Durchdringung der Ebenen (s. o.). Der Durchdringung unterliegen: Gesagtes und Gedachtes, Mündliches und Schriftliches und auch Imaginiertes und Reales, etwa wenn Ann’Ev’ sich zu einem Liebesgedanken A&Os hinübersehnt und sich beider Liebes-Ichs aus ihrem realen Körper lösen, um als personifizierte Gedanken einander zu umgarnen (Schmidt BA IV/3, 162 f.). Da die Figuren der späten Texte immer auch Instanzen der Gesamtpsyche der Autorpersona verkörpern, geraten alle kommunikativen Interaktionen zu solchen der internen psychischen Instanzen im Kopfinnentheater. Schon deshalb durchdringt sich alles, also auch auktoriale und personale Erzählperspektive. Die Figuren sprechen miteinander als gegenseitig ihre Gedanken lesende, sie sind plurifokal angelegt und letztlich ohne gegenseitige feste Grenzen. Schließlich wird in
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diesem Raum auch die Unterscheidung von Realität und Fiktion hinfällig, weshalb der späte Schmidt mit vollem Recht als Vertreter des magischen Realismus bezeichnet werden kann. Für die Satzform sind die Konsequenzen der Textdarbietung weitreichend. Schmidt schreibt in seinen späten Texten überwiegend Dialogpartien, entscheidend ist aber, dass die Sequenzen durch Querstriche (/) oder Gedankenstriche (–) gegliedert werden, nicht mehr aber als Sätze fungieren. Der Grund dafür ist sofort einsichtig. Infolge der umfassenden Durchdringung (Perichorese) löst sich das Satzsubjekt ebenso auf wie die Prädikation, beide Einheiten gehen in einem Textgeschehen auf, das grammatisch nicht mehr eindeutig zugerechnet werden kann: weder einer Aussage, noch einem Subjekt, noch seinen Eigenschaften, ebenfalls keiner Erzählung. Dies ist wohl die radikalste Dekonstruktion des Satzes, als Überführung des spekulativen Satzes in einen boustrophedonische Dauerzustand: permanente Wende statt nur eines Rückstoßes. Schmidts späte Texte besitzen zwar Handlungen von durchaus reichhaltiger Natur, aber in der Mikrologie des Textgeschehens arbeitet das, was einmal der Satz gewesen ist, an seiner Durchdringung. Dies dient der Flucht aus den Zuständen der berechenbaren Narrationspläne. Die Ontologie der Flucht, die in Schmidts Texten so zentral ist, schlägt sich bis in die Grammatik nieder, als Entzug der namhaft zu machenden Positionen bzw. der Satzsubjekte. Zwar sprechen Akteure miteinander, aber eigentlich tun sie dies nicht, vielmehr sind sie einander ›dasselbe‹, sich intern ausdifferenzierend. Wer mit wem über was spricht, ist nicht mehr manifest zu machen. Prädikationen ohne Subjekt und transitorische Subjekte bevölkern eine Textbewegung, in der alles möglich wird und der Satz gerade deshalb noch relativ intakt bleibt, weil er vollkommen unwichtig geworden ist. Auf Gretes Frage »Komm’m Se da nich grade an? –« lässt sich der erstaunliche Registerwechsel beobachten, dass die Antwort auf die personal gestellte Frage sofort anschließend in dem auktorialen Passus (eingerückt, kleinere Schriftgröße) gegeben wird: »(Es scheint so; denn man vernimmt mehr als 2 Absätze auf dem hart’n Teerband klippern [...].« (Schmidt BA IV/3, 29) Aber handelt es sich um eine auktoriale Bemerkung? Der Erzähler scheint eher die Kollektivwahrnehmung dreier älterer Herren zu artikulieren. Ist er somit eine personale Instanz? Könnte er aber als solcher wenig später schreiben: »Und die Herr’n schau’n hinterdrein, wie oben« (Schmidt BA IV/3, 31)? Die Formulierung setzt die beschriebene Textseite (›wie oben‹ im Text) voraus. Schmidts Sprache durchdringt die linguistischen Register, die Tempusformen, die Subjekt/Prädikat-Relation, die Fokalisierungen, die Mediendifferenzen mündlich versus schriftlich, die Unterscheidung von interner Fiktionswelt und externer Produktionsbedingung. Der Satz, der im Faun schockhaft gesprengt wurde, wird im Werkprozess auf allen Ebenen subvertiert, ironischerweise aber, ohne dabei die Syntaxform
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radikal anzugreifen. Wollschlägers Attacke auf den Satz ist, von der Satzform als solcher her gesehen, durchaus radikaler. Schmidt aber verfährt subtiler. Er zerstört die gesamte linguistische Ontologie, ohne dass man es zunächst merken würde. Der Leser befindet sich in einem Raum des magischen Realismus, der früher einmal der Additionsraum der Prädikation gewesen ist, nun aber zu einem Ort der Destabilisierungen geworden ist. Während bei Wollschläger der Satz hinsichtlich seiner grammatischen Form in die Oszillationsfigur des Apokoinu gebracht wird, lässt sich Schmidts Dekonstruktion der Satzform eigentlich nur rekonstruieren, wenn man die Relation von Satz und Textorganisation bedenkt. Die Ausstreuung der Prädikate in einem Raum, für den ein (Satz-)Subjekt die formale Klammer sein sollte – analog zum lyrischen Ich –, welches sich bei Schmidt aber als vielfach aufgespaltenes Subjekt auflöst und Teil der Prädikationen wird, führt zu einer immens dichten textuellen Selbstbezüglichkeit. Sie stellt sich in Schmidts Texten schriftbildlich als Pluralisierung der Textverläufe dar, nämlich in der Technik des Mehrspaltendrucks. Sie ist die sichtbar gewordene boustrophedonische Schriftlogik. Von der Zweispaltentechnik in Kaff über die drei Spalten von Zettel’s Traum führt der Weg zu bis zu sieben Textinseln pro Seite in Abend mit Goldrand. Dort findet sich auch im Bild 29 (Schmidt BA IV/3, 158–161) das leise »Stimmengerinnsel der BoustrophedonFräulein« (Schmidt BA IV/3, 158) als eine Textdarbietung, in der jeweils die zweite Seite von unten nach oben zu lesen ist und zu »anakoluthisch’n Wortballettismen« (Schmidt BA IV/3, 160) führt. Der Text kommt immer zuerst an sich selbst vorbei, so eng, dass die grammatische Klammer des Satzes nur in anakoluthischen Andeutungen besteht.136 Die beschriebenen Verfahren führen zu einer Textualität, die sich nicht mehr aus derjenigen Satzform ergibt, deren Telos auf die Narration abzielt. Textinseln kommentieren sich gegenseitig, der Paralleldruck in mehreren Spalten führt zwangsläufig zu einer Konstruktion von Parallelwelten unter Auflösung einer Ausgangswelt erster ontologischer Ordnung. Schmidts poetischer Satz besteht also aus der vollständigen In-Bewegung-Setzung der Prädikationen bei Ausfall eines eindeutig fokalisierten Subjekts. In einer sehr metaphorischen Ausweitung könnte man davon sprechen, dass die späten Werke insofern als ein großer Satz zu lesen wären, deren Autor – Arno Schmidt – nur extern referentialisierbar ist, während sich textintern lauter Instanzen melden, die immer auch Prädikationen sind. Ein großer Satz: Die an die strukturalistische Narratologie erinnernde Formulierung (s. o.) hat hier einen ganz gegenteiligen Sinn. Dieser große Satz ist
Beim Anakoluth handelt es sich um einen Bruch im Satzbau oder um einen Abbruch eines begonnenen Satzes.
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nicht das Inbild einer gerichteten Form, sondern vielmehr das mehrdimensionale Pulsieren einer einzigen Gegenwart, die sich in alle Richtungen zugleich ausdehnt, indem sie sich immer wieder durch Selbstbezüglichkeiten anreichert. Der Rückstoß des spekulativen Satzes ist bei Schmidt zu einer in Permanenz versetzten boustrophedonischen Durchdringung geworden. Es dürfte nach diesen einlässlichen Interpretationen hinreichend deutlich geworden sein, worin der poetische Satz, also der Satz der avancierten Prosa, besteht. Er ist der performativ gewordene spekulative Satz. Die Selbstreferentialisierung des Satzes kann dabei verschiedenen Verfahren folgen: dem konsequent durchgeführten Apokoinu, den monadischen Wurm-Fort-Sätzen, der Außerkraftsetzung der grammatischen Satzontologie als solcher. Immer wird dabei die Satzform zerstört, das negative Tun rückt in den Vordergrund, die Satzsynthesis im logischen oder narrativen Sinne verblasst. Gewonnen wird aber die Verfahrensweise des Rückstoßes, welcher im Satz ein distinktes Oszillieren in Gang setzt und somit überhaupt erst die poetischen Potentiale freisetzt. Im Satz ist nun, wie Oswald Egger sagen würde, Wort für Wort zu lesen,137 in beide Richtungen zugleich, also immer auch »ruckworts gegen den Strom der Zeilen« (Wollschläger 1982, 64).
Zur Verschlingung von Wort und Satz bei Oswald Egger liegt inzwischen eine intensive Studie vor, deren mikrologische Analyse die Entwicklung des Satzes aus der permanenten Rückwendung auf das jeweils geschriebene Wort ausbuchstabiert: vgl. Endres und Sakoparnig 2021.
13 Textfiguren der poetischen Selbstreferenz Die poetische Grammatik – also das System der ausführlich diskutierten fünf re-entries in die poetische Funktion – beschreibt eine grundlegende generative Ebene für den Aspekt der poetischen Selbstreferenz. Sie gilt auch für Texte, die formdominiert sind. In diesem Fall bleibt die poetische Grammatik im Hintergrund, in der Latenz; sie setzt sich nicht als modellbildendes Prinzip durch, ist aber zweifelsohne vorhanden. Avancierte Prosatexte wurden deshalb als solche bestimmt, bei denen die poetische Grammatik dargestellt wird, indem diese sich selbst auf die Textbühne setzt, inkarniert in poetische Akteure und platziert in entsprechende Szenen (Ikonizität). Dies ist eine sehr allgemeine Ebene der poetischen Textualität. Die Frage nach spezifischen Textprinzipien für Prosatexte zielt auf eine durchaus andere Textebene. Es wurde in den vergangenen Analysen immer wieder auf die Eigenart der poetischen Selbstreferenz verwiesen, anstelle von Formsynthesen die Vereinzelung der Textbestandteile mitsamt ihrer jeweilig internen Ausformulierung zu betreiben. Poetische Selbstreferenz geht von der poetischen Grammatik aus, aber diese grundlegende Matrix führt in der Ausformulierung der Texte zu einer weitaus reicheren Instrumentierung, als es die Basisbestimmungen der poetischen Grammatik für sich genommen hergeben. Die Texte suchen ihre eigenen Figuren, um poetische Selbstreferenz in Textperformanz umzusetzen. Sie mögen dabei die Senderfunktion pluralisieren, explizite Schreibszenen entwerfen oder ihre Sequenzen als immanente Poetiken durchmodellieren. Aber dies allein macht nicht den Unterschied zwischen Texten wie Zettel’s Traum, Schattenfroh oder Finnegans Wake aus. Die Frage lautet vielmehr, wie die poetische Grammatik modelliert werden kann. Welche Textfiguren sind es, die affin zur poetischen Selbstreferenz stehen, mithin selbst eine starke selbstbezügliche Charakteristik besitzen? Mit dem Begriff der Figur – genauer: Textfigur – ist ein schillernder Terminus eingeführt. Er kommt in der Geometrie ebenso vor wie in der Rhetorik und kann sprachlich, visuell, haptisch oder klanglich (Musik) konkretisiert werden (TorraMattenklott 2016, 14). Bewegungskurven, Zeichnungen, Narrationsverläufe, Gesten, typographische Eigenheiten, Sternbilder, Wirbel, Schemata, Diagramme: Alles dies lässt sich als Figur bezeichnen oder besitzt einen starken figuralen Aspekt. Torra-Mattenklott (2016, 15) bestimmt Figur unter anderem als Kompositionsprinzip von Prosatexten diesseits ihrer sonstigen Gattungsformen. Diese Bestimmung sei hier übernommen, mit der Schwerpunktsetzung bei solchen Textfiguren, die selbstreferentielle Konstellationen betreffen. Eine Textfigur sei also die Organisationsweise von avancierten Prosatexten, ihren grundlegenden Zug zur Selbstrefehttps://doi.org/10.1515/9783110775570-013
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renz in concreto auszulegen. Es geht somit um solche Konfigurationen, die das Material des jeweiligen Textes durch Selbstanwendung vertiefen und damit erweitern. Wollte man die Ebenenunterscheidung zwischen poetischer Grammatik und Textfiguren formalisieren, dann könnte man an den Sprachgebrauch von Ferdinand de Saussure anschließen. Er nimmt in seinem Cours de linguistique générale drei Ebenen an (Saussure 1967, 21–24). Mit langage bezeichnet er die allgemeine menschliche Fähigkeit, sprechen zu können. Übertragen auf unser Gegenstandsfeld handelte es sich dabei um die allgemeine sprachliche Struktur, poetische Selbstreferenz zu erzeugen, also um das, was poetische Grammatik genannt wurde. Mit dem Begriff der langue wird bei Saussure ein einzelsprachliches System von Zeichen mit überindividueller sozialer Gültigkeit bezeichnet, also etwa eine Nationalsprache. Analog hierzu verhalten sich die Textfiguren der Prosatexte. Schließlich kennt Saussure den Begriff der parole, also die konkrete Realisierung im Akt des Sprechens. Dies wäre ein jeweiliger Text, sofern er als er selbst betrachtet wird. Es sei darauf hingewiesen, dass mit dem Dreischritt vom Wort über den Satz zum Text die Operationalisierbarkeit des Gegenstandsbereichs in dem Maße abnimmt, wie dessen Abstraktheit und Größe zunehmen. Der Versuch, Textfiguren zu beschreiben, führt sofort auf das Problem, wie zu eruieren sei, welche Textfiguren es überhaupt geben könne. Da der Begriff der Figur stark an Theoriebestände der Rhetorik gebunden ist, die Rhetorik aber ihrerseits zwar viele Ordnungsversuche, aber kein generatives Prinzip kennt, wird auch der Figurbegriff von dieser diffusen Sachlage geprägt. Deshalb kann es hier nur eine knappe Skizze geben, eine lockere Abfolge von Textfiguren, unterschiedlich umfangreich und kombinierbar. Im Hintergrund dieser Problematik steht letztlich die Tatsache, dass in der Literaturwissenschaft keine starke Theorie der poetischen Selbstreferenz vorliegt. Stark wäre eine solche Theorie zu nennen, die ihr Argumentationsgebäude aus Grundannahmen herleiten könnte. Was aber poetische Selbstreferenz sein könnte, ist weithin unklar. Die Literaturwissenschaft hat in der Regel einen vagen Begriff von Selbstbezüglichkeit, der sich oft in der Aussage niederschlägt, dass ein poetischer Text das macht, was er aussagt. Aber die Abbildung thematischer Konstellationen auf strukturähnliche Verfahren ist natürlich nur eine sehr beschränkte Form von Selbstreferenz. Wie lassen sich deren Formen herleiten? Wie kommt man zu einer einigermaßen umfassenden Aufzählung der Formen poetischer Selbstbezüglichkeit? Dass diese Fragen, von denen der frühe Roman Jakobson die Möglichkeit von Literaturwissenschaft überhaupt abhängig gemacht hat, so vollkommen unbeantwortet sind – und nicht einmal insistent formuliert werden –, stellt der existierenden Literaturwissenschaft kein gutes Zeugnis aus.
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13.1 Mehrfacher Schriftsinn In diesem Text gibt es einen unkontrollierbaren Subtext, sagen Beamte, die nichts Direktes vorbringen können gegen etwas. Valentin Rasputin. Einen ist lustig. Ich wünsche mindestens drei Subtexte in einer Prosa, dafür aber keinen Roman. (Dick 2001, 209)
Diese Bemerkung aus Uwe Dicks Sauwaldprosa bringt einen der Unterschiede der Prosa zum Roman auf den Punkt. Während dort eine Handlung vorliegt, die vielleicht mit weiteren Anspielungssystemen angereichert wird, ist avancierte Prosa von vornherein ein Text mit mehrfachem Schriftsinn. Das Schema narrativ orientierter Romanhandlungen, von einem Basisgerüst auszugehen und dieses beizubehalten, wird von der Prosa aufgekündigt. Die spätantike christliche Theologie hat eine Theorie der Bibelexegese entwickelt, nach der grundsätzlich jede Textsequenz nicht nur einen Textsinn, sondern insgesamt vier Sinndimensionen besitzt. In diesem Modell wird davon ausgegangen, dass es einen literalen Sinn gibt, also eine buchstäbliche Ebene, welche in ihrem referentiellen Wert gesichert ist. Darauf aufbauend etablieren sich in aufsteigender Reihe drei weitere Auslegungsmöglichkeiten. Das Mittelalter hat dieses Prinzip in einem eingängigen Merkspruch zusammengefasst: Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia. (Meyer 1992, 1434)
Der Buchstabe lehrt die Ereignisse, was du zu glauben hast, die Allegorie, die Moral, was du zu tun hast, wohin du streben sollst, die Anagogie
Gemeinhin erläutert man dieses Schema anhand der Erwähnung der Stadt Jerusalem in der Bibel (vgl. Ohly 1983, 14 f., 192 f.). Auf der Ebene des literarischen Sinns ist mit Jerusalem die historische Stadt gemeint, also eine konkrete Referenz. Die allegorische Auslegung realisiert sich meist als typologische Deutung, sodass Jerusalem auf die Etablierung der Kirche Christi verweist. Der moralische Sinn, der auch gerne als tropologischer Sinn bezeichnet wird, nimmt Bezug auf die Wirklichkeit der menschlichen Einzelseele: Jerusalem steht dann für das zu erstrebende Ziel der menschlichen Seele, in der Kirche das Seelenheil zu finden. Der anagogische Sinn verweist auf die endzeitlich-eschatologische Auslegung, also auf das zukünftige, himmlische Jerusalem. In diesem Schema bildet der buchstäbliche Sinn die notwendig vorhandene Basis. Er gewährleistet eine konkrete Referenz und folglich eine feststellbare primäre Bedeutung, auf die dann in einem exegetischen Verfahren, das die mittelalterliche Theologie durchformalisiert hat, weitere Sinndimensionen aufgesetzt
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werden. Was innerhalb der Theologie vom christlichen Standpunkt her gut funktioniert, wird zu einem evidenten Problem, wenn der dogmatisch regulierte Bereich verlassen, das Deutungsschema aber beibehalten wird. So kann man sich etwa fragen, ob die Minnegrotte im Tristan Gottfrieds von Straßburg mehr als nur eine buchstäbliche Bedeutung – der Rückzugsort der beiden Liebenden – besitzt (Ohly 1983, 25). Realisiert sich hier eine mustergültige Liebe, die einen moralischen, allegorischen und anagogischen Sinn hat? Wenn dem aber so wäre, wird dann auch ein profaner Text die Tiefe des heiligen Textes besitzen können? Ähnliche Fragen lassen sich in Bezug auf die Artusepik hinsichtlich des Grals formulieren: Wenn der Gral mehr ist als nur ein kostbarer Gegenstand, kann dann die weltliche Dichtung für sich eine exegetische Strategie in Anspruch nehmen, deren Rechtfertigung eigentlich an den Begriff des heiligen Textes gekoppelt ist? Man sieht schon in dieser knappen Reflexion, dass im Grundgedanken des mehrfachen Schriftsinns neben der Chance einer dogmatisch stabilen Demonstration der Heiligkeit des Textes auch die Versuchung einer diese Heiligkeit übersteigenden Ausweitung des Verfahrens vorhanden ist. Von einer ganz besonderen Brisanz wird der mehrfache Schriftsinn, wenn Texte so organisiert sind, dass der literale Sinn nicht mehr feststellbar ist. Genau dies findet bei den allermeisten Prosatexten statt. In Arno Schmidts Abend mit Goldrand ist zwar eine rudimentäre Handlung vorhanden, aber sie bleibt gegenüber anderen Sinnsystemen zu marginal, um die stabile Basis eines literalen Sinns zu gewährleisten. Abend mit Goldrand ist die Inszenierung der textuellen Instanzentheorie von Schmidt, es ist ein Traktat über die Instabilität der Schöpfung im Sinne der Gnosis, es ist ein verzweifelter Text über die Unmöglichkeit von Liebe, es ist eine Autobiographie und zugleich die Theorie dieser Autobiographie, es ist die Selbstdeutung von Schmidts gesamtem literarischen Œuvre – und wahrscheinlich noch einiges mehr. Keines dieser Sinnsysteme kann für sich reklamieren, die Basis für die anderen Sinnsysteme zu sein. Die Textlogik besteht vielmehr aus einer permanenten Umgruppierung der Sinnsysteme, aus einem Konstellationsspiel in einem mehrdimensionalen Textraum. Während beim christlichen vierfachen Schriftsinn mit dem primären Literalsinn ein hermeneutischer Anker geworfen wird, ist bei Texten wie denen des späten Arno Schmidt genau diese Basis infrage gestellt. Und dies hat texttheoretisch immense Konsequenzen. Die primäre Folge ist, dass jedes Textsystem für jedes andere wechselseitig in die Situation kommt, sich allegorisch, moralisch und anagogisch lesen zu können. Im Falle von Abend mit Goldrand: Vielleicht ist die gnostische Spekulation nur eine autobiographische Selbstauslegung von Arno Schmidt. Vielleicht ist die Autobiographie von Arno Schmidt nur ein Experimentierfeld eines Willkürdemiurgen im Sinne der Gnosis. Vielleicht sind Autobiographie und Gnosis Beispiele für eine Rede über Lebensführung, also über das, was mit dem mora-
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lischen Sinn gemeint ist. Vielleicht sind Autobiographie und Gnosis nur Allegorien für bestimmte Leseweisen, etwa im Sinne der Instanzentheorie. Vielleicht gilt dies alles zusammen und gleichzeitig und vielleicht ist alles noch viel komplexer, wenn man die anderen Sinnsysteme in dieses Spiel mit hineinnimmt. Dies aber heißt: Ein Text, der auf den hermeneutischen Anker eines literalen Sinns verzichtet, etabliert eine radikale Variante von Selbstreferenz. Textimmanent gilt die buchstäbliche Ebene innerhalb des vierfachen Schriftsinns als textuelle Basisreferenz, auf die sich die anderen drei Sinne zurückbeziehen. Sie stabilisieren sich an diesem Rückbezug; die Unterscheidung von Thema und Rhema bleibt unangetastet. Beim Wegfall des buchstäblichen Sinns aber ist textimmanent die Frage, worauf sich etwas bezieht (Thema) und was darüber gesagt wird (Rhema), nicht mehr in textuelle Eindeutigkeit zu überführen. An deren Stelle tritt eine Wechselbeziehung von sich auftürmenden Selbstverhältnissen, in denen die Sinnsysteme des Prosatextes eine virtuell endlos fortlaufende Kombinatorik von Selbstanwendungen durchspielen. Somit deutet sich hier eine starke These zur Textfigur von Prosatexten an: Indem diese Texte in grundsätzlichster Weise eine Pluralität von gleichberechtigten Sinnsystemen bei Wegfall einer primären literalen Ebene instituieren, besteht ihre Textlogik notwendigerweise darin, die immanente Semiose durch fortgesetzte Selbstanwendung zu steigern. Mehrfacher Textsinn ohne eine dogmatische Rahmung und ohne eine basale Buchstäblichkeit führt zwangsläufig zu einem nicht mehr stillzustellenden Konstellationsspiel der verschiedenen Textsinne. Und genau dies ist der Zustand fast aller hier besprochenen Prosatexte. Die Autoren dieser Texte wissen auch hier, was sie tun. James Joyce hat eine jesuitisch geprägte Schulausbildung durchlaufen, der vierfache Schriftsinn ist ihm zweifelsohne bekannt. Spätestens im Ulysses wird evident, dass die Anwendung des vierfachen Schriftsinns auf Tatbestände der antiken Mythologie – auch dies war schon mittelalterliche Exegesepraxis – zum eigentlichen generativen Prinzip des Textes geworden ist. Finnegans Wake steigert dies noch einmal, indem nun quasi das Ergebnis, nämlich die verschärfte Selbstreferenz als solche, präsentiert wird. Entsprechend formuliert der einflussreiche Joyceforscher Klaus Reichert (1989) den Tatbestand durch eine leichte Buchstabenpermutation um und spricht in Bezug auf Joyce von einem vielfachen Schriftsinn. Arno Schmidt entwickelt anhand seiner Auseinandersetzung mit James Joyce seine Theorie der Lesemodelle, die sich ebenfalls als Theorie des vielfachen Schriftsinns verstehen lässt. Ironischerweise demonstriert er sie in dem folgenden Zitat anhand eines Schriftstellers, den man normalerweise bei hochkomplexer Literatur nicht in Erwägung zieht. Die Rede ist vom erstaunlichen Spätwerk Karl Mays, welches, nach der Lektüre von Schmidt ebenso wie von Wollschläger (2016), sich als komplexe Allegorie der Gnosis darstellt.
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Die eigentliche Schwierigkeit liegt jedoch, wie bei allen Büchern des beschriebenen Typs, noch wo anders. Wie einleitend bereits angedeutet, kann man sie von sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus lesen; und je der gemachten Voraussetzung entsprechend, wird sich ein anderes, in sich widerspruchsfreies Lesemodell ergeben! Die beiden letzten Bände von Karl May’s ‹Silberlöwen› – ich wähle dieses Beispiel, weil es sich dabei um das uns zeitlich= nächste und in jeder Buchhandlung leicht erreichbare der aufgeführten Paradigmata handelt; über den Größenunterschied zwischen ihm und FINNEGANS WAKE braucht man mich wahrlich nicht zu belehren! – den ‹Silberlöwen› also kann man lesen a) als harmlosen Reiseroman; b) als kultischen Symbolroman des Dualismus; c) als wunderlich verlarvte Auto= und Psycho=Biografie des Verfassers; und endlich sogar d) als allegorische Darstellung eines ganz speziellen Prozesses, den May gegen H.Cardauns und einige andere Redakteure kurz nach 1900 geführt hat. Und in jeglichem dieser 4 Fälle ‹stimmt› das Ganze; ist einwandfrei geschlossen gebaut; sprachlich unverächtlich dazu; und kann in allen möglichen Stimmungen, sei es in Feierabendbehaglichkeit, sei es in kreuzworträtselhaft=detektivischer Vormittagslaune goutiert werden. – (Schmidt BA III/4, 34)
Die These vom mehrfachen Schriftsinn wird von Arno Schmidt auch auf die Instanzentheorie angewandt, wie sich aus einem kurzen Zitat aus Abend mit Goldrand ersehen lässt: A&O (vermittelnd): »Sag’n Wir doch so: jede der Instanzen innerhalb der Persönlichkeit hat ihre eigne Religion: das Unbewußte den Animismus, oder Polytheismus; das ÜberIch iss streng monotheistisch; das Ich versucht, mit einem vernünftigen Agnostizismus durchzusteuern; (die 4. Instanz opfert am Altar des Gelächters) – das hat schon der alte PIETRO POMPONAZZI, zum Ärger und Anstoß seiner Zeitgenossen, aufgestellt: die Theorie von der mehrfachen Wahrheit in 1=&=derselbm Person. –« (Schmidt BA IV/3, 43)
Das Personal der späten Texte Schmidts ist entsprechend immer auch Träger von Sinnsystemen, hier die drei Freud’schen Instanzen, ergänzt durch die 4. Instanz (Humor). Deren Interaktion führt folglich zu einer Kette sich auftürmender Selbstverhältnisse, da nicht nur literarische Akteure interagieren, sondern immer auch autobiographische Abspaltungen einer unterstellten Autorpersona, zusätzlich aber ebenso die Theoriekonstruktionen der Freud’schen Psychoanalyse in der Neuschreibung Schmidts. Verbunden wird mit diesem Konzept aber auch eine Poetik, insofern aus dem Zusammenspiel der Instanzen die Genese der literarischen Produktivität abgelesen wird. Die späten Texte Schmidts gehen nur oberflächig ihren narrativen Gang. Tatsächlich handelt es sich um komplexe Selbstgespräche auf mehreren Ebenen gleichzeitig, wobei mit jedem Schritt die Gehalte der einen Ebene in die der anderen hineingetragen werden. Dieser Beschreibung folgend, lässt sich bei Schmidt nur eine Vielzahl von Sinnsystemen oder von Textrepertoires ansetzen. Ihre permanente gegenseitige Einkopierung führt zu einer Textualität komplexer Mehrfachkodierung ohne Möglichkeit, ein primäres Textsystem angeben zu können.
13.1 Mehrfacher Schriftsinn
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In Michael Lentz’ Schattenfroh wird der vierfache Schriftsinn erwähnt, zuerst an einer Stelle, an der die damit verbundene Deutungskunst als Ursache des Krieges gedacht wird (Lentz 2018, 32), dann innerhalb einer Immersion in ein Boschgemälde, in dem eine teuflische Ratte hervortritt: Ihr Maul hat sie weit aufgerissen, es zeigt vier spitze Eckzähne vor dem feuerflammenden Schlund. Als Zeremonienmeister trägt sie eine vierfache Sense, die unschwer als der vierfache Schriftsinn zu erkennen ist, der uns das ganze Leben verleidet, der Kriege verursacht und im Tod eine Erlösung sehen lässt, der also, mit einem Wort, für alles Unrecht verantwortlich ist. (Lentz 2018, 192)
Der vierfache Schriftsinn ist also Teufelswerk, nur die Rückkehr zur Wörtlichkeit – so die erste Stelle138 – würde die Möglichkeit bergen, den Gewaltverhältnissen zu entkommen. Nun basiert Schattenfroh auf der Abarbeitung einer Opposition des Sohnes (und vielleicht der absoluten Sohnesschaft) gegenüber den Vätermächten, die sich als höllische Institutionen darstellen. Indem das Buch an das jüdische Theorem der weißen und der schwarzen Schrift139 anschließt, wird man alles Geschriebene und in Schattenfroh Lesbare als schwarze Schrift zu deuten haben, deren Verschlungensein mit der symbolischen Ordnung notwendig an den Logiken auch des vierfachen Schriftsinns teilhat. Die weiße Schrift, das generische, aber nie manifest erscheinende Prinzip, kann hingegen nur als sich entziehende Instanz, etwa im Ausbleichen der Buchstaben, also via negationis, auftreten. Insofern unterliegt Schattenfroh auch dem vierfachen – und entschiedener: einem vielfachen – Schriftsinn. Die Textrepertoires, mit denen Lentz wirtschaftet, werden zu Beginn des Textes aufgezählt. Das Erzähler-Ich befindet sich in einer
Wiedergegeben wird in indirekter Rede eine Warnung von Schattenfroh: »Die deutsche Sprache sei ziemlich unökonomisch, man hätte diesem Prinzip der Addition nur weltweit folgen müssen, dann hätte die Welt sich anders entwickelt, sie wäre stets auf ihre kleinsten Elemente zurückzuführen, dank der höchst eingeschränkten und systematisch kontrollierbaren Bildung von Metaphern wären aus Sprache resultierende Krisen so gut wie ausgeschlossen, und aus welch anderen Quellen resultierten schon Krisen?, Kriegsschuldige könnten sofort ausgemacht werden, und das im wörtlichen Sinne, die Welt müsse zur Wörtlichkeit zurück, das ganze Gerede vom vierfachen Schriftsinn und seine Folgen hätten die Welt kaputtgemacht.« (Lentz 2018, 32). Das jüdische Theorem der weißen Schrift meint die generische Urschrift, die als solche nie positiv erscheinen kann. Sie ist als weiße Flammenschrift auf weißem Grund geschrieben. Die erscheinende und lesbare Schrift ist hingegen immer nur Auslegung, Hypothese; sie verstrickt sich in den symbolischen Ordnungssystemen und wird Teil der weltlichen Machtdispositive (vgl. Schmitz-Emans 1994, Kilcher 1998, 36). In Schattenfroh geht es darum, die Macht der schwarzen Schrift (die Macht des Vaters, der Institutionen, der Hölle: der vierfache Schriftsinn) zu unterlaufen und Kontakt zur weißen Schrift zu finden.
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Gefängniszelle, in der sich der vorhandene Tisch als Variante des Freud’schen Wunderblocks darstellt (Lentz 2018, 27). In seinen latenten Schriftspuren sind die Themen des Textes eingespeichert, sie werden als Paradigmen im Laufe von Schattenfroh herausgelesen. Die Liste der Textrepertoires (Lentz 2018, 31) findet sich eine Seite vor der zitierten Stelle mit der erstmaligen Erwähnung des vierfachen Schriftsinns (Lentz 2018, 32). Wollte man den Versuch unternehmen, diese Themenliste zu textuellen Sinnsystemen zusammenzufassen, so könnten es die folgenden sein: das Verhältnis von Vater und Sohn als modellbildendes System, der Zweite Weltkrieg mit der Zerstörung der Heimatstadt Düren als Nullpunktszenario, die historische Tiefenrecherche der Gewaltgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart (Jan Hus, Thomas Müntzer, das Bauernkriegspanorama von Werner Tübke), eine Mythenbricolage aus Judentum und Christentum, anagrammatische Selbstvervielfachungen der Funktion Autorschaft, Poetiken der Verschriftlichungen des Schmerzes. Auch hier gilt: Da der Text seine Repertoires nicht narrativ teleologisiert, werden sie ineinander montiert, sie geraten folglich in selbstreferentielle Verhältnisse. So verstärken die historischen Folterszenen die Imitatio Christi, die durch den Ich-Erzähler betrieben wird, dessen Kaschierungsstrategien wiederum zu anagrammatischen Maskierungen führen, welche ihrerseits eine Art von Buchstabenfolter sind. Die Familiengeschichte bildet eine Krypta aus (Abraham und Torok 1979), die ihrerseits zu einer komplexen Schriftkodierung führt, in der Kollektiv- und Individualgeschichte miteinander verschaltet werden. Durch gegenseitiges Anwenden der Textrepertoires aufeinander entstehen so selbstbezügliche Verdichtungen. Während ein Erzählplan notwendig auf die Entparadoxierung eines das Erzählen in Gang setzenden Anfangsproblems abzielen würde, muss ein nichtnarratives, paradigmatisch organisiertes Prosaprojekt mit der permanenten wechselseitigen Einkopierung seiner Textrepertoires arbeiten. Der Ausfall oder die Marginalisierung einer Romanhandlung erzeugt auf der Ebene der Textfiguren die ästhetische Faktur des großen Prosatextes. Eine der wesentlichen Strategien ist dabei die Installierung mehrfacher Sinnsysteme, die zu einer Textualität des mehrfachen Schriftsinns ohne literale Basis führen.
13.2 Plurifokaler Text Viele Prosatexte sind plurifokal angelegt. Fokusbildung bzw. Fokalisierung ist ein Terminus, der gerne in der Erzähltheorie bzw. Narratologie verwendet wird, eingeführt hat ihn Gérard Genette (1994, 134–138, 241–244). Ich möchte hier al-
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lerdings eine terminologische Initiative einbringen, die begriffslogisch vor den Genette’schen Unterscheidungen liegt. Eine Erzählung fokussiert sich auf ein Thema und führt es durch. Im grundlegendsten Sinne beginnt die Erzählung bei einem Anfangsproblem, etabliert vermittelnde Zwischenschritte, um schließlich eine Problemlösung als Ende der Erzählung anzubieten. Das ist ihre Grundform. Der französische Narratologe Claude Bremond hat dafür den Terminus der Elementarsequenz geprägt (Bremond 1972) und deutlich gemacht, dass dann erzählt wird, wenn ein Ereignis eine Widersprüchlichkeit enthält, die narrativ ausgefaltet und dann mit einer vermittelnden Lösung zum Ziel geführt wird. Der narrative Fokus sei im Folgenden der Begriff für diese teleologische Linie von einem Anfangsproblem zu einer narrativen Konklusion. Mit diesem Begriffsgebrauch wird der Narration als solcher eine Fokalisierung zugedacht, während Genette und ihm nachfolgend die Narratologie mit der Fokalisierung nur die Perspektivierung der Darstellung relativ zum Standpunkt des wahrnehmenden Erzählers beschreiben. Dass die Erzählung als solche unabhängig von ihrer Darstellung eine logische Form besitzt (Elementarsequenz), die erhalten bleiben muss, sofern überhaupt von Erzählung oder Narration gesprochen werden soll, bleibt bei den Analysen der Fokalisierungsmodi140 unbedacht. Die Erzählung hat hinsichtlich ihres narrativen Substrats eine Form, die durch Darstellungsmodi nicht aufgehoben werden kann. Dieser der Erzählung innewohnende teleologische Zug zur vermittelnden Auflösung eines Anfangsproblems sei mithin der narrative Fokus141 genannt, dessen logisch nachfolgende Perspektivierung durch die Darstellung bei Genette zu den drei Fokalisierungen führt. Wenn die Fokalisierungsmodi die Darstellung des Erzählvorgangs modellieren, sodass der narrative Fokus immer nur hinsichtlich einer perspektivierten Fokalisierung, d. h. relativ zum Standpunkt des wahrnehmenden Subjekts (Erzähler), auftritt, dann bleibt in diesem Erzählmodell stets vorausgesetzt, dass etwas über etwas zu berichten ist. Die Erzählung instituiert einen Genette (1994, 134) unterscheidet drei Fokalisierungen, nach denen der Erzähler mehr als die Figur weiß (Nullfokalisation, allwissender Erzähler), genauso viel wie die Figur (interne Fokalisation) oder weniger (externe Fokalisation, objektivistischer Gestus). Damit wird die Erzählertypologie, die andernorts schon vorlag, reformuliert, allerdings unter Beachtung der Unterscheidung von Stimme und Modus. Vgl. Schmid 2008, 118–122. In der Linguistik ist der Fokus der Informationskern einer Mitteilung, also das, was über etwas ausgesagt wird. Dass in einem Märchen ein Bauer einen Buckel hat, welcher zum Gegenstand des Spottes wird, ist der narrative Fokus, nicht primär die Tatsache, dass es sich um einen Bauern handelt (Beaugrande und Dressler 1981, 82). Würde man das Märchen mit verschiedenen Fokalisierungsmodi erzählen, bliebe der Hauptfokus (Spott über den Bauern mit Buckel) davon unberührt.
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internen Referenzanker; sie berichtet von etwas oder von jemandem, dem etwas passiert ist und etabliert somit die Bezugnahme auf etwas: Diese grundlegende Form ist perspektivenunabhängig. Prosatexte kennen durchaus die Eigenart, etwas zu erzählen, aber sie bewerkstelligen es mitunter, dass nicht festzustellen ist, was erzählt wird. Genauer: Im Erzählvorgang bleibt offen, was über welchen Gegenstand narrativ in die Darstellung rückt. Der Sachverhalt ist durchaus nicht einfach zu beschreiben. Die Plurifokalität vieler Prosatexte hat zwar Ähnlichkeiten mit der Beschreibung der mehrfachen Schriftsinne, meint aber dennoch etwas anderes. Lotmans Ko-Opposition (Lotman 1981, 123, 216 u.ö.), also das Zugleichbestehen unterschiedlicher Kodierungen und Systeme würde ein passendes Modell sein, wenn man sie auf Narrationsschemata beziehen würde. Plurifokalität meint eine narrative Formation, in der mehrere Erzählstränge so ineinander geflochten sind, dass immer mehrere Fokussierungen gleichzeitig beteiligt sind. Es wird zwar erzählt, aber es ist nicht eruierbar, was genau Thema der Erzählung ist. Im Gegensatz dazu besagt die Theorie der mehrfachen Schriftsinne, dass unterschiedliche Paradigmen oder Textrepertoires vorhanden sind. Sie unterliegen nicht per se einem Erzählprozess, sondern können in den Texten auf verschiedene Ebenen verteilt sein. Hier geht es jedoch um eine genuin narrative Form, die die conditio sine qua non der Erzählung, den narrativen Fokus, durch Pluralisierung unterläuft. Wenn in Schattenfroh die Familiengeschichte von Vater und Sohn erzählt wird, dann ist dies auch die Nachkriegsgeschichte Dürens, in der der Sohn in Gestalt von administrativen Helfern des Vaters auftritt; es ist aber drittens die tiefengeschichtliche Archäologie der Religionskriege, in der rebellierende Söhne gegen die Vatermacht der Kirche aufbegehren. Erzählt werden in Schattenfroh drei Narrationspläne als einer. Im Gegensatz zu einer Romanhandlung, in der etwa eine Vater/Sohn-Geschichte durch weitere Anspielungssysteme und Textrepertoires vertieft oder – wie die russischen Formalisten sagen würden – instrumentiert wird, lässt sich in Schattenfroh durchaus nicht entscheiden, wo die primäre Erzählebene liegt, zu der sich die anderen Ebenen in die Funktion sekundär hinzutretender Erzählmuster bringen. Insofern lässt sich nicht feststellen, was erzählt wird, wenn der Sohn mit dem Vater quer durch die Eifel geht, um anlässlich des Treffens der ehemaligen Schüler des Opas die Familiengeschichte zu erforschen. Denn dieser Gang ist auch einer durch eine versehrte frühneuzeitliche Kriegslandschaft, die schließlich nicht in Prüm (Eifel), sondern in Bad Frankenhausen (Kyffhäuserkreis in Thüringen), dem Ort von Tübkes Bauernkriegspanorama endet. Entsprechend stellt sich die Schülerschaft des Opas als die Versammlung der ikonischen Reformationsgestalten in Tübkes Monumentalgemälde heraus. Aber was wurde derart erzählt? Die Vater/Sohn-Geschichte als Reformationsgeschichte im Großbild des
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DDR-Malers? Und welche Rolle spielen die Eifel, die Gestapohaft des Opas und der Bombenangriff auf Düren in diesem Narrativ? Ist es ›eine‹ Erzählung? Wenn es in diesem Fall drei-Erzählungen-als-eine wären, wo liegt dann der narrative Fokus im soeben definierten Sinne? Schattenfroh ist ein plurifokaler Text. Im kurz angedeuteten Erzählkomplex findet sich ein erster narrativer Fokus: Der Sohn wird von der Vatermacht unterdrückt (Anfangsopposition), seine Rebellion (Vermittlung) folgt allerdings nicht dem Muster des Königsmörders, der sich als neuer Vater etabliert, sondern einer Figur des Dritten. Der Sohn entwickelt seltsame Phantasien, fängt an, Dichtung zu schreiben, und inszeniert eine hybride Imitatio Christi (prekäre Lösung). Ein zweiter Fokus: Die engere, auf den Wohnort Düren bezogene Familiengeschichte verankert sich in der Opposition des Opas gegen die Nazis (Anfangsopposition), der Opa wird von der Gestapo gefoltert, etabliert als Lehrer aber einen Schülerkreis (Vermittlung). Die Familiengeschichte findet einen Nullpunkt in der nahezu vollständigen Auslöschung Dürens durch einen Bombenangriff (prekäre Lösung). Ein dritter Fokus: Jan Hus und Thomas Müntzer rebellieren gegen die symbolische Vatermacht der Kirche (Anfangsopposition), sie unterliegen und werden gefoltert (Vermittlung), die prekäre Lösung besteht darin, dass die Erzählinstanz (Niemand, der Sohn) in ihre Leidensgeschichte immersiv eingeht und sie zu Literatur macht. Es fällt auf, dass jeder dieser drei Elementarsequenzen einen klar markierten Anfang und eine Vermittlungsbewegung besitzen, aber hinsichtlich der Lösung diffundieren. Prekäre Phantasien, Auslöschung einer Stadt und Immersion in Szenarien der Tortur: Diese Lösungen sind keine, sie führen in einen postnarrativen Raum, in dem die paradigmatischen Register des Textes untereinander in vielfache Korrespondenzen treten. So entsteht ein plurifokaler Text. In Schattenfroh sind diese drei Narrationspläne mit ihrem jeweiligen prekären narrativen Fokus folglich zu einer einzigen Textbewegung verschmolzen. Schon der Versuch, von Schattenfroh eine Nacherzählung anfertigen zu wollen, scheitert an dem ständigen Wechsel des Fokus der Erzählung. Es findet eine Überkodierung des narrativen Grundgerüsts statt. Am Ort einer primären Elementarsequenz werden weitere primäre Elementarsequenzen installiert: Ko-Opposition. So finden sich im Text erzählerische Sequenzen, ohne dass gesagt werden könnte, was die Erzählaussage wäre. Michael Lentz ist mit seinem Schattenfroh durchaus nicht der einzige Autor, der eine solche Plurifokalität des Erzählens als narrativ organisierte Subvertierung des Narrativen betreibt. Der Meister einer gegen das Erzählen anschreibenden Erzählkunst ist Jean Paul. In seiner »Geschichte der Vorrede zur zweiten Auflage« im Leben des Quintus Fixlein folgt nach diversen Einleitungstexten die Benennung der Rahmenhandlung: Der inszenierte, also als erzählte Per-
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son auftretende ›Jean Paul‹ habe die Vorrede auf der Reise von Hof nach Bayreuth geschrieben. Diese Reise ist mehrfach kodiert. In einer ersten Handlung versucht der Autor eine bei Reiseantritt erblickte Dame einzuholen, die er gerne vis-à-vis sehen möchte, was zu allerlei digressiven Bemerkungen über weibliche Bildung und Schönheit Anlass gibt. Eine zweite Handlung betrifft die Naturschönheiten auf der Reiseroute, welche durch die Vorbeifahrt an einem Galgenhügel konterkariert werden. Eine dritte Handlung berichtet vom Zusammentreffen mit dem Kunstrat Fraischdörfer, der die erste Auflage des Fixlein rezensiert hat. Ihm macht ›Jean Paul‹ weis, dass er Fixlein wäre, während der Kunstrat seine absurde Theorie des ästhetischen Klassizismus zum Besten gibt. In diesem ästhetischen Disput findet sich eine kleine Theorie des großen Prosatextes. Das Theorem lautet, dass die Texte deshalb so lang werden, weil die Kritik in sie Einzug hält (JP I/4, 23). Die drei Handlungen werden finalisiert, indem die erblickte Dame eingeholt wird. Es handelt sich um die aus der Vorrede zum Siebenkäs bekannte Pauline, mit der ›Jean Paul‹ in eine empfindsame Kommunikation eintritt, die trefflich durch sein krankhaft tränendes Auge befördert wird. Die interessante Frage besteht nun darin, ob und wie diese Szene die drei ineinander verflochtenen Handlungsstränge zu einer Lösung führen kann. Man wird die empfindsame Szene – eher ist es die Parodie einer solchen – mithin als Ziel der Vorrede (also poetologisch als literarisches Modell der Autor/Leser-Kommunikation), als Substitution der Naturschönheiten durch Weiblichkeit und als Lösung des abstrakten ästhetischen Disputes durch eine Szene konkreter Intersubjektivität lesen können: drei Handlungen, eine Lösung. Diese Art der Engführung einer plurifokalen Anlage ist überraschend. Sie sorgt dafür, dass die empfindsame Szene komplex gelesen werden muss, als mehrfach kodiertes Antwortregister auf drei recht unterschiedliche narrative Fokalisierungen. Tatsächlich ist diese »Geschichte der Vorrede« noch deutlich verzweigter angelegt, aber schon das Referierte zeigt, dass auch Jean Paul intensive Strategien entwickelt hat, im Modus des Narrativen gegen die Ordnungsformen der Narration zu arbeiten – als ob er, darin vergleichbar mit Lentz, einen narrativen Fokus boustrophedonisch gegen den anderen laufen lassen wollte.
13.3 Sujetlosigkeit, Enzyklopädie, Liste, Humor »Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes« (Lotman 1981, 332). Jurij Lotman entwickelt in seiner strukturalistischen Literaturtheorie den ebenso eleganten wie elementaren Gedanken, dass der Prozess der Erzählung darin besteht, dass ein Akteur eine Grenze überschreitet,
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die zu passieren ihm eigentlich verboten ist. Diese Grenzüberschreitung ist das narrative Ereignis. Es zieht die Notwendigkeit nach sich, die Semantik des Ausgangsbereiches mit der Semantik des Zielbereiches, in der sich der Held nach der Grenzüberschreitung befindet, zu vermitteln. Lotman benutzt für diese Gedankenfigur den Begriff der Sujetbewegung (Lotman 1981, 329–340). Dem Märchenhelden wird verboten, in den Wald zu gehen, er darf sich nur bis zum Waldrand vorwagen. Natürlich überschreitet er diese Grenze und gerät in den Wald. Dabei verschlägt es ihn in eine neue Ordnung; der Aufeinanderprall seiner herkömmlichen Verhaltenssemantiken mit den Gegebenheiten des neuen semantischen Raumes bildet das narrative Ereignis bzw. das Ausgangsproblem, das dann durch den Fortlauf der Erzählung gelöst werden muss. Lotman kennt aber auch den Begriff der Sujetlosigkeit. Würde der Held nämlich nicht die Grenze überschreiten, sondern auf der Wiese vor dem Haus verharren, dann würde sich keine Erzählung entwickeln. Der Held würde nur den Definitionsraum seiner Ausgangssemantik abschreiten und quasi lauter definitorische Akte vollziehen. Musterbeispiele für derartige Textorganisationen sind nach Lotman das Telefonbuch oder eine Landkarte. In diesen Zeichenensembles wird nur der status quo als unveränderliche Ordnung repräsentiert. Sujetlose Texte haben einen deutlich klassifikatorischen Charakter; sie bestätigen eine bestimmte Welt und deren Organisation. Beispiele für sujetlose Texte wären ein Kalender, ein Telefonbuch oder ein sujetloses lyrisches Gedicht. Betrachten wir am Beispiel des Telefonbuchs einige charakteristische Züge dieser Art von Texten. Vor allem haben solche Texte ihre eigene Welt. Die Welt der Denotate auf der allgemeinsprachlichen Ebene wird von ihnen als das Universum bestätigt. Die Namensliste des Textes wird den Anspruch erheben, ein Inventar des Universums zu sein. Die Welt des Telefonbuchs bilden die Familiennamen der Fernsprechteilnehmer. Alles andere existiert einfach nicht. In diesem Sinne ist das, was vom Standpunkt eines Textes aus nicht existiert, ein wesentliches Kennzeichen dieses Textes. Die Welt, die von der Abbildung ausgeschlossen wird, ist eines der grundlegenden typologischen Kriterien für den Text als Modell des Universums. (Lotman 1981, 336 f.)
In diesem Sinne ist ein Wörterbuch oder eine Enzyklopädie ein sujetloser Text. Überraschenderweise besitzen fast alle avancierten Prosatexte die Grundcharakteristik sujetloser Texte: Weil Prosa dahin tendiert, eine Darstellung ihrer basalen Grammatik zu sein und deshalb nichts zu erzählen hat, besitzt sie eine Affinität zur Darstellung des Weltganzen. Wenn in Finnegans Wake um die 70 Sprachen verarbeitet worden sind, dann heißt dies auch, dass keine einzige als sie selbst gesprochen wird. Der Text ist eher eine Enzyklopädie der Sprachvielfalt, weniger ein Benutzen der Sprache, um einen Erzählinhalt durchzuführen. Dass viele Prosatexte erstaunlich umfangreich sind, hängt mit dieser Tendenz
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zur Weltdarstellung zusammen. Die entsprechende Form ist die Liste, mitunter sogar das Wörterbuch. Uwe Dicks Sauwaldprosa (2001) ist ab der Seite 75 nach dem Alphabet gegliedert, in diesem Sinne handelt es sich eigentlich um ein Wörterbuch. Bora Ćosićs Die Tutoren beginnt mit einer 130 Seiten umfassenden Liste von Pseudodefinitionen, die nicht in alphabetischer Abfolge vorgebracht werden, aber typographisch nach Lexikonprinzipien gestaltet sind. Ror Wolfs Raoul-Tranchirer-Bücher treten als Ratgeber-Lexika auf, die in alphabetischer Gliederung Ratschläge zur Lebensführung geben, kunstvoll zwischen dem Genre der Ratgeberliteratur und einem lakonischen Surrealismus schwebend (dazu Schmitz-Emans 2008 und 2010). Ulrich Holbeins Lexikon Narratorium. 255 Lebensbilder (2008) erfasst die Lebensläufe bedeutender Personen, von Buddha bis Boris Becker, als Kompilation von Narrentum und Narration. Jorge Luis Borges’ Gesamtwerk ist vom Phantasma vollständiger Enzyklopädien geprägt und also von Erzählordnungen, die sich selbst außer Kraft setzen, weil bei Vollständigkeit der Welt keine für die Erzählung konstitutive Grenze zu einem anderen Bereich mehr vorhanden ist. Auch Jean Pauls Gesamtwerk lässt sich als der Versuch lesen, die Kombinatorik des Wortwitzes so erschöpfend auszuformulieren, dass außerhalb dieses Werkes eigentlich keine Möglichkeit für eine andere Sprachbewegung mehr denkbar ist. Prosatexte tendieren zur listenförmigen Enzyklopädie. In Fischarts Geschichtklitterung finden sich schier endlose Listen, ebenso in den satirischen Rabulistiken von Jean Pauls Humoristen. Diese Listen sind selbst humoristisch. Sie imitieren die geregelte und gepflegte Semantik der Wörterbücher, aber nur, um durch eine solche Pseudoordnung das Weltgefüge als solches zu unterwandern. Eine Ratgeberliteratur, die als Lebensweise einen kuriosen Surrealismus empfiehlt, ein derangiertes Alphabet aus dem Sauwald, ein Lexikon voller Narren-Lebensläufe, eine ausbuchstabierte Witzenzyklopädie: Offenkundig arbeiten diese Texte daran, eine vollständige Erfassung der Welt hinsichtlich ihres Zustandes, die Erscheinung umfassender Sinnlosigkeit zu sein, zu leisten. Der enzyklopädische Furor besteht darin, im Gestus der schlechten Unendlichkeit alles aufzuzählen, was in der Welt vorkommt, um bei jedem einzelnen Detail den Beweis dafür anzutreten, dass es misslungen sei. Wenn bei Jean Paul der Humor aus der grundsätzlichen Erfahrung der Unangemessenheit eines jeden einzelnen Details zur Unendlichkeit der Weltverlachung resultiert, dann sind die Enzyklopädien der Prosa humoristische Aufzählungen, die sich in Scheindefinitionen und in Evidenzen grotesker Verkörperung ergehen. Jean Paul formuliert den Gedanken in der Vorschule mehrfach, zuerst in Bezug auf den Witz:
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Der Witz im engern Sinne findet mehr die ähnlichen Verhältnisse inkommensurabler (unanmeßbarer) Größen, d. h. die Ähnlichkeiten zwischen Körper- und Geisterwelt (z. B. Sonne und Wahrheit), mit andern Worten, die Gleichung zwischen sich und außen, mithin zwischen zwei Anschauungen. (JP I/5, 172)
Mit dieser Bestimmung ist die – mit Hegels Terminus zu sprechen – schlechte Unendlichkeit des Witzes als sein positives Prinzip ausgesprochen. Der Witz reimt sich Gleichungen zwischen zwei Größen zusammen, die nie zueinander passen werden und nur im kurzen Witzmoment zünden. Weil das eine Relatum des Vergleichs keiner empirischen Größenordnung angehört (Geist, innen), aber auf Quantifizierbares (Körper, außen) angewandt wird, kann der Vergleich keine Stoppregel finden. Die innere Unendlichkeit des Geistes wird immer Dingkorrelate aufbieten, mit denen ein Witz zu machen ist. Ein derartiger transzendentaler Witzbold kann die ganze Schöpfung, jedes einzelne Ding in ihr, durchmustern und inkommensurabel in eine kurze Gleichung setzen. Deshalb ist der Witz enzyklopädisch, er lacht über die von ihm eingesammelte schlechte Unendlichkeit als eines von ihm zusammengereimten Haufens, der in der Summe die Welt selbst ist. Im zweiten Schritt wird daraus der Humor: Hier [im Humorbegriff der romantischen Poesie, R.S.] finden wir nur jenen unendlichen Kontrast zwischen den Ideen (der Vernunft) und der ganzen Endlichkeit selber. […] Und so ists in der Tat; und der Verstand, obwohl der Gottesleugner einer beschlossenen Unendlichkeit, muß hier einen ins Unendliche gehenden Kontrast antreffen. (JP I/5, 124 f.) […] Shakespeare, der Einzige, tritt hier [im Welt-Humor, R.S.] mit seinen Riesengliedern hervor; ja in Hamlet, so wie in einigen seiner melancholischen Narren, treibt er hinter einer wahnsinnigen Maske diese Welt-Verlachung am höchsten, Cervantes – dessen Genius zu groß war zu einem langen Spaße über eine zufällige Verrückung und eine gemeine Einfalt – führt, vielleicht mit weniger Bewußtsein als Shakespeare, die humoristische Parallele zwischen Realismus und Idealismus, zwischen Leib und Seele vor dem Angesichte der unendlichen Gleichung durch; und sein Zwillings-Gestirn der Torheit steht über dem ganzen Menschengeschlecht. (JP I/5, 126)
Im Humor wird die Struktur des Witzes universell und metaphysisch. Er schließt das Witze machende Subjekt mit ein, sodass sogar Selbstverlachung – keine durchwegs lustige – zum Humor gehört. Vor allem aber ist der Humor unendlich, weil er ohne Stoppregel die Welt immer nur als Reich komischer Kontraste erblickt. Geist und Körper werden für den Humoristen zur ›humoristischen Parallele‹, also immer nur durch schiefe Verhältnisse nicht in Einklang, sondern ins Missverhältnis gesetzt. Wer so über die Welt lacht, für den ist alles, was ist, immer nur eines: komische Verkörperung einer misslungenen Schöpfung, unendlich fortgehendes
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Reich von Kontrasten, schlechte Unendlichkeit grotesker Verhältnisse. Der Humorist sammelt ein, er wird zum Polyhistor, zum komischen Enzyklopädisten. Vor allem aber: Es gibt für ihn kein Sujetereignis, er trifft jedesmal auf Altbekanntes, nämlich auf die unendlich nicht aufgehende Gleichung zwischen Geist und Körper. Die semantische Grenze, die nach Lotman überschritten werden muss, um zur Narration zu kommen, ist beim Humoristen immer schon integriert: Er verlacht sie und darin sich selbst als die komischste Figur im Tollhaus. Deshalb besteht die symbolische Form des Humoristen in der satirischen Rabulistik, also in der Enzyklopädie aller möglichen disharmonischen Sujetereignisse, sodass darüber die Welt selbst sujetlos wird. Dieser Humorbegriff wurzelt zutiefst in den großen Prosatexten. Fischarts Geschichtklitterung, Jean Paul, James Joyce und Arno Schmidt: In allen diesen Werken dominiert die Textfigur des Humors mitsamt der Produktion humoristischer Totalität. Je vollständiger solche negativen Enzyklopädien die Welt erfassen, desto weniger haben die Prosatexte etwas zu erzählen. Sie versetzen die Welt in den Zustand der Absurdität. In diesem Sinne aber sind viele Prosatexte sujetlos. Ist es sinnvoll, danach zu fragen, wovon Finnegans Wake handelt? Viel plausibler ist es, jeden Sprechakt in diesem Text als Falschdefinition der Welt zu lesen, also als deren adäquate Darstellung, sofern man der Meinung ist, dass die Welt von Grund auf sowieso falsch sei. In diesem Sinne sind die sujetlosen Prosatexte die Telefonbücher der misslungenen Schöpfung. In Schattenfroh findet sich der Satz: »Diese Enzyklopädie zerlegt Gottes offenbare Welt in Begriffsbilder von A bis Z« (Lentz 2018, 176), aber die ›offenbare Welt Gottes‹ ist hier ein Zynismus. Die Enzyklopädien der Prosa von Ror Wolf, Ulrich Holbein, Uwe Dick, Jorge Luis Borges und anderen bilden ein eigenes Gebiet innerhalb der Prosa. Die Aufnahme des Lexikonschemas, die Hereinnahme von Listen und die satirische Rabulistik verweisen auf eine der wichtigsten Textfiguren der Prosa und auf deren Hintergrund, den weltverlachenden Humor.
13.4 Durcheinanderprosa: Historische Episteme gleichzeitig Gibt es eine Literaturgeschichte der Prosa? Gibt es Entstehungsbedingungen? In der bisherigen Argumentation war der Zugang theoretisch; die Konzentration auf das Konzept der Selbstreferenz implizierte eine ahistorische Herangehensweise. Für bestimmte Bereiche der Literaturwissenschaft ist dies von vornherein eine disqualifizierende Eigenschaft. Tatsächlich ist auf die literaturgeschichtliche Frage nur eine trockene Antwort zu geben. Prosa im hier gemeinten Sinne hat keinen speziellen literaturge-
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schichtlichen Ort. Sie taucht in der Antike auf, etwa in der römischen Satire, bei Petron, Varro und anderen. Man findet sie in der Frühen Neuzeit, bei Rabelais oder bei Fischart. Je näher man der Moderne kommt, desto häufiger sind Texte vorhanden, die man im hier gemeinten Sinne der Prosa zurechnen kann. Aber es ist sehr sprechend, dass gegenseitige Bezugnahmen der Texte untereinander immer erst im fortgeschrittenen Zustand stattfinden. Wilhelm Raabe entdeckt Jean Paul erst, als er selbst seine eigene Literatursprache gefunden hat; die oft reklamierte Geistesverwandtschaft ist ein nachträglicher Akt (Fuld 2006, 57). In Schmidts Abend mit Goldrand findet sich diese Stelle, der Figur A&O in den Mund gelegt: Ich hab mich zeitlebms bemüht, meine ›TraditionsReihen‹, nach hintn zu, ausfindich zu mach’n; und mich (wenichstns zu Zeit’n) durchaus als ›KettenGlied‹ zu empfind’n: ich freue mich über Vorgänger. Sei das in Hinblick auf die gesamte Mentalität, wie bei LUKIAN oder WIELAND; (obschon mir durchaus die Gabe ward, auch JEAN PAUL oder COOPER würdij’n zu könn’n). Sei’s mit Bezug auf die OberflächenBehandlung, wie bei FISCHART, SMOLLETT, JOYCE. Oder ebm auch was die Konstruktion, das ›Gerüst‹, anbelangt: ich meine, HOFFMANN’s ›Prinzessin Brambilla‹ ist imgrunde genau so ein ZweispaltenBuch wie ›Kaff‹ (BA IV/3, 215)
Die Aussage setzt den eigenen Standpunkt schon voraus, die Traditionsreihe wird erst recherchiert, wenn die Möglichkeit eines das literarische System prägenden ›Einflusses‹ vorüber ist. Eine direkte Beeinflussung ist schon allein deshalb sehr unwahrscheinlich, weil der ganze Gestus der Prosa den Zustand geistiger Fortgeschrittenheit in Kombination mit elaboriertem Zynismus voraussetzt – und so kommt man in der Regel nicht auf die Welt, weder real noch literarisch. Der jugendliche Ephebe, der durch ein poetisches Vorbild angesprochen sein will, wird sich keinen verknotet selbstreferentiellen Diskurs aussuchen, sondern eher etwas Hymnisches, zur Identifikation Einladendes (vgl. zu diesem Konzept Bloom 1997, 57–84). Genealogisch gesehen ist Prosa etwas Nachträgliches und Zweites. Die Auskunft zur historischen Situation lautet, dass Prosa überall entstehen kann, wo eine ausdifferenzierte Kultur mit einer gepflegten enzyklopädischen Semantik vorhanden ist und die Freiräume dafür bestehen, dass seltsame Geister das ganze kulturelle System umdrehen und auf Selbstreferenz umschalten. Nicht so sehr Griechenland, sondern eher Rom; nicht das frühe und hohe Mittelalter, sondern das späte und die Frühe Neuzeit; die fortgeschrittene ästhetische Moderne und nicht der Klassizismus: Das sind die Entstehungsbedingungen von Prosatexten. Statt einer Tradition zu folgen oder aus einer Tradition zu entspringen, emergiert Prosa spontan aus Gründen ihrer eigenen Komplexität des Widerspruchs. Prosatexte brauchen bestimmte Kontexte, aber literaturgeschichtliche Kontinuitäten oder gar Traditionen vertragen sie gerade nicht.
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Diese etwas hemdsärmelige Auskunft befreit freilich nicht von der Notwendigkeit, dennoch eine historische Dimension zu denken oder zumindest ein offensiveres Gegenargument zu formulieren. Lässt sich auf der Konzeptebene der Theoriebildung eine Art von historischem Index in die Prosatexturen eintragen? Wenn Prosa dahin tendiert, plurifokal zu sein, mehrfache Schriftsinne zu benutzen, eben deshalb letztlich sujetlos zu sein, eine negativistische Charakteristik zu haben und die Welt insgesamt humoristisch zu verlachen, dann wird die Frage des Historischen in genau diesem Sinne zu pluralisieren sein. Die Vermutung lautet also, dass Prosatexte eine Möglichkeit gefunden haben, sich metahistorisch zur Historie zu verhalten. Anders formuliert: Prosatexte versuchen, selbst ihre immanente Historizität – also Fremdreferenz schlechthin – zu einer Textfigur der Selbstbezüglichkeit umzuschreiben. Das ist eine dunkle Bemerkung, aber sie soll sogleich deutlich werden, nämlich durch einen Bezug auf Foucault. In seinem vielleicht elegantesten Buch Die Ordnung der Dinge (1966: Les Mots et les Choses) entwickelt Michel Foucault den Grundgedanken, dass unser Wissen in jeweilige Rahmenbedingungen eingebunden ist, die den Bereich des Sagbaren von vornherein begrenzen und zugleich die Art und Weise des Sagens bestimmen. Diese Rahmenbedingungen bestehen aus Diskursregeln, die teils bewusst, teils aber auch unbewusst die Formationen des Wissens steuern. Foucault nennt diese Rahmenbedingungen Episteme. Sie wechseln sich historisch ab, sodass jedes epistemische System bestimmten historischen Aprioris unterliegt. Für die europäische Neuzeit sind es im Wesentlichen drei Episteme, die die Ordnung des Wissens determinieren (zusammengefasst bei: Ruffing 2010, 40–51; Ruoff 2009, 106–109). Erstens besteht in der Renaissance und im Barock die Wissensorganisation darin, zwischen den Dingen Ähnlichkeiten zu finden (Foucault 1974, 46–77): Die Dinge sind Teil einer Sprache Gottes, sie besitzen den Charakter von Buchstaben in der umfassenden Sprache der Natur. Das Wesen eines Dinges, sein innerer Charakter, ist seine Zeichenqualität, also die Signatur. Die Renaissance und der Barock haben Wissenschaft als Auffinden und als Systematisierung solcher Signaturen verstanden. Die magia naturalis beschreibt diese inneren Zusammenhänge der Schöpfung als lebendiges System von Analogien und von den Wirkungen, die von diesen Analogien ausgehen und zwischen den Dingen aufgrund ihrer Ähnlichkeit bestehen. Da der Begriff der Analogie zwar typologisch ausgefaltet werden kann, letztlich aber unscharf bleibt, weil er ein mittleres Übergangsfeld zwischen Identität und Differenz besetzt, ist das Denken dieser Zusammenhänge von einer durchaus produktiven Vielstimmigkeit gekennzeichnet: Sympathien der Dinge zueinander, tatsächliche Nachbarschaft der Dinge, auf unbeschränkte Entfernung wirkende Zwillingseigenschaften von
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Dingen (etwa zwischen Gestirnen und Temperamenten) etc. Barocke Wissensarchive bestehen gemäß dem heutigen systematischen Blick auf die Dinge mitunter aus wilden Typologien und kuriosen Ordnungen. So werden in der Frühen Neuzeit zwischen Pflanzen unterschiedlichste Beziehungen angenommen; solche der medizinischen Wirkung, solche der äußeren Ähnlichkeit der Gestalt, solche, die der Erwähnung der Pflanzen in den heiligen Texten entsprechen, solche, die der Ähnlichkeit oder Differenz des Geruchs folgen oder solche, die der Nähe oder der Ferne zum Erdboden entsprechen. Derlei Ordnungen können durchaus ungeregelt durcheinanderlaufen. Die zweite Episteme bestimmt Foucault aus einer Analyse des Repräsentationssystems der französischen Klassik (Foucault 1974, ab S. 78). Hier geht es um eine zweistellige Erkenntnisrelation, in der Zeichen auf Dinge referieren und sich im Wesentlichen durch die Transparenz dieser Bezugnahme definieren. Unterstellt werden eine rationale Ordnung der Welt und folglich auch eine rationale Ordnung der sprachlichen Zeichen. Entsprechend entwickelt das System der Repräsentation eine formale Grammatik und in der Philosophie die durchgängig klare Terminologie des Rationalismus mit seinen Taxonomien und Klassifikationen. Es wird ein Netz von Gesetzen über die Welt gelegt, die Mathematik und ihr Erkenntnisideal steigen zu einem zentralen Wissenschaftideal auf. Die dritte Episteme entspricht der transzendentalen Philosophie um 1800 mit ihren Wirkungen bis weit in das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert hinein (Foucault 1974, Zweiter Teil). Hier wird die Erkenntnisrelation dreistellig, zum Zeichen und zum Referenzgegenstand tritt das Subjekt hinzu, das diesen Referenzbezug vermittelst von Zeichen überhaupt erst erstellt und in Gang setzt. Es wird also zurückgegangen zum generischen Ort dieser Referenzrelation, dem Subjekt. Die Selbstbezüglichkeit des Subjekts wiederum erweist sich als ein schwieriges Problem, sodass in dieser dritten Episteme die Komplexitäten des Selbstbezugs auftreten. Indem der Mensch als konstituierendes Subjekt entdeckt wird, tritt er ein in die eigentümliche Doppelstruktur von konstituiertempirischem und konstituierend-transzendentalem Subjekt und deutet sich und das Wissen aus dieser doppelten Ordnung des Selbstbezugs. Diese drei epistemologischen Systeme folgen historisch aufeinander, sind aber untereinander nicht kompatibel. Das System der Ähnlichkeiten hat eine gänzlich andere Ordnung als das System der mathematisierten Klassifikationen. Wenn ein System das andere ersetzt, dann erfolgt ein Epochenbruch. Foucaults Grundargument lautet, dass diese Systeme jeweils ein Ensemble von diskursiven Ordnungen, aber eben auch politischen oder ökonomischen Praktiken bilden, also in ihrer Binnenstruktur keineswegs einen stark durchgeführten systematischen Charakter besitzen. Ganz im Gegenteil besteht der Erkenntniswert dieser Theorie in der Einsicht, dass es mitunter auch pure Verfahren der
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Macht und der Manipulation sind, die das Zusammenwirken dieser Diskurse und Praktiken in Gang halten. Vor Foucault hat man Geistesgeschichte weithin als den Zusammenhang einer idealen Diskussion über konstante Probleme verstanden, seit Foucault sieht man ein, dass Epochendiskurse jeweils heterogene Ensembles sind. Nun hat Foucault zu seinem Buch ein berühmtes Vorwort geschrieben (Foucault 1974, 30–45), es besteht in der detaillierten Analyse des Bildes Die Hoffräulein von Diego Velázquez (1656).
Abb. 9: Diego Velázquez: Las Meninas (1656), Museo del Prado.
Man sieht auf den ersten Blick, dass der Maler in diesem Gemälde anwesend ist. Offenkundig wird der Malakt selbst im Bild dargestellt. Die Ausbuchstabierung dieser Beobachtung führt zur Entdeckung der dritte Episteme der Transzendentalität. Vor allem aber wird die Ordnung des höfischen Daseins repräsentiert. So findet sich das Herrscherpaar im Hintergrund im Spiegel, ist also erstens auf der Oberfläche vorhanden, steht zweitens aber auf die Szene hinblickend an einer Stelle, die auch die Stelle des Bildbeobachters ist. Es findet sich also ein recht kompliziertes System der Repräsentation auf der Grundlage der zweiten Episteme. Eine genaue Analyse der Bilddetails wird aber zudem auf ein intensives Spiel der Ähnlichkeiten und Korrespondenzen, der Sympathien zwischen den Dingen stoßen. In diesem System spielt der Hund im Vordergrund eine wichtige Rolle. Ohne in eine inhaltliche Debatte übergehen zu wollen, kann man an dieser Stelle schon bemerken, dass damit auch das erste System, die Epistemologie der Ähnlichkeiten, in dem Gemälde vorhanden ist. Diese Analyse irritiert. Foucault schreibt ein Vorwort, das das Haupttheorem seines Buches offenkundig außer Kraft setzt. Es soll gelten, dass die drei Episteme nicht gleichzeitig, sondern nur in einer historischen Abfolge auftreten können, aber sie sind dennoch in diesem Gemälde von 1656 gleichzeitig anwesend und die dritte Episteme (Transzendentalität) sogar, bevor sie nach Fou-
13.4 Durcheinanderprosa: Historische Episteme gleichzeitig
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caults Datierung überhaupt erfunden wurde. Aus dieser seltsamen Konstellation eines explizit dem Hauptargument des Buches widersprechenden Vorwortes lässt sich eine Schlussfolgerung ziehen: Die drei genannten Episteme sind eben nicht nur Konzeptualisierungen historisch auftretender epistemologischer Ensembles, sondern sie verfügen vielmehr über eine Grundstruktur, die generell für das System der Kunst sehr zentral ist. In diesem Gemälde jedenfalls sind ihr gleichzeitiges Vorhandensein und die daraus entstehende Spannung für das gesamte Bildprogramm notwendig und konstitutiv. Offenkundig sind mit den drei Epistemen nach Foucault drei konstitutive Systemzusammenhänge für die Kunst überhaupt formuliert. Wenn Kunst eine Entautomatisierung von Sinnsystemen betreibt, dann muss sie Beziehungen, Analogien, Korrespondenzen oder Zeichenrelationen bevorzugen, die in der Referenzwelt so nicht zu Grunde gelegt sind. Das Kunstwerk scheint konstitutiv eine Ebene des Analogischen zu besitzen.142 Nichts anderes sagt die poetische Funktion von Roman Jakobson aus: Jede Sequenz ist ein Simile, jedes Zeichen tritt tendenziell in materiale Korrespondenz zu anderen Zeichen. Dies ist vielleicht die grundlegendste Definition von Kunst. Vor dem Hintergrund von Foucaults geschichtsphilosophischer Reflexion kann man also formulieren, dass Kunst grundsätzlich an einem vormodernen Analogiezauber teilhat, sich eigentlich sogar strukturanalog aus diesem Analogiezauber herleitet. Dies meint nicht, dass Kunst eine Säkularisierung der Welten des Mythos und der Magie sei (eine These, die in der Geistesgeschichte oft auftaucht), sondern gedacht ist damit, dass die ästhetische Form der Verbindung der Elemente im Kunstwerk einer Ähnlichkeit des Sinnlichen folgt. Ohne eine Grundstruktur, die der ersten Epistemologie von Foucault entspricht, wird es kaum Kunst geben können. Als pures Herstellen von analogen Zeichenkonstellationen allein kann Kunst sich jedoch nicht realisieren. Deshalb muss die zweite Episteme, die der Repräsentation, hinzukommen. In der Sprache des vorliegenden Buches: Die poetische Grammatik, die ein Reich von Selbstbezüglichkeiten ist, muss sich zur Darstellung bringen, sich repräsentieren und folglich, in welcher schwierigen Konstellation auch immer, einen Bezug zur fremdreferentiellen Welt herstellen. Adorno hat diese Dialektik betont: Das Kunstwerk ist »eigenen We-
In diesem Sinne plädiert auch Aleida Assmann, wenn sie Foucaults Ähnlichkeitsparadigma »als tiefen menschlichen Wunsch« bezeichnet, der »nicht ein für alle Mal mit der Moderne begraben wurde, sondern eine kontinuierliche Energie des Denkens und Schaffens darstellt« (Assmann 2015, 16). Obwohl naturwissenschaftlich »ausgemustert«, habe, so Assmann, das Ähnlichkeitsparadigma in Kunst, Psychologie und Philosophie »noch einiges zu bieten« (ebd.).
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13 Textfiguren der poetischen Selbstreferenz
sens« und steht in der Opposition zur empirischen Welt (Adorno 1981, 10), aber indem es erscheint – also nicht in der Innerlichkeit des bloßen Gedankens verharren kann – muss es sich den Erscheinungsbedingungen der äußeren Welt teilweise annähern, als ob es selbst ein Seiendes unter Seiendem wäre. Es erlangt damit ein Moment der Affirmation, weil es, egal wie schwarz und negativistisch es in sich sein mag, doch in das Vorhandene treten wollen muss. Dieser immanente Wille des Kunstwerks, sich hinsichtlich seines Erscheinens der Ordnung des Seienden auch anzubequemen, verbindet es mit dem Aspekt der Repräsentation und der Darstellung. ›Nach außen Treten‹ meint einerseits Darstellung der poetischen Grammatik, aber eben auch das Erscheinen als Buch gewordener Text unter Marktbedingungen. Und diese Dimension (sie ist Teil der poetischen Phatik) bleibt in den Texten nicht unbedacht. Deshalb haben sie Teil an der Episteme der Repräsentation. Kunst braucht Schemata der Repräsentation, um quasi ein vermittelndes Transportmedium zu gewinnen, mit dem sie aus dem Spiegelkabinett ihres Sich-selbstähnlich-sein-Wollens heraustritt. Erzählungen, mythische Schemata, Traditionen und Konventionen thematischer Plotstrukturen, Genres und Gattungspläne lassen sich als solche Vehikel der Repräsentation verstehen. Im Falle stark selbstbezüglicher Dichtung sind es Textfiguren. Sofern Kunst nicht nur eine Praxis ist, sondern zugleich ein Wissen hinsichtlich ihrer Praxis beinhaltet, sofern also Literatur eine immanente Poetik mitführt, ist auch die dritte Epistemologie der Transzendentalität im Spiel. Der Rückgang auf die Bedingungen der Möglichkeit, die Dopplung des Menschen in empirisches Subjekt und generative Instanz, führt notwendigerweise zur Präsenz des poetologischen Diskurses in der Poesie, ähnlich der Präsenz des Malers in den Hoffräulein von Velázquez. In den fortgeschrittenen Prosatexten ist diese selbstreferentielle Dimension evident. Mit diesen Überlegungen dürfte nunmehr deutlich geworden sein, dass die drei Episteme von Foucault keinesfalls nur an ihren historischen Ort gebannt sind. Im Falle der Kunst sind sie vielmehr in einer geradezu trans- oder metahistorischen Art und Weise immer zugleich vorhanden, als in einer komplexen Interaktion befindlich. Die These, die nach dieser eher unkonventionellen Foucault-Lektüre geradezu unausweichlich wird, lautet, dass die Prosatexte diese paradoxe Situation einer Gleichzeitigkeit dreier sich ausschließender Epistemologien nicht nur besitzen, sondern sich vielmehr diese Situation als ihr eigentliches Diskursfeld bereiten. Weil die Prosatexte aufgrund ihres vorherrschenden Prinzips der Selbstbezüglichkeit ein Maximum an ästhetischem Wissen über sich selbst generieren und geradezu generieren müssen, ergreifen sie auch diese drei Episteme in der höchsten Weise der ihnen möglichen Bewusstheit. Selbstreferenz impliziert Wissen über sich. Folglich stellen sich die Prosatexte
13.4 Durcheinanderprosa: Historische Episteme gleichzeitig
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dasjenige, was sie strukturell wissen können, auch zur Verfügung, um damit ästhetisch zu arbeiten. Sie müssen dies geradezu tun, da sie infolge ihres vorherrschenden Hangs zur Selbstreferenz die thematischen Möglichkeiten der Fremdreferenz (Nachahmung) nicht haben. Es fällt in der Tat auf, dass die Texte, die in diesem Buch behandelt werden, ein Übermaß an poetologischer Bewusstheit über sich selbst besitzen. Die Episteme der Transzendentalität ergibt sich schon daraus, dass die emotive Funktion durch interne Selbstaufspaltung zum Figurenensemble der Texte avanciert (s. o.). Damit ist die generative Funktion des Sprechens zugleich mit dem im Text empirisch vorhandenen Personal vorhanden. Genau dies ist bei Foucault die Doppelung zwischen empirischem Dasein des Menschen und seiner eigenen generischen Funktion. Das vorherrschende Prinzip ästhetischer Selbstreferenz führt dazu, dass in Jean Pauls Texten Figuren auftauchen, die ›Jean Paul‹ heißen oder dass in Arno Schmidts Texten anagrammatische Permutationen von ›Arno Schmidt‹ handeln. Wird so der Text zum Selbstgespräch mit sich selbst, dann ist er umfassend im Sinne der dritten Epistemologie der Transzendentalität organisiert. Es fällt weiterhin auf, dass der thematische Negativismus der Texte geradezu ein Strukturmoment ist. Arno Schmidt, Jean Paul, James Joyce, Fischart, der späte Wilhelm Raabe: Bei allen diesen Autoren ist ein starker satirischer Impuls zu bemerken, der nicht selten auf den Hintergrundannahmen der Gnosis beruht. Die Satire basiert zeichentheoretisch auf einer zweistelligen Zeichenrelation, die zur Episteme der Repräsentation zu rechnen ist. Der Satiriker macht Aussagen über die Welt, indem er ihre Auswüchse geißelt und sich selbst in die Situation setzt, ein solches moralisches Urteil vornehmen zu können. Die Grundsituation der strafenden Satire besteht in der zweistelligen Zeichenrelation zwischen satirischem Subjekt und satirischem Objekt. Wenn der sowieso schon eher geringe Weltbezug der Prosa ein negativer ist, dann verwundert es nicht, dass die Satire den Texten innewohnt – und infolge dieser Grundsituation zugleich die Episteme der Repräsentation. Dass die Prosatexte vornehmlich selbstbezüglich prozedieren, folglich geradezu einen poetischen Analogiezauber vollziehen, ist in diesem Buch insgesamt durchargumentiert worden – folglich findet sich auch Foucaults erste Episteme in aestheticis. So lässt sich an dieser Stelle ein Fazit ziehen. Foucaults historisch gemeinte epistemische Dispositive mögen als Beschreibung historischer Konstellationen referentiell gebunden sein, aber für einen starken und ausformulierten Begriff von Kunst und Literatur ist offenkundig ihre transhistorische Gleichzeitigkeit zu denken. Diese Bestimmung führt zu einer interessanten, durchaus spekulativen Vermutung zum historischen Ort der Prosa. Wenn man die römische Satire,
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den spätmittelalterlichen Roman, gewisse Texte der Frühneuzeit, schließlich Autoren wie Jean Paul, Wilhelm Raabe, James Joyce etc. zum engeren Textkorpus der Prosa zählt, dann fällt auf, dass es für das, was hier Prosa genannt wird, keinen genuinen historischen Ort geben kann. Man kann den Abenteuerroman in der Spätantike verorten und ihn über den mittelalterlichen ÂventiureRoman bis in die Neuzeit weiterführen, entsprechende Gattungsgeschichten existieren in der Literaturwissenschaft. Für die Prosatexte aber gibt es keine Gattungsgeschichte, schon allein deshalb, weil Prosa eben nicht einer Form und ihrer spezifischen Fähigkeit zu Anschlusskoppelungen folgt. Offenkundig kann Prosa überall dort auftauchen, wo es eine ausformulierte und gepflegte kulturelle Semantik gibt, enzyklopädisch erfasstes Wissen und eine ausdifferenzierte Diskurskultur. Unter diesen Bedingungen ist Prosa eine Art von Exzess der wilden Semiose, aber weithin ohne sich aus einer Geschichtstradition herzuschreiben. Prosa ist das Anarchistischwerden kultureller Ordnungsschemata und deshalb nicht in einer Traditionsgeschichte domestizierbar. Zugleich sind die Prosatexte aber von einem historischen Frageregister her adressierbar. Jean Pauls Texte geben Antworten, wenn man sie auf ihre barocken Grundzüge oder, entgegensetzt, auf ihre Modernität hin befragt. Dieser transhistorische Charakter der Prosa wird damit zusammenhängen, dass die Texte in ihren epistemologischen Grundbestimmungen die Historie in sich aufgehoben haben und sie als Gleichzeitigkeit in sich enthalten. Prosa ist der literarische Ort, der nicht von der Geschichte bestimmt ist, sondern die Bestimmung des Geschichtlichen als solches reflektiert. Wenn man dieser These zustimmen würde, hätte man eine Begründung dafür, dass die Prosatexte keinen bestimmten historischen Ort haben, sich aber in concreto jeweils historisch spezifizieren können. Sie tragen die Matrix verschiedener historischer Episteme in sich. Sie sind historisch in einem metahistorischen Sinne. Die hier vorgeschlagene unkonventionelle Foucaultadaptation hat also vor allen Dingen das Ziel, den eigentümlich paradoxen Charakter der Prosatexte, der Historie eher im Zustand des sie Beobachtens zuzugehören, denkbar zu machen.143
In einem Aufsatz zur »Durcheinanderprosa« (Simon 2014) habe ich das Zugleich der drei Episteme als nicht geregelte Koexistenz einander sich ausschließender Ordnungen beschrieben. Die Grundüberlegungen sind hier in die Argumentation eingegangen, allerdings mit dem neuen Fokus auf die Frage nach der Historizität.
13.5 Selbstreferenzen und Analogien (Oswald Egger)
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13.5 Selbstreferenzen und Analogien (Oswald Egger) Pure Selbstreferenzen isolieren: sich selbst gegeneinander. Man stelle sich einen Text vor, in dem an einer Stelle inngehalten wird, um eine (semantische, phonetische, syntaktische, typographische etc.) Selbstreferenz zu formulieren. Die Ausführung dieser Selbstreferenz isoliert diese Stelle gegen das Kontinuum des textuellen Voranschreitens. Die Ausgangsstellen solcher Selbstreferenzen werden in ihrer Ausformulierung rekursiv in sich zurückgehen, als »sich-in-sich-entfachende[] Herde der Rede« (Egger 2001, 72). Nun stelle man sich vor, dass der Text vor allem aus solchen Stellen (vielen Selbstreferenzen) und ihren Ausformulierungen besteht. Liegt dann ein Text vor? Genau betrachtet müsste es sich um lauter textuelle Inseln handeln, deren jede ihre eigene Selbstbezüglichkeit bearbeitet. Die beste Präsentationsform eines solchen Textes, der sich aus monadischen Textinseln zusammensetzt, bestünde darin, aus einer puren äußerlichen Aufzählung zu bestehen oder aus einer alphabetischen, an das Lexikon erinnernden Liste, am besten bloß aus den Buchstaben des ABC. In dieser Form präsentiert sich Oswald Eggers Harlekinsmäntel & andere Bewandtnisse (2017). Eine andere Präsentationsform bedient sich regelmäßiger Textblöcke, bei den schriftbildlich an Strophen gemahnen, syntaktisch aber Prosa sind: so hinsichtlich der Vierzeiler144 in Die ganze Zeit (2010) und in nihilum album (2007) oder bei den an Stanzen erinnernden, jedoch neunzeilig geschriebenen Texteinheiten in Herde der Rede (1999) oder Poemandern Schlaf (1999). Harlekinsmäntel & andere Bewandtnisse ist aus einem Vortrag Eggers zur Philosophie von Leibniz erwachsen. Jeder Abschnitt, überschrieben gemäß dem Alphabet mit einem Buchstaben fortlaufend von A bis Z oder mit dem Wort ›Ligatur‹ (auch: ›Adligat‹), besteht aus einer intensiven selbstreferentiellen Konstellation. Der Zusammenhang des gesamten Textes ergibt sich aus der Vielheit der Theorieaspekte der Leibniz’schen Philosophie. Rein formal gesprochen, lässt sich diese Beschreibung auf Eggers Texte insgesamt anwenden. Ihre starke schriftbildliche Formierung isoliert die einzelne Seite bzw. die Doppelseite als in sich abgeschlossene Einheit gegen das Umblättern, während auf der jeweiligen Seite oft verschiedene Texteinheiten wiederum gegeneinander abgesetzt sind. Diese Textualität zerfällt in immer kleinere Einheiten: der Text in die Doppelseite, diese in die Einzelseiten und diese wiederum in Differenzen wie strophenähnliche Blöcke versus
Zu den Vierzeilern habe ich in einem Aufsatz mit einem Rewriting experimentiert: Eggers Vierzeiler lassen sich in die Langzeilen einiger seiner Gedichte (insbesondere: Hänggärten) umschreiben, während diese für sich genommenen Prosa-Langzeilen durch Zeilenbrüche in Vierzeiler permutierbar sind. So entsteht auf der Basis einer syntaktisch stabilen Form eine irritierende Oszillation von Poesie und Prosa (vgl. Simon 2021), die es erschwert, umstandslos vom »Lyriker Oswald Egger« (Kreienbrock 2020, 250) zu sprechen.
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13 Textfiguren der poetischen Selbstreferenz
Prosablöcke, wobei die strophenähnlichen Texteinheiten durchaus nicht als ein zusammenhängendes Gedicht aus mehreren Strophen lesbar sind. Der Textzusammenhang von Eggers Texten ergibt sich aus Themen: eine Landschaft (Val di Non, 2017), die Zeitphilosophie (Die ganze Zeit), mathematische Probleme (Diskrete Stetigkeit) oder Leibniz (Harlekinsmäntel). Aus dieser einfachen Beschreibung resultiert eine fundamentale Schlussfolgerung. Eine Selbstreferenz isoliert sich infolge ihrer eigenen Autopoiesis gegen eine jede andere Selbstreferenz, sodass eine Textualität, in welcher die Steuerung durch eine Form wegfällt und in der gleichzeitig eine starke Tendenz zu Selbstreferentialisierung wirksam ist, in eine Vielzahl von unverbundenen Textinseln zerfallen kann. Zerfall, Zerstückelung, Zersetzung, Zerreibung: Diese Begriffe sind im Verlauf des vorliegenden Buches immer wieder benutzt worden, als notwendiges Korrelat der Analysis für das Geschäft poetischer Selbstreferentialität. Einer genauen Lektüre von Eggers Harlekinsmänteln zeigt sich, dass es gleichwohl einen textuellen Zusammenhang gibt. Er besteht in Begriffen und Verfahren der Ähnlichkeit. Präzis gedacht ist jede Selbstreferentialität nur zu sich selbst strukturidentisch. In Begriffen der Analogie gedacht, kann eine Selbstreferenz jedoch Ähnlichkeiten mit anderen Selbstreferenzen aufweisen. Jakobsons »Jede Sequenz ist ein Simile« (Jakobson 1979, 110) gibt die Systemformel für die Unterscheidung von Selbstreferenz und Ähnlichkeit. Ähnlichkeit ist Teilidentität bei Teildifferenz, mitunter aber auch weitgehende Strukturhomologie, die durchaus ohne Teilidentität vorliegen kann. Selbstreferenz ist Rekursion der Materialbasis auf sich selbst. Trägt diese Unterscheidung? Die Differenz von poetischer Selbstreferenz und Analogie bzw. Ähnlichkeit ist innerhalb einer literaturwissenschaftlichen Theoriebildung keine triviale Angelegenheit. Man kann den Begriff der Selbstreferenz so stark formalisieren – etwa in der Mathematik –, dass der ganze Begriffsgebrauch in der vorliegenden literaturwissenschaftlichen Abhandlung dem Vorwurf der Vagheit ausgesetzt wäre. Wenn unter Selbstreferenz so unterschiedliche Phänomene wie der Rückstoß des Prädikats auf das Subjekt im Satz oder die Anagrammatisierung des poetischen Wortes oder die Zerteilung der Senderfunktion in mehrere Positionen der poetischen Emotivität versammelt werden, dann liegt eine sehr unterschiedliche Gemengelage vor. Es wäre erwägenswert gewesen, den Begriff der Selbstreferenz gar nicht zu benutzen und von vornherein von Analogie oder Ähnlichkeit zu sprechen. Oswald Eggers Harlekinsmäntel machen auf das Problem aufmerksam, dass Ähnlichkeiten strukturoffen sind, während Selbstreferenzen monadisch nach innen ziehen. Selbstreferenzen unterlaufen letztlich den Text in Bezug auf sein textuelles Kontinuum. Diesem Zug zur Negativität entgegenzuarbeiten, tritt die Analogie an. Oberflächig heißt dies zunächst: Während sich jeder Abschnitt in Eg-
13.5 Selbstreferenzen und Analogien (Oswald Egger)
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gers Harlekinsmäntel einem Problemkomplex widmet und ihn vertieft, besteht der Zusammenhang des ganzen Buches darin, dass es um Leibniz geht. Das Kernproblem der Philosophie von Leibniz ist aber, wie aus dem Grundgedanken der Monade – also der prinzipiellen Vereinzelung eines jeden Momentes in sich und gegen jeden anderen – der Begriff der Welt gedacht werden kann, also Kontinuität, Bestand und Zusammenhang. Leibniz selbst löst das Problem metaphysisch. Gott als Zentralmonade parallelisiert alle einzelnen Monaden und verschaltet sie harmonisch (prästabilierte Harmonie). Nun ist dieses metaphysische Theorem in einer kritischen Rekonstruktion kaum akzeptabel, weshalb das Problem besteht, dass das Moment der monadischen Selbstreferenz stärker wird und gegenüber der zurücktretenden Gegenbewegung des metaphysischen Zusammenhangs die Oberhand gewinnt. Folglich muss eine Rekonstruktion von Leibniz andere Anstrengungen nachmetaphysischer Art unternehmen. Oswald Egger tut dies doppelt, indem er einerseits Argumentationsbestände der mathematischen Topologie einführt, andererseits eine Poetik formuliert, die im Kern fortgeschrittene Theorie der Prosa ist. – Zu lesen sind die Harlekinsmäntel auch als Theorie der Prosa insofern, als sie das Verhältnis von monadischer Vereinzelung und kontinuierlichem Zusammenhang verhandeln,145 also das Grundproblem der Textualität avancierter Prosa. In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist das Werk von Oswald Egger singulär auch darin, dass das Problem avancierter Prosa vollständig erkannt und poetisch wie auch poetologisch formuliert ist. Im Klappentext zu Prosa, Proserpina, Prosa (2004) formuliert Egger konzis den spekulativen Begriff der Prosa, indem einmal nicht Agambens Boustrophedon (s. o.: Agamben 2003, 22) bemüht wird, sondern Proserpina, deren Name sich von lat. proserpere (hervorschlängeln, vorwärts kriechen) herleitet und eine schlangenförmige Bewegung ins Bild setzt, die gleichzeitig nach zwei Richtungen ausholt, um voranzukommen: Das Buch ist eins, wenn man es von vorne bis hinten und von hinten nach vorn gelesen hat: als Fügung auf der ganzen Linie, ohne Ende und Wendung (Wörtlichkeit von Prosa als direkte wie distrikte Rede), in monadischen Einzeilern, die sich »vorschlängeln« (Wörtlichkeit von Proserpina) und »erstrecken« im arealen Areal der Poesie der Prosa der Poesie usw. (Egger 2004, o.P. [Klappentext vorne])
Im Werk von Oswald Egger ist dieses Problem nicht neu, im Gegenteil. Der Titel seines Buches Diskrete Stetigkeit (Egger 2008) benennt das Grundproblem als zusammenzuführende Differenz von Einzelschritten (als jeweils sich vereinzelnd) und stetigem Zusammenhang. Eine der vielen Formulierungen dafür: »Im Idealen, das ist hier das Stetige – es sei das »Mögliche« – geht das Ganze vor den Teilen: im Realen – das ist die aus Monaden diskret aufgebaute Welt – sind die Teile vor dem Ganzen.« (Egger 2008, 140).
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13 Textfiguren der poetischen Selbstreferenz
Wer die Leserschaft seines Buches so anleitet, weiß um die vertrackte Paradoxie der Prosa, durch Selbstreferenz dichter als die formdefinierte Poesie sein zu können. Der Text macht es auch gleich vor: Im Wort Wendung ist das Wort Ende anagrammatisch enthalten; Fügung und Linie widersprechen einander, es sei denn, es handelt sich um avancierte Prosa; die im Wort ›und‹ angedeutete Gleichzeitigkeit beider Leserichtungen (vorne/hinten, hinten/vorne) verhindert einliniges Lesen; Rede in Distrikten, also in monadischen Ballungszentren, widerspricht der Direktheit; Schlängeln und Erstrecken geben gegenläufige Bewegungsrichtungen; schließlich invertiert die Genitivreihe »Poesie der Prosa der Poesie« aufschlussreich die Wortreihe des Buchtitels Prosa, Proserpina, Prosa. Diese Prosaeinleitung ist selbst avancierte Prosa, also Poesie im hier besprochenen Sinne, als Überbietung und zugleich Unterbietung des herkömmlichen Begriffs von Poesie. Eggers Prosa unterläuft zudem die Differenz von wissenschaftlicher und poetischer Prosa – wofür viele seiner Texte, u. a. die Harlekinsmäntel, ein schlagendes Beispiel geben. Wenn der Prosa schon im Kontext einer Kunst der Prosa die Freiheit der Gedankenbewegung zugesprochen wird und wenn avancierte Prosa etwa bei Arno Schmidt per se Meta-Literatur ist, dann ist das Schreiben von Oswald Egger exakt an diesem Ort zu platzieren: Egger schreibt engste Selbstreferenzen, die zugleich begrifflich wie poetisch, nämlich in Aufhebung dieser Differenz, gedacht sind. Indem er dies tut, löst er ein zentrales Problem der Theorie der Prosa. Das Problem lautet: Wie ist komplexe Textualität denkbar, wenn avancierte Prosa wesentlich selbstreferentiell prozediert, sich in sich verkapselnde Selbstreferenz aber das Kontinuitätsprinzip der Textualität zerstört? Eggers Texte erteilen die Antwort: Man kommt von einer Selbstreferenz zu einer anderen durch Ähnlichkeit, durch Analogie, durch Strukturhomologie, durch verschiedene Formen von Abbildung. (Es war also sinnvoll, in diesem Buch den Begriff der Selbstreferenz zu benutzen, um den Begriff der Analogie als problemlösenden anbieten zu können.) – In Herde der Rede findet sich die folgende neunversige Stanze oder das Prosagedicht (Egger 1999, 171): Gerade dort, wo über das Dort hinaus die Direktiven der Rede brüchig werden Wort-für-Wort und oblique Distrikte, rundheraus, Bezirke zeichnen, überzeichnete, zeigte sich-in-sich (Zirkel und Lineal) das Kreißen der Wort-Stillen Bezirke, Brekzien jetzt, das Zierrad freier Schriftstellen weiß~nicht freien Fußes, Schnittblumine nihilum album, die sich der Raum der Rede ~fachen, découpages (de dés), die ihre Dunkelziffer ungerade hinters Licht führten schon, und glühweis erloschen Glosen.
13.5 Selbstreferenzen und Analogien (Oswald Egger)
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Der Text spricht das Paradoxon monadischer Selbstbezüglichkeit aus. Die Gliederungen (Direktiven, Distrikte, Bezirke) der Rede werden brüchig genau dann, wenn die Worte nicht über sich selbst hinaus in die Narration drängen, sondern indirekt oder schief (oblique) in sich selbst zurückgehen, Wort für Wort. Auch das Telos der lyrischen Rede wird auf diese Weise in sich zurückgestaut, der metrische Fuß ist weder definiert noch ganz frei. Der Raum der Rede vervielfacht sich (»~fachen«) durch interne Pluralisierung wie in einem Würfelschnitt, sodass hinterm Licht des Textverlaufs eine Dunkelziffer von Selbstreferenzen entsteht. Folgt man dieser Paraphrase, dann spricht der Text das Problem aus, wie Kontinuität angesichts wortorientierter Selbstreferenz denkbar ist. Zunächst einmal verharrt der Text in seinem Hier, statt zu einem »Dort« voranzuschreiten. Er bewirtschaftet seinen Ort, der aber wiederum nicht den Status einer positiven Substanz besitzt. Denn die Schriftstelle ist frei. Gut strukturalistisch argumentiert, würde ein semantischer Ort seine Bedeutung aus der Differenz zu den Nachbarorten gewinnen. Verharrt aber die Textbewegung auf der Stelle, um »sich-in-sich« zu zeigen, dann fehlt selbst die bedeutungsgenerierende Relationalität eines semantischen Netzes. Reine Rückwendung auf sich selbst trifft auf eine Schrift-Stelle, die noch gar nicht definiert ist. Folglich besteht dieser Text darin, die Würfelschnitte seiner selbst zu artikulieren, ohne dass diese selbst eine positive Größe wären. In Harlekinsmäntel & andere Bewandtnisse wird die Monade wie folgt definiert: ›Monade‹ ist ein Loch durch Nichts, das, ist, und die Gegenwart des Jetzt istert wie ein Loch durch ein Loch in einem Loch, dass selbstverspiegelt ausgefüllt – fehlt, d.i. unentwegt auseinanderfalzend wiederentsteht. (Egger 2017, 15)
Es handelt sich um denselben Gedanken, der aus Herde der Rede zitiert wurde: poetologisch ein Nullpunktszenario. Wie kommt man zum Text, beziehungsweise: Wie kommt Leibniz von der Monade zur Welt? Die Antwort findet sich in den Harlekinsmänteln ab Seite 16 auf jeder folgenden Seite (das Problem, die Monade, wurde auf Seite 15 definiert). »Wie ein Loch durch ein Loch sich ausbreiten wird« (Egger 2017, 16): Dieses Kunststück steht nun zur Debatte. Die Antwort ist so einfach wie frappierend: Das Loch oder die weiße Schrift-Stelle ummantelt sich mit sich selbst durch ein sich verdichtendes Gespinst von Selbstbezügen. Die Würfelschnitte werden zur Narrenkappe, ein Begriff, der in der mathematischen Topologie existiert und der sein anschauliches Korrelat in einem Prozess findet, in dem ein Dreieck zu einer Kegeltüte aufgefaltet wird,
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13 Textfiguren der poetischen Selbstreferenz
deren oberer Gipfel nach unten auf die Basis des Dreiecks gezogen wird, sodass zuerst das Bild einer Narrenkappe entsteht, sodann aber ein in sich selbst zurückkehrender Raum (besser: Die Spitze des Dreiecks kehrt in das durch die Kegeltüte entstandene Loch zurück, die Figur kehrt also in sich selbst ein) (Egger 2017, 17 f.). Dieser Grundprozess kann durch weitere Selbstdurchdringungen komplexer werden, sodass ganze Gespinste von Figuren entstehen, deren erstaunliche Dichte schon durchaus nach etwas aussieht. Dieses ›durchaus nach etwas Aussehen‹ nennt Egger fast in allen seinen Schriften areale Areale, also Bezirke (Areale), die nicht real (a-real) sind oder ein jeweiliges ›Nichts, das ist‹, um den Buchtitel zu zitieren (Egger 2001, darin 26–51: »areale Areale«). Es geht also um Fiktionalität (die Produktion von Referenz unter den Bedingungen der poetischen Funktion, also der Selbstreferenz, s. o.). Die Ummantelung von nichts Vorhandenem (Loch) erzeugt Verbindungszüge; so übersetzt Egger das Leibniz’sche vinculum substantiale (Egger 2017, 29). Dieses Band verbindet lauter solche Löcher, die sich ummantelt haben und sich, sie mögen in ihrer Ummantelung voneinander so verschieden sein wie sie mögen, darin gleichähnlich sind (Egger 2017, 39). Was die Monaden aus sich selbst erzeugen, ist sich folglich immer ähnlich, schon deshalb, weil es sich immer nur um Spiegelungen handelt: Wenn alles aus Monaden, also aus Spiegeln, besteht, dann spiegelt jeder Spiegel nichts anderes als Spiegel, die ihrerseits wieder weitere Spiegel spiegeln. Mithin rücken nichts als Spiegel zwischen Spiegel, und alle Spiegel müssten punktum leer sein, da nichts als nicht, was man sehen wird, als gespiegelte Spiegel in, mit und hinter ihnen durch sie durch gespiegelt invertiert sein kann sein, aber nicht erscheinen? (Egger 2017, 38)
Es sind also Ähnlichkeiten oder Verwandtschaftsbeziehungen (Egger 2017, 50), die zwischen den Monaden Verbindungen herstellen. Ähnlichkeitsbeziehungen, Homologien und Analogien (Egger 2017, 53 f.) erzeugen Kontinuitäten zwischen den intensiven Individuierungen der Monade: »Das Monadenaggregat istert das nirgendsdichtereres Kontinuum maßloser, quasigranularer Strukturunzusammenhänge von der Erhaltung (der Ebenbildlichkeit) der Welt durch ihre kontinuierliche Neuschöpfung« (Egger 2017, 63). Das Referat der Harlekinsmäntel sei an dieser Stelle abgebrochen, um, mit Egger zu sprechen, der exegetischen Rede denjenigen Dreh zu geben, der zu einer prosatheoretischen Lektüre dieser Leibnizinterpretation führt. Denn die Differenz zwischen Selbstreferenz und Analogie lässt sich nun sehr viel deutlicher formulieren. Wenn zum Grundgeschehen der Selbstreferenz eine Verkapselung in sich gehört, dann vertieft Selbstreferenz den Zerfall oder das Zerreiben des textuellen Kontinuums umso mehr, je weniger Prosatexte der Synthesiskraft einer Form folgen. Selbstreferenz rein für sich, also in radikaler Weise genommen, führt zu
13.5 Selbstreferenzen und Analogien (Oswald Egger)
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einer Zersplitterung (Jakobson: a split reference, s. o.), zu purer Negativität. In diesem Sinne wäre zu erwägen, ob die ultima ratio avancierter Prosa in den großen Aphorismussammlungen eines Lichtenberg, Canetti oder Jean Paul zu finden wäre. Aber dieser Zug der Selbstreferenz in ihre eigene Formation hinein impliziert eine prinzipielle Ähnlichkeit zu allen anderen Arten der Selbstreferenz, die, egal wie sie materialiter beschaffen sind, eben diesen Zug in ihre eigene Formation hinein gleichermaßen besitzen. Damit entsteht ein Reich der Ähnlichkeiten, Homologien, Parallelen. Die stark in sich verschränkten Nester selbstreferentieller Textgeflechte sind also untereinander durch eine ihnen gemeinsame signatura rerum verbunden. Man kann, gestützt durch starke Gründe, vermuten: Avancierte Prosa verbindet die Witze ihrer intensiven Selbstbezüglichkeiten durch ein Gewahrwerden ihrer strukturellen Ähnlichkeit, welche nicht selten sprachmagisch unterfüttert wird. Ähnlichkeit oder Analogie ist der Zauberstab, der bei Wegfall der Form die Register der poetischen Selbstreferenzen zu verbinden versteht. Blickt man von hier auf andere Prosatexte, so kann einem der Prolog von Arno Schmidts Aus dem Leben eines Fauns einfallen. Der schon in Kap. 8.4 herangezogene Text beginnt mit einer Tirade gegen das Kontinuum, und die Schreibweise in gegeneinander isolierte snapshots unterstreicht den gegen den textuellen Zusammenhang sich richtenden Willen zur Selbstreferenz: Auf die Sterne soll man nicht mit Fingern zeigen; in den Schnee nicht schreiben; beim Donner die Erde berühren: also spitzte ich eine Hand nach oben, splitterte mit umsponnenem Finger das ‹K› in den Silberschorf neben mir, (Gewitter fand grade keins statt, sonst hätt ich schon was gefunden!) (In der Aktentasche knistert das Butterbrotpapier). Der kahle Mongolenschädel des Mondes schob sich mir näher. (Diskussionen haben lediglich diesen Wert: daß einem gute Gedanken hinterher einfallen). Die Chaussee (zum Bahnhof) mit Silberstreifen belegt; am Rande mit Rauhschnee hochzementiert, diamonddiamond (macadamisiert; – warn Schwager Coopers nebenbei). Die Bäume standen riesenstramm und mein Schritt rührte sich dienstfertig unter mir. (Gleich wird der Wald links zurückweichen und Felder ankommen). Auch der Mond mußte mir noch im Rücken hantieren, denn manchmal zwitschten merkwürdig scharfe Strahlen durchs Nadelschwarz. Weit vorn stach ein kleines Auto die aufgeschwollenen Augen in die Morgennacht, sah sich langsam zitternd um, und wandte mir dann schwerfällig den rotglühenden Affensteiß her: gut, daß es wegfährt! Mein Leben?!: ist kein Kontinuum! (nicht bloß durch Tag und Nacht in weiß und schwarze Stücke zerbrochen! Denn auch am Tage ist bei mir der ein Anderer, der zur Bahn geht; im Amt sitzt; büchert; durch Haine stelzt; begattet; schwatzt; schreibt; Tausendsdenker; auseinanderfallender Fächer; der rennt; raucht; kotet; radiohört; »Herr Landrat« sagt: that’s me!): ein Tablett voll glitzernder snapshots. Kein Kontinuum, kein Kontinuum!: so rennt mein Leben, so die Erinnerungen (wie ein Zuckender ein Nachtgewitter sieht): Flamme: da fletscht ein nacktes Siedlungshaus in giftgrünem Gesträuch: Nacht. Flamme: gaffen weiße Sichter, Zungen klöppeln, Finger zahnen: Nacht.
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Flamme: stehen Baumglieder; treiben Knabenreifen; Frauen kocken; Mädchen schelmen blusenauf: Nacht! Flamme: Ich: weh: Nacht!! Aber als majestätisch fließendes Band kann ich mein Leben nicht fühlen; nicht ich! (Begründung). (Schmidt BA I/1, 301 f.)
Interessanterweise tauchen Grundkonzepte der Egger’schen Leibnizexegese wieder auf: isolierte Wahrnehmungsmonaden, das fehlende Band (vinculum substantiale), in der anfänglichen Sprachmagie des ersten snapshots eine aus nichts erfolgende Instantiierung, im dritten snapshot ein Spiegelverhältnis zwischen den Scheinwerfern des Autos und dem Blick des Subjekts. So unterschiedlich die Stilgeste auch ist und so zutiefst realistisch die Wahrnehmungsnotate bei Arno Schmidt daherkommen, so deutlich ist doch auch, dass sich dieser Text in ähnlich radikaler Weise der Frage konfrontiert, wie aus einem mosaikartigen Dasein – Schmidt: musivisches Dasein; Egger: Moiré – das Kontinuitätsprinzip der Welt entspringen kann. Die Behauptung lautet, dass avancierte Prosa infolge ihrer forcierten Selbstreferenz das Synthesisproblem des Weltbezugs aus Analogiebeziehungen gewinnt: Jede Sequenz ist ein Simile.
13.6 Mimesis und Figura: Vertikal stehende Zeit Erich Auerbach hat in seinem berühmten Buch Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946) auf der Basis des programmatischen Aufsatzes Mimesis und Figura (1938) das Programm einer alternativen Geschichte der Mimesis entworfen. Im Nachwort zu Mimesis spricht er von dem wesentlichen Einbruch in die klassische Mimesistheorie mit ihrer Lehre von der Ständeklausel und den stiltheoretischen Höhenlagen: »Es war die Geschichte Christi, mit ihrer rücksichtslosen Mischung von alltäglich Wirklichem und höchster, erhabenster Tragik, die die antike Stilregel überwältigte« (Auerbach 1959, 516). Dass Auerbach sein Buch als Abfolge von Lektüren organisiert, ist kein Zufall. Eine kohärente poetologische Theorie christlicher Poetik, die als Gegenstück zu Aristoteles und seiner Rezeption gelten könnte, hat sich nie herausgebildet.146 Auerbach
Im dritten Band der Arbeitsgruppe »Poetik und Hermeneutik« hat Hans Robert Jauss unter dem Titel Die nicht mehr schönen Künste eine Debatte dokumentiert, die u. a. der Frage nachging, ob es eine christliche Ästhetik gibt (Jauss 1968, 583–609). Mit Bezug auf Auerbach wurde die Frage negativ beschieden (s. bes. Jauss 1968, 605 f.), vor allem aus dem von Blumenberg vorgebrachten Gedanken heraus, dass die christliche »Abwehr affirmativer Verhaltensweisen zur Welt« (ebd. 607) eine Ästhetik des diesseits gültigen Ins-Werk-Setzens ausschließe. Die problematische Darstellbarkeit der Passion mit ihrer Schmerzerfahrung und damit verbun-
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entwickelt ein recht komplexes Argument, das sich keinesfalls mit der altbekannten Bemerkung begnügt, dass der Bibeltext, gemessen an der rhetorischen Dreistillehre, nur die untere oder mittlere Stilebene erreiche. Er bezieht vielmehr die Frage der Mimesis auf die christliche Figuraldeutung, nach der Personen und Vorkommnisse des Alten Testaments als typologische Verheißung (Typos) auf ihre Erfüllung im Neuen Testament (Antitypos) verstanden werden. So ist zum Beispiel Moses der Typos für den Antitypos Christus. Diese Figuraldeutung kennt zwar einerseits die Tendenz zu einer allegorischen Spiritualisierung, wichtiger ist Auerbach aber, dass das typologische Denkschema einen sehr konkreten Realismus begründet. Es geht dabei nicht darum, Moses zu einer bloßen Vorform von Christus zu depotenzieren, vielmehr besteht die Kraft der Erfüllung gerade darin, das Eigenrecht der Verheißung (Typos) in seiner vollständigen Konkretheit zu betonen. Inkarnationstheoretisch impliziert die Figuraldeutung die realistische Notwendigkeit, die tatsächliche Fleischhaftigkeit eines Vorkommnisses historisch möglichst konkret darzustellen, um gerade daran die erfüllende Steigerung des Antitypos evident werden zu lassen. In seiner Dantedeutung stellt Auerbach entsprechend die Überlegung an, dass der prägnante Überrealismus der Figuren daraus resultiert, dass sie alle schon vom Standpunkt der Erfüllung aus gesehen sind, also den Antitypos ihrer gewesenen irdischen Existenz darstellen: »Die Komödie ist eine Vision, die die figurale Wahrheit als schon erfüllt sieht und verkündet, und eben dies ist das Eigentümliche an ihr, dass sie die in der Vision geschaute Wahrheit ganz im Sinne der Figuraldeutung auf eine genaue und konkrete Weise mit den irdisch-geschichtlichen Vorgängen verbindet.« (Auerbach 2016, 179) Figura wird also auf die Figuraldeutung bezogen, während sich im Kontext christlich imprägnierter Mimesis ein Denkschema etabliert, nach dem die Nachahmung des Wirklichen grundsätzlich durch Ähnlichkeitsrelationen geprägt ist. Ein Christ wird jedes Vorkommnis immer auch hinsichtlich der Frage betrachten, wie es am Ende aller Tage bewertet sein wird. Somit gewinnt gerade die konkreteste Inkarnation einen intelligiblen Zug, der paradoxerweise den Realismus verstärkt und herausarbeitet. Der christliche Blick ist auf der Suche nach Ähnlichkeitsrelation zwischen der Fleischlichkeit des Typos und der sub specie aeternitatis wertenden und beurteilenden Intelligibilität des Antitypos.
den die christliche Bezugnahme auf einen Erlösungsbegriff, dem eine diesseitige Bildpolitik versagt bleibt, kommen hinzu. Gegenüber der Traditionslinie antiker Poetik, die durch den mittelalterlichen Kanon bis in die Neuzeit transportiert wurde, kann man von einer christlichen Ästhetik in vergleichbarem Ausmaße kaum reden.
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Friedrich Balke arbeitet in seinem Kommentar zu Auerbachs Figura-Aufsatz heraus, dass besagte Ähnlichkeiten tendenziell formzerstörend sind und eine Ebene der puren Stofflichkeit adressieren (Balke 2016, 43 f.). Dies gilt in der Tat doppelt: Schon die Konkretheit der Inkarnation verleiht dem Typos eine stoffliche Individualität, die keiner aristotelischen Entelechie mehr folgt. Hinzu kommt, dass die Ähnlichkeiten zwischen Typos und Antitypos ihrerseits keine Form konstituieren, sondern vielmehr eine Art von realistischer Überprägnanz, wie erneut an Dante deutlich zu sehen ist: »Ganz anders als bei den modernen Dichtern ist bei Dante die Gestalt umso wirklicher, je vollständiger sie gedeutet, je genauer sie in den ewigen Heilsplan eingeordnet ist.« (Auerbach 1959, 183) Mimesis folgt in diesem Konzept einer sozusagen vertikalen Bewegung, die im gleichen Maße, in dem sie aufwärtsgeht, den Realismus in der Gegenrichtung verstärkt. Damit ist auch zeittheoretisch eine neue Figur gegeben (s. o.). Während die Mimesis des Aristoteles in der Horizontale der Weltzeit verbleibt und die entelechische Eigenzeit mit der chronometrischen Verlaufszeit prinzipiell synchronisieren kann, reißt das Mimesiskonzept der Figuraldeutung die weltlich gebundene Zeit auf und stellt sie quer zur Zeitlinie. Wenn die realistische Versenkung ins Konkrete so intensiv ist, dass sie im Kontakt mit dem rein Stofflichen die Form sprengt, dann orientiert sich das Zeitmoment nicht an der Verfallsgeschichte der irdischen Dinge, sondern an der Idee ihrer Erlösung. Auerbachs Mimesiskonzept kennt offenkundige und erstaunliche Parallelen zu Walter Benjamins Messianismus mit seinem Motiv des Erwachens aus der Jetztzeit in eine andere Zeit. Ihrer beider Bekanntschaft (Eiland und Jennings 2020, 264) wird zu dieser Konzeptparallele beigetragen haben. Benjamins vor allem im Passagenwerk benutzter Begriffszusammenhang von profaner Erlösung, Jetzt der Erkennbarkeit, dialektischem Bild und Traum/Erwachen arbeitet ebenfalls mit einem Zeitkonzept, das die Verlaufszeit sprengt (s. Benjamins Kritik des Historismus) und vertikale Achsen etabliert. Form ist in Auerbachs Konzept einer christlichen, der Figuraldeutung sich einschreibenden Mimesis nicht mehr als sich selbst in der Zeit vollendende Werdegesetzlichkeit zu denken. An ihre Stelle rückt ein Denken in heilsgeschichtlich ausgerichteten Ähnlichkeiten. Ästhetische Zeit ragt jäh in die Vertikale, so wie bei Jean Paul die hohen Menschen dem irdischen Diesseits entkommen wollen und dabei die Welt auf die Zeichen eines möglichen Aufstiegs hin zu entziffern versuchen. Diese Ähnlichkeiten, die zwar Kontakte zur Signaturenlehre unterhalten, aber eigentlich die unmögliche Ähnlichkeit zwischen den Dingen einerseits, gelesen als Zeichen, und andererseits ihrer unsinnlichen Bedeutung, verstanden als heilstheologische Erfüllung, meinen, etablieren zunehmend eine dichter wer-
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dende Vergleichungstätigkeit jenseits des Formparadigmas.147 Gerade an Jean Paul kann man sehen, wie eine nicht der Form kompatible Semiotik der Vergleichung zu einer Textkomplexität führt, die mit den herkömmlichen Mitteln einer an Aristoteles orientierten Poetik nicht mehr beschreibbar ist. Interessanterweise wird eine Figuraldeutung zunehmend ebenso formdestruktiv (Balke 2016, 40–44) wie zeitsprengend, je mehr sie sich vom theologischen Kanon der beiden Testamente entfernt, ohne dabei das Basisschema aufzugeben. Wenn ästhetische Zeit als jeweiliges Jetzt der Erkennbarkeit (Benjamin) aus lauter punktuell zündenden Korrespondenzen besteht, dann ist offenkundig ein Zeitmodell rekurrent, welches sich stärker mit dem Paradigma der Poetizität als mit dem der alten Mimesis verträgt. Literaturgeschichtlich ist die christliche Imprägnierung des antiken Mimesisparadigmas insofern ein komplexer Prozess, als die Ähnlichkeiten im Widerspruch zur Form stehen. Diesseits vollendete Form wäre antichristlich, vertikal aufstrebende Zeit in der Korrespondenz zwischen entziffertem Ereignis und verheißender Bedeutung ist hingegen antiaristotelisch. Dennoch verschränken sich diese beiden Prinzipien in der Dichtungsgeschichte des Abendlandes auf vielfältigste Weise. Dass die Suche nach Ähnlichkeiten ein dichtes Gefüge etabliert, dessen Einlösung oder Erfüllung nicht im zeitlich extendierten Diesseits liegen kann, versieht dieses Feld des Formlosen mit dem Index einer Transzendierungsbewegung. Dies ist mit den Rekurrenzfiguren der Poetizität zusammenzubringen. Und hier liegt der Grund für die auffällige Affinität avancierter Prosatexte zu theologischen Gedankenfiguren. Jean Paul fundiert seine Ästhetik in einer ›seinsgeschichtlichen‹ Wende, die er auf das Christentum zurückführt: Ursprung und Charakter der ganzen neueren Poesie läßt sich so leicht aus dem Christentume ableiten, daß man die romantische ebensogut die christliche nennen könnte. Das Christentum vertilgte, wie ein Jüngster Tag, die ganze Sinnenwelt mit allen ihren Reizen, drückte sie zu einem Grabeshügel, zu einer Himmels-Staffel zusammen und setzte eine neue Geister-Welt an die Stelle. Die Dämonologie wurde die eigentliche Mythologie der Körperwelt, und Teufel als Verführer zogen in Menschen und Götterstatuen; alle ErdenGegenwart war zu Himmels-Zukunft verflüchtigt. Was blieb nun dem poetischen Geiste nach diesem Einsturze der äußern Welt noch übrig? – Die, worin sie einstürzte, die innere. Der Geist stieg in sich und seine Nacht und sah Geister. Da aber die Endlichkeit nur an
In der Vorschule der Ästhetik schreibt Jean Paul im § 27 (JP I/5, 107): »Wie wird nun das Unendliche gerade auf einen sinnlichen Gegenstand angewandt, wenn er selber, wie ich bewiesen, kleiner ist als die Flügel der Sinne und der Phantasie? Den ungeheuren Sprung vom Sinnlichen als Zeichen ins Unsinnliche als Bezeichnetes – welchen die Pathognomik und Physiognomik jede Minute tun muß – vermittelt nur die Natur, aber keine Zwischen-Idee; zwischen dem mimischen Ausdruck des Hasses z. B. und zwischen diesem selber, ja zwischen Wort und Idee gibt es keine Gleichung.«
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Körpern haftet und da in Geistern alles unendlich ist oder ungeendigt: so blühte in der Poesie das Reich des Unendlichen über der Brandstätte der Endlichkeit auf. (JP I/5, 93)
Die poetische Charakteristik, die aus einer solchen ›christlichen Poesie‹ hervorgeht, besteht in dem unmöglichen Vergleich von innerer und äußerer Welt, von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Geist und Körper, von Himmel und Hölle. Aus dieser Matrix lässt sich keine Form im aristotelischen Sinne herleiten, sondern nur eine Zeichendeutung, die ihr Vorbild in der Typologese namhaft machen kann. Jean Pauls Texte bestehen aus lauter Jetztmomenten der Erkennbarkeit, aus Entzifferungsakten des Inkompatiblen, insofern aus Figuren, die sich der Narration nicht fügen, weil sie sich gegen das Kontinuum, in die aufschießende Vertikale des Vergleichs stellen. Die daraus entstehende Welt der Dämonen lässt sich in Michael Lentz’ Schattenfroh nachlesen, dessen Textrepertoire Höllenphantasien mit Behördenstrukturen und Kriegsszenen überblendet, also ebenfalls Vertikalen zwischen den Paradigmaschichten ausformuliert. Überhaupt scheint der fortgeschrittenen Prosa diese Grundfigur der vertikal stehenden Zeit nahe zu liegen. Die immanente Theologie in Wollschlägers Herzgewächsen, der vielfache Schriftsinn bei Joyce, die Gnosisfundierung bei Schmidt: Allen diesen Texten ist trotz ihrer antichristlichen Grundhaltung eine letztlich christliche Textfigur eigen. Sie wird jedoch zu profanen Zwecken – Benjamins profane Erleuchtung – benutzt, wenn ihre Korrespondenzen zu unheiligen Witzen geraten.
13.7 Expandierende Innenräume Die Arche Noah spielt in den Raumvorstellungen des christlichen Abendlandes eine prominente Rolle, vor allem durch ihre paradoxale Grundanlage. Trotz ihrer beeindruckenden Größe ist jedem Leser des Bibeltextes klar, dass sie ihren Inhalt, von jeder Tierart ein Paar bergen zu sollen, nicht hätte fassen können.148 Indem sie die ihr zugedachte Rolle dennoch erfüllte, etabliert sie das Phantasma eines Innenraumes, der größer ist, als seine Außenabmessungen es zulassen. Auch Augustins memoria-Raum im X. Buch der Confessiones hat an dieser Raumparadoxie teil, indem ein Raum konstruiert wird, dessen Inhalt eine unendliche Extension hat, sodass sich sprengmetaphorisch die angenommene Raumklammer auflöst. In Mark Z. Danielewskis House of Leaves (2000)
Nach den Angaben von Genesis 6,14 lässt sich das Raumvolumen berechnen. Es sind etwa 56.250 Kubikmeter (150 x 25 x 15 m), bei drei Ebenen. – 3.11.2021: https://www.bibelwis senschaft.de/stichwort/13745/.
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wird die Paradoxie eines sich gegen die Außenabmessungen eines Hauses unendlich vergrößernden Innenraums zum Konstruktionsprinzip des Textes. Borges Kalkül in der Bibliothek von Babel, nach der man sich ein Buch vorstellen solle, dessen jede Seite in der Dickedimension so durchtrennt wird, dass sich daraus zwei Seiten und durch weitere Durchtrennungen aus den zwei Seiten vier, sodann acht etc. Seiten ergeben (2n), spielt mit der Vorstellung von unendlich vielen Seiten innerhalb der endlichen Extension von zwei normal dimensionierten Buchdeckeln. Alle diese Vorstellungen arbeiten mit Selbstbezüglichkeiten. Wenn die Welt des Lebendigen (alle Sorten von Tieren und Pflanzen) innerhalb eines Kastens noch einmal vorkommen soll, wenn die memoriale Repräsentation der außen liegenden Unendlichkeit innerhalb eines Gebäudes stattfinden kann oder wenn in der Endlichkeit eines Buches unendlich viele Seiten, mithin alles kombinatorisch Schreibbare vorhanden ist, dann haben diese Vorstellungsbilder die Struktur eines re-entry von äußerer Unbegrenztheit in begrenzte Innenräume, welche für diese Operation eigentlich zu klein sind. Dass Selbstreferenz durch ihre inverse oder rekursive Form eine interne Komplexität entwickelt, ist in den vorliegenden Ausführungen in vielfachen Varianten besprochen worden. Schon der äußere Umstand, dass viele der Texte der avancierten Prosa sehr umfangreich sind, spricht für die textexpansive Dynamik von poetischer Selbstreferenz, während poetische Form um ihrer gestaltwahrenden Charakteristik willen offenbar zur kleineren oder nur mittleren Größe findet. Selbstreferenz spaltet – so wurde ausgeführt – und führt das Aufgespaltene zur Neukombination, sie macht also aus etwas Vorliegendem mehr und Umfangreicheres. Dass ihr das Phantasma eines sich gegen seine Außenbedingungen vergrößernden Innenraums naheliegt, verwundert nicht. Danielewskis House of Leaves mag für die größendynamische Disproportionalität des Innenraums gegenüber der Außenabmessung der paradigmatische Text sein. Nur auf der Oberfläche handelt es sich um einen plotorientierten Roman, der Züge einer Horrorgeschichte trägt. Im Mittelpunkt steht eine kleine Familie, die in ein ländliches Haus einzieht und sich gegen dessen Aktivität zur Wehr zu setzen hat. Das Haus etabliert Räume und Gänge, in denen Familienmitglieder verloren gehen und nur unter größter Gefahr gerettet werden können, an anderer Stelle gibt es auch eine gefährliche Komprimierung des Raumes oder Szenarien des Zusammenbrechens von Wand, Decke und Fußboden. Dieser innere Kern, der sich in den Begriffen eines erzählerischen Sujetereignisses rekapitulieren lässt, wird von einem mehrfach gestaffelten metafiktionalen Rahmenbau umgeben, dessen jeweilige Erzähler durch verschiedene Schrifttypen markiert sind. Aber eine Inhaltszusammenfassung würde nur die Spur zum Roman und zur Narration legen, und
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eine solche wäre durchaus unangemessen. Viel eher wird dem Text eine Aufzählung seiner Register oder seiner Paradigmasysteme gerecht. Paradigma I: Auf jeder der Ebenen gibt es einen traumatischen Unfall, zweimal mit dem Auto (Danielewski 2009, 49, 143), einmal infolge der Verletzungen durch die Aktivität des Hauses (Danielewski 2009, 622). Durch sie nimmt die Hauptfigur Züge eines kriegsversehrten Vietnamveterans an, der nach dem heroischen Kampf lädiert, aber erhobenen Hauptes zurückkehrt: die amerikanische Homebase-Story. – Paradigma II: Das Haus ist das Produkt psychischer Agonien (Danielewski 2009, 28). Es bildet jeweils den Zustand seiner Bewohner ab, die Mutationen sind Reflexe auf die psychische Situation der das Haus betretenden Personen (Danielewski 2009, 211). Es stellt physisch die Psyche dar (Danielewski 2009, 403). – Paradigma III: Die Kernhandlung ist eine Liebesgeschichte, da im Zentrum das Ehepaar Will und Karen Navidson steht, deren Ehe von nicht ausgesprochenen Konflikten gekennzeichnet ist. Die Aktivitäten des Hauses figurieren diese Konflikte und lösen sie schlussendlich. So erkennt Karen, dass der Schlüssel zu ihrem Elend in dem noch unerkundeten Riss zwischen ihr und ihrem Mann liegt (Danielewski 2009, 369). – Paradigma IV: Es handelt sich um einen Traumtext (»Das ist so tief, Mann, das ist beinah wie im Traum ist das.« Danielewski 2009, 112). In Freuds Traumdeutung sind es sehr oft die in die Tiefe abfallenden Gebäudefluchten, die den Rahmen für das Traumgeschehen bilden. Als Traumtext käme den Anamorphosen des Hauses die Dimension zu, ungelöste kulturelle Konflikte auszutragen (Krieg, Dokumentation des Grauens, die Katastrophengeschichte der Kleinfamilie, metaphysisch die Frage nach sinnhaften Basisstrukturen etc.). In diesen Zusammenhang gehört die im Text verstreute Rede über das Labyrinth (zentral: Danielewski 2009, 145–152). – Paradigma V: Die fluide Struktur des Hauses repräsentiert den zentralen Medienumbruch um die Jahrtausendwende. Es geht um eine Darstellung des amorphen Wesens eines zunehmend digitalen Universums (Danielewski 2009, 189). – Paradigma VI: Der Text ist eine Satire auf den akademischen Wissenschaftsbetrieb, insbesondere auf die beiden Galionsfiguren der Dekonstruktion, Derrida und de Man. In einer Sequenz wird der Navidson-Report, der die Geschehnisse dokumentiert hat, berühmten Wissenschaftlern vorgelegt, deren Reaktion in der Wiederholung ihrer sie berühmt machenden Phrasen besteht. Diese gewiss nicht vollständige Aufzählung findet ihr textuelles Korrelat in einer schriftikonisch äußerst forcierten Darstellungsweise. Mehrspaltendruck, Worte von links nach rechts geschrieben, Schriftkästchen um 90 Grad nach links oder rechts gekippt oder auf dem Kopf stehend, fast leere Seiten, Seiten mit Figurengedichten, verschiedene Schrifttypen, längere durchgestrichene Passagen, verschiedene Schriftgrößen, eingeschwärzt und weiß gelassene Felder, expandierende Fußnoten mit nochmals eigenen erklärenden Fußnoten,
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Abbildungen, mehrfach übereinandergeschriebene Textblöcke, Musiknoten, gepunktete Areale (Blindenschrift), lange XXXX-Sequenzen, Einsatz von blauer Farbe und schräg gesetzte Textblöcke, die nur durch Drehen des Buches lesbar werden: Diese textuellen Darbietungsweisen betreiben eine Anamorphisierung der Schrift, sodass die Aktivität des Hauses in dieser ständig sich wandelnden typographischen Gestalt wiederkehrt. An mehreren Stellen wird diese Parallelisierung mit den Mitteln konkreter Poesie durchgeführt. Zum Beispiel befinden sich auf der thematischen Ebene einige Akteure in einem Schacht, in den sie abzustürzen drohen, als plötzlich die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben sind und mithin die Differenz von oben und unten vertauscht wird. Dass die Schwerkraft nicht mehr existiert, wird in der Schrift abgebildet, die plötzlich auf dem Kopf steht und von rechts oben nach links unten zu lesen ist (Danielewski 2009, 335–346). Der Text wird zu einer Arche der Schriftexperimente, er versammelt Darstellungsweisen der Schrift und kreiert ein inneres Labyrinth von Textgängen. In House of Leaves stellt sich die poetische Selbstreferenz als solche ins Bild, nämlich ins Schriftbild. Was in diesem Haus zu finden ist, sind die Blätter des Textes, wobei sich jedes Blatt von jedem anderen typographisch unterscheidet.149 Das Lesen ist folglich ein Begehen von Schrift, die als solche mit jeder Seite anders wird. Wenn aber der mediale Kanal (phatische Funktion) mit jedem Blättern ein anderer geworden ist, dann destabilisiert sich die gesamte Szene des Textes: ein Vorgang, den man am besten in Metaphoriken des Raumes und des Gebäudes (Stabilität, Destabilisierung) zur Geltung bringen kann. Somit entpuppt sich House of Leaves als hochgradig selbstreferentieller Text, der schriftikonisch genau das macht, was er thematisch im sich verändernden Haus darstellt. Es handelt sich um eine allegorisch inszenierte Szene der poetischen Phatik. Durch die permanente Veränderung der materiellen Basis – das Haus (= Buch), die sich transformierenden Blätter – wird diese Selbstreferenz mit jedem neuen Blatt auf Anfang gestellt. Somit müsste man bei der Lektüre mit jeder Seite eines Neuanfangs gewahr werden, der zur Reorganisation aller bisherigen Seiten (also aller Neuanfänge) nötigt. Das
Es ist dies eine improvisierte These. Sie zu beweisen, hieße, jede Seite von jeder anderen durch eine schriftbildliche Abweichung, die nicht im Normbereich liegt, als unterschieden auszuweisen. Angesichts der 709 Seiten der Originalfassung (Danielewski 2000) dürfte dies nur durch eine erschöpfende Typologie aller vorkommenden typographischen Eigenheiten und ihrem kreuzklassifikatorischen Eintrag in eine Tabelle, die keine Wiederholungen aufweisen darf, zu bewerkstelligen sein. Ein sehr aufwändiges Verfahren. Das konzentrierte Durchblättern hat jedenfalls den Verdacht erhärtet, das Buch sei so komponiert, dass sich jedes Blatt in Bezug auf jedes andere hinsichtlich eines typographischen Prinzipienunterschieds individualisiert.
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Lesen multipliziert sich folglich intern, es wächst exponentiell zur linearen Summation der Seitenanzahl. Der Innenraum wird gegenüber den Außenbedingungen sprunghaft größer. Fasst man diesen Gedanken nun allegorisch auf, dann führt er zu einer Figur des avancierten Prosatextes. Die innere Verfugung des großen Prosatextes stellt sich als unendlich in sich eingefalteter Raum dar, dessen intensive Dichte mit der extensiven Länge derart korreliert ist, dass jene gesteigert zu dieser zunimmt. Avancierte Prosatexte sind auch darin paradox, dass sie umso intensiver werden, je größer die Seitenzahl ist. Das ist exakt das Gegenteil der narratologischen Kategorie der epischen Breite. Während diese eine Verlangsamung oder eine Entschleunigung betreibt, wird die avancierte Prosa immer nervöser, je intensiver sie sich in sich hinein begibt und ihre eigene Selbstmultiplikation in Gang hält.
13.8 Krypta: Die ultima ratio der poetischen Funktion Als sich Sergej P. bei Freud in die psychoanalytische Behandlung begab, machte Freud einen Fehler. Er analysierte die falsche Person, den Wolfsmann. Sein Patient war aber ein anderer, der Wolfsmann nur eine von ihm abgespaltene Persona. Diese gab er Freud zur Analyse, der Analytiker folgte dem Angebot, d. h. er folgte einer falschen Sprache, die so dicht und stimmig war, dass sie für sich und in sich wahr genannt werden konnte. Ihr System stellt Freud 1918 in seiner Studie Aus der Geschichte einer infantilen Neurose dar (Freud 1982, VIII, 125–232). – Wenn diese Beschreibung richtig ist, dann entstehen gravierende Probleme nicht nur für die psychoanalytische Methodik. Abraham und Torok (1979) arbeiten Freuds Analyse nicht allein deshalb auf, weil sie ein therapeutisches Interesse am Wolfsmann hätten. Im Gegenteil, ihre Sorge gilt der Psychoanalyse, welche durch diesen Fall ihrerseits therapiebedürftig geworden ist. Derrida schreibt in seiner Studie: Retten also nicht den Wolfsmann (er ist am Weihnachtstag des Jahres 1886 geboren und hat eben seine Erinnerungen signiert), sondern seine Analyse. Und zwei Analytiker: nicht Freud und Ruth Mack Brunswick, sondern die Unterzeichner des Verbariums. »Ein unwiderstehliches Gewicht zieht uns an: die Analyse des Wolfsmannes zu retten, uns zu retten.« (Derrida 1979, 23; vgl. das Zitat in Abraham und Torok 1979, 85)
Die Situation ist schon auf den ersten Blick paradox: Indem Abraham und Torok ein Lexikon abdrucken, in dem die Verschlüsselungen des Wolfsmanns entschlüsselt werden, wird die Gefahr, vor der sie sich retten wollten, beseitigt. Sie bestand in dem Problem einer Privatsprache, die vollkommen in sich eingekapselt ist und eine Krypta bildet, sodass kein Zugang zu ihr gewonnen werden
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kann. Wäre eine Privatsprache möglich, fände die Analyse damit ihre Grenze. Es wäre eine absolute Grenze, sie würde die Therapierbarkeit dieses Patienten in Frage stellen und damit bei jeder Therapie komplexer psychischer Erkrankungen den Verdacht mitführen, nicht an den Kern der Sache gelangen zu können. Das Lexikon entschlüsselt aber genau das, was Abraham und Torok insistent zu denken versuchen: Dass eine Privatsprache existieren könnte, die den Weg zu ihr unkenntlich hat machen können. Mit dem Lexikon widerlegen Abraham und Torok ihr Buch oder umgekehrt: Mit dem Buch unterlaufen sie ihr Lexikon, das dann als verzweifelter Witz erscheinen muss.150 Man wird vielleicht behaupten können, dass die ganze, sehr umfangreiche Debatte um Freuds Wolfsmann-Analyse und um das Theorem der Krypta als eine Art von Falsifikationsprobe der Hermeneutik und ihres Universalitätsanspruchs (Angehrn 2009) gelesen werden kann. In der Sprachphilosophie, namentlich in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen (Wittgenstein 1984, 356–362), wurde die Möglichkeit einer Privatsprache erwogen und als nicht denkbar verworfen (Schneider 2013). Die avancierten Prosatexte arbeiten aber in nicht geringem Maße an eben solchen hermetisch werdenden, privatsprachlichen Verdichtungen. In Lentz’ Schattenfroh ist eine längere Passage mit der Exegese von 23 Häusern beschäftigt, die sich auf dem Körper von Niemand aufstellen (Lentz 2018, 503–599).151 Es handelt sich in den meisten Fällen um Szenen der literarischen Autobiographie, die in den Innenräumen des Dürener Elternhauses spielen. Eine extreme Symbolverdichtung, verbunden mit einer starken Tendenz zu räumlicher Abgeschlossenheit lassen an eine Krypta-Konstruktion denken, wobei die Krypta aus der Übereinanderlagerung der 23 Häuser zu konstruieren wäre. Somit entstünde eine intensive Verdichtung, in deren gleichsam multiplikativem Raum sich eine Sprache baut, deren Kodierungswege nur noch aus Verzweigungen,
Der Kritik, dass Abraham und Torok ein geschlossenes System von Festlegungen erzeugen und den Wolfsmann darin zwar transparent machen, aber eben auch stillstellen, kann mit einem Perspektivenargument entgegengetreten werden. Demnach wäre diese Kritik unfair zu nennen, weil sie das Lesen-von-hinten illegitim nach vorne projiziert. Tatsächlich ist die Hermeneutik von Abraham und Torok ganz offen, ein durchaus dichterisches Übersetzungsspiel, an dessen Ende einige Übersetzungshypothesen stehen. Diese als immer schon steuernde Festlegungen zu behandeln, würde die so deutlich markierte Prozessualität der Abhandlung ignorieren. Der Beginn der Sequenz lautet: »Die Schläge verfehlen ihre Wirkung nicht, die Schrift erhebt sich nun aus der Brust wie kleine Häuser, und wenn man ganz genau hinsieht, tritt jemand vor die Tür und holt tief Luft. Das bin ich selbst.« (Lentz 2018, 503). Und das Ende der Sequenz: »Da ist eine Tür noch nicht zugemacht. Ich gehe jetzt und schließe sie. Und mit dem Schließen der Tür verschwinden die 23 Buchstaben auf der Brust […]« (Lentz 2018, 599).
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aber nicht mehr aus Wegen besteht. Sie hat, rein formal, Ähnlichkeiten mit der Krypta, wie sie von Abraham und Torok beschrieben wird. Dass Arno Schmidts Etymsprache strukturelle Ähnlichkeiten mit den Winkelwörtern und Kryptonymen des Wolfmanns besitzt – bis hin zu zufälligerweise identischen Fallbeispielen (s. u.) –, wurde schon erwähnt.152 In Schmidts Julia, oder die Gemälde weist der schon besprochene Raum der Tausendeins eine auffallende Ähnlichkeit mit der Evokation der Krypta auf. Am Ende von Jean Pauls Flegeljahren wird das Scheitern eines emphatischen Verstehensversuchs in einer Metaphorik ausgedrückt, die an anderer Stelle in diesem Buch mit dem Begriff der Monade zusammengebracht wurde, hier aber erneut zitiert werden kann, nunmehr als Beleg für kryptonymische Semantik.153 – Aus diesen Hinweisen erhellt, dass zentrale Texte der avancierten Prosa offenkundig einen starken Zug zur Etablierung von Krypten besitzen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass sich kryptonymische Semantik dort einstellt, wo Dichtung wesentlich durch starke poetische Selbstreferenz (und weniger durch Form) zustande kommt. Die Frage stellt sich, ob es eine innere Solidarität zwischen der poetischen Grammatik bzw. der poetischen Funktion und der Theorie der Krypta gibt? Um hierauf eine Antwort geben zu können, ist zunächst eine genauere Darstellung der Kryptatheorie geboten. Dass die Kryptonymie mit einem Kapitel zur Methode beginnt (Abraham und Torok 1979, 67–84), ist sprechend. Es thematisiert die Schwierigkeiten des psychoanalytischen Zugangs zum Patienten. Dieser hat Freud als Vater adoptiert und später dann seine Therapeutin Brunswick mit der Position der Schwester verschmolzen. Die Urszene ist eine doppelte: Einerseits handelt es sich um die Verführung durch die Schwester (welche ihrerseits einen sexuellen Übergriff des Vaters auf sich selbst weitergibt), andererseits dominiert das Bild des aufrecht stehenden Wolfes (der Vater penetriert a tergo die Mutter). Indem nun die beiden wesentlichen therapeutischen Instanzen Freud und Brunswick vom Wolfsmann sofort in die Bilder der Urszene integriert werden, wird die gesamte analytische Arbeit in das energetische System der Krypta hineingezogen. Sie verliert damit ihre aufklärerische und therapeutische Wirkungsmacht. Wenn der Wolfsmann auf diese Weise interpretationsmächtig ist, dann depotenziert er die Interpretationshoheit der Therapie. Der Verschiebebahnhof dieser Krypta-Aktivität ist sehr
Einige Spekulationen zur Krypta bei Arno Schmidt finden sich in: Simon 2015. »Wir beide waren uns einander ganz aufgetan, so wie zugetan ohnehin; uns so durchsichtig wie eine Glastür; aber, Bruder, vergebens schreibe ich außen ans Glas meinen Charakter mit leserlichen Charakteren: du kannst doch innen, weil sie umgekehrt erscheinen, nichts lesen und sehen als das Umgekehrte. Und so bekommt die ganze Welt fast immer sehr lesbare, aber umgekehrte Schrift zu lesen.« (JP I/2, 1081).
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komplex, er wird interessanterweise durch Abraham und Torok in der Stilgeste der erlebten Rede wiedergegeben, als eine Art Roman. Ab Seite 83/84 wird daraus ein dreiaktiges Drama. Die Wahl literarischer Formen als Distanzierungsverfahren macht deutlich, dass auch für Abraham und Torok das Problem einer wissenschaftlichen Objektivierung besteht. Der ganze Wolfsmannkomplex spielt offenkundig im innersten Bereich der Psychoanalyse selbst. Der Wolfsmann ist in Freuds System eingedrungen und dort zum Mitspieler geworden, weshalb die Psychoanalyse nun nicht mehr als externe Beobachterin eines Krankheitsgeschehens auftreten kann. Man kann hier schon eine literaturwissenschaftliche Schlussfolgerung ziehen. Die Hermeneutik kryptonymischer Semantik erfordert offenkundig eine bestimmte Art und Weise des Mitspielens. Auch die Literaturwissenschaft wird nicht in Klartext übersetzen können, was durch die selbstbezüglichen Rekursionsschleifen des poetischen Diskurses verdichtet und in sich verkapselt worden ist. Zu begründen sein wird jedoch die Möglichkeit, dass eine Krypta eine andere Krypta liest. Vielleicht lässt sich Literaturwissenschaft als eine strukturoffene Krypta konstruieren, die in der Lage ist, eine abweisende Krypta zu lesen. Lesen kann dann heißen: Etwas sehr Hermetisches wird in etwas relativ weniger Hermetisches übersetzt (aber nicht erklärt, entschlüsselt, in Klartext übertragen). Literaturwissenschaft wäre dann eine Parallelaktion, ein strukturhomologes Mitspielen. Der Grundgedanke der Kryptonymie ist zunächst einfach. Der Wolfsmann erfährt eine mehrfache Traumatisierung (Abraham und Torok 1979, 91 f.), der er sich durch Zerlegung der Urszenen in Einzelteile mitsamt ihrer Verstreuung in der Psyche entzieht. Nun verfügt der Wolfsmann allerdings über eine durchaus ungewöhnliche symbolische Option, nämlich über seine Mehrsprachigkeit. Er ist in der Lage, die sprachliche Kodierung der Urszene durch wilde Übersetzungen in andere Sprachen zu verschieben, sodass er die psychischen Energien der Bildbestandteile der Urszene auf die in dieser Übersetzungstätigkeit agierenden Wort-Objekte übertragen kann. Dadurch nimmt die Traumaverarbeitung untypische Formen an. Sie verschiebt sich erstens von den die Dinge repräsentierenden Bildern auf die Worte und zweitens von Worten einer Nationalsprache auf Worte einer anderen Nationalsprache, wobei mindestens drei Sprachen (russisch, deutsch, englisch) im Spiel sind, vielleicht sogar noch lateinische Fachtermini (insbesondere medizinische Nomenklatur). Eine normale Psychoanalyse, die versucht, sich an der Gegebenheit des Traummaterials abzuarbeiten, muss hier scheitern. Freud etwa hatte keine Kenntnisse des Russischen. Wichtig ist zudem, dass der Wolfsmann in der Lage ist, eine Wiederkehr des Verdrängten im Wachzustand, sogar in Form der Symbolisierung, stattfinden zu lassen (Abraham und Torok 1979, 93). Dies hängt eben damit zusammen, dass die Traumabestandteile in einer wilden Semiose
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13 Textfiguren der poetischen Selbstreferenz
semantisiert worden sind, sodass der Wolfsmann tatsächlich eine Sprache spricht und nicht den Bildern des Traums und der schockhaften Wiederkehr ausgeliefert ist. Indem der Wolfsmann aber in dieser Weise ›sprechen‹ kann, ist er auch in der Lage, aktiv sein Traumamaterial zu bearbeiten und zu verändern. Es findet eine Umkehrung statt: Die Bilder sind Rückübersetzungen, die von steuernden Worten aus erfolgen (Abraham und Torok 1979, 93 f.). Diese Fähigkeit ist der Grund dafür, dass Sergej P. in der Lage ist, Freud den Wolfsmann zur Analyse anzubieten, während er selbst aus dem Spiel bleibt. Freud analysiert die falsche Persona des Sergej P., der nun selbst zu einem Beobachter der psychoanalytischen Therapie wird und Freud ebenso wie Brunswick in sein System verstrickt, während ›er selbst‹ unbehelligt bleibt. Er hat – aus der Perspektive der hier diskutierten literarischen Phänomene gesprochen – die Rolle eines Humoristen inne, der den Ernst der anderen verlacht und mit ihnen ihre Spiele treibt.154 Kompliziert und weit über die üblichen Verlaufsformen hinausgehend wird die Traumastruktur nun dadurch, dass Sergej P. zwei Phantome oder Gespenster in sich beherbergt, die innere Präsenz der toten Schwester und des toten Vaters. Gelingende Trauerarbeit würde nach Freud (1982, III, 193–212) darin bestehen, den geliebten Toten in der eigenen Psyche wiederauferstehen zu lassen, um ihn dann ein zweites Mal zu töten, indem der Trauernde dessen positive Eigenschaften in sich aufnimmt. Gelingt diese Arbeit, dann kann eine zweite symbolische Beerdigung stattfinden. Misslingt sie aber, weil der Trauernde die Kraft der kannibalistischen Aneignung nicht aufbringt, dann verbleiben die Wiedererweckten als heimsuchende Gespenster in der Psyche. Der Wolfsmann trägt die unbewäl-
Man versteht an dieser Stelle besser, warum Abraham und Torok davon reden, sich selbst retten zu müssen. – Es wäre im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Traumaforschung, die durchaus erhebliche Umfänge angenommen hat, eine Erwägung wert, den Traumadiskurs mit den Phänomenen des Komischen und des Humors zu kreuzen. Wenn literaturwissenschaftlich von Trauma die Rede ist, dann geht es immer sehr ernst zu. Spricht man aber mit praktizierenden Psychoanalytikern, dann kann man durchaus erfahren, dass in Therapiesitzungen nicht selten gelacht wird. Die Patienten sind mitunter in der Lage, sehr makabre Witze über ihre Situation machen zu können. Sie erlauben sich zuweilen den Spaß, ihren Therapeuten durch Täuschungsmanöver und Finten auf falsche Fährten zu locken. Nicht immer kann sich der Therapeut sicher sein, dass eine Sprachregelung in dem Sinne substantiell ist, dass sie an den Traumakern heranreicht. Vielleicht probiert der Patient etwas aus, vielleicht experimentiert er, vielleicht wird er später etwas, das sich ernst angehört hat, nonchalant als Ironie bezeichnen. In der Literatur zum Wolfsmann sind solche Verhaltensweisen beschrieben worden (Obholzer 1980, Gardiner 1972). – Eine solche Sichtweise auf den Traumadiskurs wäre allein schon deshalb interessant, weil sie viel näher an den Zeichenregimen der Literatur liegt, als sich der Existenzialismus manch einer literaturwissenschaftlichen Geste träumen lässt.
13.8 Krypta: Die ultima ratio der poetischen Funktion
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tigten Tode der Schwester und des Vaters in sich.155 Er übersetzt sie in seine Szene der Mehrsprachigkeit und verschmilzt Freud mit dem Vater, Brunswick mit der Schwester. Dadurch entsteht die Krypta als atopischer Raum im Unbewussten, der von den zwischen den die Sprachen wechselnden Reden zweier nicht beerdigter Toter erfüllt ist, die zudem zu Doubles der beiden Analytiker werden. Die Frage, was eine Krypta sei, kann nicht direkt beantwortet werden, jede Formulierung steht unter Vorbehalt. Derrida formuliert: »ein im Inneren des Innen ausgeschlossenes Außen« (Derrida 1979, 10), »eine Anordnung von Orten, um zu verkleiden« (Derrida 1979, 9), »das Paradox eines Fremdkörpers, der als fremder bewahrt, aber zugleich aus einem Ich ausgeschlossen wird, das fortan nicht mehr mit dem anderen, allein noch mit sich selbst zu schaffen hat« (Derrida 1979, 14), »ein Ort des Nicht-Symbolisierbaren« (Derrida 1979, 18), »eine Grabstätte« (Derrida 1979, 19). Zentral ist die Übersetzungstätigkeit zwischen den Sprachen. Als Ausgangswort (Archeonym) kann zum Beispiel die Phrase ›it is a boy‹ dienen, welche über phonetische Assoziation (Reim) mit dem russischen Wort ›zimoj‹ verbunden wird, welches die Bedeutung ›Winter‹ hat. Wenn der Wolfsmann nun das Wort ›Winter‹ benutzt, dann handelt es sich um ein Krypotonym für das Archeonym ›it is a boy‹. Diese Übersetzungskette arbeitet mit drei Sprachen und wird im von Abraham/Torok erstellten Verbarium als einlinige Kette notiert (Abraham und Torok 1979, 173). Es kann aber auch ein Archeonym geben, das eine ganze Reihe von Reimen in verschiedenen Sprachen etabliert und folglich ebenfalls eine unter sich nicht zusammenhängende Reihe von Übersetzungen herstellt. Schließlich besteht die Möglichkeit, dass ein Archeonym nicht über eine phonetische Assoziation mit einem anderen Wort einer anderen Sprache verbunden wird, sondern über eine schrifttypographische Ähnlichkeit: Es gibt in der kyrillischen Schrift Wörter, die so ähnlich aussehen wie Wörter in der lateinischen Schrift. Diese Übersetzungen sind für den Wolfsmann jeweils motiviert, sie stammen aus seiner Lebensgeschichte, etwa von der Englisch sprechenden Gouvernante. Der Analytiker müsste also die von Mehrsprachigkeit geprägten biographischen Umstände seines Patienten ebenso kennen wie die
In Derridas Zusammenfassung: »Das setzt eine Redefinition des ICH (des Systems der Introjektionen) und des Phantasmas der Einverleibung voraus. Der Wolfsmann hätte sich, seinem ICH, seine ältere Schwester einverleibt, nämlich als diejenige, die vom Vater verführt worden ist und diese Szene mit dem Bruder zu wiederholen sucht. Und gleichzeitig hätte er den Platz des Vaters einverleibt, den Penis des Vaters mit dem seinen vermengt.« (Derrida 1979, 11). Und später: »Das einverleibte Objekt VATER-SCHWESTER muß zugleich getötet und unversehrt bewahrt werden« (Derrida 1979, 20 f.).
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einzelnen Sprachen. Aber selbst das würde ihm kaum weiterhelfen, weil die phonetischen und schriftikonischen Assoziationen immer nur eine Auswahl von mehr oder weniger treffenden Reimen oder gestalthaften Ähnlichkeiten sind. Schon allein deswegen, weil ein Ausgangswort verschiedene Übertragungen gleichzeitig in Gang setzen kann, ist die Semiose nicht zu berechnen. Es handelt sich folglich um eine wilde Semiose, deren Regeln so vage sind, dass das Wörterbuch letztlich immer nur eine hypothetische Momentaufnahme sein kann. Denn natürlich besitzt der Wolfsmann jederzeit die Möglichkeit, seine Sprachregelungen zu verschieben. Derridas umfangreicher Aufsatz Fors (Derrida 1979) beschreibt die Kryptonymie von Abraham und Torok auch als Abhandlung über das Problem der Privatsprache. Seine Rekonstruktion der Denkgeschichte von Nicolas Abraham (Derrida 1979, 31–37) thematisiert den Schritt des philosophisch geschulten Phänomenologen zur Psychoanalyse als den Schritt desjenigen, der in voller Radikalität erfahren hat, was es heißt, wenn den Wörtern ihre begriffliche Stabilität entzogen wird. Abraham habe deshalb zu einer Psychoanalyse gefunden, die eine »analytisch-poetische Transkription« (Derrida 1979, 37) versucht, weil eine Begriffsarbeit an diesem Material nicht verfängt. Der Grund dafür besteht in der Selbstbezüglichkeit des sprachlichen Verfahrens. Derrida findet für diese poetische Selbstreferentialität eine drastische Beschreibung. Die »Übersetzungsmaschine«, die die »infantile Anglophonie« zu privatsprachlichen Kryptonymen (Derrida 1979, 42) macht, besteht darin, dass der Wolfsmann sich die Wort-Dinge einverleibt und zerkaut. Er schluckt sie dann nicht einfach herunter, sondern erbricht sie ins Innere, in die Tasche einer Zyste (Derrida 1979, 44). Dieses interne Erbrechen ist eine Nekrophagie: In der zystischen Tasche (Derrida 1979, 45) werden die durch die Einverleibung getöteten Worte aufbewahrt und mit dem Scheinleben von in einer Krypta wiedererstehenden Toten beseelt. Das Fazit Derridas: Es sei »alles in allem eine ganze Poetik, die einen Übersetzer-Dichter-Psychoanalytiker fordert« (Derrida 1979, 52). Das Stichwort der Poetik führt zur poetischen Funktion. Wenn der traumatisierte Mensch permanent auf Äquivalenzen trifft – es sind die verstreuten Einzelteile einer vormals integralen Szene –, dann funktioniert er so wie die ästhetische Selbstreferenz. Die Aufspaltung in mehrere Personen (der Wolfsmann als eine von mehreren Abspaltungen von Sergej P.: poetische Emotivität), die plurale Adressierung (der Wolfsmann adoptiert Freud und Brunswick: poetische Konativität), die Organisation einer Sprache primär nach phonetischen, aber auch sonstigen gestalthaften Parallelen (poetische Funktion im engeren Sinne), die Fähigkeit des Wolfsmanns, seine Semiose zu reflektieren und zu steuern (poetische Metasprache): Diese Charakteristik etabliert ein enges Gefüge von Parallelen zwischen Traumastrukturen und poetischer Textualität. Es ist nicht verwunderlich, dass Texte, die
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ausgeprägt selbstreferentiell sind, kryptonymische Semantiken entwickeln. Kryptonymisierung als Textfigur funktioniert im Sinne einer wilden Semiose, die alles äquivalent setzen kann: Aussehen des Worts, Klang des Worts, grammatischmorphematische Formen, Syntaxformen, rhetorische Verfahren usw. Traumasprache, so beschrieben, funktioniert poetisch (nicht aber umgekehrt: Poesie ist keine Sprache der Verrücktheit). Das traumatisierte Subjekt mag eine tief ambivalente Lust an der aktiven Produktion von Äquivalenzen im Nahbereich seiner Verletzung haben; Derrida nennt sie »thanatopoetische[] Lust« (Derrida 1979, 45). Sie besteht darin, einerseits immer alles sagen zu wollen und es andererseits immer vollkommen verstecken zu müssen. Zeichnet dies nicht auch die Lust an der Kunst aus? Wir wollen als Interpreten das Geheimnis des Kunstwerks aussprechen können, einerseits. Andererseits wollen wir dies gerade nicht, das Kunstwerk soll sein Geheimnis behalten. Die Kunst spielt dieses ambivalente Spiel, die Interpretation spielt es mit und die Traumasprache bildet dazu ein Analogon. Tatsächlich ist jede gute Interpretation, die nicht im bloßen Formalismus stecken bleiben will, auf der Suche nach der Urszene – nicht im biographistischen Sinne, sondern strukturell. Wiederum mit Freud wissen wir, dass die traumatische Urszene keine Gegebenheit ist, sondern durch eine Nachträglichkeit, durch eine zweite Initiative überhaupt zur Urszene gemacht wird (Laplanche und Pontalis 1973, 313–317). Es ist erst die Bewertung einer Szene, die ihr in der Psyche diese Funktion verleiht. Somit ist schon in der Produktion der Urszene ihre Interpretation enthalten. Die Kryptonymie von Abraham und Torok und stärker noch Derridas Aufsatz Fors ziehen aus diesen Überlegungen die Schlussfolgerung, dass die wilde Semiose des Wolfsmannes eine Struktur hat, die über die individuelle Krankengeschichte weit hinausgeht. Sie trifft mit der Frage nach der Möglichkeit der Psychoanalyse letztlich die Frage nach dem Verstehen per se, sie zielt als poetische Sprachverwendung (»wie in einem Handbuch der Poetik«, Abraham und Torok 1979, 169 f.) auf die strukturellen Folgen fortgesetzter, mehrgliedriger, sich verzweigender und regeloffener Übersetzungen, also auf Selbstreferenz. In diesem Sinne kann man die Krypta als ultima ratio der poetischen Selbstreferenz bezeichnen und die Kryptonymie als die vielleicht extremste Theorie der Prosa lesen.
14 Negativität Auf allen Ebenen der in diesem Buch angestellten Überlegungen ist immer wieder ein Grundmodell zum Thema geworden. Mit den Begriffen der Zerstückelung, der Zergliederung, des Aufsplittens, des Zerbröselns oder des Zerfalls in immer kleinere Einheiten wurde ein offenkundig notwendiges Korrelat poetischer Selbstreferenz beschrieben. Die Poetisierung der fünf anderen Sprachfunktionen führte zu aufgegliederten Sendern und Empfängern und zu einer geteilten Referenz. Die Poetisierung des Wortes wurde als Zerfall in die Buchstaben und der daraus entstehenden Anagrammatik gedacht. Der poetische Satz ist als Außerkraftsetzung der im normalen Satz formierten narrationsaffinen Teleologie analysiert worden. Bei den Textfiguren wurde schließlich die das Kontinuum der Textualität aufsprengende Dimension poetischer Selbstreferenz zum expliziten Thema. Offenkundig ist es die ästhetische Form, die in der Dichtung die Synthesis des poetisch Mannigfaltigen leistet. Fällt sie durch die in den avancierten Prosatexten hervortretende Dominanz der Selbstreferenz weitgehend weg, dann verstärkt und vertieft poetische Selbstreferenz die Zerstückelung und den Zerfall. Es entsteht eine andere Art der Textpolitik. Ohne Formintegral setzt sich auf allen textuellen Ebenen die Grundbewegung des Boustrophedonischen durch; Oswald Egger hat diese Bewegung zur Grundfigur seiner Textproduktion gemacht. Das Wort geht in sich und seine Konstituenten zurück, ebenso der Satz und schließlich auch die jeweilige Textfigur. Es entsteht eine Topographie von insularen Textvereinzelungen oder von jeweils monadisch in sich verkapselten Textemergenzen: Schmidts snapshots, Eggers Textinseln, Dicks verquerer Essayismus, Wollschlägers gegeneinander isolierte Abschnitte, Jean Pauls Digressionen in Wurm-Fort-Sätzen. Diese Einheiten-in-sich vollziehen zunächst gegenüber dem Text einen Zerfall in Einzelteile. Sie bedürfen, um zum Text zu werden, einer Verbindung. Die diskutierten Textfiguren (die mit Sicherheit zu ergänzen sind) leisten dies in unterschiedlicher Weise. Da aber in allen diesen Textfiguren die Zerteilung als notwendige Voraussetzung vorhanden ist, erwächst die Vermutung, dass hier ein und vielleicht sogar der zentrale Grundzug der avancierten Prosa vorliegt. Denn das inhaltliche Korrelat der Zerteilung oder Zergliederung besteht in der Negativität. Ästhetische Negativität mag auf der deskriptiven Ebene, als Sprache des Leidens, beschreibbar sein. Theoriegeleitet stellen sich allerdings erhebliche Probleme. Sie beginnen damit, dass Negativität begriffslogisch von einer jeweiligen Position, als deren Negation sie sich darstellt, abhängig zu sein scheint. Ab ovo ist Negativität, so die Auskunft der Philosophie, kaum zu denken (Angehrn 2014; https://doi.org/10.1515/9783110775570-014
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Khurana et al. 2018, 12 f.). Ästhetisch bleibt Negativität so lange von der logischen Position abhängig, wie der Formbegriff im Spiel ist. Indem Form die ästhetische Synthesis der vereinzelten Elemente ist, bringt sich in ihr das affirmative Wesen des Kunstwerks zur Darstellung. Wenn Prosa aber Form einklammert und – wie mehrfach argumentiert – die Sphäre vor der Form mit derjenigen nach der Form verkoppelt, dann wäre hier der textlogische Ort von Negativität zu suchen. Vielleicht mag man sich ›literaturwissenschaftlich‹ damit zufriedengeben, Zerteilung als Tätigkeit der poetischen Selbstreferenz und Negativität als daraus resultierenden Grundzug zu denken. Aber ein genauer Blick führt an dieser Stelle auf eine komplexe Problemlage, die in diesem Buch allein deshalb nicht umgangen werden kann, weil ihre Implikationen schon mehrfach in Anspruch genommen wurden. Die Unterscheidung Form versus Selbstreferenz wirft die Frage auf, wie sie sich zur gängigeren Unterscheidung von Form versus Materie verhält. Und tatsächlich leitet auch das Thema der Negativität auf den Begriff der Materie, der in den oben vorgetragenen Argumentationen mit Begriffen wie autobiographisches Substrat bzw. Leben, Wald oder Chaos und fundus animae implizit mitgeführt wurde. Materie kann negativistisch gedacht werden, vor allem in dualistisch, pessimistisch oder stoizistisch angelegten Theoriemodellen. Die formale Aussage, dass Zerteilung als Tätigkeit von Selbstreferenz auf Negativität führt, ist durchaus in Bezug auf den Materiebegriff auszubuchstabieren. Wie also ist das Verhältnis von Selbstreferenz und Materie zu denken – hinsichtlich eines komplex angelegten Begriffs von Negativität? Die Opposition Form versus Selbstreferenz ist in der europäischen Geistes-und Begriffsgeschichte nicht verankert, im Gegensatz zu derjenigen von Form versus Materie. Bildet man die beiden Gegensatzpaare aufeinander ab und trägt sie in die Unterscheidung Vor-der-Form und Nach-der-Form ein, dann fällt die Zuordnung zunächst relativ leicht. Der Materiebegriff ist im Feld vor der Form zu verorten, der Begriff der Selbstreferenz im Bereich nach der Form. Anspruchsvoll wird diese Gliederung in dem Moment, in dem die vorgeschlagene Unterscheidung durch re-entry-Operationen in eine sachangemessenere Komplexität überführt wird. Nämlich: Wie viel Selbstreferenz steckt latent schon in der Materie? Und: Wie materiell ist die Selbstreferenz? Wenn die Konzepte ›Selbstreferenz‹ und ›Materie‹ beide auf der Gegenseite von ›Form‹ stehen, dann ist die Frage nach ihren möglichen Konvergenzen keineswegs abwegig. Selbstreferenz wurde bislang primär literaturwissenschaftlich gedacht, im Sinne von Roman Jakobson vor allem als materiale Äquivalenz der Zeichen des poetischen Textes. Materie wurde dagegen mit Begriffen wie autobiographisches Substrat etc. als vordiskursives Kontinuum gedeutet. Wenn Prosa darin besteht, die Substanz vor der Form in die Selbstverhältnisse nach der Form zu
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übersetzen, dann wird diese Gedankenfigur nur begründbar sein, sofern es dafür innere und strukturelle Möglichkeitsbedingungen gibt. Der Begriff der Materie lässt sich hinsichtlich der Frage nach der Negativität in vier Unterkonzepte einteilen.156 Materie ist an sich böse; dies führt zu den Konzepten der Gnosis oder zu stark dualistischen Metaphysiken wie derjenigen von Plotin. Zweitens kann Materie an sich gut sein; dies führt zu optimistischen Varianten des Christentums oder überhaupt zu der Unterstellung einer sinnvollen und umfassenden Lesbarkeit der Welt und ihrer Kodes (Blumenberg 1981a). Drittens kann Materie jenseits der gut/böse-Unterscheidung als vollkommen qualitätslose und nicht beschreibbare Stofflichkeit gedacht werden; diese führt zu Modellen wie sie sich bei Platons chora finden, aber auch bei Kants Ding an sich. Viertens kann Materie jenseits der gut/böse-Unterscheidung so konzipiert werden, dass sie gleichwohl beschreibbar ist, aber gleichgültig gegen menschliche Sinndeutungen bleibt; dies führt etwa zum Atomismus. – Die zweite Option kommt als Kandidat für Negativität nicht in Frage, die drei anderen Optionen sind aber je nach Ausdeutung für negativistische Theoriemodelle adaptierbar. Interessanterweise wird der Materie zumeist eine Eigenaktivität zugedacht (mit Ausnahme der dritten Option). Sie ist nicht nur passiver Stoff für den aktiven Zugriff der Form, sondern als gute oder böse Kraft tätig wirkend bzw. als Atombewegung permanent in Tätigkeit. Ihr kommt somit eine durchaus intelligible Dimension zu. Tatsächlich führen viele moderne Materiebegriffe zu einer Entmaterialisierung, wenn Materie als elektromagnetische Kraft, Ladungsmodifikation einer Feldstruktur oder als Verdichtung von Wellen verstanden wird (Sigrid G. Köhler, Hania Siebenpfeiffer und Martina Wagner-Egelhaaf 2013, 212–214). Diese innere Tätigkeit kann als Netzwerk, als Kräftespiel oder als Dynamik unterschiedlicher Feldpositionen verstanden werden, mithin als eine Art von verkörperter und subjektlos agierender Selbstreferenz, modelltheoretisch gar nicht so sehr vom fundus animae unterschieden. So läge in einer solchen kühnen, durchaus metaphorischen Inanspruchnahme fortgeschrittener Materiebegriffe das Potential, Protoformen von Selbstreferenz im Inneren der Materie namhaft machen zu können (re-entry der Selbstreferenz in die Materie). Auch auf der anderen Seite der Unterscheidung ist der re-entry offenkundig: Die
Der Reader mit Grundlagentexten zur Theoriegeschichte von ›Materie‹, vor allem aber die instruktiven Einleitungen der Herausgeberinnen Sigrid G. Köhler, Hania Siebenpfeiffer und Martina Wagner-Egelhaaf (2013, 11–24, 31–46, 203–217, 389–398) stellen einen sehr guten Überblick zur Problem- und Begriffsgeschichte des Materiebegriffs zur Verfügung. Die Frage der Negativität wurde freilich von den Herausgeberinnen nur gestreift, sodass die an sich sehr plausible Gliederung des Bandes für die gegenwärtige Fragestellung nicht zielführend sein kann.
14.1 Zum Begriff der poetischen Form
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Selbstreferenz der poetischen Funktion, die vor allem die materielle Äquivalenz der Zeichen modelliert und damit ein hochkomplexes Feld wilder Semiosen etabliert, kann entsprechend als anders gelagerte Antwort auf solche Materiebegriffe in Anschlag gebracht werden, nämlich vor allem als an der Materialität orientierte Selbstreferenz. Vor der Form und nach der Form: Diese Unterscheidung, die mit derjenigen von Materie und Selbstreferenz parallel geht, kennt also durchaus inhaltlich qualifizierbare re-entries von Selbstreferenz in Materie und von Materie in Selbstreferenz. Beider Negativitätspotential ist im Folgenden herauszuarbeiten, um zum vollen Begriff der Prosa zu gelangen. Damit lässt sich das Argumentationsprogramm schematisieren: Ausgangspunkt ist zunächst die genauere Betrachtung der Synthesisleistung der Form, welche dann eingeklammert und durch die Koppelung der Sphären Vor-derForm und Nach-der-Form ersetzt wird. Wenn derart der Weg zu ästhetischer Negativität denkbar geworden ist, dann steht sie selbst zur Debatte, als negativer Materialismus (Gnosis), als materieller Prozess der permanenten Zersetzung ab ovo (Atomismus), als negativistisch gedachte pure Stofflichkeit (Dualismus). Diese gegenüber der Geschichte des Formdenkens alternativen geistesgeschichtlichen Narrative fundieren den Begriff der Negativität der avancierten Prosatexte.
14.1 Zum Begriff der poetischen Form Form ist zwar einerseits durch ihre Gerichtetheit verdichtet, aber sie besitzt andererseits eine Gestalthaftigkeit, welche immanente Komplexität nicht beliebig steigern kann. Poetizität als poetische Selbstreferenz besitzt hingegen die Möglichkeit, durch fortgesetzte rekursive Selbstanwendung die Textur in eine solche Komplexität zu führen, dass dadurch jegliche Gestalthaftigkeit und Anschaulichkeit von Form unterwandert und gesprengt wird. Form und Poetizität (Selbstreferenz) zeigen sich hier als unterschiedliche und trotz zeitweiliger Konvergenz doch divergierende Prinzipien. Die Matrix der poetischen Funktion stellt sich gegen den Begriff der poetischen Formen. Mit dem Terminus der Zerteilung wurde dies eigens herausgestellt. Um diese Kontraposition der Poetizität zum Formbegriff in ihrer ganzen Reichweite zu verstehen, ist zunächst eine tiefergehende Rekonstruktion des Formparadigmas notwendig. Dazu wird rekapitulierend an Überlegungen angeschlossen, die im Kapitel 8.5.1. geführt wurden. Erst im zweiten Schritt kann dann der Gedanke vorgetragen werden, dass die Poetizität der Prosa in einem zu bestimmenden Sinn als ›vor und nach der Form‹ liegend zu denken ist.
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14 Negativität
Aristoteles hat am Anfang seiner Poetik eine Schematisierung der elementaren poetischen Sprechsituationen gegeben, die man als zeichentheoretische Abbildung der drei grundlegenden Praxisformen – Handeln, Miteinandersprechen, Sichausdrücken – wird lesen können.157 Zum »Modus der Darstellung« (Aristoteles 2011, 5 = 1448 a18) schreibt Aristoteles: Denn auch in denselben Medien und bei denselben Gegenständen kann die Nachahmung einmal im Modus des Berichts eines Erzählers geschehen – entweder mit einem Wechsel der Erzählperspektive, wie Homer es macht, oder in ein und derselben, nicht wechselnden Perspektive –, oder die nachahmenden (Künstler) lassen alle (Charaktere) als Handelnde und Akteure auftreten. (Aristoteles 2011, 5 = 1448 a20)
Sprechsituationen als solche sind noch keine Gattungen, aber Aristoteles findet dennoch zu einer wesentlichen Gliederung. Menschen handeln und setzen planvoll Intentionen durch: Dies führt, übersetzt in poetische Sprechsituationen, zur Narration. Menschen äußern sich, indem sie ihre eigene und mit sich einige Perspektive artikulieren: Dies führt, übersetzt in poetische Sprechsituationen, zum Lyrischen. Menschen agieren in kommunikativer Interaktion: Dies führt zum Modus des Dramatischen. Poetische Form lässt sich folglich recht einfach und elementar definieren: Sie folgt einem Handlungsbegriff, in dem eine poetische Transformation von lebensweltlichen Praxisformen (nach Ricœur: Mimesis I)158 vorliegt, sodass das Reich der poetischen Formen zunächst als Feld von poetischen Gattungen erscheint, deren jede sich aus dem doppelten Bezug einer fremdreferentiellen Verankerung und einer ihr korrespondierenden, aber dennoch selbstreferentiellen Gliederung der sprachlichen Register definiert. Damit ist der Formprozess aber noch nicht an seinem Ende angekommen: Nach Aristoteles erfüllt sich das Drama erst in der Theateraufführung, diese aber letztlich im politischen Handeln, in der Polis. Wenn nach Aristoteles Form der Name für diesen entelechischen Prozess ist, der vorliterarische Handlungsweise in Literatur, diese aber in rekonfigurierende Praxis überführt, dann liegt ein komplexer, wesentlich zeit-
Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass das folgende Zitat auch so interpretiert werden kann, dass Aristoteles nur von zwei Modi spricht, also dem Modus, dem das Lyrische entsprechen würde, keinen Platz einräumt. Dies wäre dann der Fall, wenn die Unterscheidung zwischen Wechsel und Konstanz der Erzählperspektive als eine interne Unterscheidung des narrativen Modus verstanden würde. So hat es die abendländische Poetiktradition verstanden: vgl. Genette 1990, 7–31 et passim und Arbogast Schmitt in Aristoteles 2011, 258–268. Vgl. dazu die im Kapitel zur »Zeitlichkeit der Form« gemachten Bemerkungen zu Paul Ricœurs drei Mimesisfeldern (Ricœur 2007, bes. I, 87–135): Mimesis I ist das vorliterarische Praxisfeld, Mimesis II der poetische Text, Mimesis III die Rekonfiguration in der Rezeption.
14.1 Zum Begriff der poetischen Form
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lich verstandener Formbegriff vor. Er hat sein Zentrum im poetischen Text (Mimesis II), ist aber auch vor und nach der literarischen Sphäre verankert. Die Gedankenfigur Vor-der-Form und Nach-der-Form, die in diesem Buch mehrmals benutzt wurde und auf die hier erneut hin argumentiert wird, ist bei Aristoteles so nicht zu finden. Im Gegenteil, es liegt eher ein Monismus der Form vor, in der sich der eine Formzustand aus einem vorhergehenden entwickelt. Wegen des monistischen Formprozesses, der sich vor und nach der ästhetischen Form im engeren Sinne auf Außerästhetisches bezieht, sind Formbegriffe in der Nachfolge des Aristoteles hochintegrativ. Sie können im Vorfeld liegende Praxisschemata in sich aufnehmen und nachästhetisch eine reflektierte Praxis anleiten. Da dies dem Formmonismus innewohnt, vermeidet ästhetische Form in diesem Sinne eine abstrakte Opposition von Referenzwelt und Kunstautonomie. Nicht zufällig ist Form ein Zentralbegriff gerade im Klassizismus, wo er die Werkautonomie (Mimesis II) mit ästhetischer Erziehung (Mimesis III), antwortend auf unbefriedigende Kulturzustände (Mimesis I) – so Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung – vermitteln kann. Dieses Vermittlungskontinuum integriert die drei Phasen der Form, statt sie als durchaus divergierende zu denken. Das nun freigelegte Prozess- qua Zeitschema der Form bedarf der Vermittlung mit dem räumlich und deshalb eher statisch angelegten Gestaltaspekt. Zur Erinnerung: Weil Form als Gestalt nicht endlos durch fortgesetzte Rekursion Komplexität steigern kann, ohne dabei die Gestalthaftigkeit zu verlieren, gerät sie in den Gegensatz zur poetischen Selbstreferenz, sobald diese in der avancierten Prosa in den Vordergrund tritt. Form wird dann durch Selbstreferenz zerteilt und zerrieben – und erst daraus entsteht ästhetische Negativität. Wie also lässt sich der Gestaltaspekt von Form denken? Władysław Tatarkiewicz (2003, 317–355) unterscheidet fünf Grundbedeutungen (Form A–E) innerhalb der Begriffssemantik von ›Form‹. Sie sollen kurz referiert und auf ihr Gestaltmoment hin befragt werden (vgl. zum Folgenden Simon 2018b, 1–3). Form A ist Anordnung von Teilen als Zusammenstellung, Gefüge, Proportion, Symmetrie, Harmonie oder Rhythmus, es gibt Bezüge zum Figur- oder Strukturbegriff. Sie liegt vor allen Dingen bei der Architektur und der Malerei vor, tritt als materialisierte Form, also verbunden mit einem Bildträger auf. Da dieser Formbegriff auf Verhältnisbestimmungen basiert, die mitunter sogar in Zahlenverhältnissen objektivierbar sind und ein reales Korrelat der Anschauung existiert, ist die Gestalthaftigkeit evident, während die Vermittlung mit der Zeitlichkeit von Form nicht nahe liegt. Bei der zeitgebundenen Dichtung kann die Adaptation dieses Formbegriffs nur durch eine Dynamisierung des Gefügeaspekts stattfinden, vornehmlich als Rhythmus auf Wort-, Sequenz- und Textebene.
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14 Negativität
Form B meint bei Tatarkiewicz eine sinnlich wahrnehmbare Form, die sich nicht wesentlich über Visualität oder Räumlichkeit (Tastsinn) definiert. Innerhalb der Dichtungstheorie bilden Klang und Fügung der Worte im syntaktischen Zusammenhang eine wahrnehmbare Formierung, die hier in den Gegensatz zum Terminus des Inhalts tritt. Während in der Malerei das sinnlich erscheinende Bild infolge seines Präsenzeffektes sowohl Form als auch Inhalt ist, wird bei der Dichtung aufgrund des Zeichencharakters der Sprache der Inhalt zum Ausgesagten, während die Signifikantenseite des Zeichens der Formung unterliegt. Dieses zweistellige Modell, das das Poetische als Versifizierung definiert, gilt bis ins achtzehnte Jahrhundert. Die Form/Inhalt-Dichotomie nutzt den Doppelcharakter des Zeichens aus, einerseits um über sich hinaus zu verweisen (Inhalt, Bedeutung), andererseits um als sinnlich formierbarer Zeichenkörper poetisierbar zu sein. Die Gestalthaftigkeit der Form liegt in diesem Modell in der Regelmäßigkeit der poetisch gegliederten Ausdruckssubstanz, der eine semantische Gliederung locker folgt. In der poetischen Tradition ist dieser Formbegriff mit dem Konzept innerer Anschaulichkeit (Willems 1989) verbunden worden, um der gegliederten Ausdruckssubstanz ein Korrelat auf der Inhaltsebene zu geben, welches sich an das Paradigma der Visualität anlehnt. Form C legt den Schwerpunkt auf die Kontur, also auf Figur und Gestalt, aber nunmehr als skizzenhafter Umriss, als Zeichnung, als visuelle Darstellung von Formen, ohne die Anmutung massiver Materialität. Hier dominiert die Gestalthaftigkeit gegenüber einer internen Intensität der Ähnlichkeiten und Parallelen. Allerdings unterliegt Gestalthaftigkeit auch einem Abstraktionsprozess: Sie wird zweidimensional verstanden, während Gestalthaftes in der Regel dreidimensional ist. Die Umrisszeichnung lässt sich von diesem Gesichtspunkt her geradezu als diejenige auf Visualität ausgerichtete Verfahrensweise verstehen, die die Anschaulichkeit der Gestalt zu ihrem wesentlichen Darstellungsziel macht, aber vom Tastsinn abstrahiert. Es liegt eine literarische Adaptation dieses Formbegriffs nahe: Als Skizze ließe sich der rahmende Entwurf einer literarischen Szene denken, als Szene der Interaktion im Drama, als Szene der Handlung in der Erzählung, als Sprechszene in der Lyrik. Die Szene als solche wird in der Dichtung in der Tat eher nur als skizzenhafte Rahmung für Interaktion, Handlung oder Sichaussprechen entworfen und kaum je als eigene Realität ›ausgemalt‹. Das tatsächliche Ausbuchstabieren der Szene über das Skizzenhafte hinaus würde wohl zu spezifischen literarischen Paradoxien führen, wie sie etwa Peter Weiss in Der Schatten des Körpers des Kutschers (1960) im Versuch einer detailgetreuen Beschreibung vorgeführt hat, die infolge der Genauigkeit so verlangsamt und detailintensiv wird, dass sie darüber die Gestalthaftigkeit verliert. Mit Form D bezeichnet Tatarkiewicz die Entelechie bei Aristoteles als formende Energie, die jedem Wesen angehört und die dessen inneren Kern, verstan-
14.1 Zum Begriff der poetischen Form
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den als generative Tätigkeit, ausmacht. Form ist die zielgerichtete Organisiertheit des ganzen Prozesses. In diesem Sinne bildet sie das Basismodell des Mimesisparadigmas. Dieser Formbegriff entspricht dem oben entwickelten. Gegenüber den bisherigen Formbegriffen tritt das Zeitmoment hinzu, ohne dass die Gestalthaftigkeit dabei verloren geht: Gestalt wird als sich entwickelnde gedeutet. Wohl deshalb ist gerade dieses Formmodell für die Dichtungstheorie so zentral gewesen. Form E behauptet die Existenz apriorischer Formen, die vor den Erscheinungen liegen und diese aus sich entlassen. Das antike Vorbild ist die Ideenlehre Platons, Kants apriorische Anschauungsformen Raum und Zeit und die apriorischen Kategorien verlegen den Apriorismus in das transzendentale Subjekt. Auch hier liegt ein intensiver Bezug zur Gestalthaftigkeit vor, insofern bei Kant die Konstruktionsleistung des transzendentalen Subjekts aus dem formlosen Stoff die dinghaft strukturierte, also geformte Erscheinungswelt erzeugt. Dieser Formbegriff spielt in transzendentalpoetisch angelegten Theorien eine Rolle, ist aber, da er auf die genotextuelle Ebene abzielt, auf die konkrete Aisthesis des poetischen Textes kaum zu beziehen. Überblickt man die referierten fünf Konzepte des Formbegriffs nach Tatarkiewicz, dann liegt eine Synthese nahe. Form hat in den Bildenden Künsten primär mit Gestalthaftigkeit zu tun, poetische Form hingegen primär mit dem Zeitcharakter des Textes. Es ist mithin eine zeitspezifizierte Form zu denken, also eine solche, in der Gestalthaftes im Formprozess erhalten bleibt. Literarisch sind es die poetischen Gattungen Drama, Erzählung und Lyrik, die bei Aristoteles schon in den Modi der Darstellung angedeutet sind und im Laufe der alteuropäischen Poetologiedebatten ausformuliert und intern ausdifferenziert werden. Aber über die Gattungsschemata hinaus geht mit dem Formparadigma eine erhöhte Gestalthaftigkeit einher. Das Visualitätsparadigma, das sowohl mit Proportion, Symmetrie, Kontur, Skizze als auch mit der Einheit der Idee verbunden ist, lässt sich auf die Dichtung in der Weise übertragen, dass ihr eine Fokussierung auf ein Thema (Idee) nahegelegt ist, realisiert durch die Einheit der Szene oder der Situation (Skizze), weitergeführt durch die Komposition solcher Szenen im Gesamtgang der Handlung, Interaktion oder des Sichaussprechens (Zeitdimension als fortlaufend proportionierte Komposition). Formbezogene Dichtung ist mithin eine solche, die Gattungsschemata folgt und thematische Fokussierungen mit darauf zugeschnittenen Szenen und Handlungsplänen so verbindet, dass dabei Proportion und Symmetrie auf Textebene, also in der Abfolge der Handlungseinheiten entstehen. In den Überlegungen zur Kunst der Prosa (s. o.) wurde entsprechend der Rhythmusbegriff auf die gestaltete Abfolge von Figurenauftritten, Schauplatzwechseln und Handlungsaufbau angewandt.
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14 Negativität
14.2 Form versus Selbstreferenz Folgt man der Gliederung von Tatarkiewicz und verbindet man sie mit den von Aristoteles herkommenden Zeitbestimmungen, dann zeigt sich, dass literarische Form auf zeitlich prozedierender Gestalthaftigkeit basiert. Deshalb kann ästhetische Form keine allzu forcierte Verdichtung durch die Verfahren der Poetizität zulassen. Die Zeitcharakteristik der rekursiven Rückwendung widerspricht dem entelechischen Grundmodell von poetischer Form. Vor allem aber verträgt Form nur ein mittleres, gestaltkompatibles Niveau ästhetischer Verdichtung. Wenn Form auf Gestalt abzielt, dann muss sie sich so weit verdichten, dass die Gestalt ihre innere Stabilität gewinnt, aber sie darf die Verdichtung nicht bis zu dem Punkt vorantreiben, an dem die Gestalthaftigkeit durch zu viele Selbstbezüglichkeiten ihre Prägnanz verliert.159 Eine Skizze besticht durch die Ökonomie ihrer Linienzüge; sie hat darin ihre Stoppregel, dass die Linienzüge sparsam bleiben. Symmetrien und Proportionen sind darauf angewiesen, dass die Zwischenräume zwischen ihren taktgebenden Schwerpunktsetzungen nicht ausgefüllt werden; auch hier existiert also eine Stoppregel für mögliche rekursive Anwendungen. Gestalt und Form folgen einer gewissen Redundanz, sie haben ihren Zielpunkt im Mittelbereich zwischen dem Maximum der Verdichtung und dem Minimum der Erkennbarkeit. Form tritt dann in den evidenten Widerspruch zur Poetizität, wenn diese die in ihr angelegte Möglichkeit zu permanent fortlaufender Rekursion immer weiter ausspielt. Aus dieser Beschreibung lässt sich umgekehrt aber auch ersehen, dass Poetizität qua Selbstreferenz und Form qua anschaulichem Gestaltparadigma sehr wohl miteinander bestehen, sogar einander unterstützen können. Der etablierte Kanon klassischer Dichtung besteht weithin aus solchen Texten, in denen der Konflikt zwischen Selbstreferenz und Form nicht aufbricht. Ein gewisses temperiertes Maß an Verfahren der Poetizität unterstützt die Gestalthaftigkeit der Form. Ein Sonett etwa stabilisiert seine Form durch eine Steigerung klanglicher Korrespondenzen in seinem sprachlichen Material und durch weitere Verfahren interner Motivierung des Syntagmas. Weil dies für die meisten Sonette gilt, wird gemeinhin deren starke Korrespondenz von Form und Poetizität betont. Dass beides aber genuin unterschiedliche Prinzipien sind, die ihre Unterschied-
Das Argument gehört zum Kernbestand der ästhetischen Theorie bei Baumgarten: Die Prägnanz der veritas aestheticologica (Form) darf nicht durch die Überfülle der veritas aesthetica (vor der Form: die Fülle des Sinnlichen) gefährdet werden, während die andere Überfülle der veritas metaphysica, nämlich die nach der Form liegende vollständige logische Durchdringung des Sinnlichen, nur der Selbstbezüglichkeit Gottes zugänglich ist. Vgl. zu dieser Terminologie Berndt 2011, 84–88; Paetzold 1983, 35–37; Simon 2013, 32–35.
14.2 Form versus Selbstreferenz
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lichkeit insbesondere dann zutage treten lassen, wenn die poetische Selbstreferenz ihre Register aktualisiert, ist erst in jenen Fällen zu erkennen, in denen die Form nachhaltig gestört wird, etwa in den durch gesteigerte Selbstreferentialität ausgezeichneten Sonetten Rilkes. Um kurz ein Beispiel zu geben: ATMEN, du unsichtbares Gedicht! Immerfort um das eigne Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, in dem ich mich rhythmisch ereigne. Einzige Welle, deren allmähliches Meer ich bin; sparsamstes du von allen möglichen Meeren, – Raumgewinn. Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon innen in mir. Manche Winde sind wie mein Sohn. Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte? Du, einmal glatte Rinde, Rundung und Blatt meiner Worte. (Rilke 1997, 81)
Rilkes große Kunst besteht darin, Sonette zu schreiben, die eine prekäre Mitte zwischen Form und Selbstreferenz einhalten, aber immer Gefahr laufen, ihre Form zu verlieren. Blickt man auf diesen Text, so sieht man sehr schnell anhand der Anzahl der Verse und infolge des Reimschemas, dass es sich um ein Sonett handelt, während die unterschiedliche Länge der Verse zugleich Zweifel aufkommen lässt. Liest man den Text aber vor, fällt das Erkennen der lyrischen Form schon deutlich schwerer. Genau dies sagt der erste Vers: Das Gedicht ist unsichtbar, aber zugleich an das Atmen adressiert, also an die Mündlichkeit, welche dennoch von der komplexen Schriftlichkeit des Textes dementiert wird. Dass sich das Wort Gedicht auf das Wort Gegengewicht reimt, dies aber gegen die Syntax vollzogen wird, ist ein weiterer Hinweis auf die immanente Gegenstrebigkeit zwischen Form und Selbstreferenz. Offenkundig unterwandert die mit dem Reim gegebene Semantik die lyrische Form. Das rhythmische Sichereignen findet entsprechend im Weltraum, nicht aber im Gedicht statt. Oder aber: Das Gedicht weitet sich zum Atem des Weltraums und sprengt damit erneut seine Form. Im weiteren Verlauf wird das Lesen durch den Bildprozess in Anspruch genommen. Es liegen als bildaffine Momente vor: der Weltraum, das Meer, die Winde, schließlich die Vorstellung eines Baums. Aber diese Bildfragmente werden mit einer Semantik des Raums versehen, sodass nicht klar ist, ob die Bilder als thematische Vorwände nur dazu da sind, die Idee eines Raums hervorzurufen. Es gibt klare Hinweise auf Mündlichkeit: atmen, Rhyth-
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mus, Wind, Luft. Aber es gibt auch eine klare Schriftlichkeit: das Blatt meiner Worte. Spätestens hier ist die Lektüre schon ganz in der Sprache gefangen, es scheint vollkommen aussichtslos zu sein, eine externe Quelle der Nachahmung manifest machen zu können. Der Text besitzt zudem starke phonetische Binnenverstrebungen, so etwa das Wort ›Blatt‹ in Korrespondenz zu ›glatt‹ in den letzten beiden Versen oder die Abfolge von ›innen in mir‹, ›Winde‹, ›sind wie‹. Das sind starke phonetische Korrespondenzen, die im Prozess des Vorlesens das Reimschema, welches das Sonett gattungskonform konstituiert, in den Hintergrund drängen. Ist es also ein Sonett? Die Antwort kann nur uneindeutig sein. Der Text arbeitet durch die Installierung einer ganzen Reihe von sprachlichen Selbstreferenzen intensiv daran, die Form zurückzudrängen. Rilkes Kunst besteht darin, das eine und das andere gleichzeitig tun zu können, also Form zu bewahren und Selbstreferenz zu forcieren. Man bräuchte die Komplexität der sprachlichen Selbstreferenz nur um ein Weniges fortzuführen, dann wäre das Sonett nicht mehr wahrnehmbar und der Text könnte seinen Gang in Richtung Komplexität und auch in Richtung Unlesbarkeit weitergehen. Rilke hält hier inne. Dieses Innehalten führt auf den strukturellen Grund dafür, dass Lyrik traditionell das Paradigma für Poetizität bildet, seit den Poetiken der Renaissance und des Barock bis hin zu Roman Jakobson. Denn Gedichte loten die Möglichkeit aus, poetische Selbstreferenz bis zu dem Maximum zu treiben, an dem diese noch mit Form kompatibel ist. Lyrik ist gewissermaßen der Name für die gelingende Indienstnahme der Selbstreferenz durch Form. Indem Lyrik ihr formkonstitutives Moment, die Versförmigkeit, betont, muss sie die Selbstreferenz verskompatibel halten und folglich die Verlaufsform der Verssequenz affirmieren. Bis zu diesem Punkt bilden Form und Selbstreferenz keinen Widerspruch. Die Behauptung lautet, dass die Differenz von Form und Selbstreferenz vor allem in avancierter Prosa sichtbar wird. Hier ist die Lust an der Selbstreferenz stärker als der Wille zur Form. Rilkes Sonett befände sich in diesem Sinne genau auf der Grenzscheide zwischen lyrischer Form und Prosa. Prosa als solche würde schnellere, engere Selbstreferenzen vollziehen; sie hat keine Zeit für die Länge des Verses; sie wendet schon das Wort, schon den Buchstaben im Wort, sie wendet auch den Satz gegen sein Telos und damit implizit ebenfalls den Vers gegen seine Parallelität zum Nachbarvers. Es lässt sich für die übergeordnete Fragestellung einmal mehr die wesentliche Schlussfolgerung ziehen: Form und Poetizität (als sprachliche Selbstreferenz im beschriebenen Sinne) sind ungeachtet ihrer häufig auftretenden Konkordanz dennoch zwei grundlegend verschiedene Prinzipien, die ihre Verschiedenheit, ja eigentliche Gegenläufigkeit gerade in der fortgeschrittenen Prosa zum Austrag bringen. Im Fall der Prosa realisiert sich die Poetizität als volle Darstellung der
14.2 Form versus Selbstreferenz
331
Grammatik der Poesie mit ihrer grundlegenden Energie der Zerteilung – und dies unterwandert zuerst und vor allem die Form. Für traditionelle literaturwissenschaftliche Argumentationsziele, deren Korpuswahl im mittleren Bereich einer gewissen Normalität des Kanons verbleibt, mag die Betonung der Differenz von Form und Poetizität nicht nahe liegen. Die fortgeschrittene Prosa jedoch verlangt die Notwendigkeit, einen Gegensatz herauszuarbeiten, der im Normalfall literaturwissenschaftlicher Theoriebildung sonst wenige Evidenzen besitzt. Man kann an dieser Stelle besser verstehen, warum bislang keine Theorie der Prosa in der Literaturwissenschaft vorgelegen hat. Eine solche erfordert die Zerschlagung eines Konsenses, nach dem Form und poetische Selbstreferenz einander wechselseitig unterstützen, zumeist sogar als zwei Aspekte derselben epistemischen Einheit gesehen werden. Die hier unternommene starke Profilierung der Poetizität mit ihrem negativistischen Implikat der Zerteilung hat entsprechend eine tiefgreifende Umsortierung der alten Poetik zur Folge. Nicht mehr die Lyrik, sondern die Prosa gilt nun als das Paradigma poetischer Verdichtung – und wenn die Lyrik herangezogen wird, dann nur, weil in ihr das Gegenprinzip Prosa schon am Werk ist. Oswald Eggers Dichtung bildet dafür das Modell. Man wird an dieser Stelle der Argumentation vielleicht einwenden wollen, dass der bislang exponierte Formbegriff noch nicht der komplexeste gewesen ist, dass also der Theorieakteur ›Form‹ noch nicht in seiner stärksten Variante gegen den Widersacher ›Poetizität‹ anzutreten die Gelegenheit hatte. Tatsächlich erfährt der Formbegriff der alten Poetik im achtzehnten Jahrhundert eine erhebliche Vertiefung, die thematisiert werden muss, um die tatsächliche Pointe einer doppelten Überbietungsfigur – vor der Form und nach der Form – plausibel machen zu können. Es wird sich zeigen, dass der Formbegriff selbst schon den Ort für sein ihn in Frage stellendes Gegenteil bereitet. Für das achtzehnte Jahrhundert lässt sich der Formbegriff aus dem Prozess eines Rückbaus der prästabilierten Harmonie bei gleichzeitiger Beibehaltung des Konzepts der Monade beschreiben (Simon 2016c). Wenn den Monaden ihre bei Leibniz durch Gott garantierte Synchronisierung abhandenkommt, dann bleibt eine Theorie radikal konstruktivistischer Subjektivität übrig, der kein ontologisches Ordnungsraster mehr entspricht. Kant versuchte, die derart freigelassene Konstruktion durch die Behauptung eines determinationsgesetzlich produzierenden transzendentalen Subjekts wieder einzufangen. Moderner freilich sind die Konzepte von Herder und Moritz, die die Schlussfolgerung ziehen, dass die am Material der Wahrnehmung sich vollziehende Formgebung des Subjekts ohne metaphysischen und ontologischen Ordnungsrahmen zu einer offenen und relativistischen Epistemologie subjektiv bleibender Formvorschläge führt. Moritz vollzieht mit seinem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sodann den konsequenten Schritt einerseits in die Analyse der Psychopathologie, dem andererseits, als zweite Lösungsoption,
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14 Negativität
die Autonomieästhetik entspricht (Simon 2013, 117–140). In einer Situation, in der eine an sich chaotische Wahrnehmung jeweils nur durch temporäre Akte der Formung stabilisiert werden kann, werden nach Moritz die Subjekte entweder wahnsinnig, sie unterliegen einer biopolitischen Normierung oder sie flüchten sich in die Gegenwelt ästhetischer Kunstautonomie. Der Begriff der ästhetischen Form gewinnt in dieser Konstellation eine deutliche Aufwertung, die ihn ebenso entschieden überfordert. Weil ästhetische Form an die Wahrnehmungstheorie, also an die von einer ontologischen Ordnung freigelassene Formung des Stofflichen gebunden wird, steht in der Frühgeschichte der ästhetischen Theorie die permanente Kopplung von Anthropologie und Ästhetik im Zentrum (Solms 1990). Die Kunst bekommt die Aufgabe, das nunmehr anthropologische Grundproblem der Synchronisierung mit der Welt leisten zu müssen. Nur deshalb kann Schiller von einer anthropologischen Pädagogik der Kunst (›ästhetische Erziehung‹) sprechen; der in diesem Zusammenhang auftauchende Bildungsbegriff versucht eben genau dies zu leisten. Ästhetische Form wird somit zu einem Synchronisationsmodus der Wahrnehmung, dem letztlich aufgetragen ist, das metaphysisch freigewordene Scharnier der prästabilierten Harmonie neu zu besetzen. Das Formparadigma wird also entschieden tiefer gelegt, als es in dem Formbegriff B nach Tatarkiewicz der Fall gewesen ist. War in der traditionellen, an der Rhetorik ausgerichteten Mimesispoetik das sinnliche Formmoment als Versifizierung (Metrum und Reim) bestimmt und die Signifikatseite des Zeichens als Inhalt, so ist mit der Anthropologisierung des Formbegriffs nunmehr das Sinnliche als Stoff der Wahrnehmung und die Form als deren ästhetische Vereinheitlichung gedacht. Das Gestaltmoment ist bei dieser Transformation dem Formbegriff inhärent geblieben. Es hat also ein aufschlussreicher Wechsel der Begriffsmomente Inhalt und Form stattgefunden: Das Sinnliche (Aisthesis, bei Baumgarten: veritas aesthetica, s. o.) ist zum Inhalt geworden, den die Form (bei Baumgarten: veritas aestheticologica, s. o.) in die Einheit des Mannigfaltigen, ausgerichtet am Synthesismodus des Kunstwerks, zu bringen hat. In diesem Prozess bleibt die Qualifikation erhalten, dass die sinnliche Seite des dichterischen Textes, also die Modellierung der Ausdruckssubstanz, nach wie vor mit dem Begriff der Form angemessen bezeichnet ist. Die beiden Begriffe Form und Inhalt geraten also in ein die Seiten tauschendes Wechselspiel, sie treten letztendlich in eine Bewegungschoreographie ein, für die der Begriff des Chiasmus angemessen ist. In dem neuen, autonomieästhetischen Begriff der Form sind somit die Unterbegriffe Form versus Inhalt wechselwirkende Bestimmungen, sodass mitunter auch Form als sedimentierter Inhalt (Adorno 1981, 210) hat bezeichnet werden können.
14.2 Form versus Selbstreferenz
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Aus dieser Beschreibung wird deutlich, dass der anthropologisch fundierte Begriff ästhetischer Form seit dem achtzehnten Jahrhundert als komplexe Kombination der von Tatarkiewicz getrennten Formbegriffe zu rekonstruieren ist, in der der transformierte Formbegriff B zusammen geht mit Entelechiemodellen (Form D) und teilweise mit apriorischen Formen (Form E). Die chiastische Verschränkung von Form und Inhalt lässt sich insbesondere auch an der Genieästhetik ablesen, in der beide Momente im Akt der schaffenden Poiesis zusammenfallen. Das Genie partizipiert an der natura naturans, es ahmt nicht mehr die natura naturata nach. Einflüsse Spinozas, Leibniz’, Shaftesburys und anderer (Schmidt 2004), resultierend in einer Neujustierung des Ebenbildgedankens (Blumenberg 1981b) führen dazu, dass dem Menschen zugetraut wird, Zugang zum die Natur schaffenden Prinzip zu gewinnen, eben weil dieses Prinzip in der Natur selbst tätig ist. Kant schreibt: »Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer anderen Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt.« (Kant 1974, 168 = § 49) Im Genie also gibt es ein produktives Erkenntnisvermögen, dieses hat Schaffenskraft, aber eben nur ›gleichsam‹, nämlich in Bezug auf eine andere Natur. Diese andere Natur ist der Bereich der kulturellen Artefakte; sie bestehen »aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche [Natur] gibt«, sind aber dennoch etwas Neues. So kann das Genie einen Eigenbereich reklamieren. Es holt sich seine Legitimation daraus, dass es Kontakt mit dem Schaffenszentrum der natura naturans aufnehmen kann. Das Kunstwerk ist somit ein Analogon der Schöpfung, ein strukturanaloger Vorgang zu Gottes Schöpfung. Kunst ahmt nicht mehr Vorhandenes nach, sondern sie ist im Kunstwerk prozessgewordene Darstellung der durch das Subjekt verantworteten Welterfassung – wobei diese keinesfalls mit einem beliebigen Subjektivismus zu verwechseln ist. Was heißt das für den Begriff der Form? Die Regelpoetik mit ihrem Mimesisbegriff hat ebenso ausgedient wie die Rhetorik. An die freie Stelle tritt das Genie. Aber welche Formen erzeugt es? Kant: Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt. (Kant 1974, 160 = § 46)
Das produktive Vermögen des Künstlers gehört der Natur an, also gibt die Natur selbst die Regel, sie bedient sich des Genies quasi nur als Medium. Form kann folglich kein Konzept mehr sein, welches über formulierbare und allgemeine Prinzipien darzustellen wäre. Form folgt dem Rhythmus des mit der Kraft der schaffenden Natur kurzgeschlossenen und sie artikulierenden Genies. Letztlich wird Form zum Explikationsmodus des Künstlers, dessen Subjektivität vorgängig
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durch die Einschreibung in die natura naturans den Status objektiver Schöpfungskonkordanz zugesprochen bekommen hat. Ästhetische Form expliziert die Art und Weise, mit der ästhetische Subjekte den Rohstoff der Aisthesis zu bewältigen vermögen. Im Gegensatz zu Gott kann dies für endliche Wesen nur in der Zeit, prozesshaft, stattfinden. Stärker noch als im Entelechiemodell wird deshalb ästhetische Form zu einem zeitlich sich auslegenden Aneignungsprozess von Welt durch personalisierte, aber zugleich als exemplarisch gesetzte ästhetische Subjektivität. Die interessante Pointe der Genieästhetik besteht freilich darin, dass sie trotz des Bezugs auf die natura naturans durchaus nicht zu einem ontologischen Ordnungsmodell zurückkehrt. Tatsächlich wird die Objektivität vor allem als Verfahrensanalogie des Produzierens, nicht aber als Festlegung auf eine Ordnung verstanden. Insofern treibt die Genieästhetik die Individualisierung und den ästhetischen Nominalismus weiter voran und verschärft damit die Problematik, dass Formprozesse immer diejenigen einer Monade ohne prästabilierte Harmonie sind. Erst durch diese breit angelegte Transformation des Formbegriffs wird die Frage nach dem, was vor und was nach der ästhetischen Form liegen könnte, zu einer anspruchsvollen Frage. Im Mimesisparadigma der alten Poetik ist der Formprozess eingebettet in ein Referenzmodell und in ein Rezeptionsmodell. Beiden kommt Form zu: Die Welt der vor der ästhetischen Form liegenden Praxis (Ricœurs Mimesis I) enthält die Handlungs- und Interaktionsformen, die Welt der nach der ästhetischen Form liegenden Rezeption (Ricœurs Mimesis III) enthält die Einbindung ästhetischer Bildung in die gesellschaftliche Lebenswelt. Vor und nach der ästhetischen Form liegen also Formen; es handelt sich – wie schon bemerkt – um einen Formmonismus. Dies ist mit der anthropologischen Wende des Ästhetischen – oder besser: mit der Geburt des Ästhetischen aus den Problemen radikal subjektiver Aisthesis – anders geworden. Dasjenige, worauf bei Baumgarten die Form (veritas aestheticologica) reagiert und die Antwort sein will, ist die undurchdringliche Dichte der Aisthesis (veritas aesthetica). Vor der Form liegen also nicht andere Formen, sondern das Formlose, der reine Stoff, wahrnehmungstheoretisch die petites perceptions (Simon 2016c), die in der Seele den fundus animae bilden (Adler 1988), in welchem lauter undurchdringliche und individualisierte Klumpenbildungen von unbewusst aufgenommenen Wahrnehmungsteilchen sich ohne erkennbare Struktur nur in zufälliger Ordnung versammeln. Die neue, aus der Anthropologie und Wahrnehmungstheorie entstehende Ästhetik und Poetik erzeugt im achtzehnten Jahrhundert also die Idee der reinen Stofflichkeit.160
Einige kurze Hinweise zur Idee des Stoffes (ein Begriff von: Agamben 2003, 17): In Baumgarten Aesthetica finden sich im Zusammenhang der opaken Fülle der Wahrnehmung (veritas
14.2 Form versus Selbstreferenz
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Ihr entspricht eine deutlich veränderte Situation nach der Form. Bei einer derart individualisierten Kunst wäre die in der Rezeption erwartete Übertragung in eine gesteigerte lebensweltliche Qualität sowieso schon problematisch. ›Nach der Form‹ kann hier nicht heißen, dass sich Steigerungen der Form finden würden; dies würde immer noch in den Bereich der Form selbst fallen. Nach der Form jedoch gibt es eine Reflexion, die die grundsätzliche Inkompatibilität des Stofflichen mit der sie bewältigenden Form thematisiert. Baumgarten spricht in diesem Zusammenhang von dem Verlust, den die veritas aestheticologica an der veritas aesthetica erfährt, wenn sie deren Dichte zur Form glättet (Baumgarten 2007, 534–539 = §§ 558–560). Dieses Verhältnis ist als reflektiertes selbst keine Form, sondern die Einsicht in eine notwendige Insuffizienz jeglicher Form. In dem Moment, in dem sich das Bedürfnis artikuliert, auf der Ebene der symbolischen Artikulation ein Pendant zur vorsymbolischen Dichte der Aisthesis haben zu wollen, wird der nur relative Erfolg der Form vor allem von der Seite des Verlustes her thematisch. ›Nach der Form‹ ist also nicht nur der reflexionslogische Ort, der die der Form immanente Dialektik bedenken kann, sondern es ist auch der Ort, der mit der Einsicht in die Inkompatibilität jeglicher Form überhaupt das Bedürfnis nach einer symbolischen Performanz entstehen lässt, welche angemessener auf das antwortet, worauf die Form ihrerseits eine Antwort hat sein wollen – auf die Darstellung von Dichte, reiner Stofflichkeit, opaker Materie. Dies ist der Ort der Prosa. Es lässt sich nun aus den verwundenen Gängen der Rekonstruktion des Formbegriffs ein Fazit ziehen. Vormodern ist poetische Form zeitlich prozessierte Gestalthaftigkeit. Sie integriert vor der Form liegende Praxis mit ihren Protoformen und nach der Form liegende Rekonfiguration in einen sich stetig ausdifferenzierenden Formmonismus.161 In der Moderne werden diese Bestimmungen
aestheticologica) Begriffe wie Wald oder Chaos (Baumgarten 2007, § 564). Bei Moritz wird der dunkle Grund der Seele – fundus animae (s. Adler 1988) – zum undurchdringlichen Stoff, ebenso bei Herder, dessen Frühschrift Versuch über das Sein (Herder DKV I, 9–21) zu einer Idee des Stoffes vordringt. Jean Pauls Ästhetik lässt sich als gegen die Form gerichtete Theoriebildung, mithin als Theorie des Stoffes interpretieren (Dell’Anno 2018, Simon 2018b). In der germanistischen Literaturwissenschaft ist in den letzten Jahren eine erstaunliche Renaissance des Formbegriffs zu beobachten. Eine Reihe von Tagungen und ebenso etliche prominent platzierte Publikationen machen deutlich, dass zumindest einflussreiche Strömungen im Fach dem Formbegriff treu und darin der Sache nach dem Goethe-Paradigma verhaftet geblieben sind. Rüdiger Campe konzipiert Form als Weiterformung von Geformtem – also monistisch –, interessanterweise gerade bei der Frühromantik, in deren Schrifttum genug Material vorhanden wäre, um Gegenpositionen zur Form zu finden (Campe 2009, 189; Campe 2014, 111 f., 115–118). Eva Geulen versteht Form als Leben, dieses als Permanenztransformation von Formen inklusive sprunghaften Umschlagens von Formlosigkeit in Form, zusammengehalten aber durch
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14 Negativität
transformiert. Form ist gestalthafte Bewältigung einer vor der Form liegenden opaken Dichte der Wahrnehmung, während nach der Form eine Selbstreflexion auf die Insuffizienz der Form stattfindet. Der aristotelische Formmonismus ist insofern zerbrochen, er wird zuweilen in klassizistischen Kontexten aufgenommen. Das Projekt einer Theorie der Prosa ist nur aus einer klaren Opposition zum Formparadigma zu denken. Wenn Prosa die Grammatik der Poesie möglichst vollständig ausformuliert und diese zum primären Textfokus erhebt, dann entsteht eine Textualität der permanent rekursiven Verdichtung, der steten Selbstreferenz, also eine Textualität, welche das Gestalt- und Anschauungsparadigma des Formbegriffs sprengt. Die Grammatik der Poesie hat im grundsätzlichsten Sinne die Zerteilung zur Voraussetzung, und sie rekombiniert die atomistisch gewordenen Elemente durchaus nicht zu erneuten Formen. Somit wird evident, dass die Prosa sich in doppelter Weise gegen die Form stellt. Sie referiert auf eine opake Dichte vor der Form und formuliert eine eben solche Verdichtung als nach der Form liegende poetische Selbstreferentialität. Will man Prosa in diesem Sinne denken, dann ist das für die Tradition der alten Poetik vorherrschende Paradigma des Formbegriffs mitsamt seiner immanenten Teleologie durch ein anderes Paradigma abzulösen. Der Traditionsmächtigkeit der alten Poetik sind also andere geistesgeschichtliche Narrative entgegenzustellen: Es sind vor allem solche, die scharfe Trennungen, Abbrüche, dualistische und materialistische Konzepte bevorzugen. Sucht man nach solchen Argumentationsformationen, dann sind nunmehr die Optionen klar benennbar. Vormodern können es nur antimonistische und Teleologie bestreitende, also weithin dualistische Modelle sein, die die poetische Form so weit aufbrechen, dass andere poetische Integrationsweisen –die der poetischen Selbstreferenz – zum Tragen kommen. Zu denken ist an stark dualistische Ausprägungen des Christentums, wie sie in diesem Buch an etlichen Stellen diskutiert wurden. Vor allem ist die Gnosis naheliegend, von der bekanntlich wesentliche Bestandteile in das Christentum aufgenommen wurden. Als nicht teleologisches Modell rückt der antike Atomismus in den Fokus. Insgesamt werden Konzepte interessant, die einen starken, nicht mehr integrierbaren Begriff des Formlosen oder des Stoffes (Materie) besitzen. Solche Zu-
das Analogieprinzip (Geulen 2016). David Wellbery entwickelt seinen Formbegriff aus Goethes Platonismus, verlegt ihn aber in eine endogene Prozessualität (Wellbery 2014). Offenkundig liegt eine aufschlussreiche Gegenwendung von Autorinnen und Autoren, die vormals durchaus rhetoriktheoretisch und dekonstruktivistisch gearbeitet haben, vor. – In den erwähnten Überlegungen spielt aber die Möglichkeit, den Begriff der Dichtung von einem tiefer angelegten Konzept poetischer Selbstbezüglichkeit aus zu denken, keine entscheidende Rolle, sodass dem Formbegriff in den genannten Debatten das Gegenkonzept vorenthalten bleibt.
14.3 Negativistische Denkmodelle: Materie
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sammenhänge werden im folgenden Kapitel, jeweils mit der Thematisierung der Unterscheidung Vor-der-Form und Nach-der-Form, aufgearbeitet werden. Erst auf der Basis solcher geistesgeschichtlichen Narrative lässt sich dann abschließend die Frage der poetischen Negativität angehen.
14.3 Negativistische Denkmodelle: Materie 14.3.1 Gnosis In einem instruktiven Aufsatz entwickelt Georges Bataille (2000) eine alternative Lesart der Gnosis. Normalerweise wird das System der eher locker verbundenen gnostischen Lehren als dualistische Metaphysik nacherzählt, in der in Gott befindliche untergeordnete Instanzen für die Weltschöpfung verantwortlich gemacht werden, während sich Gott selbst aus Enttäuschung über die misslungene Welt in ein entferntes Jenseits zurückzieht. Schöpfungsinstanz und Erlösergott werden in der Gnosis getrennt, entsprechend entsteht ein radikaler Dualismus, der eine vorderhand plausible Antwort auf das im Christentum ungelöste Theodizeeproblem anbietet. Wenn Gott die Welt nicht verantwortet hat und allein für die in der Ferne liegende Erlösung zuständig ist, dann kann die Welt in ihrer schweren Materialität als misslungene und zu verneinende Welt dargestellt werden, ohne dass dafür der Erlösergott belangt werden muss. Die Perspektive auf die Erlösung bleibt somit intakt.162 Bataille erzählt das Grundmotiv der Gnosis nicht von dieser metaphysischen Idee her. Für ihn liegt die Evidenz der Gnosis in einer Obsession oder Begierde, in dem Exzess einer unreinen Materie, die zu denken nur sekundär eine Metaphysik in Anspruch genommen hat. »Es ist praktisch möglich, als ein Leitmotiv der Gnosis den Begriff der Materie als ein aktives Prinzip anzugeben, einer Materie von ewiger autonomer Existenz, die die der Finsternis ist (die nicht die Abwesenheit von Licht wäre, sondern die durch diese Abwesenheit offenbarten monströsen Archonten), die des Bösen (das nicht die Abwesenheit des Guten, sondern ein schöpferisches Tun wäre).« (Bataille 2000, 11) Es ist eine »obskure Voreingenommenheit für eine Niedrigkeit« (Bataille 2000, 12), die sich in der Gnosis artikuliere. Der niedere Materialismus allein ist es, der nach Bataille nicht einfach nur als Kontrepart aus dem absoluten Idealismus ableitbar ist. Vielmehr ist die Gnosis nach dieser Lesart in der europäischen Geistesgeschichte die erste und vielleicht auch
Zu diesem etablierten Narrativ der Gnosis vgl.: Jonas 2008, 69–75; Brankaer 2010, 22–30; sehr ausführlich Rudolph 1980, 59–293.
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14 Negativität
die einzige Position, deren Materialismus sich nicht dialektisch an ein absolutes Prinzip bindet. Schon die Entstehung der Weltschöpfung im inneren Kräftespiel Gottes wird als Schwerwerden der Materie, als sich nach unten senkender Eigensinn, als egoistische Konzentration in sich ohne Bezug auf das Licht Gottes beschrieben. Die Welt selbst erscheint so als vollkommen hoffnungslose Materialität, die in ihrer eigentlichen Substanz unendlich dicht und schwer ist und keinerlei geltende Form, vielleicht überhaupt keine Form – außer scheinhaften Chimären – besitzt. Macht man sich die Erzählperspektive von Bataille zu eigen, dann erscheint die Gnosis als das seltsame Konzept, einen niedrigen Materialismus vor der Form und eine negative Erlösungstheologie nach der Form zu behaupten, ohne in der Mitte überhaupt eine Form zu haben. Der Gnostiker betrachtet die Weltimmanenz als den heillosen Zusammenhang des Misslungenen, welches freilich in einer kaum durchdringlichen Dichte vorhanden ist. Und er erhofft sich eine Erlösung, die sich in so weiter Ferne hinter allen Paradoxien negativer Theologie versteckt, dass sie durch keinen noch so subtilen theologischen Begriffsapparat auch nur annäherungsweise formuliert werden könnte. Was dem Gnostiker übrig bleibt, ist also faktisch nur die Materie, die er verneint und von der er doch dunkel angezogen wird. Da sie an sich negativ ist, so wie alles in der Welt, kommt ihr keinerlei Relevanz für die Frage der Erlösung zu. Der Gnostiker kann aus Ekel vor der Materialität seinen Körper kasteien und einer strengen Askese unterziehen. Er kann aber aus demselben Ekel heraus auch die schamlosesten Exzesse praktizieren, vielleicht aus der kaum artikulierbaren Hoffnung heraus, eben dadurch den Körper zu negieren und unter Umständen doch das Eingreifen des empörten Erlösungsgottes zu provozieren. Welche der beiden Optionen auch gewählt wird, die Materie erscheint hier als vollständig niedere Negativität, und der Gnostiker bleibt ständig an sie gebunden, in der Askese wie im Exzess. Hinsichtlich des Formbegriffs liegen die Konsequenzen des gnostischen Denkens auf der Hand. Jede in dieser Welt glückende Form wäre unmittelbar die Lüge, dass die Welt vielleicht doch nicht heillos misslungen sein könnte. An der gnostischen Polemik dem Christentum gegenüber lässt sich dies besonders deutlich machen. Die Gnosis kritisiert, dass der Christ eben deshalb den Weg zur Erlösung verfehlen muss, weil der Glaube an den inkarnierten Gott eine viel zu einfache Idee ist, welche in der Erlösungstat Christi eine Immanentisierung vorgaukelt, die nur scheinhafter Natur sein kann. Entsprechend ist Christus ein Dämon der falschen Erlösung, eine perfide Täuschung einer allzu einfachen Seligkeit. Er ist eine scheinhafte Form (Doketismus). Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, das kein Gott sei (JP I/2, 270–275) lässt sich kohärent als eine doketistische Entlarvung des christlichen Erlösungsversprechens lesen (Simon 2016d). Die Relation von formloser Materie und Form gestaltet sich in der Gnosis so, dass ent-
14.3 Negativistische Denkmodelle: Materie
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sprechend zur ontologischen Schwere des niederen Materialismus die Form zum bloßen leichten Schein wird, zum Trugbild, zur Nichtigkeit jeglicher Gestalt. Jean Pauls Käuze – Katzenberger, Schmelzle, Vierneissel etc. – stehen insofern unter Gnosisverdacht, als sie in verquerem und selbstdestruktivem Humor jegliche Position ihrer Scheinhaftigkeit überführen. Arno Schmidts Abend mit Goldrand ist in einer seiner Textebenen eine Gnosisallegorie, wie überhaupt Schmidts Werk vom Grundmodell der Gnosis geprägt ist (Noering 1982). Auch bei Joyce finden sich klare Gnosishinweise (Kaufman 1971; Landess 1979) und Michael Lentz’ Schattenfroh nimmt in der Beschreibung des Strafkreislaufes in Boschs Höllendarstellung dessen Gnosis mit in sein Textrepertoire auf (Lentz 2018, 195–205). Eine prägnante Gnosisdarstellung schreibt Schmidt in Caliban über Setebos. Das ›Tier, das es nicht gibt‹ ist im folgenden Zitat ein im Liebesakt zu einer Einheit verschmelzendes Liebespaar, welches einem animalischen Sexus in einem schmuddeligen Hinterhof nachgeht. Die Szene der Defäkation ist die aus dem Akt folgende Weltgeburt: Dann begann das Thier, das es nicht gibt – nennen wir’s den so genanten kosmokomischen Eros – sich wieder in seine beiden Hauptbestandteile aufzulösen: Zebra=Otto, mit der gegorenen Visage; und sie, die Namenlose, die ich nunmehr für mindestens seine Gemahlin zu halten entscheidende Gründe hatte. Sie ordnete still am Over=All. Ergriff dann ihren, sehr steil an der Wand harrenden Rechen; und verschwand dorthin, wo sie her gekommen war. / Erdagegen schlurfte, die Hose so gut wie abgestreift, matt über’n Hof; ziemlich zu mir heran, (ohne mich wahrzunehm’m: ’n Arsch wie’n Raiffeisen!). Ging am erhöhten Urstromufer des Misthaufens in die Hocke, Hitzblattern am Geräusche, (vgl. KEHREIN, ‹Waidmannssprache›. Der sich also auch die 4 Jägerinnen leidenschaftlich bedienen würden – muß ich mir, nachher ma, vorzustellen versuchn); legte dort stöhnend 1 sehr großes Ei; (und brauchte das Gesicht ob seiner=selbst nicht zu verziehen – was, z. B., ich stets tun muß – obschon es sich um ein’n Geruch handelte, auf den man mühelos hätte mit Fingern zeigen können, ilu mann=mann! Naja; der Alltag ist eben das elementarische Daseyn.) (Schmidt BA I/3, 498)
Die fortgeschrittene Prosa besitzt offenkundig eine Affinität zur Gnosis, als derjenigen Metaphysik, deren Negativismus am ausgeprägtesten ist. Weil Prosa mit ihrer Zerteilung ein umfassendes Gegenprogramm zum Formkonzept ausbildet, schreibt sie sich nicht selten eine gnostische Rahmung zu. Die Gedankenfigur Vor-und-nach-der-Form wird hier in der radikalen Weise verstanden, dass die Form als solche zum bloßen Schein degradiert wird oder, mit Schopenhauers Gnosisvariante zu sprechen, nur Wille und Vorstellung ist. Was in der Gnosis aufeinanderprallt, ist die niedere Materie einerseits und die nur in einer negativen Theologie aufscheinende Idee der Erlösung andererseits. Vielleicht ist keine Position in der abendländischen Denkgeschichte weiter vom Modell der aristotelischen Entelechie entfernt als der radikale Dualismus der Gnosis. Geistferne Materie und eine die Materie per se ablehnende Erlö-
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sung: Diese beiden extremen Positionen lassen keine substantiell erfüllte Mitte zu. Wo der Ort der Formen wäre, behauptet die Gnosis Scheingestalten. Die entsprechende Lehre, der Doketismus, schreibt Christus nur einen Scheinleib zu, leugnet also die Inkarnation, lässt folglich Gott von der Materie unberührt sein und entwertet den zu einem bloßen scheinhaften Dämon depotenzierten Jesus, der für die Gnosis nicht mehr der Sohn Gottes sein kann. In Arno Schmidts Abend mit Goldrand findet sich im ›Bild 30‹ eine Szene, die offenkundig den Annahmen des Doketismus folgt und die für die rudimentäre Handlung des Textes entscheidend ist. A&O kniet vor dem Sessel, in dem vorher Ann’Ev’ gesessen hat und gibt sich einer von ihm imaginierten Liebesszene hin, die von außen, durch das Fenster blickend, von Martina und Ann’Ev’ beobachtet wird. Plötzlich löst sich aus Ann’Ev’ eine zweite Ann’Ev’ und geht als scheinhaftes Bild in den Raum hinein, um A&Os bis dahin solipsistische Liebesimagination zu ergänzen. Es treffen sich zwei Scheinleiber im Raum der Imagination. Die Frage »Was ist das für eine Welt, in der Solches ist?« (Schmidt BA IV/3, 163) wird von Martina präzis beantwortet: »Nu so: BOSCH, und gleichzeitig EspnGeraschl.« (Ebd.) Die Welt, in der zwei imaginative Scheinleiber sich synchronisiert vereinen können, ist die ästhetische Welt, im Kontext des Textes also Boschs Garten der Lüste, angereichert mit poetischer Rede (»EspnGeraschl«). Die spätere Wolkenreise (Bild 52) stabilisiert diesen Bereich des Als-ob, der so intensiv den Sprung vom videtur zum lucet vollziehen möchte, für die Sequenz einer kurzen Reise in die Anderswelt, der bei Arno Schmidt so sehnsuchtsvoll die ontologische Stabilität der ersten Welt zugemutet wird. Gleichwohl, der Text lässt diesen Zwischenbereich sofort wieder kollabieren, indem er die Kunst in ihre Selbstreferenzen verstrickt und den Vermittlungsversuch systematisch dem Verdacht aussetzt, Ergebnis einer nur ästhetischen Inszenierung zu sein. Es etabliert sich keine stabile Form zwischen negativistisch materiebelasteter Welt und Erlösung. Es sind immer nur temporäre und letztlich auf sich selbst zurückfallende Selbstverhältnisse, die diese Prosa aufzubieten hat, trotz aller Anstrengung, ihren Immanenzen entfliehen zu wollen. Kunst, Liebe, Erlösung: Diese Positionen sind ekstatisch aufbrechende Gestalten des Scheins – Figura; gnostisch: Doketismus –, deren Verweis auf eine Einlösung ihres Versprechens offenbleibt. »Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird«, so Adornos gnosisaffine Bemerkung (Adorno 1981, 205). Auch bei Jean Paul lassen sich Gnosis und Doketismus (Simon 2016d, 48–51) umfangreich und über die Rede des toten Christus hinaus nachweisen. So ist die Fabelkonstruktion des Siebenkäs als die gnostische Befreiungsgeschichte von einem Scheinkörper (Siebenkäs’ Scheintod) lesbar und die Clavis Fichtiana als scheinhafte Verdopplungsphilosophie, in der dem Fichte’schen Idealismus der Gnosisvorwurf gemacht wird. Dem korrespondiert bei Jean Paul eine tiefgehende Kontraposition zum Formbegriff (Simon 2018b) bei gleichzeiti-
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ger Expansion aller möglichen Figuren der Selbstbezüglichkeit. Ähnlich wie bei Arno Schmidt führt der gnostische Dualismus von aktiv negativistischer Materie und transzendentem Erlösergott dazu, dass sich keine mittlere Position der Form etablieren kann. An ihre Stelle setzt sich eine Literatur der ausformulierten Selbstreferenzen, der die Signaturen der Erlösung entziffernden – aber eben nur entziffernden, nicht vollziehenden – Figura. Wollte man eine Poetologie der Gnosis entwerfen, so läge sie folglich nahe an den Grundbestimmungen der Prosa: Sie widmet sich der Dichte des niederen Materialismus in negativistischer Intensität und stellt gleichzeitig den unmöglichen Vergleich zur Erlösung auf, die als solche nur in den Paradoxiefiguren der negativen Theologie artikuliert werden kann. So entsteht eine Rede der permanenten Unangemessenheit, der unmöglichen Vergleichung von Materialität und Intelligibilität, ganz so wie die Szenarien Jean Pauls, der in seinen kosmologischen Unendlichkeitsträumen eine endlose Reihe von Äonenwelten entwirft, deren Vermittlung zur umfassenden Negativität seiner Vernichtungsträume vollkommen offenbleibt. Form kann hier nicht entstehen, sehr wohl aber das ganze Feld der Figuren und Tropen, der Ähnlichkeiten und Vergleichungen. Instruktiv für eine Theorie der Prosa ist, dass das Moment Vor-der-Form intensiv ausformuliert wird – als schlechte Unendlichkeit der Negativitäten dieser Welt – und dass das Moment Nach-der-Form als Erlösungsoption permanent einer exzessiven Entzifferungsarbeit unterliegt, die sich letztlich in ihren eigenen Paradoxien verstrickt, also selbstreferentiell bleibt. Jean Paul als formloser Autor: Dieser Gemeinplatz der Forschung entpuppt sich hier als geradezu notwendige Konsequenz aus einer Poetik der Gnosis. Form als Stabilisierung des Verhältnisses von Materie und Geist scheidet aus, während ihr Vorher und ihr Nachher zentral werden. Der Dualismus der Gnosis hat engste Affinitäten zur Theorie der Prosa.
14.3.2 Atomismus In einem angenommenen leeren, sich ins Unendliche ausdehnenden Raum163 würden sich die Atome im freien Fall befinden und ihrer Linie (Lukrez II, 217) folgend berührungslos nebeneinander existieren – so die atomistische Axiomatik bei Lukrez. Tatsächlich aber bilden sie Zusammenhänge, Klumpen, Aggregate. Lukrez nimmt deshalb an, dass ihnen von vornherein eine Art von Abweichung
Vgl. Lukrez I, 329 ff. und II, 958 f.: Tatsächlich ist das Ganze des Alls in keinerlei Richtung begrenzt, sonst nämlich hätte es einen äußeren Rand. Zur forschungsgeschichtlich grundierten Diskussion des Clinamen s. Noller 2019, 139–150.
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oder Clinamen zukommt (Lukrez II, 220–250, 289–293 u.ö.). Diese Abweichung scheint keine nur sekundäre Eigenschaft zu sein, sie gehört als Wesenseigenschaft der Atome zu den Anfangsprämissen des Kalküls.164 Es gibt, so wird angenommen, in den durch die Abweichungen entstehenden Zusammenballungen mehr oder weniger stabile Einheiten. Manche Klumpen zerfallen sofort wieder, andere besitzen eine starke innere Kohärenz, die den ihnen vorgezeichneten Verfall eine gewisse Zeit aufzuhalten vermögen. Unsere Welt ist das Ergebnis einer solchen Klumpenbildung mit interner Stabilität, aber auch sie ist dem letztendlichen Verfall ausgeliefert, da sich die Atome ständig bewegen und selbst aus stabilen Formationen ausbrechen werden. Lukrez findet für dieses Modell in seinem Sonnenstäubchentanz ein überzeugendes Denkbild: Für das, was hier dargelegt ist, kommt mir etwas Ähnliches, ein Bild in den Sinn, wie wir es tagtäglich vor Augen haben. Sieh nur genau hin, wenn die Sonne in einen dunklen Raum zu dringen vermag und ihr Licht in einzelnen Strahlen durch diesen sendet: Viele winzige Stäubchen wirst du sehen, wie sie sich im leeren, vom Licht hellen Raum auf vielerlei Weise mischen: als lägen sie in endlosem Streit, kämpften miteinander, pausenlos, in immer neuen Verbänden, angetrieben zu immer neuer Verknüpfung und wieder Trennung. Dies mag dir eine Vorstellung davon geben, wie es sich verhält mit den Urelementen, die im leeren Raum in unaufhörlicher Bewegung begriffen sind. (Lukrez II, 112–124)
Lukrez’ Modell lässt sich als eine solche Abfolge von Axiomen rekonstruieren: Unterstellt wird ein unendlicher und leerer Raum, eine sehr große oder unendliche Anzahl von Atomen, eine unendliche Zeitextension, eine implizit dem Modell der Schwerkraft konforme Fallrichtung der Atome und das Prinzip der Abweichung als Bedingung für eine aleatorische Kombinatorik der Atomgruppierungen, deren bewusstlose Mechanik irgendwann auch unsere Welt hervorbringt.165
Ernst A. Schmidt rekonstruiert in ständiger kritischer Rekapitulation der Forschungsgeschichte die vorherrschende Meinung, dass die Abweichung (Clinamen) erst sekundär zum freien Fall der Atome hinzukomme, um sodann dieser Deutung entschieden zu widersprechen: Das Abweichenkönnen ist eine Wesenseigenschaft der Atome und kommt ihnen primordial zu (Schmidt 2007, 35–49). Axiomenkalküle dieser Art liegen in vielen Varianten vor. Erinnert sei an Borges’ Bibliothek von Babel oder an das Infinite-Monkey-Theorem. Hier lautet die Vorstellung, dass ein Affe, vor eine Schreibmaschine gesetzt und willkürlich auf ihr tippend, im Laufe einer unterstellten Ewigkeit jedes mögliche Buch geschrieben haben wird. Bei Borges wird eine Bibliothek imaginiert, in der bei begrenzter Buchstabenzahl pro Buch für jede daraus resultierende mögliche Buchstabenkombinatorik je ein Exemplar vorhanden ist. In der Konsequenz findet sich auch hier jedes mögliche Buch, zugleich aber so viel Buchstabensalat, dass es noch keinem Bibliothekar gelungen ist, ein sinnvoll geschriebenes Buch aufzufinden.
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In diesem Modell existiert keine Teleologie,166 selbst die relative Stabilität gewisser Klumpenbildungen ist eine nur noch kombinatorische Konstellation. Materie ist somit eine rein zufällige Clusterbildung von Atomen mit ebenso zufälligen Halbwertszeiten. Dass es in unserer Welt Formen gibt und dass diese Formen immanente Bewegungsgesetze haben, ist Resultat einer kombinatorischen Matrix. In diesem unendlichen Spielraum der materiellen Varianten ist eben auch der Witz denkbar, eine Welt entstehen zu lassen, die so angeschaut werden kann, als würde sie einem göttlichen Plan folgen. Ein solcher Materiezustand verhält sich gleichgültig gegen menschliche Sinndeutungen. Materie wird im Atomismus als Eigentätigkeit gedacht, ohne intentional gesteuert zu werden; sie ist in Modellentwürfen beschreibbar, ohne dass daraus konkrete Ablaufszenarien der Materieprozesse ableitbar wären. So gesehen liegt ein besonderer Fall von Negativität vor. Die vollständige Gleichgültigkeit der Materie gegenüber allen immanenten Weltdeutungen lässt das Sinnbedürfnis menschlicher Semiosen gleichsam abgleiten. Es gibt seitens der atomistisch gedachten Materie keine Responsivität (Waldenfels 2007), keinen entgegenkommenden Sinn (Barthes 1990). Stabilitäten sind so zufällig wie der Zerfall es ist. Die Materie des Atomismus ist nicht aktiv negativistisch wie die der Gnosis, aber sie ist aktiv, ohne auf irgendeine Positivität bezogen zu sein. Aktive Gleichgültigkeit ist aber Negativität für ein Sinnbedürfnis, das sich auf der Suche nach objektiven Korrelaten der eigenen epistemologischen Strukturen befindet. Die skizzierte Abfolge von Axiomen lässt sich mithin nicht als Formprozess bezeichnen. Jede Form wäre nichts weiter als eine mögliche Verschiebung der Atome; im eigentlichen Sinne des Wortes handelt es sich bei der Atombewegung und ihrer Ergebnisse um das Formlose. In der durch Zufall entstandenen Welt gibt es die Möglichkeit, infolge einer gewissen, immanent bleibenden Betrachtungsweise die temporäre Kohärenz von Klumpenbildungen als Formen zu beschreiben, was Lukrez auch tut, indem er eine begrenzte Anzahl von Gestalten und Formen annimmt (Lukrez II, 480–514). Vom Standpunkt des Atomisten aus ist die Betrachtungsweise, Formen oder Gestalten wären substantiell, freilich eine Illusion. Weil die Bewegung der Atome immer weitergeht, wird sich auch eine jede relative Stabilität wiederum auflösen. Formen sind vorübergehend zusammengewürfelte Konstellationen, Oberflächenverdichtungen in den Wirbeln (Serres 2010) der atomaren Bewegungen. Nach der Welt und der Auflösung ihrer
Vgl. unter anderem im zweiten Buch von De rerum natura die Passage 1050 bis 1110, in der Lukrez die Zufälligkeit unzähliger weiterer Welten mit einer Polemik gegen die Idee der Teleologie verbindet.
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Formen gibt es wiederum nur die Formlosigkeit des Atomgestöbers, bis irgendwann im Laufe der Ewigkeit unsere Welt noch einmal, vielleicht sogar exakt identisch, vielleicht in jedem Punkt um ein Weniges abweichend, entstehen und vergehen wird. Erneut zeigt sich: In einem Modell, das – als starker Materialismus – einen Begriff des Formlosen (als Mangel an Teleologie) an den Anfang stellt, entstehen oft nur schwache Formbegriffe, die den Status von bloßen Scheingebilden oder temporären Zufallskonstellationen haben. So findet sich in der Gnosis mit dem Doketismus als der Lehre vom Scheinleib Christi explizit eine Irrealisierung der Formen. Bei Lukrez liegen zwar Formen vor, aber sie bleiben nur Modi temporärer Gestalthaftigkeit aufgrund der zufälligen Solidarität von Atomkonstellationen. Und nach der Form: Im Atomismus wird die Welt wieder in die Atome auseinanderfallen, sodass alles wieder in den aleatorischen Nullzustand mündet. Die Gnosis kennt nach der Form nur das ganz Andere, eine reine und absolute Transzendenz jenseits ihrer Artikulierbarkeit. Der Atomismus besitzt eine implizite Poetik. Lukrez benutzt an mehreren Stellen die aufschlussreiche Analogie zwischen den Atomen und den Buchstaben (vgl. Lukrez I, 197; Noller 2019, 55–106). So schreibt er im ersten Buch: Ganz ähnlich in meinen Versen: In ihnen nämlich siehst du, wie sich viele gleiche Elemente zu vielen verschiednen Wörtern verbinden – denn du wirst kaum bestreiten, dass sich Verse und Wörter nach Sinn und Klang unterscheiden. Das alles ist in den Lettern möglich, und nichts weiter muss geändert werden als ihre Ordnung. Weitaus mehr Mittel dagegen haben die Elemente, die Anfang der Dinge sind und diese zugleich in ihrer Vielfalt erschaffen können. (Lukrez I, 823–829)
Deutlicher wird die Buchstabenanalogie im zweiten Buch ausgeführt: Darum: Es bestehen alle zusammengesetzten Dinge aus einer Mischung von Keimen. Beobachten kannst du das an meinen Versen: Viele Lettern sind vielen Wörtern gemeinsam, zugleich musst du zugeben, dass unterschiedliche Verse und Wörter aus je anderen Buchstabenelementen zusammengesetzt sind. Nicht nur, dass nur wenige Lettern allen Wörtern gemeinsam sind, sage ich damit, auch nicht nur dass nicht zwei, so du sie vergleichst, aus nämlichen Elementen zusammengesetzt sind – nein, ganz generell unterscheidet sich ein jedes Wort von jedem. Das Gleiche gilt für Dinge, auch hier sind Urelemente vielen gemeinsam, gleichwohl können diese, unterschiedlich zusammengesetzt, ganz Unterschiedliches bilden. (Lukrez II, 686–698)
Eine Poetik, die ihren Anfang bei den Buchstaben nimmt, findet sich in der abendländischen Tradition sonst nicht. Natürlich ist Lukrez’ De rerum natura keine Poetik, aber der Grund, warum der Atomismus in einer Theorie der Prosa behandelt werden muss, liegt evidenterweise in der Frage nach der Anagrammatik bzw. poetischen Etymologie.
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Dass Lukrez einerseits zwar von Buchstaben spricht, aber darüber hinaus noch etwas anderes im Sinn hat, wird aus der kurzen Bemerkung im zweiten Buch (Lukrez II, 1014 f.) deutlich, in der auch von Bedeutung sein soll, »in welcher Anordnung die Elemente gereiht sind«. Ein einzelner Buchstabe erhält somit seinen distinktiven Wert aus der Reihe, der Anordnung. Das einzelne Atom als solches oder der einzelne Buchstabe bilden zwar die materielle Basis, aber es ist der durch die Anordnung entstehende konstellative Wert, der entscheidend ist. Ein Atom kann in einer Klumpenbildung, die sofort wieder auseinanderfällt, vorhanden sein, es kann aber auch das entscheidende Element für einen relativ stabilen Zusammenhang bilden. An und für sich mag es dasselbe Atom sein, aber hinsichtlich seiner spezifischen Abweichung (Clinamen) spielt es in unterschiedlichen Anordnungen verschiedene Rollen. So auch der Buchstabe: Sein distinktiver Wert als Phonem hat eine reine neutrale Matrixfunktion, erst die durch die poetische Funktion erzeugte Aufrauung und Tönung, also gleichsam das linguistische Clinamen, macht den eigentlichen Unterschied in der poetischen Qualität. So werden aus der endlichen und kleinen Anzahl von Buchstaben sehr viel mehr distinktive Werte. Sie sind es, die ein jedes Wort im Kontext der geschriebenen Verse mit einer individuellen poetischen Markierung versehen. So wird man sagen können, dass das Wort einerseits nur durch den Kontext des Verses individualisiert wird, während es andererseits schon durch die poetisierte Lautsubstanz modelliert worden ist. Es scheint von diesem Gedanken her die Möglichkeit zu geben, den so wichtigen Begriff des Clinamen auch für die Frage der poetischen Anagrammatik zu Grunde legen zu können. Erneut ist das Grundaxiom der Theorie der Prosa anzusetzen: Wenn die Prosa die gesamte poetische Grammatik auf die Textoberfläche stellt, dann zerteilt sie auch das einzelne Wort, um mit dessen Bestandteilen neu kombinierend zu arbeiten. Arno Schmidts Etymsprache macht dies schlagartig deutlich, nicht nur durch Schmidts Überblendung der fast homophonen Worte Etym und Atom.167 Nimmt man die Analogie zwischen Atomen und Buchstaben als analogia entis ernst, dann ist von hier aus sogar ein Weg zu Arno Schmidts optischen Etyms zu finden, denen rätselhafterweise reale Schöpferkraft im Sinne der ersten Ontologie zugesprochen wird (s. o.). Schmidt behandelt die Buchstaben so wie Lukrez die Atome. Und ganz analog: So wie Lukrez die gesamte Struktur der Gefühle und Empfindungen materialistisch aus den Atomen ableitet,
In Zettel’s Traum deuten einige Stellen auf die Verschlingung von Etym und Atom hin: »a wilderness of Atoms\EtymS … « (Schmidt BA IV/1, 1415). Oder: »Wilma; aber laß Dich bedeutn: es ist ähnlich wie mit der Atom=Energie: Wer die Etyms hat, ist der Herr der Wort=Weltn!« (Schmidt BA IV/1, 223). In einem Interview hat Schmidt analog zu Atombombe von Etymbomben gesprochen, entsprechend auch von Etymspaltung (Schmidt 2006, 81).
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bezieht sie Arno Schmidt auf die in den Etyms eingelagerte Begehrensstruktur. Das Clinamen der linguistischen Atome folgt der psychoanalytisch imprägnierten Idee einer vor allem sexuellen Kodierung, damit aber eben der generischen Kraft, die der Sexualität innewohnt. Weit über die bloße und an sich unverbindlich bleibende Idee einer Analogie zwischen Atomen und Buchstaben hinausgehend lässt sich Arno Schmidts Etymsprache genau dann als kohärente erste Ontologie rekonstruieren, wenn die Buchstaben schöpfungstheologisch als Atome gedacht werden. Vielleicht hat Schmidt diesen Zusammenhang Finnegans Wake entnommen. Dessen erster Satz kann als Referenz auf den Atomismus gelesen werden, nämlich als Hervorrufen desjenigen Clinamen, welches das Buch überhaupt erst zur Atomzusammenballung bringt: riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs. (Joyce 1950, 3)
Liest man »Eve and Adam’s« als ›even atoms‹, dann läge es nahe, das Wort »swerve« (ausweichen) im Sinne des Clinamen zu deuten. Eine Abweichung ist also schon ganz zu Beginn des Textes notwendig, um aus dem Atomregen (»riverrun«) Finnegans Wake entstehen zu lassen, einen Text, der selbst aus lauter Abweichungen oder Digressionen besteht. So ist es auch nur ein Buchstabe, der von »from« zu Form führt, semantisch aber gerade von dieser abweicht. Spuren atomistischer Modellbildung finden sich in den Prosatexten allerorten, in Lentz’ Schattenfroh auf der Ebene der Anagrammatik, in Schmidts Etymkonzept, in Jean Pauls Leben Fibels, in Wilhelm Raabes Odfeld. Arno Schmidts postapokalyptische Szenarien nach einer atomaren Katastrophe – von Schwarze Spiegel bis zur Schule der Atheisten – lesen sich in diesem Zusammenhang noch einmal anders, nämlich als thematische Szene seiner grundlegenden Sprachauffassung. Der Atomismus, der bei Lukrez durchaus nicht als pessimistische und negativistische Philosophie gedacht wurde, gerät in den Prosatexten zum Modellschema des Zerfalls und der Zerstörung. Negativistisch gewendet adoptieren die Texte der Sache nach und oft auch in bewusster Referenznahme den Atomismus, um Negativität ästhetisch ins Bild zu setzen.
14.3.3 Materie, bloße Stofflichkeit: Dualismus Nach dem bekannten Einwand, den Jacobi gegen Kants Kritik der reinen Vernunft vorbringt, widerspricht deren Eingangsbedingung dem Ergebnis. Am Anfang des Systems steht die Behauptung, dass das Subjekt von einer Instanz außerhalb seiner selbst affiziert werde, es also eine Art von Kausalität gebe, die
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von Dingen an sich ausgehe und im Subjekt die Folgen zeitige, durch Affektion über ein Material der Empfindung zu verfügen, welches dann durch die Formen der Anschauung (Raum und Zeit: transzendentale Ästhetik) und durch die logischen Formen (Kategorien: transzendentale Logik) zur Erscheinungswelt verarbeitet wird. Das Ergebnis der Kritik der reinen Vernunft besagt aber, dass die Kategorie der Kausalität sinnvollerweise nur innerhalb der Erscheinungswelt angewandt werden könne. Die anfängliche Behauptung, es bestehe ein Verhältnis des Affiziertwerdens, welches von außerhalb der Erscheinungswelt herkommt, ist also vom Ergebnis des Systems und dessen Immanentismus her keine kategorial erlaubte Aussage.168 Dieses vertrackte zirkuläre Bedingungsverhältnis lässt sich auf instruktive Weise auch als Frage nach dem Verhältnis von Formlosem (Materie) und Form beschreiben. In der Kantforschung gibt es schon seit dem achtzehnten Jahrhundert eine recht klare Alternative (vgl. Baumgarten 2021, 428 f.): Während die eine Position behauptet, dass die Dinge an sich einer vollkommen anderen ontologischen Sphäre angehören und nichts Qualifiziertes über sie ausgesagt werden kann, wird in der anderen Position die Ansicht vertreten, dass die Dinge an sich nur eine andere Art von Betrachtung derjenigen Entitäten darstellen, die dann als Erscheinungsdinge vorhanden sind. Anders formuliert: Die erste Position nimmt das Diskursverbot, das sich im Ergebnis der Kritik der reinen Vernunft ausspricht, ernst und macht die Natur der Dinge an sich zu einer qualitas obscura, sofern das Diskursverbot inhaltlich verstanden wird. Dass über die Dinge an sich nichts ausgesagt werden kann, korreliert dann mit der Aussage, dass die den Erscheinungen gegenüberliegende andere Sphäre die des Formlosen als einer opaken Stofflichkeit wäre. Die zweite Position hingegen behauptet, dass von den
Diese Argumentationsfigur, mit der es Jacobi gelingt, die Achillesferse von Kants Kritik der reinen Vernunft zu treffen, wurde in der Forschung intensiv debattiert. Theoriegeschichtlich ist Jacobis in der Beilage zu David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch (1787) vorgebrachter Einwand der Anstoß, Kants transzendentalen Idealismus zum absoluten weiterzuentwickeln. Dieses Narrativ wurde in der Idealismusforschung oft und unter verschiedensten Akzenten erzählt, zuletzt sehr wirkmächtig von Förster (2012, zu Jacobis Argument bes. 117–120). Jacobis berühmte Sätze lauten: »[…] denn nach dem Kantischen Lehrbegriff kann der empirische Gegenstand, der immer nur Erscheinung ist, nicht ausser uns vorhanden, und noch etwas anders als eine Vorstellung seyn: von dem transscendentalen Gegenstande aber wissen wir nach diesem Lehrbegriffe nicht das geringste […]« (Jacobi 2004, 108). Und: »Ich muß gestehen, daß dieser Anstand mich bey dem Studio der Kantischen Philosophie nicht wenig aufgehalten hat, so daß ich verschiedene Jahre hintereinander die Critik der reinen Vernunft immer wieder von vorne anfangen mußte, weil ich unaufhörlich darüber irre wurde, daß ich ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darinn nicht bleiben konnte.« (Jacobi 2004, 109).
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Dingen an sich sehr wohl schon geformte Affektionen ausgehen, sodass unser Kategorienapparat jeweils spezifische Gründe habe, das schon qualifizierte Material in besonderer Angemessenheit weiterzuverarbeiten. Für beide Positionen gibt es in den Schriften Kants Belegstellen. Man kann diese für die theoretische Philosophie Kants sehr zentrale Debatte philosophiegeschichtlich aufarbeiten, um sich der Frage zu nähern, ob es die Wahrnehmung mit dem rein Stofflichen zu tun hat, vor der Form also Formloses angenommen werden muss. Diese Fragestellung hat, wie unmittelbar einsichtig, direkte Folgen für eine weitere Variante der Gedankenfigur Vor-und-nach-derForm. Der Begriff der Materie ist als solcher erst eine relativ späte Abstraktion, die als Korrelat zu einer idealistischen Wahrnehmungstheorie eingeführt wurde. Vor dieser Abstraktion wurde nicht Materie gedacht, sondern in der vorsokratischen Philosophie das Ensemble der vier Elemente (Böhme und Böhme 1996). Erst Platon hat im Timaios eine den vier Elementen zu Grunde liegende Matrix eingeführt, die er als formlose und aller Struktur entbehrende Grundlage bestimmt. Interessant ist hierbei die Bezeichnung selbst: hyle heißt wörtlich eigentlich Holz. Platon spricht in diesem Zusammenhang von der Mutter des Werdens (Tim. 49a; 52d), was dann in den lateinischen Übersetzungen zum Begriff materia (abgeleitet von mater, Mutter) führte. Dieser Begriff der Materie ist im Gegensatz zur Theorie der vier Elemente auf keine stoffliche Konkretheit bezogen, sondern eher als ontologisches Prinzip gedacht, das allen konkreten Dingen oder ontisch vorhandenen Stoffbereichen zu Grunde liegt. Halfwassen macht in seinem Plotin-Buch deutlich, dass dieser Materiebegriff das Korrelat für eine idealistische Philosophie bildet, in der die Tätigkeit des Formgebens dem Geist zugesprochen wird (Halfwassen 2004, 120–128). Die besondere Pointe besteht also darin, dass der Terminus der Materie und mit ihm die Tradition des Materialismus einer idealistischen Argumentation entspringen. Dass die Formlosigkeit der Materie allen Erscheinungen zu Grunde liegt, selbst aber für die dem Geist zukommende Formung keinerlei Strukturiertheit mitbringt, beschreibt exakt das Ausgangsproblem von Kants Terminus des Dinges an sich. Stellt man also das engere Problem der Kantforschung in den größeren Zusammenhang der Begriffs- und Philosophiegeschichte des Materiebegriffs, dann wird deutlich, dass die Position, das Ding an sich als reine formlose Stofflichkeit zu denken, genau der Gedankenoperation folgt, die als Materiebegriff von Platon über Aristoteles zu Plotins Idealismus führt. Analog zu dieser Begriffsgeschichte müsste man bei Kant eigentlich eine mehrfache Stufung der Materie annehmen, also erstens die mater-Funktion einer basalen reinen und zugrundeliegenden Stofflichkeit und zweitens die intermediäre Funktion relativer Protoformen analog zu den vier Elementen, sodass dasjenige Ding an sich, welches als formloses Material
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unaussagbar ist, die mütterlich gebende hyle-Dimension adressiert, während dasjenige Ding an sich, welches sich von Erscheinungsdingen nur durch einen Perspektivenwechsel der Betrachtungsweise unterscheidet, die schon protoformell gestaltete Stofflichkeit meint. Die beiden in der Kantforschung einander gegenüberstehenden Positionen beschreiben recht genau die begriffliche Staffelung, die philosophiegeschichtlich im Übergang von der Vier-Elementen-Lehre durch begriffliche Abstraktion hin zum generativen Materiebegriff stattgefunden hat und die sich, vermittelt auch über Plotin,169 in der philosophischen Tradition fortgesetzt hat. Die Erinnerung an diese Zusammenhänge ist im Kontext der Theorie der Prosa für die Frage nach einer Tieferlegung des Dualismus und seiner negativistischen Implikationen von Bedeutung. In Kants Versuch, den formlosen Stoff durch die Selbsttätigkeit des transzendentalen Subjekts zu bändigen, steckt ein Problembündel, das sich in der unmittelbaren Kantrezeption zur Darstellung gebracht hat. Fichtes Reaktion, das nicht integrierbare Ding an sich dadurch zu bewältigen, dass es innerhalb des absoluten Ich zum dem Ich gegenüberstehenden und durch autopoetische Selbstdifferenzierung generierten Nicht-Ich wird, gerät bei Jean Paul im Komischen Anhang zum Titan (Clavis Fichtiana) sofort unter einen doppelten Verdacht. Einerseits hebe sich die Selbstproduktion des Ich mitsamt Nicht-Ich im substanzlosen Zirkel der Selbstreferenz selbst auf, andererseits werde der Materialismus dadurch erst recht frei. So wird beim Prosaautor Jean Paul die Initiative Fichtes, durch einen absoluten Idealismus das Kant’sche Problem der Formlosigkeit zu lösen, sofort und scharfsinnig auf die radikalisierte Neuauflage des Problems zurückgeführt: auf die Gefahr des Dualismus, der negativistisch in leere Selbstreferenz einerseits, bloße Stofflichkeit andererseits zerfällt. Schopenhauers Lösungsansatz besteht darin, Konstitution ohne Subjekt, als emergentes Tun von sich selbst verwebenden Kausalitätseffekten zu den-
In Plotins Werk findet sich eine Abhandlung (2. Enneade 4) mit dem Titel Die beiden Materien; sie wird in (fast vollständigen) Auszügen im Materie-Reader von Sigrid G. Köhler, Hania Siebenpfeiffer und Martina Wagner-Egelhaaf zitiert (2013, 58–62, 220–223, 404–408). Plotin unterscheidet dort eine intelligible von der sinnlichen Materie, wobei die sinnliche Materie das gestaltlos Zugrundeliegende, die intelligible Materie formgegliedert ist. Plotins komplexe Unterscheidung, die weniger eine kohärente Theorie als vielmehr einen für die philosophische Tradition äußerst produktiven Fragekatalog formuliert, unterstellt mit diesen zwei Materien ebenfalls eine Stufung, in der sich zugrundeliegende bloße Stofflichkeit und formkompatible Materie zueinander verhalten. Auch hier ließe sich darüber nachdenken, ob die beiden Deutungsoptionen von Kants Ding-an-sich-Problematik letztlich auf einen in sich vielgestaltigen Materiebegriff zurückzuführen sind. Plotin kann mit dieser Unterscheidung die sinnliche Materie als böses Prinzip qualifizieren, während die intelligible Materie von dieser Abwertung unberührt bleibt.
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ken, sodass Kants transzendentales Subjekt erst auf der Ebene des schon Konstituierten erscheint, nicht aber Konstitutionsgrund sein kann. Entsprechend prozediert es scheinhaft und bildet mit dem Gewebe der vierfachen Kausalitätsrelationen einen Vorstellungsschleier, den als Schein zu zerreißen Schopenhauers Philosophie antritt. Lehrreich ist daran im gegenwärtigen Kontext, dass Kants Problem hier zu einem Modell führt, das an die Gnosis erinnert (die Schopenhauer gut kannte). Die Welt ist nur scheinhaftes Realisat eines Willens, dessen falsche Produktivität erkannt werden muss, analog zur Gnosis, in der es untergeordnete Äonen sind, deren fehlgeleiteter Wille die falsche Welt erzeugt haben. Es ist Schelling, an dessen mittlere Philosophie Schopenhauer hat anschließen können. Die an sich grundlose Selbstverwebung von Kausalitäten bei Schopenhauer kann auf Schellings Naturphilosophie, in der das absolute Ich sich unbewusst als Nicht-Ich produziert, zurückgeführt werden. Schelling versucht hier Kants Problem von der Seite des Dinges an sich her zu lösen, indem er als Parallelprojekt zu Fichtes Ich-Philosophie eine Nicht-Ich-Philosophie entwickelt. In Schellings Freiheitsschrift (1809) avanciert dieser Sachverhalt dann zum dunklen Grund in Gott, an dem sich Gott abzuarbeiten hat: Man spürt hier schon förmlich die Gegenkräfte der niederen Instanzen in Gott, die dann in den Weltalter-Fragmenten auch benannt werden (die ›Sophia‹ der Gnosis). Fichte, Schopenhauer, Schelling: Die Versuche dieser drei Philosophen, auf Kants Problem einer formlosen Stofflichkeit zu reagieren, lassen verschiedene Varianten des Dualismus und dessen negativistische Implikationen aufbrechen. Dass Jean Paul mit seinem Humorkonzept die dualistische Gegenposition zur monistischen Ironie der Frühromantik bildet, dass Arno Schmidt im Leviathan mit einer Schopenhaueradaptation beginnt und dann schnell den Weg zur Gnosis als dem Rahmenmodell seiner poetischen Welt findet, dass Michael Lentz in Schattenfroh die Negativität der Materie in einer Poetologie des Schmerzes und der Folter ausformuliert, dass Wollschlägers Herzgewächse in der umfangreichen Teufelssequenz einem scharfen Dualismus folgen, dass Wilhelm Raabes Spätwerk die Ohnmacht des bürgerlichen Gestaltungswillens immer auch als negativistische und ebenfalls an Schopenhauer orientierte (Fauth 2007) Prosatextualität vorführt: Dies alles verweist auf ein relativ stabiles und kohärentes Ensemble von metaphysischen Hintergrundannahmen für die Texte der avancierten Prosa. Man kann an dieser Stelle zu den zahlreichen Windungen noch eine weitere hinzufügen. Es stellt sich nämlich die Frage, ob der Dualismus – formloser Stoff versus in sich eingeschlossene Konstruktionslogik des transzendentalen Subjekts –, der in der Latenz der Kritik der reinen Vernunft vorhanden ist, auch jenseits der idealistischen Theoriegeschichte seine Folgen zeitigte. Die Narrative der Philosophiegeschichte haben ihre blinden Flecken; zu ihnen gehört Herder, der offenkundig nach der in jeder Hinsicht falschen Rezension seiner Ideen durch
14.3 Negativistische Denkmodelle: Materie
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Kant170 ein für alle Mal aus dem Blickfeld der Philosophen herausgefallen ist. Eine Theoriegeschichte, die naturalistisch angelegt ist und die einem anthropologischen Materialismus aufgeschlossen gegenübersteht, könnte für die Frage nach den philosophischen Rahmenbedingungen der Prosa aufschlussreich sein. Herders sensualistischer Grundansatz führt, poetologisch gelesen, zu einer impliziten Theorie des mehrfachen (Schrift-)Sinns. Johann Gottfried Herder hatte als Schüler des vorkritischen Kant seine Gründe, sich selbst als weiterentwickelten vorkritischen Kant dem Kant der kritischen Wende gegenüber philosophisch überlegen zu sehen (Simon 2010). Wenn man nämlich Kant den Vorwurf macht, mit seiner Erkenntnistheorie ungenau – nämlich nur mit einer unilinearen Formierung – auf ein mindestens doppeltes Problem zu antworten, bestünde die Alternative darin, eine Erkenntnistheorie zu entwerfen, welche sowohl den mater/hyle-Aspekt als auch den protoformellen Aspekt der Materie adressiert. Kant begeht aus Herders Sicht den Fehler, nur auf den ersten Aspekt mit seiner Theorie der spontanen Formung des Subjekts zu reagieren, während er doch unausgewiesen den zweiten Aspekt immer mitführt, was dann zu dem aufgezeigten Problem einer Debatte der doppelten Bedeutung des Dinges an sich und ebenfalls zu Jacobis Einwand führt. Herder hingegen entwickelt eine Erkenntnistheorie, die eine dreifache Staffelung (triceps) impliziert (Gaier 1987), nach der die Empfindung den mater/hyle-Aspekt aufnimmt, die Einbildungskraft die Protoformen und die Verstandeskategorien die logischen Formen. Diese dreifache vermögenstheoretische Staffelung des subjektiven Apparats wird von Herder zugleich in die Naturgeschichte des Subjekts eingelesen, also wiederum dreifach in der Geschichte der Materie selbst verankert: Zuerst war der Mensch nur empfindendes Wesen, im Griechentum hat er die wilde und triebhafte Empfindung zur schönen Einbildungskraft geläutert, in der Gegenwart herrscht die trockene Verstandeskultur. Diese Abfolge bildet das Fundament für eine anthropologische Geschichtsphilosophie der menschlichen Vermögen. Herder verbindet dies mit seinen, später dann auch in Konkurrenz zu Kant aufgestellten Kategorien. Das Korrelat der Empfindung ist dabei das ›Materiale an sich‹ (Herder DKV I, 667),171 das er schon im frühen Versuch über
In der Herderforschung wurde das Verhältnis von Kant zu Herder und der daraus sich ergebende Ausschluss Herders aus der philosophischen Denkgeschichte umfassend reflektiert und als aufschlussreiche Unterschiedlichkeit der Grundparadigmen Kants und Herders rekonstruiert. Vgl. exemplarisch: Adler 1994, Baum 2013, Clairmont 1988, Gaier und Simon 2010, Proß 1997, Zammito 2002. »Man zergliedere in jeder Seelenkraft ihr Materiales 1) an sich, 2) im Ausdruck; alsdenn ihr Formales in der Ordnung« (Herder DKV I, 667). Die zugeordneten Seelenkräfte sind: Emp-
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14 Negativität
das Sein und in seinen späteren Kategorientafeln als ›Sein‹ bezeichnet. Wenn man also Herders Wahrnehmungstheorie gegenüber Kant als differenziertere Reaktion auf die Begriffsgeschichte von Materie deutet, dann nimmt die Empfindung den mater/hyle-Aspekt auf, die Einbildungskraft die schon geformten Materieeigenschaften auf der Ebene der Elemente (Herders aisthetische Ästhetik), während der Verstand die logische Formung besorgt. An die Stelle einer unilinear argumentierenden Subjekttheorie tritt eine aisthetisch-semiotische Trias, die zudem geschichtsphilosophisch und phylogenetisch vertieft ist. Herder entwickelt diese Theorie vor allem im Vierten Kritischen Wäldchen, in der Plastik, in Teilen seiner Sprachursprungsschrift und in den Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur. Entgegen dem schon im achtzehnten Jahrhundert sich etablierenden Wortgebrauch ist bei Herder nun, wie Ulrich Gaier nachgewiesen hat, der Terminus der Prosa keineswegs nur für die trockene Verstandestätigkeit reserviert (Gaier 2008, vgl. auch Simon 2013, 83–116). Herder schlägt vielmehr ein artifizielles Verfahren vor, das als vom Verstand bestimmte Schreibweise die beiden anderen anthropologischen Zustände mit den ihnen entsprechenden Schreibweisen rhetorisch reinszeniert. Prosa ist so der Name, der Herders dreifacher Wahrnehmungstheorie entspricht. Es handelt sich um ein hybrides Schreiben, das sowohl der Logik der Empfindung in ihrer Wildheit als auch den schönen Formen der Einbildungskraft folgt und dies mit der ganzen Reflexionskraft einer Verstandeskultur tut. Prosa ist folglich – als nach den Formen stehend – der Versuch, in äußerster Komplexität die gesamten vermögenstheoretisch ausdifferenzierten und geschichtsphilosophisch vertieften anthropologischen Register in einem einzigen Sprachkörper artikulierbar zu machen. Man ist versucht, diese Theoriefigur wiederum zu verallgemeinern. Das in der Philosophiegeschichte mit dem Abstraktionsakt zum Begriff der Materie hin aufgeworfene Problem führt bei Kant in einen kaum lösbaren Konflikt zwischen gänzlich formlosem Ding an sich versus schon geformtem Affektionsanlass, während Herder seine Theorie der Aisthesis in dem Maße pluralisiert, in dem faktisch die Begriffsgeschichte, die zum Materiebegriff führte, in ihrer ganzen komplexen Genese aufgenommen wird. Auf das Problem einer vor der Form liegenden reinen Stofflichkeit (Herder: ›Seyn‹), die gleichwohl irgendwie an die Form anschließen können muss, antwortet Herder mit einem aufgefächerten anthropologischen Raster (Tasten, Hören, Sehen: Kraft, Zeit, Raum – vgl. Simon 2013, 93), nach dem der Mensch an beide Materiebegriffe, die in der Begriffsgeschichte vorliegen, anknüp-
findung (Materiales an sich), Einbildungskraft (Materiales im Ausdruck), Verstand (Formales in der Ordnung).
14.3 Negativistische Denkmodelle: Materie
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fen kann. Die reine Materie schlägt sich in der Empfindung als Sein nieder (nach Herder vor allem im Tastsinn), der schon geformte Affektionsgrund korrespondiert der schönen Einbildungskraft (nach Herder artikuliert in der sinnlich bleibenden Kunst, also auf den Sehsinn bezogen), der Verstand ordnet dies nach seinen logischen Kategorien. Wo Kant versucht, nur eine einzige Antwort auf ein mindestens doppeltes Problem zu finden, gibt Herder genauso viele Antworten, wie die Problemlage sie aufwirft. Der Mensch ist ein komplex angelegtes Wesen, welches mit einer mehrfachen Semiotik und Rhetorik die in ihm historisch vorhandenen Register ausformulieren kann. Diese Artikulationsmöglichkeit nennt Herder Prosa. Er ist damit vermögenstheoretisch ebenso wie semiotisch auf dem Weg zu einem mehrfachen Schriftsinn. Idealiter versteckt sich in einem poetischen Wort die unmittelbar rührende Empfindung, zugleich eine vorgestellte schöne Individualität und auch ein semantisch gepflegter Verstandesbegriff. Diese drei Dimensionen (triceps) sind als gleichzeitige zu denken, in einer hieroglyphischen Sprache, die diese Mehrfachkodierung als ihre poetische Grammatik explizit macht. Das ist eine erstaunliche Antwort auf eine Problemlage, die hier als die in der Kantforschung ungelöste Frage nach dem Ding an sich exponiert wurde: Die vermögenstheoretisch aufgefächerten und materialistisch konkretisierten Bezugnahmen des Subjekts auf die Materie führen bei Herder über einen anthropologischen Naturalismus zu einer Poetik der Dichtung, die ihr Ziel nicht mehr in der Lyrik, sondern in der Prosa findet – als vielstimmiger und einem mehrfachen Schriftsinn folgender Schreibart. Auch an dieser Stelle findet sich ein unmittelbarer Anschluss an Negativität – nicht in Herders Selbstaussagen, aber in seiner Konzeptanlage. Herder kann keine allgemeine Gesetzlichkeit des transzendentalen Subjekts mehr kennen, sondern nur so viele Subjektivitäten, wie der geformte Affektionsgrund mitsamt kulturellen Kontextbedingungen möglich sein lässt. Damit gerät Herder in einen naturalistischen Relativismus. Sein theologischer Optimismus lobt diese Pluralitäten als Mannigfaltigkeiten der von Gott verantworteten Schöpfung. Aber eine Umwertung aller Dinge bei identisch bleibender Konzeptbasis führt stante pede zu Nietzsche, dessen sensualistische Metapherntheorie in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne von Herder übernommen ist (Stingelin 1988) und sich dort nicht mehr schöpfungsoptimistisch anhört. Tatsächlich reagiert ein wesentlicher Poetikentwurf der Prosa sofort auf Herders triceps. Die grundlegende Aktantenmatrix Jean Pauls folgt exakt der vermögenstheoretischen Gliederung: Die Idylliker, gnostisch die Tiermenschen (Simon 2016d, 36–38), befinden sich auf dem Niveau der Herder’schen Empfindung, sie reagieren sensuell auf ihre Nahumgebung und versuchen, den idyllischen Weltausschnitt, den sie bewirtschaften, klein und übersichtlich zu halten. Die hohen Menschen,
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gnostisch die Pneumatiker (Simon 2016d, 39–43), definieren sich über den aufstrebenden Geist bei gleichzeitiger Negation des Körperlichen, während die Satiriker, gnostisch die psychischen Menschen (Simon 2016d, 43–45), den Dualismus von Geist und Körper als unversöhnlichen inszenieren und daraus ihren satirischen Angriff oder, selbstreflexiv gesteigert, ihre humoristische Selbst- und Weltverlachung erzeugen. Das Material, das bei Jean Paul als Romanhandlung aufgeboten wird, gerät durch diese Aktantenstruktur in die Situation einer mehrfachen Umarbeitung. Die Frage nach dem richtigen Leben wird als materialistische Empfindung, als materieverneinender Geist und als scharfer Dualismus durchgespielt, also mehrfach gemäß den Logiken verschiedener Sinnsysteme dargestellt. Romanhandlung gerät auf diese Weise zu einem Anlass, anthropologische Dispositive gegeneinander antreten zu lassen. Es etabliert sich ein Raster der Weltkonstruktionen, die jeweils, ihren Selbstreferenzen folgend, das vorhandene Handlungssubstrat durcharbeiten. So lesen sich die Texte Jean Pauls als permanentes Konstellationsspiel anthropologischer Grundpositionen, semiotisch mithin als mehrfacher Schriftsinn hinsichtlich basaler Weltwahrnehmungen. Was Herder harmonisch zu integrieren versucht, wird bei Jean Paul in Einzelteile zerrissen und jeweils selbstreferentiell gesteigert, also monadisch in die Isolation und gegen den Zusammenhang getrieben. Herders triceps ist der Intention nach ein in sich komplex gestaffelter Vermögensapparat, der ontogenetisch auf die Phylogenese reagiert und die Geschichte des Seins subjektintern wiederholt. Jean Paul löst die drei Semiotiken voneinander und vertieft sie zu seinen drei zentralen Charakterentwürfen. Indem der Idylliker auf diese Weise von den beiden anderen Dimensionen abgeschnitten ist, fällt er auf seine Beschränktheit– als bloße Empfindung des Seins – zurück, deren Vollglück von seliger Debilität kaum zu unterscheiden ist (Idylle als »Vollglück in der Beschränkung«: JP I/5, 258). Auch der hohe Mensch ist eigentümlich reduziert: Er leidet an seinem Körperkerker und lebt nur für die wenigen ekstatischen Momente, in denen er Kontakt mit der intelligiblen Sphäre aufnimmt. Man ersieht aus dieser Charakteristik, dass Jean Paul Herders Vermögenstheorie aufsplittet und die Einzelteile jeweils in sich verstärkt. Zudem stehen diese Charakterentwürfe in den Romanhandlungen so zueinander, dass sie sich systematisch missverstehen. Jean Paul erzeugt aus Herders vermögenstheoretisch ausgewiesenen Zeichenregimes ästhetische Negativität. Dass Jean Paul sein literarisches Personal in dieser Weise anlegt, lässt einen aufschlussreichen Blick auf die Frage zu, welchen Formstatus er der ›Materie‹ zugesteht. Die komplexe Aktantenmatrix führt zu einer mehrfachen Deutung dessen, was in den Texten auf der Ebene der Handlung jeweils thematisch ist. Offenkundig verfügt die jeweilige Romanhandlung nicht über genug Kraft, um sich als substantielle Form durchzusetzen. Sie wird mehrfach gedeutet, in verschiedene Semioti-
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ken, vermögenstheoretische Strata, psychische Instanzen und, ganz allgemein, in unterschiedliche Weltbilder zerlegt. Handlung soll, so der genuine Impuls, nicht als sie selbst vorankommen, sondern sie wird in jeder einzelnen Sequenz einer Pluralität erzeugenden Exegese unterzogen. So erklärt sich, warum Prosa zwar eine Romanhandlung als »Rennbahn der Charaktere« (JP Vorschule, 1/V, 252) benutzen kann, letztlich aber nicht am Narrativen interessiert ist, sondern in diesem Fall Herders Vermögenstheorie negativistisch auf die Rennbahn der Charaktere setzt. Grundsätzlich könnte ein Prosatext seine Handlung auf eine Sequenz reduzieren und diese durch eine umfangreiche Abfolge von Exegesen laufen lassen, um diese Exegesen miteinander zu verschalten, sie sich ähnlich werden zu lassen (Äquivalenzprinzip). Statt einer Form zu folgen, werden poetische Selbstreferenzen durchgeführt. Bei Jean Paul wird diese Grundstruktur negativistisch: Die so konstruierten literarischen Charaktere dividieren sich in ihre Unterschiedlichkeit auseinander und zerfallen – immer zurück in ihre Selbstbezüglichkeiten.
14.4 Negativität und Intelligenz Ästhetische Negativität kann im Sinne thematisch vorliegender Dispositive verstanden werden, etwa als: Körperhass (bei Jean Paul und Arno Schmidt: Müller 1996, 59–63), Folter (Schattenfroh: Lentz 2018, 202–221, 386–403, 897–903 u.ö.), Krieg (Raabes Odfeld), Misslingen (z. B. als Grundfigur in Wollschläger, Herzgewächse), Im-Wald-Sein qua Nichtentkommen aus der verblockten Immanenz (Uwe Dicks Sauwaldprosa), misslungene und instabil werdende Schöpfung (Arno Schmidts Abend mit Goldrand), weiterlaufende Kollektivtraumatisierung (in Bezug auf Arno Schmidt vgl. Simon 2015), Zerfall in desintegrierte Mikrologien (Jean Pauls Spätwerk), unmögliche Flucht (Arno Schmidts Enthymesis und Kosmas oder Vom Berge des Nordens). Schon diese Liste macht deutlich, dass die Prosatexte insgesamt von Negativität gezeichnet sind. Selbst ihr Humor ist ein abgründiger, ihr Lachen der Verzweiflung näher als der Befreiung. Der Dualismus, der konzeptuell den avancierten Prosatexten zugrunde liegt, führt zu konkreten und desillusionierten Wahrnehmungen des Körperlichen in seiner bloßen materiellen Hinfälligkeit. Deshalb rückt die nicht normierte Körperlichkeit als exzentrisch schmerzerfüllte ins Zentrum vieler Texte. Im Kontext einer Theorie der Prosa ist die grundsätzliche Frage nach der Konzeptstruktur von Negativität zu stellen. Emil Angehrn schreibt aus philosophischer Perspektive: Das Negative ist je schon von seinem Anderen her konzipiert, nicht als selbstständige Größe gesetzt; es scheint in fundamentalerer Weise unselbstständig als dies auch vom
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Positiven gelten und von ihm gefragt werden kann, inwiefern seine Definition des Umwegs über den Gegensatz bedarf. Das Negative ist essentiell relativ, Gegenpol eines Positiven […] (Angehrn 2014, 23)
Negativität als Prinzip von avancierter Prosa zu behaupten, ist – würde man Angehrns Argument folgen – ein Widerspruch in sich. Sie ist immer schon abgeleitet, von einem Prinzip oder einer Position prinzipiiert, also nicht selbst Prinzip. Als zusammenfassender Begriff für ein Ensemble von Themen und Phänomenen kann man Negativität plausibilisieren (s. o.), aber damit ist zugleich die Option einer philosophischen Theoriebildung dementiert. Gibt es dennoch einen Weg, Negativität – und: ästhetische Negativität – in einem starken Sinne zu denken? Philosophie ist als Denken vor allem Vermittlung von Begriffen. Von allen inhaltlichen Qualifikationen abgesehen, ist Philosophie zunächst begriffliches Unterscheidungswissen und daraus folgend das Wissen über die Vermittelbarkeit des Unterschiedenen, also Begründungsdiskurs – sofern wir mir Begründung die explizit gemachte begriffliche Vermittlung meinen. Negativität ist schon aufgrund dieser knappen Bestimmungen kein mögliches Anfangsthema des philosophischen Denkens, denn der Begriff der Negativität lässt sich philosophisch nicht als Letzt- oder Grundbegriff denken. Wenn Negation immer Position voraussetzt, dann wird das Denken des Negativen nicht ab ovo, sondern aus einer Situation des Nachgeordneten zu erfolgen haben. Der mit der Negativität oftmals korrelierte theoretische Dualismus teilt diese Problemlage. Wenn man mit einer dualistischen Opposition beginnt, entsteht sofort die Frage, wovon die Unterscheidung abgeleitet worden ist – aber dies wäre sodann eine den Dualismus unterlaufende Einheit. Soll die Anfangsunterscheidung nicht von etwas herkommen, dann ist das Problem aufgeworfen, ob man sie überhaupt verstehen kann. Wer z. B. behauptet, dass er von der Unterscheidung Geist versus Materie ausgehe, muss sich die Frage gefallen lassen, was er damit meint: Warum diese Unterscheidung? Welche Relevanz hat sie und für welches Problem? Wie sind die Unterschiedenen aufeinander bezogen, damit die Unterscheidung eine ist, die einen Unterschied macht? Die Antworten auf solche Fragen führen auf Einheitsgründe zurück, z. B. hier auf den Begriff des Lebens. Man sieht schon nach diesen elementaren Überlegungen, dass Negativität nicht in der üblichen Weise – der für die Philosophie üblichen Weise – gedacht werden kann, wenn sie überhaupt in starker Weise gedacht werden soll. Wie dann? Die Argumentation dieses Buches hat vorgeschlagen, zunächst prosatheoretisch vorzugehen, also eine radikale Segmentierung als weitgehende Auflösung von Form denkbar zu machen: als innere Pluralisierung des Wortes in seine Buchstaben, als Entteleologisierung des Satzes durch seinen performativ vollzogenen Rückstoß, als Ensemble von Textfiguren. Inhaltliche Analoga dazu sind
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der Atomismus (locker mit der Wortebene verbunden), der Dualismus (locker mit der inneren Gegenwendigkeit des Satzes verbunden), die Gnosis (locker mit den Textfiguren verbunden). Die Grundfigur in allen diesen Überlegungen ist stets die Selbstbezüglichkeit. Die ästhetische Negativität der avancierten Prosa ist deshalb als die Darstellung (Auf-die-Textbühne-Stellen, ikonische Poiesis: s. o.) solcher Selbstreferenzen ohne Einbindung in Formprogramme zu bestimmen. Wenn Prosa auf die vor der Form liegende Komplexität des ›Lebens‹, der Aisthesis, des autobiographischen Substrats oder überhaupt der ›Materie‹ mit nach der Form liegenden Komplexitäten, die sich aus Rekursionsfiguren ergeben, reagiert, dann nimmt die ästhetische Instrumentierung dieser formalen Grundstruktur die Züge der Negativität an. Es handelt sich um eine Figur der Geschwindigkeit, um einen Akt, der nahezu gleichzeitig Position und Negation stattfinden lässt. Kaum dass ein Wort ›gesetzt‹ ist, wird es in der Prosa boustrophedonisch gegen sich gekehrt und in seine Buchstaben zerlegt. Es verweist nicht vorwärts auf die Kopplung zu den Nachfolgeworten, sondern es produziert in seinem Inneren eine seine Identität in Frage stellende Vielheit von kryptonymischen Echoräumen seiner selbst. Selbstbezüglichkeit wirkt hier nicht integrierend – es liegt keine restitutio in integrum vor –, sondern zergliedernd und durch Selbstanwendung die Zergliederung verstärkend. Analog ist der Prosasatz zu denken: Kaum dass er ›gesetzt‹ ist, kehrt er sich in seine Konstitutionsbedingungen zurück. Schmidts snapshots, Wollschlägers systematisiertes Apokoinu, Jean Pauls Wurm-Fort-Sätze halten die Möglichkeit textlogischer Positivitäten auf, sie stoppen den Fortgang des Satzes in sich selbst, sie subvertieren die Möglichkeit der Proposition. Auch hier wendet sich nahezu zeitgleich die Satzform gegen sich selbst und vollzieht ihre eigene Negation. Auf der Ebene der Textfiguren findet sich erneut derselbe Mechanismus: Statt eines Textsinns liegt ein mehrfacher Schriftsinn vor, aber einer, der keiner steuernden Metaebene unterliegt. Anstelle eines Textfokus etabliert sich plurifokale Textualität. Wo ein Sujetereignis den Text ausrichten könnte, tendiert der Prosatext zur Sujetlosigkeit, wo er seine Episteme ordnen könnte, baut er eine ›Durcheinanderprosa‹. So explodiert der Prosatext quasi aufgrund seiner Komplexitäten, die den Innenraum stärker füllen, als es die Außenabmessungen möglich sein lassen. Oder der Prosatext implodiert in seinen eigenen Abgrund, die Krypta als ultima ratio der poetischen Funktion. Alle diese Textfiguren zerlegen das, was gemeinhin als Textkohärenz beschrieben wird. In den Überlegungen dieses Buches wurde an mehreren Stellen der Begriff der wilden Semiose benutzt. Von Aleida Assmann (2015, 11–27) eingeführt, beschreibt er am Modell der Hieroglyphen – im historischen Zustand vor ihrer Entschlüsselung – das Phänomen des langen Blicks: Das hieroglyphische Zeichen
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wird insistent betrachtet, bis es beginnt, trotz seiner Unlesbarkeit Auslegungen und semiotische Kopplungen zu erzeugen. Weil die Hieroglyphe semantisch nicht entzifferbar ist, wird ihre materielle Erscheinungsweise zum Ausgangspunkt von Ähnlichkeitsrelationen, die im langen Blick schließlich Schritt für Schritt entfaltet werden, aber wegen der Ermangelung einer semantischen Deutung keine stabile Enzyklopädie generieren. Die wilde Semiose, die in der vorliegenden Prosatheorie intendiert ist, besitzt allerdings ein ganz anderes zeitliches Gepräge. Die hochnervöse Aktivität des ›Gehirntieres‹ (s. o.) ist als eine solche Wahrnehmungsform zu rekonstruieren, in der jedes Perzept (oder besser: jeder Gedanke) nicht erst als das, was es ist, wahrgenommen wird, sondern immer schon als Medium pluraler Kopplungen. Die schiere Intelligenz der Hochbegabten wird ein Wahrnehmungsdatum sofort – zeitgleich, im selben Pro- und Retentionsintervall – mit einem ganzen Register von Assoziationen, Kopplungen, Verknüpfungen verbinden und also von vornherein statt eines Einzelperzepts ganze komplexe Netzwerke mitwahrnehmen. Diese Netzwerke, deren Anlass eine Einzelwahrnehmung oder ein intellektueller Impuls gewesen sein mag, stammen aus dem Register der Selbstreferenzen, aus dem Zugleich vieler Reaktionsweisen. Der Hochintelligente nimmt Gedanken so wahr, wie der Synästhetiker mit einer sinnlichen Sensation alle anderen Sinne zugleich auch. Arno Schmidts Terminus der Gehirntiere beschreibt diese Grundstruktur sehr treffend, als Nötigung einer geradewegs animalisch zugreifenden Intelligenz. Viele der hier diskutierten Prosatexte folgen diesem Schema. Jean Paul, Joyce, Schmidt: Es geht hier nicht um entelechisch wachsende Form, sondern um eine Intelligenz, für die Form schlicht zu langsam ist, auch zu langweilig. Deshalb wird das Wort, kaum dass es da ist, zu vielen Worten und der Satz wird, kaum dass er formuliert ist, in viele Glieder zerlegt. Negativität ist eine Folge wilder Semiose, nicht im Assmann’schen Sinne, sondern der Figur der Beschleunigung durch Intelligenz folgend. Wo keine Form möglich wird, weil alles immer schon zu komplex ist, zerfallen die Zusammenhänge. An deren Stelle schießen die Selbstreferenzen empor, aber vor allem jeweils für sich. Gnosis, Atomismus und Dualismus sind verschiedene Instrumentierungen dieser Grundgegebenheiten. Sie folgen deshalb alarmistischen Zeitmodellen. Der Gnostiker befindet sich in jedem Moment in der Abwehr der falschen Welt und hofft auf die unverfügbare Erlösung; der Atomist kann stets mit dem akuten Zerfall rechnen; der Dualist steht permanent der ihn überfordernden Formlosigkeit des Stoffes gegenüber. Wo so wenig Zeit ist, muss zu jedem Zeitpunkt immer alles gesagt werden, die ganze Zeit (Die ganze Zeit) über. – Aus dieser Charakteristik ist die avancierte Prosa zu rekonstruieren.
14.5 Negativität in aestheticis
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14.5 Negativität in aestheticis Die Überlegungen dieses vierzehnten Kapitels haben sich auf Theorien der alteuropäischen Philosophiegeschichte eingelassen, um für den Begriff der Negativität eine Konzeptbasis zu gewinnen. Einfacher und zunächst naheliegender wäre es gewesen, im Bereich der ästhetiktheoretischen und literaturwissenschaftlichen Gefilde zu verbleiben und Negativität aus den bekannten Gedankenfiguren einer Ästhetik der Moderne zu entwickeln.172 Aber diese Versuchung, etablierte Pfade zu gehen, würde dem Prosabegriff eine historische Signatur zuschreiben, die ihm nicht zukommt und die im Kapitel 13.4. ausdrücklich zurückgewiesen wurde. Zudem hat das Theoriedesign mit dem Gedanken, eine Sphäre vor der Form anzusetzen, den Begriff der Materie implizit in Anspruch genommen, sodass die Erweiterung über den engeren literaturwissenschaftlichen Kontext hinaus unabweislich wurde. Versteht man Negativität nicht nur phänomenologisch als Beschreibung von Leid, Schmerz, Abbruch, Tragik oder Misslingen, sondern als grundlegende metaphysische und ontologische Verfasstheit, deren textuelle Entsprechung die permanente Zersplitterung und ihre thematische Umsetzung ist, dann entsteht durchaus ein umfassenderer Rekonstruktionsanspruch. Dieser mag hier zunächst als begründet angesehen werden. Die tatsächliche Exegese der Prosatexte auf ihre Negativität hin ist demgegenüber freilich eine andere und weiterführende Aufgabe. Dazu seien anschließend einige Hinweise gegeben. In Arno Schmidts Kaff auch Mare Crisium hat in der Parallelhandlung Charles auf der Mondoberfläche, im Mare Crisium, die Orientierung verloren; er irrt in der lebensfeindlichen Umgebung umher und setzt sich schließlich auf einen Gesteinsbrocken, die Selenitenformationen seiner Umgebung betrachtend: ((Wenn Ei’m das früher Jeemannt … ma sich ma vorschtelln: uff’m Moont sitzn; uff ner Seeleenietn=Schanze! Fehlte bloß noch ne Bimmsschteinschüssel mit Milchsuppe. Und’n Gollt=Löffl. Mit Monnogramm … .(: oder zum Eimer Gipps=Suppe verurteilt?: die erschtarrt im eigenen=Innern; der Kerl=drumm=rumm fault weck: da lehnt dann, ‹auf eewich›, 1 weißgeschlungener Korallenbaum am Rundwall, drüber=runter gerutscht ein Rippenkorb; jeder Welteninsel 1 Zierde; ich war sehr für so’che Kuriosa … )) (Schmidt BA I/3, 183)
Eine Recherche des Begriffs ›ästhetische Negativität‹ führt sofort zum Kanon der Moderne, philosophisch von Hegel über Nietzsche zu Adorno, literarisch von Baudelaire über Kafka bis zur Gegenwart (vgl. Bohrer 2002, Zima 2005). Selbst die Arbeitsgruppe ›Poetik und Hermeneutik‹, die ihren VI. Band den Positionen der Negativität (Weinrich 1975) gewidmet hat, bleibt im Gegensatz zu den anderen Bänden der Reihe moderneorientiert. Auch die jüngste Recherche des Negativitätsbegriffs (Khurana et al. 2018) folgt dieser Auslegeordnung. Es hat sich offenkundig ein stillschweigender Konsens gebildet, der Negativität weitgehend solchen Theorieanstrengungen zuschreibt, die ab dem neunzehnten Jahrhundert auftreten.
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Die Textstelle ist ein Beleg für negativistischen Humor. Man stelle sich vor, die Mondseleniten und ebenfalls die von den Mähdreschern aufgestellten Heuhaufen, die zu Beginn von Kaff als Seleniten identifiziert werden, wären zustandegekommen, indem ein Mensch einen Eimer Gipssuppe hätte trinken müssen, sodass nach der Verwesung die Gipssäule mit Rippenkorb selenitenhaft übrig geblieben wäre: »[I]ch war sehr für so’che Kuriosa … «. Besteht die ganze Welt, lebensfeindlich wie der Mond, in ihrer Oberflächenformation aus solchen kuriosen Resten des Misslingens, der Gewalt und der vollkommen sinnlosen Nichtigkeit? Schmidts Weltmodell unterstellt derartige Szenarien, oft genug mit Bezug auf die atomare Katastrophe, immer aber auch als Zustand der normalen Welt, in der mit unterstelltem Schöpferwillen solches möglich ist: »Ein alter Bauer mit Fuchspelzmütze, ganz langlebiger Thrakier, zeigte uns seine getötete Schlange: aus der aufgeschnittenen kroch eben eine Kröte hervor: die Hinterbeine bereits vollständig verdaut!!! »‹Und siehe, es war Alles gut›: oh derLumpderlump!!!«« (Schmidt BA I/1, 486) Weltverachtung mit auftrumpfender Geste zum Misslingen des Theodizeebeweises spricht sich hier nachhaltig und entschieden gegen die Möglichkeit einer guten Materie aus. Schmidts Gnosis ist weitreichend. Sie betrifft nicht nur einzelne Sentenzen seines Werks, sondern vielmehr die gesamte Grundarchitektur des fiktionalen Weltentwurfs (Noering 1982). Auch Jean Paul steht unter Gnosisverdacht (Simon 2016d), aber seine Theoriebildung ist umfassender angelegt. Seine hochkomplexe Grundoperation besteht in der Vorschule der Ästhetik darin, die horizontale Achse von austarierten, ins Gleichgewicht gebrachten Oppositionen, die das glückliche Griechentum kennzeichnen, auf eine vertikale Achse umzulegen, die als christliche den unversöhnlichen Dualismus von Himmel und Hölle einführt. Dadurch zerreißen die antiken Gleichgewichtskalküle und ihre Einzelteile fallen in die Hölle oder steigen in den Himmel, ohne dass diese Elemente vormaliger Harmonie jemals wieder an ihren angestammten Ort zurückfinden könnten (vgl. Simon 2013, 211–258). In dieser in die Vertikale umgestellten Weltordnung platziert sich das poetische Subjekt einerseits in Erhabenheitsgeste, also himmelwärts, während es jedoch zugleich abwärts, auf die Höllenwirklichkeit der Erde orientiert ist. Diese immanente Gegenstrebigkeit von Himmelfahrt und Weltverachtung artikuliert sich in der Geste eines verzweifelten Lachens: Wie Luther im schlimmen Sinn unsern Willen eine lex inversa nennt: so ist es der Humor im guten; und seine Höllenfahrt bahnet ihm die Himmelfahrt. Er gleicht dem Vogel Merops, welcher zwar dem Himmel den Schwanz zukehrt, aber doch in dieser Richtung in den Himmel auffliegt. Dieser Gaukler trinkt, auf dem Kopfe tanzend, den Nektar hinaufwärts. Wenn der Mensch, wie die alte Theologie tat, aus der überirdischen Welt auf die irdische herunterschauet: so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen, wie
14.5 Negativität in aestheticis
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der Humor tut, die unendliche ausmisset und verknüpft: so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist. (JP I/5, 129)
Das Grundszenario bei Jean Paul besteht aus der schmerzlichen Komik zwischen dem erhaben Schauenden und dem erniedrigten Angeschauten, wobei freilich der derart Lachende immer auch mit zu den Verlachten gehört. Der ehemalige Satiriker, der zum Humoristen geworden ist, weil ihm die Legitimationsgründe für seine satirischen Strafaktionen abhandenkamen, hat weder den Ausblick auf die Erlösung noch die Fähigkeit, dem misslungenen Weltzustand etwas Positives abgewinnen zu können. Indem er verlacht, trifft er auch und vor allem sich selbst und sein in sich problematisches Verlachen. Aus dieser Positionierung des poetischen Subjekts resultiert bei Jean Paul die umfassende, poetisch, geschichtsphilosophisch und metaphysisch begründete Negativität des Schreibens. Je lustiger die Szenen bei Jean Paul geraten, desto verzweifelter sind sie. Michael Lentz konstruiert in Schattenfroh geradezu ein Aufschreibesystem der Negativität. Die Grundsituation von Schattenfroh formuliert Lentz in seinem Buch Innehaben: [Niemand] macht eine (innere) Reise durch 6 Jahrhunderte (1400–2018), erlebt Gewalt und Hinrichtungen, er wird gleich dreimal hingerichtet: als Jan Hus (1370–1415), Thomas Müntzer (1489–1525) und als er selbst. Die Ausweglosigkeit ihrer Geschichte und ihr Tod lässt Jan Hus und Thomas Müntzer als typologische Präfigurationen des Niemand und seines Vaterkonflikts erscheinen. (Lentz 2020, 82)
Die Situationen, in die Niemand (oder der Sohn) andauernd gerät, bestehen im Kampf gegen den Vater, der als Vertreter der symbolischen Ordnung erscheint, während der Sohn sich dieser Macht zu entziehen versucht: nicht indem er den Vater tötet und seine Stelle besetzt, sondern indem er eine Ordnung des Dritten anstrebt. Diese kann sich freilich nicht positiv setzen; sie würde dann sofort zum Teil der symbolischen Ordnung werden. Wesentliche Teile von Schattenfroh bestehen deshalb in Folterszenen, die dem Sohn (oder Niemand) angetan werden, allerdings ohne dass dabei ein Schmerzempfinden in den Vordergrund treten würde. Die Folter nämlich ist als monströse Arbeit der Negativität zugleich und in einer sehr vertrackten Weise im Sinne der negativen Theologie ein Tun, welches das Auslöschen affirmiert, um so die Affirmation selber zu dekonstruieren. Wenn am Ende von Schattenfroh die Materialität der Schrift ausbleicht und ins weiße Papier übergeht, dann geschieht die Folter an der Schrift selbst. Sie geht auf diese Weise von der schwarzen zur weißen Schrift über, im Sinne des kabbalistischen Theorems von der generischen Urschrift, die als weiße Schrift auf weißem Grund geschrieben ist, aber nie anders erscheinen kann als in der falschen Form schwarzer Buchstaben. Schattenfroh ist
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14 Negativität
für eine Theorie der Prosa deshalb ein so zentraler Text, weil hier gewissermaßen die poetische Funktion selbst zum Akteur eines Systems von Negativität wird. Letztlich geht es darum, an den Ort der weißen Schrift, der reinen Äquivalenz als solcher, also der poetischen Funktion in Reinheit gelangen zu wollen. Dies aber ist ein Widerspruch in sich, hängt doch die poetische Funktion substantiell an der Materialität der Zeichen. Sie muss sich also in die schwarzen Buchstaben hineinbegeben, aber nur, um durch sie hindurchzugehen. Die Folter an den materiellen Leibern von Niemand (oder dem Sohn) ist das Hindurchgehen der poetischen Funktion durch die Materie der Schrift. Schattenfroh ist in diesem Sinne zweifelsohne ein negativistischer Text, Painporn der poetischen Grammatik. Die Tür zur Positivität der weißen Schrift muss verschlossen bleiben, insofern liegt ein strikt dualistisches System vor, das in sich nach verschiedenen Ebenen des Materiebegriffs gestaffelt ist. Aus diesen knappen Überlegungen zu Arno Schmidt, Jean Paul und Michael Lentz – sie wären zu ergänzen durch Hinweise auf Raabe, Fischart oder Joyce – dürfte ein letztes Mal die Affinität avancierter Prosatexte zur Negativität deutlich geworden sein. Es ist gerade ihre Eigenschaft, die poetische Grammatik auf die Textbühne zu stellen und damit die Zerteilung in Gang zu setzen, die auf die grundlegenden Modelle der Negativität führt. Wollte man die Grundlegung zu einer Theorie der Prosa in die eigentliche exegetische Arbeit überführen, dann wäre die Negativität dafür der Leitfaden.
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Sachregister Abdrift, hermeneutische 5 Abweichung, s. Clinamen 91, 341–342, 345–346 Achse der Kombination 70 Achse der Selektion 70–71 actio 68–69 Adjuvant, s. Helfer 244–245 Adressant, s. Funktion, emotive 65, 89, 244–245 Adressat, s. Funktion, konative 39, 65, 78, 89, 220, 244–245 Affekt, sinnlicher 20, 23, 347–348, 352–353 Affirmation 174–175, 191, 250, 294, 361 Ähnlichkeit, s. Analogie, s. Äquivalenz 72, 74–75, 118, 147, 151, 208–209, 259, 290–293, 298, 302–303, 306 Aisthesis 25, 60–61, 103–107, 123, 332, 334–335 Aktant 98, 113, 168, 189, 197, 244 Alchemie 34, 208, 216 Allegorie 6, 77, 79, 85, 200, 219, 256, 275–277, 305, 311–312 Alliteration 44, 81, 217 amplificatio, s. diaeresis 88–89, 152, 207–208, 236 – Pluralisierung 76–77, 98, 106, 113–114, 282, 356 – Verdopplung 84, 89, 159, 207 – Vervielfachung 85–90 – Vervielfältigung 90, 177, 207 Anagogie, s. Sinn 275 Anagramm 5, 71, 89, 93–94, 176, 207–210, 216, 218, 227, 237, 344–345 Anakoluth 271 Analogie 29, 118, 120, 259, 290, 293, 298, 300, 302–304, 345–346 Anamorphose 310–311 anima Stahlii 187 animal symbolicum 145 Animismus 278 Anthropologie 20–22, 115, 123, 186–189, 191, 198, 332, 334, 351–354 Antitypos 117, 305–306 Aphorismus 13, 303
https://doi.org/10.1515/9783110775570-016
Apokoinu 251–252, 271–272, 357 Apostrophe 108, 140 Appell, s. Funktion, konative 64 aptum 39 Äquivalenz 29, 70–72, 78–79, 90, 148–149, 151–153, 318–319, 321, 362 Äquivalenzprinzip 63, 70–78, 96–97, 236, 355 Archeonym 317 argumentatio 39 ars combinatoria 213 Artikulation, s. Funktion, poetische 69, 72, 83, 85–86, 147, 214 Assonanz 73, 81 Ästhetik 3–4, 23–25, 45, 51–52, 61, 103, 128, 194, 304–305, 325, 328, 332, 334, 352, 359 Atom 93, 213, 322–323, 336, 341–346, 357–358 Aufschreibesystem 112, 135, 138–140, 177, 215, 361 Ausdruck, s. Funktion, emotive 64, 170, 326, 332 Autobiographie 60–61, 87–88, 105, 108–110, 276–277 Autonomieästhetik 146, 332–334 Autopoiesis 85, 146, 298 Autorschaft, Funktion 77–78, 87, 94, 98, 107, 109, 111, 114–116, 119, 121–123, 166, 168–171, 181, 183, 219–220, 278 axis mundi 244 Bild 54–55, 96, 102–103, 124, 159, 162–164, 239, 241–243, 245–247, 253, 263–264, 266–267, 292, 314–316, 326, 329, 339–340 Bild, dialektisches 117, 151, 306 Bildobjekt 241–242, 246–247 Bildsujet 241–242, 246–247 Bildtheorie 86, 241 Bildträger 241–242, 246–247 Binnenreim 81 Botschaft, s. Funktion, poetische 65–67, 69, 75, 83–86, 89–90 Brachylogie, s. Apokoinu 251
380
Sachregister
Buchstaben, s. Merkmale, distinktive 9, 33, 72, 78, 90, 93, 157, 207–209, 213–218, 220, 275, 330, 342, 344–346, 361–362 Buchstabiermethode 213–214 Boustrophedon 28, 137, 210, 212, 217, 251–252, 264, 270–271, 299, 357 camera obscura 140, 167 chair, s. Fleisch 99, 106–107, 113, 167–168 Chaos 25, 104, 128, 332, 335 Charakter 98–99, 108, 112, 116–117, 120, 123, 144, 172, 186–189, 191, 354–355 Chiasmus 44, 55, 242, 332–333 Chronotopos 142–143, 147, 152, 155, 157–160, 165, 169 Clinamen, s. Abweichung 341–342, 345–346 close reading 36 cognitio obscura, s. Monismus 104 commercium mentis et corporis 186–191, 257 constructio, s. Apokoinu 251 Cursus 193 Cyclus 193 Darstellung, s. Funktion, referentielle 3, 60–61, 64, 69, 82, 92, 97, 103–104, 106, 115–118, 127–129, 141, 152, 170, 199, 281–282, 285–286, 294, 333, 335 Dekonstruktion 6–7, 36, 42, 82, 94, 194–196, 270–271, 310 Denotation 147, 204 diaeresis, s. amplificatio 89, 208 – Atomisierung 90, 213, 222 – Aufspaltung 77, 87–88, 109, 121, 123, 167–169, 176, 218, 318 – Aufsplitterung 218 – Aufsplittung 89, 108, 114, 249, 320 – Zerbröseln 320 – Zerfall 298, 302, 320, 343, 346, 355, 358 – Zergliederung 61, 90–91, 205, 210, 236, 249, 357 – Zerkauen 196, 227, 236, 318 – Zerkleinerung 9, 211, 227 – Zerlegung 9, 61, 73, 88, 90, 114, 123, 170, 175, 206–208, 210, 213, 217–219, 222, 227, 236, 315
– Zerreibung 218, 227, 249, 298, 302, 325 – Zerschneidung 141 – Zersetzung 90–91, 260, 298, 323 – Zersplitterung 169, 303, 359 – Zerstückelung 298, 320 – Zerteilung 82–83, 89–94, 114, 142, 174–175, 207–208, 210, 320–321, 323, 331, 336, 339, 362 Dialektik 117, 188, 230, 249, 252, 293, 335, 338 Diärese, s. diaeresis 208–209, 236 Dichte, opake, s. fundus animae 25, 104, 334, 336 Dickicht der Zeichen, s. Semiose, wilde 5 Diegese 98, 108, 123 Digression 256, 284, 320, 346 Diskurstheorie 4, 6 dispositio 39, 208 Dispositiv 64, 103, 133, 279, 295, 354–355 Dissemination 218, 220, 249 distributio, s. diaeresis 208 Dominanz, s. Funktion, poetische 63, 76–78, 81–82, 106, 129, 320 – supremacy 76, 89 – Vorrang 76 Dreistillehre, rhetorische, s. genera dicendi 305 Dualismus 93, 119, 322–323, 336–337, 339, 341, 349–350, 354–358, 360, 362 Durchdringung, s. Perichorese 64, 150–151, 183–186, 234, 269–270 Durcheinanderprosa 357 dynamis, s. Entelechie 145 Echolalie 73 écriture-lecture 171, 200 Eigenname 87, 176, 219–220 Einbildungskraft, s. Phantasie 19–21, 23, 115–116, 129, 187, 333, 351–353 Elementarsequenz 281, 283 Ellipse 254–255 elocutio 57–58, 73, 206 Emotivität, poetisierte, s. Funktion, emotive 77, 87–88, 94–95, 98–99, 103, 113, 116, 121, 123, 166–167, 169–170, 176, 183–184, 318
Sachregister
Empfänger 64, 66, 77–78, 83–86, 89–90, 170, 173, 244 Ende der Kunst 45–46 Enjambement 28, 238, 249–250 Entautomatisierung 78, 91, 129, 133, 135, 141, 206, 249, 293 Entelechie 145–146, 152–153, 186, 324, 326, 328, 333–334, 339 Enzyklopädie 8, 41–42, 122–123, 159, 242, 285–288, 296 Episteme 197, 214, 290–296 Epistemologie 93, 213–214, 217, 291–296, 331 Epos 25, 178 Erkenntnistheorie 258, 351 Erkenntnisvermögen 333 Erlösung, profane 306 Erwachen 306 Erzählakt 108 Erzählebene 108, 243, 282 Erzähler 98, 108, 123, 144, 270, 281 – Erzähler, allwissender 281 – Erzähler, auktorialer 234 – Ich-Erzähler 31–32, 131, 280 Erzählform 9 Erzählinstanz 283 Erzählkunst 283 Erzählmodell 243, 281 Erzählprosa 2, 8–9 Erzählstimme 231 Erzählung 98, 243–245, 268, 281–286, 326–327 Essayistik 1–2, 8, 100, 221, 320 Etym 32–33, 121, 151, 203, 206, 212, 217–218, 221–237, 314, 345–346 Etym, optisches 224–225, 231–234, 236, 345 Etymologie 29, 33, 137, 154, 202, 204, 211 Etymologie, poetische, s. Anagramm 71, 203, 207, 209, 227, 234, 237, 344 Exegese 35, 77, 95, 109, 194–195, 220, 275–277, 304, 355, 359 felix aestheticus 51 Figur, grammatische 17, 49, 72–73 Figur, literarische 90, 95, 98, 106, 109–110, 112, 116, 119, 168, 221, 254, 269, 281, 288, 295, 305, 308
381
Figur, s. Textfigur, s. Trope 17, 44, 58, 64, 73–74, 122, 191, 206, 250, 273–274, 302, 306, 312, 325–326, 341, 358 Figura 118, 305–306, 340–341 figura etymologica 73, 209, 216 Figuration 118, 121, 137, 188, 219, 230 Fiktionalität 77–78, 82, 87–88, 94–95, 98, 125–126, 128–130, 135, 138, 141–142, 167–171, 197, 302, 360 Fläche 147–149, 151, 162–163, 165, 168 Fleisch, s. chair 105–107, 113, 117, 120, 125, 142, 170, 177 Fleischlichkeit, s. Fleisch, s. Verkörperung 118, 305 Fokalisierung 270–271, 280–281, 284 Fokus, narrativer 281–284 Form 2–3, 4, 5, 6, 8, 13, 43, 46, 80–82, 91, 128, 144–147, 151–152, 239–243, 246–247, 249–250, 264, 306–308, 321, 323–336, 338–341, 343–344, 349 – nach der Form, s. Selbstreferenz 8–9, 25, 128, 152, 250, 321, 323, 325, 328, 335–337, 339, 341, 344, 348 – vor der Form, s. Materie 8, 25, 129, 152, 321, 323, 325, 328, 334–337, 339, 341, 348, 359 Formalismus, russischer 3, 43, 58, 62–63, 69, 76, 80, 91–92, 106, 249, 282 Formtelos 212, 241, 254, 264 Fortgebäude 157, 160, 164 Fremdreferenz 3, 25, 83, 86, 88–89, 98, 100, 102–103, 125, 130, 135, 207, 290, 293, 295, 324 fundus animae 3, 61, 104–106, 109, 111–112, 122–123, 128–129, 166, 322, 334–335 Funktion – Funktion, emotive, s. Autorschaft, Funktion 64, 69, 77, 86, 106–107, 111–116, 119–120, 123, 168, 218–220, 295 – Funktion, konative, s. Lesen, s. Leser 64, 69, 77–79, 220 – Funktion, metasprachliche, s. Poetik, immanente 66–69, 77, 79, 83–86, 89, 199, 208 – Funktion, phatische, s. Schreibszene 67–69, 77, 79–80, 83, 85–86, 89, 107, 112, 199, 208, 218, 311
382
Sachregister
– Funktion, poetische, s. Selbstreferenz 3, 61–62, 63, 65, 68–79, 82–83, 85–91, 96–97, 118, 130, 199, 203, 205, 207–210, 218, 221, 236, 273, 293, 302, 318, 323, 345, 357, 362 – Funktion, referentielle, s. Fiktionalität 64, 69, 77, 209 Gattung 2, 14, 43–44, 51, 53, 59–60, 144, 190, 221, 247, 324, 327 Gebrauchstext 24, 39 Gedächtnis, s. Memoria 129, 156, 163, 187 Gedicht 4, 25, 28–29, 30, 46, 71–72, 74, 85, 137, 144, 250, 329–330 Gehirntier, s. Intelligenz 122, 358 genera dicendi 18 – genus grande 190 – genus humile 190 – genus medium 190 genera orationis 39 Genie 226, 333–334 Genotext 73, 75, 228–230, 327 Geschichtsphilosophie 19, 21–22, 164, 293, 351–352, 361 Gestalt, s. Form 78, 152, 291, 323, 325–328, 332, 335–336, 343–344 Gnoseologie 25, 103–104 Gnosis 34, 119–120, 182, 231–232, 276–277, 308, 322–323, 337–341, 343–344, 350, 353–354, 357–358, 360 Grammatik 8, 20, 57, 90–91, 93, 206, 243, 246, 291 – Grammatik, funktionale 38, 245, 268, 270 – Grammatik, poetische, s. Selbstreferenz 10, 60–61, 73, 77–83, 87–88, 90–97, 99, 106–107, 115–116, 118, 120, 123–124, 133, 138, 141, 168, 173–174, 195, 198–200, 205, 207, 210, 218, 273–274, 336, 362 Groteske 127–129, 141, 191, 223–224 Handlung 40–42, 96, 143–145, 243–245, 247, 284, 324, 326–327 Harmonie, prästabilierte 187, 299, 331–332, 334 Held 40, 98, 244, 285
Helfer 98, 244 Hermeneutik 1, 6, 88, 109–110, 139, 169–170, 199, 276–277, 304, 313, 315 Hieroglyphe 353, 357–358 Homologie 298, 300, 302–303 Homophonie 345 Humor 106–107, 119–120, 166, 220, 223–224, 286–288, 316, 361 hyle, s. Materie 211, 348–349, 351–352 Hypotaxe 93 Ich, lyrisches 144, 250, 271 Ich-Jetzt-Hier-Origo 102 Ich-Teile, s. Autorschaft, Funktion 169–170, 181 Idealismus 186, 337, 340, 347–349 Idylle 142, 156, 190–191, 353–354 Ikon 246 Ikonizität 54–55, 94, 229, 260, 264, 267, 273 imago agens 163–165 Imitatio Christi 280, 283 imitatio naturae, s. Mimesis, s. Nachahmung 96, 99 Individualisierung 45, 47 Individuum 197 influxus physicus 187 Innerlichkeit 27, 64, 126, 294 Instanz, psychische 106, 110, 112, 114, 119, 166, 220, 278, 314, 355 Instanz, vierte, s. Humor 119–120, 166, 223 Instanzentheorie, s. Instanz, psychische 112, 119, 168, 171, 198, 221, 231, 276, 278 Intelligenz 122–123, 358 Intertextualität 39, 114, 119, 121, 260 inventio 39, 217 Inversion 10, 21, 90, 210, 212, 223 Ironie 56, 113, 316, 350 Jambus 29 Kanon 5–6, 92–93, 305, 307 Kode, s. Funktion, metasprachliche 65–67 Kofferwort 151, 204 Kohärenz 8, 38–40, 257, 357 Kohäsion 8, 39 Kolon 249
Sachregister
Kombinatorik 74, 204, 209, 214, 342–343 Komik 133, 287–288, 361 Kommunikation 66–69, 72, 75, 79, 83–90, 94, 125–128, 131–134, 141, 169–173, 199 – Kommunikation, misslingende 27, 125–126, 128–131, 134–135, 141, 155, 160, 169–173, 187–189 – Kommunikation, sprachliche 12, 65 Konativität, poetisierte, s. Funktion, konative 77, 87, 95, 169–172, 175, 183–184, 191, 196, 318 Konnotation 32, 147 Konstellation 59–60, 90, 233, 235–236, 343–344 Kontakt, s. Funktion, phatische 65, 68, 84, 86 Kontext, s. Funktion, referentielle 64–66, 129, 289 Ko-Opposition 282–283 Körnichte 54–56 Korpuslinguistik, s. Textlinguistik 8 Kreter-Paradoxon 15, 67 Krypta 181, 280, 312–315, 317–319, 357 Kunstmittel 2, 25, 43, 49, 62–63 – Kniff, rhetorischer 25 – Kunstgriff 43, 73, 76, 249 – Verfahren, rhetorisches 319 Kunstwerk 146–147, 174, 293–294, 319, 321, 333 Kyniker, s. Zynismus 113 Lachen 120, 133, 223–224, 360–361 langage 274 langue 274 Langzeile 297 Leben, falsches 152 Leidenschaft 20–21, 192 Lesbarkeit 36, 83, 88, 174, 322 Lesen, s. Konativität, poetisierte 5, 77, 87–88, 95, 147, 149, 171–172, 174, 177–178, 182–186, 189, 191, 193–198, 200, 217–218, 255 Leser 77–78, 84, 220, 258 – Leser, idealer 78 – Leser, missverstehender 78 Linguistik 62, 64, 70, 72, 75, 86, 93, 241, 281 Liste 41–42, 286
383
Literarizität, s. Poetizität 6, 62 Literaturwissenschaft 1, 3–4, 5, 6, 14–15, 35, 40, 60–62, 92–93, 171, 194–195, 221, 274, 315, 335 Logik 192, 208, 238, 240–241, 248, 253, 258, 264, 347 Logozentrismus 71, 73 Lügen, s. Wahrheit 15, 130 Lyrik 4, 30, 35, 47, 57, 92, 145, 210, 238, 250, 327, 330–331 magia naturalis 290 Manierismus 93 Manifestation 75, 79–81, 85 Materialismus 93, 188, 190, 323, 337–339, 341, 344–345, 348, 351 Materialität 68, 71–73, 79, 83, 86–87, 199–200, 208, 212, 214, 216, 218, 323, 326, 338, 341 Materie, s. Negativität, s. Selbstreferenz 187, 214, 321–323, 337–341, 343, 348–349, 351–353, 356, 359 – materia 120–121, 211 – matrix 121, 154 Medientheorie 86 Medium 2 Mehrsprachigkeit, s. Vielsprachigkeit 10, 40, 202–204, 222, 315, 317 membra disiecta 111, 122 Memoria 156, 163, 308 Merkmale, distinktive 9, 72–74, 222, 236 Messianismus 306 Meta-Literatur 130, 173, 195–196, 199, 229, 300 Metapher 72, 120, 183, 227, 256, 353 Metaphorologie 143, 162, 261 Metaphysik 115, 120, 141, 164, 182, 299, 322, 332, 337, 339 Metasprache, poetisierte, s. Funktion, metasprachliche 77, 79–80, 107, 199–201, 220, 318 Metrum 14, 29, 34, 36, 44, 46–48, 54–55, 250, 332 Mimesis 3, 80–81, 96, 115–117, 144–146, 304–306, 324–325, 334 Mimikry, kratylische 73 Mimus 197
384
Sachregister
Moderne, ästhetische 93, 289 Monade 104, 115, 257, 299, 301–302, 314, 331, 334 Monismus 104, 325, 334, 336 Morphologie 75 Muse 113, 119 Nachahmung, s. Mimesis 99, 104, 127, 144–145, 258–261 Narration, s. Erzählung 98, 145, 240, 243, 246, 264, 267, 270, 281, 324 Narratologie 123, 271, 280–281 Nationalsprache 54, 222, 237, 274, 315 Natur 96, 144, 213–214, 290, 333 – natura naturans, s. Genie 333–334 – natura naturata 333 Negativismus 170, 174, 295, 339–341, 346, 349–350 Negativität 82, 91, 93, 141–142, 169–170, 173–174, 176–178, 181, 219, 263, 267, 298, 303, 320–323, 325, 337–338, 343, 353–362 Neuplatonismus 50 noise 66, 69 – Lärm 66 – Rauschen 66, 68 – Störung 66–69 Nullfokalisation, s. Fokalisierung 281 Numerus, s. Rhythmus 17, 35, 44, 48–50, 239 Objektsprache, s. Funktion, metasprachliche 15, 66, 79, 85 Okkasionalismus 123, 187 Ontogenese 19, 21, 354 Opponent, s. Schadensstifter 98, 187, 244–245 oratio, s. Rede 14, 18, 30 – oratio pedestris 53 – oratio provorsa 38 – oratio soluta 16 – oratio versa 16 Organonmodell 69 ornatus 208 Oszillieren, distinktes 86–87, 89, 252, 272
Panorama 143, 159 Pantomime 20 Paradigma 63, 69, 71–72, 229–230, 310 Paragramm 5, 74, 204 Parallelismus 73, 81, 88, 210, 218 Parallelwelt 94, 148–151, 271 Parasit 69, 89 Parekbase 107 Parodie 51, 107, 215, 254, 284 parole 72–73, 75, 274 Paronomasie 73–74, 209, 216–217 perceptions, petites 104–105, 111, 122, 128, 334 Performative 139, 272 Perichorese 150, 184–185, 233–234, 269–270 Periode 17, 20–21, 35, 46–48 Person, geschädigte 244 Personalität 99 personificatio 197 Perspektive 46, 50, 84, 92, 107–108, 144, 269, 281, 324 Phallussymbol 32 Phänotext 73, 228, 230 Phantasie 14, 19–20, 23, 129 Phatik, poetisierte, s. Funktion, phatische 77, 79, 95, 149, 199–201, 218 Philologie 192–195 Philosophie 52–54, 93, 186, 192, 215, 291, 299, 348, 350, 356 – Ich-Philosophie 190, 350 – Nicht-Ich-Philosophie 350 – Philosophie der Zeit 161, 163, 298 – Philosophie, idealistische, s. Idealismus 188, 348 – Philosophie, transzendentale, s. Metaphysik 291 – Sprachphilosophie 85–86, 313 Philosophiegeschichte 350, 352, 359 phoné 71, 208, 227 Phylogenese 19, 352, 354 Platonismus 336 Plot 187, 243 Plurifokalität 5, 40–41, 221, 269, 280, 282–284
Sachregister
Poesie 1, 8, 13–15, 21–22, 24, 35, 46, 54, 60, 62–63, 69–70, 75, 78, 86, 92, 173, 194–195, 209, 297, 300 – Poesie, poetische 24–25 – Poesie, prosaische 24–26 Poetik 2–3, 4, 19, 23–24, 91–94, 106, 143–145, 220, 305, 344 Poetik, immanente, s. Funktion, metasprachliche 77–79, 85, 95, 149, 195, 199–200 Poetizität, s. Selbstreferenz 3–4, 61, 63, 71, 78, 80, 85–86, 92, 323, 328, 330–331 Poiesis 68, 72, 79, 105, 127, 184–185, 202, 223, 250 Poiesis, ikonische 61, 95–97, 109, 124, 138, 142, 169–170, 174, 186, 229, 232, 241, 357 Polyglossie, s. Mehrsprachigkeit 222 Polyphonie der Prosa 46 Prädikation 240–243, 245–248, 250, 267–268, 270–271 Prinzip 3, 60, 71, 75–76, 78, 142–143, 260, 273, 337–338, 356 Prinzipiat 71, 356 Privatsprache 312–313, 318 Projektion 63, 70–71, 73, 96–97, 152 Proportion 325, 327–328 Proposition 69, 241, 246, 357 Prosa 1, 37, 61, 93, 106, 170, 323 – Kunst der Prosa 8–9, 18, 26, 43–44, 46–48, 57–58, 117, 206, 238–239 – Prosa des Lebens 27, 126–129, 131 – Prosa, avancierte 3, 92, 123, 196–197, 300, 303, 312 – Prosa, poetische 22–25, 42, 194 – Prosa, prosaische 24–26, 39–42 – Prosa, schöne 20 – Prosa, vielstimmige 21 Prosaautor 27, 178, 184, 202, 254, 349 Prosaformen 2, 8, 239 Prosagedicht 2, 300 Prosastilistik 57, 59 Prosatextur 10, 103, 106, 136–137, 141, 157, 255 Prosawort 48, 204–205, 237 Prosimetrum 44, 50–52
385
Prosopopöie 108 Psychoanalyse 33, 112, 119, 245, 268, 312, 314–316, 318–319 Rabulistik, satirische 286, 288 Radien, reziproke 168, 221 Raum 142, 147, 149, 164, 248, 250, 302, 308, 312, 317, 327, 352 Realismus 127, 129, 133, 141, 305–306 Realismus, magischer 135, 141, 270–271 Rede, s. oratio 12, 14, 16, 18, 29–30, 38, 301, 341 – Rede, nicht versifizierte 24 – Rede, versifizierte 1, 24–25 Redekunst, s. Rhetorik 43 Redewendung 134, 141, 229 Redundanz 66–67, 75, 90 re-entry 76–77, 96, 201, 218, 309, 321–322 Referentialität, poetisierte, s. Funktion, referentielle 77, 94–95, 125–126, 131, 141–142, 168–171 Referenz 77–78, 103, 129, 170, 246, 302 Referenznahme, poetische, s. Fiktionalität 135 Regelpoetik 333 Reim 14, 29, 34–36, 72–73, 250, 317, 329–330, 332 Rekursion 104–105, 133, 298, 325 Repräsentation 291–295 res cogitans 186–187 res extensa 186–187 rewriting 297 Rezeption, s. Lesen 87, 96, 145, 170, 198, 334 Rhema, s. Thema 39, 277 rhetorices partes 68 Rhetorik 8, 13, 18–20, 26, 39, 43, 57, 163, 206, 274, 333 Rhythmen, freie 46 Rhythmus 46, 48–50, 52–54, 57–58, 142, 239, 325 Roman 19, 44, 98, 142, 190, 194–195, 255 – Abenteuerroman 142, 296 – Âventiure-Roman 296 – Prosaroman 19, 156
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Sachregister
– Roman, anthropologischer 186, 190 – Roman, deutscher 190 – Roman, historischer 177 – Roman, höfischer 190 – Roman, humoristisch-satirischer 142 – Roman, italienischer 190 – Roman, niederländischer 190 – Roman, satirischer 142 – Roman, spätmittelalterlicher 296 – Schäferroman 190 – Schelmenroman 190 – Staatsroman 186–191 Romanhandlung 191, 275, 280, 282, 354–355 Romantheorie 19, 91, 93 Rückkopplung, semantische, s. Selbstreferenz 67, 79, 199 Satire 188–190, 289, 295 Satire, menippeische 51 Satz, poetischer 93, 207, 238–239, 249–250, 272, 320 Satz, spekulativer 247–250, 267, 270, 272 Schadensstifter 244 Schein, ästhetischer 261 Scheinetymologie 202, 204, 237 Schreibakt, s. Schreibszene 107, 171, 218 Schreibszene, s. Phatik, poetisierte 77, 89, 95, 112, 140, 199–200, 218–219 Schriftsinn, mehrfacher, s. Sinn 40, 122, 275–280, 282, 308, 353–354, 357 Seelengrund, s. fundus animae 104–105, 111, 128, 141 Sehe-Punkt 115, 167 Selbstbeobachtung 107, 123, 223–224 Selbstreferentialität, s. Selbstreferenz 61, 70, 77, 80, 83, 105–106, 199, 298, 336 Selbstreferenz, s. Funktion, poetische 3, 61, 82, 274, 298, 321, 325 Semantik 49, 71–72, 208, 314 Semantik, gepflegte 8, 38, 41, 286, 289, 296 Semiose 125, 128, 141, 169–170, 212 Semiose, wilde 5, 8, 10, 26, 28, 40, 73, 76, 82, 88, 92, 204, 296, 315, 318, 323, 357–358 Semiotik 222
Sender 64, 66, 77, 83–86, 90, 103, 170, 173 Sender, definierender 244 Sexualität 34, 181, 211–212, 223, 228, 236, 346 Signatur 152, 290, 306 signatura rerum 118, 134, 205, 303 Signifikant 71, 75, 83, 87, 214, 326 Signifikat 66, 83, 214, 332 Silbe 29, 207 silvae poeticae 121 Simile 73, 293, 304 Sinn/sensus, s. Schriftsinn, mehrfacher – Sinn, allegorischer 275–276, 305 – Sinn, anagogischer 275–276 – Sinn, literaler 6, 147, 206, 275–277, 280 – Sinn, moralischer 275–277 Sinnlichkeit, s. fundus animae 3, 19–20, 55, 122 Sinnsystem 5, 34, 276–278, 293 Situationalität 8, 39, 55, 294, 327 snapshot 206 Soliloquium 112, 119, 220 Sonett 81, 328–330 Sprache, adamitische, s. Ursprache 226, 234 Sprachmagie 94, 133–136, 138–141, 150–151, 171, 184, 225–226, 228, 234, 236, 304 Sprechakt 67, 83, 139, 156, 171, 225, 232, 241–242, 288 Sprechsituation 119, 144–145, 324 Spürbarkeit der Zeichen 72 Stanze 297, 300 Stil 8, 202, 238, 304–305 Stil, prosaischer 56 Stilistik 8–9, 18, 26, 43, 56–58, 239 Stilmittel 206 Stimme, s. Fokalisierung 281 Stoff, s. Materie 25–26, 260, 306, 322, 334–336, 348–350 Strophe 28, 71, 297–298 Strukturalismus 62, 70–71 Subjekt 101–102, 107, 109, 111, 156, 240, 243, 245, 247–248, 291, 333–334, 346 Subjekt, transzendentales 327, 331, 349–350 subscriptio 266–267
Sachregister
Substrat, autobiographisches 61, 108–109, 111–112, 115–116, 170, 176, 189, 191, 201 Sujetereignis 41, 288, 357 Sujetlosigkeit 40–42, 285, 357 Symbol 96, 127, 145 Symmetrie 325, 327–328 Synästhesie 104, 358 Synchronisation 126–128, 131–134, 141 Syntagma 63, 73, 75, 152 Syntax 75, 155, 260, 264, 270 Szene, mythologische 245 Szenographie 61, 96, 113, 115, 135, 142, 247 Teleologie 145, 152, 238, 269, 336, 343 Tempus 39, 270 Text, fiktionaler 1, 8–9 Textbühne 61, 83, 94, 107, 123, 156, 357, 362 Texteinheit 17, 39, 95, 265, 298 Textexpansion 9, 157, 202, 218 Textfigur 273–274, 277, 280, 288, 290, 319–320, 356–357 Textkorpus 3, 6, 9, 51, 59–60, 81, 296 Textlinguistik 8–9, 26, 38–40, 42, 59, 75, 86, 263 Textrepertoire 128, 278–280, 282 Textsorte 39, 52 Textstrategie 129 Textsystem 5, 276, 278 Textualität 36, 38, 40, 273, 300, 336 – Textualität, hypertrophe 8, 26 – Textualität, plurifokale 5, 59, 283, 357 Thanatologie 174, 228 Theater 145, 156, 197, 233, 324 Thema, s. Rhema 39, 98, 195, 277, 327 Theologie 119, 150, 275–276, 307–308, 338–339, 353 Theorie 160, 193, 197, 221, 238, 274–275, 277, 291, 328, 335, 349 – Theorie der poetischen Selbstreferenz 3, 6, 35, 59, 61, 63, 96, 98 – Theorie der Prosa 1–2, 3, 4, 6, 8, 10, 25–26, 35–37, 39–40, 59–61, 117, 198, 331, 355 Ton 20, 45, 52, 258 Tonlage 45–46, 50 Topologie, mathematische 299, 301
387
Topos 44, 53, 143, 158, 202 Tragödie 145 Transformation 43, 63, 77–78, 91, 324, 332, 334–335 Transzendenz 19, 190, 344 Trauerarbeit 33, 316 Trauma 181, 315–316, 318–319 Traumarbeit 33 Traumtext 310 triceps 351, 353–354 Trieb 223, 227 Triptychon 137 Trope, s. Figur 44, 55, 58, 64, 73, 122, 191, 206, 250, 341 Typologese 308 Typologie, christliche 117–120, 148, 151, 305–307 Typos 117–118, 305–306 Typoskript 5, 40, 230, 232 Über-Ich 106, 119, 166, 220, 222–223 Überlagerung 64 Übersetzung 54, 200, 202–204, 221, 237, 313, 317 Übersetzung, wilde 315 Unbewusste 104, 106, 119, 166–167, 220, 222–224, 231–235, 317 Unendlichkeit, schlechte 42, 164, 286–288, 341 Ursprache, s. Sprache, adamitische 203–204, 226–227, 234–235 Urszene 236, 265, 314–315, 319 Urteil 77 – Urteil, bejahendes 240 – Urteil, moralisches 295 – Urteil, teilweise bejahendes 240 – Urteil, teilweise verneinendes 240 – Urteil, verneinendes 240 verbum internum 85 Vergegenwärtigung 96 – energeia 96 – evidentia 96, 124 – hypotyposis 96 Vergleich 308, 341 veritas aesthetica 328, 332, 334–335
388
Sachregister
veritas aestheticologica 328, 332, 334–335 veritas metaphysica 328 Verkörperung, s. chair, s. Fleisch 60, 94–95, 99, 106–107, 113, 115–118, 177, 184, 223, 305–306, 340 Vermögen, untere 103, 187 Vermögenstheorie 21, 354–355 Vernunft 20–21, 55, 187 Vers 1, 13–14, 17, 25, 28–30, 35, 44, 46, 71, 238, 249–250, 330 Verstand 19, 21, 145, 352–353 Vielsprachigkeit 10, 203 vinculum substantiale 302, 304 Vorstellung 102–103, 233, 241–242, 309, 329, 339 Wahrnehmungstheorie, s. Aisthesis, s. Ästhetik, s. Sinnlichkeit 103, 332, 334, 348, 352 Wald, s. Materie 104–105, 120, 128, 143, 154–156, 220, 285, 335 Weltverlachung 286, 354 Wende, kopernikanische 115 Wendung 137, 140, 168, 239, 300 Wiedergänger 106, 110 Winkelwort 314
Witz 122, 203, 223, 287 – Witz, akustischer 203 – Witz, semantischer 203–204 – Witz, unheiliger 308 Wohlklang 17, 24, 44, 55 Wörterbuch 32, 42, 285–286, 288, 297, 312–313, 318 Wörtlichkeit, s. sensus litteralis 54–55, 206, 279 Wortspiel 202–204, 216, 237 Wunderblock, Freud’scher 112, 138, 156, 280 Wunschobjekt 244–245 Wurzel, etymologische 54 Wurzelwort, s. Etym 217 Zäsur 13–14, 28–29, 34–35 Zaubermärchen 243 Zeichen, sprachliches 64, 83, 291 Zeichenregime 21–22, 316, 354 Zeichenrelation 293, 295 Zeit 142, 146–149, 152, 161–165, 306–307, 327, 358 zoon politikon 145 Zweisubstanzendualismus 186 Zynismus 120, 191, 288–289
Personenregister Abraham, Nicolas 280, 312–319 Adelung, Johann Christoph 252–253 Adler, Hans 104, 334–335, 351 Adorno, Theodor Wiesengrund 111, 174–175, 263, 293, 332, 340, 359 Agamben, Giorgio 28–29, 30, 205, 299, 334 Althaus, Thomas 13 Angehrn, Emil 107, 313, 320, 355–356 Angelus Silesius (Johannes Scheffler) 184, 186 Apuleius von Madaura 16 Archilochos 49 Aristoteles 96, 99, 111, 143–146, 186, 190, 304, 306–307, 324–328, 348 Arndt, Andreas 192 Arndt, Astrid 15, 43 Assmann, Aleida 293, 357–358 Auerbach, Erich 117, 153, 304–306 Augustin (Augustinus von Hippo) 161–165, 308 Bachtin, Michail M. 45–46, 142, 152, 204, 238 Balke, Friedrich 306–307 Barck, Karlheinz 15, 24, 93, 126 Barthes, Roland 39, 174, 243, 343 Bataille, Georges 337–338 Baudelaire, Charles 74, 359 Baum, Manfred 351 Baumgarten, Alexander Gottlieb 26, 51, 103–104, 128, 328, 332, 334–335 Baumgarten, Hans-Ulrich 347 Beaugrande, Robert-Alain de 38, 281 Beck, Friedrich 57 Becker, Boris 286 Beckett, Samuel 156, 174, 177 Bender, John 43 Benjamin, Walter 59–60, 117, 151, 266, 306–308 Benne, Christian 192 Berend, Eduard 210 Bergson, Henri 133 Bermes, Christian 102 Berndt, Frauke 328
https://doi.org/10.1515/9783110775570-017
Biedermann, Hans 216 Birus, Hendrik 70, 219 Blanckenburg, Christian Friedrich von 19 Bloom, Harold 289 Blumenberg, Hans 120, 160–161, 174, 304, 322, 333 Bodmer, Johann Jakob 128 Böhme, Gernot 348 Böhme, Hartmut 348 Böhme, Jakob 226 Bohrer, Karl Heinz 359 Booker, Christopher 243 Borges, Jorge Luis 149, 157, 286, 288, 309, 342 Bornemann, Ernst 32 Borsche, Tilmann 242 Bosch, Hieronymus 137, 140, 143, 159, 279, 339–340 Brankaer, Johanna 337 Breitinger, Johann Jakob 55, 128 Bremond, Claude 281 Brinker, Klaus 38 Brunswick, Ruth Mack 312, 314, 316–318 Buddha 286 Bühler, Karl 63–65, 68–70, 72, 76–77, 83, 85, 89, 102, 170, 173, 199, 209 Butzer, Günter 112, 220 Campe, Joachim Heinrich 56 Campe, Rüdiger 91, 335 Canetti, Elias 303 Cardauns, Hermann 278 Carnap, Rudolf 15, 67 Celan, Paul 147, 250 Cervantes Saavedra, Miguel de 287 Chaouli, Michel 122 Cicero (Marcus Tullius Cicero) 18, 49, 96, 163 Clairmont, Heinrich 351 Clausen, Lars 181 Comenius, Johann Amos 242 Cooper, James Fenimore 134, 289, 303 Ćosić, Bora 42, 143, 159, 286 Cudworth, Ralph 150 Czapla, Ralf Georg 30, 212
390
Personenregister
D’Arrigo, Stefano 2, 5 Damaschke, Giesbert 182 Danielewski, Mark Z. 143, 157, 165, 308–311 Dante Alighieri 154, 306 Däubler, Theodor 121 Debus, Friedhelm 219 Dell’Anno, Sina 335 Derrida, Jacques 218, 310, 312, 317–319 Deupmann, Christoph 15, 43 Dick, Uwe 40, 42, 110, 114, 120–121, 140, 143, 151, 155, 183, 220, 275, 286, 288, 320, 355 Dietz, Hartmut 236, 268 Dilthey, Wilhelm 88, 109 Donat, Sebastian 70 Dressler, Wolfgang Ulrich 38, 281 Drews, Jörg 178, 228 Eco, Umberto 41 Egger, Oswald 143, 151, 153–155, 161, 163–165, 168, 272, 297–302, 304, 320, 331 Eichhorn, Svenja 181 Eiland, Howard 306 Eisenhower, Diwght D. (Ike) 78 Eliade, Mircea 244 Engel, Eduard 57 Escher, M.C. (Maurits Cornelis Escher) 148 Fauth, Søren R. 350 Felten, Georges 265 Fichte, Johann Gottlieb 50, 188, 190, 215, 340, 349–350 Fink, Nicolas 259 Fischart, Johann Baptist Friedrich 9–10, 42, 110, 114, 121, 143, 155, 196–197, 202, 204, 236, 286, 288–289, 295, 362 Flasch, Kurt 161 Förster, Eckart 347 Foucault, Michel 290–296 Frank, Manfred 76 Frege, Gottlob 15 Freud, Sigmund 31, 106, 112, 119, 138, 150, 156, 184, 222–224, 230, 268, 278, 280, 310, 312–319
Fues, Wolfram Malte 27 Fuld, Werner 289 Gaier, Ulrich 19–20, 115, 351–352 Gamper, Michael 48 Gardiner, Muriel 316 Gebhardt, Miriam 181 Geimer, Peter 4 Genette, Gérard 64, 73, 98, 144, 280–281, 324 Geulen, Eva 335–336 Gibbon, Edward 150 Goerdten, Ulrich 30, 212 Goethe, Johann Wolfgang 49, 121–122, 146, 186, 335–336 Goffman, Erving 127 Gottfried von Straßburg 276 Gottsched, Johann Christoph 145 Greimas, Algirdas Julien 71, 98, 239, 243–244 Grimm, Jacob Ludwig Karl 13 Grübel, Rainer 130 Hagemann, Stefan 192 Halfwassen, Jens 348 Hamann, Johann Georg 46, 55, 113, 119–120 Hamburger, Käte 268 Hansen-Löve, Aage A. 76 Harrison, Robert Pogue 154 Haverkamp, Anselm 51, 209 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 24, 26–27, 36, 45–46, 92, 103, 106, 126–127, 164, 239, 247–249, 252, 287, 359 Heidegger, Martin 1 Heller-Roazen, Daniel 73 Helm, Hans G. 151 Henrich, Dieter 45 Heraklit von Ephesos 105 Herder, Johann Gottfried 19–23, 25, 36, 52, 55–56, 85, 101–102, 104–105, 115, 128, 164, 242, 331, 335, 350–355 Heringer, Hans Jürgen 38 Herodot von Halikarnass 22 Hilmer, Brigitte 45 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 289 Holbein, Ulrich 286, 288
Personenregister
Hölderlin, Johann Christian Friedrich 52 Holenstein, Elmar 62, 70 Homer 144, 211–212, 324 Hopkins, Gerald M. 72 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 145 Hotho, Heinrich Gustav 24, 26, 45 Humboldt, Wilhelm von 13, 85 Hunfeld, Barbara 41 Hus, Jan 175–176, 280, 283, 361 Husserl, Edmund 62, 102–103, 161–164, 241, 246 Iser, Wolfgang 128–129, 135 Jacobi, Friedrich Heinrich 346–347, 351 Jaeschke, Walter 45 Jakobson, Roman 17, 49, 60–68, 70–76, 78, 83–84, 86, 88–89, 92, 94, 96–97, 106, 114, 118, 129, 152, 173, 199, 203, 206–210, 218, 274, 293, 298, 303, 321, 330 Jauslin, Kurt 167, 221 Jauss, Hans Robert 304 Jean Paul 9–10, 23–26, 39, 42, 47, 56–57, 60, 90, 93, 104, 106–107, 109–112, 114–117, 120, 127–128, 140, 151, 156, 178, 186–191, 198, 202–206, 210, 212–218, 220, 223, 236, 238, 252–264, 283–284, 286–289, 295–296, 303, 306–308, 314, 320, 335, 338–341, 346, 349–350, 353–355, 357–358, 360–362 Jeanne d’Arc (Jungfrau von Orléans) 148 Jennings, Michael W. 306 Johannes Damascenus Chrysorrhoas 150 Jolles, André 8, 36 Jonas, Hans 241, 337 Jordheim, Helge 186 Joyce, James 9, 60, 111, 114, 121–122, 147, 151, 160, 204, 206, 221, 230, 236, 277, 288–289, 295–296, 308, 339, 346, 358, 362 Jurczyk, Stefan 222, 224 Kafka, Franz 84, 133, 140, 229, 359 Kalivoda, Gregor 208 Kant, Immanuel 17, 115, 160, 242, 322, 327, 331, 333, 346–353
391
Kaufman, Maynard 339 Keller, Hiltgart Leu 138 Kemmann, Ansgar 96 Khurana, Thomas 321, 359 Kilcher, Andreas B. 279 Kittler, Friedrich 213–214 Kleinschmidt, Erich 12 Kleist, Bernd Heinrich Wilhelm von 79, 140, 177 Klopstock, Friedrich Gottlieb 46, 52, 257 Köhler, Sigrid G. 322, 349 Kohlheim, Volker 219 Kommerell, Max 116–117, 145 König, Christoph 192 Koschorke, Albrecht 123, 159–160 Kraus, Karl 114 Kreienbrock, Jörg 297 Kries, Friedrich Christian 53 Kristeva, Julia 74, 171, 200, 204 Kuhn, Hugo 182 Kurz, Heinrich 57 Kuwert, Philipp 181 Lahn, Silke 98 Landess, Thomas H. 339 Laplanche, Jean 319 Lasch, Christopher 69 Lausberg, Heinrich 16–17, 39, 208 Leibniz, Gottfried Wilhelm 104, 115, 122, 128, 167, 297–299, 301–302, 331, 333 Lentz, Michael 110, 112, 138–141, 143, 149, 151–152, 155–156, 159, 165, 174–177, 185, 279–280, 283–284, 288, 308, 313, 339, 346, 350, 355, 361–362 Leonardo da Vinci 167 Lessing, Gotthold Ephraim 54, 56, 253 Lewandowski, Theodor 240 Lichtenberg, Georg Christoph 53–54, 262, 303 Lichtenberg, Ludwig Christian 53 Limpinsel, Mirco 192 Link, Jürgen 71 Lohenstein, Daniel Casper von 56 Lotman, Jurij 40–41, 222, 282, 284–285, 288 Luckmann, Thomas 127 Luhmann, Niklas 8, 38, 76–77, 172–173, 191
392
Personenregister
Lukian von Samosata 51, 142, 289 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 341–346 Luther, Martin 360 Mach, Ernst 100 Mainberger, Sabine 41 Man, Paul de 108, 195–196, 310 May, Karl 166, 277–278 McAdam, John Loudon 134, 303 McHugh, Roland 10 McTaggart (John McTaggart Ellis McTaggart) 152 Mead, George Herbert 84 Meister, Jan Christoph 98 Menninghaus, Winfried 50 Merleau-Ponty, Maurice 99–103, 106–107, 109, 167 Merleau-Ponty Maurice 101 Meyer, Heinz 275 Meyer, Richard M. 57–58 Michaelis, Johann David 46 Mörike, Eduard Friedrich 179 Moritz, Karl Philipp 104, 128, 331–332, 335 Müller, Götz 355 Müller, Samuel 192 Mundt, Theodor 9, 18, 36, 43–48, 56 Müntzer, Thomas 280, 283, 361 Nancy, Jean-Luc 86, 252 Neumann, Gerhard 263 Niederhauser, Rolf 165 Nietzsche, Friedrich 47, 353, 359 Noering, Dietmar 34, 339, 360 Noering, Irmtraud 34 Noller, Eva Marie 341, 344 Norden, Eduard 36, 43 Nöth, Winfried 222 Novalis 50, 122 Obholzer, Karin 316 Ohly, Friedrich 275–276 Opitz, Martin 56 Ortlepp, Gunar 225, 228 Pabst, Bernhard 44, 51 Packard, Stephan 70 Paetzold, Heinz 328
Patterson, William Morrison 57 Peirce, Charles Sanders 239, 242, 246–247 Peters, Heiner 208 Petersen, Jürgen H. 99, 144 Petron 289 Pierer, Heinrich August 227 Pischon, Friedrich August 57 Platon 52–54, 194, 322, 327, 348 Plotin 322, 348–349 Pocahontas (Matoaka, Amonute) 229 Poe, Edgar Allan 110, 221, 226–227, 233–236 Pöltner, Günther 102 Pomorska, Krystyna 72 Pomponazzi, Pietro 278 Pontalis, Jean-Bertrand 319 Posner, Roland 71 Pott, Hans-Georg 93 Previšić, Boris 7 Priesner, Claus 216 Propp, Vladimir 243–244 Proß, Wolfgang 351 Przywara, Erich 118 Pseudo-Longinos 47 Putnam, Hilary 112 Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) 17, 48, 51, 96, 163 Raabe, Wilhelm 79, 110, 140, 155, 159–160, 210, 218–219, 289, 295–296, 346, 350, 355, 362 Rabelais, François 142, 202, 289 Rabener, Gottlieb Wilhelm 253 Rancière, Jacques 246 Rasputin, Walentin G. 275 Reichert, Klaus 277 Reiners, Ludwig 57 Reuter, Christina 113 Ricœur, Paul 96, 144–145, 324, 334 Riedel, Wolfgang 186 Rilke, Rainer Maria 81, 137–138, 329–330 Rudolph, Kurt 337 Ruffing, Reiner 290 Ruoff, Michael 290 Ruprecht, Robert 57 Russell, Bertrand 15, 67
Personenregister
Saussure, Ferdinand de 71, 274 Schank, Gerd 202 Schelbert, Tarcisius 70 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 152, 350 Schiller, Friedrich 188, 251, 325 Schings, Hans-Jürgen 186 Schlegel, August Wilhelm 49–50 Schlegel, Friedrich 50, 52–54, 122, 192–195, 197–198 Schmid, Marcel 4 Schmid, Wolf 98, 281 Schmidt, Alice 181 Schmidt, Arno 9–10, 30, 32–35, 40, 60, 82, 90–91, 93, 106, 110, 112, 114, 119–122, 134–137, 140–141, 143, 147–151, 155, 157–159, 165–168, 174, 178–179, 181, 183–184, 198, 203–204, 206, 210–212, 217–218, 220–231, 233–237, 265–272, 276–278, 288–289, 295, 300, 303–304, 308, 314, 320, 339–341, 345–346, 350, 355, 357–360, 362 Schmidt, Ernst A. 342 Schmidt, Jochen 333 Schmitt, Arbogast 144, 324 Schmitt, Carl 123 Schmitz, Thomas A. 14 Schmitz-Emans, Monika 42, 279, 286 Schneider, Jan Georg 313 Schopenhauer, Arthur 17, 150, 233, 350 Schüttpelz, Erhard 15, 67, 206 Schütz, Alfred 127 Serres, Michel 89, 343 Shaftesbury (Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of) 333 Shakespeare, William 287 Shannon, Claude E. 63, 66, 86 Siebenpfeiffer, Hania 322, 349 Siegert, Bernhard 66 Simon, Ralf 19, 25, 70–71, 77, 80, 82, 89, 91, 95–97, 100, 103–104, 124, 128, 148, 161, 191, 209, 213, 225, 229, 239, 242, 297, 314, 325, 328, 331–332, 334–335, 338, 340, 351–355, 360 Šklovskij, Viktor 58, 62 Smollett, Tobias George 289 Soeffner, Hans-Georg 126–127
393
Sokrates 105 Solms, Friedhelm 332 Spinoza, Baruch de 333 Staab, Gregor 57 Starobinski, Jean 204, 209 Stein, Christian 224 Stein, Gertrude 160 Stemmer, Peter 150 Sterne, Laurence 47 Stetter, Christian 208 Stifter, Adalbert 131–133, 141, 166, 225 Stingelin, Martin 353 Stockhammer, Robert 206 Strick, Gregor 224, 226 Stündel, Dieter H. 222, 224 Sulzer, Johann Georg 48–49 Swift, Jonathan 32 Tarski, Alfred 67 Tatarkiewicz, Władysław 325–328, 332–333 Taylor, Charles 85–86 Theophrast (Theophrastos von Eresos) 18, 99 Theweleit, Klaus 34, 229 Till, Dietmar 43 Todorov, Tzvetan 2 Tomasello, Michael 243 Torok, Maria 280, 312–319 Torra-Mattenklott, Caroline 273 Triegel, Michael 185 Trösch, Jodok 24 Tübke, Werner 159, 280, 282 Tynjanov, Juri 76 Uhlmann, Gyburg 99 Varro (Marcus Terentius Varro) 51, 289 Vásquez, Gabriel 259 Velázquez, Diego 292, 294 Verne, Jules 121 Wagner, Hans 192 Wagner-Egelhaaf, Martina 322, 349 Walde, Alois 15, 120 Waldenfels, Bernhard 174, 343 Weaver, Warren 63 Weinrich, Harald 359
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Personenregister
Weiss, Peter 326 Weissenberger, Klaus 8, 15, 18, 36, 53 Wellbery, David E. 43, 48, 336 Wieland, Christoph Martin 238, 253, 289 Wiesing, Lambert 241 Willems, Gottfried 96, 326 Wilpert, Gero von 13–14 Wittgenstein, Ludwig Josef Johann 242, 313 Wolf, Ror 42, 286, 288 Wolff, Christian 104, 122, 253
Wollschläger, Hans 110, 174, 221, 250–252, 271–272, 277, 308, 320, 350, 355, 357 Wühr, Paul 110, 113–114, 118–121 Yates, Frances A. 163 Young, Edward 254 Zammito, John H. 351 Zelle, Carsten 43 Zima, Peter V. 359 Zymner, Rüdiger 93