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German Pages 893 [904] Year 1980
Moewes, Grundfragen der Lebensraumgestaltnng
Winfried Moewes
Grundfragen der Lebensraumgestaltung Raum und Mensch, Prognose, „offene" Planung und Leitbild Mit einem Vorwort von K. R. Popper
w Walter de Gruyter DE
G Berlin · New York 1980
Dr. rer. nat. Winfried Moewes Prof. für Angewandte Geographie und Regionalplanung, Justus-Liebig-Universität Gießen
Für Gabriele, Henning und Olaf
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Moewes, Winfried: Grundfragen der Lebensraumgestaltung: Raum u. Mensch, Prognose, „offene" Planung u. Leitbild / Winfried Moewes. mit e. Vorw. von K. R. Popper. - Berlin, New York: de Gruyter, 1980. ISBN 3-11-007960-7
© Copyright 1980 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit & Comp., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Druckerei Wagner, Nördlingen. Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer Buchgewerbe GmbH, Berlin.
Vorwort
Da ich gebeten wurde, ein Vorwort für ein Buch über Raumplanung zu schreiben, so muß ich wohl mit dem unzweideutigen Geständnis beginnen, daß ich nichts über dieses Fach weiß. Meine Kompetenz geht nicht darüber hinaus, daß ich seit vielen Jahren über Planung im Allgemeinen nachgedacht habe und insbesondere über die Unterschiede zwischen den Plänen von Einzelpersonen, den Plänen von privaten Organisationen und den Plänen der öffentlichen Hand. Für alle diese Pläne scheint es mir charakteristisch, daß sie nur sehr selten so durchgeführt werden, wie sie geplant waren. (Gewaltsame Überfälle von Verbrechern auf friedliche Menschen oder von militärisch übermächtigen Armeen auf schlecht vorbereitete Gegner mögen als Ausnahme betrachtet werden, aber wenn sie auch zunächst planmäßig gelingen, so gehen auch sie oft am Ende fehl.) Im Versuch, einen Plan zu realisieren und sei es nur der Plan, ein Buch zu schreiben, stoßen wir gewöhnlich auf Schwierigkeiten, die schwer vorhergesehen werden konnten. Aber wichtiger ist es vielleicht, daß wir in fast allen unseren Plänen Fehler machen. Darum ist es wichtig, so zu planen, daß wir unsere Fehler entdecken und von ihnen lernen können. Jeder Ingenieur, der einen neuen Motor baut, wird von der Kritik eines bestehenden Motors ausgehen: vom Versuch, einen bestehenden Motor zu verbessern. Mit anderen Worten, er beginnt damit, nach verbesserungsfähigen Fehlern zu suchen. Sein Plan für den neuen Motor ist gewöhnlich das Resultat vieler kleiner Verbesserungen - das Resultat der Auffindung von vielen kleinen und auch großen Fehlern. Aber er weiß recht gut, wie unwahrscheinlich es ist, daß sein Plan seinerseits fehlerfrei ist: gewöhnlich werden zunächst einige wenige Motoren nach dem neuen Plan gebaut; und bevor dazu geschritten wird, größere Investitionen zu machen, werden diese Prototypen entwickelt. Das heißt, sie werden nicht nur ausprobiert, ob sie laufen, sondern sie werden ihrerseits kritisch untersucht: wir versuchen, mit Hilfe von allem, was wir über diese Dinge theoretisch und experimentell wissen, neue Fehler zu finden. Nur nach vielen schrittweisen Verbesserungen und Berichtigungen von Fehlern werden wir darangehen, weitere Pläne zu entwickeln: Pläne für die Produktion. Was ich hier zu beschreiben versuche, ist der Lernprozeß der Fehlerkorrektur. Er besteht darin, daß wir dauernd mit Vermutungen, Hypothesen arbeiten, Hypothesen darüber, wie wir konkrete Fehler am besten vermeiden
VI
Vorwort
können und darin, daß wir eben diese Vermutungen, diese Hypothesen der theoretischen und experimentellen Kritik unterwerfen, um die Fehler zu finden, die sie ihrerseits enthalten. Ein Ingenieur hat es verhältnismäßig leicht. Um die Schwäche etwa eines neuen Flugzeugmodells zu entdecken, kann er durch Überbeanspruchung die Stärke seiner verschiedenen Teile (oder auch des ganzen Flugzeugs) bis zur Vernichtung experimentell überprüfen. Schon der Brückenbauer und der Architekt haben es weniger leicht: sie müssen sich mehr auf kritisch überprüfte Theorien verlassen als auf die detaillierte kritische Erprobung. Und der Städteplaner und noch mehr, vermutlich, der Raumplaner, hat es noch viel schwerer. Es ist viel schwerer für ihn, seine Fehler rechtzeitig zu entdecken. Denn die meisten dieser Fehler werden sich erst in der Zukunft zeigen. Dazu kommt noch etwas anderes: der Städteplaner oder der Raumplaner versucht - muß versuchen - zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen vorauszusehen. Aber eine solche Voraussage kann, im Gegensatz zu dem, was die Futurologen behaupten, nicht wissenschaftlichen Charakter haben (wie ich in meinen Büchern ,Das Elend des Historizismus' und ,Die offene Gesellschaft und ihre Feinde' zu zeigen versucht habe). Die Aufgabe des Raumplaners ist also ungemein schwierig. Dazu kommt noch, daß die Raumplanung, wie auch die Städteplanung, erfahrungsgemäß stark von politischen Ideologien beeinflußt werden, die ihrerseits stark der Mode unterliegen. Es ist auf diesem Gebiet der sozialen Planung überhaupt daher von der größten Wichtigkeit, sich dauernd unserer menschlichen Fehlbarkeit bewußt zu sein und bewußt zu bleiben. Wir alle machen Fehler, Ingenieure, Raumplaner, Städtebauer, Staatsbeamte, Ärzte, Betriebsleiter, Politiker. Es ist unvermeidbar, es ist menschlich, Fehler zu machen. Was unsere Pflicht ist, ist nicht, alle Fehler zu vermeiden, wie man uns schon in der Schule einreden will; eine Einstellung, die uns dazu erzieht, unsere Fehler zu vertuschen. Unsere Aufgabe ist vielmehr, unsere Fehler durch dauernde Selbstkritik zu entdecken; sie aufzudecken; von ihnen zu lernen; und andere von ihnen lernen zu lassen. Das ist schwierig. Es verlangt eine intellektuelle Bescheidenheit, die traditionell gerade von denen, für die sie am Wichtigsten ist - von denen, die Autorität haben - am wenigsten erwartet wird. Und sie wird nicht nur nicht erwartet, sie wird falsch bewertet: von dem, der große Verantwortungen trägt, erwartet man, daß er keine Fehler macht und daß er mit einem Autoritätsanspruch auftritt. Hier ist in der Tat eine moralische Revolution vonnöten: eine Revolution
Vorwort
VII
der Sitten, die Stiftung einer neuen Tradition, der Tradition, daß es keine Schande ist, Fehler zu machen, aber geradezu eine Schande, nicht von seinen Fehlern zu lernen und noch viel, viel schlimmer, seine Fehler zu verdecken oder zu vertuschen. Vielleicht aber ist das gar nicht so revolutionär wie es aussieht. Unter großen Künstlern und Wissenschaftlern gibt es so eine alte Tradition. Sie ist noch lebendig unter Musikern, unter großen Virtuosen. Sie geht in Deutschland zumindest bis Dürer und Kepler zurück. Dürer schrieb, etwa 1525: „Doch so will ich das Wenig, das ich gelernt hab, so viel ich mag, an Tag lassen kummen, auf [daß] ein Besserer dann ich bin fein errät und mich um mein Irrtum mit seinem gegenwärtigen Werk beweislich strof. Des will ich mich freuen, und dorum daß ich dannocht ein Ursach bin, daß solche Worheit an Tag kummt." 1 Das ist der Geist, der wiedererweckt werden muß; nicht nur unter Künstlern und Wissenschaftlern, sondern auch - ich wage es kaum zu schreiben - unter Staatsmännern und öffentlichen Beamten. Das Problem der Bürokratie, das ja so entscheidend wichtig ist für alles öffentliche Planen und insbesondere auch für die Gestaltung unseres Lebensraumes, für unsere Städte und Regionen, ist wohl unlösbar. Aber eine Besserung, eine teilweise Lösung, kann durch eine neue Erziehung, eine neue Einstellung erreicht werden. Das Ethos der menschlichen Fehlbarkeit, das Ethos des Fallibilismus, muß zur Selbstverständlichkeit unter verantwortungtragenden Intellektuellen werden. Die neue Einstellung, daß wir ja alle wissen, wie viele Fehler dauernd gemacht werden, daß Fehler unvermeidlich sind, daß wir von ihnen die Pflicht haben, nach ihnen Ausschau zu halten, um zu lernen, bevor sie nicht mehr, oder nur mit großen Opfern, verbessert werden können. Es ist klar, daß nur in dieser Einstellung drastische gesellschaftliche Fehlentwicklungen vermieden werden können: Menschheitskatastrophen, und vor allem ein atomarer Vernichtungskrieg, der allem Planen ein Ende machen würde. Aber auch bei der Gestaltung unserer Umwelt, unserer Städte und offenen Landschaften, gilt es so zu planen, daß immer wieder auftretende Fehler möglichst rasch erkannt und korrigiert werden. Nur so wird es möglich, allmählich einen Lebensraum zu formen, von dem wir hoffen können, daß er dem Menschen gut tut - bis er wieder verbessert werden muß. Es sind also Verfahren der Planung zu entwickeln und Modelle der Gestaltung zu erarbeiten, in die eine möglichst leichte und schnelle Fehlerbereinigung eingebaut ist. 1
K. Lange und F. Fuhse: Düreis schriftlicher Nachlaß. Halle 1893, Seite 288.
Vili
Vorwort
Daß man im Bewußtsein latenten Irrtums handelt und plant, bedeutet aber nicht, daß das Bemühen um brauchbares Wissen vernachlässigt werden darf. So wie der Ingenieur die kleinen und größeren Fehler eines Motors nicht ohne detaillierte Kenntnisse auffinden und eliminieren kann, so kann auch der Raumplaner oder der Städtebauer ohne Kenntnis des Menschen, seiner Bedürfnisstruktur und seinen Verhaltenstendenzen, ohne Kenntnis wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhänge, seine Fehler nicht finden und nicht korrigieren. Probieren allein genügt nicht; es bedarf auch der kritischen Verarbeitung jenes Wissens, das wir aus früheren Fehlern gelernt haben - oder hätten lernen sollen. Ich kann nur hoffen, daß das vorliegende Buch in diesem Sinne anregend sein wird. Karl Popper
Inhalt
Einleitung
1
Erster Teil Die Wechselwirkung zwischen Raum und Mensch
15
1. Die Situation des Menschen im Raum
17
1.1 1.1.1 1.2
18 21 26
Die Einheit von Mensch und Raum Entwicklung durch Wechselwirkung . . Die besondere Gefährdung des Menschen
2. Menschenbild und Raumgestaltung
28
2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3
Behaviorismus kontra Humanethologie Gibt es eine vorgegebene Bedürfnisstruktur? Psychosoziale Bedürfnisse Raumbezogene Bedürfnisse Aufdeckung raumbezogener Bedürfnisse durch Befragung . .
28 33 34 36 43
3. Die Beeinflussung des Verhaltens durch räumliche Bedingungen . .
46
3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.4
46 48 50 52 56
3.5
Begrenzte territoriale Toleranz bei Tieren Territoriale Sensibilität des Menschen Territorialität ist kulturabhängig relativ Notwendiges Individualterritorium Individualterritorium relativiert soziale Hierarchie Weitere Beispiele der Beeinflussung durch räumliche Bedingungen Zwangsläufige, aber relativierte Beeinflussung
4. Genetisch bedingte Tendenzen des raumbezogenen Verhaltens
. .
59 66 70
5. Unsere riskante Situation
82
5.1 5.2
84
Genetisch-kulturelle Phasenverschiebung als eine Gefahr . . Intelligentes Verhalten wird zwingend - vom Nutzen einer wirklichkeitsgerechten Theorie
86
X
Inhalt
6. Zusammenschau und Hypothesenbildung zum Verhältnis Mensch - Raum
89
6.1
93
11 Hypothesen zum Verhältnis Raum - Mensch
7. Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie
108
7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.2 7.3 7.4 7.4.1 7.5 7.5.1
108 108 110 111 114 117 121 124 128 133
Erklärungsversuche der deskriptiven Entscheidungstheorie Homöostatische Theorien Kognitive Theorien Zusammenspiel motivâtionaler und kognitiver Strukturen . . Die Frage nach den Grundprinzipien der Entscheidung . . . Erklärungsversuche der Informationstheorie Erklärungsversuche der normativen Entscheidungstheorie . . Soziologische und psychologische Erklärungsversuche . . . . Reaktionstheorien Mensch und Lebensraum als Regelkreis Modell zu einer Raum-Verhalten-Theorie der sinnorientierten Regulation 7.6 Wahrnehmung und deren Deutung 7.6.1 Selektive Wahrnehmung gemäß „Vorurteil" 7.6.2 Exkurs: Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung und Denken ermöglicht Erkenntnisfortschritt 7.6.3 Einordnende Deutung 7.7 Beeinflussende Elementkomplexe 7.7.1 Genetisch bedingte Verhaltenstendenzen (4) 7.7.2 Körperlich-seelischer Zustand (5) 7.7.3 Begabungen, Talente, besondere Fähigkeiten (6) 7.7.4 „Subjektive" Erfahrung, „objektives" Wissen (7) 7.7.5 Gewohnheit (8) 7.7.6 Persönliche Einstellungen, Überzeugungen (9) 7.7.7 Gesellschaftliche Normen, Tradition (10) 7.7.8 Interessen, Wünsche, Vorhaben (11) 7.7.9 Prognostische Einschätzung, Vorstellungsgabe ( 12) 7.7.10 Gefühle und Intuition (13) 7.7.11 Verhaltensstil, Verhaltenstyp, individuelle Eigenschaften, char akter liehe Eigenart (14) 7.7.12 Selbstbild (15) 7.7.13 ökonomisch-soziale Situation (16) 7.7.14 Anspruchsniveau (17) 7.7.15 Sinnorientierung (18) 7.8 Sinngebende synergetische Bewertung (19)
139 142 142 145 146 151 151 152 153 154 155 156 157 158 159 161 164 167 168 169 171 172
Inhalt
XI
7.8.1 7.8.2 7.8.3
Der neuronale Aspekt 174 Tendenzen des Bewertungsprozesses 177 Schaffung und Sicherung des „Sinns" und der Einheit der Person 180 Variabilität und situative Offenheit durch Selbstregulation . . 185 Zur Frage der Voraussagbarkeit und Regelhaftigkeit 191 Zusammenfassung 193 Konsequenzen 194
7.9 7.10 7.11 7.12
8. Notwendigkeit eines flächenbezogenen Leitbildes und prognostischer Aussagen 198
Zweiter Teil Die Problematik der sozialen Prognose
201
1. Prognoseverfahren
203
1.1 1.2 1.3 1.4
203 204 205 205
Prognostische Extrapolation Prognosemodelle Subjektive Bewertung und Schätzung Erste praxisbezogene Einwände
2. Prognose aus der Sicht der Erkenntnistheorie
207
2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.3.1 2.3.3.2 2.3.4 2.3.4.1 2.3.4.2
207 209 210 213 216 218 220 222 226 227 228 231 233
Versuchung zur Prophetie Der unzulässige induktive Schluß Grenzen der Wahrscheinlichkeitsschätzungen Trendextrapolation - ein untaugliches Prognoseverfahren . . Kausalität als Grundlage der Prognose? Bevorzugung des deduktiven Schlusses Voraussage bleibt situationsabhängig relativ Gefahren induktiver Bestätigung Die „Ehrlichkeit" der deduktiven Methode Irreguläre Entscheidung gemäß Bewertung Verbesserung der Theorien statt „reiner" Beobachtung . . . Verhalten ist potentiell relativ Die kategoriale Besonderheit des menschlichen Verhaltens . Freiheit als Fähigkeit zur phantasievollen Kritik eigener Hypothesen 2.3.4.3 Die Notwendigkeit der Flexibilität und potentiellen Unwägbarkeit der Entscheidung
235 237
XII
Inhalt
2.4
Zusammenfassend: Vielfältige Aspekte der Relativität machen verläßliche Voraussage unmöglich 241 Prognosesysteme als Voraussetzung deduktiver Verfahren . . 249
2.5
3. Wie tauglich sind die Modelle der Regionalprognose?
256
3.1
Kleinräumliche Relativität entwicklungsbeeinfhissender Abhängigkeiten 3.1.1 „Fulguration" relativiert das System der regionalen Entwicklung 3.1.2 Zweifel an der Brauchbarkeit ökonometrischer Voraussagemodelle 3.2 Modellorientierte Projektionen 3.2.1 Erklärungsversuche der Wanderungsvorgänge 3.3 Simulationsverfahren 3.3.1 Simulationsmodelle in der Stadt- und Regionalplanung - am Beispiel des SIARSSY 3.3.1.1 Problematische Simulation der Flächennutzung 3.4 Das Elend der gebietlichen Prognose 3.5 Warum benötigen wir keine absolut verläßlichen Voraussagen?
258 264 267 270 272 276 279 283 288 290
Dritter Teil Grobprognose - am Beispiel ans der Praxis
297
1. Arbeitsmarktorientierte Grobprognose
301
2. Analyse und Bewertung der gebietlichen Entwicklungssituation
. . 305
3. Vereinfachtes Prognosemodell
312
Vierter Teil Regionale Lebensraumgestaltung durch verbesserte Verfahren . . . .
317
1. „Offene" Planung 1.1 Zur Konzeption 1.1.1 Notwendigkeit wert-und sinnorientierter Leitvorstellungen 1.2 Legitimation durch regionale Verfahren
319 319 . 324 329
Inhalt
XIII
2. Das Verfahren der schrittweisen wechselseitigen Bezugnahme . . . 332 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 2.5 2.6.
Allgemeiner beeinflussender Komplex (1) Analyse, Prognose, Leitbild (3,4,5) Kooperative politische Erörterung und Zielfindung (6) . . . Heuristische Strategie zum Zwecke besserer Überschaubarkeit Chancen und Grenzen Maßnahmen Notwendigkeit der Iteration Bleibendes Irrtumsrisiko, aber Risikominderung
332 334 336 342 344 346 347 352
Fünfter Teil Stadt-Land-Verbund, ein flächenbezogenes Leitbild für die regionale Lebensraumgestaltung 355 1. Wert- und sinnorientierte Leitvorstellungen und Grundsätze . . . . 1.1 1.2 1.3
357
Vorgaben 357 Vom Ansatz einer lebensräumlichen Ethik zu wert- und sinnorientierten Leitvorstellungen der Lebensraumgestaltung . . 360 Grundsätze 373
2. Leitbilder
375
2.1 2.1.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7 2.3 2.3.1
375 384 386 386 392 398 402 406 415 423 424
2.3.2 2.4
Die Utopiefalle Mangelnde Flexibilität Aspekte der Wirklichkeit Aspekt - Vielfalt der Möglichkeiten Aspekt - Kontakt und Kommunikation Aspekt-Distanz und Nähe Aspekt-Fläche Aspekt-Verkehr Aspekt - Energie Zusammenfassung und Konsequenz Realitätsnahe bisherige Ansätze und Konzeptionen Achsen-Schwerpunkt-Prinzip und „gebündelte Dekonzentration" Ausgeglichene Funktionsräume Stadt-Land-Verbund
429 433 442
XIV
Inhalt
2.4.1 Das flächenbezogene Leitbild des Stadt-Land-Verbundes 2.4.1.1 Hauptaspekte der Raumnutzung 2.4.1.2 Flächenbilanz und Nutzungsmosaik - Flächenbilanz - Nutzungsmosaik - Abwandlung entsprechend der Besiedlungsdichte 2.4.1.3 „Kompakt" contra „aufgelockert" 2.4.1.4 Verkehr und gebiindelt-gestreute Versorgung 2.4.1.5 Kosten 2.4.2 Zusammenfassende Charakterisierung 2.4.3 Ein romantischer und utopischer Ansatz? 2.4.3.1 Das Experiment von COLUMBIA 2.4.3.2 Varesotto 2.4.4 Mangelnde Absicherung durch eine Theorie? 2.4.5 Regionalpolitik als regionale Selbstentscheidung
. . 445 450 458 459 463 477 486 516 523 524 533 . 539 555 577 585
3. Vom Nutzen and den vielfältigen Formen eines Stadt und Land verbindenden Lebensstils 587 3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.4
Der besondere Gewinn für den geistig Tätigen Ursachen der Zerstörung des alten Verbundes Gegenwärtige Versuche, „städtische" und „ländliche" Möglichkeiten miteinander zu verbinden Die Vielfalt der Formen und der Mangel an planerischer Konzeption Die geistige Barriere im Spiegel der Literatur
588 594 598 604 607
Sechster Teil Stadt-Land-Verbund als historisches Phänomen
617
1. Die griechische Polis als Einheit von Stadt und Land
621
2. Der Wandel im Hellenismus
624
3. Römerzeitliche Villenkultur
629
3.1 3.2 3.3 3.4 3.4.1
Sehnsucht nach dem Land 629 Die Entfaltung eines Stadt und Land verbindenden Lebensstils 635 Das Beispiel Campaniens und Pompejis 641 Die geistige und ästhetische Komponente 644 CICEROS Villenleben 649
Inhalt
XV
4. Der Niedergang des antiken Stadt-Land- Verbundes
652
5. Die erneute Einheit von Stadt und Land
655
5.1 5.2 5.3 5.4
659 663 668
Die soziale Breite der Villeggiato Der vielfältige Nutzen des Villenlebens der Renaissance . . . Die „Regio" als System räumlicher Ergänzung Die Gefahr einer Mißdeutung von Villa und Villeggiatur und deren Konsequenzen
6. Frühe Formen städtisch-ländlichen Verbundes außerhalb Italiens 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3 6.3.1 6.4 6.5 6.5.1 6.5.2 6.6
. 684
Klerikaler Stadt-Land-Verbund Bürgerlicher Stadt-Land-Verbund Stadt und Land in Flandern Stadt und Land in den Niederlanden Sommerliches Landleben in Hamburg und Bozen Die Neigung zum adeligen Landleben Früher Stadtkontakt des Landadels Landleben und Stadtkontakt in England Adeliges Landleben und Stadtkontakt an Beispielen aus Frankreich, Deutschland und Rußland Stadt und Land verbindende „Residenzlandschaft" am Beispiel Dresdens Russische Weite und Stadtkontakt Lebensräumliche Ergänzungen in der islamischen Welt . . .
7. Schlußfolgerung
673
684 688 691 695 698 708 710 712 718 720 722 725 728
Siebenter Teil Das Beispiel aus der Praxis: Fläcbenbezogenes Leitbild einer „StadtLand-Verbund-Region" für Mittelhessen 731 1. Spezielle raumbezogene Empfehlungen für Mittelhessen
733
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
734 739 741 744 748 750
Raumgerechte Bebauung Bessere Ausnutzung abgelegener Räume Stärkung der Freizeitfunktion Dosierte Verbesserung der Industriestruktur Weitere Verbesserung der Verkehrslage Sicherung der Energie-und Wasserversorgung
XVI 1.7 1.8 1.9
Inhalt Raum-und funktionsgerechte Landbewirtschaftung Koordinierte Ausstattung der Region Sicherung der Konzeption des Stadt-Land-Verbundes . . . .
751 753 756
Literatur
761
Anmerkungen
782
Personenregister
835
Sach-und Ortsregister
841
Verzeichnis der Abbildungen
878
Einleitung
Zweifel an der gegenwärtigen Gestaltung unseres Lebensraumes zwingen zu einer umfassenderen Beschäftigung mit der Frage, wie unsere lebensräumliche Umwelt geordnet und geformt werden soll, damit wir wohlbefindlich und gesund in ihr leben können. Im Städtebau dieser und vergangener Jahre mit seiner zu hohen Wohndichte, mit Verkehrsbauten, Gewerbeansiedlung und anderen raumverändernden Aktivitäten ist neben Beachtlichem auch viel Bedenkliches, vor allem hinsichtlich der Nebenwirkungen, hervorgebracht worden. Oft erzwangen die Notwendigkeiten Kompromisse, oft aber auch fehlte es an der Kenntnis der vielfältigen lebensräumlichen Belange des Menschen und meist ermangelte es der Fähigkeit und Möglichkeit, unterschiedlichste Raumnutzungsansprüche harmonisch miteinander abzustimmen. Es ist daher an der Zeit, daß wir uns bezüglich der Gestaltung des von uns genutzten Raumes um eine Neubesinnung bemühen, um eine Neubesinnung sowohl bei der Planung und Errichtung unserer Wohnsiedlungen, wie auch der Verkehrsbauten, bei der Lokalisation unserer Industriebetriebe und Dienstleistungseinrichtungen ebenso, wie bei der Nutzung des ländlichen Raumes, aber vor allem, um eine Neubesinnung hinsichtlich des gesamten Mosaiks der Landnutzung, der räumlichen Zuordnung unterschiedlichster Nutzungsansprüche. Es würde keinesfalls genügen, etwa nur neue städtebauliche Moden zu kreieren und nach der Auftürmung gewaltiger Hochhäuser nun evtl. in die Tiefe zu gehen, auch genügt es nicht, die Reinhaltung von Luft und Gewässern zu forcieren oder das Land mit einem Netz weiterer neuer Schulbauten, mit Kindergärten oder Altenheimen zu überziehen oder die Zahl der Grünanlagen beträchtlich zu erhöhen. Vielmehr müssen wir vor allem lernen, den uns umgebenden Daseinsraum - von unserer unmittelbaren räumlichen Umgebung, unseren Wohnquartieren bis hin zur größeren Region, in der wir leben - in seinen Details wie in der gesamten Komposition so zu entwickeln, daß er uns wohltut, unserer Entfaltung förderlich ist und uns vor Schädigung bewahrt. So wird die in ihrer Vielfalt wohlabgestimmte und funktionsfähige Region, die den existenziellen Notwendigkeiten der Menschen gerecht wird und gleichzeitig Wohlbefinden schafft, zum vorrangigen Ziel der lebensräumlichen Gestaltung und weniger die aus fachplanerischer Sicht möglicherweise bravouröse Einzelmaßnahme. Eine solche umfassende und integrierende Aufgabenstellung bedarf jedoch einer tieferen Einsicht in die Wechselbeziehung zwischen Mensch und
2
Einleitung
Raum, bedarf wohldurchdachter Leitbilder der regionalen lebensräumlichen Gestaltung und neuer Planungsverfahren. Die gezielte Gestaltung einer einzelnen Region stellt jedoch nur einen Aspekt der Ordnung und Organisation unserer gesamten lebensräumlichen Umwelt dar, die über eine Stadt, über eine Region hinaus letztlich das gesamte Ökosystem der Erde umfaßt. Dementsprechend sieht man sich, so wie auch beim großen Fragenkomplex der sinnvollen Nutzung unseres gesamten Erdraumes, auch bei der Gestaltung einer Region mit ihren städtischen und ländlichen Teilräumen oft genug mit einer zivilisationskritischen Attitüde konfrontiert, die von der Klage über die Allmacht der Technik bis zu schlimmsten Befürchtungen bezüglich der Konsequenzen unserer Lebens- und Wirtschaftsweise und unserer gesellschaftlichen Verhältnisse reicht. Andererseits ermangelt es nicht an mehr oder minder utopischen Alternatiworschlägen, nicht selten mit vereinfachendem kollektivistischem Beigeschmack, in denen die Lösung der Umwelt- und Sozialprobleme verheißen wird. Diese Einbeziehung auch des Fragenkreises der regionalen Lebensraumgestaltung in eine viel umfassendere Problematik legt einige allgemeinere Überlegungen nahe.
Angst und Hoffnung
So wie die Beanspruchung unserer lebensräumlichen Grundlagen zunimmt, so wie die Hilfsmittel der Erde knapp zu werden drohen und so wie die ökologischen Folgewirkungen unserer Aktivitäten immer problematischer und unübersehbarer werden, schleicht sich auch mehr und mehr Angst vor dem Kommenden in unser Denken ein. Den Blick in die Zukunft verdüstert ein Schatten des Schreckens. Und mit der tatsächlichen Umweltgefährdung wächst auch eine mehr oder minder unspezifische Umweltangst. Aber unter einer steten Angst kann der Mensch nicht leben, und so mischt er der Furcht vor der Zukunft gleichzeitig die Hoffnung auf kommende bessere Zeiten, auf das Glück in der Zukunft bei. Diese zwiespältige Erwartung gegenüber dem Kommenden ist uralt und tief im Menschen verwurzelt, seit ihn die Unruhe des erwachenden Geistes aus der Immanenz mit der Natur löste. Und alt ist auch der Versuch, die Ungewißheit der Zukunft mit ihrem Potential an Angst und Hoffnung durch überlegtes und planendes Entscheiden und Handeln selbstgestaltend zu meistern. Aber ebenso alt ist auch die Erfahrung, daß noch so viel Vorplanung, Vernunft oder „untrügliches" Gefühl die Unwägbarkeiten und Überraschungen der Zukunft nicht zu beseitigen vermögen. Da der Mensch immer wieder erfahren mußte, daß Unglück und Katastrophe niemals mit Sicherheit ausgeschlossen werden können, sucht der Geist immer wieder nach Wegen, die Ungewißheit, die
Einleitung
3
schleichende Angst und böse Vorahnung gleichzeitig mit der Hoffnung zu verbinden, um so die Furcht zu mindern. Es mag die Einsicht, dem Unvorhersehbaren ausgeliefert zu sein, im Menschen gleichzeitig und geradezu „unverbesserlich" die stete Hoffnung stabilisiert haben. So bedrängt zwar den Menschen ängstigend die Vision dieser oder jener Apokalypse oder Katastrophe, doch nicht selten versöhnt ihn die dahinter aufleuchtende Vision des Paradieses oder der besseren Zukunft. So erhält die Angst vor der Katastrophe, die erschreckende Vision des reinigenden Weltgerichtes, das ängstigende Ungewisse der Zukunft eine tröstende Komponente, denn dahinter wartet ja die bessere Zukunft. Es überwindet der Glaube an die Gerechtigkeit der kommenden und endgültigen Ordnung das Unbehagen vor der fernen Zukunft; so vermag Hoffnung über die Angst zu siegen. Nun war es aber geistesgeschichtlich gesehen kein großer Schritt, vom Glauben an das erlösende Weltgericht und das außerweltliche Heil bis zur Forderung nach der befreienden sozialen Tat zu gelangen, durch die mit eigener Kraft das Tor zur erhofften katastrophenfreien vollendeten Welt, zum diesseitigen Paradies, aufzustoßen sei. Auch in unserer gesellschaftlichen und lebensräumlichen Wirklichkeit stehen wir im Spannungsfeld zwischen der Hoffnung und der Angst, dem Zweifel. Das Streben nach der besseren konkreten Welt ist geradezu ein Charakteristikum unserer Kultur. Rasch wird dann im Namen der Hoffnung der Umbruch der Gegenwart gefordert. Rasch sind Visionäre, Weltverbesserer, Utopisten zur Stelle, die den Menschen das Bild von der neuen, vermeintlich besseren Welt zeichnen - abgehoben von der unbefriedigenden Realität, unprüfbar entrückt in die Zukunft. Und rasch auch verbreitet sich der alte Glaube, man müsse nur besser und konsequenter, umfassender und strenger alles planen, dann ließen sich Ungewißheit und Katastrophen mit Sicherheit vermeiden; die Verkündigung einer nun wirklich besseren Welt findet statt. Doch ehe die Vision der heilen, idealen Welt ihren „Zauber" entfalten kann, muß die Angst vor der drohenden Katastrophe, die Angst, daß es schlechter wird, wirksam sein. Die Erlösungslehre, gleich welcher Art, braucht die Angst und das Unbehagen an der Gegenwart. So warnen die einen vor der voraussichtlich katastrophalen Entwicklung, beklagen das Ungenügen der Gegenwart, während andere die erlösende Zukunft verkünden; leicht verbinden sich dann Furcht und Unzufriedenheit mit der diesseitigen Heilserwartung zu einem Umsturzsyndrom - freilich geht dabei oft der Sinn für die Realitäten verloren. Angst und Hoffnung, sie leben voneinander, aber es ist eine gefährliche Partnerschaft. Je faszinierender die Vision von der schönen neuen Welt, je größer die Überzeugungskraft ihrer Propheten einerseits und je stärker die Angst vor den angeblich katastrophalen Alternativen und den gefährlichen Konsequenzen der Gegenwart andererseits, desto höher dürfte die Bereitschaft der
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Einleitung
Menschen sein, verändernd gesellschaftspolitisch tätig zu werden. Das eröffnet Chancen, schafft aber auch Risiko. Ist das Bild von der Zukunft so weit von der gegenwärtigen Wirklichkeit entfernt, daß die Schritte, diese „ideale" Welt zu erreichen, im Dunkeln liegen, dennoch aber in blinder Überzeugung gegangen werden, besteht die Gefahr schwerwiegender Fehlentscheidungen. Je weiter in der Zukunft die Visionen von der besseren Welt angesiedelt sind, je langfristiger die Vorausschau ist, desto größer das Irrtumsrisiko. Mit den idealisierenden Bildern von der heilen Welt in der Zukunft öffnet sich die Utopiefalle, mit zunehmender Katastrophenerwartung wächst die Bereitschaft, in sie hineinzuspringen - eine Versuchung, die in Ermangelung verläßlichen Wissens über die Zukunft durch latente Angst und stete Hoffnung wachgehalten wird. Das alles ist auch bei der Gestaltung der räumlichen Existenzbedingungen des Menschen von größter Bedeutung. Unsere gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet durch eine allmählich zunehmende Unruhe hinsichtlich der denkbaren Konsequenzen unseres Handelns. Es wird sichtbar, daß unser Umgang mit den Hilfsgütern dieser Erde möglicherweise leichtfertig und falsch ist. In zahlreichen Voraussagen wird versucht, die katastrophalen Folgen des bisherigen Handelns aufzuzeigen. Gleichzeitig wächst das Angebot angeblich rettender neuer Modelle zur Nutzung und Gestaltung des Erdraumes. Zur Inflation der Katastrophenwarnungen gesellt sich die der Zukunftsmodelle; die Futurologie blüht. Das alles trifft uns in einer Phase der geistig-kulturellen Verunsicherung; das menschliche Selbstverständnis schwankt, überkommene Moral und Ethik, der Sinn der Existenz, die Ziele des Handelns unterliegen dem Zweifel, die „innere" Labilität nimmt zu. Wir leiden am Preis für die gewaltig gesteigerten technischen Fertigkeiten und dem dadurch ausgelösten raschen Wandel der Lebensbedingungen. Es entsteht ein Milieu, in dem Prophezeiungen der Katastrophe einerseits und Erlösungsmodelle andererseits leicht offene Ohren finden. Gleichzeitig mangelt es an Erfahrung und verläßlichem Wissen, um die Unrast und den Zweifel an der gegenwärtigen Welt für eine besonnene und sichere Bewältigung der Zukunft nutzbar zu machen. Und so wächst die Gefahr, daß unbedacht und leichtfertig Veränderungen um jeden Preis erstrebt werden. Es ist daher nützlich, deutlich zu machen, auf welch schwachen Füßen die beunruhigenden Voraussagen und die erlösenden Zukunftsmodelle stehen können. Und es ist wichtig zu zeigen, daß uns Katastrophenstimmung und kühne Zukunftsvision kaum helfen, sondern daß wir vor allem bessere Verfahren für die konkrete Gestaltung der zukünftigen Umwelt, für die Auffindung und Durchsetzung zuträglicher Raumnutzungsmodelle benötigen.
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Wir stehen vor der schwer lösbaren Aufgabe, für eine rasch wachsende Menschheit auf begrenztem erdräumlichen Potential eine zuträgliche Raumnutzung, Gleichgewicht zwischen Mensch und Umwelt, herbeizuführen. In der Tat werden zunehmend beängstigende Symptome eines gestörten RaumMensch-Verhältnisses (Hungersnöte, soziale Exzesse, wirtschaftspolitische Spannungen) sichtbar. Aber gerade daher ist es notwendig, unsere Fähigkeit, die Zukunft Schritt für Schritt zu gestalten, zu verbessern. Mit Hilfe geeigneter flexibler Planungsverfahren - frei von irrtumsverdächtigen langfristigen Festlegungen - kann die alte Spannung zwischen Angst und Hoffnung mit ihren gefährlichen Versuchungen in eine besonnene zukunftsorientierte Aktivität überführt werden. Skepsis gegenüber Prophezeiungen umfassender Katastrophen und gegenüber rettenden Erlösungsmodellen dürfte dabei äußerst hilfreich sein. Im ersten und zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wird begründet, warum diese Zurückhaltung auch aus erkenntnistheoretischer Sicht dringend geboten ist. Gefahren der Anpassung Es wird immer deutlicher, in welch vielfältiger Weise die menschlichen Aktivitäten auf die systemaren globalen Zusammenhänge einwirken. Doch sind die bestehenden Abhängigkeiten und Wechselwirkungen so komplex, daß die Folgen vieler menschlicher Entscheidungen kaum absehbar sind. Zwar ist es eine alte Erfahrung, daß der Mensch unter Risiko handelt und dabei dennoch überlebt. Aber allmählich hat das Tun der Menschen eine Dimension erhalten, bei der die Wahrscheinlichkeit, daß irreversible, das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur zerstörende Wirkungen hervorgebracht werden, wächst. Damit wächst auch das Entscheidungsrisiko in existenzgefährdender Weise. Mit anderen Worten, die Zahl der Menschen und das Ausmaß der Eingriffe in die Natur sind so beträchtlich, daß sich die „innere" Struktur vieler Gesellschaften und das „äußere" Zusammenspiel mit dem erdräumlichen Potential der Grenze der Belastbarkeit nähern könnte. Nun ließe sich einwenden, auch die globalen Veränderungen unserer Lebensgrundlagen würden so langsam ablaufen, daß es dem Menschen stets gelingen werde, sich durch ausgleichende Maßnahmen erneut anzupassen und gemäß dem bewährten Prinzip von Versuch und Irrtum, ein neues Gleichgewicht mit dem Daseinsraum zu finden. Also bestünde kein Grund zur Panik und zur Hektik. Wir haben die Probleme bisher bewältigt, und so wird es bleiben. Aber es ist keineswegs sicher, ob wir nicht eines Tages Gleichgewichtsänderungen im weltweiten Ökosystem auslösen, die so schlagartig und tiefgreifend schädigend spürbar werden, daß eine rechtzeitige Anpassung oder
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ausgleichende Beeinflussung nicht mehr möglich ist. Diese Bedrohung wird vergrößert durch die außerordentlich hochentwickelte Fähigkeit des Menschen, sich kraft seines Geistes, seiner kulturellen Selbstdisziplin, seines Spielraumes kulturabhängiger Werthaltungen an unterschiedlichste Existenzbedingungen anzupassen - auch an Bedingungen, die bereits seine physiologische, seine körperlich-seelische Begrenztheit überfordern, seine genetisch vorgegebenen Verhaltenstendenzen mißachten. So ist der Mensch in der Gefahr, um kultureller Prioritäten willen, gegen sich selbst zu leben; in uns ist auch eine selbstzerstörerische Komponente angelegt. Es ist durchaus möglich, daß sich der Mensch selbstgestaltend Bedingungen schafft, an denen er schließlich scheitert, daß er Versuche der Umweltnutzung verfolgt, die sich am Ende als tödlicher oder katastrophaler» Irrtum erweisen. Damit stehen wir unter dem Gebot, die durch unsere geistigen und technischen Fähigkeiten eröffneten Möglichkeiten selbstkritisch zu kontrollieren. . . Die Auswirkungen vieler unserer Entscheidungen zeigen sich oft erst sehr spät. Auch werden Abhilfemaßnahmen häufig nur stark verzögert wirksam, so daß sie unter Umständen die Katastrophe nicht mehr verhindern können. Also besteht die Gefahr, daß wir vieles erst zu spät erkennen und zu spät tun und die Schädigung oder die Selbstzerstörung einer Kultur dann nicht mehr zu vermeiden ist. Wir beobachten bei tierischen Societäten, daß es ihnen im allgemeinen recht gut gelingt, einen Gleichgewichtszustand mit dem Daseinsraum zu finden. Doch ist dabei ein sehr rigoroses Prinzip wirksam, erhöht sich ζ. B. die Populationsdichte zu stark, dann werden früher oder später, gewissermaßen selbstregelnd, so viele Individuen sterben müssen, verhungern, getötet, gefressen oder gar nicht mehr geboren, bis sich das Gleichgewicht wieder eingependelt hat. Mit anderen Worten, die Katastrophe, das große Sterben, ist im Dienste der Arterhaltung durchaus vorgesehen. Wir stehen jedoch vor der Aufgabe, eine derart „brutale" Regelung beim Menschen zu vermeiden. Kulturen, denen es allerdings nicht gelingt, ein Gleichgewicht zwischen Bevölkerungszahl und den verfügbaren Hilfsquellen herzustellen, werden Katastrophen hinnehmen müssen. Auch soziale Unfähigkeit wird dann bestraft. Es liegt also letztlich in der Hand des Menschen, unter welchen Bedingungen das Spiel von Versuch und Irrtum betrieben werden kann, wie hart der Irrtum bestraft wird. Das Elend der Prognose Will sich der Mensch nicht zunehmend existentiell gefährden, muß er Vorsicht und antizipierende Intelligenz entwickeln, muß er sich in seinem Denken und Handeln vor der zerstörerischen Dissonanz mit der eigenen
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Natur bewahren. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn verläßliche Antizipation der Folgewirkungen unserer Handlungen wie auch sichere Voraussage im sozialen Bereich ähnelt der Quadratur des Kreises, sie ist nicht herbeizuführen. Wir haben zwar ein dringendes Verlangen nach langfristiger verläßlicher Vorausschau, aber wir wissen, daß dem niemals Genüge getan werden kann. Die unterschiedlichen Konsequenzen menschlichen Tuns lassen sich nicht verläßlich vorausschauend aufzeigen. Warum? Die Entscheidungen der Menschen sind das Ergebnis sehr komplexer Wechselwirkungen mit der Umwelt (im weitesten Sinne). Im Ablauf der Zeit sind daher Aktionen und Reaktionen möglich, die, weil auf eine jeweils veränderte, zuvor noch nicht bekannte Situation bezogen, nicht sicher voraussagbar sind. Wenn es zudem zutrifft, daß das menschliche Wissen wächst, dann werden wir später in der Regel mehr wissen als zu dem Zeitpunkt, an dem wir all die Folgen unserer Entscheidungen angeben sollen. Die Vorausschätzung der Konsequenzen unseres Handelns dürfte also zu jedem Zeitpunkt unvollständig sein. Auch ändern sich die Bewertungen bestimmter Handlungsweisen durch den Menschen, und die Auswirkungen einer noch nicht bekannten, weil erst später gewandelten Bewertung, lassen sich eben noch nicht zu einem Zeitpunkt erkennen, zu dem sie noch gar nicht gelten. Könnte man freilich die Wirkungen bestimmter Entscheidungen über ein System zwingender kausaler Verknüpfungen erfassen, dann wüßten wir vorab um all die Folgen unseres Tuns. Aber es gibt im sozialen und so auch im humanökologischen Bereich kein Kausalgesetz, keine ursächlich vorbestimmte, keine deterministische Ereigniskette (Sukzessionsgesetz), wonach in kausaler Verknüpfung ein Ereignis auf das andere folgen muß, so daß mit der Ersthandlung bereits die letzte Konsequenz vorauszusehen wäre. In der Seinskategorie des Geistigen, im sozialen Leben wird die strenge Gesetzlichkeit ersetzt durch flexible, durch plastische Regelung der Prozesse, in denen existenzsichernd ein gewisser Freiheitsspielraum verbleibt - ein Phänomen, das letztlich die potentielle Variabilität menschlicher Entscheidungen erklärt. Darin liegt ein Grund, warum es nicht möglich ist, die hochkomplexen Zusammenhänge des Mensch-Umwelt-Systems für eine verläßliche Voraussage nutzbar zu machen. Es lassen sich nicht alle Umstände, Situationen und Wechselwirkungen, unter denen sich das System entwickelt und die es selbst hervorbringt, exakt erfassen und voraussagen. Letztlich scheitern daran auch alle „holistischen" Versuche, die Gesamtheit aller Lebensaspekte in ihrem Zusammenspiel innerhalb eines hochkomplexen Weltsystems zu berücksichtigen und in ihren Auswirkungen vorausschauend zu erkennen. Auch wenn man versucht, mit Hilfe komplexer Modèlle angeblicher Ursache - Wirkung - Beziehungen unter Eingabe alternativer Daten durch Szenarios oder Simulationen denkbare Abläufe durchzuspielen, so sind die
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Resultate solcher Übungen doch nicht verläßlich. Wird doch vorausgesetzt, daß bestimmte Abhängigkeiten, die man glaubt erkannt zu haben, auch bei der Eingabe alternativer Daten, also auch bei alternativen Maßnahmen und Ereignissen, in gleicher Weise wirksam sind. Eine solche Ceteris-paribusAnnahme, wonach im sozialen Bereich Wechselwirkungen zu anderen Zeitpunkten unter genau den gleichen Bedingungen ablaufen sollen, ist aber nicht zulässig. Würden die alternativen Maßnahmen tatsächlich eingeleitet, so ist keineswegs sicher, ob das gesamte System tatsächlich in der erwarteten Weise reagiert. Simulation und Szenario fördern die Neigung, auf voraussichtliche Folgen zu vertrauen und Entscheidungen zu treffen, die sich nur zu leicht, wenn die »erspielten« Konsequenzen doch nicht eintreffen, als Fehlentscheidungen erweisen. Besonders dann, wenn die Ergebnisse solcher Durchläufe langfristige Festlegungen und Entscheidungen nahelegen, können sie eine falsche Strategie begünstigen, durch die eine flexible und kurzfristige Reaktion auf geänderte Situationen erschwert oder gar verhindert wird. Szenario und Simulation sind Übungen, die den Sinn für Zusammenhänge schärfen mögen, aber sie können ebenso zu falschen Maßnahmen verleiten, wenn vergessen wird, daß sie in Wirklichkeit unter Irrtumsverdacht zu stellen sind. Auch komplexe Modelle und die Eingabe zahlloser Daten schützen nicht vor qualitativen Änderungen des zugrundeliegenden Systemzusammenhanges, vor unvorhersehbaren Wechselwirkungen und damit vor der Fehlkalkulation. Wir müssen erkennen und es ertragen, daß verläßliche Voraussage, wirklichkeitsgerechtes Durchspielen der Konsequenzen unserer Entscheidungen im sozialen Bereich nicht möglich ist. Dies gilt auch für alle regionalen Voraussagen, für die sogenannte Regionalprognose. Auch das dringlichste Verlangen und der zweifellos bestehende Bedarf nach einer solchen „Vorwegnahme" denkbarer Entwicklungen darf nicht zu leichtfertigem Vertrauen auf die vermeintliche Verläßlichkeit sozialer Prognose verführen. Im zweiten Teil dieses Buches wird ausführlich und in kritischer Diskussion unterschiedlicher Prognosemethoden erörtert, warum ein solches Vertrauen nicht zulässig ist. Zukunftsbewältigung durch verbesserte Verfahren Gibt es auch keine verläßliche Vorausschau, so steht der Mensch doch unter dem Zwang, seine eigene Zukunft vorausschauend und selbstgestaltend zu bewältigen. Die Entwicklung und Sicherung von Raumnutzungsmodellen, die ein lebensdienliches Gleichgewicht zwischen Mensch und Daseinsraum gewährleisten, stellt eine zentrale Aufgabe des Menschen dar. Es wird immer zwingender, zerstörerische Konsequenzen raumbezogener Entscheidungen
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zu vermeiden. Aber das kann nicht durch Orientierung an vermeintlich verläßlichen Voraussagen erreicht werden, sondern nur durch verbesserte Planungsverfahren, mit deren Hilfe sich Irrtümer und Fehlentwicklungen möglichst vermeiden, zumindest aber auf schnellste Weise ausgleichen und korrigieren lassen. Hierbei erscheinen Verfahren, die im Sinne einer schrittweisen Sozialtechnik die konkreten und detaillierten Ziele der räumlichen Gestaltung erst während des Planungsprozesses flexibel und variabel herausarbeiten und sie gleichzeitig ständiger Kontrolle unterwerfen, als sehr brauchbar. Mit ihrer Hilfe lassen sich zuträgliche Raumnutzungsmodelle erarbeiten und sichern. Im vierten Teil des Buches wird ein entsprechendes Verfahren als sog. „offene" Regionalplanung konzipiert. Regionale Prognose braucht dann nur noch grobe Orientierungshilfe zu sein, hochgradige Verläßlichkeit der Voraussage ist gar nicht mehr erforderlich. Der dritte Teil des Buches beschreibt eine solche Methode zur regionalen Grobprognose. Aber auch bei der „offenen" Planung kann nicht auf eine übergeordnete, gewissermaßen universalistische Zielorientierung verzichtet werden. Die Menschen müssen sich, auch bezüglich der Raumnutzung, auf grundlegende wertorientierte Leitvorstellungen einigen. Durch diese wird eine langfristige Ausrichtung des Handelns ermöglicht. Eine langfristige Festlegung zielführender Maßnahmen wird jedoch aus gutem Grund vermieden. Denn, wie diese „Oberziele" am besten zu erreichen sind, kristallisiert sich in ständiger Überprüfung immer wieder neu und kooperativ während des PlanungSprozesses heraus. Bei der Festlegung der Oberziele besteht allerdings die Gefahr, utopischen Vorstellungen zu folgen. Die Vorstellungen zur zukünftigen Raumgestaltung sind daher neben der Bindung an allgemeine Wertvorstellungen vor allem an den geographischen Gegebenheiten zu orientieren, aber auch an der physiologischen und körperlich-seelischen Begrenztheit des Menschen sowie an den genetisch angelegten Verhaltenstendenzen. So wird die Aufdeckung geographischer bzw. gebietlicher Besonderheiten (im weitesten Sinne) zu einer unverzichtbaren Voraussetzung für die Erarbeitung angemessener gebietsspezifischer Leitbilder zur zukünftigen Raumnutzung. Eine wesentliche Aufgabe besteht dann darin, in Kenntnis des gebietlichen Potentials für die jeweiligen Regionen Raumnutzungsmodelle, flächenbezogene Leitbilder der gebietlichen Entwicklung, aufzustellen, die sowohl an einem wirklichkeitsgerechten Menschenbild und daraus abgeleiteten grundlegenden Zielund Wertvorstellungen als auch an der vorgegebenen räumlichen Wirklichkeit orientiert sind und für die die Schritte, sie zu verwirklichen, aufgezeigt werden können. Damit entstünde ein realitätsbezogenes Bild von der Zukunft, bzw. von der kurz- und mittelfristig anzustrebenden Raumnutzung,
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ohne eine langfristige Ausrichtung auf universalistische Ziele und Werte zu vernachlässigen. Wirklichkeitsfremdes, leichtfertig utopischen Vorstellungen folgendes Handeln kann so vermieden werden. Im fünften und sechsten Teil des Buches wird ein flächenbezogenes Leitbild für die Regionalplanung vorgestellt, der sog. Stadt-Land-Verbund, dessen Verwirklichung sowohl den wertorientierten Leitvorstellungen wie auch dem spezifischen gebietlichen Potential eines ausgewählten geographischen Raumes entspräche. In Beachtung der besonderen Bedingungen und Möglichkeiten unserer Zivilisation und der gebietsspezifischen erdräumlichen Voraussetzungen wird eine Konzeption für die regionalplanerische Gestaltung vorgelegt, die in der Schaffung und Erhaltung eines möglichst großen und vielfältigen Angebotes unterschiedlichster Möglichkeiten der Raumnutzung - einbezogen in ein System sinnvoller wechselseitiger Ergänzung - eine wesentliche Aufgabe der regionalen Lebensraumgestaltung sieht. Zusammenfassend In der Darstellung wird aufgezeigt, daß das raumbezogene Verhalten des Menschen innerhalb weiter Grenzen variabel und gewissermaßen relativ ist. Je nach den gebietlichen Voraussetzungen und der zivilisatorischen Situation bilden sich in hochkomplexer Wechselwirkung immer wieder neue und unterschiedliche Gleichgewichtszustände zwischen Mensch und Raum heraus. Das entscheidende Regulativ ist dabei die sinnorientierte Bewertung, die der Mensch einer Situation und den Dingen gibt. Dieser sinngebende Bewertungsprozeß ist in sich selbst variabel und begründet zugleich die potentielle Variabilität des menschlichen Verhaltens. Eine verläßliche Voraussage der Wechselwirkungen zwischen Raum und Mensch und ihrer Effekte ist daher kaum möglich. Analog lassen sich auch keine gewissermaßen „ewig" sinnvollen Raumnutzungssysteme festlegen; Bewertungswandel und technologische Entwicklung können immer wieder neuen bzw. anderen Möglichkeiten „Sinn" geben. Gleichzeitig besteht aber stets und zunehmend die Gefahr, daß sich der Mensch um bestimmter kulturspezifischer Prioritäten willen räumüche Existenzbedingungen schafft, die ihn letztlich gefährden. Daher ist es notwendig, Verfahren zu entwickeln, die das Irrtumsrisiko zukunftsorientierten Handelns verringern. Wir sehen einen Weg zu diesem Ziel in einer Strategie verstärkter regionaler Selbstgestaltung. Die Aufgabe besteht dann darin, durch erhöhte regionale Selbstverantwortung und erweiterten Handlungsspielraum, durch Aktivierung des regionalen Potentials die Herausbildung zuträglicher Gleichgewichtssysteme zwischen Mensch und Raum zu fördern. In Ausschöpfung der gebietlichen Besonderheiten sollen mit Hilfe eines möglichst vielfältigen Angebotes Anpassungszwänge an unzuträgliche
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Raumnutzungen vermieden und größere persönliche Handlungsspielräume eröffnet werden, womit zugleich bessere Voraussetzungen für eine Selbstverwirklichung der Person und für die „Harmonie" zwischen Mensch und Raum, für das im Lebensraum „Zu Hause- und Geborgensein" geschaffen werden; damit dürften auch die Chancen der Menschen, sich wohlzufühlen und glücklich zu sein, steigen. Selbst bei der Bewältigung der Probleme einer weltweiten Raumnutzung, also beim Aufbau eines globalen Raumnutzungssystems, kann die angedeutete Strategie angewandt werden: Für die Teilräume der Erde wären gebietsspezifische Leitbilder des Gleichgewichts zu erarbeiten und schrittweise zu realisieren, mit dem Ziel, gebietliche Katastrophen zu verhindern und gebietsspezifische Handlungsspielräume aufzubauen. Das erscheint sinnvoller, als aus den fragwürdigen Ergebnissen globaler oder regionalisierter Szenarios und Simulationen mit ihren zahlreichen Ceteris-paribus-Annahmen die Forderung nach gewaltigen Umverteilungen von Investitionsmitteln, Arbeitskräften und Gütern abzuleiten. Es gilt vielmehr, ein Mosaik zuträglicher Raumnutzungsmodelle, Modelle, die der Harmonie zwischen Mensch und Lebensraum förderlich sind, für die verschiedenen Teilräume der Erde vorzuschlagen und gebietsspezifische wohldosierte Förderungsmaßnahmen zu ermöglichen. Zwar wird auch dann Irrtum nicht grundsätzlich zu vermeiden sein, die negativen Konsequenzen irrtümlicher Entscheidungen aber dürften geringer und leichter korrigierbar sein. Weniger die allumfassende Weltplanung, als vielmehr die Ermöglichung regionaler Planungsabläufe mit gebiets- und kulturspezifischer Zielfindung und -erreichung, ist erforderlich. Aus der „gesunden" regionalen Zelle addiert sich der gesunde globale Körper. Es gibt keine verläßliche weltweite Umverteilungstherapie zur Heilung unterschiedlichster Regionen, aber es kann eine erfolgreiche Strategie zur gebietsspezifischen schrittweisen Verbesserung geben. Damit soll keineswegs die wachsende Notwendigkeit zur weltweiten Kooperation, ζ. B. bei der Nutzung begrenzter Hilfsmittel, bestritten werden, doch dies allein wäre zu wenig und ist zudem auch schwerer zu realisieren als die aufgezeigte regionale Strategie. Wer jedoch alle Aufmerksamkeit auf die Schaffung einer politisch, wirtschaftlich wie ökologisch wohlgeordneten Ganzheit „Erde", auf die globale Aktivität richtet, muß damit rechnen, daß eine Strategie der schrittweisen regionalen Entwicklung mit dem Ziel, gesunde, katastrophenfreie Zellen zu schaffen, bereits eine verbesserte Welt erreichen kann, während sich die globalen Strategen noch im Streit um die zukünftige Ordnung einer „heilen" Ganzheit die Köpfe einschlagen. Wollte man einwenden, damit würde auf eine langfristige Orientierung verzichtet und die Unterlassung rechtzeitig vorsorgender Maßnahmen be-
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günstigt, so ist dem entgegenzuhalten, daß es sehr risikoreich ist, langfristig für Situationen vorzusorgen, die man noch nicht kennt, und daß es leichtfertig wäre, darauf alle Energien zu konzentrieren und darüber das Naheliegende zu vernachlässigen. Es ist sinnvoller, langfristige wertorientierte Leitvorstellungen vor Augen zu haben, die Wege, diese zu verwirklichen, aber Schritt für Schritt zu gehen. Und die Versuche, harmonisierte Regionen aufzubauen, sind solche Schritte, eine weniger gefährdete Welt herbeizuführen. Zudem ist nicht auszuschließen, daß mit anhaltender Unfähigkeit zur solidarischen Kooperation am Ende doch zum egoistischen „rette sich, wer kann" zurückgegriffen wird. Dann werden die Auswirkungen umso katastrophaler sein, je weniger „gesunde" Regionen zwischenzeitlich aufgebaut wurden. Die Darstellung folgt in ihrem inhaltlichen Aufbau der in dieser Einleitung angedeuteten Argumentation und vertieft diese auf vielerlei Weise. Bei den Überlegungen zur zukünftigen Gestaltung des Lebensraumes war es notwendig, über die ausschließlich räumlichen Sachverhalte hinaus zu einer erweiterten Betrachtungsweise, unter Beachtung auch philosophischer Aspekte, zu gelangen. Vor allem aber sollte ein zentraler, relativ einfacher Gedankengang deutlich werden. Die raumbezogenen Entscheidungen der Menschen und deren Konsequenzen sind weitestgehend unwägbar und potentiell variabel. Daher läßt sich auch nicht verläßlich voraussagen, wie die Menschen in Zukunft im Raum handeln werden. Daher gibt es auch keine allgültigen Gesetze oder Gesetzmäßigkeiten der gebietlichen Entwicklung. Wie sich die Nutzung unseres Lebensraumes entwickeln wird, ist relativ ungewiß. Zwar gibt es Grenzen der Anpassung an lebensräumliche Bedingungen, die nicht ohne Gefahr der Schädigung überschritten werden, auch neigt der Mensch aufgrund seiner genetischen Fixierung oder kulturspezifischen Gewohnheiten zu bestimmten raumbezogenen Verhaltensweisen, aber daraus läßt sich nicht ableiten, wie und in welcher Weise die zukünftige Nutzung und Gestaltung des Lebensraumes erfolgen wird. Entsprechend lassen sich auch keine gewissermaßen allgültigen und ewig idealen Raumnutzungsmodelle aufstellen. Vielmehr muß sich der Mensch immer wieder entscheiden, welche Raumnutzung ihm wert sein soll, gewollt zu werden. Das schließt Irrtumsrisiko nicht aus. Aber dieses läßt sich mindern, wenn sich der Mensch bei der Gestaltung seines Lebensraumes bewußt unter lebensdienliche Ziel- und Wertvorstellung wie etwa das Wohlbefinden, die Gesunderhaltung und Selbstentfaltung des Menschen stellt und demgemäße raumbezogene Leitbilder entwickelt und sie den jeweiligen gebietlichen Voraussetzungen gemäß verwirklicht. Gleichzeitig muß er aber über Verfahren der regionalen Lebensraumgestaltung verfügen, die eine Änderung und Anpassung seiner
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raumbezogenen Leitbilder an sich wandelnde Bedingungen erlauben, ohne die wertbezogenen Ziele zu zerstören. Seine Verfahren zur Planung des konkreten Lebensraumes sollen „offen" und flexibel sein, so wie seine Wertvorstellungen an einem wirklichkeitsgerechten und humanen Menschenbild orientiert sein müssen. Dann kann die Angst vor der Zukunft durch verantwortliches, schrittweises Handeln gebannt werden, und die Hoffnung kann sich auf das schrittweise tatsächlich Erreichbare konzentrieren und braucht sich nicht im Verlangen nach dem unsicher Utopischen zu verzehren. Selbstachtung und Erfolg des einzelnen wie auch einer Gesellschaft sind so weit eher zu gewinnen als durch hektischen oder radikalen Aktivismus zwischen Angst und utopischer Vision.
Erster Teil
Die Wechselwirkung zwischen Raum und Mensch „Jeder Versuch, die Funktion eines in Unordnung geratenen Systemganzen wieder herzustellen, hat die Einsicht in sein Wirkungsgefüge zur Voraussetzung." K. LORENZ, 1973
1. Die Situation des Menschen im Raum
Wer die gezielte Gestaltung der räumlichen Lebensbedingungen der Menschen betreiben will, sollte sich zuvor bemühen, Klarheit über das Verhältnis zwischen Mensch und räumlicher Umwelt zu gewinnen. Es kann nicht darum gehen, den Menschen irgendwie in eine technologisch befriedigend gebaute Umwelt „einzupassen". Vielmehr wären räumliche Existenzbedingungen zu schaffen, die zum Menschen passen, die ihm zuträglich und seiner Entfaltung förderlich sind. Aber welcher Art müßten die lebensräumlichen Bedingungen sein und wie, mit welchem Effekt wirken sie auf den Menschen ein? Und hätte denn überhaupt die spezifische Gestaltung des umgebenden Raumes verläßlich eine bestimmte Auswirkung auf das Verhalten des Menschen? In welchem Verhältnis stehen Raum und Mensch zueinander, sind die Beziehungen determiniert oder variabel? Es sei an die Aussage des Soziologen P. v.
LILIENFELS
(1873) erinnert:
„alles im sozialen Gebiete, wie in der Natur beruht auf Wechselwirkung und nicht auf absoluten Prinzipien."
So stehen auch Mensch und Raum nicht im Verhältnis einseitiger und von vornherein festliegender Einwirkung, sondern es entfaltet sich eine vielfältige Wechselwirkung. Und ist diese wechselseitige interdependente Beeinflussung zwischen räumlichen Lebensbedingungen einerseits und dem Verhalten und Befinden des Menschen andererseits auch unauflösbar, so wirkt sie doch nicht in zwingender Kausalität sondern, wie in einem variablen Spiel, das sich Niveau und Ablauf erst sucht. Dabei wäre es falsch, diese Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum als isolierte Beziehung zwischen zwei in sich geschlossenen homogenen Elementen zu sehen; zu vielfältig sind deren Aspekte. Dies wird deutlich, wenn man bedenkt, daß die menschliche Existenz mindestens fünf wesentliche Dimensionen besitzt: die physiologische (Stoffwechsel etc.), die seelisch-geistige (Wahrnehmen, Empfinden, Denken etc.), die soziale und ökonomische (Organisation, Produktion etc.), die zeitliche (Entwicklung, Ablauf, Rhythmus etc.), und die räumliche Dimension (Territorialität, Nähe, Distanz etc. - räumliche Lebensbedingungen). Werden einzelne Komponenten oder die Beziehungen zwischen diesen beeinflußt, treten Rückwirkungen auf alle anderen Dimensionen auf. So unterliegen auch die Wechselwirkungen zwischen Raum und Mensch zahlrei-
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Die Situation des Menschen im Raum
chen gewissermaßen begleitenden Einwirkungen. Das Verhältnis von Raum und Mensch ist also einbezogen in ein umfassendes Gefüge multidimensionaler wechselseitiger Verflechtungen. Nur wissen wir leider wenig Verläßliches darüber, wie der Prozeß dieser Wechselwirkungen genau abläuft, wie er gesteuert und geregelt wird, welche konkreten Folgen er im einzelnen hat. Wahrscheinlich ist es erkenntnistheoretisch gesehen ohnehin nicht möglich, die Wirkungsvielfalt zwischen Mensch und räumlicher Umwelt unter Einschluß auch der anderen Einflußgrößen in all ihren Konsequenzen aufzudekken oder gar vorherzusagen (vgl. zweiter Teil, Kap. 2.2.3). Sicher ist aber, daß bereits die nachhaltige Störung nur einer dieser begleitenden Dimensionen störenden Einfluß auf das Verhältnis zwischen Mensch und Umgebung haben kann. Ebenso sicher ist, daß die Situation des Menschen im Raum bzw. die lebensräumliche Bedingung ihrerseits auf die anderen Dimensionen der Existenz einzuwirken vermag und ζ. B. die seelische Gesundheit eines Menschen gefährden oder fördern kann, wodurch dann möglicherweise wieder andere Komponenten, ζ. B. das soziale Verhalten, beeinflußt werden. Das wiederum kann zu einem Wandel der lebensräumlichen Situation führen. So vermögen sich in einer höchst filigranen und komplexen Vernetzung von Einflüssen, vielfältigste Effekte herauszubilden, nicht aber in genau determinierter und vorhersagbarer Weise. Ist das Spiel der vielfältigen Wirkungen auch nicht exakt nachvollziehbar und sichtbar, so ist doch leicht einzusehen, warum so viele Einflüsse und Rückwirkungen möglich sind. Der Raum ist eine unausweichliche Dimension unserer Existenz, und er ist stets ausgestattet mit Dingen und Gehalten, die in ihrer spezifischen Verortung für unser Verhalten, Empfinden und Denken mehr oder minder bedeutsam sind, die auf uns und wir auf sie einwirken.
1.1 Die Einheit von Mensch und Raum Wenn wir von lebensräumlichen Bedingungen, von räumlicher Umwelt oder kurz vom „Raum" sprechen, dann ist damit ja nicht irgendein abstrakter oder mathematisch definierter Raum gemeint, sondern der uns umgebende konkrete Raum mit all den in ihm in spezifischer Distanz verorteten Dingen. Es ist der Raum, in dem wir tatsächlich und körperlich leben, uns bewegen und darin handeln. Es ist kein „Raum", den wir uns nur vorstellen, den wir als Sphäre des Geistigen oder Seelischen verstehen, sondern es ist, mit den Worten O. F. BOLLNOWS (1971, S. 19), „der wirkliche konkrete Raum, in dem sich unser Leben abspielt"; es ist der von uns „erlebte und gelebte Raum". Ein so verstandener Raum setzt uns zum jeweiligen Zeitpunkt ganz
Die Einheit von Mensch und Raum
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konkrete, „faßbare" Bedingungen unseres Handelns; er besitzt, im Sinne KANTS „empirische Realität". Zu diesem Raum gehört der in bestimmter Weise verortete Stuhl, auf dem wir uns niederlassen, es gehört dazu das Bett, auf dem wir liegen und das Zimmer, in dem das Bett steht, aber ebenso auch das Bild an der Wand und die engere und weitere Umgebung, die uns der Blick aus dem Fenster zeigt. Und ist unser Bett durchgelegen, so werden wir es bald im Rücken spüren, und ist der Stuhl vor dem Schreibtisch falsch konstruiert, vermag dies den Fortgang der geistigen Arbeit zu beeinträchtigen, was wiederum unsere zeitliche Planung durcheinanderbringen und durchaus auch ökonomisch ungünstig wirksam werden kann, wodurch rückwirkend vielleicht das seelische Befinden gestört und dadurch die geistige Produktivität gehemmt wird, so wie andererseits aber auch der schöne Blick aus dem Fenster zu stimulieren vermag. Wir sind auf's stärkste betroffen von unseren lebensräumlichen Bedingungen; die räumlichen Realitäten wirken ständig und in vielfältiger Weise auf uns ein. Mehr noch, wir sind vom Raum und seinen Einflüssen unausweichlich eingehüllt, wir können lebensräumliche Bedingungen wechseln oder verändern, aber niemals grundsätzlich verlassen und gewissermaßen „aussteigen". Es ist ja nicht hier der Mensch und da der Raum, die sich zwar wechselseitig beeinflussen würden, aber doch voneinander völlig unabhängig existieren. Vielmehr besteht eine ganz ursprüngliche Einheit. Ebenso zwingend wie in der Zeit spielt sich unser Leben im wirklichen konkreten Raum ab. Und stellt sich dieser Raum auch in unterschiedlichsten Aspekten und Ausschnitten dar, je nachdem, wie wir ihn erleben, wie wir in ihm handeln oder durch ihn gestimmt werden, unentrinnbar bleibt er unser Medium, wie wir selbst auch Teil dieses Mediums sind. Treffend formuliert O. F. BOLLNOW (1971, S. 303): „Der Raum gehört zum Menschen wie sein Leib . . . "
Ja, werden wir nicht durch diese Dimension unserer Existenz bis in unser Wesen hinein bestimmt, werden wir nicht so, wie wir jeweils sind, unter den Bedingungen eines konkreten Raumes bzw. in Einheit mit ihm? Fühlen wir uns ζ. B. im eigenen Haus geborgen, und ist dort unser Verhalten gelöst, so drängt uns die „Außenwelt" durch stärkeren Anpassungsdruck, durch gesteigerte Anspannung doch oft zu ganz anderen Empfindungen und geänderten Verhaltensweisen. Zwar hatte er zu Hause noch seinen Hund gestreichelt, warf aber doch im großen Stadion mit der Bierflasche nach dem Schiedsrichter. Wandelt nicht auch unser Umraum mit seiner jeweils spezifischen Ausstattung uns selbst? Natürlich beeinflussen neben den räumlichen Voraussetzungen auch ande-
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re und oft durchaus mit diesen verbundene soziale oder ökonomische Fakten unser Verhalten. Aber leicht kann jeder nachvollziehen, wie stark lebensräumliche Bedingungen das Handeln oder die Stimmung beeinflussen. In einer Wohnung mit großen Räumen, kahlen Wänden und kalten, grellen Farben wird weniger leicht eine gemütliche Stimmung aufkommen, als wenn man sich in einer behaglichen Ecke bei gedämpftem Licht versammelt. So wie der konkrete Raum auf das menschliche Leben einwirkt, formt und ordnet umgekehrt der Mensch doch selbst auch diesen. Es trägt der von uns „gelebte" Raum stets auch die Zeichen unserer Tätigkeit, unserer Zwecke und Ziele, ja er spiegelt in seiner Ordnung den für uns bestehenden Sinnzusammenhang der Dinge - dort steht ein Tisch, dazu der Stuhl und Regale füllen den „Raum"; Autobahnen verbinden Siedlungen, Gewerbegebiete, Erholungsräume gemäß der Zielsetzungen unseres raumbezogenen Handelns und bilden so unser Denken in den Strukturen des Raumes ab. So spricht W. DILTHEY vom geordneten Raum als Objektivierung menschlichen Geistes. Aber es ist zugleich auch die Realität des Raumes mit seinen Dingen und Distanzen, an der sich Geist und Denken des Subjektes entfalten und ordnen. Der Mensch und der ihn umgebende Raum beeinflussen sich jedoch nicht nur wechselseitig; das Verhältnis ist inniger und zugleich rigoroser. Wir werden selbst erst, was wir sind durch Konfrontation und Umgang mit dem konkreten, ausgestatteten Raum. Dieser ist nicht nur stete Bedingung unserer Existenz, er ist die Voraussetzung unserer körperlichen und kognitiven Entwicklung. Vor allem die Forschungen von J . PIAGET zur genetischen Epistemologie haben verdeutlicht, in welch starkem Maße die geistige Entwicklung des heranwachsenden Individuums, als ein Prozeß zunehmender Erkenntnisfähigkeit, abhängt vom ständigen Wechselspiel zwischen dem sich entfaltenden Subjekt einerseits und der sich in ihm ab- und ausbildenden Umgebung andererseits. Das neugeborene Kind tritt ja dem konkreten Raum nicht als voll ausgebildetes, gewissermaßen fertiges Subjekt gegenüber, das sich diese objektiv vorhandene Umgebung, so wie sie ist, durch Wahrnehmung aneignet, sondern dieses wachsende Wesen ist sich zunächst weder seiner besonderen eigenen Existenz und Aktivität als Subjekt bewußt, noch begreift es, daß außerhalb seiner selbst von ihm unabhängige „völlig ausgebildete Objekte" ( J . PIAGET, 1 9 7 4 , S. 3 2 ) bestehen. Wenn aber nun dieser neugeborene Mensch noch gar nicht als Subjekt im epistemischen Sinne existent ist und die typisch verorteten Objekte seiner Umwelt noch gar nicht als solche erkannt werden, wenn also dieses Neugeborene noch in einer ganz ursprünglichen Immanenz mit der Welt ist, wenn es zwar körperlich, aber eben noch nicht geistig „abgenabelt" ist vom Einssein mit seiner Umgebung, wie, so ist zu
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fragen, entwickelt es sich dann zum zunehmend erkennenden und schließlich denkenden Individuum, was verhilft ihm dazu? Es ist vor allem der angeborene Drang zur Aktivität, zur Bewegung, es ist die Disposition der Lebewesen zum Handeln, die zwangsläufig zur Begegnung mit immer neuen Dingen führt. Dieses aus eigenem Antrieb Handeln, eng verbunden mit der Wahrnehmung, ist der Motor, der das Kind in immer neue Situationen und Kontakte treibt. Durch Handeln wächst ganz allmählich die Fähigkeit, in wechselseitiger Verstärkung die Welt der Objekte und sich selbst als erkennendes Subjekt zu erfassen. Durch Bewegung und immer wieder neu strukturierte Aktivität entdeckt das Kind die verorteten Objekte und den Raum und zugleich sich selbst. Das Kind bringt gewissermaßen durch Handlung sein Selbst und die bestehenden Dinge, Subjekt und Objekt erst hervor. Fehlt zunächst eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt und findet anfänglich, wie J. PIAGET formuliert, „der Austausch nicht zwischen abgegrenzten Formen" statt, so reifen beide, Subjekt und Erfassung des Objektes, durch Kontakt des eigenen Körpers mit den umgebenden Dingen, „um sich hierauf in zwei komplementären Richtungen zu erweitern, nach innen und nach außen; und erst diese doppelte Konstruktion gestattet die Erarbeitung des Subjekts und die damit verbundene Konstituierung der Objekte" (1974, S. 32). So wie die Fähigkeit zu Erkennen im Subjekt wächst, taucht die Welt der Objekte auf, die ihrerseits durch den Kontakt mit dem Organismus und seinen Sensoren dessen kognitive Fähigkeit, dessen handelnde wie erkennende Kapazität entwickelt; das läßt sich nicht trennen. Subjekt und Objekt, das Selbst und das Bild von der Umwelt bilden sich im heranwachsenden Menschen wie in einem Kreisprozeß, einander wechselseitig konstituierend, heraus; eines ist durch das andere. In Interaktion zwischen angeborener Disposition und der Umwelt baut das aus eigenem Antrieb aktiv erkundende, erprobende und prüfende Kind seinen Intellekt aus und damit verbunden sein Bild von der Welt.
1.1.1 Entwicklung durch Wechselwirkung Es ist für das Verständnis der Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum hilfreich, sich die Entwicklungsstufen des Kindes hinsichtlich seines Verhältnisses zur Umgebung zu vergegenwärtigen. Es wird dann deutlich, wie stark und unausweichlich unsere Abhängigkeit vom Raum ist, wie das Kind geistig in Interaktion mit der räumlichen Umgebung wächst. So sind wir in unserer geistigen wie auch körperlichen Entwicklung bezogen auf den Raum um uns, in unserem Handeln und Denken geformt an der Erfahrung mit dem Raum. J. PIAGET gelang es, mehrere charakteristische Stufen der Bildung von
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Erkenntnissen, der Psychogenese im heranwachsenden Kind zu unterscheiden: In der frühesten, der sog. sensomotorischen Phase bezieht der Säugling alle Raumwahrnehmung und alle Handlung noch auf seinen eigenen Körper, „als ob er das Zentrum der Welt wäre". Er verbindet diesen seinen Körper saugend, sehend, greifend, rollend, krabbelnd direkt mit den Dingen, die nur in diesem Bezug zum eigenen Körper existent sind und eben noch nicht als unabhängig existierendes Objekt erkannt werden - „eine automatische und unbewußte Zentrierung der Außenwelt auf den eigenen Körper" (1974, S. 34, 35). Dann, etwa ab der Mitte des zweiten Lebensjahres, vollzieht sich „eine Art kopernikanische Wende", jetzt wird allmählich der eigene Körper „als ein Objekt unter anderen" erkannt, der ebenso wie andere Objekte in den umgebenden Raum „eingebettet" ist. Und so, wie sich das seiner bewußt werdende Subjekt selbst als Quelle und „Beherrscher" der von ihm ausgehenden Aktivitäten begreifen lernt, erfaßt es auch die Wirkungen der Objekte, vermag es Handlungen untereinander zu koordinieren. Indem Objekte in bestimmter und koordinierter Weise verschoben und bewegt werden, bilden sich zu den Objekten gehörige raumzeitliche und kausale Vorstellungen, die ihrerseits gezieltes Handeln ermöglichen. J. PIAGET (1974, S. 36) formuliert: „Die Koordination der eigenen Handlungen, die untrennbar mit jenen raumzeitlichen und kausalen Koordinationen verknüpft ist, die das Subjekt in der Außenwelt zu erkennen glaubt, verursacht die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekten und eine Dezentrierung auf der Ebene der materiellen Handlungen, die zusammen mit der semiotischen Funktion die Vorstellung oder das Denken im eigentlichen Sinn möglich machen."
So wächst die Erkenntnisfähigkeit des Kindes in unmittelbarer Orientierung an der räumlich-zeitlichen und kausalen Organisation der umgebenden Objekte. Objekte und ihre Eigenschaften werden mit Hilfe der Wiederholung, dem Wiedererkennen, der Übertragung und dem Ausprobieren und schließlich der Verallgemeinerung zu typischen Schemata assimiliert. An Objekten erkannte Abläufe und Wirkungen werden zu Handlungsschemata abstrahiert und als Abstraktion der Erprobung neuer Handlungsmöglichkeiten dienstbar gemacht. Der Aktivitätsdrang sorgt dafür, daß neue Anwendungssituationen entstehen, deren Andersartigkeit zugleich zur weiteren Entwicklung vorhandener oder zur Bildung neuer Assimilationen beiträgt. In der nachfolgenden Entwicklungsstufe, der des präoperativen Denkens, werden, etwa ab dem 3. Lebensjahr, die bisher entstandenen Schemata der sensomotorischen Intelligenz, die ja nur im Zusammenhang mit ihrem Einsatz unter konkreten räumlichen Bedingungen, also als unmittelbares Hand-
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Iungsmodell, verfügbar sind, allmählich in die begrifflichen Dimensionen erhoben. Die den Handlungen immanenten Schemata bzw. Bilder unterliegen der „Verinnerlichung" zu Begriffen, erfahren Rekonstruktion auf einer „höheren Ebene". Diese Transformation zu Begriffen erlaubt einen weit effektiveren Einsatz der gewonnenen Vorstellungen, denn diese sind nun nicht mehr nur der momentanen Handlung verhaftet; sie werden operabel für immer differenziertere Situationen bzw. deren Erkenntnis und Bewältigung. Die Assimilation neuer Erfahrung an und durch Begriffe lockert die unmittelbare Abhängigkeit des Subjekts vom Objekt und der momentanen Situation. Sind die Begriffe für die Objekte und ihre Eigenschaften bzw. für Handlungen zunächst nur in Bezug zur eigenen Handlung existent, so erweitern diese sich bald (ab 5 - 6 Jahren) durch Koordination zu begrifflichen Erfassungen von zielgerichteten Zusammenhängen funktionaler Art. Dies bereitet jenes Stadium vor, welches dem Kind (ab etwa 7-8 Jahren) erlaubt, die verbegrifflichten Handlungen in den „Rang von Operationen" zu erheben, bei denen die verschiedenen einzelnen Größen sowohl verändert, erneut korrigiert oder auch belassen werden können. Es entsteht ein umfassenderes Bild von Handlungszusammenhängen. Das Kind ist nun in der Lage, dank fortschreitender Koordinationsfähigkeit, sich differenziertere „Gesamtstrukturen", die die „Komposition" ihrer Elemente erfordern und erlauben, vorzustellen und entsprechende konkrete Operationen auszuführen. Wichtige Voraussetzung für solche Operationen ist die Fähigkeit zur geistigen Vorwegnahme von Handlungen und ihrer jeweiligen Rückwirkungen. Zur bereits vorhandenen Fähigkeit, Zusammenhang zwischen variablen Größen zu erkennen und nachträglich zielgerichtet zu korrigieren, gesellt sich nun die Fähigkeit der Antizipation der jeweiligen Rückwirkungen und ggf. des Irrtums. Es wird jenes Spiel der Kombination von Handlungsvorwegnahmen und zu erwartenden Rückwirkungen möglich, das es dem Subjekt gestattet, die auszuführenden Operationen, gestützt durch einen gedanklichen Konstruktionsprozeß, durch Erkenntnis operativer Strukturen zu regeln. Doch noch immer sind diese gedanklichen Operationen unmittelbar an das konkrete Objekt bzw. an konkrete Handlung im Raum gebunden. Erst etwa ab 11 Jahren taucht im Kind die Fähigkeit auf, „über die aktuelle Wirklichkeit hinauszugehen und das Wirkliche in die Gesamtheit des Möglichen einzubetten" (J. PIAGET, 1974, S. 73). Nun erst können die an Gegenständen, an den verorteten Objekten des konkreten Raumes erprobten Operationen auch zu hypothetischen Abläufen, zu „formalen" Operationen abstrahiert werden. Es findet also eine gewisse Lösung vom räumlich-dinglichen Vorgang und
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eine Abstraktion zu allgemeinen Aussagen statt, die dann den Weg für zahlreiche Deduktionen ebnet, die zu Koordinationen und Kombinationen verschiedener Hypothesen und deren Bezugssystemen einlädt, die dem erkennenden Geist ein weites Betätigungsfeld eröffnet. Auch die verschiedenen Formen des Handelns im Raum und die Möglichkeiten der Anpassung an die Umwelt können nun abstrahiert und gewissermaßen durchgespielt werden. Für unsere Überlegungen ist die Einsicht wichtig, daß die geistige. Entwicklung des Kindes und seine Psychogenese in unmittelbarer Bindung an die im Raum verorteten Objekte abläuft. Das mit dem organischen Wachstum zugleich wachsende Potential des Erkennens erfährt seine Ausbildung in Korrespondenz mit der Umgebung. Innenwelt und Erfassung der Außenwelt formen sich, einander hochschaukelnd und aneinander angepaßt, im heranwachsenden Kind gemeinsam aus. Der Mensch wächst geistig und körperlich in unmittelbarer Bindung an den Raum und seine Objekte. Zwar machen ihn seine genetisch vorgegebenen Entwicklungsphasen empfänglich für immer differenzierteren Kontakt mit der Umgebung, doch erst in Wechselwirkung mit ihr bildet sich das potentiell angelegte Erkennen aus. Wüchse das Kind in einer klimatisierten Glaskugel auf und würde es noch so gut ernährt, es müßte ein körperlicher und seelisch-geistiger Krüppel werden. Umgebung und Individuum bilden aufgrund unverzichtbarer, zwangsläufiger Wechselwirkung eine Einheit. Denken entwickelt sich in Konfrontation und im Umgang mit Objekten im Raum, und so resultiert, wie J. PIAGET betont, „Erkenntnis aus Wechselwirkung". Eine solche geradezu unauflösliche Wechselwirkung läßt sich allerdings bei vielen Phänomenen der Entwicklung beobachten. So dürfte auch das gesamte Erscheinungsbild eines biologischen Organismus das Ergebnis der ständigen Wechselwirkung zwischen den Einflüssen der Umwelt und dem Genom sein, das als Träger der Erbinformation diese Einflüsse evolutionär verarbeitet und so im Laufe der Entwicklung neue Eigenschaften hervorbringt, die zugleich eine modifizierte Situation des Organismus gegenüber der Umwelt entstehen lassen. Aber auch das einzelne Individuum formt sich, beginnend in der embryonalen Stufe, als Produkt der Wechselwirkung von ererbter Anlage und Umwelteinfluß (i. w. S.) aus, und da diese Wechselwirkung einem sich selbstregelnden Prozeß ähnelt, bei dem eine Größe die andere modifiziert, ist es so schwer, den Effekt des Genetischen von dem der Umwelt zu trennen (vgl. auch Kap. 2). Und sind nicht auch die Handlungen des Menschen Resultate der Wechselwirkung zwischen dem Individuum und der Umwelt, die auf ihn und er auf sie wirkt?
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Der Mensch steht zu dem ihn umgebenden Raum nicht in einem reaktiven Verhältnis, sondern basierend auf der angeborenen aktiven Erkundungslust des menschlichen Intellekts kennzeichnet Interaktion die Beziehung. In der aktiven Auseinandersetzung mit der Umgebung und ihren sozialen Gehalten formt sich nicht nur die Innenwelt der Person, indem sie sich in spezifischer Weise zur Außenwelt stellt, sondern stabilisiert sich das Ich, indem es auf seine besondere Weise gegenüber der Umgebung aktiv wird. Nicht die Reaktion auf, sondern die Interaktion mit der gebauten und nicht gebauten Welt schafft und stabilisiert Identität. Ist der heranwachsende Mensch in seiner Individualität, in Geist und Psyche geworden, was er ist, durch eine von ihm selbst aktivierte Wechselwirkung zwischen seinem kognitiven Potential und der Umgebung (s. o.), so ist auch beim Erwachsenen die interaktive Auseinandersetzung, der handelnde Umgang mit der Umgebung wichtige Voraussetzung zur Sicherung seines „Ichs", zur Erhaltung eines intakten Selbstverständnisses. Gerade dieser Prozeß der ständigen Wechselwirkung verdeutlicht, trotz seiner selbststeuernden Gleichgewichtstendenz, trotz seiner Tendenz zur ausgleichenden wechselseitigen Anpassung, warum das Ergebnis innerhalb gewisser Grenzen offen und potentiell variabel ist. Es läßt sich nicht genau voraussagen, wohin die wechselseitigen Wirkungen der immer wieder neu konfrontierten Pole schaukeln. Gerade darin liegt die Besonderheit eines jeden Subjektes, seine Individualität und Einmaligkeit. Zwar unterliegen wir der Formung durch die Umweltgegebenheiten (i. w. S.), und da diese stets irgendeine räumliche Dimension und Wirkung haben, unterliegen wir auch der Formung durch den Raum, aber diese ist in ihrem Ergebnis, als Resultat einer relativ variablen Interaktion, weder bezüglich der Persönlichkeitsentwicklung noch der konkreten Handlungen verläßlich vorauszusagen. Gehört der Raum auch zum Menschen wie sein Leib (BOLLNOW, S. o.), erzeugt er doch keine raumbezogene Determiniertheit menschlichen Handelns. Abhängig vom Raum bleibt der Mensch zwar immer, sowohl hinsichtlich seiner geistigen, seelischen und körperlichen Entwicklung, wie auch seines Wohlbefindens, aber diese Abhängigkeit kann zufolge selbststeuernder Wechselwirkung zwischen Bedingungen und Individuum zu immer wieder anderen und zudem veränderlichen Verhaltenseffekten führen. Selbst wenn man wie N . CHOMSKY ( 1 9 7 2 ) davon ausgeht, daß viele intellektuelle Fähigkeiten und vor allem bestimmte Wesenszüge der Sprache (bestimmte Gesetzmäßigkeiten einer universellen Grammatik) angeborene Eigenschaften des menschlichen Intellekts sind, die sich dann im Kind aus sich selbst heraus entfalten und keiner interaktiven Konstruktion und keiner speziellen kulturellen Vorbedingungen bedürfen, so wird doch zugleich eingeräumt, daß es der jeweils förderlichen Umgebung (ζ. Β. der gesprochenen Sprache) bedarf, um das im
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Kind vorhandene Potential freizusetzen. Trotz einer anderen Auffassung zur Genese des menschlichen Intellekts wird also die große Bedeutung der Umgebung anerkannt. Der Raum mit all seiner Ausstattung und seinen Gehalten nimmt uns auf und bleibt unausweichliche, hemmende oder fördernde Bedingung nicht nur unserer geistigen und körperlichen Entfaltung sondern auch unseres Befindens. Fühlen wir uns in ihm nicht mehr geborgen, dann sind wir auch existentiell bedroht, dann ist unsere seelische und körperliche Gesundheit gefährdet. Damit stehen wir durchaus in der Notwendigkeit, unseren konkreten Lebensraum so einzurichten, so zu nutzen, daß er uns sowohl entwicklungsfördernde Anregungen und Entfaltungsanreize wie auch Geborgenheit und Wohlbefinden vermittelt, sei es auf der Ebene des Hauses, unserer Stadt, der Region und zunehmend auch in globaler Dimension, denn wir bleiben unausweichlich bis in unser Wesen hinein vom Raum betroffen. Wir können nicht unwesentlich durch die Gestaltung unserer Städte und Regionen dazu beitragen, daß sich der Mensch auch im größeren Raum vielfältiger Ausstattung entfalten kann und zugleich wohl und geborgen fühlt und so „im wahren Wohnen im Raum sein menschliches Wesen" (F. O. BOLLNOW, 1 9 7 1 , S. 3 1 0 ) verwirklicht. Es ist viel zu tun, um die in der Vergangenheit und Gegenwart geformten Raumstrukturen demgemäß zu verändern und dem Raum den Stempel einer entsprechenden geistigen Konzeption aufzudrücken. Vor allem aber benötigen wir detailliertere Kenntnisse zum Verhältnis von Mensch und genutztem Raum (siehe Kap. 7).
1.2 Die besondere Gefährdung des Menschen Der Mensch ist in besonderem Maße zu adaptivem Verhalten 1 befähigt; er ist offen für die Steuerung seines Verhaltens durch Umwelteinflüsse, basierend auf seiner angeborenen außerordentlichen Lernfähigkeit. Diese Fähigkeit, sich an differenzierteste Existenzbedingungen anzupassen, schließt aber eben gleichzeitig die Gefahr ein, auch Anpassung an ein Milieu zu versuchen, das unnatürliche Verhaltensweisen erzwingt. Die Nachteile eines erzwungenen unnatürlichen Verhaltens lassen sich zwar oft durch ausgleichende Vorteile kompensieren 2 , weichen die Milieuveränderungen aber zu stark von den „natürlichen" Lebensbedingungen 3 ab, können in Überforderung der Anpassungsfähigkeit Verhaltensstörungen, Neurose, Irrsinn oder somatische Erkrankung, ja überhaupt negative Auswirkungen auf alle Dimensionen der menschlichen Existenz die Folge sein. Das Milieu, in dem wir in den
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entwickelten Ländern leben, unterscheidet sich beträchtlich von dem, an das der Mensch durch Evolution in Körperbau und Verhalten angepaßt ist. Genetisch stehen wir noch annähernd auf der Stufe des paläolithischen Jägers4, wenn auch sehr wahrscheinlich ein beträchtlicher Selektionsdruck an der Formung des genetischen Potentials (Verhaltensprogramm und Körperbau) wirkt, unter dem Ziel, eine bessere Übereinstimmung mit den gegebenen Lebensumständen herbeizuführen5. Aber die Lebenswelt und die Lebensweise des Menschen der Gegenwart in Großstadt, Fabrik und Büro sind so von der der Altsteinzeit verschieden, daß Zweifel bleiben, ob sie zuträglich, geschweige denn optimal sind6. Zahlreiche Symptome7 warnen, das Milieu ungestraft in ähnlicher Intensität wie bisher immer weiter von den „natürlichen" Lebensbedingungen zu entfernen. Anpassungsfähigkeit und Intelligenz, Technologie und die Strebungen der Menschen erhöhen - auch wenn sie gleichzeitig der Organisation des gesellschaftlichen und individuellen Lebens dienlich sein können - die Gefahr, unsere biologische Ausstattung zu überfordern und ein Milieu zu schaffen, an dem der Mensch scheitert. Wenn wir auch über die artcharakteristische Fähigkeit zur Anpassung an außerordentlich unterschiedliche Lebensbedingungen verfügen, so schließt anpassendes Verhalten, Adaption, doch das Risiko des Irrtums ein. So stellt sich die Frage nach den Grenzen der Anpassungsfähigkeit des Menschen an von ihm selbst gestaltete oder vorgefundene räumliche Bedingungen. Welche Veränderungen der Milieufaktoren sind schädigend? Welche Wirkungen haben die zahllosen Möglichkeiten in der Gestaltung der räumlichen Lebensbedingungen auf Befinden, Gesundheit, Entfaltung des Menschen? Wo etwa hegt die optimale Wohn- und Siedlungsdichte? Wir wissen über diese Dinge beunruhigend wenig. Damit fehlt eine notwendige Voraussetzung, um das Leben auf eine in jeder Weise förderliche Raumnutzung hin zu orientieren und zu organisieren. Um so wichtiger ist es, daß die bisherigen Kenntnisse und Einsichten über die Beziehung zwischen Mensch und Raum gesichtet, durchdacht und in unsere Überlegungen zu einem neuen Leitbild der Lebensraumgestaltung einbezogen werden.
2. Menschenbild und Raumgestaltung
Niemand wird bestreiten, daß die lebensräumlichen Bedingungen das Verhalten der Lebewesen beeinflussen, so wie auch diese auf die Ausformung ihres Lebensraumes einwirken. Aber wie stark sind diese Einflüsse, erzwingen sie regelhaft ein bestimmtes Verhalten oder bleibt stets ein beträchtlicher Verhaltensspielraum? Oder ist nicht überhaupt der Mensch in der Lage, sich die lebensräumlichen Bedingungen gemäß seines Wollens selbst zu gestalten und in Anpassung daran wohlbefindlich zu leben? Es ist leicht einsehbar, daß die Beantwortung dieser Frage abhängig ist vom jeweils zugrundeliegenden Menschenbild. Und noch immer gehen diesbezüglich die Meinungen auseinander.
2.1 Behaviorismus kontra Humanethologie Ein Vergleich der Aussagen etwa der Behavioristen sowie zahlreicher Lernpsychologen und Kulturanthropologen auf der einen Seite und der Verhaltensforscher und Humangenetiker auf der anderen Seite macht deutlich, wie unterschiedlich gegenwärtig menschliches Verhalten erklärt wird8. Der eine Ansatz geht davon aus, daß der Mensch entscheidend durch das ihn umgebende Milieu geformt wird. Durch differenzierte „Belohnung" und „Bestrafung" erfolge eine „Verstärkung" bestimmter Handlungen und Erfahrungen; so würden ganz bestimmte Reaktionen, die als Folge spezifischer Stimuli einsetzen, gefestigt. Lernend werde so der Mensch auf bestimmte Verhaltensweisen hin „konditioniert". Er lebe also weniger aus sich selbst heraus als vielmehr gemäß der erlernten, durch Erziehung bekräftigten Verhaltensweisen. Ubertrieben ausgedrückt, der Mensch formt sich, gewissermaßen in kulturabhängiger Überprägung, durch Belohnung und Bestrafung selbst. Ein Menschenbild wird sichtbar, das wir vereinfachend mit dem Begriff der „Umweltdominanz" bzw. der kulturellen Dominanz9 kennzeichnen wollen, denn die kulturspezifische Umwelt, das Erlernte, dirigiere ja das Verhalten. Konsequenterweise müßte dann auch unser Lebensraum so gestaltet werden, daß es zu keinen unerwünschten Verstärkungen kommt; Sportanlagen wären problematisch, da sie aggressives Verhalten verstärken (so B. SKINNER 1974, S. 54 f); das höchst differenzierte Angebot an Waren und Dienstleistungen, wie es sich etwa in den Innenstädten konzentriert, wäre einzu-
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schränken, da es „übertriebenes Konsumverhalten" verstärkt - getreu der Devise, in einer Umwelt, „in der nur einfache Nahrungsmittel erhältlich sind, ißt der Mensch vernünftiger..., weil kein anderes Verhalten verstärkt wird". Anders wollen die Verhaltensbiologen und Humanethologen das Verhalten des Menschen verstanden wissen. Sie gehen keinesfalls von der Vorannahme aus, daß der Mensch eigentlich gut, friedlich, unschuldig sei oder wie auch immer man den „reinen" Menschen vor der kulturspezifischen „Verstärkung" problematischer Verhaltensweisen apostrophieren möchte. Der Mensch wird als weniger plastisch und nicht beliebig durch Kultur bzw. Erziehung formbar verstanden, sondern als ein Lebewesen, das auch genetisch festgelegten, also ererbten Steuerungen seines Verhaltens unterliegt. Der Mensch sei auch in seinem Verhalten stärker biologisch gebunden und so gezwungen, Kultur innerhalb einer gewissen Bandbreite in vorprogrammierter Weise zu realisieren10; er sei mit einem Vorrat genetisch vorprogrammierter Verhaltensweisen ausgestattet, denen er, ungeachtet des Milieus, irgendwie gerecht werden muß. So fragt der Ethologe EIBL-EIBESFELDT (1973, S. 12): „Gibt es nicht etwa doch den,autonomen' Menschen, vorprogrammiert und daher nach vorgegebenen Normen handelnd, angetrieben und gesteuert von ererbten Programmen und so den formenden Kräften der Umwelt als autonomes System gegenübertretend?" Der Mensch verwirklicht sich also auch durch Abwicklung seines ererbten Verhaltensprogrammes. Ein Menschenbild deutet sich an, das wir vereinfachend mit der Paraphrase „genetische Dominanz" charakterisieren wollen. Diese Auffassung versteht den Menschen als weniger plastisch. Er wäre also durch Umwelteinflüsse keineswegs beliebig formbar, sondern setzt diesen vielmehr gewisse Widerstände entgegen und verlangt als „autonomes biologisches System" bestimmte (auch räumliche) Umweltvoraussetzungen; werden diese verweigert, können Schädigungen auftreten. Unter diesem Blickwinkel kann es notwendig werden, manche kulturspezifische Raumnutzungen zurückzuweisen oder zu korrigieren. So kommt ζ. B. die stammesgeschichtlich verankerte Neigung, dem Fremden zunächst zurückhaltend gegenüberzustehen, ja sich von ihm zu isolieren, im anonymen Großstadtleben mit seinem ständigen Wechsel zahlloser Gesichter, mit seinen großen Mietshauskomplexen etc. voll zur Geltung, was wesentlich zur Vereinsamung des einzelnen inmitten eines dicht bevölkerten Lebensraumes beiträgt. Der gleichzeitig wirksamen Neigung, „individualisierte Verbände aufzubauen und allmählich auch mit Fremden Kontakt zu bekommen", werden dagegen unsere städtischen Strukturen noch immer kaum gerecht. Um dem tief verankerten Bedürfnis des Menschen Genüge zu tun, in kleinen Individualgruppen zu leben und entsprechend inmitten unse-
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rer „anonymen Gesellschaft" vertraute „Gemeinden" zu bilden und so „den Streß zu entschärfen, der durch die Begegnung mit Fremden erzeugt wird" (I. EIBL-EIBESFELDT), bedarf es anderer lebensräumlicher Voraussetzungen, als sie bislang die Großstadt bietet. Es bedarf überschaubarer Wohnbereiche mit Plätzen der Begegnung und auch des Spiels; Lebensräume, in denen man miteinander bekannt ist, sich aber dennoch auch ungestört absondern kann und den Kontakt in der selbst erwünschten Dosierung zu gewinnen vermag. Und sieht der Behaviorist im Sportplatz „eine Arena der Verstärkung von aggressiven Handlungen . . ., die sich früher oder später negativ auswirken" (B. F. SKINNER) und lehnt daher solche Einrichtungen ab, so vermag sie der Humanethologe als Vehikel zum harmlosen Abreagieren eines ohnehin vorhandenen aggressiven Potentials zu begrüßen. Zwei Menschenbilder, zwei entgegengesetzte Empfehlungen zur Lebensraumgestaltung. Beide Positionen scheiden sich letztlich an der Frage, ob das Verhalten des Menschen stärker phylogenetisch (durch stammesgeschichtliche Entwicklung) oder stärker ontogenetisch (durch individuelle Entwicklung) bestimmt wird. Zwar hat B. F. SKINNER (1966) bereits mit Nachdruck darauf verwiesen, daß ein von bestimmten Bedingungen abhängendes Verhalten (sog. Kontingenz) sowohl ontogenetisch geformt als auch phylogenetisch verankert sein kann, also erlernt wurde oder stammesgeschichtlich vorprogrammiert abläuft. Es ist oft schwer zu erkennen, ob ein konkretes Verhalten stärker genetisch gebunden erfolgt oder als Folge individueller Bekräftigung einsetzt. Bevor sich soziales Verhalten phylogenetisch fortpflanzt, bedarf es der ontogenetischen Bekräftigung bzw. Intensivierung innerhalb der Sozietät. Phylogenese und Ontogenese sind auf das engste miteinander verflochten11. Es ist also sinnvoll, beide als sich ergänzende Teile anzusehen, die gemeinsam dem Prinzip von Versuch und Irrtum folgend, das tatsächliche Verhalten herausbilden und der Bewährung unterwerfen. Verhaltensweisen, die sich nicht bewähren, werden sowohl ontogenetisch wie auch phylogenetisch allmählich wieder abgebaut. Ähnlich fragwürdig ist auch der Streit, ob genetische oder umweltbedingte Faktoren bei der Entwicklung des Individuums dominieren. Zweifellos sind viele Merkmale eines Menschen, wie sie sich in Intelligenz, Persönlichkeit, Fähigkeiten und Charakter ausdrücken, mehr oder minder genetisch bedingt. Sicher ist aber auch, daß die individuelle Entwicklung von den Umweltbedingungen beeinflußt wird, ungeachtet dessen, daß gleichzeitig die Erbanlagen eines Menschen die Herausbildung einer spezifischen kognitiven Umwelt bewirken12. Aber es ist weniger wichtig, ob ζ. B. der Intelligenzquotient eines Menschen vor allem erblich bedingt ist, also nur zu sehr geringem Teil durch die Umweltbedingungen beeinflußt wird, wie dies etwa A. R . JENSEN (1969,
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1970) annimmt13, oder ob eine wesentliche Einwirkung durch die vorgegebene Umwelt unterstellt werden muß, wie dies ζ. B . Ch. JENCKS ( 1 9 7 3 ) vermutet 14 . Wichtig ist, daß die genetische Bedingtheit eine Modifizierung der individuellen Entwicklung durch die Umweltbedingungen zuläßt. Sowohl Genunterschiede wie auch Unterschiede der Umweltfaktoren können Ungleichheit der geistigen und körperlichen Entwicklung bewirken. Die optimale Entfaltung der Möglichkeiten des Menschen ist also durchaus auch an bestimmte Umweltbedingungen gebunden 15 . Auf jeden Fall, so betont T. DOBZHANSKY (1973, S. 18), ist das, was sich aktuell im wirklichen Leben herausbildet, „durch das Zusammenspiel der Gene mit den Umwelten bedingt. Genetisches Potential und kulturbedingte Möglichkeiten sind die zwei Seiten derselben Medaille, auf der sich Entwicklung und Verhalten eines Menschen abbilden. Sicher sind wir mit zahlreichen Erbinformationen ausgestattet, die unser Verhalten und unsere geistige Entwicklung beeinflussen. Der Weg vom Kind zum Erwachsenen folgt, wie bei der körperlichen Entwicklung, auch bei der allmählichen geistigen Entfaltung einer biologisch vorgegebenen Richtung.16 Und in Wechselwirkung zwischen vorgegebenem inneren Antrieb (ζ. B. dem Neugierverhalten) und den äußeren Anregungen und Lernerfahrungen formt sich unser Verhalten wie auch unsere Intelligenz heraus, als Ergebnis einer Interaktion zwischen Ererbtem und Erfahrenem, nicht aber als so oder soviel prozentiges Produkt von Milieu oder Genetik. Durch Wechselwirkung zwischen Vorgegebenem und Erfahrenem, zwischen Erbe und Umwelt findet selbststeuernd Entwicklung statt, bilden sich neue Strukturen, Leistungen etc. heraus; dieser Zusammenhang mit all seinen Rückkopplungen kennzeichnet ja Organisation und Ablauf so vieler Lebensprozesse. Zweifellos sind im Menschen bestimmte Fähigkeitspotentiale (ζ. B. Sprache zu beherrschen, abstrakt zu denken etc.) genetisch angelegt, wir besitzen basierend auf evolutionär gewachsenen Erbinformationen eine Disposition zu bestimmten Verhaltensweisen, zu bestimmten intellektuellen Akten, zu bestimmten oft altersspezifischen Entwicklungen. Kurz gesagt, wir können nur das in uns ausformen und entwickeln, wozu wir biologisch befähigt sind, aber wie wir es ausformen, ist der Beeinflussung durch die Bedingungen offen. Man kann davon ausgehen, daß ein neugeborener Mensch eines Tages sprechen wird, daß er eines Tages abstrakt zu denken vermag, dazu ist er disponiert, aber was dabei im einzelnen herauskommt, ist weitestgehend offen und durchaus auch von den individuellen Lebensbedingungen und dem kulturspezifischen Milieu abhängig. Auch wenn sich so beide anthropologischen Standorte miteinander verbinden lassen, so wird doch damit nicht die Frage geklärt, wie nun der Lebensraum zu gestalten sei und was dabei für den Menschen gut und was bereits schädigend ist.
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Der Mensch ist artcharakteristisch mit der Disposition ausgestattet, sein Verhalten an Dogmen und Normen, Tradition und übermittelten Erfahrungen zu orientieren. Die so gewonnene Fähigkeit, Fehler nicht erst selbst zu wiederholen, dürfte entwicklungsgeschichtlich als Selektionsvorteil wirksam gewesen sein17. Damit ist die Überlebensfähigkeit des Menschen hochgradig abhängig von einem das Verhalten steuernden kulturellen Rahmen, denn dieser bestimmt wesentlich die zu beachtenden Erfahrungen. Insofern entscheidet der Mensch mit der spezifischen Ausprägung seiner Kultur selbst über sein Verhalten18. Gleichzeitig aber würde sich diejenige Kultur selbst „hinwegselektieren", die mit ihren übermittelten Dogmen den biologischen Notwendigkeiten des Menschen nicht gerecht wird oder ihm schädigende Zwänge auferlegt19. So gesehen, ist der Mensch gebunden und gelenkt durch Verhaltensweisen, die sich mit der Evolution herausgebildet haben und die ihnen gemäße Lebensbedingungen verlangen. Andererseits ruht auch in der genetischen Disposition, in den Instinktresten des Menschen, im in uns angelegten agressiven Potential wie auch in den vielen rein gefühlsmäßigen Impulsen eine Gefahr, denn ohne sozial intelligente bzw. kulturelle Zügelung und Überformung richten sich diese nur zu leicht gegen Mitmensch und Gemeinschaft. Bei vielen ursprünglichen Antrieben in uns ist es notwendig, sie durch Vernunft, durch kulturformende Erziehung und Erfahrung so zu sublimieren, daß sie in sozial intelligenter Weise und nicht zerstörerisch wirksam werden, was nicht bedeutet, daß sie einfach zu unterdrücken seien, denn dies würde Schädigung oder Eruption provozieren. Die genetische Verhaltensdisposition bedarf der kultur- bzw. geistabhängigen Ausprägung des konkreten Verhaltens, die aber nur dann arterhaltend wirksam ist, wenn sie Verhaltensweisen hervorbringt und Milieufaktoren bereitstellt, die den durch die Evolution herausgearbeiteten Verhaltensgrundmustern gerecht werden. Es geht um die Harmonie zwischen kulturabhängiger Selbstgestaltung und genetischer Verhaltensdisposition. Das gilt besonders für die Gestaltung der räumlichen Umwelt. Die Frage nach der kulturellen oder genetischen Dominanz in der Steuerung des Verhaltens mag auf einer falschen Alternative beruhen, aber sie verdeutlicht uns, wo das Risiko der Umweltgestaltung liegt: in der Formung des Lebensraumes gemäß irgendwelcher wirtschaftlicher, sozialer oder politischer, also kulturabhängiger Prioritäten unter Mißachtung tiefer liegender, genetisch begründeter Verhaltenstendenzen bzw. Bedürfnisstrukturen einerseits sowie in ungebändigten, rein gefühlsmäßigen bzw. triebhaften und eben nicht intelligent kontrollierten Verhaltensweisen andererseits, die wesentliche Lebensgrundlagen zu zerstören vermögen.
Gibt es eine vorgegebene Bedürfnisstruktur?
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Während letzteres der kulturellen vernunftgeleiteten Selbstkontrolle zugänglich ist, scheint es bezüglich der zu berücksichtigenden genetischen Komponente an hinreichender Kenntnis zu fehlen. Auch dürfte es höchst problematisch und zudem schwer sein, unter Verweis auf grundlegende Bedürfnisstrukturen des Menschen konkrete Empfehlungen zur detaillierten Gestaltung des Lebensraumes zu geben. Denn es ist ja ganz offensichtlich, daß bestimmte Umweltbedingungen durchaus unterschiedliche Wirkung auf die verschiedenen Menschen haben können. So wie sich ζ. B. zeigt, daß durch das gleiche Fernsehprogramm das eine Kind zum phantasievollen Spiel, das andere dagegen zum destruktiven Verhalten angeregt wird (vgl. L. D. ERON et al. 1 9 7 2 ) , fühlt sich auch der eine Mensch in der Stadt mit ihren vielfältigen Anregungen wohl, während der andere die ländliche Siedlung bevorzugt. Und entspannt sich der eine beim Schaufensterbummel, so der andere beim Waldspaziergang. Es sind also anscheinend komplizierte und subjektivierende Bewertungsabläufe wirksam, die über die Angemessenheit bzw. Zuträglichkeit über den kulturspezifischen wie auch genetischen Befriedigungseffekt lebensräumlicher Bedingungen entscheiden. Muß es bei dieser relativierenden Aussage bleiben oder lassen sich nicht doch detailliertere Hinweise zur raumbezogenen Bedürfnisstruktur des Menschen geben? Wie zwingend sind solche Bedürfnisse, welche Variationsbreite haben sie, lassen sie sich zu verbindlichen Katalogen zusammenstellen? Kann daraus die konkrete Gestaltung unseres Lebensraumes abgeleitet werden? Und ähnlich weiter könnte man fragen.
2.2 Gibt es eine vorgegebene Bedürfnisstruktur? Seit langer Zeit schon haben sich Psychologie und Motivationslehre bemüht, das Verhalten des Menschen auch unter Verweis auf die „Bedürfnisse" zu erklären. Dabei wird etwa folgendermaßen argumentiert. Im Menschen sind bestimmte Grundbedürfnisse angelegt. Wird diesen nicht entsprochen, dann ist das emotionale und physiologische Wohlbefinden beeinträchtigt, das innere Gleichgewicht ist gestört. Da nun aber der Mensch zu einer Konstanterhaltung seines „inneren Milieus", zur sog. Homöostase tendiert, werden Triebzustände, Motivationen, Anreize wirksam, die ein Verhalten auslösen, das letztlich der Befriedigung der zugrundeliegenden Bedürfnisse dient. Dabei ist sich der Mensch in der Verfolgung seiner konkreten Handlungsziele (also etwa dem Ziel, die Zuneigung eines bestimmten Menschen zu gewinnen oder durch seine berufliche Leistung Eindruck zu erwecken) meist gar nicht bewußt, daß dies auf grundlegenden Bedürfnissen (wie etwa Zugehörens- und Liebesbedürfnissen oder Wertschätzungsbedürfnissen) be-
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ruht. Auch unsere Einstellungen, Interessen, Ziele und Werthaltungen unterliegen, obzwar erlernt, doch auch dem Einfluß der in uns vorhandenen Grundbedürfnisse. Die Menschen bauen sich Ziele auf, entwickeln demgemäß ihre Fertigkeiten, formen ihre Umwelt entsprechend und suchen so, den in ihnen wirksamen Bedürfnissen gerecht zu werden. Gelingt das nicht, kann auch durch die Variation der konkreten Ziele, durch Anpassung bzw. Herabsetzung des Anspruchsniveaus der Bedürfnisdruck gemildert werden. Auf jeden Fall aber unterliegt unser Verhalten, bewußt oder unbewußt, einer Tendenz zur Bedürfnisverringerung, zur Triebreduktion mit dem Endziel, inneres Gleichgewicht, „Homöostase", herzustellen. Nun sind natürlich die zugrundeliegenden Bedürfnisse recht verschiedener Art und untereinander nicht gleichwertig. Zunächst einmal müssen wir von der Existenz zahlreicher physiologischer Bedürfnisse ausgehen. Das sind immittelbar existentielle Grundbedürfnisse. Unser Nahrungsbedürfnis, unser Bedürfnis nach Flüssigkeit, die Bedürfnisse nach richtigem Klima, nach Ruhe, Schlaf sowie nach ungehinderter Atmung aber auch nach ausreichend natürlichem Licht sind von so grundlegender Bedeutung für Gesundheit und Überleben des einzelnen, daß ihre Relevanz hier nicht weiter erörtert werden muß. Auch unser Verlangen nach Geschlechtskontakt, nach sinnlicher Körperberührung sowie der Wunsch nach Schmerzvermeidung können diesen physiologischen Grundbedürfnissen zugeordnet werden. Α . H . MASLOW ( 1 9 5 4 ) betont nun, daß erst, wenn die physiologischen Bedürfnisse befriedigt sind, andere Bedürfnisse - etwa solche nach Selbstverwirklichung - relevant werden. Wer von Durst gequält ist oder wem die Luft auszugehen droht, wird also zunächst nach diesbezüglicher Normalisierung streben, statt sich künstlerisch kreativ seiner Selbstverwirklichung zu widmen. Das bedeutet allerdings nicht, daß die Befriedigung der nichtphysiologischen Bedürfnisse von wesentlich geringerer Bedeutung für die Sicherung unseres Wohlbefindens ist. 2.2.1 Psychosoziale Bedürfnisse Die Auffassungen über die Art unserer nichtphysiologischen Bedürfnisse, über die Bedürfnisse im psychosozialen Bereich gehen weit auseinander. Inwieweit ζ. B. beruhen solche psychosozialen Bedürfnisse ebenso wie die physiologischen Bedürfnisse auf einer angeborenen Disposition oder inwieweit werden sie durch Lernen, also erst unter Umwelt- und Kultureinfluß, in spezifischer Weise herausgebildet? Auch ist je nach Verfasser und angewandten Untersuchungsmethoden die Anzahl solcher psychosozialer Bedürfnisse unterschiedlich groß. Ungeachtet solcher Unterschiede vermitteln
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die von zahlreichen Autoren aufgestellten Bedürfniskataloge doch einen plastischen Eindruck von der Breite und Differenziertheit menschlicher Antriebe. Und findet sich ζ. B. in dem von H. A. MURRAY (1938) und nachfolgend von D. KRECH et al. ( 1 9 6 2 ) aufgestellten Katalog psychologischer Bedürfnisse etwa das Bedürfnis nach der Vermeidung von Erniedrigung sowie das Bedürfnis zu pflegen bzw. schwachen Menschen Hilfe angedeihen zu lassen, so verweist R. B. CATELL ( 1 9 6 7 ) u. a. auf das Grundmotiv der Feindseligkeit, das sich z. B. auch in der Freude an Gewalttätigkeiten in Film und Fernsehen äußert. Dennoch aber kommen all die verschiedenen Versuche, unsere Bedürfnisstruktur zu erfassen, doch auch zu analogen Ergebnissen. So versuchte K. H. DELHEES ( 1 9 7 5 , S. 7 0 f.) aus den verschiedenen Klassifikationen und Untersuchungen eine vorläufige Aufstellung wesentlicher Bedürfnisse herauszudestillieren, die zugleich der von A. H . MASLOW ( 1 9 5 4 ) erarbeiteten Differenzierung nahekommt. Nachfolgend werden die wichtigsten dieser Bedürfnisgruppen gekürzt wiedergegeben: 1. Sicherheitsbedürfnisse Sie umfassen etwa das Bedürfnis nach materiellem Besitz, nach Erwerb, nach Behaltenkönnen, aber auch das Bedürfnis nach Vertrautem, nach Ordnung und nach klarer Orientierung. Und auch die Bedürfnisse nach Abhängigkeit, Unterwerfung, Beistand sind hier einzubeziehen sowie das Bedürfnis nach Schutz, nach Vermeidung von Unsicherheit und Bedrohung bzw. nach Unversehrtheit. 2. Zugehörens- und Liebebedürfnisse Hierbei ist vor allem das Bedürfnis nach Anschluß und Geselligkeit, nach mitmenschlicher Zuwendung, nach Kontakt zu nennen. Man will dazugehören, akzeptiert und geschätzt sein, man möchte nicht abgelehnt und zurückgewiesen werden. Entsprechend korreliert damit auch eine gewisse Bereitschaft zur Konformität. Aber auch die Bereitschaft, jemandem zu helfen und andererseits der Wunsch, selbst geliebt zu werden, bis hin zur sinnlichen Körperberührung und zum Geschlechtskontakt, sind diesem Bedürfnisbereich zuzurechnen. 3. Selbstschätzungsbedürfnisse Wir bedürfen der Selbstachtung, um nicht Minderwertigkeitsgefühlen zu erliegen. Mit dem Streben nach Kompetenz, nach Beherrschung von Fähigkeiten, nach Pflichterfüllung, aber auch durch altruistische Verhaltensweisen, bemühen wir uns, Respekt und Achtung vor uns selbst zu gewinnen. Parallel dazu wird die Wertschätzung durch andere angestrebt. 4. Bedürfnis nach Selbstverwirklichung A . H . MASLOW ( 1 9 5 4 ) stellt dieses Bedürfnis als besonders grundlegend
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heraus und betont, daß im Menschen Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit solange wirksam ist, bis er tut, wozu er befähigt und begabt ist. Daher empfiehlt MASLOW, daß ein Mensch das sein und werden muß, was er gemäß seiner Anlagen und Fähigkeiten Sein kann. Andernfalls wird er innerlich nicht zur Ruhe kommen. So streben wir nach Selbstverwirklichung, gepaart mit einem Leistungsbediirfnis sowie dem Streben nach Unabhängigkeit und Möglichkeit zur eigenen Gestaltung, zur Entfaltung der Kreativität. Nicht zuletzt ist erfolgreiche Selbstverwirklichung eine Voraussetzung zur Befriedigung auch der Selbstschätzungsbedürfnisse (s. o.). 5. Bedürfnis nach Umweltverständnis Der Mensch will seine Umwelt erkunden, er will sie verstehen, will unterrichtet sein über die Dinge, will Kenntnisse haben, dürstet nach Information und zeigt eine entsprechende und weitgreifende Neugier (u. a. D. E. BERLYNE, 1974). 6. Bedürfnisse nach Zerstreuung Hierunter lassen sich die Bedürfnisse nach Ruhe, nach Erholung, nach ausgleichender Aktivität zusammenfassen. Aber auch der Drang nach körperlicher Betätigung, nach mehr oder minder zweckfreiem Spiel und nach Ablenkung, nach Entspannung oder nach Abwechslung kann hier genannt werden. Es handelt sich um einen Bedürfnisbereich, der in seiner entspannenden Funktion einen wesentlichen Beitrag zur Gewinnung des inneren Gleichgewichts leistet. Sicherlich könnte man differenziertere Unterscheidungen von Bedürfnissen vornehmen, aber ohnehin bliebe jede Differenzierung von Bedürfnisgruppen problematisch, denn immer trennt man ja aus einer vorhandenen Gesamtdisposition des Menschen diese oder jene Bereiche ab, die in Wirklichkeit auf's engste miteinander verflochten sind und eine strenge Kategorisierung und Trennung eigentlich gar nicht erlauben. Auch ist es in unserem Zusammenhang nicht wichtig, ob so die Bedürfnisstruktur des Menschen befriedigend erfaßt werden kann. Von Interesse ist dagegen die Frage, ob sich aus den zahlreichen Versuchen, die Bedürfnisse zu kategorisieren, wirklichkeitsgerechte Hinweise auf die lebensräumlichen Anforderungen und auf eine raumbezogene Bedürfnisstruktur des Menschen eröffnen. 2.2.2 Ranmbezogene Bedürfnisse Zwar verbinden sich mit der Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse auch zahlreiche Beanspruchungen des Lebensraumes; Nahrung muß erzeugt werden, Wasser herangeschafft werden etc., aber das ist so zwingend und selbstverständlich, daß keine Gesellschaft diese Notwendigkeiten übersehen
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wird. Fragt man sich jedoch, ob dem physiologischen Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf hinreichend entsprochen wird, bleiben bereits Zweifel. Vielfach beeinträchtigen falsches Bauen, schlecht abgestimmte Flächennutzung, lärmende Aktivitäten dieses „Grundrecht" auf ungestörten Schlaf und Ruhe, so wie etwa auch Nachtschichtarbeit die Biorhythmik des Menschen mißachtet. Den physiologischen Bedürfnissen wäre auch der Drang nach körperlicher Betätigung zuzurechnen. J. P. GUILFORD (1954) eliminierte durch Faktorenanlayse die Interessensbereiche „körperliche Betätigung" und „Arbeiten im Freien"; PH. LERSCH (1962) betont, daß im „Tätig- und In-Bewegung-Sein" der Mensch bzw. das Leben seine Kraft entfalte. Beobachtet man den ausgeprägten Bewegungsdrang bei Kindern, fällt es leicht, ein Bedürfnis nach körperlicher Aktivität (o. ä.) zu unterstellen. Häufig werden aber unsere lebensräumlichen Voraussetzungen diesem Bedürfnisbereich kaum gerecht, nicht nur hinsichtlich der Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten der Kinder in dicht bebauten Wohnquartieren, sondern auch bezüglich der Möglichkeiten der Erwachsenen, einer körperlichen Betätigung im Freien, im Garten etc. nachzugehen. Zu hoch ist oft auch die wechselseitige Beeinträchtigung, etwa zwischen denen, die Ruhe und denen, die körperliche Betätigung suchen. Auch aus den psychosozialen Bedürfnissen ergeben sich Anforderungen an die lebensräumlichen Bedingungen. Aus dem Bereich der Sicherheitsbedürfnisse läßt sich z. B. das Grundmotiv des Schutzes (R. B. CATELL, 1 9 6 7 ) nennen, aus dem sich anmittelbar raumbezogene Konsequenzen ableiten lassen. Nicht nur sollen Wohnung, Haus und Weg geschützt sein, was z. B. in bestimmten Stadträumen nicht immer garantiert ist, sondern der Mensch will auch selbst seinen Mitmenschen Schutz und Sorge angedeihen lassen. Man sorgt sich um die richtige Schulbildung der Kinder, um die angemessene Betreuung alter Menschen oder der Kranken, aber auch um das Wohlergehen des eigenen Hundes. Entsprechend bedarf es zahlreicher Einrichtungen. Und wer sein Kind in zu jungem Alter über große Distanzen im überfüllten Schulbus in die wohnortferne Zentralschule schicken muß, wird nicht ohne Grund Bedenken gegenüber einer solchen zentralisierten Raumausstattung äußern, da sie für ein Kind der unteren Schuljahre zweifellos eine besondere Belastung darstellt20. Es läßt sich unter den Sicherheitsbedürfnissen ein Bedürfnis nach Regelmäßigkeit und Ordnung ausgliedern (K. H. DELHEES, 1975, S. 90), das auch bei der Lebensraumgestaltung zu beachten wäre. Die klare räumliche Gliederung und Überschaubarkeit einer Siedlung begünstigt nicht nur die Orientierung, sondern kommt zugleich auch dem Wunsch nach vertrauter Umgebung entgegen. Ein ständiger Wohnortwechsel, Ausdruck eines unsteten Lebens, dagegen belastet und gefährdet oft die psychische Gesundheit.
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Das Bedürfnis nach Vertrautem, oft verbunden mit dem Bedürfnis nach materiellem Besitz ( Κ . H . DELHEES, 1 9 7 5 , S . 7 1 ) , vermag in einem altvertrauten Wohngebiet, im Gefühl, hier „zu Hause" und geborgen zu sein, Befriedigung zu finden. Das Vorhandensein eines Ordnungs- und Sauberkeitsbedürfnisses ( H . MURRAY, 1 9 3 8 ; D. KRECH et al. 1 9 6 2 ) bewahrt davor, diese Geborgenheit etwa nur in der Vertrautheit abgewohnter Slums zu suchen; die erhöhte Kriminalität und die gesteigerte Zerstörungsfreude in den neueren, riesenhaften und monotonen Mietwohnungskomplexen mancher Städte lassen allerdings auch dort nur schwer die erwünschte Geborgenheit entstehen. Das im Bereich der Zugehörens- und Liebesbedürfnisse unterscheidbare Bedürfnis nach Identifikation (A. H. MASLOW, 1954) bezieht sich nicht nur auf die Familie oder eine andere Gruppe, sondern auch auf die Umgebung. Ein solches Verlangen muß nicht in engstirnigen Lokalpatriotismus ausarten, sondern kann durchaus zur tätigen Verbundenheit mit der Gemeinde führen. Viele gestaltlose große Wohngebiete oder unbedacht zusammengewürfelte Großgemeinden begünstigen dieses Bemühen um lebensräumliche Identifikation keineswegs, sondern erschweren oft sogar eine engagierte Mitwirkung. Mehrere Autoren verweisen auf ein in uns angelegtes Geselligkeits- bzw. Anschlußbedürfnis; nach MURRAY strebt der Mensch nach Beziehung zu anderen, nach Zusammenarbeit und freundschaftlicher Loyalität; CATTELL und GUILFORD ermittelten faktorenanalytisch und unabhängig voneinander ein Geselligkeitsstreben bzw. ein Bedürfnis nach Nähe und Gesellschaft. Dem kann sowohl im Sportverein, bei Gesellschaftsspielen, auf Parties, in einer Partei, wie auch in der Stammkneipe am Stammtisch oder auf dem Marktplatz entsprochen werden. Stets aber bedarf es geeigneter örtlichkeiten. Wir wissen, daß sowohl in zu kleinen, abgelegenen Dörfern wie auch in vielen großen, stereotypen Neubauvierteln die diesbezügliche Ausstattung oft schlecht ist. Das verdichtete Wohnen zahlreicher Menschen begünstigt, wie hinlänglich beklagt, nicht unbedingt Geselligkeit und Kontakt, sondern droht vielmehr Isolierung und gegenseitige Abriegelung zu fördern. Vor allem unser Selbstverwirklichungsbedürfnis steht in vielfältigem Bezug zu den lebensräumlichen Möglichkeiten. Wenn wir unter dem inneren Druck stehen, letztlich das zu tun, was unseren Anlagen und Fähigkeiten entspricht, wozu wir am besten geeignet sind, dann bedeutet das auch, daß eine Vielzahl von Menschen nach unterschiedlichen und damit insgesamt sehr zahlreichen Betätigungsmöglichkeiten strebt. Nur zu einem Teil wird es im Rahmen der beruflichen Tätigkeit möglich sein, den unterschiedlichen Formen der Selbstverwirklichung gerecht zu werden. Wie vielfältig aber muß eine Raumausstattung, müssen die Möglichkeiten für verschiedenartigste Aktivitäten sein,
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um Selbstverwirklichung zu erleichtern. Denn folgt der eine, sich selbst verwirklichend, seinem Bedürfnis nach Alleinsein und Zurückgezogenheit ( Κ . H . DELHEES, 1 9 7 5 , S. 7 7 ) , um so ggf. seinem Verlangen nach „Kreativität" ( Α . H . MASLOW, 1 9 5 9 ) und „künstlerischer Betätigung" ( J . P . GUILFORD, 1 9 5 4 ) entsprechen zu können, so sucht ein anderer sein „Leistungsbedürfnis" ( Κ . H . DELHEES, 1 9 7 5 , S. 7 8 ) durch körperlich aktive Tätigkeit im Garten, auf dem Sportfeld etc. zu stillen. Und ist nicht auch ein „Bedürfnis nach expressiver Betätigung" (ders. S. 81) vorhanden, das seine Befriedigung in der Gestaltung und Veränderung der Umwelt sucht, sei es unter dem gegenständlichen Aspekt durch den Bau eines Ferienhäuschens oder auch im politischen Bereich, etwa durch aktive Mitwirkung in der Kommunalpolitik? H . A. MURRAY ( 1 9 3 8 ) und D. KRECH ( 1 9 6 2 ) verweisen auf ein Bedürfnis nach Autonomie; man möchte unabhängig sein, nach eigenem Gutdünken handeln. Durchaus eröffnet hierfür die Freizeit einen gewissen Spielraum. Stets aber bedarf es bei diesem Streben nach Selbstverwirklichung genauso wie bei den Bedürfnissen nach Zerstreuung, ob diese sich nun als Bedürfnis nach „Spiel" und angenehmer Entspannung, nach „sinnlichen Eindrücken" ( H . A. MURRAY; D. KRECH), nach „Ablenkung" ( J . P . GUILFORD) oder nach Erholung ( Κ . H . DELHEES), äußern, der jeweils geeigneten lebensräumlichen Voraussetzungen. Daher spricht Α. H. MASLOW (1954) auch von einem „Bedürfnis nach den richtigen Bedingungen". So wie der Künstler oder der Wissenschaftler Ruhe oder nur wohldosierte Stimulation zu seiner Arbeit benötigt, so sucht der Politiker u. U. die Atmosphäre lebhafter Auseinandersetzung im Wirtshaussaal, während sich der Motorradjüngling auf der Straße an der rasanten Fahrt seiner Maschine berauscht und der Heimwerker mit Vergnügen den Bohrer in seine Bretter drückt. Die Umwelt muß jeweils entsprechend geeignet sein. Aber über diese Eignung des Lebensraumes hinaus besteht auch ein ästhetisch-qualitativer Anspruch; unsere Umgebung, unsere Wohnung etc. müssen uns gefallen. J. P. GUILFORD (1964) ermittelte faktorenanalaytisch sogenannte Milieuinteressen bzw. -bedürfnisse. Neben den Bedürfnissen etwa nach Sauberkeit, Ordnung, Systematik zeigt sich ein Verlangen nach „zusagender Umgebung" bzw. nach „komfortablem Milieu"; so unterschiedlich die jeweiligen persönlichen bzw. kulturspezifischen Ansprüche dabei auch sein mögen, es möchten sich doch die Menschen in ihrer räumlichen Umgebung wohlfühlen, sie soll ihnen zusagen. Α. H. MASLOW (1954) ordnet sogar die „ästhetischen Bedürfnisse" als eine eigene Gruppe den anderen von ihm ausgewiesenen Grundbedürfnissen zu. Lassen wir offen, ob es sich dabei um ein universelles Bedürfnis handelt; zweifellos aber streben viele Menschen nach einer Verschönerung ihrer
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Umwelt. Und welche Kultur bemüht sich, auf welchem Niveau auch immer, nicht auch um ästhetischen Ausdruck, sei es in der Kunst oder bei den Gebrauchsgütern? Selten ging es nur um die Funktionsfähigkeit der Dinge. Auf einen weiteren wichtigen Bedürfnisbereich ist zu verweisen. Α. H. MASLOW spricht vom „Bedürfnis zu wissen und zu verstehen", analog verweist Κ . H . DELHEES auf das Bedürfnis nach Verständnis der Umwelt, und R. B. CATELL betont das Grundmotiv der Neugier. Wir streben nicht nur nach Wissen und Erkenntnis im geistigen Bereich, sondern durchaus auch nach handgreiflichen, gewissermaßen räumlichen Kenntnissen; die Aktivitäten eines kleinen Kindes bezeugen dies deutlich. Man erkundet den Umraum, die darin enthaltenen Dinge; und ist das bewältigt, wendet sich die Exploration bald einer größeren Umgebung zu. In Verfolgung dieses Bedürfnisses nach Kenntnis und Verständnis der Umwelt wirkt es enttäuschend, wenn diese Umwelt monoton und langweilig ist, wenn sie kaum neue Anregungen vermittelt. Und so, wie sich ein Kind in einer abstumpfenden Umgebung nicht voll entfalten kann, so gehen auch dem Erwachsenen in einer monotonen und eindrucksarmen Umgebung Entfaltungschancen verloren. Umgekehrt kann ein chaotisches Eindrucksbombardement, dem vor allem in manchen Städten ζ. B. die Heranwachsenden ausgesetzt sind, unter Mißbrauch der wachen Neugier, zur Verwirrung, zur verminderten Konzentration oder gar Neurotisierung beitragen. M . PIPEREK hat 1 9 7 1 zwölf psychische Wohnbedürfnisse aufgestellt, die sich teils aus vorausgegangenen Untersuchungen anderer Autoren (s. o.) ableiten dürften, teils aufgrund eigenen empirischen Materials ermittelt wurden. Es werden unterschieden die Bedürfnisse nach: 1. Schutz und Sicherung 2. Stabilität 3. Unabhängigkeit 4. Umweltkohärenz und Kontakt 5. Bewegungs- und Gestaltungsfreiheit 6. Ordnung und Orientierung 7. Dimensionierung 8. Tätigkeitsförderlichkeit 9. Naturverbundenheit 10. Ausblick und natürlichem Licht 11. Sauberkeit 12. psychischem Appell. Auf eine Erörterung muß hier verzichtet werden. Durchaus aber haben diese Bedürfnisse Bezug zur Gestaltung unserer Siedlungen und Regionen. Lassen wir auch offen, ob solche und die zuvor aufgezählten Bedürfnisse als allgemeingültig bzw. letztlich biologisch begründet oder gar angeboren anerkannt
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werden können. Aber es steht außer Frage, daß unser konkreter Lebensraum vielen der genannten Bediirfnisaspekte nur ungenügend gerecht wird. Man vergegenwärtige sich allein die Vielzahl der aus dem Selbstverwirklichungsbedürfnis erwachsenden lebensräumlichen Ansprüche. Geradezu typisch für unsere Situation ist, daß wir uns mit vielen der Bedürfnisse an die vorgegebenen Einschränkungen anpassen müssen - ob zu unserem Vorteil, wird noch zu erörtern sein. Man kann über die Relevanz eines Bedürfnisses ζ. B. nach „Dimensionierung" streiten, und es ist möglicherweise schwer, die angemessene Dimensionierung zu quantifizieren, andererseits aber ist es offensichtlich, daß manche in vertikalem oder horizontalem Gigantismus ausgreifende Baumassen eine „erdrückende" Wirkung auf den einzelnen haben, ihn „klein" machen, während ein wohlproportionierter Bau ästhetisch sehr ansprechend und wohltuend sein kann. Nicht zuletzt hängt auch unser Bedürfnis nach Selbstachtung von der Art der Umgebung ab, in der wir leben müssen oder dürfen. Es ist also sicher nicht so, daß wir gegenüber der Gestaltung unseres Lebensraumes, von unmittelbar existentiellen Notwendigkeiten abgesehen, gewissermaßen „bedürfnisfrei" sind. Allerdings ist auch die Hoffnung trügerisch, man brauche nur einen umfangreichen Katalog hinreichend konkretisierter raumbezogener Bedürfnisse herauszuarbeiten und diesen bei der Umweltgestaltung zu beachten, um menschengerechte räumliche Lebensbedingungen entstehen zu lassen. Denn wenn auch Psychologie und Motivationslehre zahlreiche Bedürfnisse aufgezeigt haben, die einen Bezug zur Gestaltung und Nutzung des Raumes haben, so ist es doch schwierig, diese Bedürfnisse so zu konkretisieren, daß sie gewissermaßen als Arbeitsanweisung in die Raumplanung eingehen können. Zunächst einmal bleiben viele dieser Bedürfnisse doch recht vage und allgemein; dem MASLow'schen Bedürfnis nach den „richtigen Bedingungen" ζ. B. könnte auf sehr verschiedene Weise entsprochen werden. Und wollte man durch Stadtund Regionalplanung für eine Vielzahl von Menschen die „richtigen Bedingungen" schaffen, so würde das bedeuten, eine Vielzahl recht verschiedener Bedingungen bereitstellen zu müssen. Aber wie wäre diese Vielzahl zu strukturieren und in welcher Weise zu verwirklichen? Auch etwa einem Bedürfnis nach „Erholung" oder nach „Zerstreuung" oder gar den „ästhetischen Bedürfnissen" (s. o.) kann auf so vielfältige und unterschiedliche Weise entsprochen werden, daß ein Planer trotz der Bereitschaft, einem solchen Bedürfnis zu dienen, nach wie vor vor der Frage steht, was er denn nun machen solle, wie sei denn nun eine Umwelt zu gestalten, damit sie als bedürfnisgerecht empfunden wird? Aber neben der „Dehnbarkeit" solcher Bedürfnisse bleibt noch ein weiteres verunsicherndes Moment. Die Auffassungen der verschiedenen Autoren gehen hinsichtlich der
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Frage, ob ihre psychosozialen Bedürfnisse lediglich Bedürfnis- bzw. Interessensaspekte unserer Zivilisation erfassen oder biologisch bedingte und damit universelle Motivationsgrundlagen des Menschen darstellen, auseinander. Sind solche Bedürfnisse kulturspezifisch, dann mag es vertretbar sein, sie um anderer Prioritäten willen ggf. zu ignorieren; sind sie dagegen universell, könnte ihre Mißachtung eine riskante Unterlassung darstellen. Neben die Unsicherheit hinsichtlich der Interpretationsbreite solcher Bedürfnisse tritt der Zweifel bezüglich der Verbindlichkeit. Unterstellt man etwa ein Bedürfnis nach „Sauberkeit und Ordnung", so stellt sich sogleich die Frage, auf welchem Niveau und auf welche Art ihm gerecht zu werden sei; und zugleich erhebt sich auch der Zweifel, ob dies so zwingend sei oder ob nicht vielmehr eine gewisse Unordnung, ein abwechslungsreiches Durcheinander die behaglichere und anregendere Umwelt entstehen ließe. Können nicht auch Bedürfnisse, die angesichts einer bestimmten Tradition oder unter bestimmten sozialen und ökonomischen Bedingungen gültig waren, vor verändertem Hintergrund wieder hinfällig werden? Sind nicht viele dieser Bedürfnisse in vielfältiger Weise relativ? Oft auch wurden in Verfolgung unterschiedlicher Bedürfnisse - etwa der Bedürfnisse nach Zurückgezogenheit einerseits und nach Geselligkeit und Kontakt andererseits - geradezu gegenläufige Maßnahmen ausgelöst. Welchen Bedürfnissen aber wäre dann vorrangig, welchen nachrangig zu entsprechen? Es bleiben also zahlreiche offene Fragen. Die Hoffnung, detaillierte Kataloge mit zahlreichen verbindlichen raumbezogenen Bedürfnissen und daraus abgeleiteten konkreten Gestaltungsempfehlungen zu erhalten, muß wohl enttäuscht werden. Das heißt aber nun nicht, daß die Herausarbeitung solcher Bedürfnisse völlig wertlos ist. M. PIPEREK (1971) ζ. B. leitet aus seinen Wohnbedürfnissen, die er als „elementare baupsychologische Faktoren" verstanden wissen will, zahlreiche Schlußfolgerungen für die Architektur ab, deren Beachtung uns vor vielen offensichtlichen Fehlern der Stadtbebauung und Stadtgestaltung bewahrt hätte. Auch wenn die bisher aufgezeigten raumbezogenen Bedürfnisaspekte lückenhaft sind, so kann doch unterstellt werden, daß die wohldosierte Beachtung solcher Anforderungen zum Wohlbefinden des Menschen in seinem Lebensraum beitragen kann. Insofern vermögen Bedürfnissammlungen durchaus eine gewisse Orientierungshilfe zu geben. Allerdings ist stets zu bedenken, daß die tatsächlichen Raumanforderungen des Menschen Ergebnis sehr komplexer und persönlicher Bewertungsprozesse (vgl. Kap. 7.8) und Anpassungen sind, die sich nur schwer in das Schema allgemein verbindlicher Bedürfniskataloge hineinzwängen lassen. Insofern verspricht ein weiteres Bemühen um besser differenzierte und ausführlichere Zusammenstellung solcher Bedürfnisse keinen allzu großen Nutzen; es erbrächte nur eine immer
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größere Liste menschlicher Wünsche, Vorlieben, Neigungen, bei denen schwer zu entscheiden wäre, ob ihnen durch Umweltplanung entsprochen werden muß. Man könnte nun aus der Einsicht in die relativierende Wirkung der Bewertungs- und Anpassungsprozesse die Schlußfolgerung ableiten, daß durch empirische Sozialforschung die in einer bestimmten Zivilisation oder einer Region tatsächlichen vorhandenen raumbezogenen Wünsche, Interessen, Bedürfnisse zu erfragen seien, um darauf aufbauend eine jeweils „bedürfnisgerechte" Raumgestaltung betreiben zu können. Doch wäre ein solches Vorgehen sinnvoll? 2.2.3 Aufdeckung raumbezogener Bedürfnisse durch Befragung Es erheben sich Zweifel, ob durch Befragung ermittelte, konkretisierte raumbezogene „Bedürfnisse" als verbindliche Grundlage der Raumgestaltung herangezogen werden können. Der Milieutheoretiker würde darauf verweisen, daß kulturabhängig anerzogen sei, was der Mensch bezüglich der Gestaltung seiner Umwelt will bzw. was er als Bedürfnis äußert. Damit erheben sich Zweifel, ob diese kulturell antrainierten Wünsche, wenn sie realisiert werden, vom kurzfristigen Lustgewinn abgesehen, auch langfristig zuträglich wären oder ob nicht ebenso eine kultur- oder gar modebedingte Fehlanpassung des Menschen gefördert werden könnte. Zwar weiß der Mensch meist, was er will, aber übersieht er die Folgen all seiner Bestrebungen? Experimentiert er sich nicht vielmehr unter Irrtumsrisiko mit Hilfe von Versuch und Fehler vorwärts? Ist das richtige Verhalten vorher abfragbar? Sind die geäußerten Bedürfnisse auch wirklich bewährt und sinnvoll? Der Verhaltensforscher wiederum müßte bezweifeln, ob das, was dem Menschen evolutionsbedingt gemäß und dienlich ist, sich auch im Bewußtsein des Befragten spiegelt, oder ob er nicht, etwa beeinflußt durch ökonomische Faktoren, kulturspezifische Anreize o. ä., auch gegen seine naturgegebene Disposition zu handeln vermag21 und entsprechende Wünsche äußert. Aber ungeachtet solcher anthropologisch begründeter Bedenken ergeben sich weitere Einwände aufgrund der jeweils besonderen zeitlichen und räumlichen Situation des Menschen. Der Befragte kann ja nur das als Wunsch oder Ansicht äußern, was seinem gegenwärtigen Urteil zugänglich ist. Mangelnde Kenntnisse der Alternativen, zufällig einseitige Informationen, noch fehlende Erfahrung oder momentane Verhaftung in modischen Ansichten oder Ideologien können ein Meinungsbild entstehen lassen, das schon wenig später überholt ist, so daß die zuvor erfragte „bedürfnisorien-
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tierte" Raumgestaltung, während sie noch realisiert wird, den inzwischen veränderten konkreten neuen Bedürfnissen bereits nicht mehr entspricht22. Das raumbezogene Verhalten des Menschen in der Zukunft ist also zuvor nicht verläßlich abfragbar, denn es entscheidet sich erst an der zukünftigen Situation, die in gleicher Form zum Zeitpunkt der Befragung meist nicht gegeben und noch nicht bekannt ist. In der Zukunft gewandelte Bedingungen beeinflussen die dann aktualisierten Bedürfnisse. Zuvor abgefragte vermeintliche Bedürfnisse oder Handlungspräferenzen können später leicht durch andere verdrängt werden. Aber nicht nur im Laufe der Zeit, sondern auch von Region zu Region können sich die Wünsche bzw. Bedürfnisse verändern. Es ist also kaum möglich, durch Befragung generell gültige raumbezogene Bedürfnisse und Verhaltensweisen zu ermitteln. Zum Beispiel scheinen Befragungen zu bestätigen, daß das „Bedürfnis" nach Wochenendfahrt ins Grüne, also nach einem spezifischen räumlichen Verhalten, umso ausgeprägter ist, je dichter ein Wohngebiet bebaut ist und je weniger privat nutzbares Grün beim Haus vorhanden ist. Ungeachtet dessen finden sich Viertel, die trotz privatem Haus und privatem Grün ähnlich hohe „Ausfahrbedürftigkeit" an den Wochenenden wie in verdichtet bebauten Großstadtvierteln aufweisen23. Veränderte Gewohnheiten der Menschen oder besondere örtliche Voraussetzungen etc. können immer wieder zu Verhaltensweisen führen, die von den in anderen Regionen oder zu früherem Zeitpunkt erfragten abweichen. Oft auch reicht die Phantasie der Befragten nicht so weit, die raumbezogenen Bedürfnisse zu ahnen, die sich bei ihnen später und unter gewandelten Bedingungen herausbilden werden. Zudem spiegelt die Befragung allein schon durch die Fragestellung oft nur die Vorannahmen derer wider, die die Befragung betreiben. Weiterhin bleibt zu bedenken, daß die vom Befragten geäußerten Wünsche und Einstellungen zu lebensräumlichen Bedingungen oft auch Ausdruck bereits erfolgter Anpassung sind; der Mensch tendiert dazu, sich mit seiner Umgebung möglichst zu arrangieren. Unter anderen Bedingungen können plötzlich ganz andere Ansprüche virulent werden. Zudem ist man oft noch beeinflußt von vorherigen Erfahrungen, auch ζ. B. hinsichtlich der Wohnzufriedenheit, aber diese können verblassen. Und mit neuen Gelegenheiten wachsen bald neue Bedürfnisse, je mehr er hat, je mehr er will. So bleibt auch bei demoskopisch „abgesicherter" bedürfnisorientierter Planung letztlich Unsicherheit. Aber noch ein weiterer Einwand ist zu berücksichtigen. Das, was der einzelne etwa aufgrund seines besonderen „Systems von Konstrukten" (G. A. KELLY, 1955) will und auf Befragung äußert, muß keineswegs mit den Ansprüchen, die die Gemeinschaft stellt, übereinstimmen. Das System Ein-
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zelmensch und das System Mensch in der Gemeinschaft können andere, durchaus gegenläufige Bedürfnisse bzw. Wünsche entstehen lassen. Individuelles und gemeinschaftliches Interesse können also auseinanderfallen. Welche der erfragten „Bedürfnisse" wären dann zu realisieren? Der einzelne Mensch wie auch die Gesellschaft, beide wissen zwar häufig kultur- und modebedingt, was sie jeweils wollen, aber nicht immer, was sowohl für den einzelnen wie auch für die Gesellschaft sinnvoll und beiden förderlich ist. Es wäre also sehr leichtfertig, die Menschen nur nach ihren vermeintlichen Bedürfnissen zu befragen und dementsprechend zu handeln; das kann zu einer geradezu schlechten Gestaltung des Lebensraumes führen. Befragung bleibt als alleiniges Erkenntnisinstrument problematisch. Allerdings sind Befragungen keineswegs völlig wertlos. Sie können immerhin aufzeigen, welche raumbezogenen Bedürfnisse bzw. Wünsche zu einem bestimmten Zeitpunkt und im Rahmen einer bestimmten Zivilisation und in einem bestimmten geographischen Raum virulent sind. Dabei ist nicht auszuschließen, daß solche Wünsche auch relativ stabil sein können, etwa weil sie angeborenen Verhaltenstendenzen entgegenkommen und damit dann doch Hinweise zur Planung geben. Zum Beispiel könnte die empirisch bestätigte Vorliebe für Einfamilienhäuser und bodennahes Wohnen so verstanden werden. Andererseits sind sich die Menschen ihrer biologisch begründeten Bedürinisstruktur selten bewußt, und meist überformen kulturspezifische Einstellungen diese tiefere Bedürfnisgrundlage beträchtlich. Es bleibt also vorerst festzuhalten, daß sowohl Psychologie und Motivationslehre wie auch Befragungen keine generell gültigen und zugleich detaillierten Kataloge raumbezogener Bedürfnisse, gemäß derer zu planen sei, vorzulegen vermögen. Das Verhalten des Menschen im Raum und die Möglichkeit, sich dort wohlzufühlen, wird von zahlreichen unterschiedlichen Einflußgrößen gesteuert; es kann nicht aus dem Drang zur Befriedigung eines Kataloges raumbezogener Bedürfnisse erklärt werden. Wenn eine Innenlenkung des Menschen wirksam ist, dann nicht in Verwirklichung eines umfangreichen Bündels unterschiedlicher, aber eben vorgegebener Bedürfnisse, sondern eher in dem Sinne, daß bestimmte relativ grobe Grundmuster des Verhaltens, die über einen genetischen Code in uns angelegt sind, die Basis für ein Verhalten legen, das dann kulturspezifisch ausgeformt wird. Heißt das nun, daß die Planung unseres Lebensraumes in Ermangelung einer Bedürfnissammlung weiterhin nur gemäß des Gefühls oder gar nach Beheben erfolgen soll - keineswegs. Doch wenden wir uns zunächst einigen Fakten zu, die uns verdeutlichen, wie stark räumliche Bedingungen auf uns wirken und die zugleich die Frage entstehen lassen, ob wir in unserem Verhältnis zu den lebensräumlichen Bedingungen nicht doch biologisch vorfixierten und damit grundlegenden Bindungen unterliegen.
3. Die Beeinflussung des Verhaltens durch räumliche Bedingungen
3.1 Begrenzte territoriale Toleranz bei Tieren Vergleiche zwischen der Territorialität und dem Revierverhalten der Tiere und dem Raumanspruch oder ζ. B. der begrenzten Dichtetoleranz des Menschen liegen nahe. In der Tat fällt es schwer, die bei Tieren als Folge überhöhter Besiedlungsdichte und Einschränkung des Bewegungsraumes beobachteten regelhaften Streßsymptome und sozialen Verfallserscheinungen und die einsetzenden Regulationen zur Begrenzung der Population24, als für den Menschen keineswegs relevant anzusehen. J. B. CALHOUN (1962, 1963) konnte ζ. B. nachweisen, daß räumliche Übervölkerung bei Mäusen zur Vernachlässigung der Fürsorge für die Jungen führt und so rückkoppelnd eine raumbedingte Lenkung der Individuenzahl einsetzt. S. A. BARNETT et. al. (1960) belegen die physiologischen Folgen entsprechender Streßsymptome. Ethologische Untersuchungen zeigen, daß Tiere, die im Vergleich zu ihrem natürlichen Lebensraum zu beengt gehalten werden, dieses künstliche Milieu nicht ertragen, neurotisch werden und sogar dem Wahnsinn verfallen25. An gepfercht gehaltenen Tieren kann eine kritische Populationsdichte beobachtet werden, bei deren Überschreitung zunächst soziale Desorganisation und pathologische Erscheinungen auftreten. Das Werbe- und Paarungs^ verhalten wird völlig gestört, extreme Unterwürfigkeit der Schwachen, extreme Aggressivität der Stärkeren greifen um sich, bis schließlich die normale soziale Ordnung vollkommen zusammenbricht. Selbst wenn noch genügend Nahrung, Wasser, Licht usw. vorhanden sind, scheitert die Population, da dann der für die Lebensabläufe erforderliche Mindestlebensraum den meisten Individuen verwehrt wird. Das soziale Verhalten der Tiere hat einen starken räumlichen Bezug; durch zu hohe Pferchung zerbricht deren „raumorientiertes Sozialsystem"26. Allerdings verfügen viele Tiere unter ihren natürlichen Lebensbedingungen über Verhaltensregelungen, die ihnen zumindest eine gewisse Anpassung an schwankende Populationsdichten gestatten. So konnte R. LORE (1977) zeigen, daß die verschiedenen Rattengruppen, die auf einer Müllkippe, also in einem ihnen sehr gemäßen Biotop leben, fremde, jeweils einer anderen Gruppe zugehörige Tiere vor allem dann tolerant aufnehmen, wenn eine Gemeinschaft so groß geworden ist, daß nicht mehr jedes Tier das
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andere kennt. So ist bei zunehmender Populationsgröße und -dichte eine gesteigerte Friedfertigkeit und Toleranz wirksam. Nimmt allerdings die Bevölkerungsdichte immer weiter zu, dann wird die friedvolle Phase der Übervölkerung schließlich abgebrochen, und es kommt zur Entartung und Zerstörung der sozialen Ordnung, zu Kannibalismus, zu Inzest, Vergewaltigung, zur Vernachlässigung der Brut, und in grausamer Korrektur verringert sich die Zahl der Tiere wieder. Beobachtungen anderer Forscher an Schwänen, Enten und Welsen bestätigen sowohl dieses Phänomen gesteigerter Friedfertigkeit an sich revierbezogener Tiere bei zunehmender Bevölkerungsdichte wie auch die Entartung bei immer weiter erhöhter Dichte. Trotz der vorhandenen Fähigkeit, sich friedfertig an erhöhte Populationsdichte anzupassen sind eben doch der Territorial- und Dichtetoleranz Grenzen gesetzt, die spätestens dann erreicht werden, wenn die Übervölkerung existenzgefährdende Ausmaße annimmt. Selbst Tiere, die an sich keine festumrissenen Territorien beanspruchen und deren Verhalten eher durch territoriale Toleranz oder Meidung bzw. „Sich-aus dem Weg-gehen"27 gekennzeichnet ist, entwickeln ein Territorialverhalten und kämpfen gegeneinander um ihren Lebensraum, wenn sie durch Raumknappheit dazu gezwungen werden28. Unter natürlichen Lebensbedingungen bilden sich verhältnismäßig harmlose soziale Verhaltensweisen heraus, die Gewalt nur streng ritualisiert einbeziehen. Sie tragen dazu bei, daß die Individuen oder Gruppen räumlich so gestreut werden, daß zu hohe, das räumliche Potential überfordernde und den Individualraum zu stark einschränkende Populationsdichten, die den ständigen Ausrottungskampf gegeneinander notwendig machen, vermieden werden29 30. Selbst wenn sich, wie häufig bei höheren Säugern, die benachbarten Reviere überlappen oder Streifgebiete auch gemeinsam genutzt werden, entwickeln sich Regelungen, die ein körpernahes Zusammentreffen verhindern bzw. ein rechtzeitiges Ausweichen ermöglichen31. Für die meisten Säuger scheint es weniger wichtig zu sein, ein zusammenhängendes Revier zu besitzen, als vielmehr über Plätze zu verfügen, an denen die verschiedenen Funktionen (Ruheplätze, Futterstellen, Schatten- oder Sonnenplätze) unbeeinträchtigt erfüllt werden können32. Erst wenn solche eigentlichen Reviere bzw. Plätze, von G . JÖRGENSEN (1972) als „Heimreviere" vom erweiterten Streifgebiet unterschieden, gefährdet sind bzw. zu den entsprechenden Zeiten nicht genutzt werden können, beginnt eine entschlossene Verteidigung gegen Artgenossen33. Die - wenn auch begrenzte - territoriale Toleranz34 setzt erst dann aus, wenn durch zu hohe Pferchung der Mindestindividualraum bzw. Mindestgruppenraum verwehrt wird.
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Verallgemeinernd läßt sich allerdings sagen, daß die Territorial- und Dichtetoleranz immer dort endet, wo der zur Existenzsicherung, zur Ernährung und Fortpflanzung, erforderliche Raum gefährdet oder reduziert wird.
3.2 Territoriale Sensibilität des Menschen Es könnte nun, in Anknüpfung an die Beobachtungen bei Tieren, unterstellt werden, daß der Mensch bereits vielfach unter seiner Natur nicht gemäßen räumlichen „Haltungsbedingungen" lebe. Der einzelne sei beispielsweise kaum noch in der Lage, seine räumlichen Mindestanforderungen zu erfüllen, ein hinreichend großer Eigenbereich, über den man selbst verfügen könne, stünde oft nicht mehr zur Verfügung. Die Situation in den dichtest besiedelten Räumen könnte bereits der eines Käfigs voller ausreichend ernährter, aber zu eng gepferchter Ratten gleich sein, einschließlich der damit verbundenen aggressiven Aufladung. In der Tat verleitet die Ähnlichkeit der Störungen tierischen und menschlichen Verhaltens bei hoher Besiedlungsdichte zum Vergleich. Wird also das Verhalten des Menschen bereits durch nicht mehr angemessene räumliche Bedingungen mit destruktiver Wirkung beeinflußt35? Es ist naheliegend, aus der Beobachtung tierischer Sozietäten abzuleiten, daß steigende bzw. übersteigerte Siedlungsdichte Reaktionen auslöst, die zunächst zu stärkerer Abgrenzung, zum „Nichtbeteiligtsein"36, zu „schützender Isolierung" und zunehmender Anonymität ( W . WICKLER, 1 9 7 1 , S. 2 0 4 ) , zur Versandung zwischenmenschlicher Beziehungen und schließlich zu kleinlicher Reizbarkeit ( K . LORENZ, 1 9 7 3 , S. 2 1 ) führen37. Zwar gelingt es auch den Menschen, ähnlich wie bei freilebenden Ratten beobachtet (s. o.), zunehmende Wohn- bzw. Besiedlungsdichte zunächst friedfertig zu ertragen, verbunden mit gesteigerter Anpassungsbereitschaft und der Einhaltung von Höflichkeitsregeln, aber stets bleibt beim Menschen das Risiko, daß mit zunehmender Dichte bzw. Zusammendrängung die Beteiligten gewissermaßen die Beherrschung verlieren und sich gegeneinander wenden. Eine nachhaltige Überforderung der Dichtetoleranz, Nichtachtung der Distanzzonen und des Eigenraumes dürfte schließlich seelische und körperliche Schäden, Neurosen (P. LEYHAUSEN, 1954, S. 129) oder gesteigerte Aggressivität (K. LORENZ, 1973, S. 21) und Gewalttätigkeit hervorbringen38). Und in der Tat scheint das bestätigt zu werden, ζ. B. durch die beobachteten Auswirkungen der Konzentrationslagerhaft, mit ihren ja auch räumlich
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katastrophalen Verhältnissen. So stellte P . MATUSSEK (et al, 1 9 7 1 , S. 1 2 , 1 5 ) fest, daß die „Vergiftung der mitmenschlichen Beziehungen" neben der Todesangst und der körperlichen Zermürbung eine Hauptkomponente des Leidens in Konzentrationslagern war. Je extremer die Bedingungen, desto stärker nahmen Aggression, Gewalt und Grausamkeit der Häftlinge gegeneinander39, der Kampf untereinander ums Überleben zu - etwa bei der Zuweisung der härteren und damit existenzgefährdenden Arbeit. Die Menschen vegetierten dahin, versunken in einem allgemeinen „Wertchaos". Mit der Zusammendrängung in den Lagern ist nicht nur die Überforderung der Dichtetoleranz verbunden, sondern auch die Verweigerung fast jeder Möglichkeit, sich in ein Eigenterritorium zurückzuziehen. Und so beklagt aus eigener Erfahrung A. SOLCHENIZYN ( 1 9 7 4 , S. 1 9 4 / 1 9 5 ) das „für einen Intellektuellen besonders qualvolle, unentrinnbare Niemals-alleinsein-können". Unter den besonderen Bedingungen solcher Lager beobachtet er des Menschen „Herabsinken zum Tier - und sein Absterben noch vor dem eigentlichen Tod"; der Mensch wandelt sich, körperlich und geistig verfallend, zum „Verkümmerer". Angesichts dieser Beobachtungen drängt sich der Vergleich mit dem Verfall der Individuen und Sozialstruktur in einer Population zu eng gepferchter Tiere geradezu auf (s. Kap. 3.3). Allerdings ist es nicht möglich, diese Verwandlung der Häftlinge lediglich als eine Folgewirkung der beengten räumlichen Verhältnisse bzw. der extrem hohen Populationsdichte zu deuten, zu stark sind weitere beeinflussende Faktoren (Härte der Arbeit, Unterernährung, Brutalität der Bewacher, Angst vor der Tötung etc.) wirksam. Sicherlich aber haben unzumutbare räumliche Existenzbedingungen und zu hohe interpersonelle Dichte auch beim Menschen physisch und psychisch negative Auswirkungen. Warum auch sollte der Mensch gerade hinsichtlich des räumlichen Aspekts der Existenz aus der in der gesamten Lebewelt zu beobachtenden Abhängigkeit herausfallen, müßte man dann doch die entwicklungsgeschichtliche Bedingtheit des Menschen negieren? R . A . SPITZ zeigte 1 9 6 4 , daß bei zu hoher Besiedlungsdichte die MutterKind-Bindung nachteilig beeinflußt wird bzw. sich gar nicht entwickelt40. Es gilt als gesichert, daß mütterliche Unterlassungen gegenüber dem Kleinkind, z. B. mangelnde Zuwendung und Liebe, weitreichende Beeinträchtigungen der Entwicklung zur Folge haben und langfristig auch gesellschaftlich schädigend wirken. Die Frage, ob wir eine im Menschen angelegte begrenzte Dichtetoleranz bereits vielfach durch falsche Siedlungsweise überschreiten, ist also auch gesellschaftspolitisch von hoher Relevanz. Zunächst muß aber gefragt werden, ob der Mensch tatsächlich in gleicher
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Weise, wie es die Beobachtung an Tieren zeigt, oder differenzierter, durch territoriale Bedingungen in seinem Verhalten beeinflußt wird. 3.2.1 Territorialität ist kulturabhängig relativ Zunächst wäre zu prüfen, ob Territorialität, ähnlich stark wie bei Tieren, auch im Menschen angelegt ist, oder ob sie durch Kultur bis zur Bedeutungslosigkeit abgedrängt wird. Eine Beobachtung der Naturvölker verspricht diesbezüglich interessante Hinweise, denn es ist zu vermuten, daß die kulturelle Verformung hier weniger stark ausgeprägt ist und „natürliche" Verhaltensweisen deutlicher hervortreten. So läßt sich bei zahlreichen Stämmen niedriger Zivilisationsstufe klar ein Verhalten nachweisen, das auf die Sicherung des individuellen wie auch kollektiven Territoriums gerichtet ist. H. J. H E I N Z (1966, 1972)41 berichtet, daß ζ. B. die Horde der Buschleute ein ganz bestimmtes Land als ihr Revier ansieht und kontrolliert, wobei die einzelnen Familien nur in besonderen, ihnen zugeteilten Sektoren jagen und sammeln. Im Notfall kann auch im Territorium einer anderen Horde gesammelt werden, allerdings erst nach eingeholter Erlaubnis. Auch wird diese Erlaubnis nur Horden erteilt, die untereinander in einer Art Allianzsystem, dem sog. Nexus, verwandtschaftlich und persönlich verbunden sind (ca. 200 Erwachsene). Dem Fremden begegnet Mißtrauen und wird Jagd und Sammeln auf dem Hordenterritorium verwehrt (vgl. I. EIBLEIBESFELDT, 1978, S. 104). Oft sichern zahlreiche Riten und Regeln, aber ebenso sofortige Gewaltanwendung die Respektierung der jeweiligen Territorialität42. Andererseits haben sich aber auch mehrere Autoren um den Nachweis bemüht, daß Jäger und Sammler nicht „territorial" sind, und daß insofern von einer beim Steinzeitmenschen genetisch verankerten Neigung zum aggressiven Revierkampf keine Rede sein kann. Das Sammeln oder Jagen anderer in der Nähe werde geduldet43. Eine solche Gegensätzlichkeit der Auffassungen erscheint künstlich. Es ist ohnehin wahrscheinlich, daß der steinzeitliche Jäger nicht unbedingt über ein genau abgemessenes Territorium verfügt, zumindest trennt ein Streifen „Niemandsland" vom Bereich der nächsten Gruppe. Erfolgreiches Sammeln und Jagen wird durch eine gewisse räumliche Flexibilität begünstigt44. Gleichzeitig ist aber einleuchtend, daß dies nicht als territoriales Desinteresse interpretiert werden darf. Denn keine steinzeitliche Gruppe kann es sich leisten, die Nutzung ihrer Nahrungsgrundlage über deren Tragfähigkeit hinaus auch anderen Gruppen zu überlassen und so die eigene Existenz zu gefährden. Da es Jägern und Sammlern im allgemeinen gelingt, die Größen
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ihrer Population an die ökologische Belastbarkeit bzw. Tragfähigkeit ihres Aktionsraumes anzupassen, also etwaige Übervölkerung sehr rasch wieder abzubauen, ist weniger der Ausrottungskampf, der „Völkermord", benachbarter Gruppen oder Verbände zu beobachten45, sondern eine gewisse territoriale Toleranz. Wenn allerdings der Abstand zwischen den jagenden und sammelnden Gruppen zwangsweise verringert wird, z. B. wenn andere Verbände oder Stämme mit veränderter Wirtschaftsweise (z. B. Ackerbau) das Jagdrevier zu sehr einschränken, oder die jagenden Gruppen territorial „zusammengeschoben" werden, dann wird sehr bald eine territorialbedingte Aggressivität wirksam46. Selbst eine solche defensive Territorialität (W. SCHMIDBAUER, 1 9 7 3 , S. 261) macht deutlich, daß auch der Mensch territorial hochgradig sensibel ist. Aber diese Territorialität kann nicht als ein für die Menschen typischer, spezifischer Raumanspruch gedeutet werden. Abhängig vom kulturellen Rahmen, der Zivilisation und Wirtschaftsweise sind die territorialen Anforderungen der Gruppen und Gesellschaften durchaus verschieden. Entsprechend wird auch der beanspruchte Raum unterschiedlich dimensioniert sein und unterschiedlich intensiv gegen andere abgeriegelt. Können wir auch nicht von einer absoluten Territorialität der sozialen Verbände sprechen, so wird doch eine kulturbedingt relative Territorialität deutlich. Das in der Geschichte zu beobachtende Bemühen zur Sicherung oder Ausweitung des Territoriums eines Volkes, des Stammes, der Gruppe oder des einzelnen weist auf die Notwendigkeit von Eigenterritorien hin47. Mehr noch, betrachtet man nämlich „die Reizbarkeit der Völker gegen Verletzungen ihrer Territorialgrenzen" oder denkt man daran, „wie jede Kleingruppe oder Familie ihr Haus abschirmt" (A. GEHLEN, 1970, S. 45), und vergleicht man dieses Verhalten mit der aggressiven Reaktion, die viele Tiere bei Revierüberschreitungen zeigen, so ist man sogar versucht, auch beim Menschen eine stammesgeschichtlich erworbene, genetisch fixierte Territorialität, eine auf die Sicherung eines angemessenen Lebensraumes gerichtete Verhaltensdisposition, zu vermuten48, wohl wissend, daß diese kulturell überprägt und damit relativiert wird49. So betont selbst B. P. SIONNER ( 1 9 6 6 , S. 1 2 1 1 ) aus der Sicht des Behavioristen, daß die Verteidigung eines Territoriums durchaus als Folge existenzsichernder Kontingenzen (bedingungsabhängiges Handeln), wie sie etwa durch die Notwendigkeit zur Nahrungsversorgung und Aufzucht entstehen, phylogenetisch verankert sein kann50. Territoriales Verhalten kann aber auch in erster Linie ontogenetisch bedingt sein, z. B. dann, wenn es sich als politisch strategischer globaler Expansionswille verwirklicht, wie häufig in der Geschichte geschehen.
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Eine ganz andere Frage ist es, ob die Territorialität stets gekoppelt mit einer gewissermaßen angeborenen Aggressivität auftritt, die zum Erwerb, zur Verfügungsgewalt über ein möglichst großes Gebiet treibt51. Selbst hohe Dichte kann wohl kaum als zwingender geradezu automatischer Auslöser von Gewalt und Aggression angesehen werden. Gewalt ist auch ohne hohe Bevölkerungsdichte ein Element sozialen Verhaltens, sei es in Rangkämpfen und im Streben nach Macht, beim sexuellen Zugriff oder aus Hunger. Aber hohe Besiedlungsdichte kann Bedingungen schaffen, die aggressionsauslösend bzw. -steigernd wirken. Das bedeutet nichts anderes, als daß durch zu hohe Dichte und territorialen Druck bislang wirksame Regelungen des sozialen Verhaltens, die die Gewaltanwendung art- und gruppenerhaltend disziplinieren und vorwiegend die Funktion sozialer Strukturierung erfüllen, außer Kraft gesetzt werden und zum Ausrottungskampf entgleisen52 können. Insofern wären also Vergleiche mit zu eng gepferchten Tieren gar nicht so abwegig. 3.2.2 Notwendiges Individualterritoriuin Die bisherigen Überlegungen zur Territorialität des Menschen bezogen sich vor allem auf soziale Gruppen, Verbände o. ä. In welchem Maße ist aber nun das einzelne Individuum in seinem Verhalten territorial bzw. räumlich bestimmt und beeinflußbar? Offensichtlich kann der Mensch, ζ. B. innerhalb eines von ihm regelmäßig durchstreiften Gebietes (etwa Straße, Bahnhof, Kaufhaus, Arbeitsstätte, Park, Sportgelände, Theater), eine beträchtliche territoriale Toleranz entwickeln. Mehr noch: er sucht sogar gelegentlich zur Zerstreuung oder zum Amüsement die „Pferchung" und Nähe der Mitmenschen. Gleichzeitig aber scheint er auch reizbar gegenüber Mißachtung seiner Nahzone zu sein. Ebenso ist er wenig tolerant oder sogar mißtrauisch beim Eindringen der sonst ertragenen Fremden in sein Privatterritorium („Heimrevier", G. JÖRGENSENS, 1 9 7 2 ) bzw. seine Wohnung, sein Haus. Erst die Beachtung gewisser Höflichkeitsregeln bzw. Beschwichtigungsgebaren und zunehmende Vertraulichkeit machen ihn zugänglicher, wandeln das zunächst recht abweisende Verhalten. Wichtige Kenntnisse der raumbedingten Beeinflussung des menschlichen Verhaltens hat in den letzten Jahren die PROXEMIK erbracht (vgl. Ε. T. H A L L , 1966). Werden ζ. B. die für jeden Menschen existierenden persönlichen räumlichen „Distanzzonen" (Ε. T. HALL) von Unberechtigten überschritten oder mißachtet, treten typische Reaktionen, oft nonverbal ausgedrückt, auf53. In die nahe persönliche Distanzzone dürfen eben nur sehr vertraute Perso-
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nen vordringen, andernfalls wird eine abweisende Reaktion ausgelöst oder es wird - wenn etwa die Situation in öffentlichen Verkehrsmitteln zu großer Nähe zwingt - eine betont starre Haltung (vgl. J. FAST, 1971, S. 65) eingenommen, die Fehlinterpretationen ausschließt. Die unfreiwillig Aneinandergedrängten ertragen einander ohne Aggressivität, indem sie die anderen zu „Nichtpersonen" umwerten (R. SOMMER, 1969) und schalten so die durch räumliche Pferchung normalerweise provozierte Reizbarkeit aus. Eine solche abweisende, aber auch reflektierende, oder sagen wir tolerante Anonymität und Nichtbeachtung kennzeichnet den Umgangsstil an Plätzen, an denen zahlreiche Menschen zusammengedrängt sind, z.B. in Kaufhäusern, Bahnhöfen, öffentlichen Verkehrsmitteln usw. - also besonders in der städtischen Umwelt. Die Störung der Distanzzone wird diszipliniert hingenommen, aber um den Preis einer gewissen inneren Abriegelung. Dagegen verweist J. FAST (1971, S. 66) auf die in amerikanischen Kleinstädten mit ihrer geringen Distanzbelastung beobachtete offenere und freundschaftlichere Haltung. Wie bei den Tieren, so kann die Unterschreitung einer gewissen Distanz, das Eindringen in die „Distanzblase", die je nach der Veranlagung außerordentlich unterschiedlich bemessen ist, durchaus auch beim Menschen gereizte Reaktion und Angriff auslösen54. Aber es finden sich auch Hinweise, daß persönliche Distanzzonen kaum vorhanden sind oder extrem verringert werden. Beobachtungen von P. DRAPER (1973) an Kung-Buschleuten in Südafrika zeigen, daß diese sich in kleinen Gruppen zusammendrängen und einen großen Teil ihrer Zeit in fast hautnahem Kontakt verbringen, ohne daß Streßerscheinungen hervortreten55. Die gleiche, wenn auch unfreiwillige Zusammenpferchung, ζ. B. in Kriegsgefangenenlagern, stellt dagegen eine ständige soziale Überforderung dar und liihrt zu seelischen Störungen, zur Neurotisierung, zur Aggression56. Zwar belegt die Proxemik, daß es dem Menschen vielfach gelingt, seine territoriale Toleranz im Nahbereich beträchtlich zu erhöhen, dennoch aber beeinflußt im allgemeinen gestörte interpersonelle Distanz sein Verhalten. Ε. T. HALL ( 1 9 6 6 ) verweist darauf, daß unterschiedliche Kulturen und ethnische Gruppen sehr unterschiedliche individuelle Raumansprüche herausbilden. Aber auch innerhalb gleicher Kulturen ist das Bedürfnis nach Individualterritorium und dessen Größe differenziert. Untersuchungen von J. C . CHABRIER ( 1 9 7 0 ) zeigen, daß die Größe eines Raumes, in dem sich der einzelne wohlfühlt, außerordentlich verschieden ist; das jeweils angemessene Individualterritorium schwankt also wahrscheinlich innerhalb großer Bandbreiten57. Untersuchungen von R . MITCHEL ( 1 9 7 0 ) im übervölkerten Hongkong
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deuten darauf hin, daß unter den dortigen speziellen kulturellen Bedingungen Unterschiede der Wohndichte in keiner Relation zu schwerwiegenden emotionalen Anspannungen stehen, also hohe Pferchung in diesem Fall kaum Streßwirkung hat. Dagegen erachten es O. R. GALLE, W. R. GOVE, J. MILLER Mc PHERSON (1973, S. 16, 19 f.) aufgrund neuerer Untersuchungen in Chicago für wahrscheinlich, daß Übervölkerung im Sinne zu hoher Wohndichte58 als auslösender Faktor für Streßsymptome und pathologisches Verhalten sowie Störungen des sozialen Lebens anzusehen ist. Danach wirkt also die Verweigerung eines ausreichenden Individualterritoriums schädigend59. Ebenso konnten W. C. LORING (1965) und P. H . CHOMBARD D E LAUWE (1961) einen gesicherten Zusammenhang zwischen Wohnbelegdichte und psychischer Gefährdung aufzeigen, wobei letzterer bei Unterschreitung einer Mindestfläche von 8 m2/Person sichere Schädigung unterstellt. In jüngster Zeit verwies H . STROTZKA 60 auf die schädigende Wirkung einer ungünstigen Wohnsituation in der frühen Kindheit; es besteht ein statistisch gesicherter Zusammenhang zwischen überbelegter und wohnhygienisch mangelhafter Kleinkindwohnung und späterer höherer Neuroserate. A. MÜNK ( 1 9 7 2 , S . 1 0 0 ) spricht davon, daß Enge als chronischer Zustand einer Bevölkerung an sich eine psychische Belastung darstellt. Aus diesen scheinbar widersprüchlichen Beobachtungen ergibt sich jedoch eine plausible Schlußfolgerung: Das Verlangen nach Individualterritorium und Distanzzone und die Gefahr der Schädigung bei Verweigerung sind je nach den kulturellen und zivilisatorischen Bedingungen, je nach Situation und Individuum unterschiedlich ausgeprägt. Es ist eben ein großer Unterschied, ob ein Buschmann nach dem Zusammenhocken in seiner Gruppe in die Weite einer menschenleeren Umgebung auf ausgedehnte Nahrungssuche geht, um dann wieder die Geborgenheit und körperliche Nähe der eigenen und verwandten Gruppe mit ihrer geregelten Sozialstruktur zu suchen, oder ob ein Berufstätiger nach der straff organisierten, mit zahlreichen Zwängen und vielfältiger Kommunikation und Belastung verbundenen Berufsarbeit im überfüllten Verkehrsmittel in seinen Wohnblock zurückkehrt und dort mannigfachem Innen- und Außenlärm etc. ausgesetzt ist; sein Bedürfnis nach einem schonenden, kleinen eigenen Territorium wird stärker ausgeprägt sein61. Wohnt der Nachbar weit entfernt, ist kein Zaun nötig, wohnt man auf's Dichteste nebeneinander, wächst das Verlangen nach der trennenden Mauer. Und ringen die Menschen nicht gerade dort, wo Raum knapp ist, besonders hart um die Verfügungsgewalt, ablesbar an hohen Preisen, die den finanziell Schwachen abdrängen. Untersuchungen in 4000 amerikanischen Schulklassen zeigen, daß Kinder mit chronischen Infektionen oder Ernährungsstörungen von den körperlich Wohlbefindlicheren bzw. Stärkeren in die dunkelsten
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Ecken abgedrängt werden (A. MEHRABIAN, 1978, S. 100). Wird nicht gerade bei Raumknappheit territoriales Verlangen und Verhalten rigoroser, die Territorialität sichtbarer? Die Virulenz der Territorialität dürfte entscheidend davon abhängen, wie die Menschen ihr Zusammenleben organisieren. Wird dem Bewohner das ihm angemessene Individualterritorium (Ruheplatz, Heimrevier o. ä.) gewährt, z. B. in ausreichend großen, gegen Belästigung abgeschirmten Wohnungen mit entsprechender Anzahl an Räumen, wird im Berufsleben und öffentlichen Leben auch auf seine räumlichen Distanzbedürfnisse Rücksicht genommen, wird ihm die Möglichkeit geboten, sich von der dennoch nicht ganz zu vermeidenden Überforderung seiner individuellen Dichtetoleranz zumindest periodisch zu lösen und ausgleichende Raumbedingungen zu nutzen (etwa durch ergänzende Zweitwohnsitze, Ferienparks, Wochenendhäuser u. ä. in ländlicher Umgebung), dann ist es auch möglich, stark verdichtete Besiedlung zu akzeptieren und ihre Vorteile entsprechend auszuschöpfen. Es geht darum, die Menschen vor den jeweils störenden Konsequenzen ihrer vielfältigen Raumnutzungen zu schützen. Hohe Besiedlungsdichte allein muß also nicht zwangsläufig schlecht und schädigend sein. Wir halten fest: „Übervölkerung, verbunden mit sozialen und physischen Zwängen, scheint die Vorbedingung für soziale Fehlentwicklungen in menschlichen Gemeinschaften zu sein. Sie resultieren aus dem Versagen politischer und ökonomischer Systeme" (L. TIGER, R. FOX, 1973, S. 257). Freilich ist eine solche Verknüpfung meist typisch, und die Frage ist nicht leicht zu klären, ob aus zu hoher Verdichtung nicht viele dieser Zwänge notwendigerweise erwachsen. Selbst wenn hohe Besiedlungsdichte differenzierte Vorteile, z. B. ökonomischer Art, bringt und vielfältig stimulierende Wirkung haben kann, zwingt sie doch zu Rücksichten, Einschränkungen, ja sogar zu differenzierten Formen der Unterordnung und Unterwerfung. Besonders dann, wenn die sozial befriedigende Einordnung der zunehmenden Zahl gedrängter Menschen nicht gelingt (Slums!), erhebt sich die Frage, ob nicht zu hohe Besiedlungs- und Wohndichte mit der Menschenwürde unvereinbar ist62. Zusammenfassend müssen wir erkennen, daß der Mensch nicht nur kollektiv, sondern auch individuell hochgradig territorial sensibel ist. Diese Sensibilität ist allerdings zwischen den Individuen und Gruppen wie auch zwischen den Kulturen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Menschliche Dichtetoleranz und das Bedürfnis nach Individualterritorium sind also relativ, wenn auch die Abhängigkeit von territorialen Mindestvoraussetzungen genetisch verankert sein dürfte. Werden diese je nach Individuum, Kultur und Situation unterschiedlichen Mindestvoraussetzungen verweigert, besteht die Gefahr der Schädigung. Die schadensfreie Anpassungsfähigkeit stößt umso eher an ihre
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Grenzen, je stärker die territorialen Existenzbedingungen mit sozialen und physischen Zwängen verbunden sind.
3.3 Individualterritorium relativiert soziale Hierarchie Es muß nun auf eine bedeutsame räumlich-soziale Wechselwirkung verwiesen werden, zu deren besserem Verständnis zugleich an die am Anfang (Kap. 1) getroffene Feststellung erinnert sei, wonach sich die verschiedenen Dimensionen der menschlichen Existenz wechselseitig beeinflussen (hier die räumliche und die soziale/ökonomische Dimension). P. LEYHAUSEN ( 1 9 6 5 ) deckte eine raumabhängige Zweiteilung der Rangordnung bei Tieren auf. Bei herden- oder gruppenweise organisierten Wirbeltieren bildet sich normalerweise eine absolute Hierarchie mit einer meist klaren Rangordnung heraus, bereits 1922 als „Hackordnung" (T. SCHJELDERUP-EBBE, 1 9 2 2 ) erkannt. P. LEYHAUSEN konnte vor allem zeigen (u. a. am Beispiel der Katzen), daß sich neben dieser absoluten sozialen Rangordnung eine relative Rangordnung entwickelt. Nach dieser besitzen absolut an sich rangniedrigere Tiere in gewissen Revierteilen oder an bestimmten Plätzen, abweichend von der absoluten Rangordnung, Vorrechte. Oder sie benutzen zu bestimmten Zeiten vorrangig Wegstrecken, gewisse Plätze und Räume. Diese räum- und zeitbezogene Hierarchie regelt das soziale Leben, mindert die Härte der absoluten Hierarchie und sichert die Entwicklung des Individuums. Erst wenn die Individuenzahl auf begrenztem Territorium zu groß wird, bricht diese schonende Zweiteilung zusammen. Mit steigender Wohndichte setzt sich die absolute Hierarchie immer totaler durch und steigert sich bis zur Despotie starker Individuen. Damit geht die Drangsalierung der Schwächeren einher, was schließlich zu neurotischen Symptomen führt63. Die relative Hierarchie wird durch zu hohe Pferchungsdichte außer Kraft gesetzt, die Population erstarrt in einem spannungs- und aggressionsgeladenen Zustand. Die Wechselwirkung zwischen der räumlichen und sozialen Dimension der Existenz wird so deutlich. Freilich ist die Übertragung eines solchen raumbedingten Dualismus der Rangordnungen auf die menschliche Gesellschaft problematisch. Zwar sind Rangordnungen ζ. B. im Berufsleben und anderen sozialen Bereichen oft sehr klar festgelegt und durch Rolle und Status gefestigt. Auch sind sie oft mit geradezu existenznotwendigen Abhängigkeiten beladen und werden so nicht gerade erträglicher. Aber der Mensch gehört meist mehreren verschiedenen Sozialgebilden mit durchaus unterschiedlichem Rang innerhalb der jeweiligen Hierarchie an und verfügt so wahrscheinlich über entlastende
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Ausgleichsmöglichkeiten. Entsprechend lassen sich ζ. B. berufsbedingte Rangfolgen außerhalb der Arbeitswelt vielfach kompensieren. Immerhin konnte aber durch Α. H. ESSER (1964, 1965) und E. GRANT (1965), unabhängig von LEYHAUSENS Beobachtungen an Tieren, der gleiche Dualismus absoluter und raumbedingter relativer Hierarchie bei autistischen Kindern nachgewiesen werden. Α. H. ESSER und R. J. PALLUCK (1971) vertreten die Auffassung, daß die beobachtete ortsgebundene Intoleranz, die Sicherung eines eigenen Raumabschnittes, von grundsätzlicher Bedeutung für den Aufbau einer sozialen Ordnung und Organisation dieser Kinder war. Auch wenn es sich hierbei um Beobachtungen an seelisch gestörten, sich selbst abriegelnden Knaben handelt, darf für die normale Existenz des Menschen neben den verschiedenen absoluten Rangordnungen in den Sozialgebilden die stammesgeschichtlich angelegte Bereitschaft oder Fähigkeit zur raumbezogenen relativen Rangordnung zumindest vermutet werden, einschließlich ihrer entlastenden Wirkungen für den einzelnen - und vor allem für die Rangniederen der gesellschaftlichen Hierarchie. Ebenso scheint das Aussetzen solcher schützender relativer Rangordnungen bei zu hoher Siedlungsdichte und die damit verbundene steigende Reizbarkeit, härtere Auseinandersetzung und rücksichtslosere Bewahrung erworbener Positionen der absoluten Hierarchie auch für den Menschen zuzutreffen: geht unter der Bedingung permanent hoher Dichte der Rang verloren, gibt es keinen Ausgleich mehr64. Wahrscheinlich ist sogar die Frage berechtigt, ob nicht vor allem in den Agglomerationen der dicht besiedelten Industriestaaten die begrenzte Dichtetoleranz des Menschen ständig überfordert wird; ob nicht die aggressionshemmende relative Hierarchie schon lange unmöglich gemacht wird und ob nicht großstädtische Kriminalität und unterschiedlichste gewalttätige Ausbrüche 65 sowie hochgradige politische Fehlleistungen in der neueren Geschichte („Kampf um Lebensraum") auch Ausdruck eines durch zu hohe Dichte begünstigten, aggressionsfördernden, destruktiven inneren Milieus der Gesellschaft sind66 67. Es ist in diesem Zusammenhang auch zu bedenken, daß ζ. B. das Leben in hochgradig verdichteten Großstadtvierteln aufgrund der Überfüllung und des damit verbundenen Reizbombardements zur gesteigerten und oft unlustbetonten Erregung und Anspannung vieler Bewohner führt. Erschweren zudem hohe Belegungsdichte der Wohnungen und das Fehlen einer störungsfreien Privatsphäre die dringend benötigte Entspannung, dann darf es nicht verwundern, wenn Selbstisolation einerseits und Aggressivität andererseits oder andere Überforderungssymptome zunehmen. Es ist ein oft zu beobachtendes Phänomen, daß kinderreiche Familien, die aus relativ enger Wohnung endlich in das größere eigene Haus ziehen, mit der räumlichen
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Entspannung auch einen sozialen Entspannungseffekt erleben und ζ. B. die zuvor kleinlich streitbaren Kinder in nunmehr jeweils eigenen Zimmern reibungsfreier miteinander leben. Erfahrungen mit Frontsoldaten zeigen, daß in deren streßbetonter Situation zwischenmenschliche Spannungen (ζ. B. zwischen Soldaten und Offizieren) verringert werden können, wenn jeder Soldat über ein eigenes kleines privates Territorium verfügt, in dem er, geschützt vor jeglicher Störung durch Kameraden oder Offiziere, Augenblikke der Abgeschlossenheit und gesenkten Erregung genießen kann (vgl. A. MEHRABIAN, 1 9 7 8 , S . 1 0 8 ) .
Ein eigenes kleines Territorium, ein störungsfreier Eigenraum gewinnt vor allem dann an Bedeutung, wenn der Mensch in einer sehr reizstarken, konkurrenzbetonten, hektischen und spannungsreichen Umgebung leben muß, wie wir sie uns ja im Rahmen der Arbeitswelt und ganz allgemein mit einem erfolgsorientierten Lebensstil zur Genüge schaffen. Ausgleichend versuchen wir dann, unseren schonenden Eigenraum besonders rigoros zu sichern und gegen Störungen abzuschirmen, womit zugleich die Gefahr wächst, den Außenraum sich selbst zu überlassen - Rückzug ins Private, Desinteresse gegenüber dem öffentlichen. Wen stört die Rohheit auf der Straße, wenn sie nicht den eigenen Zaun überspringt? Vergegenwärtigt man sich die vorgestellten Hinweise zur territorialen Sensibilität des Menschen, dann wird vor allem eines klar: Der Mensch kann seiner räumlichen bzw. territorialen Situation nicht desinteressiert gegenüberstehen, denn sie setzt wesentliche Bedingungen seines Handelns. Für den einzelnen ist daher die Schaffung und Sicherung eines räumlichen Bereiches, über den er autonom verfügen kann und den er entsprechend gegen fremde Ansprüche abgrenzt, von besonderer Bedeutung. Ein solcher Eigenraum eröffnet ihm einen selbstbestimmten Verhaltensspielraum. Mit der Verfügungsgewalt über ein kleines oder größeres Territorium gewinnt bzw. behält die Person zugleich die Kontrolle über die sie umgebenden raumbezogenen Aktivitäten. Sicherung des Eigenraumes bedeutet damit auch Sicherung der Selbstbestimmung und Schutz vor Unterwerfung und existentieller Gefährdung. Dabei ist es nun relativ gleichgültig, um welche Raumkategorie es sich handelt; die Einhaltung eines Mindestabstandes beim Gespräch ζ. B. schützt vor unerwarteter Handgreiflichkeit bzw. gewährt Kontroll- und Reaktionszeit, schützt ggf. auch vor Infektion etc. Der Gartenzaun schützt vor unerwarteten Eindringlingen, bzw. signalisiert zumindest die Reichweite des Eigenterritoriums. Das eigene Zimmer gewährt eine gewisse Störungsfreiheit, auch vor Familienangehörigen. Die Beachtung der Privatsphäre, des kleineren oder größeren Eigenraumes ist für den einzelnen ebenso wichtig wie die Beachtung der Territorialgrenzen (Stadt, Land etc.) für eine Gemein-
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schaft, weil so Raum für mehr oder minder autonome bzw. selbstbestimmte Aktivitäten garantiert wird, weil so Handlungsspielraum gewährt wird, den der Mensch zur Selbstverwirklichung benötigt. Die Sicherung eines ausreichend großen räumlichen Individualbereiches und sei es zumindest in der Form eines eigenen genügend großen Wohnraumes, Hobbyraumes usw.68, ist eine wichtige Voraussetzung für eine störungsfreie persönliche Entwicklung. Diese, wenn man so will, „kleine Freiheit" des eigenen Territoriums, als eine Folge der raumabhängigen Hierarchie, besitzt personal wie gesellschaftlich eine wichtige Funktion69. Wird die Verfügbarkeit über den handlungsnotwendigen Raum - sei dieser ein kleines Privatzimmer, sei er Berührungsdistanz oder ein eigener Garten oder der Wirtschaftsraum einer Gemeinschaft - verwehrt, bedeutet dies Einschränkung oder gar Beseitigung der Handlungsfähigkeit. Dann sind entsprechende Auswirkungen zu erwarten, Aggression, Unlust, Schädigung etc. Wer räumlich eingeengt ist, ist niemals nur räumlich eingeengt. Diese Abhängigkeiten sind so elementar, daß sie wahrscheinlich im Laufe der evolutionären Entwicklung eine genetische Disposition zur territorialen Sensibilität entstehen ließen, die sich allerdings kultur- und personenspezifisch konkretisiert.
3.4 Weitere Beispiele der Beeinflussung durch räumliche Bedingungen Aus eigener Erfahrung weiß jeder, daß bestimmte räumliche Bedingungen unsere Empfindungen und unsere Verhaltensweisen beeinflussen können. Die Atmosphäre in einem belebten Kaufhaus ζ. B. ermuntert wohl kaum dazu, etwa in der Werkzeugabteilung ein literarisch anspruchsvolles Buch zu lesen, durchaus aber dazu, die vielen brauchbaren Dinge zu betrachten und dies oder das zu kaufen. Möchte man, daß Menschen im Rahmen einer Geselligkeit in anregende und zwanglose Unterhaltung kommen, dann empfiehlt es sich nicht, sie auf einem langen Sofa eng nebeneinander aufzureihen, sondern sie aufgelockert und einander gegenüber zu piazieren. Auch wird man die Gäste nicht grellem Licht aus Deckenstrahlern aussetzen. Eine dezentere Beleuchtung vermag statt dessen zur Lockerung und Begegnung beizutragen. Steht man sich in kleiner Gruppe inmitten eines riesigen, weiß getünchten Raumes gegenüber, wird wohl kaum eine gemütliche und anheimelnde Atmosphäre entstehen. Jeder Besitzer eines einschlägigen Etablissements dürfte wissen, daß ein gedämpftes rotes oder gelbliches Licht in einem nicht zu großen und nicht zu monotonen Raum der erwünschten Annähe-
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rung und Erregung förderlich ist, was allerdings nicht ausschließt, daß eine solche eindeutige Umgebung zugleich den Nichtinteressierten abstößt. Gleichwie, von den räumlichen Bedingungen, einschließlich der an sie gebundenen Reize (Licht, Farbe, Form, Ausstattung etc.), gehen stimulierende oder auch abstumpfende, erregende oder beruhigende Wirkungen aus. Werden die Menschen dagegen einer extrem reizarmen Umgebung ausgesetzt, so neigen sie ausgleichend zu Halluzinationen und werden sich, stärker als zuvor, innerer Körpervorgänge bewußt. Wie Versuche zeigen, führt allerdings ein andauernder Wahrnehmungsentzug schließlich zu beträchtlicher psychischer Zerrüttung (vgl. hierzu A. MEHRABIAN, 1978, S. 169). Totalitäre Gesellschaften können sich oft der Versuchung nicht entziehen, Häftlinge auf diesem Wege umzuformen bzw. für bestimmte Aussagen reif zu machen. Nicht jedem gelingt es, unter der Strapaze längerer Isolierhaft bzw. des absoluten Reizentzuges eine ausgleichende und letztlich die Gesundheit schützende Phantasiewelt aufzubauen und so, wie etwa der Schriftsteller W. BUKOWSKI, halluzinierend „in alten Burgen, aus Pokalen trinkend Freunde zu bewirten" und nach jedem Verhör wieder in die Isolierzelle zu „ununterbrochenen Gesprächen am Kamin" und zu „Freunden" zurückzukehren. „Die Burgen," glaubt W. BUKOWSKI, „haben mir damals das Leben gerettet." Für unsere Überlegungen ist wichtig, daß der Mensch, um in einer normalen Verfassung zu bleiben, einer Umgebung bedarf, die zumindest ein minimales Reizvolumen enthält. Auch insofern, also die Normalität sichernd, beeinflußt uns die Umgebung. In der Arbeitsmedizin weiß man, daß hochgradige Monotonie der Tätigkeit (also Reizarmut, abstumpfende Gleichartigkeit), wenn sie zugleich mit personaler Isolation verbunden ist (keinen Kontakt, keine Gespräche mit anderen) und zudem unter Leistungsdruck (Akkord etc.) abläuft, Aversion gegen die Arbeit und den Lebensraum Betrieb provoziert, die oft zur Flucht in die Krankheit treibt. Umgekehrt veranlaßt eine zu starke Reizmenge, daß wir uns dagegen zu schützen suchen. Schaffen wir nicht bewußt mit unseren Heilbädern, Sanatorien etc. lebensräumliche Bedingungen, die vor Reizüberflutung schützen und nur wohldosierte, weniger stark erregende und belastende Reizung zulassen, wissend, daß zu reizstarke Umgebungen auf die Dauer als gesundheitsschädigende Stressoren wirken? Bestimmte Kombinationen räumlicher Elemente scheinen gesteigerten Entspannungs- und Erholungswert zu besitzen (Waldränder, Uferbereiche, Plätze mit Fernsicht etc.). A. MÜNK (1972) spricht davon, daß wir eine bestimmte Menge an „Landschafts-Stimuli" benötigen, um in psychischer und physischer Balance zu bleiben70. Bedenkt man, daß durch die lebensräumlichen Bedingungen, durch die
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raumspezifische Ausstattung ja vielfach erst jene dinglichen und distanziellen Voraussetzungen und Anreize bereitgestellt werden, die uns zu bestimmten Handlungen anregen, wird die verhaltensbeeinflussende Wirkung des jeweiligen Lebensraumes leicht einsehbar. Ja, läßt sich nicht sogar behaupten, daß der größte Teil unseres Verhaltens durch die von unserer Umgebung ausgehenden Reize ausgelöst wird (so A. MEHRABIAN, 1 9 7 8 , S. 2 1 9 ) ? Wenn ein Garten am Haus vorhanden ist, liegt es nahe, der latenten „Aufforderung", diesen zu bearbeiten, nachzugeben. Lebt man in einer Siedlung, die unzumutbar weit vom nächsten Gemäldemuseum oder der nächsten Konzerthalle entfernt ist, wird man wahrscheinlich nur selten die dortigen Bilderausstellungen und Konzerte besuchen. Lebensraum schafft mit seiner jeweiligen Ausstattung immer auch jeweilige Gelegenheit, und das regt möglicherweise zu entsprechendem Verhalten an. Es kann heute ζ. B. als gesichert angesehen werden, daß bestimmte bauliche Strukturen kriminellen Verhaltensweisen in hohem Maße förderlich sind. Untersuchungen71 zeigen, daß ζ. B. in großen turmartigen Wohnhochhäusern zunehmend mit der Stockwerkzahl, der Flurlänge und der Bewohnerzahl verschiedene Formen der Kriminalität weitaus zahlreicher sind als etwa in Mehrfamilienhäusern mit 3 und weniger Stockwerken. Zugleich ist die Isolation und der Rückzug in die eigene Wohnung bei den Bewohnern ausgeprägter. In dem Maße, wie es gelingt, durch bauliche Gestaltung die Bewohner wieder stärker zu einem Verantwortungsgefiihl gegenüber ihrer Wohnumwelt zu bewegen, läßt sich auch die Kriminalität eindämmen. So können ζ. B. durch gemeinsame Vorgärten, Spielplätze oder Innenhöfe, durch Torwege etc. „halbprivate" Räume geschaffen werden, die von den einander bekannten Anwohnern gemeinsam genutzt werden und gemeinsamer Aufmerksamkeit unterliegen. Auf diese Weise lassen sich „Pufferzonen" bilden, die auf kriminelle Intentionen hemmend wirken. Ungeachtet dessen eröffnen solche gemeinsamen Höfe auch zahlreiche Kontaktmöglichkeiten, erleichtern Begegnung und Bekanntschaft. Ist dagegen ein unmittelbarer Übergang von unkontrollierten öffentlichen Straßen bzw. Grünanlagen in die Hochhäuser, die Fahrstühle und endlosen Flure, in denen die Bewohner einander nicht kennen, möglich, so wirkt dies auf Deliktanfällige ermunternd, ist doch die Flucht ebenso leicht, wie die Gefahr, erkannt zu werden, gering. Dagegen gehen die Verbrechensziffern in Gebäuden, die nur noch maximal 6 Wohnungen an einem Flur haben, der von den Bewohnern gewissermaßen als gemeinsames Territorium und Eigentum angesehen wird, drastisch zurück72. Es wäre falsch zu behaupten, daß lebensräumliche Bedingungen Kriminalität erzeugen oder unterdrücken, eine solche simple Kausalität besteht sicher nicht; aber von der Raumstruktur kann durchaus ein gewisser Anreiz zu kriminellem Verhalten, das zuvor keineswegs geplant war, ausge-
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hen. Auch bezüglich der räumlichen Voraussetzungen, gilt, „Gelegenheit macht Diebe". So wie bestimmten Umgebungen ein gewisser Aufforderungscharakter anhaftet, der entsprechend Anfällige zu kriminellen Verhaltensweisen verführt, so wie andere Raumstrukturen und -ausstattungen zu gesteigertem Interesse, zum Vergnügen etc. anregen, so vermögen andererseits zu wenig anregende oder monotone Umgebungen aktivitäts- oder gar entwicklungshemmend zu wirken. E. W. COUNT (1970, S. 125) verweist ζ. Β. darauf, daß räum- bzw. umweltbedingte Entbehrungen in der frühen Kindheit bleibende Wirkung auf die intellektuellen Fähigkeiten haben können. Eine wenig anregende Umgebung, die spezifische externe Reize nicht vermittelt, verhindert eine volle Ausschöpfung des genetischen Potentials eines Kindes. Zwar bedeutet das nicht unbedingt Schädigung, aber zumindest Benachteiligung der Betroffenen. Die Forschungen von J . PIAGET (U. a. 1974) haben uns verdeutlicht, von welch großer Bedeutung die räumlichen Bedingungen für die geistige Entwicklung des Kindes sind; im unmittelbaren Kontakt mit den Dingen im Raum entwickeln sich im Kind die ersten „Erkenntnisse" (vgl. Kap. 1.1.1). In einer 1977 vorgelegten Untersuchung konnten E. GEHMACHER und A. KAUFMANN aufgrund empirischer Untersuchungen an Wiener Erwachsenen die psychopathogene Wirkung schlechter Wohnverhältnisse der frühen Kindheit nachweisen. Es wurde signifikant belegt, daß sich, unabhängig von allen anderen neurotisierenden Faktoren, die Wahrscheinlichkeit, als Erwachsener neurotischen Symptomen zu unterliegen, drastisch erhöht, wenn man in der frühen Kindheit (bis 6 Jahre) unter qualitativ schlechten Wohnbedingungen aufgewachsen ist. E. SCHMIDT-KOLMER (1971, S. 152) zeigte auf, daß Vollheimkinder infolge eines stärker durch Monotonie, Leerlaufzeiten, mangelnde Anregungen, unspezifischere Zuwendung gekennzeichneten Lebensmilieus in der Entwicklung der Sprache und des Denkens beträchtlich zurückbleiben - ζ. B. gegenüber Kindergartenkindern bis zum 6. Lebensjahr um ca. 2 Jahre; zweifellos auch Folge eines wenig förderlichen Lebensraumes. So werden die betroffenen Kinder nicht ausreichend vorbereitet in den schulischen Unterricht einbezogen. Es ist allerdings oft schwer zu entscheiden, ob und inwieweit die Umweltwirkungen durch die räumliche Lebenssituation oder durch die damit meist verbundenen Begleitumstände verursacht werden. D. M. FANNING (1967) und unabhängig davon J. F . B. H I R D (1966) belegen ζ. B. die gegenüber Bewohnern von Eigenheimen bzw. Reihenhäusern deutlich erhöhte Morbidität der Etagenbewohner aller Altersgruppen, be-
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sonders aber der Kinder unter 10 Jahren, gegenüber Erkrankungen der Atmungsorgane; in gleicher Weise unterscheidet sich die Anfälligkeit gegenüber psychoneurotischen und physischen Störungen deutlich. Die wesentliche Ursache dürfte darin liegen, daß mit zunehmender Etagenhöhe die Wohnung, vor allem von Kindern, seltener verlassen wird (u. a. U. HERLYN, 1970). Der erschwerte Zugang zur Außenwelt führt zu verminderter physischer Aktivität und Abhärtung. Aber auch die starke Isolierung, der Mangel an Kontakt und die verringerte Nachbarschaftshilfe können als mitverursachend für die vor allem bei weiblichen Bewohnern von Etagenwohnungen beobachtete höhere Anfälligkeit gegenüber psychoneurotischen Störungen gelten (D. OETER, 1 9 7 1 , S. 1 0 3 ) . So beeinträchtigen die räumlichen Lebensbedingungen durch Einwirkung auf das Verhalten die Gesundheit. H . STROTZKA et. al. ( 1 9 7 2 ) 7 3 weisen auf die besonders hohe psychische Morbidität (vor allem Schizophrenie) in alten abgewohnten Zentralgebieten Wiens hin, wobei allerdings offen bleiben muß, ob dieses Phänomen mehr durch Segregation oder durch die Wohnumwelt verursacht wird; immerhin konnte festgestellt werden, daß die Neurosebelastung in Kleinstwohnungen am größten war. Andere Untersuchungen, etwa an britischen Soldaten und deren Familien zeigen, daß Personen, die in Einfamilienhäusern wohnen, beträchtlich weniger neurotisch sind als Bewohner dicht besetzter Hochhäuser. A . MEHRABIAN (1978, S. 110) schreibt: „Die Familien in Hochhäusern hatten 57% mehr Neurosen. Außerdem waren diejenigen, die die oberen Wohnungen von Hochhäusern bewohnten, neurotischer, weniger zufrieden und hatten weniger Freunde. Die Leute, die in Einzelhäusern wohnten, hatten doppelt so viel Freunde und fühlten sich weitaus weniger unzufrieden und entfremdet. Diesen Familien wurde ihr Wohnraum vollständig nach dem Zufall zugewiesen, was die Möglichkeit von Faktoren der Selbstselektion ausschließt - also daß sich zum Beispiel Neurotiker für Hochhäuser entschieden hätten. Statt dessen müssen wir folgern, daß das typische Hochhaus als Wohnumwelt eine katastrophale Auswirkung auf das Wohlbefinden seiner Bewohner hat."
O . R. GALLE et. al. ( 1 9 7 3 ) zeigen, daß bei zu hoher interpersoneller Wohndichte mehr Menschen die schützende Selbstisolation suchen. Mit diesem Rückzug vor dem menschlichen Kontakt deutet sich die höhere Anfälligkeit gegenüber psychischen Verhaltensstörungen unter solchen räumlichen Existenzbedingungen an. Es ist bekannt, daß Veränderungen der Lebensumstände als Stressoren wirken. Es besteht sehr wahrscheinlich zwischen dem Ausmaß der Veränderungen, die im Leben einer Person eintreten und späteren Krankheiten und Leiden ein Zusammenhang. Zu starker Situationswandel kann geradezu zu physiologischen Funktionsstörungen oder zu allgemeiner Erschöpfung führen. Der Ubergang etwa von einer stark monotonen und reglementierten
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Umwelt in die Komplexität einer reizstarken Umgebung stellt, wie Untersuchungen an amerikanischen Ex-Kriegsgefangenen zeigen (vgl. A. MEHRABIAN 1978, S. 156), eine beträchtliche und gefährdende Belastung dar. Nervenärzten ist die sog. Umzugsneurose ein vertrautes Phänomen. Der Wechsel der lebensräumlichen Bedingungen kann also beträchtliche Auswirkungen auf Befinden und Verhalten haben, steht doch der Mensch mit seiner Umgebung in engster Wechselwirkung. Wie sollte er daher von der Veränderung der Bedingungen nicht betroffen werden. Selbst ein regelmäßiger und kurzfristiger Wechsel zwischen verschiedenen Lebensräumen kann negative Auswirkungen haben und dies vor allem bei Kindern. Untersuchungen von T. R. LEE an englischen Fahrschülern deckten auf, daß der Wechsel zwischen 2 Bezugsräumen, nämlich dem Zuhause und der Schule sowie die tägliche Durchquerung des dazwischenliegenden „Niemandslandes", die Anpassungsfähigkeit an die Situation in der Schule mindern. Die für Fahrschüler ungünstige räumliche Situation hatte also bezüglich des Verhaltens in der Schule negative Auswirkung. Zugleich zeigten die Kinder mit enger räumlicher Verbindung von Schule und Elternhaus eine größere und erfolgreichere Anpassungsfähigkeit an die Situation in der Schule, da deren Bezugsräume weniger stark auseinanderfielen. Es könnten zahlreiche weitere Beispiele genannt werden, die eine Beeinflussung des menschlichen Verhaltens durch räumliche Bedingungen belegen74. Auch kann man sehr verschiedene Verhaltensphänomene als Auswirkungen der lebensräumlichen Voraussetzungen interpretieren, unter dem Risiko, sie damit möglicherweise nur ungenügend zu charakterisieren. So verweist ζ. B . der Anthropologe J. WHITING ( 1 9 6 4 ) auf die in vielen tropischen Gebieten verbreitete Verhaltensweise, die Säuglinge spät zu entwöhnen und für relativ lange Zeit nach der Geburt über die Mutter sexuelle Tabus zu verhängen und deutet dies als umweltabhängige Anpassung. Denn angesichts der meist proteinarmen Ernährung in diesen Gebieten können Kleinkinder durch langes Stillen vor Mangelkrankheiten bewahrt werden. A. ALLAND (1970, S. 189) vermutet, daß ζ. B. hygienisch problematische Ernährungsgewohnheiten in Abhängigkeit von den möglichen Raum- bzw. Bodennutzungen unterschiedlich beeinflußt werden: „In Gebieten, wo Viehwirtschaft schwierig ist, wo die Erträge gering sind und wo Haustiere nicht gemolken werden, dienen natürlich eingegangene Tiere der Ernährung. Umgekehrt: In Gebieten, wo Haustiere oder Proteinquellen reichlich sind oder wo Milch als Proteinquelle ausgenutzt wird, meidet man Kadaver." Es wird dann allerdings immer schwieriger, hinter solchen Anpassungen des Verhaltens Wirkungen des Raumes zu sehen, statt ganz allgemein Versuche, den Bedingungen gemäß zu leben. Es kann in unserem Zusammenhang darauf verzichtet werden, auf Aus-
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Wirkungen einzelner raumbezogener Komponenten einzugehen, wie etwa auf die Störungen durch Lärm, durch ungünstige stadtklimatische Verhältnisse75 oder auf die Schädigungen durch bestimmte Arbeitsprozesse76, auf Wirkungen der Farben, der Musik, der Formen etc. Sie sind als partielle Raumphänomene gesonderter Wirkungsanalyse zugänglich. Für unsere Überlegungen ist vor allem die Einsicht wichtig, daß es zwar zahlreiche Beeinflussungen und Stimulationen unseres Verhaltens und Befindens durch Bedingungen gibt, sich daraus aber kein Raum-Verhalten-Determinismus ableiten läßt. Zwar gelten ζ. B. bestimmte räumliche oder „landschaftliche" Bedingungen geradezu stereotyp als wohltuend, erholsam, anregend o. ä., dennoch aber ist die Art ihrer Wirkung in hohem Maße personenspezifisch77 bzw. kulturabhängig verschieden. Die gewiß nicht angenehme und wenig anregende Situation der Einzelhaft treibt den einen in die Apathie, den anderen zur schriftstellerischen Aktivität. Zwar mögen ähnlich strukturierte Persönlichkeiten auf spezifische Stimulationen ähnlich reagieren, auch sind in bestimmten Kulturen bestimmte und konforme raumbezogene Verhaltensweisen üblich und anerzogen78. So kann bisweilen der Eindruck entstehen, räumliche Bedingungen würden regelhaft festliegende Reaktionen auslösen. Dies mag für wenige die Dichte und Nähe betreffende bzw. unmittelbar physiologisch relevante Reaktionsweisen sowie für genetisch bedingte Verhaltenstendenzen gelten (siehe Kap. 4), kaum aber für die Vielzahl der übrigen raumbeeinflußten Verhaltensweisen. Vielmehr zeigt eine genaue und vergleichende Betrachtung, daß die Beeinflussung des Verhaltens und Befindens durch die räumlichen Bedingungen kultur- und personenbedingt je nach Einstellungen, der Erziehung, der Konstitution, den Sitten, der verfügbaren Technologie79 etc., innerhalb einer beträchtlichen Bandbreite individuell und kollektiv streut. Dementsprechend können auch nur schwer allgemeingültige, verbindliche Regeln herausgearbeitet werden. Die Annahme, daß regelhafte Beeinflussungen des Verhaltens und Befindens durch die räumlichen Gegebenheiten existieren, kann vorerst bestenfalls im Sinne einer relativen kultur- oder personenspezifischen Regelhaftigkeit sowie einer partiellen genetisch bedingten Regelhaftigkeit aufrechterhalten werden. Im weiteren der Darstellung wird verdeutlicht, daß die personenspezifische Bewertung der lebensräumlichen Realität im Rahmen eines Prozesses der Selbstregulation zwischen Mensch und Raum eine solche Relativierung erzwingt (siehe Kap. 7). Ungeachtet dessen wird der Mensch in seinem Verhalten außerordentlich stark durch die räumlichen Verhältnisse beeinflußt. Der Antwort auf die Frage nach dem Warum bringt uns eine von T. R. LEE (1973, S. 46 f.)
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vorgestellte Theorie etwas näher, die nachfolgend vereinfachend erläutert wird.
3.5 Zwangsläufige, aber relativierte Beeinflussung Der Mensch verarbeitet bezüglich seiner Umwelt ständig zwei Erfahrungen, die einerseits den „Wert" der Objekte und andererseits „ihre Lage im Raum" betreffen. Die verschiedenen Objekte der Wirklichkeit sind durch den Raum, also durch ein Nichtobjekt, voneinander getrennt. Dieser Raum, verstanden als Intervall zwischen den Objekten, ist von so grundsätzlicher Bedeutung „für jegliche Existenz in der Umwelt, daß wir notwendigerweise zusätzlich zu den Informationen über das „Sosein" von Objekten auch noch Informationen über ihr „Wosein" in unser Begriffssystem einordnen und speichern" (T. R. LEE, 1973, S. 47). Diese ständigen Informationen aggregieren sich im Menschen zu „einzigartigen Informationspaketen" über die verschiedenen Bereiche der Umwelt. Es bilden sich sogenannte „sozial-räumliche Schemata", also mit Vorstellungen von der örtlichkeit verknüpfte, geistig-bildhafte Konstruktionen heraus. Jede neue Wahrnehmung wird beeinflussend hinzugefügt, so daß, je nach den Erfahrungen, im einzelnen Menschen jeweils eine einzigartige Darstellung der Umwelt im Gehirn erfolgt. Unser Verhalten, unsere Reaktion auf Umweltreize, wird sehr stark von derartigen Schemata, oder sagen wir, erworbenen Bildersystemen, Vorstellungen, räumlichen Modellen der bisher erfahrenen Wirklichkeit bestimmt. Unsere Reaktion folgt demnach nicht in unmittelbarer, direkter regelhafter Abhängigkeit vom reizauslösenden Objekt, sondern sie setzt erst nach Konfrontation mit den persönlichen Schemata und Einstellungen als Ergebnis einer kritischen Verarbeitung des Menschen ein. Dank solcher Schemata sind wir ζ. B. in der Lage, raumbezogene Handlungen sinnvoll zu koordinieren, indem wir in unserer Vorstellung eine Art subjektive Gewinn-VerlustRechnung durchführen. Wir nehmen beispielsweise einen schweren Gegenstand erst auf dem Rückweg mit, weil wir ja „dort" sowieso noch einmal vorbeikommen. Die sozial-räumlichen Schemata verdeutlichen uns, ob eine Handlung auch räumlich realisierbar ist, da wir sie anhand unserer inneren Raumvorstellungen80 durchspielen. Mit ihrer Hilfe erlangen wir jene außerordentliche Fähigkeit, uns unter unterschiedlichsten räumlichen Verhältnissen zu orientieren und schnell und sicher zu bewegen. Da das Repertoir der sozial-räumlichen Schemata je nach Erfahrungshintergrund im einzelnen Menschen wie auch zwischen den Kulturen unterschiedlich ausgebildet ist, werden entsprechende Verhaltensabweichungen
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bzw. unterschiedliche Reaktionen auf räumliche Bedingungen auftreten. Erst wenn alle Menschen die gleichen sozial-räumlichen Schemata besäßen - eine utopische Erwartung - könnte ihr raumbezogenes Verhalten gleich oder ähnlich sein. Aber auch dann blieben Zweifel, denn das tatsächliche Verhalten im Raum wird nicht nur von der Interpretation der Wirklichkeit durch die geltenden Schemata bestimmt, sondern durch Bewertungsprozesse im Menschen, die von zahlreichen Faktoren beeinflußt werden (vgl. Kap. 7, Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie). Müssen die Verhaltensweisen von Personen mit verschiedenen sozialräumlichen Schemata auf dem gleichen Territorium realisiert werden, dann sind Konflikte nicht ausgeschlossen, weil jeweils ein anderes Verständnis, eine andere Interpretation und Wertung auch der räumlichen Fakten vorliegt. Der Raum kann dann nicht allen Anforderungen gerecht werden. Zwar sind die Schemata neuer Erfahrung zugänglich und durchaus veränderbar; ist aber der zur Anpassung an räumliche Realitäten erforderliche Veränderungsprozeß zu groß, entstehen im einzelnen Spannungen und Verunsicherung. Hat sich ζ. B. während des Heranwachsens eines Menschen das sozial-räumliche Muster „Einfamilienhaus mit weitläufigem Garten" herausgebildet, so wird das spätere Umziehen in ein hochgradig verdichtetes Wohngebiet mit Hochhäusern sehr wahrscheinlich stärkere Anpassungsschwierigkeiten verursachen, als wenn die Diskrepanz zwischen erworbenem sozial-räumlichen Schema und vorgefundener neuer Realität weniger groß wäre. Das Verlassen des heimatlichen Raumes mit seinen vertrauten Gebäuden, Nachbarschaften, mit seinem „kulturlandschaftlichen" Hintergrund usw. ist auch deswegen häufig nicht leicht, weil damit ein bildlich verankertes „Schema", ein vertrauter „innerer Orientierungsrahmen", aufgegeben wird81. Sind Schemata verankert, die ein großes Individualterritorium enthalten, wird das Verhalten und Befinden bei Verweigerung dieses Territoriums entsprechend beeinflußt. Es kann also keineswegs eine beliebige Anpassungsfähigkeit des Menschen an räumliche Bedingungen, etwa durch ständigen Umbau der sozialräumlichen Schemata, unterstellt werden. Wir sind über die vermittelnde Variable unseres sozial-räumlichen Vorstellungsrahmens in besonderer Weise raumabhängig. Diese Schemata beeinflussen unsere Bewertung räumlicher Bedingungen und unsere raumbezogene Anpassungsfähigkeit. Jetzt wird auch klar, warum die beobachtete, wenn auch begrenzte, Regelhaftigkeit des raumbedingten Verhaltens relativiert werden muß, relativiert in Abhängigkeit u. a. von den entstandenen sozial-räumlichen Schemata. Daher beobachten wir nur eine relative Territorialität sowohl bei Gruppen wie auch beim einzelnen und daher nur eine relativ regelhafte Beeinflussung des Verhaltens durch räumliche Bedingungen.
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Dennoch aber stellen wir mitunter eine gewisse Regelhaftigkeit des raumbezogenen Verhaltens fest. Wie ist das zu erklären? Es könnte unterstellt werden, daß dann, wenn bestimmte Schemata mit bestimmten Umweltbedingungen konfrontiert werden, typische bzw. regelhafte Verhaltensweisen auftreten, gewissermaßen vorprogrammierte Abläufe einsetzen82. Regelhaftigkeit des Verhaltens wäre also an ein bestimmtes Verhältnis spezifischer Schemata und konkreter Umweltbedingungen gebunden. Haben sich gleiche Schemata herausgebildet, wird, angesichts bestimmter Umweltbedingungen, auch das Verhalten gleich oder ähnlich beeinflußt werden - vorausgesetzt, die sonstigen Bedingungen sind gleich. M t Hilfe der Vorstellung von den sozial-räumlichen Schemata lassen sich sowohl die kulturbedingten und individuellen Abweichungen in der Beeinflussung des Verhaltens durch die räumlichen Bedingungen wie auch regelhafte Wirkungen annähernd erklären. LEES Theorie erscheint insofern als brauchbar. Es läßt sich weiter vermuten, daß die Quasi-Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens bei gleichen Schemata-Umwelt-Verhältnissen genetisch verankert sind, daß dagegen die Herausbildung bestimmter Schemata kulturabhängig, also durch Lernen, Erfahrung, Erziehung usw. erfolgt. Es deutet sich so eine Synthese zwischen den Auffassungen der Behavioristen und Ethologen an. Folgende Hypothese könnte aufgestellt werden:' Die Beeinflussung des menschlichen Verhaltens durch räumliche Bedingungen erfolgt indirekt und dualistisch, also gelenkt durch vom Menschen selbst aufgebaute Schemata, Einstellungen und sinnbezogene Wertungen einerseits und durch genetisch fixierte Grundtendenzen des raumbezogenen Verhaltens andererseits. Dabei bilden die kulturbedingten Schemata und Willensakte, außauend auf dem Substrat der phylogenetisch vorprogrammierten Grundtendenzen des raumbezogenen Verhaltens, das tatsächliche Verhalten heraus. Wird auch das menschliche Verhalten geradezu zwangsläufig durch räumliche Bedingungen beeinflußt, wirkt auch der konkrete „gelebte" Raum in vielfältiger Weise auf uns ein, so aber doch nicht in gesetzmäßig festgelegter Weise, denn die kultur- und personenspezifischen Schemata, Einstellungen etc. und daraus erwachsenden Bewertungen modifizieren die genetisch vorgegebenen Tendenzen des raumbezogenen Verhaltens und relativieren damit unser Verhalten im Raum. Es wird zu zeigen sein, daß das raumbezogene Verhalten über einen höchst komplexen Bewertungsprozeß gesteuert wird (Kap. 7 . 5 ) , für dessen Erklärung sich LEES Konzept der sozial-räumlichen Schemata als ungenügend erweist; auch ist unsere Unterstellung genetischer Verhaltenstendenzen noch zu undifferenziert, um Erklärungswert zu besitzen.
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Wir haben bereits an anderer Stelle aufgezeigt (Kap. 2.2.2), daß wir nicht von der Existenz eines detaillierten Kataloges angeborener raumbezogener Bedürfnisse ausgehen können. Welcher Art aber nun sind die genetisch vorgegebenen Bindungen bzw. Grundmuster und Tendenzen des raumbezogenen Verhaltens, deren Beachtung beim risikoreichen Spiel der Formung des Lebensraumes, die Schädigung des Menschen vermeiden kann?
4. Genetisch bedingte Tendenzen des raumbezogenen Verhaltens
Vor allem die Ergebnisse der vergleichenden Verhaltensforschung lassen es als sehr wahrscheinlich erscheinen, daß neben der kulturabhängigen Variabilität des menschlichen Verhaltens phylogenetisch vorprogrammierte Grundzüge des Verhaltens (auch des raumbezogenen Verhaltens) im Menschen angelegt sind. Etwas unbeholfen versuchen wir uns diese Disposition im täglichen Sprachgebrauch etwa als „Verlangen" nach Abwechslung oder nach Ruhe, als „Drang" zur Aktivität, als „Bedürfnis" ζ. B. nach Sicherheit oder auch als „Recht" ζ. B. auf ungestörte Privatsphäre oder auf Bewegungsfreiheit etc. in unser Bewußtsein zu rufen. In Wirklichkeit handelt es sich weniger um verschiedene aufzählbare „Bedürfnisse" oder „Verlangen", vielmehr dürften auch beim Menschen bestimmte Verhaltenstendenzen in Bindung an das Biogramm genetisch vorfixiert sein und gewissermaßen als Instinktreste unser Verhalten (auch das raumbezogene) beeinflussen. Man kann ζ. B. davon ausgehen, daß dem Menschen eine Art Aktivitätsdrang geradezu angeboren ist. Wir sind auf Aktivität, auf Handlung hin konstruiert. Ein heranwachsendes Kleinkind muß nicht bewußt beschließen, nunmehr aktiv zu werden; aus sich selbst heraus sucht es den Kontakt mit der Umgebung. Raumbezogene Aktivität muß nicht anerzogen werden, was nicht ausschließt, daß sie stimuliert werden kann. Welcher Art sind nun solche genetisch verwurzelten Verhaltensdispositionen? Werden sie in uns wirksam als mehr oder minder unscharfe Verhaltenstendenzen oder äußern sie sich in Form typischer Reaktionen auf spezifische lebensräumliche Bedingungen bzw. als festliegende charakteristische raumbezogene Verhaltensweisen? Gehen wir ζ. B. davon aus, daß im Menschen ein Verlangen nach wechselnder Stimulation und neuartiger Erfahrung, also eine Neigung zur Reizsuche, angelegt ist und unterstellen wir ferner, wie H. J. und S. EYSENCK sowie M. ZUCKERMAN behaupten, daß dieses sensation seeking als Persönlichkeitsmerkmal zu 50 bis 65% genetisch bestimmt ist, so ergibt sich daraus doch keineswegs, daß der Mensch gewissermaßen gesetzmäßig einem festgelegten konkreten Reizsuche-Verhalten folgt. Viel wahrscheinlicher ist, daß jeder Mensch ein für ihn charakteristisches optimales Stimulations- und Erregungsniveau ausbildet (M. ZUCKERMAN, 1974), das er anzustreben sucht und auf dem er Wohlbefinden und größte Leistungsfähigkeit erreicht. Während
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nun der eine durch starke Reize in optimaler Weise aktiviert wird, muß sich ein anderer gegen diese Reizüberflutung abschirmen und erfährt nur durch personenspezifische und wohldosierte Stimulation bestmögliche Anregung. Das schließt nicht aus, daß auch der starke Reizsucher einer Überdosis ausgesetzt sein kann, die ihn dann stört und hemmt. Das optimale Stimulationsniveau bzw. die dadurch bewirkte erfolgreichste Aktivierung (ζ. B. des Gehirns bzw. der Lernfähigkeit, der Kreativität etc.) dürfte also je nach Person und Situation recht unterschiedlich ausgebildet und strukturiert sein. So werden die verschiedenen Menschen nicht haargenau denselben Reizen, denselben Spannungen nachgehen, sondern recht verschiedene Formen der Anregung und Erregung suchen. A. MEHRABIAN (1976) unterscheidet als weitestgehend genetisch bedingte Persönlichkeitstypen sogenannte Abschirmer von sogenannten Nichtabschirmern. Während nun der „Nichtabschirmer" den Umweltreizen und deren verwirrender Vielfalt weit geöffnet ist und damit auch stärker erregt und belastet wird und daher ausgleichend öfter zu irgendeinem reizmeidenden und entlastenden Verhalten tendiert, bedarf der durch gleiches Reizvolumen, durch die gleiche Reizsituation weniger beanspruchte „Abschirmer" dessen nicht, sondern tendiert möglicherweise zur weiteren maßvollen Stimulation. Verhaltensgenetische Dispositionen führen also zu sehr verschiedenem konkreten Verhalten. Daher kann man bestenfalls von einer genetisch vorgegebenen Grundtendenz des Verhaltens, etwa im Sinne eines Reizsuche-Verhaltens (sensation seeking) oder eines Abschirmungsverhaltens sprechen, die je nach Person und Situation ihre Verwirklichung auf vielerlei Wegen und in großer Bandbreite findet, und die zudem selbst bei der gleichen Person beträchtlich variieren kann. Was die eine Person optimal und wohltuend stimuliert, langweilt oder „entnervt" eine andere. Aus dieser Relativierung darf allerdings nicht abgeleitet werden, daß eine solche nach variabler Anregung suchende generelle Verhaltenstendenz eigentlich gar nicht existiert. Sie verwirklicht sich lediglich auf personenspezifisch und kulturspezifisch unterschiedlichem Niveau. Werden dagegen Anregungen grundsätzlich vorenthalten, dann wird der ganzen differenzierten Wahrnehmungs- und Erkenntnisstruktur der Menschen der Bezug genommen; Abstumpfung, Entwicklungsstörung, Schädigung werden die Folgen sein. Zweifellos wäre es falsch zu sagen, der Mensch benötigt genau diese und jene konkreten Stimulationen und Anregungen zu seinem Wohlbefinden, das mag bestenfalls für eine einzelne Person und provisorisch zu erfassen sein. Die genetisch fixierten Verhaltenstendenzen sind lediglich als weitgefaßte Bereiche einer Verhaltensorientierung zu verstehen. Weitere Beispiele sollen den Charakter der biologisch verankerten Verhaltenstendenzen verdeutlichen:
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Bei höheren Säugetieren, Vögeln und natürlich besonders beim Menschen läßt sich ein raumbezogenes Neugierverhalten beobachten83. Nach Konfrontation mit einer neuen Umgebung kommt es zu einer lockeren, geradezu spielerischen Erkundung, zu einem Ausprobieren dieses neuen Raumes, ohne daß dieser Exploration immittelbar eine sinngebende Endhandlung folgt. Die Erkundung erfolgt gewissermaßen unter der stillen Annahme: wer weiß, wie sich das hier spielerisch Erfahrene und Herausgefundene möglicherweise noch einmal verwenden läßt. Erst wenn es die Situation erfordert, wird das erworbene Wissen zweckgebunden und nunmehr zielgerichtet eingesetzt84. Nun ließe sich das explorative Verhalten als Appetenz eines im Menschen verankerten Triebes oder vorhandenen Bedürfnisses nach Erkundung der Umwelt und nach Interaktion mit ihr deuten, würde damit aber wohl nicht angemessen beurteilt. A. GEHLEN kennzeichnet das Wesen des Explorierens als „sensomotorische mit Seh- und Tastempfindungen vereinigte Bewegungsvollzüge", die den Reiz zur Fortsetzung selbst erzeugen, die begierdelos geschehen und keinen unmittelbaren Wert der Triebbefriedigung (Appetenz) haben85. Durch dieses „sachlich explorierende Neugierverhalten" (K. LORENZ, 1973, S. 198), aus dieser spielerischen Prüfung differenzierter und vor allem räumlicher Sachverhalte akkumuliert sich ein frei verfügbares Wissen, das einen großen Spielraum für denkbare Handlungen eröffnet. Also gerade dadurch, daß unser Neugier- und Erkundungsverhalten kein Appetenzverhalten mit dem Ziel, eine bestimmte Reizsituation, eine triebbefriedigende Endhandlung herbeizuführen, ist, sondern eine allgemeine Aktivität zum Wissenserwerb, zur vorsorgenden Anhäufung von Informationen und Fertigkeiten darstellt, wird jene Eigenschaft von Neugierwesen ermöglicht, die A. GEHLEN (1966) als „Weltoffenheit" kennzeichnet und der wir die hohe Anpassungsfähigkeit des Menschen an wechselnde Bedingungen verdanken, wie sie mit einer stärkeren „Lenkung" durch den auslösenden Mechanismus einer starren Bedürfnisstruktur nicht erreicht würde86. Eng mit dem Explorieren ist das Sich-Orientieren verbunden. Beide stellen vorsorglich jene Informationen bereit, die sich dann für späteres zielgerichtetes und rasches Handeln als so hilfreich erweisen können. Wichtig ist, daß der Mensch wahrscheinlich phylogenetisch so programmiert ist (K. LORENZ, 1973, S. 199), daß sein Verhalten weniger durch einen Auslösemechanismus zur Befriedigung eines bestimmten Triebes oder Bedürfnisses (etwa nach Erkundung) und die so eingeleitete zielgerichtete Endhandlung bestimmt wird als vielmehr durch eine Prädisposition zum zunächst zweckfreien Explorieren und Orientieren, zum Lernen87 und Erforschen, zur geistigen Erkundung und zum Ausprobieren sowie zum Spielen88 und ganz allgemein nach neuer Erfahrung.
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Wie stark dieses Neugierverhalten sein kann, läßt sich an jedem aufgeweckten Kind beobachten; Stürze und Beulen können nicht davon abhalten, immer wieder von neuem zu erkunden, zu betasten, zu probieren, und bisweilen wird im Banne des Neuen selbst der Hunger für geraume Zeit verdrängt und später treibt oft die Abenteuerlust oder auch der Forscherdrang zu neuer, nicht selten riskanter Erfahrung. Die Überlegenheit des Menschen beruht auf dieser konstitutiven lebenslangen Weltoffenheit und Verarbeitungsfähigkeit und der damit korrelierenden Vielseitigkeit seiner Anlagen und Organausbildung; sie beruht darauf, daß er „Spezialist auf das Nicht-Spezialisiertsein" (K. LORENZ, 1 9 7 3 , S. 1 9 9 ) ist. So ist der Mensch geradezu einmalig „umweltanpassungsfähig" und notfalls fähig, sich mit sehr extremen lebensräumlichen Bedingungen, vom Raumlabor bis zum ewigen Eis oder der Wüste, irgendwie zu arrangieren. Andererseits hat der Mensch auch entsprechend differenzierte Anforderung an die räumliche Umwelt. Denn zum Aktivitätsdrang, zum Neugierund Orientierungsverhalten gesellt sich ja auch eine entsprechende Fähigkeit, sich körperlich zu bewegen und mit Hilfe des gesamten Perzeptionsapparates in beträchtlichen räumlichen Dimensionen wahrzunehmen bzw. zu erkennen. Wir sind auf Bewegung, auf Entfernungsüberwindung, auf Erkundung auch größerer Räume hin konstruiert. Nicht zuletzt liegt darin auch die Beliebtheit aller Arten von Fortbewegungsmitteln begründet und insbesondere jener, die individuelle Bewegungsmöglichkeit und große Zielfreiheit gewähren; wir haben sie erfunden, weil sie unserer Verhaltensdisposition zur Bewegung und Entfernungsüberwindung in hohem Maße entgegenkommen. Der Mensch könnte sein Verhaltenspotential und seine intellektuellen Möglichkeiten niemals in lebenslänglicher Einengung auf wenige Quadratmeter voll entfalten, und würde er auch noch so gut „gefüttert", er verkümmert doch. Das Vorhandensein von Bewegungs- und Erkundungsraum ist also geradezu von existentieller Bedeutung. So dürfte im Menschen eine Verhaltenstendenz zur Überwindung von Entfernungen, ein Verlangen nach räumlicher (großräumlicher) Bewegungsfreiheit angelegt sein, als wollte sich die Gewohnheit des Steinzeitjägers, große Reviere zu durchschweifen, fortsetzen89. So ist ζ. B. auch die Neigung zu „verreisen" keineswegs nur Mode. Aber Erkundungs- und Bewegungsraum, wie überhaupt der Lebensraum, muß nicht nur vorhanden und zu „besichtigen" sein, er muß dem Verlangen des Menschen nach Betätigung, Aktivität, Gestaltung zur Verfügung stehen und entsprechend dimensioniert und ausgestaltet sein. Wir erschöpfen uns nicht im Laufen und Sehen, unsere organische und geistige Ausstattung bedarf des Umgangs mit den Dingen, deren Nutzung und Formung. Wozu sonst haben wir diese differenzierte Apparatur der Hände und die Fähigkeit, sie zielgerichtet einzusetzen? Wir sind zur schöpfe-
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rischen Gestaltung und Betätigung, zur Konstruktion, zum Umgang mit Werkzeugen disponiert. Als „Mängelwesen" müssen wir uns vieles durch Betätigung und Gestaltung erst schaffen. Wir müssen ζ. B. unsere Behausung planen und gestalten; wie wir das tun, ist allerdings eine Frage der Kultur und der jeweils sinnvollen Gleichgewichtsfindung zwischen Mensch und Umgebung. Aber so oder so, Betätigung und Gestaltung muß sein. Damit unterliegen wir einer zwangsläufigen Tendenz zu konstruierendem Verhalten, die zugleich Ausdruck unserer Konstitution und des darauf abgestimmten Verhaltensprogramms ist. Was wir jedoch gestalten ist offen, ob ein Blasrohr oder eine Rakete, aber, daß wir gestalten, ist in uns angelegt, als eine Komponente unserer angeborenen körperlichen und geistigen Motorik. Ein Lebewesen, für das der aktive und gestalterische Umgang mit dem Lebensraum von so existentieller Bedeutung ist, wäre längst gescheitert, wenn die entsprechende Bereitschaft und Fähigkeit nicht genetisch vorfixiert und damit gesichert würde. B. F. SKINNER (1974, S . 61) betont, daß Menschen in einer Umwelt „glücklich" sind, in der produktives und schöpferisches Verhalten auf mannigfache Weise wirksam verstärkt wird. Wenn der Mensch durch schöpferischere Betätigung glücklich zu werden vermag, dann ist es sehr wahrscheinlich, daß ein solches Verhaltenspotential artcharakteristisch in ihm angelegt ist. Wie sollte man glücklich werden bei einem Verhalten, das der eigenen „Natur" widerspräche? So bedarf es auch weniger der „Verstärkung" im Sinne von „Belohnung", um sich zu betätigen und zu gestalten, es bedarf lediglich der Gelegenheit und gegebenenfalls der Anregung. Aktiv und verändernd tätig wird der Mensch dann geradezu von allein. Bezogen auf die Gestaltung unseres Lebensraumes bedeutet dies, daß ein Angebot an Möglichkeiten zur Betätigung und Gestaltung zu eröffnen ist, vom Hobbyraum bis zur Kleingartenparzelle oder dem Vereins- bzw. Clubgebäude etc. Von Anleitungen abgesehen, kann auf die bewußte Erziehung, auf das „Konditionieren" zu gestalterischem Verhalten verzichtet werden90. Entwicklungsgeschichtlich bildeten sich Neugier- und Orientierungsverhalten, Aktivität, Betätigung, konstruierendes Verhalten etc. in Konfrontation mit einer natürlichen Umwelt heraus. Als Folge der ständigen Aufnahme differenzierter, vor allem die belebte Welt und die Ernährungsmöglichkeiten betreffender Informationen durch die Sinnesorgane dürfte eine gewisse Abhängigkeit des psychischen Wohlbefindens vom Vorhandensein einer solchen natürlichen bzw. naturnahen belebten Umwelt entstanden sein. Der Mensch lebte bis vor ca. 10 000 Jahren, also entwicklungsgeschichtlich bis in allerjüngste Zeit, in einer fast ausschließlich natürlichen räumlichen Umwelt,
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ihn umgaben Naturelemente, Vegetation, natürliches Licht, unbeeinflußtes Klima. Es ist daher nicht auszuschließen, daß er - genetisch verankert - zum Kontakt mit der „Natur" disponiert ist und daß die großstädtische Umwelt, zumindest in ihrer ungünstigsten Ausprägung, für den Menschen bereits eine extreme räumliche Umwelt darstellt, die trotz vielfältiger Anreize für das explorierende Neugierverhalten den notwendigen ausreichenden Naturbezug vorenthält. Der Biologe A. M Ü N K (1972, S. 83) vermutet, daß der Stadtmensch „wahrscheinlich in Beziehung auf Kontakt mit lebender Natur chronisch und ungeheuer unterernährt" ist. So gesehen verwundert es ζ. B. nicht, daß fast alle Hobbys, also das, was wir freiwillig und gern tun, soweit es sich nicht um häusliche Verrichtungen und Zusammenkünfte handelt, an den Kontakt mit der Natur gebunden sind, vom Reiten über das Wandern, Pilzesammeln, Botanisieren bis zur Jagd und den meisten Sportarten, woraus dann auch A. M Ü N K (1972, S. 85) den Schluß zieht, daß wir letztlich Befriedigung empfinden, wenn wir das erleben, „was unsere Vorfahren die ganze Zeit des Menschen auf der Erde hindurch erlebt haben", die Natur, den Aufenthalt unter freiem Himmel. Wem ζ. B. ständig das natürliche Licht, wesentliches Element der Natur, vorenthalten wird, wer nur künstlich belichtet existiert, dem wird mit zunehmender Blässe bald auch das Wohlbefinden fehlen. Die volle Funktionsfähigkeit des Organismus ist durchaus auch vom natürlichen Tageslicht und dessen Zyklen abhängig, denn das Licht steuert mit seinem energetischen Anteil über Zwischenhirn und Hypophyse die Hormonproduktion und Stoffwechselfunktion des Menschen. Selbst der Lichtwechsel während des Tages durch Sonne und Wolkenbildung, durch die Variationen des Wetters hat stimulierende Effekte auf die biologischen Regelkreise des Organismus. Wer, wann es nur geht, Naturnähe sucht, vom Licht bis zur Erde und Vegetation, wer aus neonbeleuchteten Büros, Hörsälen, Kaufhäusern hinaus ins Licht einer offenen Landschaft strebt, ist kein sehnsüchtiger Romantiker sondern recht vernünftig. So dürfte der Kontakt
mit der belebten Natur für die Erhaltung der
geistigen und körperlichen Gesundheit des Menschen von fundamentaler Bedeutung sein. Trotz beträchtlicher Fähigkeit zur kulturabhängigen Überformung unseres Lebensmilieus scheint die Notwendigkeit, natürliche oder zumindest naturnahe Umwelt wahrzunehmen, sich in ihr zu bewegen und mit ihr aktiven Umgang zu haben, tief in uns verankert zu sein - und so sinniert GOTTFRIED B E N N inmitten der Stadt Berlin „.. . sonntags in den Spreewald, in den Ferien nach Thüringen . .., um an den abhandengekommenen Brüsten der Natur zu spielen"91. Stehen nicht hinter den Wochenendausfahrten der Großstädter, hinter dem zunehmenden Verlangen nach einem Stück Gartenland92 sehr tiefliegende Tendenzen nach ausgleichendem und ent-
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spannendem Kontakt mit den Elementen der Natur, ihren Farben, dem Wind, der frischen Luft, dem Geruch des Waldes und des Bodens, dem freien Ausblick usw., die die großen Städte nur zu oft weitestgehend vorenthalten? Ist es denn wirklichkeitsfremd oder nur späte Romantik, wenn etwa H. HESSE glaubt, „in der brüderlichen Liebe zur Natur Quellen der Freude und Ströme des Lebens zu finden"93? Der Mensch ist nur in Ausnahmefällen ein Einzelgänger, normalerweise lebt er in Gruppen. Nur mit sich allein käme er leicht in eine Identitätskrise; er findet sein Ich und grenzt es ab im Kontakt mit anderen; er bedarf der Beziehung zum Mitmenschen. Wir brauchen zur Erhaltung der seelischen Gesundheit ein Mindestmaß an Zuwendung, an Zuneigung, Freundschaft oder Liebe, und entsprechend suchen wir Kontakt zu Mitmenschen. Aber wir können solcherart mitmenschliche Beziehung nicht mit der unübersehbaren Masse, etwa der Großstadtbewohner, aufbauen; es bedarf vielmehr kleinerer und überschaubarer Gruppen, die in sich strukturiert sind und den einzelnen mit seiner Besonderheit aufnehmen und sinnvoll einordnen. Die Bildung solcher „individueller Verbände" (I. EIBEL-EIBESFELDT) wird in unseren Großstadtgebilden und durch unseren Lebensstil erschwert, was wesentlich zur seelischen Vereinsamung vieler Menschen beiträgt. Andauernde Einsamkeit kann ebenso wie der absolute Reizentzug gesundheitsschädigende Effekte haben. Einsamkeit ist eine Form der Isolierung, und diese überdauert der Mensch ohne psychische Gefährdung nicht allzulange. Völlige Isolation, völliger Entzug von Sinneseindrücken führt über Halluzinationen fortschreitend zu Geisteskrankheit. Selbst wenn man in kleiner Gemeinschaft doch recht isoliert lebt, wie etwa viele der Bergbauernfamilien in den einsamen und oft schwer zugänglichen Höfen mancher Alpenregionen, steigt bisweilen als Begleiterin der Einsamkeit die Angst im Menschen auf. „Die Angst liegt in der Einsamkeit. Sie läßt die Menschen vorzeitig welken, sie läßt sie sonderlich gealtert erscheinen" schreibt A. GORFER (1975, S. 23) in seiner Studie über das Leben südtiroler Bergbauern. Andererseits bedarf der Mensch ausgleichend zu zuviel Kontakt und Begegnung auch des Alleinseins und der geschützten Privatsphäre. Die Menschen suchen einander, aber ebenso suchen sie bisweilen einander zu meiden. Der Mensch lebt in einem Spannungsverhältnis zwischen Verlangen nach Kontakt und Verlangen nach Alleinsein, zwischen Nähe zum Mitmenschen und Distanz zu ihm. So tendieren wir dazu, einander zu begegnen und zu kooperieren, aber auch ausgleichend uns voreinander zurückzuziehen. Entsprechend benötigen wir Raum, in dem wir uns begegnen können, aber auch Raum, wo wir allein und vor Störung oder auch Einblick geschützt sind94. Wer läßt sich schon gern von Fremden ins Badezimmer blicken oder
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beim Sonnenbaden auf der Terrasse den Nabel beschauen, auch wenn dies über große Distanz vom nächsten Hochhaus her mit dem Fernglas geschieht. Das schließt nicht aus, daß man auf der Straße, im Geschäft oder Theaterfoyer auch einmal mit einem Fremden ein freundliches Gespräch führt. Das jeweils angemessene Gleichgewicht kann sich kultur- und personenspezifisch auspendeln, wird aber eine Komponente ständig vorenthalten, kommt es zwangsläufig zur Verhaltensstörung. Zweifellos liegt in dem Bemühen, dem Menschen Gleichgewicht zwischen der gewünschten Anregung, dem notwendigen Kontakt und der Interaktion einerseits und der erforderlichen Distanz und Rückzugsmöglichkeit andererseits zu gewähren, eine zentrale Aufgabe der Lebensraumgestaltung. Es ist klar, daß es zum Ausleben der genannten Verhaltenstendenzen jeweils entsprechender lebensräumlicher Voraussetzungen bedarf. Die Verfügbarkeit über ein eigenes kleines „Territorium", sei es eine Parzelle, ein Raum oder auch nur ein „Stammplatz", ist dabei ebenso wichtig, wie das Vorhandensein von Begegnungsstätten, sei es ein Partyraum oder auch die Eckkneipe bzw. das „Vereinslokal". Auch brauchen wir für unser explorierendes Neugierverhalten, für unseren Bewegungsdrang, für unsere Disposition, zum handgreiflichen Ausprobieren, zum aktiven Umgang mit Gerät und Werkzeug einen jeweils geeigneten Aktionsraum. Werden solche Bedingungen verweigert, dann kann ζ. B. der unserem lebenswichtigen Explorationsdrang, dem Neugier- und Forschungsverhalten (I. EIBL-EIBESFELDT, 1967, S. 330) vermutlich innewohnende „aggressive Einschlag" (A. GEHLEN, 1970, S. 43) leicht zu Fehlverhalten und gesteigerter Reizbarkeit führen. Die aggressionsableitenden und depressionsmindernden Effekte körperlicher Aktivität sind bekannt. Man erschwere den Menschen, sich aktiv und selbstentscheidend zu betätigen, zu gestalten, zu erkunden, indem man sie in monotonen hochverdichteten Wohngebieten einengt (wie in einigen neueren Hochhausslums etwa in New York), wundere sich dann aber nicht über die Zunahme sozialpathologischer Phänomene. Ganz allgemein dürfte die Lebensweise des von körperlicher Tätigkeit entlasteten und physisch verweichlichten Menschen der hochtechnisierten Zivilisation das Ausleben der arterhaltend wichtigen Verhaltenstendenz zur körperlich aktiven Betätigung, Gestaltung, Erkundung mit ihrer zugleich aggressionsableitenden und den Antriebsüberschuß aufnehmenden Wirkung erschweren95. Zweifellos schränken bestimmte Lebensumstände die körperliche Motorik, Abhärtung, Naturkontakt so ein, daß Schädigungen auftreten96. Der in mehreren Untersuchungen festgestellte durchschnittlich höhere
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Krankenstand und die durchschnittlich geringere Lebenserwartung der großstädtischen Bevölkerung97 gegenüber der Bevölkerung des unmittelbaren Umlandes bzw. des stärker „ländlichen" Raumes (vgl. D. OETER, 1971, S. 103) dürfte zum großen Teil auch durch die erhebliche Einengung in Etagenwohnungen und durch die verminderte körperliche und selbstgestaltende Betätigung der Großstadtbewohner verursacht sein98. Aber auch hinsichtlich der geistigen Stimulation benötigt der Mensch entsprechende räumliche Voraussetzungen, von denen es ζ. B. abhängt, òb die Fähigkeit, umfassendes Wissen zu erwerben, voll ausgeschöpft wird. Es dürfte durchaus möglich sein, ganze Gesellschaften „verblöden" zu lassen oder zumindest die Entwicklungsmöglichkeiten einzuschränken, wenn die notwendigen Voraussetzungen zur Entfaltung der geistigen Motorik zum freien Forschen etc. verweigert werden oder wenn geistige Anregungen und geistige Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten werden, sei es durch extreme räumliche Abgelegenheit oder durch Zensur. Man kann sich diesbezüglich sehr anregende und weniger anregende Umweltverhältnisse vorstellen. Isolierte ländliche Gebiete als ständige Umwelt dürften z. B. der vollen Entfaltung des im Menschen angelegten, forschenden und konstruierenden Potentials wenig förderlich sein, so wie auch dauerhaft isolierte oder sich selbst isolierende Gesellschaften im allgemeinen weniger schöpferisch sind. Umgekehrt kann zu starke Zusammendrängung von Menschen ein zu hohes Reizvolumen bewirken und ebenso die Entfaltung behindern, vor allem, wenn es an ausgleichender, geschützter Privatsphäre fehlt. Dann wird z. B. die zur forschenden geistigen Exploration erforderliche Ruhe und Distanz zu Störungsquellen nicht gewährt99. Die Schwierigkeit bei der Umweltgestaltung liegt nun darin, zu vermeiden, daß die erwünschte differenzierte und natürliche Elemente einschließende Umwelt derart zur Einseitigkeit hin verändert wird, daß der Mensch zu einer so starken spezifischen Anpassung gezwungen würde, die zwar einem „Lebensraumspezialisten" angemessen wäre, für den Menschen aber schädigende Wirkung hätte. Bezüglich der Anpassungsfähigkeit an Extremsituationen ist der Mensch schlecht ausgestattet. Durch hohen technischen Aufwand kann er zwar extreme Bedingungen bewältigen, vermag aber damit seine Anfälligkeit nicht auszuschalten; er erhöht lediglich seine Abhängigkeit von der erforderlichen Technik. Stellen explorierendes Neugierverhalten, körperliche und geistige Motorik, das Verlangen nach Naturkontakt, nach zwischenmenschlicher Begegnung, wie auch nach Alleinsein genetisch verankerte, raumrelevante Verhaltenstendenzen dar? Wir können davon ausgehen, daß bei Tieren wie auch beim Menschen bestimmte speziesspezifische Verhaltensweisen genetisch festgelegt sind, daß
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also „genetisch kontrollierte Verhaltensmerkmale"100 existieren. Diese genetische Fixierung ist freilich im Sinne einer Verhaltensdisposition zu verstehen, und besonders beim Menschen ist das tatsächliche Verhalten „das kombinierte Ergebnis von Erbanlage und Umwelteinwirkung" (A. ALLAND, 1970, S. 125). Das genetische Potential stellt also gewissermaßen das Substrat dar, auf dem sich in Wechselwirkung mit der Kultur das tatsächliche Verhalten ausprägt. Dabei läßt das genetische Verhaltensprogramm eine beträchtliche umweit- und kulturbedingte Modifizierung des tatsächlichen Verhaltens zu (adaptives Verhalten - siehe vorn). So können genetisch verankerte Neigungen zu bestimmtem Verhalten entweder voll ausgelebt, innerhalb gewisser Grenzen eingeschränkt, variiert oder durch anderes Verhalten kompensiert werden. Damit verfügt der Mensch über eine beträchtliche Flexibilität seines Verhaltens. Gerade das erhöht die Anpassungsfähigkeit, erlaubt eine Differenzierung des Verhaltens und steigert zugleich die Überlebenschancen der Art101. Gleichzeitig jedoch verbindet die Menschen, möglicherweise mit geringen Abweichungen102, ein gemeinsames Potential kulturunabhängiger genetischer (ererbter) Verhaltensmerkmale103. Diese Verhaltensmuster können als Bestandteile des genetischen „Biogramms" der Wirbeltiere und des Menschen gedeutet werden, durch das die „als Zyklus verstandene Lebensweise" einer Sozietät (E. W. COUNT, 1970, S. 10) über ein System genetisch fixierter Regeln (Biogrammatik), über ein Verhaltensprogramm, beeinflußt wird104. Wenn man so will, liegt hier die Restbindung des Menschen an den „Instinkt", aber darüber erhebt sich eine durch Lernen, Erfahrung und Denken im Vergleich selbst mit höheren Säugetieren gewaltig gesteigerte Fähigkeit zur Anpassung, Selbstgestaltung und kulturabhängigen Ausprägung des Verhaltens105. Mit hoher Wahrscheinlichkeit können wir davon ausgehen, daß auch raumbezogene Aspekte genetisch fixierter Verhaltensmerkmale existieren; verfehlt dagegen erscheint die Annahme, solche raumbezogenen Verhaltensmerkmale als Katalog konkreter raumbezogener Bedürfnisse festlegen zu können (s. o.). Immerhin lassen sich die folgenden, sehr wahrscheinlich genetisch bedingten Tendenzen des raumbezogenen Verhaltens unterscheiden (in der Klammer wird die dementsprechend vom Menschen benötigte Raumkategorie genannt) : 1. Drang zu explorierendem Neugierverhalten und zur Orientierung; Verlangen nach vielfältig strukturiertem und vertrautem Lebensraum (Explorationsraum), 2. Verlangen nach Stimulation und neuartiger Erfahrung, nach Anregung, Spannung und Erregung (Stimulationsraum, Erfahrungsraum),
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3. Verlangen nach räumlicher Bewegungsfreiheit und Entfernungsüberwindung (Bewegungsraum), 4. Verlangen nach Möglichkeit, die geistige und körperliche Motorik gemäß unserer Organausstattung auszuleben, sich zu betätigen, aktiv zu sein und zu gestalten (Aktivitätsraum/Betätigungsraum/Gestaltungsraum), 5. Verlangen nach differenziertem Kontakt mit der belebten und unbelebten Natur (Naturbezugsraum, Naturlichtraum), 6. Verlangen nach Abschirmung, nach sicherem, vor Beeinträchtigungen und gegen Einblick geschütztem Aufenthalt, Verlangen nach räumlicher Geborgenheit (Schutzraum/Abschirmungsraum), 7. Verlangen nach Alleinsein, nach Rückzug, nach Respektierung der räumlichen Individualsphäre (Eigenraum), 8. Verlangen nach Beachtung der begrenzten Dichtetoleranz und der Distanzzonen (Distanzraum), 9. Verlangen nach sozialer Interaktion und Kooperation, nach Kommunikation und zwischenmenschlicher Beziehung, nach Kontakt mit vertrauten individualisierten Gruppen, nach sozialer Zugehörigkeit (Kontaktraum/ Gemeinschaftsraum), 10. Verlangen nach Sicherung und Erhaltung der räumlichen Lebensgrundlagen des einzelnen wie der Gruppe und nach entsprechender territorialer Verfügungsgewalt und territorialer Zugehörigkeit (Verfügungsraum, Zugehörigkeitsraum ;,,Territorium' '). Auch die Relativierung absoluter sozialer Hierarchie angesichts eines ausreichenden Individualterritoriums dürfte den genetisch fixierten raumbezogenen Verhaltens- bzw. Reaktionsweisen zuzurechnen sein. Möglicherweise lassen sich weitere dieser wesentlich genetisch bedingten Komponenten des raumbezogenen Verhaltens herausarbeiten und auch besser differenzieren, aber das ist für unser Anliegen nicht entscheidend. Gibt es auch keinen verbindlichen Katalog raumbezogener Bedürfnisse im Menschen, und können wir auch nur von sehr groben genetischen Grundkategorien raumbezogener Verhaltensmerkmale ausgehen, die durch Anpassung, Erziehung und Lernen, also durch soziale Eigenleistung des Menschen kulturabhängig relativiert werden, so besteht neben den notwendigen Voraussetzungen für die physische Existenz (Nahrung, Luft, Licht etc.) doch eben auch ein innerer Maßstab, durch den das Verhalten beeinflußt und an dem die Zuträglichkeit räumlicher Lebensbedingungen gemessen wird. Damit wird deutlich, daß sich aus der verhaltensgenetischen Bindung des Menschen Konsequenzen für die Zielsetzung der Lebensraumgestaltung ergeben, denn es ist leicht zu erkennen, daß viele unserer konkreten Raumnutzungen den aufgezeigten Verhaltenskomponenten nicht gerecht werden.
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Wenn auch diesen genetisch bedingten Anforderungen auf personen- oder kulturspezifisch sehr unterschiedliche Weise entsprochen werden kann, geben sie doch eine kulturunabhängige Grundlage für eine allgemein akzeptable lebensräumliche Zielorientierung, für eine lebensräumliche Ethik ab, denn sie sind, weil verhaltensbiologisch bzw. genetisch verankert, für alle Menschen gültig (Fünfter Teil, Kap. 1.2).
5. Unsere riskante Situation
Es bedarf bei der Planung unseres Lebensraumes der bewußten Berücksichtigung der aufgezeigten verhaltensbiologischen Bindungen, denn es ist keineswegs gesichert, daß wir uns stets so verhalten, daß ihnen entsprochen wird. Das liegt vor allem daran, daß der Mensch in seinem tatsächlichen Verhalten oft mehr durch sein Denken, seine kulturspezifischen Zielsetzungen geführt wird, als daß er dem oft nur leisen „inneren Drang" bzw. seinem Gefühl, als einer Ausdrucksmöglichkeit der Verhaltensgenetik, folgt; wir sind eben weitestgehend „instinktentsichert". Dies soll verdeutlicht werden. So wie sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte mit dem Menschen eine neue Dimension des Lebens, das „geistige Leben" herausbildete, wurde auch die Auseinandersetzung des Menschen mit der räumlichen Umwelt auf eine neue Stufe gestellt. Die neu gewonnene Fertigkeit, mittels Symbolsprache, Reflexionen und begrifflichem Denken erlerntes Wissen ohne Bindung an ein konkretes Objekt weiterzugeben und damit objektunabhängig dauerhaft zu machen, steigerte die Fähigkeit zum Umgang mit der Umwelt beträchtlich. Von vorherigen Generationen erworbene Erfahrung wird als kumulierte Tradition zur „Vererbung erworbener Eigenschaften" (K. LORENZ, 1973, S. 229)106. Es muß nicht immer wieder alles neu entdeckt werden, Irrwege brauchen nicht wiederholt zu werden; Schrift und Sprache vermitteln Erfahrung, die sich von Generation zu Generation, gewissermaßen als sich vererbendes Wissen aufaddiert. Parallel dazu wurde.der Mensch in seinen Entscheidungen und seinem Verhalten immer mehr aus der Führung durch „Instinkte" entlassen und gestützt durch akkumulierte Erfahrung einer gewissen kulturabhängigen Selbstgestaltung überlassen. „Geistiges" Leben ist produktiv, und so häufte der Mensch immer mehr Wissen an, entwickelte Wissenschaft und enorme technische Fertigkeiten, begann die Welt gemäß seiner Ziele und Vorstellungsgabe zu formen. Die solcherart selbstgestaltenden Menschen wurden zu „aktiv und zielstrebig handelnden Organismen", die genau wissen, was sie wollen und die ihre dingliche und räumliche Umwelt bewußt ändern und schöpferisch gestalten, „damit sie ihren eigenen Vorstellungen entspricht" (D. V. CANTER, 1973, S. 23). So wurde der Mensch, indem er den Produkten seines „Geistes" folgte, sein eigener Gefolgsmann und ist nunmehr in geradezu beunruhigender Weise auch selbst verantwortlich für sein Handeln.
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Wie aber operiert der Mensch nun gegenüber seiner Umwelt? Die Überlegungen des Psychologen G. A . KELLY ( 1 9 5 5 , 1 9 5 9 ) stellen eine Möglichkeit, dies zu verdeutlichen, dar. Hiernach rekonstruiert der Mensch ständig seine Erlebnisse in sich selbst mit dem Ziel, sie so besser zu interpretieren und zu verstehen. Jeder Mensch betätigt sich gewissermaßen als Wissenschaftler. Er zieht induktive oder deduktive Schlüsse aus seinen Beobachtungen und rekonstruiert im Geist Ereignisse und Situationen. Er stellt Hypothesen auf und kontrolliert die erwarteten Abläufe am tatsächlichen Ereignis. Der jeweils individuelle Versuch zum Verstehen der Ereignisse führt zwangsläufig zur ständigen Bildung von eigenen Theorien, von persönlichen Annahmen auch über den voraussichtlichen Ablauf der Ereignisse. So bildet jeder Mensch in sich selbst ein flexibles System von „subjektiven" Theorien über das, was zu tun sinnvoll ist bzw. über das, was sein wird und sein kann107. P . STRINGER ( 1 9 7 3 , S . 1 2 ) verdeutlicht vereinfachend KELLYS Auffassung: „Jede Person entwickelt für sich eine theoretische Struktur, ein System persönlicher Konstrukte, mit deren Hilfe sie befähigt wird, die Zukunft gedanklich vorwegzunehmen und die so zu einem besseren Verstehen und einer besseren Voraussage künftiger Ereignisse führen."108
Zu dieser „wissenschaftlichen" mit der Umwelt ständig korrespondierenden Unruhe und Konstruktbildung bedarf es keiner spezifischen, immer wieder neuen Motivation oder differenzierter Anreize; aktiv aus sich selbst heraus handelt und konstruiert bzw. rekonstruiert der Mensch; er ist ein aus eigenem Antrieb agierendes Wesen. Der Mensch ist „voller Tatendurst, er ergreift die Initiative und seine Handlung wird bestimmt durch die Art und Weise, in der er zukünftige Ereignisse antizipiert" (P. STRINGER, 1973, S . 12). Das im Menschen gebildete System von Konstrukten oder sagen wir das jeweilige persönliche Bündel von Annahmen über die Zusammenhänge und sinnvollen Ziele bestimmt das persönliche Verhalten. So gesehen, gestaltet der Mensch, als aktiv aus sich selbst heraus handelndes Wesen, die Umwelt nach seinen eigenen Vorstellungen, selbst wenn die Konstrukte, die seinem Bild von der Umwelt zugrundeliegen, auch durch die Erfahrung mit dieser entwickelt wurden. Damit ist die Auseinandersetzung mit der räumlichen Umwelt von vornherein weniger passiv anpassend als vielmehr aktiv und flexibel gestaltend. Die räumlichen Umweltbedingungen werden zu einer Herausforderung für den Menschen. Er wird, je nach dem in ihm wirksamen System von Konstrukten, entscheiden, wie er sich ihr gegenüber verhält. Nun sind aber die „Konstrukte" bzw. Annahmen und Vorstellungen des Menschen auch von
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vorhandenem Wissen, von den über Generationen vermittelten Erfahrungen, also vom „geistigen Erbe" abhängig. Und dieses Erbe, dieses von Generation zu Generation weitergegebene Wissen hat uns ein Instrumentarium in die Hand gegeben, mit dessen Hilfe wir unsere lebensräumlichen Bedingungen grundlegend verwandelt haben. Wir leben in selbsterfundenen Raumstrukturen, die wir auch laufend gemäß unserer Vorstellungsgabe und „Konstrukte" weiter verformen und mehr oder minder unbewußt immer stärker von denjenigen lebensräumlichen Voraussetzungen entfernen, auf die wir durch stammesgeschichtliche Programmierung eingestellt sind. Und es besteht nun durchaus die Gefahr, daß trotz wachsenden Wissens und selbstgestalteter Konstrukte das Wissen um die verhaltensgenetische Bindung nicht ausreichend wächst oder unbeachtet bleibt und wir uns aktiv handelnd existenzgefährdende Bedingungen schaffen109. Die Variabilität des „geistigen Lebens" birgt auch die Gefahr, um anderer Prioritäten willen den genetischen Untergrund sozialen Verhaltens zu mißachten. Zwar wird uns dann die negative Erfahrung früher oder später doch zur Überprüfung unserer Vorstellungen und Ziele zwingen, aber immer bleibt die Frage, um welchen Preis 110 ? Lassen wir offen, ob KELLYS Ansatz die Differenziertheit menschlichen Verhaltens zu erklären vermag. Die Steuerung menschlichen Verhaltens dürfte komplexer sein und vielfältigeren Einflüssen unterliegen, als daß sie allein mit Hilfe des Konzeptes der Konstrukte erfaßt werden könnte. Aber ungeachtet dessen verdeutlicht doch dieser Versuch, welches Risiko durch die „selbstgestaltende" Komponente des menschlichen Verhaltens eröffnet wird und wie sehr der Mensch in der Gefahr ist, mit seinen gesteigerten technischen Möglichkeiten einen Lebensraum zu konstruieren, der unserer verhaltensgenetischen Abhängigkeit nicht gerecht wird. Zugleich zeigt sich aber auch, daß zur Selbstgestaltung der Einsatz der Intelligenz111 unentbehrlich ist, da sonst die Gefahr des Irrtums wächst. Das Vertrauen auf die nachträgliche Belehrung durch Irrtum, also ζ. B. durch unangenehme Erfahrung mit falsch gestalteter Umwelt, kann sehr problematisch sein, insbesondere dann, wenn bereits irreversible, schädigende Prozesse ausgelöst worden sind. Damit wächst die Notwendigkeit, intelligente Vorstellungen, Modelle herauszuarbeiten und so geistig eine räumliche Zukunft vorwegzunehmen, in der es sich wohlbefindlich leben ließe.
5.1 Genetisch - kulturelle Phasenverschiebung als eine Gefahr Ähnlich der bereits von W. F. OGBURN (1922) beobachteten kulturellen Phasenverschiebung (cultural lag), also des unterschiedlichen Standes der
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Entwicklung verschiedener Kulturelemente innerhalb einer Kultur112, scheint es auch eine Phasenverschiebung zwischen erbbedingten Verhaltensdispositionen und kulturabhängigen Verhaltensnormen, also eine genetischkulturelle Phasenverschiebung (genetical-cultural lag) zu geben, verursacht vor allem durch unterschiedliche Veränderungsgeschwindigkeit. Während sich die kulturbedingten Verhaltensnormen und Maßstäbe in Wechselwirkung mit der technischen und ökonomischen Entwicklung bzw. dem Stand der Wissenschaft doch relativ rasch verändern können, wandeln sich die phylogenetisch programmierten Grundnormen des Verhaltens wesentlich langsamer. So öffnet sich möglicherweise eine zunehmende Diskrepanz zwischen der genetischen Programmierung einerseits und dem ständig ausgeweiteten „ererbten" Wissen der wissenschaftlich technischen Intelligenz sowie der kulturellen Tradition und dem entsprechend beeinflußten Verhalten andererseits. Das innerhalb der bestehenden Zivilisation gewünschte, das kulturkonforme Verhalten und das der Natur des Menschen gemäße Verhalten geraten zunehmend in Konflikt113. Ein durch die Normen und Maßstäbe der Kultur allerdings sanft und „einleuchtend" verpackter Zwang zur widernatürlichen Lebensweise wächst. So ist der Mensch ζ. B. durch Körperbau und durch Verhaltensgenetik auf Laufen, Distanzüberwindung, gruppenweises Jagen, auf Partizipation an der Beute etc. eingestellt. Zwar läßt sich diese Disposition kulturabhängig auch anderweitig ausleben; das Mißverhältnis zur „Natur" des Menschen wird aber immer größer, je mehr sich die Lebensweise von der Existenzform, auf die der Mensch durch Selektion hin konstruiert wurde, abweicht (vgl. auch Kap. 4)114. Ist die Diskrepanz zu groß, treten Schädigungen auf. Ein Mensch, der fast nur noch sitzt, ζ. B. bei der Arbeit, vor dem Fernseher oder im PKW, der kaum noch den Unterschieden der Witterungen ausgesetzt ist, sondern weitestgehend „klimatisiert" lebt, dessen Nahrung immer unnatürlicher zusammengesetzt ist, der seiner Erwerbsfunktion („Jagen") ohne Einsicht in deren soziale Nützlichkeit - vom „Geldverdienen" abgesehen - nachgeht, der seinen Anteil an der Wertschöpfung ständig als unangemessen empfindet und der seinen Antriebsüberschuß vor allem als Zuschauer abreagiert (fehlende Beteiligung), der zahlreiche soziale Funktionen an anonyme Subjekte abgibt, der in einer durchaus auch luxuriösen Wohnzelle, aber räumlich beengt, lebt und der nicht gelernt hat, alles das zu kompensieren, kommt irgendwann trotz beträchtlicher Anpassungsfähigkeit in Konflikt mit seinem genetischen „Fahrplan". A. M Ü N K (1972, S. 62) betont, daß der Mensch frustriert und neurotisch wird, wenn ihm die Lebensbedingungen ζ. B. Neugier und Spiel verweigern, wenn er nicht „sein uraltes Bedürfnis nach Sex, Gruppenzugehörigkeit, Kontakt mit anderen Lebewesen, Bewegung, Abwechslung, Spannung usw." zu befriedigen vermag.
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So hat das „geistige Leben", die Zunahme des Wissens, Einwirkungen auf die räumliche Umwelt und auf die Lebensweise hervorgebracht, die die Gefährdung des Menschen erhöhen.
5.2 Intelligentes Verhalten wird zwingend - vom Nutzen einer wirklichkeitsgerechten Theorie Gegenwärtig wirkt der Mensch noch immer weitestgehend ausbeutend auf seinen Lebensraum ein115. Freilich sind auch Ansätze zur Hege sichtbar. Jedoch entwickelt sich meist erst dann zwischen Mensch und Daseinsraum ein harmonisches, dem nutzbaren Potential gerecht werdendes Verhältnis, wenn durch Erfahrung oder Wissen die Ursache - Wirkung - Zusammenhänge bewußt wurden, wenn ζ. B. Überjagung, Überbeweidung, Raubbau etc. die Grenzen der territorialen Tragfähigkeit deutlich machten, wenn also ökologische Erfahrungswerte in die sozialen Verhaltensweisen eingebaut werden konnten. Ist der ursächliche Zusammenhang zwischen Tun und Wirkung nicht erkennbar, etwa weil die Wirkungen des Tuns global und nicht mehr relativ kurzfristig am Ort spürbar sind, und fehlt es weiterhin an Einsicht in überregionale und mehrdimensionale Zusammenhänge, dann kann die an sich vorhandene Fähigkeit zur lernenden, rechtzeitigen Anpassung nicht entsprechend genutzt werden. Die Gefahr, daß irreversible umweltzerstörende Vorgänge ausgelöst werden, weil man die Wirkung des Tuns gar nicht kennt, wächst116. Die Einwirkung des Menschen auf seinen Daseinsraum besitzt aber gerade heute jene überregionale, globale Dimension, die vielfach außerhalb des unmittelbaren Erfahrungsbereiches liegt. Weder kennen wir bereits vollständig die Grenzen der regionalen, überregionalen und globalen ökologischen Belastbarkeit, noch besitzen wir ausreichendes Wissen über die Verträglichkeit des Menschen gegenüber räumlichen Lebensbedingungen. So erfolgt die Raumnutzung des Menschen noch immer auf mehrfache Weise blind und gefährlich experimentell. Das kulturspezifische Verhalten des Menschen im Raum tendiert häufig zur Überbeanspruchung des Daseinsraumes wie auch zur Verhaltensstörung, zur psychischen und körperlichen Schädigung. Nun nutzt der Mensch seinen Lebensraum ja nicht mit der „böswilligen" Absicht, diesen oder sich selbst zu ruinieren, sondern er handelt gemäß den Werten, Normen, Traditionen, gemäß seinen gesellschaftlichen und politischen Zielsetzungen117, aber auch gemäß des Wissens und der technischen Fertigkeiten seiner Kultur. Wird also die genetisch-kulturelle Phasenverschiebung so groß, daß es zur Schädigung kommt, dann gefährdet uns nicht die Bindung des Menschen an die genetisch-fixierten Tendenzen des Verhal-
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tens und auch nicht das begrenzte natürliche Potential unseres Daseinsraumes, sondern die Kultur des Menschen. Unsere Zielsetzungen, unsere Wertvorstellungen und Ansprüche treiben uns ja zu möglicherweise zerstörerischen Raumnutzungen, jedoch meist ohne dies zu wollen. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, daran zu erinnern, daß der Mensch artcharakteristisch dazu disponiert ist, die Werthaltungen seiner Kultur als Ausdruck überkommener Erfahrung zu übernehmen, ja zu Dogmen zu erhöhen, an denen er sein Handeln orientiert. Wir sind potentiell indoktrinierbar (vgl. K. LORENZ, 1973, S. 84 f.). Es bedarf im allgemeinen beim Erwachsenen beträchtlicher Anstrengungen, solche Dogmen, wenn sie sich über einen ethischen Kodex in eine Person bzw. Kultur „eingebrannt" haben, beiseitezuschieben. Gerade das wäre aber im Hinblick auf zahlreiche kulturspezifische gegenwärtige Raumnutzungen dringend erforderlich. Glücklicherweise ist allerdings im heranwachsenden Menschen in der Zeit zwischen Pubertät und Erwachsenenalter das „Neuerungsstreben der Jugend" (K. LORENZ, 1973, S. 294) angelegt, durch das tradierte Vorstellungen und die Werte der elterlichen Kultur in Frage gestellt, ja aufgebrochen werden118, auch wenn bald wieder eine gewisse Hinwendung zu traditionellem Verhalten einsetzt. Es ist also durchaus möglich, gefördert durch den Generationswechsel, den kulturellen Rahmen, die geltenden Dogmen umzuformen. Jedoch besteht dabei gleichzeitig erhöht die Gefahr, erneut, ja sogar verstärkt, der Indoktrination zu verfallen; je festgefügter eine Doktrin erscheint, je besser es ihr gelingt, sich als umfassend und „wahr" anzupreisen, desto stärker ist ihre Anziehungskraft auf die ihrem Verhaltensprogramm gemäß rebellierende Jugend. Die Aufgabe besteht nun darin, die ebenso im Menschen angelegte Offenheit für eine veränderte Ethik, für neue Dogmen, zur Entwicklung einer Ethik zu nutzen, die als Folge intelligenten Denkens und gesteigerten Wissens ein Verhalten fordert, das sowohl den genetischen Verhaltenskategorien wie auch dem begrenzten lebensräumlichen Potential, der begrenzten ökologischen Belastbarkeit Rechnung trägt119. Dagegen wäre die Indoktrination durch mehr oder minder traditionelle oder neue, starre Ideologien und Glaubenssätze zu vermeiden, zumal sie die notwendige Flexibilität zur ständigen Überprüfung und Anpassung an gewandelte Bedingungen vermissen lassen und dadurch eher die genetisch-kulturelle Phasenverschiebung vergrößern, statt sie zu mindern. Von besonderer Bedeutung ist die Herausarbeitung einer Theorie, die das Mensch-Raum-Verhältnis zu erklären vermag120. Wissen und wirlichkeitsgerechte Theorie sind die Voraussetzung, um Raumnutzungen, die auf nicht mehr angemessenen Dogmen und Zielen beruhen, zu wandeln. Ist die Art der Wechselwirkung zwischen Mensch und
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Unsere riskante Situation
Raum einsichtig, lassen sich auch leichter neue, wissenschaftlicher Erkenntnis konforme kulturelle Werthaltungen (Ethik) entwickeln. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit, daß der Mensch die Nutzung des Raumes, durch Einsicht in die Begrenztheit des naturräumlichen Potentials und die genetische Bindung des menschlichen Verhaltens, hegend und harmonisiert betreibt. Es ist noch nicht möglich, eine umfassende und in jeder Weise befriedigende Raum-Verhalten-Theorie vorzustellen, aber ein brauchbarer Ansatz kann entworfen werden (siehe Kap. 7).
6. Zusammenschau und Hypothesenbildung zum Verhältnis Mensch-Raum
So wie das soziale Verhalten des Menschen nicht völlig ungebunden abläuft, gewissermaßen „vagabundierend", nur dem momentanen Einfall folgend, sondern in seinen Grundmustern genetisch fixiert ist, dürfte auch das Verhältnis des Menschen zu den räumlichen Existenzbedingungen sowie der Einfluß, den diese auf ihn ausüben, nicht beliebig oder zufällig sein. Auch das raumbezogene Verhalten ist gebunden an genetisch bedingte Grundtendenzen (Kap. 4). Neben dem genetischen Verhaltensprogramm aber sind menschlicher Wille, die Wertungen und Zielsetzungen der Kultur bezüglich des sozialen wie auch raumbezogenen Verhaltens ebenso wirksam (Kap. 3.4 und 5). Darin liegt der eigenständige Beitrag, der nach der „Erfindung" des geistigen Lebens vom Menschen selbst beigesteuert wurde (Kap. 5). Die Bandbreite, in der der Mensch „oberhalb" seines genetischen Verhaltensprogramms kulturabhängig zu pendeln vermag, ist groß. Menschen können, wenn sie das wollen und entsprechend konditioniert werden - ähnlich wie Hühner, die in Legebatterien vegetieren und dennoch Eier legen und marktgerechtes Brustfleisch bilden - in Großstädten, Häuserblocks, Lagern, Kellern etc. zusammengepfercht leben und dennoch produktive Arbeit leisten. Die Frage ist nur, inwieweit sie damit gegen ihre genetische Verhaltensdisposition, gegen ihre körperliche und physiologische Bedingtheit und damit an ihrer Art vorbei leben und welche schädigenden sozialen, psychischen und physischen Folgen dabei langfristig auftreten. Zweifellos setzt die Verhaltensgenetik der kulturabhängigen Flexibilität der Raumnutzung Grenzen. Sehr wahrscheinlich sind im Menschen das Verlangen nach gesichertem Eigen- bzw. Gruppenterritorium, sowie nach Beachtung der eigenen „Distanzblase", nach räumlicher Bewegungsfreiheit und Entfernungsüberwindung, nach raumbezogenem Explorieren und damit verbundener körperlicher und geistiger Motorik, aber auch nach sozialer Interaktion und nach Naturkontakt als elementare Tendenzen raumbezogenen Verhaltens genetisch angelegt (Kap. 4). So beeinflussen die räumlichen Bedingungen das Verhalten und Befinden des Menschen (Kap. 3) durch dessen Abhängigkeit von bestimmten, genetisch begründeten räumlichen Mindestanforderungen und Verhaltensweisen. Diese begrenzen auch die schadensfreie Anpassungsfähigkeit. Doch gewäh-
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Zusammenschau und Hypothesenbildung zum Verhältnis Mensch - Raum
ren diese genetischen Grandlagen einen beträchtlichen Spielraum für das tatsächliche Verhalten im Raum und für unterschiedlichste Raumnutzungen; die genetisch bedingte Abhängigkeit des Menschen von den räumlichen Existenzbedingungen kann kulturspezifisch überformt werden. Unterschiedlichste Zivilisationsstufen, Sozialsysteme und kulturelle Rahmenbedingungen lassen sich mit den genetischen Grundmustern des raumbezogenen Verhaltens vereinbaren; die Art, wie ihnen entsprochen wird, kann in einem weiten kulturellen Rahmen erprobt werden (Kap. 4)121. Wir können also eine kulturspezifische Relativierung der Einwirkung räumlicher Existenzbedingungen auf Verhalten und Befinden des Menschen unterstellen (Kap. 3.4 und 5). Die Beeinflussung des Menschen durch räumliche Existenzbedingung erfolgt demnach nicht in direkter Kausalität; es existiert kein RaumVerhalten-Determinismus im Sinne direkter ungefilterter Einwirkung. Gleichzeitig stellt die Relativierung sozialen und raumbezogenen Verhaltens durch die Kultur eine ständige Versuchung dar, im Dienste irgendwelcher kulturspezifischer Prioritäten und Ideologien die Bindung des Menschen an die Verhaltensgenetik zu überschreiten, den „Übermenschen" oder die „Idealgesellschaft" anzustreben (Kap. 5)122. Aber es wäre falsch, anzunehmen, daß der Mensch durch Willensakt dauerhaft, ohne Schaden zu nehmen, gegen sein genetisches Verhaltensprogramm leben könnte. Noch so viel antrainierte „Einsicht in die Notwendigkeit" löst den Menschen nicht aus seiner Natur. Er kann sich durch Willensakt nicht selbst genetisch ändern. So steht der Mensch unter dem Zwang, mit seinem kulturabhängigen Wollen Raumnutzungen anzustreben, die seiner verhaltensgenetischen Abhängigkeit gerecht werden123. Damit sind wir selbstverantwortlich zu intelligentem Handeln verurteilt, mit dessen Hilfe allein wir Harmonie zwischen kulturspezifischen Zielen, verhaltensgenetischer Bindung und gestaltetem Lebensraum herstellen können. Der Mensch als Kultur - Natur - Wesen darf sich nicht nur der Formung durch das Milieu bzw. die Erziehung hingeben, ebenso wie er nicht nur auf die Führung durch die verhaltensgenetische Stimme vertrauen darf, vielmehr muß er selbst in Beachtung beider Einwirkungen nach Gleichgewicht streben. Wie aber erwächst zwischen genetischer Disposition und kulturabhängiger Variabilität das tatsächliche Verhalten124? Gehen wir davon aus, daß es biologisch bedingte Verhaltenstendenzen (Hunger, Durst, Bewegungsdrang, Neugier etc.) gibt, „die sich im Handeln des Menschen durchsetzen können, aber nicht müssen und die sich umso eher durchsetzen, je stärker sie sind" (HASSENSTEIN 1973, S. 15), gehen wir ferner davon aus, daß der Mensch aufgrund seiner kulturspezifischen Werthaltungen und Zielsetzungen, aufgrund seiner Erfahrungen sowie aufgrund
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seiner Vorausschätzung der Handlungskonsequenzen, kurz aufgrund seines Denkens und Willens befähigt ist, diese biologisch vorgegebenen Verhaltenstendenzen beträchtlich zu modifizieren, so wird deutlich, daß das tatsächliche Verhalten aus einem Wechselspiel von Antrieb und willentlicher Kontrolle resultiert. Menschliche Überlegung und biologisch begründeter Antrieb steuern das Verhalten. Dabei kann sich das vom Denken Gewollte soweit vom Antrieb entfernen, daß Verhaltensstörungen und - in Konsequenz problematischer Handlungen - Schädigungen auftreten. Antrieb und Vernunft können aber auch übereinstimmen und sich wechselseitig ergänzen; dann ist der Mensch „mit sich im Einklang" (HASSENSTEIN 1973, S. 306), befindet sich wohl. So, wie man die Klötzchen aus einem Baukasten auswählt und mit unterschiedlicher Bedeutung, unterschiedlichem Rang zu einem Bau kombiniert, konstruiert der Mensch sein tatsächliches Verhalten durch eine je nach Denken, Stimmung etc. spezifische Auswahl und unterschiedlich gewichtete Kombination und Beanspruchung der Elemente seines Antriebsarsenals. In diesem „Mechanismus", in dieser Fähigkeit, Antriebe auszuwählen, unterschiedlich zu wichten und zu kombinieren, gründet die außerordentlich hohe Anpassungsfähigkeit des Menschen an unterschiedlichste Umweltgegebenheiten, seine lebensräumliche Plastizität. Hierin liegt auch seine Freiheit, den biologisch verankerten Drang mit dem denkend Gewollten unterschiedlich zu verbinden. Hierin liegt aber auch sein Irrtums- und Schadensrisiko, denn er kann sich „vergreifen" bei der Kombination und Variation der Möglichkeiten. Damit gewinnt die Qualität seines Denkens bzw. seiner Bewertungen entscheidende Bedeutung. So können wir den Menschen angesichts seiner Bindung an sein Biogramm und das darin vorgegebene Antriebsarsenal einerseits sowie seiner Fähigkeit, damit je nach den Gegebenheiten flexibel umzugehen und unter Einsatz seiner Denkfähigkeit und seines Willens für modifiziertes Verhalten offen zu sein andererseits, als ein auf „begrenzte Weltoffenheit" programmiertes, kulturschaffendes Naturwesen deuten. Er verfügt damit nur über ein begrenzt offenes raumbezogenes Verhaltensprogramm. Dennoch besitzt er einen beträchtlichen Handlungsspielraum. Zusammenfassend sprechen wir daher von der genetisch und kulturspezifisch begrenzten Offenheit und Vielfalt des raumbezogenen Verhaltens bzw. der Raumnutzung des Menschen. Damit wird aber auch deutlich, daß der Anpassungsspielraum des einzelnen gegenüber den räumlichen Existenzbedingungen auf differenzierte Weise begrenzt wird. Die Grenzen der Anpassungsfähigkeit und die Schwelle zur Beeinträchtigung des Befindens bzw. zur Schädigung liegen dort:
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Zusammenschau und Hypothesenbildung zum Verhältnis Mensch - Raum
wo die genetischen Grundtendenzen des raumbezogenen Verhaltens nachhaltig mißachtet werden, wo die gewohnten sozial-räumlichen Schemata, wie sie sich individuell und kulturspezifisch herausgebildet haben, in ein zu starkes Mißverhältnis zu den vorgefundenen räumlichen Bedingungen geraten, wo also der Unterschied zwischen subjektiver räumlicher Vorstellung und der räumlichen Wirklichkeit zu groß wird, wo die Voraussetzungen für die unmittelbar physische Existenz (Licht, Luft, Wasser, Nahrung, Raum etc.) zu stark beeinträchtigt werden, ganz allgemein dort, wo die territorialen Bedingungen zu stark mit sozialen und physischen Zwängen und Belastungen verbunden sind. Die Aufgabe einer planenden Lebensraumgestaltung liegt nun darin, die kulturbedingte Neigung des Menschen, seine Anpassungsfähigkeit zu überfordern, durch Erfahrung, Wissen und Intelligenz abzugleichen und die Veränderungen des Daseinsraumes nur so vorzunehmen, daß Schädigung vermieden wird, so wie ζ. B. analog im politischen Bereich die Aufgabe darin bestünde, Kulturwandel harmonisiert ablaufen zu lassen und die mit extremem Wandel verbundenen Exzesse und Katastrophen zu vermeiden. Gemäß der Eigenart des Menschen ist beides durchaus möglich, stets aber auch das Gegenteil. Die Gestaltung des Daseinsraumes wäre also nicht nur so zu betreiben, daß durch verbesserten Umweltschutz zufriedenstellende Bedingungen der physischen Existenz geschaffen werden, sondern vor allem mit dem Ziel, daß der Mensch in Übereinstimmung mit seinem genetischen Verhaltensprogramm125 und seinen sozial-räumlichen Schemata leben kann, daß raumbedingte Zwänge und zu starke Belastungen abgebaut werden, ohne damit allerdings die wirtschaftlichen Existenzgrundlagen zu gefährden. Die Kunst besteht dabei darin, in Ausnutzung der genetisch und kulturspezifisch begrenzten Offenheit des raumbezogenen Verhaltens für die jeweilige Kultur optimale Raumnutzungsmodelle126 herauszuarbeiten und zu verwirklichen. Es ist zu betonen, daß eben keine a priori und absolut optimalen räumlichen Lebensbedingungen existieren, sondern bestenfalls relativ optimale in bestmögliche Abstimmung zwischen den jeweiligen kulturbedingten Maßstäben und der genetischen Begrenztheit der Menschen. Kultur und Zivilisation unterliegen der ständigen Veränderung. Das bedeutet aber, daß die räumlichen Existenzbedingungen parallel zum Kulturwandel flexibel und veränderbar sein müssen, ohne dabei die Ubereinstimmung mit dem genetischen Verhaltensprogramm zu verlieren. Durch die Forschung müßten die Konsequenzen unterschiedlichster Umweltgestaltung aufgezeigt werden, um an dieser Erfahrung sinnvolle, dem Menschen zuträgliche, der kulturellen Entfaltung förderliche und der Ge-
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sundheit dienliche Leitbilder der räumlichen Gestaltung (bzw. entsprechende raumbezogene Konstrukte) herauszuarbeiten. Gelingt es nicht, Verhaltensgenetik und kulturabhängige Strebungen durch entsprechende Leitbilder zu harmonisieren, verfehlt helfende Intelligenz (Kap. 5.2) ihr Ziel. Dann bleiben Unstimmigkeit und Konflikt zwischen einer der raumbezogenen Verhaltensgenetik und der körperlichen Begrenztheit gerechtwerdenden Raumgestaltung einerseits und der zivilisatorisch und gesellschaftlich für „notwendig" und wünschenswert erachteten andererseits. Der gestaltete Lebensraum würde dann möglicherweise einem steinzeitlichen Jäger gerecht werden, nicht aber den Anforderungen einer spezifischen Kultur der Gegenwart genügen, oder er wäre etwa ökonomischen Gesichtspunkten dienlich, nicht aber dem raumbezogenen genetischen Verhaltensprogramm. Beides wäre unbefriedigend. Wir werden uns der Frage, wie die Übereinstimmung zwischen kulturspezifischen Bedingungen und genetischer Fixierung des Menschen bezüglich der Raumnutzung herbeigeführt werden kann, noch zuwenden (vierter und fünfter Teil). Aus den bisherigen Überlegungen werden im nachfolgenden Kapitel einige wichtige, aber einfache und leicht einleuchtende Hypothesen abgeleitet. Sie verdeutlichen Aspekte der Wechselwirkung zwischen Raum und Mensch, deren man sich bei der Erarbeitung von Leitbildern zur Gestaltung des Lebensraumes und bei den Überlegungen zu einer Raum-Verhalten-Theorie bewußt sein muß.
6.1 11 Hypothesen zum Verhältnis Raum - Mensch 1. Hypothese Der Mensch befindet sich zwangsläufig aus eigenem, vermutlich angeborenem Antrieb in einer aktiven Auseinandersetzung mit seinen räumlichen Lebensbedingungen; handelnd erprobt er ständig Nutzungen des Raumes; er ist a priori ein Umweltveränderer. (Hypothese vom zwangsläufig umweltverändernden und -erprobenden Menschen). Der Mensch kann seinem Wesen gemäß kein passives Verhalten gegenüber seiner räumlichen Umwelt einnehmen, kann also nicht etwa das unverändert „abweiden", was ihm zuwächst. Das „Paradies" mit seiner passiven Nutzung des Dargebotenen ist dem Menschen nicht gemäß. Der Mensch ist ein Mängelwesen, das von vornherein Produkte seines Lebensraumes umgestaltend für sich nutzen muß. Ein solches aktives Verhältnis zum Lebensraum findet sich zwar ebenso bei zahlreichen Tieren, ist aber beim Menschen besonders entwickelt und wichtig. Im handelnden Umgang mit dem Lebens-
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Zusammenschau und Hypothesenbildung zum Verhältnis Mensch - Raum
räum und seinen Objekten entfaltet sich das Denkvermögen des Kindes und entwickelt und verändert sich das Denken des Erwachsenen. Zugleich aber wird die Art und Weise des Handelns und der Umweltnutzung vor allem durch die eigene Denkleistung des Menschen bestimmt, was nicht ausschließt, daß auch genetisch verankerte Tendenzen des raumbezogenen Verhaltens wirksam sind. Das Uberleben im Lebensraum und dessen angemessene Nutzung ist damit vor allem vom Gebrauch der Intelligenz abhängig127. Die instinktmäßige Bindung wurde stammesgeschichtlich immer mehr durch das vom Menschen aktiv Erlernte abgedrängt, darauf muß er sich vor allem verlassen; darauf stützt sich auch seine beträchtliche Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Vielseitigkeit. Das genetische Programm, die Disposition zu adaptivem Verhalten, erlaubt bzw. begünstigt lediglich die Anpassungsfähigkeit, begrenzt sie allerdings gleichzeitig auch. So sind Erfahrungsammeln, Lernen und Weitergeben des Erfahrenen und Erkannten von arterhaltender Bedeutung. Ein ständiges zunächst zweckfrei erkundendes Handeln und Ausprobieren der räumlichen Umwelt128 ist daher nicht nur für das Kind typisch und wichtig, sondern allgemein für den Menschen. Die Lernsituation, die Erprobungssituation gegenüber der Umwelt ist Selbstzweck. Der Umgang des Menschen mit seinem Daseinsraum ist daher von vornherein experimentell, ausprobierend, einschließlich des damit verbundenen Irrtumsrisikos, aber auch einschließlich des Lerneffekts bezüglich sinnvoller kulturspezifischer Formen der Raumnutzung. Aus Erfolg oder Mißerfolg lernend und gewissermaßen in wissenschaftlichem Ansatz Hypothesen der Raumnutzung prüfend, übt sich der Mensch im Umgang mit den räumlichen Existenzbedingungen. Er spielt die Möglichkeiten der Nutzung, die ihm einfallen, durch. Ein ständiger Kreislauf von Handeln und Denken, von Probieren und Korrigieren variiert das menschliche Verhalten und den Lebensraum. Experimente können aber fehlschlagen und sogar Katastrophen zur Folge haben. Eine Gefährdung der Art wäre jedoch erst dann gegeben, wenn schädigende Wirkungen irreversibel sind und wenn der Mensch seine grundsätzlich lernende und antizipierende, also der Erfahrung und der Einsicht in Zusammenhänge zugängliche Haltung aufgeben würde. Wichtig bleibt die Feststellung, daß der Mensch als ein Handelnder von vornherein ein LebensraumveránJerer ist und daß bisher immer nur die Einsicht in die Folgen seines Tuns und die Korrektur seiner Irrtümer die Erhaltung der Art gewährleisteten129. Die Folgewirkungen des menschlichen Tuns werden aber immer umfassender und geraten immer mehr in die Gefahr irreversibel zu sein (s. o.). Einsicht in die komplexen Folgewirkungen
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der gegenwärtigen Raumnutzung und Anwendung vorausschauender Intelligenz wird daher immer zwingender notwendig. 2. Hypothese Die Auseinandersetzung des Menschen mit seinen räumlichen Existenzbedingungen verläuft über einen Anpassungsprozeß, der innerhalb gewisser Grenzen kulturabhängig variabel gestaltet werden kann und grundsätzlich Formungen sowohl der vorgegebenen räumlichen Voraussetzungen wie auch der sozialen Strukturen und des Verhaltens erlaubt (Wechselwirkung!) - (Hypothese von der begrenzt kulturabhängig variablen Anpassung zwischen Mensch und Daseinsraum). Artspezifisch ist nicht eine einzige typische Form der Anpassung an den vorgegebenen Daseinsraum, sei es durch dessen Veränderung oder Veränderung des eigenen Verhaltens. Artspezifisch ist vielmehr ein potentieller Handlungsspielraum bzw. die kulturbedingte Vielfalt. Jede Kultur beeinflußt die natürlichen Voraussetzungen auf andere Art und läßt sich selbst unterschiedlich beeinflussen. Jede Kultur muß also eine spezifische Anpassungsleistung vollbringen. Kulturen, denen es nicht gelingt, einen Zustand des Fließgleichgewichts zwischen sozialen Strukturen und territorialen Bedingungen herbeizuführen, die ihren Handlungsspielraum zu sehr einengen, sind in ihrer Existenz gefährdet und dem Selektionsdruck verstärkt ausgesetzt. Anpassung an den Lebensraum ist daher beim Menschen vor allem eine kulturelle Leistung, d. h., sie ist hochgradig abhängig von der sozialen Organisation, vom Wissen, vom Wollen usw. Gleichzeitig geht aber auch von den territorialen Voraussetzungen eine beeinflussende Wirkung auf die kulturelle Entwicklung aus, allerdings nicht in deterministischem Sinne (vgl. Kap. 3.4 sowie Kap. 7, Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie). Es gibt ungeachtet des Fortschrittsgrades einer Gesellschaft stets auch Umweltfaktoren, denen sich die Gesellschaft anpassen muß. Kultur wäre also durchaus auch Adaption (Anpassung) an gegebene Umweltbedingungen und nicht nur Prägung der Umwelt durch den Menschen, so wie der Mensch eben nicht nur Kulturwesen sondern auch Naturwesen ist. Von besonderer Bedeutung ist aber, daß die kulturabhängige Vielfalt der Anpassung an die räumlichen Existenzbedingungen nur innerhalb gewisser Grenzen variabel ist. 3. Hypothese Im Menschen sind kulturunabhängige Grundtendenzen bzw. Antriebe des raumbezogenen Verhaltens130 genetisch verankert (Hypothese von den räumlichen Aspekten der Biogrammatik). Der Mensch scheint allerdings durchaus in der Lage zu sein, aufgrund einer kulturbeeinflußten Anpassungsleistung zumindest zeitweilig Raumnutzungen und raumbezogene Verhaltensweisen zu realisieren, die mit den
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genetisch verankerten Grundtendenzen des raumbezogenen Verhaltens kaum noch übereinstimmen. So wird zweifellos unsere gegenwärtige Lebensweise in vielen raumbezogenen Aspekten dem genetischen Verhaltensprogramm, das sich in Konfrontation mit ganz anderen Existenzbedingungen in der langen altsteinzeitlichen Periode geformt hat, nicht voll gerecht; dennoch scheinen wir überleben zu können. Aber so groß die Offenheit und Vielfalt einer kulturabhängigen Ausprägung der Raumnutzung, so hoch die Anpassungsfähigkeit des Menschen an räumliche Lebensbedingungen auch sein mag, letztlich findet sie ihre Grenzen doch an den genetischen Bindungen des Menschen, da diese langfristig eben nur um den Preis der Schädigung mißachtet werden können. 4. Hypothese Die Anpassung des Menschen an räum- und standortgebundene Lebensbedingungen ist zwangsläufig begrenzt (Hypothese von der limitierten raumbezogenen Adaption). Wir erklären dies durch die folgenden Annahmen (vgl. zum besseren Verständnis mit dem beigegebenen Diagramm und den dort und im Text verzeichneten Ziffern - Abb. 1): Wandeln sich die räumlichen Existenzbedingungen, dann muß sich der Mensch an diese neue Situation anpassen. Die Anpassungsleistung muß umso größer sein, je größer die Belastung durch die neuen räumlichen Existenzbedingungen ist (vgl. Anpassungskurve). Dabei unterscheiden wir zwischen einer „objektiven" Belastung131, die durch die Diskrepanz zu den verhaltensgenetischen Grundlagen und zur physiologischen und körperlichen Begrenztheit (letztere als Voraussetzungen der unmittelbar physischen Existenz) gekennzeichnet wird (4) und einer „subjektiven" Belastung (2)132, die durch die Abweichung von den bisher gewohnten räumlichen Existenzbedingungen und den gültigen sozial-räumlichen Schemata bestimmt wird (auch als subjektive Veränderungsbelastung zu deuten)133. Nach der Konfrontation mit den neuen räumlichen Existenzbedingungen kann diese Belastung bzw. Veränderungsbelastung134 auf zweierlei Weise bewältigt werden. Entweder es setzt eine bejahende und das Wohlbefinden steigernde Annahme (Akzeptation) der neuen Bedingungen, sagen wir, eine „positive Gewöhnung", ein, oder aber gegen die als anhaltend oder gar wachsend empfundene Belastung (2) muß eine verstärkte Anpassungsleistung (1) mobilisiert werden, um mit Hilfe dieser „negativen Gewöhnung" die (neuen) räumlichen Existenzbedingungen ertragen zu können. Das Ausmaß dieser erforderlichen Anpassung im Sinne negativer Gewöhnung, sei sie freiwillig, um höherer Ziele willen oder sei sie erzwungen, ist sicherlich begrenzt (3). Wenn die subjektive Belastung (bzw. subjektive Veränderungsbelastung - Abweichung von der gewohnten Situation und den sozial-
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11 Hypothesen zum Verhältnis Raum - Mensch
Objekt Belastung durch räumExistenzbedingungenzunehm Diskrepanz zu den verhaltensgenetischen Grundlagen u.
Ausmaß d erforderlichen mMMÍL\
zur physiolog. u. körperlichen Τ \Begrenztheit
absolute Grenze d. Belastbarkeit
O
bei Überschreitung setzt Konflikt. Protest. Erkrankung, Zusammenbruch o. ä. eineitere Anpassung wird verweigert
zunehm. Gefahr«*;'
Θ
©
Subjekt. Belastung durch räumt. Existenzbedingungen (auch als Veränderungsbelastung)
positive Bewertung spezif. Prioritäten
einschließlich neuer bzw. veränderter räumlicher Existenzbedingungen
Abb. 1:
Anpassung an räumliche Existenzbedingungen*
räumlichen Schemata) extrem hoch war, oder wenn die Anpassung zu starke Abweichungen von den genetisch verankerten Grundkategorien des raumbezogenen Verhaltens erzwingt bzw. wenn die physiologische und körperliche Begrenztheit (objektive Belastung) (4) nachhaltig überfordert wird, dann ist die Grenze der Anpassungsfähigkeit und Belastbarkeit bald erreicht (5). Eine weitere Anpassung an diese nicht mehr akzeptierten Bedingungen wird verweigert; es kommt zum Konflikt, zum Protest, zum Ausweichen (ggf. als Abwanderung). Ist dies aus ökonomischen oder anderen Gründen nicht möglich bzw. erfolglos, wächst die Unzufriedenheit. Es entstehen Gereiztheit und aggressive Haltung, die sich in Gewalttätigkeit entladen können, oder
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Zusammenschau und Hypothesenbildung zum Verhältnis Mensch - Raum
aber es kommt zur Apathie, zur Resignation, zur körperlichen oder geistigen Erkrankung, zu differenzierten pathologischen Phänomenen oder gar zum Zusammenbruch des Individuums135. Bevor allerdings diese kritische Grenze (5), ab der eine weitere Anpassung verweigert wird, erreicht wird, ist noch immer hochgradige Anpassung wirksam, die allerdings dem Menschen schon nicht mehr zuträglich ist (6) und unter der allmählich und den Betroffenen kaum bewußt, Schädigungen entstehen (7). Die Anpassung wird dennoch vollzogen, da diese negativen Folgen erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung erkannt werden. Oft lassen sogar kulturbedingte Einstellungen, Moden, Ideologien diese Anpassung als erstrebenswert erscheinen, ζ. B. weil insgesamt ein vergrößerter Nutzen (8) erwartet wird. Oder aber differenzierte Notwendigkeiten erlauben keine alternativen räumlichen Bedingungen; man paßt sich folglich an das Übel an und versteht sich als „Gewohnheitstier". So ist es durchaus möglich, daß Befragung eine gewisse Zufriedenheit der Menschen mit räumlichen Existenzbedingungen, die in Wirklichkeit schädigende Wirkungen haben, aufzeigt. Man „arrangiert" sich eben; eröffnen sich jedoch bessere Möglichkeiten, weicht man dem Anpassungsdruck der alten Situation aus, und die vermeintliche „Zufriedenheit" verfliegt rasch. Für das Verständnis unserer Annahme erweist sich das vor allem von dem Endokrinologen H . SELYE ( 1 9 5 2 , 5 6 , 7 1 ) herausgearbeitete „allgemeine Anpassungssyndrom" (General Adaptation Syndrome) als sehr hilfreich. Die Anpassung an unterschiedlichste belastende Einwirkungen verläuft danach über drei Stadien. Im ersten Stadium, der Belastungs- oder Schockphase, werden die Anpassungsmechanismen aktiviert (Alarmreaktion), in der zweiten Phase, der Anpassungs- oder Resistenzphase (Stadium des Widerstandes), wird ein Höchstmaß an Anpassung erreicht, wobei dann schädigende Symptome der Belastung gar nicht mehr oder nur verringert spürbar werden; erst in der dritten Phase, dem Stadium der Erschöpfung, bricht der Anpassungsmechanismus durch Überforderung (5) zusammen. Für unsere Belange ist entscheidend, daß im Rahmen der gesamten Anpassung an bestimmte Belastungen (Stressoren - auch räumliche Lebensbedingungen) eine Phase eintritt, in der die allgemeine Widerstandsfähigkeit gegen den Stressor über das normale Maß hinaus gesteigert wird. Der Mensch hat sich also scheinbar mit Erfolg an die verstärkte Belastung angepaßt. „Sonderbarerweise ging die erworbene Anpassung wieder verloren, wenn die schädlichen Agenzien noch länger einwirkten" (H. SELYE, 1971, S. 28). Erst nach dieser, zwar durch verstärkte Anpassungsleistung (3) verdrängten, tatsächlich aber bestehenden Überbelastung setzt das „Stadium der Erschöpfung" ein. Die Widerstandskraft gegenüber Stressoren sinkt bis weit unter den Normalbereich ab, Zusammenbruch oder Krankheit folgen
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(5). Die Phase verstärkter Anpassung im normalerweise bereits schädigenden Bereich (7) täuscht somit über die tatsächlich bestehende Überforderung hinweg. Vor dem Zusammenbruch kann also Anpassung die tatsächliche Gefährdung verdecken. Das heißt nichts anderes, als daß sich der Mensch vermutlich an räumliche Lebensbedingungen - zumindest zeitweilig - anpassen kann, die ihm bereits schaden (7) bzw. den Zusammenbruch (o. ä.) vorbereiten, ohne daß er dies merkt. Ja, erste Symptome können geradezu verdrängt werden, weil Bewußtsein und Wahrnehmung des Menschen auf bestimmte andere Prioritäten orientiert sind (9) und subjektiv noch ein angeblicher Nutzenzuwachs (8; 10) empfunden wird (vgl. Nutzenkurve)136. Wir dürfen also bei der tatsächlichen Raumnutzung häufig eine Anpassung (11) an bereits nicht mehr oder nur eingeschränkt zuträgliche räumliche Existenzbedingungen vermuten (vgl. 7. Hypothese). Es muß ausdrücklich betont werden, daß die Darstellung des vermuteten Sachverhaltes nur eine annähernde und sicherlich noch unvollständige Beschreibung der Wirklichkeit bietet und lediglich einen Erklärungsansatz verdeutlichen soll. Vor allem ist eine genaue Beschreibung, wie die Anpassung beeinflußt wird und wovon sie abhängt, nicht allein durch Darstellung von Kurvenverläufen wie im vorliegenden Diagramm zu erreichen137; zumal Anpassungskurve und Nutzenkurve je nach Person, Gesellschaft, Situation und Zeitpunkt anders ausfallen werden. Anpassung und Nutzen sind bewertungsabhängig und damit relativ. Wir müssen in diesem Zusammenhang auf einen, wie uns scheint, sehr wesentlichen Sachverhalt verweisen. In welchem Ausmaß ζ. B. gleiche Umweltgegebenheiten bzw. -reize als Belastung oder Belästigung empfunden werden, ist von Person zu Person verschieden, aber auch bei derselben Person nicht zu jedem Zeitpunkt gleich. Entsprechend unterschiedlich ist der Druck der Anpassung, der von diesen Umweltfaktoren ausgeht; ebenso verschieden würde die jeweils erforderliche individuelle Anpassungsleistung sein, wie auch die Bereitschaft und Notwendigkeit, sie zu vollziehen. Das heißt aber auch, es ist sehr schwer, die Aktivitäten zur Schaffung möglichst optimaler Umweltbedingungen an allgemeingültige Maßstäbe138 zu binden. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Lärm stellt in der Regel für geistige Tätigkeit eine zusätzliche Erschwerung dar. Andererseits können Lärm und Geräusch je nach Art und Lautstärke auch stimulierend und aktivierend wirken139, freilich abhängig von der Person und deren Tätigkeit. H. DÜKER (1963, S. 46-72) verweist ζ. B. darauf, daß zur Überwindung der zusätzlichen Belastung durch Lärm eine „reaktive Anspannungssteigerung" im Menschen ausgelöst wird und so eine zumindest zeitweilige Steige-
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rung der Lernleistung einsetzt. Je nach ausgeübter Tätigkeit und Person werden Reizbombardements eine unterschiedlich starke reaktive Anspannungssteigerung und Aktivierung zur Folge haben. Aber Aktivierung ist nur eine Form der Anpassung an Umweltreize; ebenso kann direkte Störung, Leistungsminderung oder Resignation einsetzen. So wird das für die Leistungsentfaltung optimale Milieu von Person zu Person außerordentlich unterschiedlich sein. Der eine wird von einem Konzert oder durch lärmendes Verkehrsgewühl zur geistigen Aktivität angeregt werden, während der andere eingeschläfert wird oder sich belästigt fühlt, was nicht ausschließt, daß zu einem anderen Zeitpunkt die Wirkung genau umgekehrt ist. Wir halten fest als 5. Hypothese Gleiche Umweltgegebenheiten belasten, belästigen, beeinträchtigen die verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich; der Druck und die Notwendigkeit zur Anpassung an räumliche Existenzbedingungen ist somit relativ (Hypothese von der Relativität der Umwelteinwirkung). Wenn die Einwirkungen auch objektiv meßbar sind, so wirkt ihre Aufnahme und Verarbeitung durch den Menschen doch relativierend. Warum? Das Ausmaß der Belastung, Belästigung, Beeinträchtigung des Menschen durch Umweltreize scheint uns abhängig zu sein von: 1. der Art des Reizes 2. der Intensität des Reizes 3. der Dauer des Reizes 4. der Personalität des Betroffenen (Disposition, Konstitution, Charakter, Alter, Erfahrungen usw.) 5. der Differenz zum vorherigen Zustand bzw. zum bisher Gewohnten 6. der Diskrepanz zu den verhaltensgenetischen Grundlagen und zur physiologischen und körperlich - seelischen Begrenztheit des Menschen 7. der momentanen Situation (Stimmung, Verfassung, gegenwärtiger Gesundheitszustand, Grad der Anspannung oder Entspannung, erforderliche Konzentration, momentane Tätigkeit usw.) 8. dem natürlichen und kulturellen Milieu (örtlichkeit, räumliche Bedingungen einschließlich Klima usw.; geltende Auffassungen, Normen, Dogmen, Werte; ökonomische, soziale, kulturelle Bedingungen und Bindungen usw.) 9. der subjektiven sinnorientierten Bewertung (als Eigenleistung der Person). So dürfte die Belastung, Belästigung, Beeinträchtigung durch raumbezogene Existenzbedingungen eine Funktion zahlreicher variabler Einflußgrößen sein, wobei freilich differenzierte Wechselwirkungen bestehen. Es ist für unsere Überlegungen unerheblich, ob es sich bei den unterschie-
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denen Einflußgrößen um jeweils deutlich abgrenzbare Elemente oder um unabhängige Variablen handelt, ob die Unterscheidung befriedigend und die Aufzählung vollständig ist, wichtig ist, daß wir verdeutlichen, wie differenziert, vielfältig bedingt und personenspezifisch Art und Ausmaß der Belastung durch räumliche Existenzbedingungen sind. Von besonderer Bedeutung ist wahrscheinlich der Typus einer Person. Sympathicotoniker werden anders auf Stressoren reagieren, sich auf andere Weise belästigt fühlen, als Vagotoniker oder der ausgeglichene Personentyp. Leicht Erregbare verausgaben sich angesichts bestimmter Umweltreize eher als typische „Abschirmer". Das bedeutet aber auch, daß sich die Frage nach den optimalen raumbezogenen Existenzbedingungen letztlich nur am Individuum sowie an Werthaltungen, Normen, Sinngebungen und am kulturellen Milieu orientiert beantworten läßt140. 6. Hypothese Es besteht eine potentielle Unstimmigkeit zwischen den genetischen Grundkategorien des raumbezogenen Verhaltens sowie der physiologischen und körperlich-seelischen Begrenztheit des Menschen einerseits und den kulturabhängig anerzogenen, erzwungenen oder erwünschten raumbezogenen Verhaltensweisen andererseits. Ungeachtet der Relativität der Belastung durch räumliche Existenzbedingungen (5. Hypothese) verwirklicht der Mensch immer wieder Raumnutzungen, die der raumbezogenen Verhaltensgenetik, der physiologischen und körperlich-seelischen Begrenztheit wie auch den gewohnten sozial-räumlichen Schemata nicht gerecht werden, sei es in Verfolgung subjektiver Nutzenbilanzen um höherer Ziele willen, sei es aus Unkenntnis oder unter Zwang. In der Praxis beobachtbare Phänomene verdeutlichen, daß es durchaus zu einer beträchtlichen Diskrepanz zwischen kulturabhängig gewollten, tatsächlichen Raumnutzungen und raumbezogenen Verhaltensweisen einerseits und der Gesundheit zuträglichen andererseits, kommen kann. Diese Diskrepanz ist sogar potentiell angelegt, da es für das auf adaptives Verhalten programmierte Natur-Kulturwesen Mensch typisch ist, im Rahmen des Anpassungsprozesses zwischen Raum und Menschen Verhaltensweisen und Raumnutzungen zu entwickeln und zu erproben, bei denen sich oft erst nach langer Erfahrung zeigt, ob sie mit den genetischen Grundkategorien raumbezogenen Verhaltens übereinstimmen oder nicht, denn das genetische Programm ist in keinem nachlesbaren Kodex einschließlich ergänzender „Fallsammlung" fixiert. Auch kann man auf keine natürliche Selektion vertrauen, die gewissermaßen die Träger problematischer Anpassungsneigungen aus dem Fortpflanzungsprozeß ausschalten. Wer ζ. B. Opfer typischer Zivilisationskrankheiten als Folge fragwürdiger Lebensformen wurde, hat sich meist vor der Erkrankung in noch jüngeren Jahren bereits fortgepflanzt. Ein
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gewissermaßen „evolutionäres Lernen" aus schädigendem zivilisationsspezifischem Verhalten bzw. eine diesbezügliche genetisch klügere Nachkommenschaft sind also keineswegs gewährleistet, biologische Anpassung durch Selektion findet kaum statt. Die Chance, die Diskrepanz (s. o.) auf diese Weise zu verringern ist also recht gering. Der experimentelle bzw. unter Risiko erprobende Umgang des Menschen mit seiner räumlichen Umwelt bleibt daher unausweichlich und zugleich von existentieller Bedeutung, auch weil das genetische Verhaltensprogramm nur grobe Grundtendenzen des raumbezogenen Verhaltens enthält, die eine beträchtliche Streuung im Detail erlauben und daher kritisch erprobt werden müssen. Außerdem gehorcht der Mensch auch Antrieben und Notwendigkeiten, die nicht unmittelbar raumbezogen sind, die zuträglichen Raumnutzungen ggf. sogar entgegenwirken, ökonomische Zwänge oder das Phänomen „ständig mehr haben zu wollen", Verlangen nach Macht, Ehrgeiz, Geld, die Unruhe des Vergleichs, der Hang zur Steigerung, zur Weiterentwicklung, aber auch der Wettkampf politischer Systeme, Ideen usw. lassen zuträgliche Raumnutzungen in einer Gesellschaft oft als zweitrangig erscheinen. Gleichzeitig scheint der Mensch bemüht zu sein, die Diskrepanz durch Anpassung mögüchst zu verringern. Darin liegt allerdings auch das Risiko der Fehlanpassung. So zwingt sich ζ. B. der „moderne" Mensch, eng gebunden an höchste Populationsdichten und die organisatorischen Zwänge der Wirtschaft und des sozialen Lebens in ein Zivilisationsverhalten (einschließlich raumbezogener Verhaltensweise), das den in ihm angelegten Streßmechanismus gesundheitsschädigend wirksam werden läßt. Ein ursprünglich die Überlebensfähigkeit des Menschen erhöhender Ablauf, durch den bei bestimmten Umweltreizen eine blitzschnelle, vor allem körperliche Reaktion ermöglicht wird141, wird durch zu starke Reizung, wie sie als Folge der räumlichen Zusammendrängung, akustischer und optischer Überflutung, ständiger Hast, aufreibender Auseinandersetzung etc. auftreten, zur Gefahr für den Menschen zumal zugleich die Möglichkeiten sich abzureagieren eingeschränkt sind. Kulturbedingte Zielsetzungen oder Notwendigkeiten können zur Anpassung an bereits nicht mehr zuträgliche Bedingungen, zur Schädigung, führen (vgl. 4. Hypothese). Wir haben es aber nicht mit einer biologischen bzw. echten Anpassung etwa im Sinne der Herstellung eines neuen zuträglichen Gleichgewichtes (zwischen gesundem Organismus und Umwelt) und entsprechenden genetischen Veränderungen zu tun, sondern mit einer zufolge kulturspezifischer Entscheidung oder Notwendigkeit jeweils aktualisierten Bedingungstoleranz, die, begünstigt durch die geringe physiologische und anatomische Spezialisierung des Menschen, eher eine Art Gewöhnung, eher Ertragen
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oder Mitmachen als echte Duldsamkeit ist, und die oft genug dann doch mit der Beeinträchtigung der psychischen und physischen Funktionsfähigkeit bezahlt wird. Wer sich ζ. B. angesichts hoher Wohndichte und zu starker Stimulation beginnt gegen Andere stärker abzuschirmen, steht zugleich in der Gefahr in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen zu verarmen und so vielleicht seelisch und nachfolgend körperlich zu verkümmern. Wir haben es also letztlich mit riskanten Scheinanpassungen zu tun, denn naturgemäß angepaßt sind wir an viele unserer kulturspezifischen Lebensbedingungen und Verhaltensweisen eben nicht. Wir halten daher fest als 7. Hypothese Der Mensch paßt sich häufig für längere Zeit an Raumnutzungen an, die ihn bereits schädigen; er steht unter dem Risiko psychisch und physisch beeinträchtigender Scheinanpassung. Daraus folgt als 8. Hypothese (in Ergänzung der 6. Hypothese): Es besteht potentiell eine, wenn auch begrenzte, Unstimmigkeit zwischen dem tatsächlichen raumbezogenen Verhalten einerseits und dem für das Wohlbefinden und die seelische und körperliche Gesundheit des Menschen wünschenswerten andererseits (Hypothese von der prädisponierten Diskrepanz zwischen tatsächlicher und zuträglicher Raumnutzung). Wird allerdings die genetische Determinante des Menschen zu nachhaltig überfordert, beginnt ein Druck zur Veränderung der kulturabhängigen Verhaltensweisen immer stärker wirksam zu werden; die Diskrepanz wird also nicht unbegrenzt auseinanderklaffen. Aber es ist keine „automatische", ständig harmonisierende Selbstregelung des Mensch-Raum-Verhältnisses wirksam mit dem Ziel, schädigende Raumnutzungen zu verhindern und räumliche Existenzbedingungen hervorzubringen, die das Wohlbefinden soweit wie möglich fördern142. Wahrscheinlich gibt es eine solche rechtzeitige und schonende Selbstregulation ohnehin nur sehr selten, setzt sie doch Einsicht in die Zusammenhänge und entsprechend vorausschauendes Handeln voraus. Das ist schwer zu erreichen, besonders dann, wenn der Mangel an Erfahrung und bewährter Tradition die subjektive Unsicherheit gegenüber einer neuen Situation erhöhen. Andererseits sind aber durchaus Verhaltensweisen vorstellbar, durch die Raum und Gesellschaft so miteinander abgestimmt werden, daß die Gefahr von Schädigung und Katastrophe (ζ. B. Hungerkatastrophen) vermindert wird, das Risiko irrtümlicher Raumnutzung sinkt. Vielfach werden aber entsprechende Korrekturen erst ausgelöst, wenn die Anpassungsgrenzen bereits überschritten wurden, wenn schädigende Spätwirkungen sichtbar geworden sind und die Unzuträglichkeit einer Raumnutzung durch alle Filter
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kulturbedingter Prioritäten hindurch, voll das allgemeine Bewußtsein erreicht hat143. Ein weiterer Schritt ist es bis zur Verwirklichung der Abhilfe. Zahlreiche soziale, ökonomische oder andere Widerstände sind zuvor zu überwinden; wenn überhaupt eine Selbstregulation erfolgt, dann häufig verzögert und verspätet. Durch die bis zur Schädigung gesteigerte Anpassungsfähigkeit des Menschen, durch seine Leidensfähigkeit, durch verzögerte Erkenntnis, durch irreführende Dogmen und Zielsetzungen, aber auch durch hemmende gesellschaftliche Strukturen und törichte individuelle Einstellungen kommt es häufig zur Verschleppung und zur verminderten Wirksamkeit einer schonenden Selbstregulation144. Wir formulieren als 9. Hypothese Die Selbstregulation des Mensch-Raum- Verhältnisses zur Herbeißhrung zuträglicher und der Gesundheit dienlicher räumlicher Lebensbedingungen ist potentiell gestört; sie erfolgt häufig nur vermindert, verzögert, verspätet. So besteht stets die Gefahr, daß etwas zu spät geschieht, also erst nach Eintreten der Schädigung, oder nachdem irreversible Abläufe ausgelöst worden sind. Ja, es ist nicht auszuschließen, daß die rechtzeitige Selbstregulation in Zukunft immer mehr erschwert wird. 10. Hypothese Es ist möglich, daß die Diskrepanz zwischen den genetischen Grundtendenzen des raumbezogenen Verhaltens und dem kulturbedingt anerzogenen und tatsächlichen Verhalten im Raum zunimmt und eine schonende Selbstregulation immer mehr geschwächt und erschwert wird. Der Mensch ist aufgrund der vielfach noch immer wachsenden Bevölkerungsdichte, durch Nahrungsmittelbedarf und durch hohen Konsum gezwungen, in Anwendung gesteigerter technischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Fähigkeiten, die räumliche Umwelt immer stärker zu verändern; er kann sie immer weniger „naturnah" belassen. Im allgemeinen ist eine Tendenz zur Intensivierung der Raumnutzung wirksam. Gleichzeitig wachsen die Möglichkeiten, durch Konditionierung und Prägung (Kommunikationswesen, Lernpsychologie, hoher Konformitätsdruck in Massengesellschaften etc.) dem Menschen die Bejahung bestimmter Umweltbedingungen anzuerziehen145, selbst wenn diese den genetisch verankerten Verhaltenskategorien kaum gerecht werden (genetisch-kulturelle Phasenverschiebung - vgl. Kap. 5.1). Nimmt die Beeinträchtigung der Selbstregulation zu, weil die Notwendigkeit, gedrängt in einer zunehmend künstlichen Umwelt zu leben, immer zwingender wird und gleichzeitig die Fähigkeit, diese Lebensweise materiell und geistig durchzusetzen, steigt?
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Die beschriebene Beeinträchtigung der Selbstregulation des MenschRaum-Verhältnisses legt eine beunruhigende Vermutung nahe. Da die Versuche zur Regulation tendenziell verzögert, vermindert oder zu spät einsetzen, wächst die Wahrscheinlichkeit, daß sich zwischenzeitlich stark veränderte Bedingungen und Trends herausbilden, deren regelnde Beeinflussung dann kaum noch möglich ist, da 'the point of no return' bereits überschritten wurde. Technik und Wissenschaft (bes. Naturwissenschaft) führen zudem zu einer beträchtlichen Beschleunigung von Prozessen, die, in ihren sozialen Auswirkungen mangels Erfahrung kaum absehbar, geistig noch nicht bewältigt sind und folglich nicht entsprechend kontrolliert werden. Setzen dann, nachdem die Gefahren bewußt geworden sind, Korrekturen ein, so sind sie häufig nicht mehr angemessen, da sie auf eine bereits wiederum beträchtlich veränderte Situation treffen. So kann u. U. einer einmal in Gang gekommenen Entwicklung kaum noch Einhalt geboten werden, weil sie zum einen nicht richtig verstanden wird (auch hinsichtlich ihrer wahrscheinlichen Auswirkungen) nicht geistig bewältigt wurde, weil zum anderen kein Instrumentarium zu ihrer Steuerung im geeigneten Zeitpunkt zur Verfügung stand. Sie endet erst in der „abschließenden" Katastrophe. Daß sich mit größerer Veränderungsgeschwindigkeit gleichzeitig auch die regulierenden Reaktionen beschleunigen (ζ. B. durch raschere Kommunikation und effektivere Maßnahmen) bleibt zu hoffen, ist aber keineswegs gewiß. Die in Zukunft wahrscheinlich ansteigende Zahl der Hungersnöte in bestimmten Teilen der Welt oder denkbare ökologische Katastrophen könnten bestätigen, daß eine rechtzeitige „schonende" Selbstregulation aufgrund verschleppter bzw. zu spät einsetzender und dann nicht mehr wirksamer Regelungen zunehmend verhindert wird. Gestörte Selbstregulation erhöht also die existenzielle Gefährdung des Menschen. Um die Bedenken zu verdeutlichen, müssen wir noch einmal auf den Charakter der Selbstregulation zwischen Mensch und Raum verweisen. A. ALLAND (1970) versucht in seiner Untersuchung „Evolution und menschliches Verhalten" deutlich zu machen, daß Kultur als Anpassungsmechanismus (Adaptionsmechanismus - S. 182) bestrebt ist, Lebensraum und Mensch (bzw. menschliches Verhalten) so miteinander in Beziehung zu setzen, daß ein sich selbstregulierendes System entsteht, daß also eine Regelung einsetzt, durch die ζ. B. einzelne Komponenten der Bodennutzung und der verfügbaren Ressourcen mit der Sozialstruktur, der Populationsgröße und dem generativen Verhalten usw. abgestimmt werden und sich wechselseitig rückkoppelnd im Gleichgewicht halten. An einem Beispiel aus Bihar (Nordindien) verweist er auf ein solches Gleichgewichtssystem zwischen Sozialstruktur und Raumnutzung (S. 193). Dieses Gleichgewicht wurde
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Zusammenschau und Hypothesenbildung zum Verhältnis Mensch - Raum
durch die Ausrottung der Malaria und durch das Streben nach neuen Verbrauchsgütern so gestört, daß es ohne Unterstützung durch die Regierung, also ohne Hilfe von außerhalb, zu einer Hungerkatastrophe kommen würde. Es gibt zahlreiche andere Beispiele, wo gestörte Gleichgewichtssysteme zwischen Raumnutzung und Sozialstruktur bzw. Verhalten tatsächlich zu Katastrophen führten und auswärtige Hilfe entweder gar nicht, verspätet oder zu schwach einsetzte. Nicht nur organisatorische Unfähigkeit wäre dafür verantwortlich zu machen. Vielmehr sind die Auswirkungen auch sehr unwesentlich erscheinender Eingriffe und Einflüsse oft nicht vorauszusehen, Vorsorge ist dann kaum möglich. Die von ALLAND unterstellte Tendenz zum selbstregulierenden System scheint uns stets mit hohem Irrtumsrisiko behaftet zu sein. In unserem Zusammenhang ist es wichtig, festzustellen, daß eine erfolgreiche Anpassung, wenn man so will, eine Harmonie zwischen Mensch und Raum, sowohl bezüglich der Sozialstruktur wie auch der Raumnutzung bereits durch geringfügig geänderte Bedingungen oder unbeabsichtigte Nebenwirkungen aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Selbstregulationen zwischen Mensch und Raum sind also hochgradig empfindlich und störanfällig. Aber uns erscheint vor allem ein weiterer Gesichtspunkt der Beachtung wert. Solche sich selbst regulierenden Mensch-Umwelt-Systeme sind nicht nur durch kleinste Einwirkungen von außen gefährdet, sie enthalten geradezu immanent eine Disposition zur Selbstzerstörung. Durch die Fähigkeit des Menschen, sich an Raumnutzungen anzupassen, die ihm bereits schaden (7. Hypothese) - sei es um kulturspezifischer Werthaltungen willen oder aufgrund von Notwendigkeiten, aus einer gewissen Trägheit heraus, als Folge inflexibler sozialer Strukturen und Dogmen oder mangelnden Wissens - kann sehr rasch eine rechtzeitige Selbststeuerung des Mensch-Raum-Systems versäumt werden146. Negative Folgen sind dann nicht mehr aufzuhalten, der Versuch zur Regulation erfolgte zu spät oder nicht mehr angemessen. Die Gefährdung des Menschen liegt also vor allem in seiner eigenen Anpassungsfähigkeit. Sie wächst in dem Maße, wie durch eine die Selbstregulation verzögernde Anpassung irreversible Prozesse begünstigt werden und die erzwungene Abweichung von Verhaltensgenetik und natürlicher Begrenztheit des Menschen vergrößert wird. So bedarf die Anpassungsfähigkeit und „anpassende" Raumnutzung des Menschen dringend der Kontrolle durch die antizipierende Intelligenz. Mit der gesteigerten Einwirkung des Menschen auf das Umweltpotential wachsen die Anforderungen an diese vorausschauende Intelligenz147. Eine Theorie, die die Wechselwirkung zwischen Raum und Verhalten erklärt,
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wäre daher von großem Nutzen. Ebenso werden Prognose und Einsicht in raumbezogene Ursache-Wirkung-Zusammenhänge immer dringlicher. Wir werden uns im nachfolgenden Kapitel mit einem Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie und im zweiten Teil mit den Möglichkeiten der Prognose beschäftigen. Jedoch ist schon jetzt vor übertriebenen Erwartungen bezüglich einer ursächlichen Vorausschau der Dinge, also vor dem Glauben an die rettende Gewißheit der Zukunft zu warnen. Der Mensch wird stets weiter unter Irrtumsrisiko handeln müssen. Aber es bleibt doch zugleich auch eine Hoffnung. Der Mensch ist aufgrund seines intellektuellen Potentials, seines Neugierverhaltens sowie der Fähigkeit, Erfahrungen zu verarbeiten und sein Wissen zu vergrößern in der Lage, seine eigene gefährdete Situation immer klarer zu erkennen. Zudem ist es ihm grundsätzlich möglich, in wachsender Erkenntnis diejenigen lebensräumlichen Verhältnisse aufzuzeigen, die für sein Wohlbefinden erforderlich sind sowie entsprechende Konzeptionen der Lebensraumgestaltung zu entwerfen und zu verwirklichen. Daher läßt sich abschließend eine Hypothese der Hoffnung formulieren. 11. Hypothese Gelingt es, ein wirklichkeitsgerechtes Menschenbild und ein besseres Verständnis der Wechselwirkung zwischen Mensch und Lebensraum zu gewinnen und eine daran orientierte Ethik aufzuzeigen, gelingt es ferner dementsprechende Leitbilder der Lebensraumgestaltung zu konzipieren und mit menschengerechten Verfahren der sozialen und räumlichen Steuerung durchzusetzen, dann wächst die Hoffnung, ein harmonisierendes Gleichgewicht zwischen lebensräumlichen Bedingungen und menschlichem Verhalten zu finden, das dem Wohlbefinden förderlich ist und dem Menschen das Gefühl gibt, in seinem Lebensraum im ursprünglichsten Sinne „zu Hause" und geborgen zu sein. Daß dies nur im Rahmen einer am gleichen wirklichkeitsgerechten Menschenbild orientierten Sozialstruktur möglich sein dürfte, sei nur am Rande vermerkt. Die aufgestellten Hypothesen können im Rahmen dieser Arbeit nicht den an sich erforderlichen Prüfverfahren unterzogen werden. Es wäre durchaus zu wünschen, daß einige dieser Hypothesen falsifiziert werden können - unsere Situation erschiene dann weniger besorgniserregend. Vorerst aber ist es angebracht, auf die aus diesen Hypothesen abzuleitende Gefahr hinzuweisen, daß sich der Mensch in eine Raumnutzung „hineinzivilisiert", die seine Existenz gefährden kann148. Der Mensch steht in der Gefahr, gegen sich selbst zu leben. Angesichts der geäußerten Sorge erscheint der Versuch im weiteren dieser Untersuchung Ansätze und Modelle zu erarbeiten, die die Hoffnungen der 11. Hypothese zu bekräftigen vermögen, umso mehr gerechtfertigt.
7. Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie
Die vorgenannten Hypothesen verdeutlichen, wie sehr der Mensch in seinem raumbezogenen Verhalten und im Umgang mit seinem Lebensraum gefährdet ist. Das diesbezügliche Risiko ließe sich verringern, wenn es gelänge, eine wirklichkeitsgerechte Erklärung des Verhältnisses von Raum und menschlichem Verhalten zu erarbeiten; damit würde eine wesentliche Voraussetzung für eine verständnisvollere Gestaltung unseres Lebensraumes geschaffen. Das Wechselspiel zwischen Raum und Verhalten des Menschen ist nicht als abgesondertes oder gar isoliertes Phänomen zu begreifen, denn unser Handeln, unsere Entscheidungen besitzen angesichts des zwangsläufigen Raumbezugs der Existenz stets auch einen räumlichen Aspekt. Daher ist es gerechtfertigt, zunächst nach den bisherigen Erklärungsversuchen des Verhaltens und der Entscheidungen des Menschen zu fragen, auch wenn diese nicht ausdrücklich raumbedingte Entscheidungen einbeziehen. Allem Verhalten geht bewußte oder unbewußte Entscheidung voraus, denn stets bestehen ja zum jeweiligen Zeitpunkt mehrere Möglichkeiten des Verhaltens. Wie wird das Entscheiden des Menschen erklärt?
7.1 Erklärungsversuche der deskriptiven Entscheidungstheorie 7.1.1 Homöostatische Theorien Alle derartigen Theorien gehen letztlich von einer Grundannahme aus, nach der das Verhalten des Menschen auf die Beseitigung einer Störung des „inneren Milieus", auf Befriedigung der in uns wirksamen Bedürfnisse gerichtet ist und damit auf die Wiedergewinnung eines Gleichgewichtszustandes. Dieses Streben nach Gleichgewicht zwischen der Bedürfnisstruktur des Menschen und den ihn umgebenden Bedingungen, diese Tendenz zur „Homöostase" beeinflußt wesentlich Verhalten und Entscheidung. In uns angelegte physiologische und psychosoziale Bedürfnisse motivieren uns also zu einem auf Befriedigung gerichteten Verhalten. Bereits in der Psychoanalyse FREUDS werden Bedürfnisse und Triebe als Ausdruck eines Mangelzustandes verstanden, für dessen Beseitigung entsprechend gerichtete Energie mobilisiert wird. Je größer der Mangelzustand ist, desto mehr Energie muß freigesetzt werden, diesen zu beheben, sei es
Erklärungsversuche der deskriptiven Entscheidungstheorie
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durch entsprechend „befriedigendes" Verhalten oder durch Verdrängung, Projektion etc. Ein Defizit in der Befriedigung bestimmter Triebe und Bedürfnisse löst Motivationen aus, die zu einem entsprechend ausgleichenden Verhalten führen (vgl. u. a. Α . H . MASLOW, 1 9 5 5 ) . Die konkrete Handlung wird dann durch diejenige Strebung bestimmt, die im Vergleich zu konkurrierenden Trieben bzw. Motivationen das augenblicklich stärkste „Reaktionspotential" (D. L . HULL, 1 9 5 2 ) aufweist. K. LEWIN ( 1 9 5 2 ) betont, daß bei einer Entscheidung nicht nur die „Kräfte" für diese oder jene Alternative etwas stärker als für eine andere sein müssen, sondern daß eine bestimmte Handlungsalternative so dominant werden muß, daß die damit konkurrierenden bis zur Bedeutungslosigkeit abgedrängt werden und somit ihre „Valenz" verlieren. Bei einer Veränderung bisher gewohnter Verhaltensweisen ist also eine entsprechende Auseinandersetzung im Menschen bzw. in der Gruppe erforderlich. D. E. BERLYNE ( 1 9 6 4 , S. 1 0 9 f.) glaubt, daß die Einwirkung der bisherigen Lernerfahrung bei der Entscheidungsfindung von maßgeblicher Bedeutung ist; es wird sich diejenige Verhaltensweise gegenüber konkurrierenden durchsetzen, die bisher am stärksten „konditioniert" wurde; ja, es werden sogar in einer konkreten Situation diejenigen Informationen bevorzugt aufgenommen, die bisher vertraute bzw. schon konditionierte Verhaltensweise stützen und sie damit subjektiv sinnvoller und wahrscheinlicher erscheinen lassen. Entscheidung erfolgt also in Abbau der Konkurrenz verschiedener Verhaltenstendenzen durch Dominanz der stärker konditionierten Verhaltensweisen. Auch wenn bei den genannten Ansätzen zu einer „homöostatischen" Motivationstheorie die Entscheidung und das Verhalten wesentlich durch die wirksamen Triebe und Grundbedürfnisse gesteuert wird, so wird doch eine Beteiligung „kognitiver" Vorgänge, also der Einfluß der das Wissen, das Denken, die Erkenntnis und Erfahrung etc. betreffenden Faktoren nicht ausgeschlossen. Allerdings bleibt das Abwägen, das kognitiv gelenkte Auswählen der Entscheidungsalternativen abhängig von den homöostatisch-motivationalen Handlungstendenzen. Die Bewertung einer Entscheidungssituation unterliegt also dem dominierenden Einfluß der Triebe und Grundbedürfnisse. Nun liegt es nahe, gegen eine solche Deutung einzuwenden, daß sie die Wirkung kognitiver Prozesse unterschätze und den Menschen zu sehr zum Gefangenen angeblich grundlegender Triebe macht und damit zu mechanistisch vorgeht. Es könnte ja auch umgekehrt die Richtung unserer Motivation, die Orientierung und Intensität unseres Verhaltens wesentlich durch die in uns wirksamen kognitiven Prozesse, also durch unsere Überlegungen, unsere Wertvorstellungen und durch unseren Willen festgelegt werden,
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Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie
wohingegen die Bedürfnisse und Triebe erst nachrangig als Folgen unserer kognitiven Vorentscheidungen virulent würden. 7.1.2 Kognitive Theorien Bei diesen Theorien wird im allgemeinen davon ausgegangen, daß sich in einer Reizsituation, also beim Auftreffen bestimmter Informationen, im Menschen zunächst ein mehr oder minder subjektiv verformtes Abbild der Umgebung abzeichnet. Es kommt gewissermaßen zu einer „kognitiven Repräsentation" (A. L. BALDWIN, 1969, S. 326), die dann bestimmte Gefühle und Motive auslöst, die ihrerseits zu einem bestimmten Verhalten führen. Diese kognitive Repräsentation stellt nun bereits eine eigene Leistung des Individuums dar, durch die die auftreffenden Informationen in spezifischer Weise extrahiert, selektiert und integriert werden. E. Ch. TOLMAN (1951) unterstellt, daß die auftreffenden Reize mit einer sog. „Überzeugungs-Wert-Matrix" konfrontiert und so in spezifischer Weise gedeutet und verarbeitet werden. Eine solche Matrix besteht aus mehr oder minder typisierten und generalisierten Bildern bzw. Schemata von Gegenständen und Überzeugungen, die beeinflußt u. a. von der Erfahrung mit bestimmten Wertakzenten versehen sind. Tatsächliche Informationen und im Menschen ausgebildete Matrix lassen eine Repräsentation der Umwelt entstehen, durch die der Entscheidende sich nicht dem tatsächüchen Objekt, sondern einem Komplex von Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erfahrungen etc. gegenübersieht, der dann den eigentlichen „Verhaltensraum" (E. Ch. TOLMAN, 1951) des Handelnden ausmacht. J . B . R O T T E R (1966, 1972) schlußfolgert, daß vor allem unsere „generalisierten Erwartungen" bzw. „Überzeugungen", die wir bezüglich der Dinge oder Mitmenschen entwickelt haben, die Aufnahme der Informationen und unsere Entscheidungen beeinflussen. Dabei steht unser Verhalten unter dem Ziel, Übereinstimmung mit unseren Uberzeugungen, Werten etc. zu finden; wir folgen also vor allem unseren eigenen Kognitionen und weit weniger vermeintlich in uns wirksamen Trieben. Wie groß der Einfluß einer kognitiv beeinflußten Filterung bzw. Verformung der Informationen bzw. der Wahrnehmung sein kann, versucht die Theorie der „kognitiven Dissonanz" (hierzu u. a. E. ARONSON, 1968; L. FESTINGER, 1964) zu verdeutlichen. Sie besagt vereinfachend, daß dann, wenn eine Person zwei kognitive Prozesse erlebe, die jeweils zu entgegengesetzten Konsequenzen der Entscheidung, des Handelns etc. führen würden, die also „dissonant" sind, eine Tendenz zur Verringerung dieser als unangenehm empfundenen Gegensätzlichkeit wirksam wird. Eine solche Dissonanzreduktion kann nun durch Änderung der Informationsaufnahme bzw. durch deren Verzerrung solange wirksam
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sein, bis Deckungsgleichheit wiederhergestellt ist. Oder man sucht nach konsonanter Kognition, nach Bestätigung. So bewirkt „kognitive Dissonanz" (also die Unvereinbarkeit) die Veränderung der kognitiven Prozesse mit dem Ziel, sie einander verträglich zu machen. Steht dahinter zwar auch die Neigung, eine innere Ubereinstimmung der Auffassungen, Verhaltensweisen etc. zu erreichen, womit durchaus auch eine homöostatische Tendenz wirksam wird, so zeigt sich doch in der Verformung bzw. Selektion der Informationen, wie stark die Führung unserer Wahrnehmung und Entscheidungen durch den einmal gebildeten kognitiven Stand bzw. durch die vorhandenen Überzeugungen, Werte, Einstellungen etc. sein kann. Wer ζ. B. bestimmte politische Auffassungen gewonnen hat, tut sich schwer, gegenläufige Informationen gleich bis zur Veränderung seiner Ansichten durchschlagen zu lassen, sondern er neigt weit eher dazu, diese zu übersehen oder umzudeuten und statt dessen nach bestätigenden Hinweisen zu suchen. Es ist nun für unsere Überlegungen zunächst nicht so wichtig, ob die kognitive Verformung dissonanter Informationen erst in der sogenannten Nachentscheidungsphase wirksam ist, während sich in der Vorentscheidungsphase die Person bemüht, objektiv aufzunehmen und unvoreingenommen zu bewerten, wie dies L. FESTINGER (1964) behauptet. Wesentlich ist die Einsicht, daß wir in unseren Entscheidungen und Verhaltensweisen kognitiver Steuerung unterliegen. Aber genügt die Feststellung, daß wir unter dem Einfluß unserer Einstellungen, Werte, Ziele etc. handeln? Müssen wir nicht vielmehr davon ausgehen, daß die tatsächlichen und wesentlichen Entscheidungen eines Menschen Ergebnisse des Zusammenwirkens sowohl motivationaler wie auch kognitiver Einflüsse sind? 7.1.3 Zusammenspiel motivationaler und kognitiver Strukturen Nehmen wir an, ein Mensch verspürt nach einer längeren Zeit der angespannten Arbeit an einem wichtigen Vorhaben den Wunsch nach erholsamer Abwechslung. Je nachdem, wie stark dieses Bedürfnis in ihm angewachsen ist, wird seine Überzeugung, die begonnene Arbeit weiterzuführen, mehr oder minder stark dahingehend verschoben, daß eine Unterbrechung doch ganz gut wäre und dadurch seine gesamte Tätigkeit schon nicht gefährdet würde. Ein bestimmter motivationaler Druck beeinflußt also die bisherige kognitive Struktur (Einstellungen, Vorsätze etc.) und drängt zu einer Entscheidung, die den bisherigen Arbeitseifer abklingen läßt und etwa zum unterhaltsam zwanglosen Zeitvertreib überleitet. Das schließt jedoch nicht aus, daß in einem anderen Fall die angespannte Arbeit als so bedeutsam und deren Fortgang zufolge bestimmter Ziele als so zwingend angesehen wird, daß alle anderen Bedürfnisse und Erholungswünsche unterdrückt werden. Es
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Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie
hängt also in hohem Maße von der Situation und von der Persönlichkeit ab, ob sich motivationale oder kognitive Komponenten bei einer Entscheidung durchsetzen; beide Faktoren sind in der Lage, einander zu beeinflussen. Das Ziel und der Wille, um jeden Preis sportlich oder beruflich erfolgreich zu sein, kann alle anderen Bedürfnisse (etwa nach Entlastung, Erholung, ausreichendem Schlaf etc.) bis zum Zusammenbruch einer Person als unwichtig erscheinen lassen. Andererseits vermag eine starke Tendenz zu triebhaftem Verhalten, die Bereitschaft, sich um bestimmter Werte und Überzeugungen willen anzustrengen, derart abzuschwächen, daß eine Person sich nur noch genüßlich treiben läßt, daß sie verweichlicht und am Ende ebenso scheitert. Das schließt allerdings nicht aus, daß sich nach entsprechender Erfahrung ein neues und zuträgliches Verhältnis zwischen Motivation und Kognition einpendelt - auf jeden Fall beeinflussen beide und durchaus in Wechselwirkung das Verhalten des Menschen. H. THOMAE (1974, S. 92) betont, daß Entscheidung bzw. Konfliktlösung „durch die situationsspezifische Regulation der Potentiale der miteinander konkurrierenden Reaktionstendenzen,"
wie sie durch motivationale oder kognitive Strukturen ausgelöst werden, zustande kommt. Welcher Ablauf ist dabei wirksam? Für eine Erklärung erweist sich eine von H . HECKHAUSEN (1965, S. 603) betonte Deutung als hilfreich, wonach die Beweggründe unseres Handelns als „Wirkungsgefüge vieler Faktoren eines gegebenen Personen-UmweltBezuges" zu verstehen sind, die unser „Erleben und Verhalten auf Ziele richten und steuern". Denn damit wird das Verhalten und Entscheiden des einzelnen nicht verstanden als Ausdruck einer dominanten Wirkung dieser oder jener Motive bzw. Triebe oder dieser oder jener Überzeugungen, Werte und Ansichten, sondern als Produkt einer Wechselwirkung zwischen verschiedenen konkurrierenden Verhaltenskomponenten und der uns stets umgebenden Umwelt - wobei Situation und Personalität wesentlich die konkrete Entscheidung beeinflussen. Das bedeutet auch, daß sich der Mensch um der Integrität seiner Persönlichkeit willen in koordinierender Eigenleistung bemühen muß, die zwischen seiner Person bzw. der Vielfalt ihrer Motivationen und Kognitionen und der vorgegebenen Umwelt möglichen Reaktionen so zu regulieren, daß eine Entscheidung zustande kommt, die mit seiner Persönlichkeit als Ganzem übereinstimmt und zudem der Situation gerecht wird. Das heißt, der Mensch muß danach streben, den unausweichlichen Zusammenhang seiner Person mit der Umwelt so zu strukturieren und zu erleben, daß unvereinbare Reaktionen vermieden werden, daß die Bevorzugung der einen gegenüber einer anderen Entscheidungsalternative als konsistent wit der eigenen Person empfunden wird.
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Dies wird nun sehr wahrscheinlich mit Hilfe einer entsprechenden Deutung bzw. Interpretation einer Entscheidungssituation versucht. Eine Situation bzw. die damit verbundene Information wird in einer bestimmten Weise gedeutet bzw. bewertet und beeinflußt damit die Entscheidungsfindung bzw. die Konfliktlösung in personenspezifischer Weise. Die Art der Deutung, die gewissermaßen eine Eigenleistung der Person darstellt, unterliegt dem Einfluß motivationaler wie auch kognitiver Verhaltenskomponenten. Dabei können nun Bediirfnislagen, Triebspannungen, also spezifische Motivzustände, die kognitive Position verformen und eine entsprechend motivational getönte Deutung der Situation bewirken; es kommt, wie H. THOMAE (1974, S. 114) formuliert, zu einer „motivationsbedingten Verzerrung der Situation". Ein gesteigertes Bedürfnis, wie ζ. B. das intensive Verlangen nach Süßigkeiten, kann so die kognitive Verarbeitung einer Konfliktsituation beeinflussen, wodurch dann etwa der Vorsatz, rasch abnehmen zu wollen, plötzlich als zu rigoros erscheint. Zugleich taucht das beschwichtigende Argument auf, daß eine kleine Sünde den langfristigen Erfolg einer Fastendiät nicht verhindern wird. Es setzt in solchen und ähnlichen Entscheidungssituationen „eine Entlastung der Situation von zukunftsbezogener Bedeutung" (H. THOMAE, 1974, S. 113) ein, was die Beeinflussung vorheriger Einstellungen bzw. Vorsätze erleichtert. Die motivationale Komponente wandelt, indem sie bei der Deutung einer Entscheidungssituation relevant wird, die kognitiven Strukturen, also unsere „Überzeugungs-Wert-Systeme" (E. Ch. TOLMAN, 1951). Umgekehrt können aber auch motivationale Entscheidungskomponenten umstrukturiert bzw. beeinflußt werden, vor allem dann, wenn sie mit kognitiven Komponenten großen Gewichtes bzw. grundsätzlicher Bedeutung oder hoher Festigkeit zusammenstoßen. Eine Situation wird dann ζ. B. im Hinblick auf die Zukunft und die eigenen Lebensziele als so bedeutsam gedeutet, daß dieser oder jener Wunsch oder einzelne Bedürfnisse abgedrängt werden. Man entscheidet sich, eine neue Stelle anzunehmen, obwohl man dadurch früher aufstehen muß, nicht mehr „auschlafen" kann und sich auch das Mittagessen nicht mehr, wie bisher, gemütlich zu Hause einnehmen läßt. H. THOMAE ( 1 9 7 4 , S. 1 1 5 ) verweist darauf, daß dann eine Situation mit „genereller Bedeutsamkeit" belastet wird. Mit dieser kognitiv begründeten Aufwertung erfährt eine Situation eine Deutung, die alternative Entscheidungen verhindert und motivationale Einflüsse abdrängt. Entscheidungen kommen also meist nicht allein durch die Wirkung dieser oder jener Triebe und Grundbedürfnisse und damit nicht allein unter der Wirkung eines „inneren Dranges" zustande, so wie sie auch nicht allein als Resultat der Vernunft oder des freien Willens entstehen. H. THOMAE (1974, S. 116) will Konflikte als spezifische Form der „Interaktion von kognitiven
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und motivationalen Prozessen" verstanden wissen, die in vielfältiger Variation ablaufen kann. Situation und Persönlichkeit spielen dabei eine beträchtlich modifizierende Rolle. Fast immer jedoch steht die Entscheidung in einer bestimmten Situation in Abhängigkeit von den im Menschen aufgebauten Einstellungen, Werten und Zielsetzungen, wie sie als Ergebnis „von Sozialisation und bisheriger Lebensgeschichte" vorliegen. Zugleich jedoch unterliegen diese kognitiven Strukturen einer gewissen Auswahl oder gar Verzerrung durch motivationale Kräfte, wie auch diese kognitiv gelenkter Verformung oder gar Verdrängung ausgesetzt sein können. An der konkreten Situation wird entschieden, ob der motivationalen Komponente (etwa dem quälenden Hunger) oder dem kognitiven Einfluß (etwa, eine wichtige „Sache" erst fertigzustellen) nachgegeben wird oder ob beides zu koordinieren oder zu integrieren sei (etwa, indem man auch während der Arbeit etwas ißt, obwohl man weiß, daß dies eigentlich nicht gut ist). Entscheidung ist also durchaus eine koordinierende Leistung durch Bewertung bzw. Deutung einer Situation. Nun erklären die vorgestellten Überlegungen noch nicht, wieso es gerade zu einer ganz bestimmten und nicht zu einer anderen Entscheidung im konkreten Fall kommt. Nach welchen Prinzipien etwa entscheidet der Mensch? Zwar verdeutlicht die Vorstellung von der Interaktion motivationaler und kognitiver Prozesse, wie komplex der Prozeß der Entscheidung ist. Auch wird deutlich, daß Verhalten und Entscheidung nur in Verbindung zur stets vorhandenen Umwelt und damit auch zum Raum und seiner Ausstattung erklärt werden kann. Aber es bleibt die Frage, ob Entscheidungen nicht doch bestimmten Tendenzen und Regeln unterliegen oder ob sie als situationsabhängig mehr oder minder beliebig anzusehen sind? 7.1.4 Die Frage nach den Grundprinzipien der Entscheidung Man könnte unterstellen, daß Entscheidungen einer Tendenz unterliegen, die Einheit der Persönlichkeit zu erhalten bzw. zu sichern. Sich entscheiden zu müssen stellt ja einen Konfliktfall dar und wird damit an sich zu einer beunruhigenden Situation, denn stets ist ja die Möglichkeit unterschiedlicher Zukünfte enthalten, die mit ihrer Ungewißheit auch ein latentes Risiko für die betroffene Person darstellen. Diese Person will aber möglichst mit sich in Übereinstimmung bleiben, will sich nicht Entscheidungskonsequenzen aussetzen, denen sie etwa nicht gewachsen ist. Entscheidung wäre demnach auf Übereinstimmung mit den Werthaltungen, den Fähigkeiten und Neigungen der jeweiligen Person gerichtet und läge unter der Tendenz, ein gewisses Wohlbefinden, eine Art Harmonie zwischen Mensch und Umwelt zu sichern. Sie besäße damit also durchaus eine homöostatische Komponente.
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Unterstellt man eine solche Orientierung, steht der Entscheidungsprozeß geradezu zwangsläufig in der Notwendigkeit, die voraussichtlichen Folgen einer Entscheidung abzuschätzen und wertend zu berücksichtigen. Die Antizipation der voraussichtlichen Effekte einer Entscheidung, die Abschätzung ihrer Konsequenzen, entscheidet wesentlich über die Art der Entscheidung. Wie man sich entscheidet, hängt ab von der Wirkung, die man erwartet. Man fragt sich antizipierend, ob man auf Zustimmung bzw. Anerkennung stößt oder ob man sich neue Schwierigkeiten aufbaut, ob eine Entscheidung tatsächlich den eigenen Zielen bzw. den zu befriedigenden Bedürfnissen dient oder ob sie die Gefahr einer Enttäuschung erhöht. Neben den Versuchen, die Konsequenzen der einzelnen zukünftigen Handlungen zu antizipieren, steht das Bemühen, diese voraussichtlichen Wirkungen in Bezug zu einer übergeordneten Sinnorientierung zu setzen und entsprechend zu bewerten. Treffend vermerkt H. THOMAE (1974, S. 91), daß „hinter den Ausrichtungen auf konkrete Zwecke . . . eine allgemeine Richtung auf ,Sinn' faßbar" wird; alle Antriebe und Strebungen bzw. die davon abhängigen Entscheidungen besäßen also eine „rahmenhafte Einschachtelung" in jeweils „größere Sinnzusammenhänge". Lassen wir offen, was diesen übergeordneten „Sinn" jeweils ausmacht, sicherlich kennzeichnet er wesentlich die Orientierung der Selbstverwirklichung einer Person. Auch ist er nicht zu trennen von den in einer Person aufgebauten Einstellungen, Erfahrungen, Werthaltungen, vom Wissen etc., also von sog. kognitiven Strukturen. „Sinnorientierung" schließt bereits eine gewisse Vorentscheidung ein, indem sie gewissermaßen den Extrakt bisheriger Lebenserfahrung, Einstellungen und Zielsetzungen dem Entscheidungsprozeß zugrundelegt. Gleichzeitig ist diese Sinnorientierung nicht zwangsläufig stabil, denn sie ist auch durch neue Erfahrung und modifizierte Wahrnehmung gewissen Veränderungen offen. Wir halten fest, daß die Deutung und Bewertung einer Situation sehr wahrscheinlich einer Orientierung am Sinn unterliegt, welche damit auch das Zusammenspiel zwischen motivationalen und kognitiven Aspekten der Entscheidung beeinflußt. Sieht ζ. B. eine Person in der Verbreitung der eigenen Weltanschauung einen wesentlichen Sinn der eigenen Existenz, werden alle Entscheidungen auch dem Einfluß dieser Sinnorientierung unterliegen. Es mögen dann bestimmte Bedürfnisse bis zur Askese hin verdrängt werden, stets aber im Interesse der großen, übergeordneten Sache. Allerdings muß das nicht ausschließen, daß bisweilen auch abweichende Entscheidungen zustande kommen, weil sich in der Interaktion der kognitiven und motivationalen Strukturen mitunter dieses oder jenes abweichende Bedürfnis und diese oder jene von der Askese entlastende Argumentation durchsetzt. Sinnorientierung ist nicht als zwangsläufig und detailliert determinierende
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Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie
Stellgröße zu verstehen (zur Sinnorientierung der Bewertung siehe auch Kap. 7.8 und 7.8.3). Man könnte nun unterstellen, daß der Entscheidungsprozeß unter gewisser Orientierung am Sinn der Maxime folgt, diejenige Entscheidungsalternative zu bevorzugen, die größtmögliche Belohnung bei geringstem Aufwand bietet. Versprechen also mehrere Handlungsalternativen Annäherung an ein sinnorientiertes Ziel, also etwa ein einflußreicher Mann im politischen Leben zu werden, so wird diejenige Alternative gewählt, die bei geringstmöglicher Anstrengung die aussichtsreiche Verwirklichung dieses Zieles verspricht. Auch eine solche vermeintlich rationale Entscheidungsfindung ist allerdings nicht ohne subjektive Einschätzungen möglich. Es bleiben Zweifel, ob die Neigung, den „Weg des geringsten Widerstandes" zu gehen und zugleich nach „größtmöglicher sinnorientierter Belohnung" zu streben, die dominante Tendenz bzw. das kennzeichnende Regulierungsprinzip unseres Entscheidungsverhalten ist. Oft genug entscheiden wir weniger kalkulierend, indem wir etwa unserem Gefühl, der Intuition, momentaner Laune folgen oder gar im Affekt entscheiden. Und da die Antizipation des voraussichtlichen „geringsten Widerstandes" sowie der „größtmöglichen Belohnung" ohnehin ein beträchtliches Irrtumsrisiko einschließt, wäre ein so orientiertes Verhalten, eine derart kalkulierende Entscheidung auch keineswegs die von vornherein und zwangsläufig vernünftigere bzw. zielführendere. Ebenso wie auf die „größtmögliche Belohnung" als oberstem Entscheidungskriterium zu verweisen, könnte man auch etwa behaupten, Entscheidung unterliegt dem Prinzip, eine bestmögliche Anpassung zwischen Person und Bedingungen zu erreichen; aber auch hierin läge eine problematische Simplifizierung. Entscheidungsverhalten scheint komplexer zu sein und differenzierter abzulaufen, als daß es durch ein Entscheidungsprinzip erfaßt werden könnte - wenn man von mehr oder minder banalen Aussagen etwa der Art, daß Entscheidung im allgemeinen auf die Erreichung der beabsichtigten Ziele oder Sinnorientierungen gerichtet ist, absieht. Entscheidungsverhalten dürfte in Ablauf und Orientierung gerade durch eine gewisse Flexibilität gekennzeichnet sein, die durch ein vergleichsweise variables und komplexes Spiel unterschiedlicher Einflußgrößen - seien es neue Informationen, Erfahrungen, Einstellungen, Gefühle, Grundmotive, momentane Verfassung, momentaner „Energiespiegel" etc. - bewirkt wird. Trotz einer gewissen Koordination durch Sinnbezug ist der Ausgang von vornherein nicht gewiß. Bevor die dargelegte Auffassung und die Ansätze der Entscheidungstheorie in die Überlegungen zu einer Raum-Verhalten-Theorie einbezogen werden können, ist es sinnvoll, weitere Erklärungsversuche des Verhaltens und der Entscheidung zu analysieren und zu prüfen.
Erklärungsversuche der Informationstheorie
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7.2 Erklärungsversuche der Informationstheorie Gezieltes Verhalten des Menschen, wie überhaupt aller Organismen, ist ohne die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen und damit ohne Wahrnehmung gar nicht möglich. Letztlich bilden Information und Verhalten eine Einheit. Durch Informationen erst kann ein auf die Erreichung von Zielen gerichtetes Verhalten ausgebildet werden, andererseits vermögen wir erst mit der Hilfe explorierenden Verhaltens Informationen aufzunehmen, die wir dann durch entsprechendes Verhalten prüfen, ausweiten, ergänzen. Es liegt also nahe, menschliches Verhalten im Zusammenhang mit der Informationsgewinnung zu erklären. In den letzten Jahren sind die Kenntnisse über die Informationsgewinnung und -Verarbeitung sowie deren Verknüpfung mit dem Verhalten durch Einbeziehung kybernetischer Aspekte vertieft worden. Ein besseres Verständnis perzeptiver geistiger Prozesse zeichnet sich ab. Werden diese naturwissenschaftlich-kybernetischen Ansätze allerdings zur Erklärung der Verhaltensregelung herangezogen, so scheitern sie. Sie vermögen nicht, die subjektive Bewertung der auftreffenden Informationen und die dadurch ausgelöste Relativierung des Verhaltens wie auch der Wahrnehmung angemessen einzubeziehen. In der situationsabhängigen und individuellen Verschiedenartigkeit der Bewertung, in der unterschiedlichen inneren Verfassung, der Konstitution, den verschiedenen Dispositionen und Präferenzen des Menschen ist jedoch die Unbestimmtheit des Verhaltens begründet149. Es gibt eben keine Informationen „an sich", sondern sie besitzen je nach Situation und Individuum unterschiedlichen Wert und haben entsprechend unterschiedlichen Einfluß auf die Entscheidungen einer Person. Information wird erst durch die spezifische Bedeutsamkeit, die sie für den Empfänger besitzt, relevant. Das tatsächliche Verhalten wird also nicht durch die Informationen als solche beeinflußt, sondern durch die Bedeutsamkeit, die sie gemäß der Bewertungen des Menschen gewinnen. Wie rasch sich die Bedeutsamkeit bestimmter Informationen und damit ihr Einfluß auf das Verhalten wandeln kann, vermag jeder in eigener Erfahrung zu ermessen. Dinge, die nicht mehr interessieren, werden kaum noch wahrgenommen, wie andererseits eine starke Ausrichtung der Interessen geradezu blind gegenüber anderen Gegebenheiten machen kann - er nahm Schaden, weil er zwar das schöne Mädchen, nicht aber das herankommende Auto sah. Entscheidung und Verhalten sind also nicht in erster Linie das Ergebnis eines kybernetischen Prozesses der Informationsverarbeitung, sondern vielmehr Konsequenzen der subjektiven Bewertung eintreffender Informatio-
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nen. Verhalten läßt sich allein unter dem Blickwinkel der biologischen Kybernetik, der Psychokybernetik, der Physiokybernetik oder der Informationstheorie und ähnlicher Forschungsrichtungen nicht befriedigend erklären150. Zwar ist es mit Hilfe der Kanalmodelle der Informationstheorie151 möglich, die Informationsaufnahme und -Verarbeitung zu verdeutlichen, aber es läßt sich keine befriedigende Verknüpfung zwischen Wahrnehmung und konkreter Tätigkeit des Menschen herstellen. Es liegen relativ verläßliche Erkenntnisse vor, wie Signale auf die Sinnesorgane als physikalische Energie auftreffen und unter Wahrung ihres Informationsgehaltes in physiologische Erregung umgesetzt werden, wie sie, orientiert an einem Bezugssystem, „dekodiert" werden und wie durch Informationsreduktion und Klassenbildung schließlich strukturierte Wahrnehmung entsteht. Über Lernprozesse wird diese Informationsaufnahme und -Verarbeitung rückkoppelnd beeinflußt, so daß das Lebewesen die für seine Existenzsicherung und Entscheidung relevanten Informationen aus der Flut der Signale herausfiltert. Verhalten und Lernen steuern also ebenso die Informationsaufnahme, wie auch diese selbst steuernd wirkt. Diese Verknüpfung in einem Regelkreis belegt zwar, daß Verhalten und Wahrnehmung untrennbar miteinander verflochten sind, sie kann aber Entscheidung nicht hinreichend erklären. 152 F. KLIX ( 1 9 7 1 , S. 3 4 0 f.) legte einen Ansatz vor, in dem mit Hilfe des Kanalmodells der Informationstheorie, aber unter Einbeziehung der Bewertung der Informationen, der Zusammenhang zwischen Information und Verhalten erklärt werden soll. Es wird unterstellt, daß die Unsicherheit der Entscheidung des Menschen umso größer ist, je stärker die objektive Wahrscheinlichkeit, daß bestimmte Konsequenzen einer Handlung eintreten, von der subjektiven Einschätzung dieser Wahrscheinlichkeit153 abweicht. Die Unsicherheit, sich für eine Reise mit dem Flugzeug zu entscheiden, wird dann umso größer sein, je höher die subjektive Wahrscheinlichkeit eines Unfalles, trotz vorgegebener relativ geringer objektiver Wahrscheinlichkeit, eingeschätzt wird. F. KLIX ( 1 9 7 1 , S. 3 4 1 f.) fügt dann der entsprechenden mathematischen Gleichung - davon ausgehend, daß die situationsbedingte Einschätzung der Bedeutsamkeit eines Ereignisses die subjektive Schätzung seiner Wahrscheinlichkeit beeinflußt - jedem für eine Entscheidung relevanten Ereignis eine situationsspezifische Nutzenbewertung hinzu. Es wird also eine Gleichung aufgestellt, bei der die Unsicherheit einer Entscheidung bestimmt wird durch das Verhältnis zwischen der objektiven Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses und der durch die Nutzenbewertung beeinflußten subjektiven Wahrscheinlichkeitsschätzung. Wenn also alle für eine Entscheidung rele-
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vanten Informationen bzw. Angaben über denkbare Ereignisse in ihrer objektiven Wahrscheinlichkeit bestimmt und in ihrer subjektiven Wahrscheinlichkeit bewertungsabhängig eingeschätzt werden, soll es gemäß diesem Ansatz möglich sein, informationstheoretische kybernetische Verfahren auf verhaltensanalytische Sachverhalte auszuweiten. Doch fragen wir uns, läßt sich tatsächliches Verhalten gewissermaßen als Folge der Wahrscheinlichkeitsschätzung bestimmter Ereignisse oder Konsequenzen deuten, auch wenn dabei der Einfluß der subjektiven Nutzenbewertung berücksichtigt würde? Sicherlich nicht. Warum? Der Mensch wird mit der Komplexität der Welt konfrontiert. Seine Aufgabe besteht nun darin, die von dieser komplexen Umwelt auf ihn einströmenden zahllosen Signale so zu reduzieren und zu ordnen, daß sie zu Informationen im Dienst der Existenzsicherung werden. Dabei bieten sich sehr viele Möglichkeiten des Erlebens, der Wahrnehmung sowie des Verhaltens an, stets mehr als tatsächlich „aktualisiert" bzw. geistig bewältigt werden können154. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, auszuwählen. Die Komplexität der Welt zwingt zur selektiven Verarbeitung der Signale. Selektion setzt aber Orientierung an Maßstäben voraus. Maßstäbe wiederum lassen sich nicht ohne Bindung an eine Sinngebung, die sich im Bewußtsein des Menschen herausbilden muß, festlegen155. Sinngebung ist gebunden an Prämissen156. Die tatsächlichen Entscheidungen der Menschen sind also an solche sinnorientierten mehr oder minder subjektiven Vorentscheidungen gebunden (s. o.). Da Sinngebung aber ohnehin nur ein Mittel zur Reduzierung von Weltkomplexität war, ist es stets möglich, daß bestimmte Aspekte der komplexen Realität nicht erfaßt werden. Die gegenwärtige Sinngebung, das entsprechende Erleben und Handeln begründen also stets nur eine Möglichkeit der Entscheidung und des Verhaltens. In Unkenntnis anderweitiger Informationen und Orientierung der Sinne können fortwährend Ereignisse eintreten, auf die eine Person nicht eingestellt war. Der Mensch muß also ständig mit der Möglichkeit unerwarteter Ereignisse rechnen. Die mit beliebiger Wahrscheinlichkeit erwarteten Ereignisse sind stets nur Möglichkeiten von Ereignissen; sie können ausbleiben oder durch andere ersetzt werden157. Vernünftigerweise ist der Mensch daher fähig, seine Prämissen und Sinngebungen zu wandeln und neue Möglichkeiten zu erproben. Entscheidungen sind also sowohl zufolge des denkbaren Wandels der Sinngebungen als auch angesichts möglicher unerwarteter Konsequenzen (Kontingenz) relativ und, falls erforderlich, veränderbar. Wir halten fest: Entscheidung ist zwangsläufig sinnorientiert und potentiell instabil. An der Sinngebung orientiert sich zweifellos auch die Bewertung der selektiven Informationen, wodurch wiederum die konkreten Entscheidungen
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wesentlich beeinflußt werden. Der Einfluß von Wahrscheinlichkeitsschätzungen vermutlicher Ereignisse oder Konsequenzen ist demgegenüber von geringerem Einfluß auf die Herausbildung einer Entscheidung. Ja, häufig werden sogar sinnorientierte Zielsetzungen bevorzugt und Entscheidungen getroffen, die gegenüber anderen Alternativen geringere Wahrscheinlichkeit besitzen, verwirklicht zu werden. Sie werden bevorzugt aufgrund höherer Bewertung. Dem Grundsatz „besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach" steht dann die Maxime entgegen, „wer nichts wagt, gewinnt nichts". Noch ein weiterer Einwand ist notwendig. Will man die subjektive Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses unter Einbeziehung des Nutzenkalküls vornehmen, entsteht ein neues Irrtumsrisiko. Nutzen ist nur ein Aspekt der Bewertung, daneben sind intuitive sowie irrationale und gefühlsmäßige Komponenten wirksam (vgl. Kap. 7.8), die nicht am Nutzenkalkül orientiert sind. Selbst in Kenntnis der subjektiven Nutzeneinschätzung eines Sachverhaltes, ζ. B. bei hohem subjektivem Nutzen eines zeitsparenden Fluges, vermögen Intuition und Irrationalität eine Entscheidung völlig zu verändern. Bewertung gemäß Nutzenkalkül deckt sich keineswegs immer mit der tatsächlichen Bewertung. Es wird deutlich, daß Bewertung sehr schwer in eine operable mathematische Gleichung, die die Stabilität oder Unsicherheit einer Entscheidung über das Verhältnis von Wahrscheinlichkeiten beschreibt, einzubringen ist. Bewertung ist eine viel zu komplexe und unbeständige Größe. Neben der Überbewertung der Wahrscheinlichkeitseinschätzung für die tatsächlichen Entscheidungen, wie dies in dem von F. Klix vorgestellten Ansatz geschieht, muß vor allem darauf verwiesen werden, daß für zahlreiche entwicklungsrelevante Sachverhalte und Ereignisse gar keine Wahrscheinlichkeitsbestimmungen vorgenommen werden können oder völlig abwegig wären. Besonders die objektive statistische Wahrscheinlichkeit, soweit sie auf Häufigkeitsverteilungen beobachteter Ereignisse beruht, läßt sich bei Sachverhalten, für die diese vorherigen Beobachtungen nicht vorliegen, gar nicht angeben. Das gilt für alle innovativen Phänomene, die für die Planung meist besonders relevant sind. Wie hoch ζ. B. die objektive Wahrscheinlichkeit ist, daß sich neue Formen des sozialen und räumlichen Zusammenlebens, etwa in Mehrgenerationenfamilien oder anderen großfamiliären Formen, entwikkeln und ihrerseits neue Entwicklungen auslösen (ζ. B. veränderte Bauweise), läßt sich erst abschätzen, wenn das Phänomen hinlänglich beobachtet werden konnte. Lassen wir offen, ob es erkenntnistheoretisch überhaupt vertretbar wäre, „objektive" Wahrscheinlichkeiten für soziale Phänomene anzugeben. Sehr rasch können Tendenzänderungen die auf bisheriger Beobachtung ruhenden statistischen Erwartungen hinfällig werden lassen.
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Die subjektive Einschätzung der Wahrscheinlichkeit von Ereignissen, die sich als Folge vorheriger Beobachtung oder aufgrund von Erwartungen, Ahnungen oder Wünschen herausbildet, beeinflußt zwar durchaus die Entscheidungen, entzieht sich aber häufig der Erfassung. Zudem sind die ihr zugrundeliegenden Informationen fast immer lückenhaft, sie können sich in ihrer Zusammensetzung und subjektiven Beurteilung fortwährend ändern. Zusammenfassend ist also festzuhalten, daß die kybernetisch-informationstheoretischen Ansätze einer Theorie des Verhaltens unbefriedigend sind, sie vermögen nicht das tatsächliche Verhalten zu erklären. Für die Praxis einer wirklichkeitsgerechten Planung stellen sie sogar eine Gefahr dar, da sie die Relativität menschlicher Entscheidung verschleiern und eine unangemessene Exaktheit der Entscheidungsfindung des Menschen vortäuschen.
7.3 Erklärungsversuche der normativen Entscheidungstheorie Die kritischen Anmerkungen zu dem von F. KLIX ( 1 9 7 2 ) vorgestellten Ansatz stehen in engem Zusammenhang mit den Bedenken, die gegenüber einer praktischen Verwertbarkeit und der Wirklichkeitsnähe der normativen Entscheidungstheorie bestehen. Dieses Entscheidungsmodell will mit Hilfe der Entscheidungslogik Personen, die rational handeln möchten, Empfehlungen bzw. Handlungsanweisungen anheim geben. Man versucht, Regeln aufzudecken, bei deren Anwendung sich bestimmte bzw. typische Entscheidungsfehler vermeiden lassen. Es geht also um die Beantwortung der Frage, wie sich der Mensch verhalten soll, damit seine Entscheidungen als vernünftig gelten können, während die deskriptiven Entscheidungstheorien (vgl. Kap. 7.1) zu erklären suchen, wie sich die Menschen in der Realität verhalten. Die normative Entscheidungstheorie unterstellt, daß es möglich ist, bei alternativen Handlungsmöglichkeiten durch Herausarbeitung einer Präferenzordnung rational zu entscheiden. Das setzt voraus, daß jeder Handlung ein subjektiver Wert beigemessen wird (W. STEGMÜLLER, 1 9 7 3 a, S. 2 9 7 ) . Nach der BAYES-Regel wäre dann diejenige Handlung vorzuziehen, die in einer vergleichenden numerischen Präferenzordnung den höchsten Wert besitzt, die also mit der größten Nutzenerwartung verbunden ist, bzw. die geringste Risikoerwartung aufweist. Eine vernünftige Entscheidung ist also dadurch gekennzeichnet, daß sie die Alternative mit der zu erwartenden höchsten Nützlichkeit wählt (R. D. LUCE, P. SUPPES, 1 9 6 5 ) . R. C. JEFFREY ( 1 9 6 5 ) gelangt zur subjektiven Nützlichkeitseinstufung über die „Wünschbarkeit" einer Handlung, die mit der subjektiven Wahrscheinlichkeitszuord-
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nung korreliert, so daß in der Präferenzordnung sowohl die subjektive Wahrscheinlichkeit einer Handlung wie auch die subjektive Wertordnung festgehalten wird158. Allerdings lassen sich gegen die Annahme, daß sich Nützlichkeitseinstufungen und subjektive Wahrscheinlichkeitszuordnung wechselseitig voneinander ableiten lassen (F. P. RAMSEY) bzw. voneinander abhängig sind ( R . C. JEFFREY), Bedenken anmelden159. Befinden sich mehrere Personen, die jeweils Entscheidungen treffen müssen, in einer Wettbewerbssituation, so wird die Wahl der Handlungsalternativen auch durch die Entscheidungen der anderen beeinflußt; man bezieht diese also in die eigene Strategie ein. Verfügt man nun für die einzelnen Beteiligten über die Nützlichkeitseinstufungen bzw. subjektiven Wahrscheinlichkeitsschätzungen der verschiedenen Handlungsalternativen und damit über die jeweilige Präferenzskala, dann ist es möglich, mit Hilfe der „Theorie der Spiele", wie sie von J. v. NEUMANN und O. MORGENSTERN (1953) vorgelegt wurde, also orientiert am Wettverhalten bei Glücksspielen, für die jeweilige Person Strategien zur Gewinnung des größtmöglichen Nutzens und zur Minimierung des Verlustes auszuwählen. Nun bleibt die Frage offen, ob damit tatsächlich rationales und wirklichkeitsgerechtes Verhalten erreicht werden kann. Es ist ja zu bedenken, daß sich der Mensch meist nicht in einer Situation vollständiger und verläßlicher Information befindet. Oft sind viele Informationen und Kenntnisse, die eine Entscheidung an sich beeinflussen würden, nicht oder nur fehlerhaft verfügbar oder sie werden aufgrund irgendwelcher Vorurteile nicht wahrgenommen, werden verdrängt oder zufolge bestimmter Gefühle ignoriert. Wenn also Nützlichkeits- und Wünschbarkeitseinstufungen ohnehin auf unvollständigen und damit möglicherweise nicht ganz wirklichkeitsgerechten Informationen beruhen, so sind auch Präferenzordnungen und daran orientiertes Handeln irrtumsverdächtig und somit möglicherweise unvernünftig. Man kann nicht rationales Entscheiden allein durch ein rational anmutendes Verfahren gesichert sehen, wenn bereits die Ausgangsbedingungen, also die verfügbaren Informationen, mehr oder minder der Verzerrung und Selektion unterliegen. Vernunftgemäßes Vorgehen angesichts unvollständiger bzw. nicht vollkommen wirklichkeitsgerechter und so in gewisser Weise „unvernünftiger" Informationen garantiert noch keineswegs, daß vernunftgemäße Entscheidungen getroffen werden. Zum Beispiel ist es möglich, daß objektiv vorhandene Entscheidungsalternativen vom Subjekt gar nicht erkannt werden und folglich auch keinen Nützlichkeitsrang erhalten. Der Mensch handelt fast immer, selbst wenn er sich wie etwa im Wirtschaftsleben bemüht, möglichst rational zu entscheiden, unter relativer Ungewißheit. Meist muß man sich mit Teilinformation und nur wenigen verfügbaren Daten und darüber hinaus mit dem Faktum der Ungewißheit der Zukunft zufriedenge-
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ben, so daß es durchaus vernünftig ist, ergänzend die Gewohnheiten, Vermutungen und Gefühle oder persönlichkeitsspezifische Prinzipien und Verhaltensweisen in die Entscheidung einzubeziehen, um so das stete Irrtumsrisiko vertretbar erscheinen zu lassen. Durch diese Einflüsse wird aber ein streng an der Präferenzordnung orientiertes Verhalten erschwert, wenn nicht gar verhindert160. Gefühle und Affekte, die Vielfalt unserer Motivationen etc., versehen unser Verhalten so stark mit irrationalen Tendenzen, daß rationale Informationsbearbeitung bzw. rationale Verhaltensweise weit eher als eine Idealvorstellung anzusehen ist, als daß sie tatsächlich praktiziert werden kann. Gewiß, der Unternehmer z. B. sollte stets, um seines Erfolges willen, jene Kombination von Entscheidungen suchen, die ihm größtmöglichen Gewinn und geringstmöglichen Verlust erbringen; aber es ist zu bezweifeln, ob ein derart konsequenter „homo oeconomicus" angesichts der Differenziertheit betrieblicher und sozialer Probleme unter diesem Prinzip tatsächlich stets vernünftig handeln würde. Wenn gesichert wäre, daß bei den Entscheidungen von allen Beteiligten Präferenzordnungen anerkannt und konsistent gehalten werden (H. HAX, 1965, S. 19 f.), wenn also Plausibilität und Stabilität des Präferenzsystems es gestatten würden, vergleichbar abzuschätzen, welche der Alternativen die jeweils höchste Stellung auf der Präferenzskala innehat, könnte Rationalität der Entscheidungsprozesse ermöglicht werden ( H . THOMAE, 1 9 7 4 , S. 4 8 ) . In der Wirklichkeit ist dies jedoch selbst in der Wirtschaft selten der Fall. Den tatsächlichen Einzelentscheidungen gehen in der Regel bereits sinnorientierte Vorentscheidungen (s. o.) voraus, die gewissermaßen die obersten Zielsetzungen des Handelns darstellen. Diese Vorentscheidungen über den Sinn unserer Handlungen werden nur zu geringem Teil im Hinblick auf subjektive Wahrscheinlichkeiten getroffen. Zudem verändern sich diese sinnorientierten Zielsetzungen gemäß veränderter Erfahrung, Information und Vorstellungen, aber auch in Abhängigkeit von Intuitionen, Stimmungen etc. Angeblich rationale Entscheidung (im oben beschriebenen Sinn) dürfte sogar die Ausnahme bei der Festlegung einer Handlung sein. Sie darf nicht der Regelfall sein, weil die intuitive Verhaltenskomponente zur Auffindung sinnvoller Verhaltensweisen unverzichtbar notwendig ist (vgl. zweiter Teil, Kap. 2 . 3 . 4 . 3 ) . Ja, es kann sogar vermutet werden, daß rationales Verhalten im Sinne einer am Wettverhalten orientierten rationalen Entscheidungstheorie, von der Ausnahme der künstlichen Situation beim Wettspiel abgesehen, kaum existiert, denn diese reinen Bedingungen finden sich nur höchst selten im Leben. Statt dessen beruhen Entscheidungen auf mehr oder minder dominanten Gründen, erfolgen intuitiv beeinflußt, auch spontan oder zögernd, flexibel und provisorisch. Die tatsächlichen Entscheidungen werden
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kaum analog der Bereitschaft, in einem bestimmten Verhältnis auf ein Ereignis zu wetten, getroffen. Die normative bzw. rationale Entscheidungstheorie verdeutlich nur einen mögüchen Aspekt im Verhalten des Menschen, sie zeigt auf, daß unter bestimmten Bedingungen ein logisch und rational anmutendes Verhalten denkbar ist. Das tatsächliche Entscheiden und Verhalten kann jedoch nicht diesen Prinzipien unterworfen werden; es verläuft differenzierter und unterliegt einer weit komplexeren Steuerung. Zum Verständnis des Verhaltens des Menschen in seiner Umwelt vermögen daher solche Theorieansätze relativ wenig beizutragen.
7.4 Soziologische und psychologische Erklärungsversuche Neben den informations- und entscheidungstheoretischen Ansätzen liegen zahlreiche soziologische Theorien des sozialen Verhaltens oder des Handelns vor161. Aber sollen sie zur Erklärung und Prognose des menschlichen Verhaltens und zur Lösung praktischer Probleme herangezogen werden, erweisen sie sich ebenfalls als unbefriedigend. Häufig beschränken sie sich als sog. Theorien mittlerer Reichweite auf spezifische Bereiche sozialen Verhaltens (etwa als Theorien der Organisation, der Kommunikation, der sozialen Rollen, der sozialen Schichtung, der Sozialisation oder des Kaufverhaltens etc.) und lassen die Einbindung in eine allgemeine Theorie des Verhaltens vermissen. Sie sagen nichts darüber aus, in welcher Weise die verschiedenen sozialen Teilbereiche miteinander verknüpft sind. In der kaum noch zu überblickenden Fülle verschiedener Spezialtheorien mag zwar partieller Erkenntnisfortschritt sichtbar werden, gleichzeitig wird es aber immer schwieriger, diese Vielfalt in eine generalisierende Gesamtkonzeption einzubeziehen. Wenn ζ. B. das Verhalten der Menschen in der Freizeit von dem einen Autor als Versuch, die in der Berufssphäre erlebten Einschränkungen und Belastungen zu „kompensieren", interpretiert wird (J. HABERMAS, 1 9 6 8 , S. 107), vom anderen dagegen das Freizeitverhalten vom vorausgegangenen Bildungs- und Erziehungsprozeß, von schichtspezifischen, erworbenen „normativen, intellektuellen und emotionalen Dispositionen" ( Η . LÜDTKE, 1 9 7 2 S. 63 f) bestimmt wird, zeigt sich, wie weit selbst bei Teilbereichen des Verhaltens die Deutungen auseinandergehen und wie wenig damit für eine umfassendere Erkenntnis des menschlichen Verhaltens gewonnen ist. Umfassendere Einsichten in die Abhängigkeiten des individuellen Verhaltens gewähren verhaltenstheoretische sowie handlungstheoretische Ansätze. Vor allem deren Verknüpfung eröffnet ein besseres Verständnis der tatsächlichen Entscheidungen des Menschen. Zwar wird die Voraussage der Einzel-
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entscheidungen auch dadurch nicht ermöglicht, aber es wird immerhin deutlich, welch vielfältigen Einflüssen und Tendenzen soziale Entscheidungen im allgemeinen unterliegen. G. C. HOMANS ( 1 9 6 9 ) empfiehlt in seinem verhaltenstheoretischen Ansatz, soziale Prozesse durch bestimmte grundlegende („elementare") Eigenschaften des menschlichen Verhaltens zu erklären. Die vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Verhaltens wären also auf verhaltenspsychologische Hypothesen zu reduzieren. Derartige allgemeine Hypothesen wären gewissermaßen als Basishypothesen der Sozialwissenschaft grundlegender Bestandteil einer Erklärung des sozialen Verhaltens. Mag es sich bei solchen „generalisierenden Erklärungen" auch um geradezu triviale Binsenweisheiten handeln, werden damit doch elementare Grundregeln des sozialen Verhaltens aufgezeigt, auf denen sich eine differenziertere Erklärung aufbauen läßt.162 G. C. HOMANS (1969) sieht wesentliche Grundregeln des menschlichen Verhaltens u. a. in den folgenden vier gekürzt wiedergegebenen Hypothesen: Werden Handlungen belohnt, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sie wiederholt werden (Erfolgshypothese); sie steigt umso stärker, je größer der Wert der Belohnung empfunden wird (Werthypothese). Wurden früher Handlungen bei bestimmten Reizsituationen belohnt, werden Handlungen umso eher einsetzen, je stärker eine gegenwärtige Situation dieser erfahrungsgemäß belohnenden Handlungssituation ähnelt (Reizhypothese). Bleibt die dann erwartete Belohnung aus, kann die Neigung zu aggressivem Verhalten wachsen (Frustrations-Aggressions-Hypothese). Damit geht G. C. HOMANS über die Grundannahmen der Entscheidungstheorie hinaus. Es sollte jedoch eine weitere Hypothese hinzugefügt werden. Bleibt die erwartete Belohnung aus, so ist nicht nur die destruktive Reaktion möglich; ebenso kann die Enttäuschung zur Aktivierung einer Person führen (vgl. Kap. 6.1, 1. Hypothese). Enttäuschte Erwartungen enthalten auch eine Aufforderung zur ausgleichenden Aktivität, sie können eine Herausforderung für den Betroffenen darstellen (Aufforderungshypothese). Mit Hilfe der aufgeführten Hypothesen wird es ζ. B. möglich, die Prozesse des sozialen Wandels einschließlich ihrer raumbezogenen Aspekte relativ leicht, wenn auch vereinfachend, zu erklären163. Es kann ζ. B. dann darauf verzichtet werden, zur Erklärung der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmenden Zusammendrängung großer Menschenmassen in den aufstrebenden Industriestädten auf eine „Meinungsströmung und einen kollektiven Drang" zu verweisen, „der den einzelnen eine solche Konzentration auferlegt" und einen entsprechenden „Druck auf das individuelle Bewußtsein" ausübt, wie dies noch E. DURKHEIM für erforderlich
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hielt164. Vielmehr genügt der Verweis, daß sich mit der industriellen Revolution in den Städten bessere Verdienstmöglichkeiten eröffneten165. Der Zuzug in die Städte vollzog sich also in der Erwartung höherer „Belohnung" (Erfolgs- und Werthypothese). Der Ansatz G. C. HOMANS erlaubt aber durchaus auch eine Erklärung des umgekehrten Vorganges, der gegenwärtig zunehmenden Abwanderung aus den Kernräumen der Verdichtungsgebiete. Sobald das Wohnen in Klein- und Mittelstädten oder an den Rändern der Verdichtungsgebiete eine höhere subjektive Belohnung verspricht, vor allem in Beachtung immaterieller Werte, wächst die Wahrscheinlichkeit, daß zunehmend derartige Wohnstandorte bevorzugt werden (Werthypothese). Werden dagegen die bisherigen Vorteile großstädtischen Wohnens immer stärker beeinträchtigt und erscheinen die gewohnheitsmäßig erwarteten Vorzüge und Belohnungen „großstädtischen" Lebens im Vergleich zu anderen räumlichen Existenzformen allmählich als Belastungen und Benachteiligung, dann verbreitet sich Enttäuschung (Frustrations- und Aggressionshypothese), die sich ζ. B. auch als wachsende Reizbarkeit äußern kann. Eine Beantwortung der Frage E. DÜRKHEIMS, warum sich die Bevölkerung in Städten zusammendrängt, „anstatt sich über das Land zu verstreuen", findet sich also in der gleichen grundlegenden Banalität (Basishypothese), die auch den entgegengesetzten Vorgang, daß Menschen zunehmend extreme Verdichtungen meiden, erklärt. So wird die situations- und bewertungsabhängige Relativität des konkreten sozialen Verhaltens und der Prozesse im Raum deutlich. Gleichzeitig vermag eine verhaltenstheoretische Betrachtungsweise, die Theorie des rationalen Verhaltens zu umfassen. Rationales Verhalten würde dann bedeuten, daß diejenige Handlungsalternative gewählt wird, für die der subjektive Belohnungswert und die subjektive Wahrscheinlichkeit, diese Belohnung zu realisieren, am höchsten eingeschätzt wird. Darüber hinaus lassen sich aber auch irrational erscheinende Verhaltensweisen deuten, die als Folge enttäuschter Erwartungen (Frustrationshypothese) oder Erwartungsunsicherheit einsetzen. Dennoch aber kann auch G. C. HOMANS Ansatz nicht voll befriedigen. Verhaltensweisen, die nicht auf Belohnung oder Enttäuschung beruhen, also etwa dem Einfluß der Verhaltensgenetik, der Intuition, der Gefühlsbewegung, der momentanen körperlichen Verfassung etc. unterliegen, werden nicht angemessen berücksichtigt. Auch der Versuch von W. LANGENHEDER (1968, S. 75 f.) in unmittelbarer Anlehnung an K . LEWINS Feldtheorie, das Verhalten statt als Auswirkung elementarer Orientierungen (G. C . HOMANS s. O.), als eine Funktion der Beschaffenheit des Lebensraumes zu verstehen, vernachlässigt wichtige Gesichtspunkte. Zwar wird Lebensraum in einem sehr umfassenden Sinn verstanden; neben der durch ihn repräsentierten physischen und sozialen Welt
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wird auch die „psychologische" Umwelt berücksichtigt, vor allem aber wird - als sog. Valenzstruktur - der Grad der Erwünschtheit bzw. Unerwünschtheit aller in einem Lebensraum enthaltenen „Handlungssituationen" einbezogen. Damit ist also der Lebensraum auch durch die subjektive Bewertung, die er erfährt, charakterisiert. Der so definierte Lebensraum beeinflußt nun das Verhalten insofern, als eine bestimmte Handlung mit umso größerer Wahrscheinlichkeit ausgeführt wird, je mehr die dadurch erreichte Beeinflussung des Lebensraumes erwünscht ist, je geringer der Widerstand und je größer die Erfolgswahrscheinlichkeit ist. Letztlich wird also Verhalten auch hier als durch die erwartete „Belohnung" bzw. durch Wunschbefriedigung gesteuert verstanden; es würde der subjektiv am meisten erwünschte Lebensraum geschaffen. Zweifellos ist das Verhalten des Menschen oft rational auf Belohnung, auf Verwirklichung des Gewünschten gerichtet, erscheint häufig als lediglich erfolgsorientiert; entsprechend beurteilt und formt der Mensch seinen Lebensraum. Aber das ist eben nur eine, wenn auch wesentliche, Komponente des tatsächlichen Verhaltens. Ergänzend zeigen nun handlungstheoretische Ansätze, daß Handeln außerordentlich verschiedenen Einflußgrößen unterliegen kann und so auch keineswegs ausschließlich rational erfolgt, also etwa lediglich auf optimale Erreichung maximaler Belohnung gerichtet ist. So verweist P. S. COHEN (1972, S. 71 f.) darauf, daß Handeln an Zielen orientiert ist, die sehr vielfältig sein können und oft nur verschwommen und wenig spezifiziert vorliegen. Keineswegs werden dabei die verschiedenen Ziele „fein säuberlich in eine Struktur optimaler Zielerreichung" eingeordnet. Lernend bilden sich immer neue Zielkombinationen heraus. Handlungsablauf und Zielsetzung werden dabei wesentlich durch die jeweilige Situation beeinflußt, in enger Abhängigkeit von den verfügbaren Mitteln und bestehenden Möglichkeiten. Eng damit zusammenhängend wirken die Annahmen des Handelnden über die voraussichtlichen Folgen seines Verhaltens auf die Zielfindung ein. Solche Erwartungen, aber auch die im einzelnen geltenden Normen und Werte sowie die subjektive Ausprägung der Affekte (etwa Neid, Liebe, Schutzbedürfnis etc.), also die persönlichen Einstellungen beeinflussen bereits die Wahrnehmung des Menschen, so daß die jeweilige Situation durch die Handelnden sehr unterschiedlich zur Kenntnis genommen und bewertet wird. So verdeutlicht die Handlungstheorie, daß soziales Handeln differenzierteren Einflüssen unterliegt, als daß es durch relativ einfache zweckrationale Abhängigkeiten von den ökonomischen Bedingungen (wie etwa noch bei K. MARX) oder durch nicht logisch begründete Neigungen, Instinkte, Interessen (wie etwa bei V . PARETO) oder allein durch motivationale sowie kognitive Strukturen erklärt werden könnte.
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7.4.1 Reaktionstheorien Es liegen zahlreiche Versuche vor, das Verhalten des Menschen als eine mehr oder minder direkte Folge der Umweltwirkungen zu verstehen. Die Konfrontation mit der Umgebung, mit gewissermaßen vorgegebenen Dingen und Bedingungen, dränge den Menschen zu ganz bestimmten Verhaltensweisen bzw. Reaktionen. Auch wenn die Bandbreite solcher Erklärungsversuche sehr groß ist und etwa von der Existenz sog. Sachzwänge der uns umgebenden Dinge oder vom Stimulus-Response-Schema ausgehen oder von der direkten Wirkung physischer Objekte auf Psyche und Verhalten, so lassen sie sich doch unter dem gemeinsamen Aspekt der abhängigen Antwort auf gesetzte Bedingungen, unter dem Rahmenbegriff der Reaktionstheorien zusammenfassen. In unserem Zusammenhang sind nun vor allem die Theorieansätze von Interesse, die sich auf die Wirkung der räumlichen Umwelt und die diesbezüglichen Verhaltensreaktionen beziehen. Es liegt ja nahe zu behaupten, daß von den Dingen im Raum Aufforderungen bzw. Anpassungszwänge zu einem demgemäßen Verhalten ausgehen. So spricht H . L I N D E (1972, S. 7) den um uns verorteten Dingen bzw. „Sachen" eine geradezu „verhaltensregelnde Qualität" zu; wobei unter „Sachen" vor allem „technische Artefakte" verstanden werden, die die Bekleidung eines Menschen ebenso wie ein Haus oder ein bebautes Feld etc. einschließen. Diese Sachen erzwingen ein ihnen gemäßes, ein sachadäquates Verhalten. Die „Akte ihrer Verwendung" sind in der Sache selbst angelegt, in ihr ist also bereits ein „soziales Handlungsmuster", gewissermaßen als Gebrauchsanweisung, institutionalisiert. H. LINDE (1972, S. 65) unterstellt daher eine „Selbstmacht" der Sachen, die auf die sozialen Strukturen und das Verhalten geradezu determinierenden Einfluß ausübt. Zweifellos können Dinge und Geräte eine verhaltensregelnde Qualität haben. Wenn man einen Fahrstuhl benutzen will, sein eigenes Auto oder die Drehtür vor dem Bankschalter, dann ist man genötigt, sich entsprechend zu verhalten. Besucht man ein Sportstadion, einen Kurpark, weilt man in einer westlichen Großstadt oder in einem afrikanischen Dorf, stets legen die jeweils in typischer Weise verorteten und agglomerierten Dinge, die jeweiligen „Soziotope", ein demgemäßes Verhalten nahe. Und insofern besitzen „Sache" und Umgebung nach H. LINDE eine „essentielle Sozialität". Doch, so ist zu fragen, wer determiniert hier wen? Zwingen uns die Dinge zu spezifischen Verhalten oder zwingt der Mensch die Dinge, zum Zwecke ihrer Nutzung, so wie er sie seinem Wollen gemäß benötigt? Ist erzwungene Reaktion, ist die „Selbstmacht" von Sache und Raum nicht vielmehr gewollte Aktion zur Erreichung zuvor gewählter Ziele? Andererseits wird, wenn
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die gewollten „Sachen" erst einmal etabliert sind, der Aktionsspielraum des Menschen tatsächlich beträchtlich eingeengt. Lebt man erst einmal im 30. Stockwerk, wird die Abhängigkeit vom Fahrstuhl doch recht groß, was allerdings nicht ausschließt, daß man sich dieser Abhängigkeit durch Auszug entziehen kann. Die „Selbstmacht" der Objekte läßt sich brechen. Oft beeinflussen Raum und Dinge das Verhalten, ohne daß sich der Mensch dieser stillen Führung überhaupt bewußt wird. Eine Einkaufsstraße oder ein Fachgeschäft stimuliert uns durch ganz bestimmte räumliche Anordnungen zum Kauf. Ein hübscher Platz lädt zum Verweilen ein und modifiziert so unser Verhalten. Werden die Objekte einer Ausstellung räumlich geschickt arrangiert, vermag uns das stärker zu fesseln als bei monotoner Anordnung. Bestimmte bauliche Strukturen begünstigen aufgrund der durch sie verringerten Kontrollierbarkeit kriminelles Verhalten (vgl. u. a. O. NEWMAN, 1 9 7 3 ) . Auch räumliche Enge provoziert charakteristische Reaktionen, wobei diese allerdings durch persönliche und situative Faktoren beträchtlich variiert werden (vgl. u. a. D. STOKOLS, 1 9 7 2 ) . Von zahlreichen Autoren wurde und wird immer wieder die Formung des individuellen Verhaltens durch die materielle Umwelt herausgestellt (vgl. Zusammenstellung u. a. bei S . FRIEDMAN und J . B . JUHASZ, 1 9 7 4 ) . Allen diesen environmentalistischen Versuchen liegt die Hypothese eines mehr oder minder ausgeprägten Umweltdeterminismus zugrunde. Und es ist ja nicht zu bestreiten, daß das Befinden und Verhalten der Menschen hochgradig von der physischen Welt abhängig ist. Das noch immer lesenswerte Buch „Geopsyche" von W. HELLPACH (6. Auflage, 1949) belegt nach wie vor eindrucksvoll den starken Einfluß physischer Faktoren (vom Klima bis zur Landschaft) auf die „Menschenseele" und unser Befinden. Zweifellos wirken Farben (vgl. u. a. H. FRIELING et al. 1972, 1973) wie auch die räumliche Struktur auf uns beeinflussend ein. Und so sind auch die Versuche, durch environment design unsere Umgebung, durch urban form and design unsere Siedlungen wohltuender werden zu lassen, durchaus sinnvoll. Aber es bleibt doch immer zu bedenken, daß sowohl die Einwirkungen materieller Umwelt wie auch die Reaktionen des Menschen durch die vermittelnden und interpretierenden Variablen der Kultur (i. w. S.), der Person und Situation beträchtlich relativiert werden. Von ausgesprochenem Determinismus kann nur selten die Rede sein, und daher muß auch Umweltgestaltung, will sie wohltuend und funktionsgerecht sein, die personen- und kulturspezifisch besondere Ausprägung der RaumVerhalten-Wirkungen beachten - „designing for cultural pluralism" resümiert A. RAPOPORT (1977, S. 355). Eine relativ differenzierte Reaktionstheorie stellt der Umweltpsychologe A. MEHRABIAN (1976, 1978) vor, bei der die Umweltwirkung bzw. das
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dadurch induzierte Verhalten durch den Typus der Person variiert wird. Nachfolgend soll vereinfacht die zugrundeliegende Argumentation dargelegt werden: Die Umwelt ist stets mit einer mehr oder minder großen Menge von Informationen beladen, sie besitzt ein jeweils spezifisches „Reizvolumen". Dabei ist Umwelt im allgemeinen umso „reizstärker" je neuartiger bzw. ungewohnter und je komplexer bzw. je überfüllter und differenzierter sie ist. Es wird nun unterstellt, daß Menschen auf außerordentlich verschiedene Umwelten eigentlich nur im Sinne „weniger grundlegender Gefühlsdimensionen reagieren" (A. MEHRABIAN, 1978, S. 22). Dieser Gefühlsreaktion wird die verhaltenssteuernde Dominanz zuerkannt. Nach Konfrontation mit irgendwelchen Reizen entstehen nicht x-beliebige Gefühle, sondern es können eigentlich nur 3 grundlegende emotionale Dimensionen angesprochen werden, die jeweils in sich selbst eine konträre Ausformung zulassen: Erregung - Nichterregung, Lust - Unlust, Dominanz - Unterwerfung. Alle unsere Gefühlsreaktionen bestehen aus einer klar unterscheidbaren und oft recht typischen Kombination dieser Dimensionen, die damit ein Grundmuster, ein „funktionsfähiges Raster" darstellen, das wir „über die wimmelnde Konfusion der menschlichen Gefühlswelt legen können". Nehmen wir an, man sei eingeladen zu einer abendlichen Geselligkeit oder zu einem „Empfang" bei noch relativ fremden Menschen. Zunächst wird man sich fragen, was muß man anziehen, wann soll man dort sein, welches Verhalten wird erwartet? Es besteht also eine Bereitschaft, sich den diesbezüglichen Erwartungen der Gastgeber zu „unterwerfen". Ja, es kann sein, daß man sich in der noch unbekannten Umgebung zwischen so vielen fremden Menschen anfänglich sogar etwas gehemmt (unterworfen) fühlt.. Aber man stößt bald auf interessante Leute und schon befindet man sich in einem „angeregten" Gespräch. Ein anderer „erregt" sich sogar aufgrund einer politischen Diskussion, was ihn so ärgert, so „unlustig" macht, daß er sich in diesem ganzen Rahmen nicht mehr wohlfühlt und bald verschwindet. Man selbst aber findet vielleicht mehr Gefallen an der Geselligkeit, die Menschen sind vergnügt, es wird gelacht, die Stimmung ist freudig erregt. Die Unterwerfung unter bestimmte Verhaltensregeln wirkt nicht mehr störend, zumal diese sich allmählich etwas lockern, man fühlt sich wohl und bleibt entsprechend lange. Aber es hätte auch anders sein können, man trifft nur langweilige Leute, die einander verkrampft begegnen. Steifem Zermoniell unterworfen, erstirbt der Abend. Man fühlt sich zu wenig angeregt oder gar ärgerlich „erregt", von Vergnügen keine Spur. Auch das gute Essen vermag die Unlust nicht zu Lust
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zu wenden, und außerdem drückt der zu enge Frack. Ein unangenehmes Gefühl bemächtigt sich der Person, und schließlich geht man vorzeitig und wird wohl auch in Zukunft diesen Kreis eher meiden. A. MEHRABIAN (S. 25) betont, daß die Gefühlsreaktion veranlaßt, sich einer „Umwelt zu nähern oder sie zu meiden". Entsprechend lassen sich alle Reaktionen aller Menschen auf alle Arten von Umwelt den beiden Verhaltenskategorien „Annäherung" oder „Meidung" zuordnen, wobei diese allerdings jeweils sehr verschiedene konkrete Verhaltensweisen einschließen. So ist es ζ. B. Annäherungsverhalten, wenn ein Mensch sich für etwas interessiert, einen Sachverhalt erforscht, ein Buch liest (sich an dessen Inhalt annähern), den Kontakt eines Menschen sucht oder ganz allgemein einem Ziel zustrebt oder eine Aufgabe anpackt. Es ist Meidungsverhalten, wenn man einen anderen Menschen ignoriert, die körperliche Distanz zu ihm erhöht, sein Mißfallen zum Ausdruck bringt, eine Arbeit immer wieder verschiebt. Es liegt auf der Hand, daß gerade die gebaute Umwelt, der Raum, weil etwa besonders schön oder auch häßlich wirkend, Reaktionen auslöst, die Annäherung oder Meidung verursachen. Insofern erscheint der Ansatz als realistisch. A. MEHRABIAN unterstellt weiter, daß die Menschen im Rahmen des aufgezeigten Reaktionsschemas nicht in jeweils individuell verschiedenartiger Weise, sondern gemäß typologischer Gemeinsamkeiten jeweils ähnlich reagieren. Es sei romantisierendes Wunschdenken zu glauben, „daß irgend jemand einzigartig oder von jemandem anderen sonst total verschieden sei" (S. 27). Dabei werden wiederum die 3 bereits genannten Gefühlsdimensionen herangezogen, um typische emotionale Wesenszüge oder Temperamente als Persönlichkeitsdimension zu unterscheiden. Während bestimmte Menschen nahezu durchgehend durch eine eher lustbetonte Stimmung gekennzeichnet sind, fühlen sich andere stärker unlustbetont, ein weiterer Persönlichkeitstypus wird durch die starke Bedeutung, die Dominanz oder Unterwerfung für ihn besitzen bzw. durch die latente Bereitschaft zu dominieren oder sich zu unterwerfen, charakterisiert. Von besonderer Bedeutung für das RaumMensch-Verhältnis sei jedoch die auf die Erregung bezogene Persönlichkeitsdifferenzierung. Je nach der Neigung, Umweltreize stärker oder schwächer abzuschirmen, zu selektieren oder sie mehr oder minder voll einströmen zu lassen, ihnen geradezu zu erliegen, wird der Typus des „Nichtabschirmers", des zugleich rascher und länger Erregten, vom stärker filternden „Abschirmer" unterschieden, der das auftreffende Reizvolumen unbewußt reduziert und weniger relevantes gar nicht erst aufnimmt. Entsprechend ist seine Erregung oft geringer und weniger anhaltend. Die Menschen reagieren in dem Maße, wie sie durch solche Persönlich-
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keitsdimensionen gekennzeichnet werden, in typenhafter Weise auf Umweltreize. Nichtabschirmer ζ. B. sind in reizstarken Situationen viel empfänglicher für die Lust-Unlust-Dimension als Abschirmer, neigen daher viel stärker zu entsprechenden Gefühlen und folglich auch stärker zu Meidungsoder Annäherungsverhalten; sie sind durch die Reize ansprechbarer, begeisterungsfähiger oder auch heftiger ablehnend. Sind Nichtabschirmer sehr starken Reizen ausgesetzt, dann stehen sie im Vergleich zu Abschirmern unter höherem Anpassungsdruck, sind folglich auch stärker durch Überreizung gefährdet und entwickeln oft ein größeres Bedürfnis nach ausgleichender Ruhe. Sie bemühen sich, das für sie so verführerische Reizvolumen zumindest zeitweise zu reduzieren und sind dann auch gegenüber Störungen empfindlicher. Da der Nichtabschirmer stärker durch Reize gefangen genommen und erregt wird, der Mensch aber ein anhaltendes hohes Erregungsniveau nicht erträgt, machen sich auch beim Nichtabschirmer, als Folge des allgemeinen Anpassungssyndroms, eher Ermüdungs- und Erschöpfungsreaktionen bemerkbar. Der Nichtabschirmer steht unter erhöhtem Risiko, sich zu verausgaben, seine Kraft durch die latente Bereitschaft zum Engagement zu verbrauchen. Im allgemeinen meiden die Menschen kontinuierliche und starke Reizung, dem Nichtabschirmer jedoch fällt eine entsprechende vorsorgliche Steuerung und Dosierung schwerer; dafür vermag er allerdings in höherem Maße kreativ und einsatzfreudig zu sein. Unterstellt man, daß Menschen gemäß ihrer zum Teil angeborenen Gefühlskonstitution auf bestimmte lebensräumliche Bedingungen in geradezu typenhafter Weise gefühlsmäßig reagieren und diese Gefühlszustände auszuleben oder zu kompensieren versuchen, dann läßt sich nach A. MEHRABIAN (1978, S. 230) voraussagen, „welcher Art von Umwelt sich ein Mensch nähern oder welche er meiden dürfte, für welche Art von Situation, Betätigung . . . er sich entscheidet". Sicherlich können mit Hilfe der vorgestellten Theorie bestimmte raumbezogene Verhaltensweisen vergleichsweise einleuchtend erklärt und bisweilen auch vorausgesagt werden. Es wird so ζ. B. verständlich, warum sich in zu dicht bebauten, reizüberfluteten oder gar verkommenen Wohnumwelten viele Bewohner möglichst schnell in die gedämpftere Erregung und angenehmere (lustvollere) Atmosphäre der eigenen Wohnung zurückziehen und sich stärker voneinander isolieren, als dies unter anderen lebensräumlichen Bedingungen zu erwarten wäre. Indem MEHRABIAN auf eine geradezu typenhafte und kategorisierte Reaktion der Menschen auf Umweltreize verweist, bezieht er zwar die zwischen Raum und Verhalten gemäß Gefühlskonstitution steuernde Wirkung der Person ein, aber zugleich wird aufgrund der vorgenommenen Gefühls- und Temperamentskategorisierung ein weitestgehend vorherbestimmter und ge-
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radezu mechanistisch anmutender Ablauf unterstellt, der dem Verhältnis von Mensch und Raum eine reaktive, deterministische Komponente gibt, die der Differenziertheit des Entscheidungsverhaltens und der Vielfalt der Entscheidungsmöglichkeiten nicht voll gerecht werden dürfte. Man stelle sich eine ältere Frau vor, die seit langem in einem Wohngebiet wohnt, das zunehmend lauter, häßlicher, beengter wird, das zunehmend Unlust vermittelt, Unterwerfung (Anpassung) unter widrige Umstände verlangt. Warum zieht die Frau aber nicht aus und „meidet" die nunmehr verschlechterte Umwelt? Vielleicht halten Erinnerungen oder die Angst vor einer neuen, noch ungewohnten Umwelt bzw. die Vertrautheit mit dem Alten sie fest? Oder vielleicht wägt sie frei von gefühlsmäßigem Urteil die noch vorhandenen Vorteile gegen die Nachteile ab, den kurzen Weg zum Einzelhändler gegen den Lärm. Vielleicht aber wartet sie auch geduldig auf die genau definierte ideale Gelegenheit. Entscheiden und Verhalten verlaufen differenzierter als lediglich gemäß dem Diktum der Gefühlsreaktion auf gegebene Bedingungen. A. MEHRABIAN (1978, S. 15) betont allerdings zugleich, daß Menschen „wie Prometheus eine ans Geniale grenzende Begabung, ihre Umwelt bewußt zu verändern" besitzen und deutet damit an, daß zwischen der gefühlsabhängigen Reaktion des Menschen auf seine lebensräumlichen Bedingungen und deren bewußter Formung ein Zusammenhang besteht. Man darf jedoch vermuten, daß die bewußte Umweltgestaltung des Menschen keineswegs einer so starken Gefühlslenkung unterliegt, wie dies im vorgestellten Verhaltensmodell unterstellt wird. Damit stellt sich zugleich die Frage, über welchen Ansatz die Wechselwirkung, die Interaktion zwischen Raum und Verhalten, in ihrer Komplexität erfaßt werden kann?
7.5 Mensch und Raum als Regelkreis Inwieweit erweisen sich die bisher aufgeführten Ansätze zur Erklärung der Entscheidung und des Verhaltens der Menschen für unsere Überlegungen zu einer Raum-Verhalten-Theorie als fruchtbar? All diese Theorieansätze verweisen auf wesentliche Aspekte des menschlichen Verhaltens. Sehr wahrscheinlich sind ζ. B . in uns motivationale Triebkräfte wirksam, die uns zu einem Verhalten, das den Fähigkeiten und Veranlagungen gerecht wird, und damit zur Selbstverwirklichung, drängen. Ebenso beeinflussen unsere kultur- bzw. personenspezifischen Überzeugungen unser Handeln. Andererseits scheinen die Menschen oft auch gemäß ihrer Gefühlskonstitution sehr typenhaft und stereotyp auf Umweltgegeben-
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heiten zu reagieren. Auch mag häufig eine Orientierung auf größtmögliche Belohnung wirksam sein. Sicherlich unterliegt unser Verhalten, je nach Situation und Person unterschiedlich ausgeprägt, auch der Führung durch eine sinnorientierte Deutung und Bewertung, wodurch es gelingt, die große Vielfalt der Einflüsse zu koordinieren. Es ist aber nicht leicht, all die verschiedenen Komponenten des Entscheidungsprozesses bzw. der Steuerung unseres Verhaltens so zu integrieren, daß die ganze Komplexität dieser Zusammenhänge im Rahmen einer Theorie begreifbar wird. Zugleich besteht aber ein Bedürfnis, diesen differenzierten Prozeß der Verhaltenssteuerung möglichst wirklichkeitsgetreu zu erfassen, denn es ist für die Gestaltung unseres Lebens und für die Formung unseres Lebensraumes wichtig, den „Charakter" menschlicher Entscheidung und Verhaltensweise zu kennen. So erhebt sich ζ. B. die Frage, ob das raumbezogene Verhalten regelhaft ist, ob es gar gesetzmäßigen Abläufen unterliegt, oder ist es beliebig veränderbar und nur dem „freien Willen" unterworfen? Bis zu welchem Grade wird unser Verhalten durch die räumlichen Bedingungen determiniert oder sind wir in unserem Handeln in Wirklichkeit nicht doch weitestgehend frei vom Zwang durch gebaute Umwelt? Hier bedarf es der Antwort, hängt doch davon u. a. ab, wie unser Lebensraum gestaltet werden kann. Soll der Raum in Orientierung an irgendwelchen Gesetzmäßigkeiten des räumlichen Verhaltens geplant werden oder soll durch Planung ein vielfältiges Angebot lebensräumlicher Möglichkeiten bereitgestellt werden, aus dem der Mensch entsprechend seiner subjektiven, variablen und mehr oder minder „freien" Entscheidung selbst auswählt? Versucht man das Verhältnis von Mensch und Raum im Rahmen einer Theorie zu erfassen, so ist es sinnvoll, sich von vornherein der geradezu untrennbaren Verknüpfung beider bewußt zu sein. Es sei in diesem Zusammenhang an V. v. WEIZSÄCKERS (1950) modellhafte Vorstellung des „Gestaltkreises" als eines integrativen Subjekt-Umwelt-Zusammenhanges erinnert, wonach die empfangenden und ausführenden Organe (Wahrnehmung und Bewegung) eine vom Menschen (vom Subjekt) gesteuerte Einheit in sich und darüber hinaus mit den umgebenden Objekten bilden. Dieses unter dem Blickwinkel der Physiologie erarbeitete Modell kennzeichnet die geradezu zwangsläufige und untrennbare Verflechtung und Abhängigkeit zwischen Subjekt und Umwelt, die grundsätzlich auch zwischen menschlichem Verhalten und den lebensräumlichen Bedingungen besteht. Eine solche Vorstellung verbietet es, in gewissermaßen alomistischer Vereinfachung das Verhalten des Menschen in seinem Lebensraum ζ. B. auf die Wirkung irgendwelcher im Menschen virulenter Triebe zu reduzieren oder auf davon unabhängig wirksame Überzeugungen etc. Vielmehr dürfte sich im Menschen mit einer
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Vielzahl von Einflußgrößen ein differenziertes Spiel der Wirkungen und Rückwirkungen entfalten, das wiederum in Wechselwirkung mit den räumlichen Bedingungen steht. Nun existieren bereits zahlreiche Theorieansätze, die von einer wechselseitigen Verflechtung, von Interaktion und Abhängigkeit zwischen Mensch und Raum ausgehen. K . LEWIN ( 1 9 5 1 , 1 9 6 3 ) sieht das Verhalten als Funktion von Person und Umwelt, die beide zusammen in einem differenzierten Kräftespiel ein gemeinsames Feld, den „life space" konstituieren. Wenn auch die Umweltbedingungen, so wie sie die Person in ihren materiellen wie sozialen Aspekten erlebt, eine größere Wirkung ausüben, so wird den personalen Verhaltensdispositionen, den Trieben, der Intelligenz etc. doch ein kräftig beeinflussender Effekt zugesprochen. R. G. BARKER ( 1 9 6 8 , S. 1 9 ) versucht darüber hinausgehend einen engeren Zusammenhang zwischen Dingen und Geschehnisabläufen, „die sowohl physikalische wie verhaltensmäßige Eigenschaften haben", zu erfassen und unterstellt daher die Existenz sogenannter „Synomorphe", Verschmelzungen zwischen in ihrer Struktur jeweils ähnlicher Umgebung und Verhaltensweise zu „Verhalten-Milieu-Einheiten". Objektiv vorhandene „behavior settings" verbinden sich mit dazugehörigen typischen Verhaltensweisen und umgekehrt und schaffen so Strukturähnlichkeit. Bezogen auf differenziertere Verhaltensweisen, die über geradezu zwangsläufige Raumkonsequenzen, im Sinne von Treppe und steigen, Schwimmbecken und schwimmen, hinausgehen, erweist sich jedoch das Modell der „Synomorphe" als wenig hilfreich. Ist die Verknüpfung zwischen lebensräumlichen Bedingungen und konkretem Verhalten bisweilen auch recht eng, so ist es doch fraglich, ob die Vorstellung der „Strukturähnlichkeit" die Komplexität des Handlungsprozesses hinreichend verdeutlichen kann. Wenn ζ. B. der Umweltpsychologe W. H. ITTELSOHN ( 1 9 7 3 , S. 1 8 ) schreibt, Mensch und Umwelt seien „untrennbar" und beide „definiert in Begriffen ihrer Partizipation am gesamten Umweltprozeß", so beleuchtet dies zwar ihr zwangsläufiges aufeinander Bezogensein, erschwert aber die Einsicht, daß sie als jeweilige Eigenphänomene im Verhältnis latenter Spannung und Interaktion stehen, deren Wirkung aufgrund differenziertester Rückkoppelungen bisweilen recht offen ist. Zur Erfassung der interaktiven Beziehung erweisen sich dagegen diejenigen Versuche, die das Mensch-Raum-Verhältnis unter stärkerer Einbeziehung der kognitiven Vorgänge im Menschen erfassen wollen, als erfolgversprechender. Dabei wird im allgemeinen folgendermaßen argumentiert: Die von den lebensräumlichen Bedingungen ausgehenden Reize werden unter Bezug zu den im Menschen vorhandenen kognitiven Schemata, kognitiven
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Strukturierungen, „mental" oder „cognitive maps" etc., also zu den Vorstellungsbildern, die sich in einer Person entwickelt haben, aufgenommen166. Damit werden die Informationen der Wahrnehmung, ungeachtet ihrer Bindung an objektiv vorhandene Dinge, durch den Menschen selbst strukturiert; die umgebende Welt wird unter Nutzung räumlich-sozialer Vorstellungsbilder im Individuum gewissermaßen nachkonstruiert, erhält zwar damit zugleich eine subjektive Komponente, ist aber so personenspezifisch leichter verwertbar. Entsprechend sieht und erlebt jeder die Welt anders oder zumindest etwas anders. So baut sich in den Menschen eine phänomenologische Welt auf, die ungeachtet dessen, ob sie sich voll mit der Wirklichkeit deckt, zum Bezugsrahmen des individuellen Handelns wird. Allerdings ist diese Vorstellungswelt, sind die zugrundeliegenden Schemata durch rückwirkende Erfahrung der Veränderung und Anpassung zugänglich. Die so subjektiviert aufgenommene Umgebung ist, da an den räumlich-sozialen Vorstellungsbildern des bisherigen Erlebens orientiert, hinlänglich personenspezifisch aufbereitet, um in Bezug zu den in dieser Person vorhandenen Soll-Vorstellungen gesetzt zu werden. Das spezifisch strukturiert Wahrgenommene enthält zugleich die Aufforderung zum Vergleich mit den personenspezifischen Erfahrungen und normativen Vorstellungen. Das konkrete Verhalten ist dann darauf gerichtet, eine etwaige Diskrepanz zwischen wahrgenommener Umwelt und gewollter Umwelt zu reduzieren. Dabei bieten sich zwei Möglichkeiten der wechselseitigen Anpassung an, entsprechende Veränderung der vorgegebenen Verhältnisse oder der bislang geltenden Normierungen. Das raumbezogene Verhalten entscheidet sich also an den in der Person aufgebauten Soll-Vorstellungen, wobei die Handlungen tendenziell unter dem Ziel stehen, lebensräumliche Bedingungen zu schaffen, die Gleichgewicht zwischen dem Vorhandenen und dem Gewollten ermöglichen. Welcher Gleichgewichtszustand bewußt oder unbewußt erstrebt wird, ergibt sich sowohl aus den tatsächlichen räumlichen Voraussetzungen, denn diese formen über die Erfahrung die sozialräumlichen Vorstellungsbilder, wie auch aus diesen kognitiven Strukturierungen selbst, denn sie beeinflussen unser Bild von den Dingen und der Welt und in Verbindung mit den diesbezüglichen Zielvorstellungen die Formung der räumlichen Bedingungen. Dieser interaktive Zusammenhang dürfte der Wirklichkeit vergleichsweise nahe kommen167. Trotz mehrerer Ansätze zu interaktionistischen Theorien, im oben beschriebenen Sinne, bedarf es einer differenzierteren Analyse der Wechselwirkung zwischen lebensräumlicher Realität und menschlichem Verhalten, um so vor allem die Art der Regelung dieses Verhältnisses und die Komplexität der Beziehungen mit ihren zahlreichen Rückkoppelungen besser erfassen zu können. Auch ist zu klären, ob und inwieweit unser Verhalten durch
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die lebensräumlichen Bedingungen bestimmt wird und warum oder warum nicht. Gemäß welcher Prinzipien läuft die Wechselwirkung zwischen Raum und Verhalten ab, genügt der Verweis auf die Verminderung der Diskrepanz zwischen Umweltnorm und Umwelterfahrung, um den Prozeß der raumbezogenen Entscheidung hinreichend erklären zu können? Es soll nun versucht werden, die Komplexität der Raum-Verhalten-Beziehung im Rahmen eines Regelkreis-Modells zu verdeutlichen. Man muß sich jedoch klar darüber sein, daß auch ein solcher Versuch, die differenzierten Wechselwirkungen zwischen Mensch und Lebensraum in ein Netzwerk sich beeinflussender Elemente zu zerlegen, problematisch ist. Die enge Verbindung von Mensch und Raum, die „ganz ursprüngliche innige Einheit von Subjekt und Raum" (L. KRUSE, 1974, S. 32), schafft eine nahezu ganzheitliche Dimension, deren Gliederung in ein System miteinander verflochtener Elemente bereits einen gewissen Verlust an Wirklichkeitsnähe bedeutet. Jedes Lebewesen ist ja auch ein Ausdruck dessen, was es umgibt. Alle Sinnesorgane, alle Körperlichkeit, unser Denkvermögen, wie auch unser genetisches Verhaltensprogramm sind in Orientierung an den lebensräumlichen Voraussetzungen geworden; wir sind als Produkt der Stammesgeschichte ein Abbild, ein Ergänzungsstück zur Welt, an der wir geformt wurden bzw. in der wir uns bewähren mußten - jedes „Sosein" erklärt sich eben auch aus seinem „Wosein". Es ist also wichtig, das Verhältnis von Mensch und Raum weniger als ein „Gegenüber", sondern vielmehr als ein „Miteinander" und „Ineinander" darzustellen. Auch wenn das gelingt, bleibt ein weiterer Einwand. Die Darstellung von Sachverhalten in einem Regelkreis vermag nichts darüber auszusagen, ob diese „wahr" sind, ob sie mit den Tatsachen übereinstimmen. Ein Regelkreis kann reale Tatbestände weder bestätigen noch widerlegen. Aber er kann helfen, vor allem solche Sachverhalte, die Wechselwirkungen und Abhängigkeiten einschließen, zu verdeutlichen. Ein Regelkreis vermag also modellhaft die Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen zu beschreiben, soziale Tatbestände dagegen zu erklären oder gar vorauszusagen, vermag er nicht, denn er stellt keine empirische Theorie dar, sondern nur ein Abbild vermutlich bestehender Zusammenhänge168. Kann ein Regelkreis auch keine erklärende Theorie begründen, so läßt er sich methodologisch doch als kybernetischer „Kalkül", als eine Abbildung der Grundregeln, über die verschiedene Elemente miteinander in Beziehung treten, kennzeichnen. Indem der Regelkreis den Ablauf von Prozessen gemäß bestimmter Grundregeln, wie sie sich etwa im Prinzip der Rückkoppelung oder durch die Abfolge von Messung (Meßgröße), Vergleich (Regler) und Beeinflussung (Stellgröße) darstellt und durch ein System von Zeichen und Regeln die Art eines Zuammenhanges sichtbar macht, erfüllt er zumin-
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dest eine analytische Funktion. Für heuristische Zwecke ist er also durchaus brauchbar. Darüber hinaus kann jedoch ein kybernetischer Kalkül in Verbindung mit einer kritischen Methodologie, die die Aussagen ständiger Überprüfung unterwirft, einer gewissen „Entideologisierung" in der Sozialwissenschaft förderlich sein, kann zu stark vereinfachte und deterministische Auffassungen aufweichen helfen. Denn ein kybernetischer Kalkül verdeutlicht, wie vielfältig die Abhängigkeiten sind, die soziales Handeln beeinflussen und zu welch verschiedenartigem Ergebnis das Wechselspiel zwischen so vielen Einflußgrößen führen kann; so läßt sich auch leichter erkennen, wie problematisch es ist, Gesetzmäßigkeit des Verhaltens (ζ. B. im Raum) zu postulieren - stets gibt es mehrere Möglichkeiten. Es ist also sicher vertretbar, nachfolgend das Verhältnis von Raum und menschlichem Verhalten wie auch die Komplexität und Variabilität der damit zusammenhängenden Entscheidungsprozesse mit Hilfe eines Regelkreismodells einsichtiger zu machen, ohne daß damit der Anspruch erhoben wird, eine bereits voll befriedigende Raum-Verhalten-Theorie vorzulegen. Aber es kann ein Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie vorgestellt werden, der, obwohl noch nicht empirisch geprüft und abgesichert, doch die Zusammenhänge so verdeutlicht, daß daraus Konsequenzen für die Praxis der lebensräumlichen Planung abgeleitet werden können. Es gibt Sachverhalte, zu denen Aussagen gewonnen werden müssen, obwohl eine Bewährung im Sinne des Deduktivismus (K. R. POPPER) oder eine Bestätigung oder Stützung im Sinne des Induktivismus (R. CARNAP oder W. STEGMÜLLER) nicht vorliegt oder kaum zu erreichen ist. Die wissenschaftshistorischen Ausführungen von T. S. KUHN (1967) zeigen, daß wir damit keineswegs besonders leichtfertig vorgehen, sondern durchaus üblichen Wegen, unser Wissen zu vermehren, folgen, auch wenn dies aus wissenschaftstheoretischer und methodologischer Sicht als unbefriedigend erscheinen mag. Der Nutzen unseres heuristischen Ansatzes für die Lebensraumgestaltung bzw. Raumplanung dürfte vor allem darin liegen, daß aufgezeigt wird, welch vielfältigen Einflüssen die Entscheidungen der Menschen bezüglich der Raumnutzung unterliegen und wie variabel solche Entscheidungen sein können. Damit wird deutlich, daß wir hinsichtlich der konkreten Nutzung unseres Lebensraumes nicht auf gesetzmäßig ablaufende Entwicklungen vertrauen dürfen, die dann nur durch Prognose zu erkennen und durch den Planer vorzubereiten wären.
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7.5.1 Modell zu einer Raum-Verhalten-Theorie der sinnorientierten Regulation Wir beschränken uns von vornherein auf die Darstellung des Verhältnisses von Mensch und unmittelbar räumlichen Existenzbedingungen. Raum wird also nicht im Sinne der den Menschen umgebenden Umwelt in all ihren vielfältigen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen Aspekten, die ja alle auch irgendwie und irgenwo dinglich im Raum verortet sind, verstanden, nicht als „Milieu", sondern als der konkrete Lebensraum mit seiner dinglichen Ausstattung und Dimensionierung, einschließlich der daran gebundenen Gehalte und Bedeutungen, als der Raum, dem wir mit unserer Leiblichkeit und unserem Handeln zugehören. Es ist der Garten genauso wie die Straße und das Auto, mit dem wir sie befahren oder das Haus, in das wir zurückkehren; die konkrete „Landschaft", die uns der Blick aus dem Fenster zeigt, ebenso wie das große Gebäude, in dem wir arbeiten. Es ist die räumliche Realität, wie sie etwa die Phänomenologie als den „gelebten Raum", als des Menschen „Medium seiner leibhaftigen Verwirklichung", begreift ( K . v. DÜRCKHEIM 1 9 3 2 , S. 3 8 9 f.). Es ist der Raum, der die verorteten und distanziellen Bedingungen unseres Handelns setzt, ungeachtet dessen, ob wir die ganze Vielfalt seiner Ausstattung wahrnehmen. Die Art der Beziehung, die zwischen dieser konkreten lebensräumlichen Realität - tritt sie uns nun als Wahrnehmungsraum, als Stimmungsraum, als Handlungsraum oder wie auch immer gegenüber - und unserem Verhalten besteht, gilt es zu erhellen. Im beigegebenen Regelkreismodell wird versucht, den Wirkungszusammenhang, „Räumliche Existenzbedingungen und menschliches Verhalten" (Abb. 2) in vereinfachender Darstellung zu erfassen: Auf die Sinnesorgane des Menschen wirken, verstärkt durch die immer wieder neue Situationen schaffende Aktivität, geradezu ständig Umweltreize ein, die je nach der Aufnahmefähigkeit und Gespanntheit aufgenommen oder ignoriert werden. Dieser Zustrom ist vor allem mit zahlreichen potentiellen Informationen über den uns umgebenden Raum angereichert. So werden die räumlichen Bedingungen der Existenz (1) in ihren vielfältigen Aspekten über unsere Rezeptoren, über den „Weltbildapparat" 169 des Menschen, zwar relativ verläßlich, aber doch nur selektiv wahrgenommen (2). Diese mehr oder minder ausgewählt aufgenommenen Komponenten der Wirklichkeit werden vom Menschen zunächst interpretiert, gedeutet bzw. eingeordnet (3) und einem unter Umständen sehr differenzierten und komplex ablaufenden Bewertungsprozeß unterworfen (19). Je nach dem Ergebnis dieser Bewertung der wahrgenommenen Wirklichkeit wird die Entscheidung des Menschen (20) hinsichtlich seines weiteren Verhaltens ausfallen,
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was zwangsläufig durch das daraus resultierende Handeln zu einer Beeinflussung oder gar Änderung der weiteren Wahrnehmung (2) führt. Das Verhalten des Menschen nun wirkt, da es sich stets im Lebensraum vollzieht, mehr oder minder stark auf Formung und Entwicklung der räumlichen Existenzbedingungen ein. Die so veränderte räumliche Realität wird über die Wahrnehmung erneut vermittelt und dem Bewertungsprozeß unterzogen, der dann wiederum das Verhalten gegenüber dem Raum regelt. So bleibt ständig fortlaufend die Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum in Gang und immer wieder schließt sich der Kreis, der Subjekt und Raum zur Interaktionseinheit verbindet. Wichtig ist, zu erkennen, daß unsere Entschei-
Abb. 2:
Sinnstiftende Regulation zwischen lebensräumlichen Bedingungen und menschlichem Verhalten (Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie)
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düngen (20) erst aus einer synergetischen (verschmelzenden) Bewertung (19) der wahrgenommenen und gedeuteten lebensräumlichen Phänomene erwachsen. Dabei ist diese Bewertung als ein sehr differenziert ablaufender Vorgang zu verstehen, der je nach Situation und Person unterschiedlich „pulsierend" sehr verschiedenen Einflüssen (4-18) unterliegt, die allerdings meist über die personenspezifische Sinnorientierung (18) eine gewisse Koordination erfahren; wobei auch diese Sinnorientierung selbst durchaus dem Wandel und der Beeinflussung offen ist. Unsere Darstellung soll durch ein Beispiel verdeutlicht werden: Nehmen wir an, Herr XY unternimmt mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern einen Sonntagsausflug mit dem Auto in das Umland der Stadt. Eine Umleitung zwingt in einem der kleinen Dörfer, durch ein Neubaugebiet zu fahren. Zwischen neu gebauten Einfamilienhäusern liegen noch vereinzelt unbebaute Grundstücke. Während der langsamen Durchfahrt nimmt man - so wie den Richtungsweiser für die Umleitung oder den vorausfahrenden Wagen - u. a. auch diese unbebauten Parzellen wahr. Schon oft hat Herr XY mit seiner Frau darüber gesprochen, daß es eigentlich schön und an der Zeit wäre, ein eigenes Haus zu bauen - der Kinder wegen, zur sinnvollen Anlage des bisher ersparten Geldes etc. Die Familie befindet sich also in einer Phase, in der der Bau eines Hauses keineswegs abwegig erschiene. Andererseits wohnt man in der Stadt gut, alternative Verwendungsmöglichkeiten für das gesparte Geld wären genügend vorhanden, und die Kinder scheinen bislang auch ohne den eigenen Garten gut zu gedeihen. Der Entschluß zu bauen ist also nocht nicht gefaßt worden. Entsprechend sucht man auch noch nicht nach einem passenden Bauplatz, aber immerhin gewinnt die geradezu zufällige Wahrnehmung einer schön gelegenen Bauparzelle bereits eine gewisse Bedeutsamkeit. Die an sich nebensächliche Information „schönes Grundstück" wird als relevant gedeutet und entsprechend aufmerksam wahrgenommen. Während der Weiterfahrt läuft in Herrn XY ein Bewertungsprozeß ab. Die Erfahrung der relativen Enge in der Stadtwohnung, die ständige Zankerei der Kinder in ihrem kleinen Zimmer wird ihm bewußt, wie auch das Stöhnen seiner Frau, nachdem sie ihre Einkäufe 3 Treppen hoch getragen hat. Sein Kollege fällt ihm ein, der von seinem neuen Haus und der Anlage des Gartens schwärmt und der übrigens auch nicht mehr verdient. Die Bemerkung seiner Frau, „oh, hier müßte man wohnen", verdeutlicht ihm, daß doch immer schon für sie beide die weitere Verbesserung ihrer Wohn- und Lebenssituation das eigentliche und übergeordnete Ziel all ihrer Handlungen war. Wofür denn leistet er seit Jahren so viele Überstunden? Hätte es nicht wirklich „Sinn", endlich so zu wohnen, wie man es sich im Stillen doch schon lange erträumt? So reift der Entschluß, sich das „schöne Grundstück" doch noch einmal genauer anzusehen. Kommt noch hinzu, daß man sich gerade in einer Situation befindet, die nicht zur Eile treibt, eine kleine Fahrpause paßt ganz gut. Ein entsprechendes Verhalten wird eingeleitet, man wendet, fährt zurück, steigt aus. Ein neuer Kreislauf von Wahrnehmung und Verhalten setzt ein. Der Blick in ein weites, grünes Land ist herrlich, die Lage zur Sonne ist richtig; man wäre nahe der „Natur", es würde nicht an Bewegungsraum mangeln; Herr XY bekäme endlich sein eigenes Arbeitszimmer und dies sogar mit Ausblick auf grüne Hügel. Herr XY atmet plötzlich freier durch, seine Frau blickt ganz verzückt. Und schon schreiten beide messenden Schrittes das Grundstück ab. Das müßte zu bezahlen sein; hoffentlich ist es noch käuflich. Die rasche Nachfrage in der Nachbarschaft bestätigt dies. In den nächsten Tagen und Wochen „pulsiert" bei Herrn XY und seiner Frau das Spiel zwischen Wahrnehmung, Bewertung und Entscheidung stürmisch hin und her. Bald wird der Bau des Hauses zur vorerst dominierenden Sinngebung allen Handelns, und eines Tages verwandelt der Bagger die Parzelle zur neuen räumlichen Realität. Das neue Haus wiederum
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und die neue Umgebung werden Wahrnehmung, Wertungen und Handeln der Familie XY für die nächste Zeit beträchtlich beschäftigen und beeinflussen. Und mag auch manche Erfahrung draußen vor der Stadt die Begeisterung der ersten Minuten auf der schönen Parzelle etwas modifiziert haben, so wird auch im weiteren Leben der Familie XY das Sehen und das Handeln im Raum von den, wenn auch wandelbaren Bewertungen des Gesehenen bzw. den wahrgenommenen lebensräumlichen Fakten abhängen.
Wir erkennen, daß zwischen der lebensräumlichen Wirklichkeit (1) und deren Wahrnehmung (2) einerseits und unserem Verhalten (21) andererseits, ein Prozeß der Regelung durch situationsabhängige, sinnbezogene Bewertung (19) wirksam ist. In Abhängigkeit von dieser, zahlreiche Einflüsse verschmelzenden Bewertung bilden sich aus der Vielzahl der Alternativen unsere Entscheidungen (20) und das entsprechende tatsächliche Verhalten heraus. Es findet also keine direkte Beeinflussung des Verhaltens durch die räumliche Realität und die Wahrnehmung statt170. Das schließt jedoch nicht aus, daß der Mensch hinsichtlich seines körperlichen oder seelischen Befindens (5) auch unmittelbar durch die räumlichen Bedingungen seiner Existenz beeinflußt werden kann. So vermag er ζ. B. durchaus Schaden zu nehmen, ohne dies zum Zeitpunkt der Schädigung zu spüren; aber umgekehrt kann auch sein Wohlbefinden steigen, ohne daß er sich der raumbedingten Ursache bewußt ist171. Bereits die kurze Erörterung des Regelkreismodelles verdeutlicht, wie zwingend und intensiv Lebensraum und menschliches Verhalten miteinander verbunden sind und wie sie einander, unter „Regelung" durch die sinnbezogene Bewertung, beeinflussen. Die Orientierung an einer graphischen Darstellung (Regelkreismodell - Abb. 2) verführt jedoch zu einer zu stark vereinfachenden Sicht an sich recht differenzierter Zusammenhänge. Detailliertere Ausführungen sind daher notwendig; dabei empfiehlt es sich, die Hauptelemente des Regelkreises, die ja selbst wieder komplexe Phänomene bezeichnen, nacheinander zu erörtern.
7.6 Wahrnehmung und deren Deutung 7.6.1 Selektive Wahrnehmung gemäß „Vorurteil" Bereits unsere Kenntnisnahme (2) der räumlichen Existenzbedingungen, unsere Wahrnehmung (i. eng. S.) liefert zwar vergleichsweise verläßliche, aber keine „reinen" und unmittelbaren Informationen, keine a priori „wahren Daten" (K. R. POPPER, 1973, S. 77). Unsere Sinnesorgane vermitteln diejenigen Ereignisse, auf die sie im Rahmen eines evolutionären Anpassungsprozesses hin konstruiert wurden, die ihrem Bauplan gemäß sind, die
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sie also strukturbedingt „erwarten". Darüber hinaus erfolgt die individuelle Wahrnehmung in Bindung an eine zwar durch Lernen reifende, grundsätzlich aber vorgegebene Disposition zur Auswahl auftreffender Reize. Welche Auslese erfolgt, welche Impulse bewußt werden oder unbeachtet bleiben, ist in starkem Maße abhängig vom Training der Sinnesorgane, von den Erfahrungen, von der Lebensphase, den Erwartungen, der Intelligenz usw. Wahrnehmung erfolgt so von vornherein in doppelter Weise selektiv, gemäß der begrenzten Leistungsfähigkeit unserer Sinnesorgane und gemäß den in uns aufgebauten Theorien und in uns wirksamen „kognitiven Programmen"172. Durch diese werden, abhängig von den in unserem Gedächtnis gespeicherten Informationen und Erfahrungen, die Signale der äußeren Umwelt gefiltert. Die Aufnahme der Umweltimpulse durch den Weltbildapparat läuft nicht als eifriges wildes Einsammeln aller nur denkbaren Reize ab. Den von uns festgestellten Daten gehen also bereits Vorurteile und Deutungen voraus; Wahrnehmung ist theoriegetränkt, „reine Wahrnehmung" 173 ( K . R. POPPER, 1 9 7 3 , S. 1 6 5 ) gibt es nicht . Freilich bedeutet das nicht, daß das, was unsere Sinneswahrnehmungen vermelden, sehen wir einmal von Sinnestäuschung oder Krankheit ab, ein Trugbild der Wirklichkeit sei. K. LORENZ (1973, S. 16) verweist darauf, daß alles, was wir über die reale Welt wissen, wir „Relevantes vermeldenden Apparaten des Informationsgewinns" verdanken, die sich stammesgeschichtlich durch Selektion herausgebildet haben. Und es sei hinzugefügt: wie sollten Apparate, die einem so kritischen Prinzip unterliegen, die sich also relativ gut bewährt haben, nicht wirklichkeitsgerecht vermitteln? Müßten doch an falschen, also nicht mit den Tatsachen übereinstimmenden Informationen die Lebewesen, weil irregeführt, scheitern. Unsere Sinnesorgane haben sich entwicklungsgeschichtlich in Anpassung an die wahrzunehmende Realität entwickelt, sie wurden in ständiger Konfrontation mit der Wirklichkeit geformt174; wie sollten sie dann nicht auf diese bezogen sein und sie wirklichkeitsgerecht zur Kenntnis nehmen? Die Aufgabe, wirklichkeitsgerechte Informationen zu liefern, mußte sich in den Sinnesorganen durch eine dementsprechende Struktur ausformen175, und solange diese gemäß ihrer Funktion gestalteten Apparate gesund sind, werden sie verläßliche Informationen liefern. Die unterschiedlichsten Sinnesorgane der Lebewesen sind also so strukturiert, daß sie die für das artspezifische Verhalten relevanten Informationen wirklichkeitsgerecht bereitzustellen vermögen176. So kann K. LORENZ (1973, S. 16, 17) behaupten, daß „alles, was unser Erkenntnisapparat uns meldet, wirklichen Gegebenheiten der außersubjektiven Welt entspricht", aber wir haben „nur für jene Seiten des An-sich-Bestehenden ein Organ entwickelt", die sich für unsere Art durch Selektion als lebenswichtig erwiesen haben.
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Also bereits aufgrund des Baues unserer Sinnesorgane vermitteln die gewonnenen Informationen nur einen artspezifischen, für das Überleben relevanten Ausschnitt der Wirklichkeit. Dieser durch die Organe bedingten selektiven Wahrnehmung nicht unähnlich, entwickeln wir auch im Leben des einzelnen, der Gesellschaft oder einer Kultur nur Sinn für Dinge, die uns gemäß unseren Auffassungen, Theorien, Erziehung, Erfordernissen hinreichend wichtig erscheinen. Zwar können wir uns im allgemeinen auf die vermeldeten Informationen verlassen, aber sie vermitteln nur die den Sinnesorganen zugängliche und durch die Filter des Vorurteils scheinende Seite der Wirklichkeit. Wir vermögen unseren Wahrnehmungsgegenstand nicht unbedingt als Ganzes, etwa in seiner „Totalität", als „Ding an sich" zu erfassen. Ungeachtet dessen liefert uns die Wahrnehmung verläßlich Aspekte einer außersubjektiven Wirklichkeif7. Eine ganz andere Frage ist es, ob die Annahme, daß der Mensch wirkliche Dinge wahrnimmt, dahingehend ausgeweitet werden kann, daß er potentiell die „wirkliche Beschaffenheit der Dinge" wahrnimmt, wie dies von marxistischer Seite etwa durch K . HOLZKAMP ( 1 9 7 3 , S. 2 2 ) 1 7 8 unterstellt wird179. Uns erscheint Wahrnehmung vielmehr zwangsläufig als gewissermaßen beschränkt und eingeengt, nicht nur, weil sie an das „Jetzt - und Hier" gebunden ist, wie dies auch K. HOLZKAMP (1973, S. 34) betont, sondern weil sie von Vorstellungen und Hypothesen über die Wirklichkeit in uns abhängig ist180. Gerade dadurch ist Wahrnehmung nicht nur beschränkt, sondern - da mit dem Denken, mit Hypothesen verbunden - eben auch veränderbar, beeinflußbar und entwicklungsfähig. Zwar räumt K . HOLZKAMP ( S . 3 3 ) ein, daß Beboachtung in einem „Übergangsbereich zwischen passiv-kontemplativer bloßer Wahrnehmung und Denken" liegt; wir unterstellen dagegen, daß über einen Regelkreis eine untrennbare Verknüpfung zwischen beiden besteht. Wir wiederholen: in die Wahrnehmung ist also ein Selektionsmuster, ein „Vorurteil", geradezu eingebaut (vgl. auch Kap. 7.8). Wir nehmen zwar wirklichkeitsgerecht, aber abhängig von unseren Hypothesen selektiv und in gewisser Weise beschränkt wahr181. Denken und Wahrnehmung bleiben untrennbar verbunden. Das „Ding an sich" kann uns die Wahrnehmung nicht zeigen. Vor allem aber muß man sich klar darüber sein, daß diese Wahrnehmung, obzwar Aspekte der Wirklichkeit vermeldend, doch in hohem Maße subjektiv ist. Dies gilt natürlich auch bezüglich der hier besonders interessierenden Raumwahrnehmung. Wir wissen, daß der Mensch die lebensräumliche Realität unter Hinzuziehung gedanklicher Vorstellungsbilder (im Sinne zuvor ausgebildeter kognitiver Schemata) wahrnimmt. In diese sozialräumlichen
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Vorstellungsbilder gehen während ihrer Herausbildung und weiteren Umformung zahllose Erfahrungen materieller, sozialer, psychischer Art ein. Die Vorstellungsbilder werden gewissermaßen behangen mit vielen meist sehr personenspezifischen Nebeninformationen; sie werden mit emotionalen und rationalen Valenzen besetzt. Räumliche Vorstellungsbilder gehen also weit über die Spiegelung des Räumlichen, über die rein räumlich-visuelle Wahrnehmung hinaus. Sie sind je nach Alter, Lebenslauf, Persönlichkeit des einzelnen mit höchst unterschiedlichen Gehalten beladen, mit Bewertungen, Erwartungen, Ängsten und Hoffnungen, mit Präferenzen, gefühlsmäßigen Abneigungen, mit positiven oder negativen Erinnerungen und Assoziationen. Es ist leicht einsehbar, daß diese Vorstellungsbilder höchst subjektive Gebilde sind, stellen sie doch das Resultat einer vorausgegangen und je nach Lebensalter oft sehr langen Interaktion zwischen Mensch und Umgebung dar. Bedenkt man in welch starkem Maße beim Kind die Fähigkeit, räumlich zu denken und räumliche Schemata aufzubauen vom aktiven Umgang mit dem Lebensraum, vom Handeln im Raum abhängt182, bedenkt man, wie auch der Erwachsene durch Handeln und Erfahrung im Lebensraum seine raumbezogenen Vorstellungen, sein räumliches Denken entwickelt und berücksichtigt man ferner, wie unterschiedlich die Lebensläufe bezüglich der individuellen Raumnutzung und Raumerfahrung ausfallen, dann wird klar, wie unterschiedlich diese räumlichen Schemata ausgeprägt sein können. Und da sie als Vorfilter unsere Wahrnehmung beeinflussen, sieht und erlebt jeder die lebensräumliche Realität anders. Die Subjektivität des Wahrnehmens der uns umgebenden Realität steht außer Zweifel, ist sie doch die Folge eines ständigen interaktiven Ablaufs zwischen wahrnehmender Person und Wahrnehmungsmöglichkeiten, der seinen Niederschlag in den dabei entstehenden personenspezifischen Vorstellungsbildern findet. Das schließt jedoch nicht aus, daß wirklichkeitsgerecht und in vielen Wahrnehmungsbereichen von verschiedenen Personen das Gleiche wahrgenommen wird.
7.6.2 Exkurs: Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung und Denken ermöglicht Erkenntnisfortschritt Besagen die vorausgegangenen Überlegungen, daß unser Bild von der Welt und auch von den räumlichen Bedingungen der Existenz, obwohl wirklichkeitsgerecht, doch zwangsläufig unvollständig, lückenhaft, ja dadurch sogar fehlerhaft bleiben muß? Vermögen wir demzufolge, unter erkenntnistheoretischer Sicht, das wahre Wesen der Dinge und eine volle Erklärung ihrer Funktion grundsätzlich nicht zu finden183, müssen wir uns als „beschränkt" verstehen? Unsere Weltansicht braucht zumindest nicht in dem Sinne fehlerhaft zu sein, daß sie auf falschen Informationen von der Wirklichkeit beruht.
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Vor allem aber ist es uns möglich, durch Veränderung der Vorstellungen (Hypothesen und Theorien, kognitiven Programme) in uns, unsere Wahrnehmung so auszuweiten bzw. neu zu orientieren, daß wir immer neue Aspekte der gesamten Realität wie auch verschiedene Aspekte des gleichen Dinges184 aufzunehmen vermögen und so zu immer umfassenderer Erkenntnis streben. Eine andere Frage ist es, ob wir damit zur endgültigen, absoluten „reinen Wahrheit"185 über die Dinge vorstoßen. Aber wir vermögen uns ihr anzunähern - freilich ohne die Gewißheit, sie zu erlangen - , indem wir unsere Vorstellungen und Theorien immer dann, wenn wir auf neue Erklärungslükken stoßen, durch verbesserte Theorien und dadurch wiederum ausgeweitete Wahrnehmung, weiter fortentwickeln186. Diese Wechselwirkung und Koppelung zwischen Wahrnehmung (im eng. Sinn) und Denken ist der Motor des Erkenntniszuwachses. Zwar bleiben Wahrnehmung, Vorstellungen und Theorien damit stets relativ, gleichzeitig liegt so aber in jeder Erkenntnis die Möglichkeit zu ihrer Verbesserung. So können wir unsere Annahmen über die Wirklichkeit, unser Bild von der Welt, solange sie mit den bisher beobachteten Tatsachen übereinstimmen, als zumindest relativ wahr ansehen. Wir gehen davon aus, daß in Weiterentwicklung hypothetischer Ansätze und Theorien, in Wechselwirkung mit erweiterter Wahrnehmung, auch bezüglich des Verhältnisses Mensch-Raum schrittweise Erkenntnisfortschritt möglich ist, und sei es zunächst über die fortschreitende Einsicht in die situationsabhängige Relativität der raumbezogenen Entscheidung des Menschen, wie sie durch die vorliegende Darstellung verdeutlicht werden soll. 7.6.3 Einordnende Deutung Wenn also, wie dargelegt, eine untrennbare Koppelung zwischen der Wahrnehmung (im eng. Sinn) und dem Denken besteht, wenn also Vorstellung und Deutung der Phänomene, als Aspekte des Denkens, bereits in die Wahrnehmung einbezogen sind, ist es dann nicht falsch, wenn wir im Regelkreis (Diagramm, Abb. 2) den wahrnehmenden Weltbildapparat (2) und das interpretative Element (3), durch das die Deutung der Reize erfolgt, getrennt darstellen? Selbst wenn die Wahrnehmung der räumlichen Existenzbedingungen nicht völlig unvoreingenommen, sondern durch Vorstellungsbilder (z. B. sozialräumliche Schemata) gefiltert, durch Bewertungen und Gefühle verformt erfolgt, bedeutet das keineswegs, daß die aufgenommenen Informationen gewissermaßen unreflektiert zur direkten Beeinflussung des Verhaltens (Regelung) durchschlagen. Sie unterliegen vielmehr zunächst der Interpretation,
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indem sie nunmehr bewußt ausgelegt, eingeordnet und gedeutet werden. Jede Wahrnehmung, jedes durch diese vermittelte Bild besitzt im Hinblick auf unser etwaiges Verhalten eine mehr oder minder große Bedeutung, die keineswegs zwangsläufig mit der filternden und strukturierenden Wirkung unserer Vorstellungsbilder erfaßt wird. Es bedarf einer gesonderten Identifikation des Objektes im Hinblick auf unsere potentiellen Handlungen. Dementsprechend werden die Informationen nochmals selektiert, also ζ. B. als momentan wichtig oder ablegbar erkannt 187 . Die aufgenommenen Informationen erfahren also, unabhängig vom Weltbildapparat, eine bewußte Verarbeitung. Ohne diese einordnende Verarbeitung würden an sich relevante Eindrücke rasch wieder verblassen; gemäß ihrer Bedeutsamkeit werden sie jedoch zu gedächtnisfähigen Bildern strukturiert oder sprachlich fixiert188 und werden damit, also durch Deutung, für die Steuerung unseres Verhaltens verwertbar. Nun ist aber die Interpretation und Deutung von Informationen nur in Orientierung an bestimmten Maßstäben, anhand von Kriterien oder durch Vergleich mit vorherigen Erfahrungen möglich. Interpretation „an sich", ohne Bezug zu etwas, gibt es nicht. Solche Maßstäbe sind in uns vielfältig vorhanden; manche sind letztlich genetisch verankert (Verhaltensgenetik), viele sind hochgradig kulturabhängig; sie sind gebunden an die in uns aufgebauten Schemata189 und Konstrukte 190 , Hypothesen und Theorien, Überzeugungen und Dogmen (siehe auch Darstellung im Diagramm). Damit sind sie ebenso abhängig von der Persönlichkeit mit der Summe ihrer gespeicherten unterschiedlichen Erfahrungen und von der gegenwärtigen Einstellung der Person sowie von deren Deutung der Situation191. Verbunden mit der Orientierung an Maßstäben erfolgt die Einordnung des Wahrgenommenen in die Sprache192; Sprache ist ein wesentlicher Bestandteil der Deutung unserer Weltansicht und beeinflußt die Wahrnehmung ihrerseits aufs stärkste (vgl. F. v. KUTSCHERA, 1 9 7 2 , S. 1 6 2 ) . So sehen wir die Aufgabe des interpretativen Elements darin, die wahrgenommenen Informationen über die räumlichen Bedingungen unserer Existenz zu entschlüsseln, sie kultur-, personen- und situationsspezifisch bewußt werden zu lassen, sie im Rahmen unserer Bezugssysteme so zu deuten, daß sie sinnvoll für die Regelung des Verhaltens wie auch für die Orientierung der Wahrnehmung genutzt werden können. Nun ist es ja keineswegs so, daß wir alle für uns wichtigen, der persönlichen oder gesellschaftlichen Entwicklung dienlichen Informationen auch selbstverständlich durch die Wahrnehmung geliefert bekommen (s. o.). Das ist allein schon deswegen nicht anzunehmen, weil wir nicht sicher sein können, ob unsere filternden Vorurteile und Vorstellungsbilder noch sinnvoll und brauchbar sind. Es besteht sogar immer die Gefahr, daß Umweltrei-
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ze, die für das Verhalten des Menschen an sich von größter Bedeutung wären, nicht wahrgenommen werden, weil wir auf diese nicht eingestellt sind193, nicht mit ihnen „gerechnet" haben. Das kann sogar Schädigung und Gefährdung der Existenz zur Folge haben194. Wie wir dargelegt haben, vermittelt Wahrnehmung zwar wirklichkeitsgerechte Informationen, bezüglich deren Zusammensetzung bedarf sie aber der inneren Führung. Wir müssen uns also aus uns selbst heraus bemühen, diejenigen Informationen zu erhalten, die für uns sinnvoll und notwendig sind; die bei der Wahrnehmung wirksamen Vorstellungsbilder allein gewährleisten dies keineswegs. Dabei hilft uns die Deutung, die Leistung des interpretativen Elementes (3). Mit Hilfe des interpretativen Elementes wird es uns ζ. B. möglich, gewisse Informationen als warnende Symptome zu deuten und dadurch angeregt rückwirkend die Wahrnehmung auf ergänzende oder kontrollierende Signale auszuweiten und so ζ. B. eine Gefährdung zu erkennen. Ganz allgemein bewirkt die an Maßstäben orientierte Deutung, daß unsere Aufmerksamkeit auf vergleichende Informationen gerichtet wird, daß Informationslücken geschlossen werden. Deutung kann also ergänzende Suchaktionen der Wahrnehmung auslösen. Darüber hinaus erscheint uns aber noch ein anderer Gesichtspunkt wesentlich. Die selektive Wahrnehmung scheint über das filternde „Vorurteil" hinaus einen gewissen Spielraum für eine geradezu zweckfreie, sagen wir, vorsorgliche Aufnahme von Informationen zu besitzen. Selektive Wahrnehmung ist damit durch eine gewisse Toleranz gekennzeichnet; sie ist begrenzt offen gegenüber zusätzlichen Informationen und muß dies sein, da sich der Mensch durch Handeln ja immer wieder mit anderen Situationen konfrontiert. Dieses Phänomen deckt sich in etwa mit dem bereits erörterten explorierenden Neugierverhalten (vgl. Kap. 4). Die unkontrollierten zusätzlichen, zufälligen Informationen werden nun ebenfalls ständig der Deutung und Interpretation anheimgegeben; wir können also durch diese angeregt, „provoziert" werden. So gewinnt auch die Deutung einen gewissen Experimentierraum, sie kann die zusätzlichen Informationen annehmen oder ablegen, sie kann sich durch Ausrichtung auf ergänzende weitere Informationen hinsichtlich der vorherigen Impulse vergewissern, vergleichen usw. Letztlich können durch diese zusätzlichen, nicht beabsichtigten Informationen auch die Maßstäbe der Deutung beeinflußt werden. Dadurch wieder wandeln sich die Vorurteile der selektiven Wahrnehmung195. Erst durch diese Koppelung an die Deutung wird das Wechselspiel zwischen Wahrnehmung und Denken möglich, „schaukeln" sich Informationsgewinn und Verarbeitung der Informationen, letztlich unser Verhalten beeinflussend, gegenseitig hoch.
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Allerdings darf die Funktion des interpretativen Elementes nur in Verbindung mit einer synergetischen Bewertung der Informationen gesehen werden. Neben der Einordnung und Interpretation macht erst eine bewußte Bewertung die rückkoppelnde Beeinflussung der Wahrnehmung sinnvoll, denn Bewertung muß sinn- und zweckorientiert sein; dadurch erst entsteht eine auch mit dem Verhalten koordinierte Wahrnehmung. Die Deutung ist also der erste Schritt, durch den die Informationen bzw. Signale, Reize aufbereitet und „verdaulich" gemacht werden für eine weitere Bearbeitung im Rahmen einer synergetischen Bewertung. Durch diese Bewertung wird im allgemeinen die Verbindung zum Verhalten hergestellt, wird der Regelkreis zwischen Wahrnehmung-Denken-Verhalten-räumlicher Umwelt geschlossen. Zum angemessenen Verständnis des interpretativen Elementes der Deutung ist daher der Verweis auf eine beeinflussende und letztlich übergeordnete Bewertung (19) erforderlich196. Um die Möglichkeit und Notwendigkeit der mehr oder minder bewußten Einflußnahme des Menschen auf die Wahrnehmung durch das Denken (bzw. die Deutung und Bewertung als Aspekte des Denkens) deutlich zu machen, rscheint uns die Ausgliederung eines interpretativen Elementes (3) und eines synergetischen Elementes (19 - Bewertung, in Kap. 7.8 ausführlicher dargestellt) notwendig197. Bekräftigung erfährt dieses Vorgehen durch die Theorie der sogenannten „kognitiven Dissonanz"; sie besagt vereinfachend, daß dann, wenn der Mensch gleichzeitig zwei oder mehrere Prozesse, Phänomene o. ä. wahrnimmt bzw. auf Auffassungen stößt, aus denen sich jeweils entgegengesetzte Konsequenzen für ihn ergeben müßten, ein unangenehmer Triebzustand entstünde, der ihn zur Reduktion dieser Dissonanz drängt (vgl. E. ARONSCHM, 1968, S. 5 f; L. FESTINGER, 1964). Diese erfolgt nun, indem er seinen kognitiven Prozeß (einschl. der Wahrnehmung) modifiziert, indem er seine Wahrnehmung, seine Untersuchung, seine Ansichten so wandelt, daß sie wieder „passen" (s. o.). Die Verhältnisse werden also in gewisser Weise vereinfacht, mit dem Ziel, die „innere Konsistenz" des eigenen Verhaltens und der Auffassungen, das innere Gleichgewicht wieder herzustellen. Dabei spielt die Deutung der wahrgenommenen Phänomene sicherlich eine besondere Rolle, denn was nicht in die eigenen, schon bestehenden Maßstäbe, Erfahrungen paßt, wird mit Hilfe dieses Filters nur zu gern „übersehen", da gewissermaßen um des inneren Gleichgewichtes willen nicht sein kann, was nicht sein darf. Das bedeutet allerdings nicht, daß nun alle nicht „passenden" Phänomene nicht mehr wahrgenommen werden, es besteht lediglich eine Tendenz, sie nicht ohne weiteres bis zur Änderung einer Bewertung, bis zur Entscheidungsfindung hin wirksam werden zu lassen. Dabei läßt die Deutung sicherlich noch mehr Informationen passieren, im
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Sinne der Sicherung einer gewissen Bewertungs- und Entscheidungsflexibilität, als bei der synergetischen Bewertung (19) tatsächlich einbezogen werden. Sind die Entscheidungen (20) aufgrund bestimmter synergetischer Bewertungen erst einmal getroffen worden, dann wird die weitere Wahrnehmung und Kognition unter dem Druck der Dissonanzvermeidung als Folge einer vorgenommenen Bewertung weit stärker beeinflußt und eingeengt, als dies allein durch den viel „gröberen" Filter, den viel größeren Spielraum der Deutung (3) der Fall wäre. L. FESTINGER (1964) betont, daß in dieser Nachentscheidungsphase, also erst nach erfolgter bzw. bereits vorliegender synergetischer Bewertung der Phänomene und einer entsprechenden Entscheidung, im Sinne der Konfliktreduzierung die höhere Bewertung und entsprechend bestätigende Wahrnehmung der bereits bevorzugten Alternative voll wirksam wird. Auch insofern erscheint es sinnvoll, die Deutung mit ihrem größeren Spielraum von der häufig dissonanzminimierenden Bewertung zu unterscheiden. Gleichzeitig darf die Bedeutung der beschriebenen Reduzierung „kognitiver Dissonanzen" aber auch nicht überbewertet werden, denn es gehört ja zur besonderen Qualität des Denkens, im Gegensatz zum Instinkt, die Konsequenzen bisheriger Bewertungen und Entscheidungen auch kritisch zu analysieren und ggf. zu neuen Auffassungen zu gelangen; allerdings ist eine gewisse „bremsende" Tendenz, die bestehende Entscheidungen bzw. Bewertungen zu stabilisieren sucht, sicherlich vorhanden, so wie ungeachtet dessen gleichzeitig eben auch eine beträchtliche Variabilität des menschlichen Denkens gegeben ist; je nach Situation und Person dominiert dieses oder jenes. Wir müssen also ebenso betonen, daß es gerade durch die Deutung des Wahrgenommenen (3), aber auch durch die nachfolgende Bewertung (19), also unter bewußter Beteiligung des „Geistes", dem Menschen möglich wird, in rückwirkender Beeinflussung des Weltbildapparates Dinge neu oder neue Dinge zu sehen und - dadurch bereichert - unser Handeln wie auch das Denken und unsere Auffassungen zu überprüfen und ggf. zu korrigieren198. So wird die, wenn auch begrenzte Offenheit unseres Verhaltens (siehe Ende des Kap. 7.9) und der Wahrnehmung immer wieder gefördert. Natürlich muß diese Offenheit, diese spielerische Modifikation der Wahrnehmung, geübt werden; sie ist ein Ausdruck der geistigen Verfassung eines Menschen oder einer Gesellschaft. Denken muß immer wieder erreichen, daß Wahrnehmung nicht erstarrt oder abgestumpft wird, sondern in Grenzen „offen" bleibt. Wir müssen uns mit Hilfe der Intelligenz bemühen, daß unsere Wahrnehmung keinen Vorurteilen unterliegt, die unsere Entwicklung hemmen und uns gefährden. Das kann zweifellos begünstigt werden durch eine entsprechend anregende Umwelt, von der Meinungsvielfalt und der
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geistigen Stimulanz bis zu aktivierenden räumlichen Existenzbedingungen - dies zu sichern ist durchaus auch ein Ziel der Lebensraumgestaltung.
7.7 Beeinflussende Elementkomplexe Die Deutung (3) wie auch die Bewertung (19) und rückkoppelnd gelenkt die Wahrnehmung (2) unterliegen dem Einfluß zahlreicher und sehr verschiedener Faktoren. Diese zu unterscheiden und in entsprechenden Elementkomplexen zu gruppieren, ist ohne eine gewisse Willkür nicht möglich. Die Einflußgrößen sind nach ihrer Art und in ihrer Weise zu wirken sehr verschieden, und es lassen sich kaum Zuordnungskriterien finden, die eine zwingende, logisch konsistente Unterscheidung gewährleisten. Dennoch dürfte es dem besseren Verständnis vor allem des Bewertungsprozesses dienlich sein, den „Filz" der vielfältigen Einflüsse in einzelne Bereiche zu zerlegen, selbst wenn sich diese miteinander überschneiden, wechselseitig beeinflussen, bisweilen aber auch von höchst verschiedener Art sind. Diese einzelnen beeinflussenden Elementkomplexe umfassen selbst wieder mehrere verschiedene Komponenten, die aufeinander einwirken, und oft wäre es vertretbar, diese auch einem anderen Komplex zuzuordnen. Auch ist es schwierig, einen passenden Rahmenbegriff für die einzelnen Komplexe festzulegen. In der nachfolgenden kurzen Beschreibung der unterschiedenen Einflußkomplexe soll versucht werden, deren Bandbreite, Art und Vielfalt zumindest anzudeuten. 7.7.1 Genetisch bedingte Verhaltenstendenzen (Verhaltensgenetik - 4) Unter dieser Kategorie sollen sowohl die physiologisch bedingten Bedürfnisse des Menschen, der Hunger, das Ruhebedürfnis sowie die sogenannten psychosozialen Motive, soweit sie als biologisch vorgegeben verstanden werden können, erfaßt werden199. Sie äußern sich oft als geßhlsmäßiger Druck zu bestimmtem Verhalten. Der Drang nach Bewegung etwa, die Tendenz, sich selbst zu verwirklichen, die Neigung, sich bisweilen dem Spiel und der Zerstreuung hinzugeben oder auch das Streben nach den geeigneten räumlichen Bedingungen, alles das kennzeichnet Verhaltenskomponenten, die sehr wahrscheinlich bereits genetisch in uns angelegt sind, ungeachtet der konkreten Form, wie ihnen zu entsprechen ist. Von besonderer Bedeutung für das Verhältnis von Mensch und Raum sind die genetisch bedingten Grundtendenzen des raumbezogenen Verhaltens
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(siehe hierzu Kap. 4). Der in uns wirksame Drang zur Erkundung des Raumes, unser explorierendes Neugierverhalten, aber genauso auch das Verlangen nach Nähe zur „Natur", die Freude am Kontakt mit Elementen dieser belebten und unbelebten Natur (und sei es ein Strauß duftender Blumen) beeinflußt, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewußt sind, die Bewertung der lebensräumlichen Wirklichkeit. Das Verlangen, die erwartete schöne Umgebung gleich nach der Ankunft am Urlaubsort neugierig zu erkunden, uns in ihr zu orientieren, kann so stark werden und uns so stark beeinflussen, daß wir darüber den Hunger nach der langen Reise vergessen und später erst merken, daß wir çine Mahlzeit übergangen haben. Je nach Situation konkurrieren also die verschiedenen Komponenten unserer Verhaltensgenetik untereinander; darüber hinaus können sie aber auch all die anderen unsere Bewertung steuernden Komplexe beeinflussen, so wie sie auch deren rückwirkendem Einfluß unterliegen. Wenn ζ. B. ein Mensch im Drang, sein „optimales Stimulationsniveau" zu finden, häufig sinfonische Konzerte besucht, formt dies zugleich sein musisches Anspruchsniveau, aber auch seine Interessen sowie seine Gewohnheiten, die dann wiederum rückwirkend seine Reizsuche zu stabilisieren vermögen. 7.7.2 Körperlich-seelischer Zustand (5) Zweifellos wird das Verhalten in einer bestimmten Situation von der momentanen Verfassung, in der sich ein Mensch befindet, beeinflußt. Ist der gesundheitliche Zustand schlecht oder befindet man sich in gedrückter, depressiver Stimmung, wird die Bewertung einer Situation anders ausfallen, als wenn man „in Form" ist. Die Stimmung entscheidet wesentlich über den Grad der Bereitschaft, auf einen Anreiz zu reagieren. Auch drängt eine wache Gespanntheit, ein hoher „Energiespiegel" zu einem anderen Verhalten, als ein durch Müdigkeit oder Erschöpfung gekennzeichneter Zustand, der ja bereits unsere Wahrnehmung, die Aufnahmefähigkeit unserer Sinnesorgane reduziert. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Einflüsse der Biorhythmik zu verweisen, denn unsere Bereitschaft, diese oder jene Entscheidungen zu treffen, unterliegt starken physiologisch gesteuerten, rhythmischen Schwankungen. Aber nicht nur die Verfassung zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern ganz allgemein die Konstitution, die Belastbarkeit, die Ausdauer einer Person beeinflußt die Bewertung der lebensräumlichen Fakten. Traut sich der eine nur in einer euphorischen Stimmung oder unter der beflügelnden Wirkung des Alkohols zu, eine bestimmte lebensräumliche Situation zu bewältigen, also ζ. B. mit einem Land Rover eigenhändig Afrika zu durch-
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queren, so erkennt der andere darin in jedem Fall eine reizvolle Chance, die seiner Konstitution und Veranlagung bestens gerecht wird und ihm neue Möglichkeiten der Selbstverwirklichung eröffnet. Daß der körperlich-seelische Zustand auch der unmittelbaren Beeinflussung durch die räumlichen Bedingungen unterliegt, ist zu vermuten; der ständige Aufenthalt in einer engen Gefängniszelle ζ. B. dürfte auf die meisten Menschen recht bedrückend wirken, andererseits vermögen uns bestimmte Umweltreize, ein blauer Himmel, ein gelungenes Kunstwerk, beträchtlich zu stimulieren. Ein erfreulicher Anblick kann unsere Stimmung heben oder gar ausgesprochenes Wohlbefinden auslösen, so wie wir umgekehrt uns bedrückt fühlen, wenn wir traurige oder erschreckende Dinge sehen. 7.7.3 Begabungen, Talente, besondere Fähigkeiten (6) Für einen Menschen, der über besondere Begabungen verfügt, gewinnen bestimmte Informationen eine ganz andere Bedeutung als für denjenigen, der diese Gaben nicht oder ganz andere besitzt. Ein Maler etwa fühlt sich durch den Anblick einer schönen Landschaft zur künstlerischen Abbildung angeregt; ein Architekt erliegt der Faszination eines städtebaulichen Ensembles in einer mittelalterlichen Stadt und skizziert entsprechend, während in der gleichen Umgebung ein Ingenieur und Techniker das alles möglicherweise übersieht und trotz schöner Landschaft und Stadt in Gedanken weiterhin an seiner neuen Maschine konstruiert. Die besonderen Begabungen, Veranlagungen und Neigungen, aber ebenso bestimmte Komponenten der Intelligenz veranlassen die verschiedenen Menschen oft zu einer jeweils ganz anderen Sicht der Dinge und zu anderen Entscheidungen, trotz gleicher lebensräumlicher Voraussetzungen. Wahrscheinlich trifft Α. H. MASLOWS Hypothese zu, daß wir solange Unzufriedenheit und Ruhelosigkeit zeigen, bis wir tun, wozu wir begabt und fähig sind. So muß sich jeder gemäß seiner Talente in unserer Welt seinen passenden Platz, seine Nische suchen, um innerlich zur Ruhe zu kommen. Und mit dieser Tendenz wird er die lebensräumlichen Fakten sehen und bewerten. Das Gefühl der Kompetenz - in dem Sinne, für etwas begabt zu sein, etwas zu beherrschen - veranlaßt, sich auf dem entsprechenden Felde zu betätigen und lenkt unsere Interessen. Treffend bemerkt Κ . H . DELHEES (1975, S. 57), daß im allgemeinen das, „worin wir uns auszeichnen, auch was wir schätzen", sei.
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7.7.4 „Subjektive" Erfahrung, „objektives" Wissen (Lemerfahrung - 7) Von besonderer Bedeutung für die Bewertung einer lebensräumlichen Situation ist der gesamte Bereich der Lernerfahrung. Die bisherigen subjektiven Erfahrungen einer Person, wie sie sich etwa durch die persönliche Entwicklung und den Werdegang, durch die bisherige Tätigkeit, durch den ßtand der Ausbildung, durch Lebensalter und Lebensphase, aber auch durch die bisherigen räumlichen Existenzbedingungen, durch das Herkunftsmilieu usw. unterschiedlich ausprägen, beeinflussen wesentlich die Bewertung der lebensräumlichen Fakten, denn vor allem anhand unserer Erfahrungen versuchen wir deren Bedeutsamkeit und Konsequenzen abzuschätzen; Erfahrungen können jedoch nur dann wirksam werden, wenn wir uns ihrer erinnern; Erinnerung und Vergessen markieren die Bandbreite verfügbarer persönlicher Erfahrung. Jeder Mensch hat zu jedem Zeitpunkt eine gewisse Menge von „Sätzen" (F. v. KUTSCHERA, 1972, S. 228), die er für wahr hält; sie sind in hohem Maße von seinen Erfahrungen abhängig, mit deren Veränderung er auch das von ihm für richtig, für wahr, für sinnvoll erkannte („epistemischer Korpus" - S. 228) wandelt. Unsere Einstellungen, unsere Gewohnheiten etc. werden wesentlich von bisher gemachten Erfahrungen beeinflußt. So lassen wir uns auch in unseren Einstellungen, in unseren Annahmen von der bisherigen Lernerfahrung leiten, weil wir uns so eine gewisse Erwartungssicherheit bewahren und uns zugleich den Druck der Entscheidung mildern. Wir haben ζ. B. gelernt, welches Verhalten uns in bestimmten Situationen Befriedigung vermittelt, aber auch, wann unangenehme Wirkungen zu erwarten sind, das erleichtert, sich zu entscheiden. Erweisen sich unsere Erwartungen dann doch als Irrtum, so sind wir meist in der Lage, aus dieser neuen Erfahrung zu lernen und unsere Erwartungen entsprechend zu modifizieren. Eng mit der subjektiven persönlichen Erfahrung verbunden ist das uns verfügbare Wissen. Je nach unserem Bildungs- und Informationsstand ist die Vertrautheit mit wissenschaftlich abgesicherten Aussagen zwar sehr verschieden, aber dennoch ist neben der subjektiven Erfahrung das verläßliche Wissen für die Bewertung einer Situation von bisweilen großer Bedeutung. Diese rationale Erfahrungskomponente schließt die wissenschaftlichen Hypothesen und Theorien, also wissenschaftliche Empirie und Rationalität ein. Es ist der Bereich der objektiven Erkenntnis, die Welt der theoretischen Systeme, die Welt der Bücher, der Forschung, des wissenschaftlichen Experiments und so auch der objektiven Erfahrung. Gerade der stärkere Einfluß dieses wissenschaftlich rationalen Elementes ist von besonderer Bedeutung für die schadensfreie Regelung des Verhältnisses Raum-Mensch. Lernen wir ζ. B. das Faktum der begrenzten Dichtetoleranz des Menschen in unsere
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Lebensraumgestaltung besser als bisher einzubeziehen, wird dies dem Wohlbefinden vieler Menschen dienlich sein. Der Einfluß der Lernerfahrung (i. w. S.), also des empirischen Komplexes, auf unsere Entscheidungen ist geradezu zwangsläufig, denn an unseren bisherigen subjektiven oder objektiven Erfahrungen modifizieren wir unsere Erwartungen und diese beeinflussen die Wahrnehmung200, die Deutung und selbstverständlich unsere Bewertungen und damit unser Handeln, handeln wir doch meist nach unseren, durch Erfahrung bisher am besten geprüften Annahmen. Gerade das allerdings schließt nicht aus, daß wir auch falsch handeln, weil wir bestimmte Erfahrungen nicht oder noch nicht wahrnehmen, weil uns „verbesserte" Annahmen (Theorien) noch nicht auf entsprechend neue Wahrnehmungen verweisen, wir noch nichts gelernt haben.
7.7.5 Gewohnheit (8) Die volkstümliche Annahme, der Mensch sei ein „Gewohnheitstier", entbehrt keinesfalls der realen Grundlage. Die Gewohnheit veranlaßt uns, die Dinge in der vertrauten Weise zu sehen und wie gewohnt zu entscheiden. Ein solches gewohnheitsmäßiges Verhalten vermittelt ja durchaus ein gewisses Sicherheitsgefühl, es suggeriert zudem, bewährt und damit richtig zu handeln. Dies kann allerdings bis zur Erstarrung in ganz bestimmten Verhaltensschemata führen. Wir bewerten dann bestimmte Wahrnehmungen und Situationen stereotyp, packen sie in altvertraute Vorurteile ein. So können wir in unseren Wahrnehmungen und Bewertungen derart stark gewohnheitsgemäß fixiert sein, daß wir nicht mehr erkennen, daß unsere Entscheidungen bereits unangemessen sind, daß sie den Gegebenheiten nicht mehr gerecht werden. Man handelt an der Wirklichkeit vorbei und gerät in die Gefahr, die Welt bald nicht mehr zu verstehen. Stereotype Bewertungen gewähren zwar eine gewisse Entlastung vom Denken, erhöhen aber gerade dadurch das Risiko inadäquater Entscheidung. Mag die „Macht der Gewohnheit" vor allem mit zunehmendem Lebensalter wachsen und mag das Neuerungsstreben der Jugend jüngere Menschen leichter zu einer flexibleren Sicht bewegen, so ist die Ignoranz doch eine Versuchung für alle Altersgruppen. Und gerade bei der Gestaltung unseres Lebensraumes ist es dringend notwendig, den Trott der Gewohnheit, stereotype Vorstellungen - etwa zum Wohnungs- und Städtebau - aufzubrechen. Das Phänomen der Gewohnheit wirkt zugleich auf viele andere entscheidungsrelevante Einflußgrößen ein. So unterliegen bisweilen unsere Einstellungen, die sozialen Normen, unser Verhaltensstil etc. dem stabilisierenden oder möglicherweise auch abstumpfenden Einfluß der Gewohnheit.
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7.7.6 Persönliche Einstellungen, Überzeugungen (9) Die Einstellungen eines Menschen werden kaum als unmittelbare Triebfeder seines Verhaltens wirksam, so wie dies etwa beim Bedürfnis nach Nahrung der Fall ist. Unsere Einstellungen beeinflussen aber durchaus die Bereitschaft, auf einen bestimmten Anreiz zu reagieren. Lehnt es ζ. B. jemand grundsätzlich ab, Kinder zu schlagen, so wird, falls er die körperliche Bestrafung eines Kindes sieht, seine Bereitschaft, dagegen einzuschreiten, weit größer sein, als bei einer Person, die diese Auffassung nicht teilt. Zwar beeinflussen unsere Einstellungen bereits unsere Wahrnehmungen - sie können durchaus einen filternden Effekt haben - aber vor allem wirken sie auf die Bewertung der wahrgenommenen Fakten ein. Entsprechend steuern Einstellungen dann auch unsere Entscheidungen und lenken oft unser Verhalten in eine bestimmte Richtung, formen es aus, aktivieren oder schwächen es ab. Ist ζ. B. die Einstellung zur Arbeit positiv, ist man mit seiner Tätigkeit zufrieden, dann ist in der Regel auch die Arbeitsleistung höher (u. a. A. H . BRAYFIELD, W. H . CROCKET, 1 9 5 5 ) , sie muß dies aber nicht sein. Einstellungen, Überzeugungen etc. haben also keine stets stringente und das Verhalten determinierende Wirkung; sie sind nur eine von vielen anderen Einflußgrößen. Oft jedoch geben sie unserer Entscheidung eine sehr persönliche Komponente und begründen personenspezifische Handlungsmaximen. In der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur gehen die Auffassungen, welche der vielen motivationalen Aspekte dem Bereich der Einstellungen zugeordnet werden können, weit auseinander. In unserem Zusammenhang sollen hierunter auch all die persönlichen Überzeugungen über das, was gut oder schlecht sei, sowie die Wertorientierungen einer Person, ihre ethischen und moralischen Grundsätze verstanden werden, aber ebenso die Glaubensbekenntnisse bzw. die Weltanschauung einer Person und die Art der Dogmen und Ideologien, denen diese anhängt. So schließen Einstellungen oft auch Vorurteile ein, und deren Einfluß auf das Verhalten ist hinlänglich bekannt. Persönliche Einstellungen sind bisweilen recht stabil; ungeachtet dessen bilden sie sich unter Beteiligung sehr verschiedener Einflüsse heraus, seien es Lernerfahrungen, gesellschaftliche Normen oder unbewußte Wirkungen der Verhaltensgenetik etc. Je nach der Intensität solcher verschiedener Einwirkungen sind die Einstellungen aber auch der Veränderung offen. Zweifellos stellen unsere Einstellungen und Überzeugungen eine der gewichtigsten Komponenten der sog. kognitiven Strukturen dar.
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7.7.7 Gesellschaftliche Normen, Tradition (10) Wenn auch unsere Einstellungen unter dem Einfluß der in einer Gesellschaft herausgebildeten Normen bzw. der geltenden Sitten stehen, so müssen sie sich doch keineswegs mit diesen decken. Man kann die Normen einer Gesellschaft wie auch die davon geprägten Gesetze akzeptieren, sie sich zu eigen machen, aber man kann sie auch kraft eigener Überzeugungen mehr oder minder konsequent zurückweisen. Schließt der Bereich der Einstellungen eine gewisse Eigenbeteiligung und Identifikation ein, so stehen uns die Normen, die gesellschaftlichen Verhaltensmuster, Traditionen etc. eher vorgegeben gegenüber. Oft folgen wir ihnen, weil sie uns anerzogen sind, weil ihre Einhaltung von anderen erwartet wird oder weil sie sich als brauchbar erweisen; in den seltensten Fällen denken wir lange darüber nach. Man tut etwas, weil es eben so üblich ist. Bisweilen stehen wir aufgrund unserer Einstellungen solchen Verhaltensmustern durchaus kritisch gegenüber, dennoch tun wir, was sie verlangen. Oft allerdings folgen wir dem allgemein „Üblichen" sehr willig. Die in einer Gesellschaft wirksamen Verhaltensmuster werden meist in sehr eingängiger und mitunter auch in angenehmer und bequemer Form vermittelt. Den Moden, sich zu verhalten, sich zu kleiden oder gar zu denken wird daher oft willig gefolgt, auch weil es raschen Beifall verspricht. Konformität wird belohnt. Man folgt der öffentlichen Meinung, huldigt dem „Zeitgeist", tut, was die öffentliche Moral verlangt oder erlaubt, oder man tut es, je nach Persönlichkeitsstruktur und Situation, gerade nicht. Zweifellos ist die Neigung zur Konformität und die Bereitschaft, Regeln zu folgen, meist sehr nützlich und vernünftig. Wie sonst ζ. B. ließe sich der Autoverkehr bewältigen. Das Vorhandensein von Normen entlastet den einzelnen vom oft mühsamen und irrtumsreichen Auffinden des „jeweils in einer Situation angemessenen Verhaltens" (U. BRANDT, B . KÖHLER, 1972, S. 1738) und erleichtert zugleich, unser Verhalten konfliktfrei zu gestalten, während dies unsere persönlichen Einstellungen und Überzeugungen mitunter keineswegs tun. Die gesellschaftlichen Verhaltensvorschriften gewähren ähnlich unseren Gewohnheiten und Erfahrungen eine gewisse Erwartungssicherheit. Daß sie ungeachtet dessen nicht immer frei von Irrtum sind, ist offensichtlich, denn Traditionen und Sitten können überholt sein und durchaus auch unangemessenes Verhalten bewirken. Die „Macher" der öffentlichen Meinung, der Zeitgeist, können Verhaltenstendenzen auslösen, die in kollektiver Dummheit zu großem Schaden führen (auch ein ruinöses räumliches Verhalten kann so veranlaßt werden, etwa ein aggressiver „Kampf um Lebensraum"). Andererseits kann die Beachtung bewährter normativer Verhaltensvorschriften vor Irrtum und Enttäuschung bewahren. Stets jedoch
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bleibt die Frage, welche moralischen Maßstäbe, welche ethischen Grundsätze, welche Verhaltensregeln, welche Normen und Gesetze sind die zum jeweiligen Zeitpunkt bestbewährten? Es ist leicht einsehbar, daß die geltenden Normen (i. w. S.) die persönliche Bewertung des Wahrgenommenen bzw. der lebensräumlichen Informationen beeinflussen, ohne daß sich dies mit dem Einfluß der persönlichen Einstellungen decken muß. So wird im Rahmen der Bewertung oft ein Kompromiß zu suchen sein. Zwar kommunizieren persönliche Einstellungen und gesellschaftliche Normen in vielfältiger Weise, sind aber miteinander nicht so eng und zwingend verbunden, daß sie unter dem Rahmenbegriff der „Überzeugungs-Wert-Matrix" (E.Ch. TOLMAN) zusammengefaßt werden müssen. 7.7.8 Interessen, Wünsche, Vorhaben (11) Oft beeinflussen vor allem unsere Interessen das konkrete Verhalten. Wir entscheiden uns, ins Theater zu fahren, weil uns das dort gegebene Stück interessiert. Wir interessieren uns für wissenschaftliche Sachverhalte oder für eine künstlerische Betätigung und werden davon möglicherweise in unserer Berufswahl und unserem Lebensweg entscheidend beeinflußt. Je nach dem Interesse, das wir einem wahrgenommenen Faktum entgegenbringen, werden wir es unterschiedlich bewerten und auf unsere Entscheidung einwirken lassen. Interessen begründen also eine gewisse Bereitschaft, auf Anreize bzw. Informationen zu reagieren. Κ . H . DELHEES ( 1 9 7 5 , S. 8 3 ) sieht im Interesse „eine Präposition im Hinblick auf eine Aktivität oder einen Anreiz in einer festgesetzten Weise". Interessen können sich unter Beteiligung sehr verschiedener, aber auch nur weniger Faktoren herausbilden. Läßt in dem einen Fall vor allem die Begabung ein bestimmtes Interesse - etwa an der Musik - wachsen, so mögen in einem anderen Fall, ζ. B. beim Interesse an politischer Betätigung, besondere Erfahrungen und bestimmte Einstellungen und Überzeugungen ausschlaggebend gewesen sein. Oft auch sind unsere Interessen nur der Ausdruck grundlegender Bedürfnisstrukturen; so liegt ζ. B. unserem Interesse an sportlicher bzw. körperlicher Aktivität u. a. ein allgemeiner Bewegungsdrang zugrunde, unserem Interesse an Reisen und Wanderungen ein Explorationsdrang usw. Auch die von J. P. GUILFORD und Mitarbeitern (1954) faktorenanalytisch ermittelten Interessen haben weitestgehend Bedürfnischarakter und werden entsprechend interpretiert, sei es das wissenschaftliche Interesse, die Interessen an Arbeit im Freien, an körperlicher Betätigung, die Interessen an Geselligkeit, an Ablenkung etc. Interessen sind jedoch vielfältiger, als daß sie auf Bedürfniskategorien reduziert bzw. zurückgeführt werden müssen.
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Interessen können einen Spezialisierungs- und Fanatisierungsgrad annehmen, der die Befriedigung anderer Bedürfnisse stört oder verhindert. Interessen vermögen unsere Entscheidungen kurzfristig oder langfristig so zu dominieren, daß das Verhalten aus der Sicht eines Dritten als „seltsam" erscheint. Ohne hochgradig entwickeltes und sehr spezielles Interesse sind andererseits zahlreiche Höchstleistungen nicht vorstellbar. Das Phänomen eines gesteigerten und anhaltenden Interesses darf sogar, wenn es sich mit der Intelligenz und den Fertigkeiten des Menschen verbindet, als eine Wurzel kultureller Höherentwicklung angesehen werden. Je nach unseren Interessen fallen oft auch unsere Wünsche aus. Den Interessen haftet ja etwas Freiwilliges an; wir werden kaum Interesse entwikkeln für etwas, was uns eigentlich gar nicht interessiert. Analog wird sich das, was wir freiwillig und gerne tun, unser Hobby ζ. B., mit dem Interesse decken. Für das, was wir wünschen, was wir gerne hätten, werden wir entsprechendes Interesse entwickeln. Das schließt nicht aus, daß sich in uns auch Wünsche aufbauen, die auf anderen Einflüssen als denen des Interesses beruhen; so können Neid, Angst oder andere Gefühle, auch in Form unserer Wünsche, wirksam werden. Aus den Interessen und Wünschen leiten sich oft unsere Handlungsziele, unsere Pläne und Vorhaben ab, was wiederum nicht ausschließt, daß Pläne in uns zustande kommen, ohne von den Interessen angeregt zu sein oder sich mit diesen zu decken; das ist ζ. B. dann der Fall, wenn es sich um Pflichten oder Notwendigkeiten handelt. Es ist in unserem Zusammenhang nicht notwendig, den ganzen Komplex unserer Interessen und Wünsche, der Zweckorientierung unseres Verhaltens und unserer konkreten Handlungsziele und Vorhaben zerlegen zu wollen, denn hier geht es uns nur um die Einsicht, daß solcherart Orientierungen, die sich in jedem Menschen in mehr oder minder verschiedener Form herausbilden, die Bewertung unserer lebensräumlichen Fakten und den Umgang mit diesen beeinflussen. 7.7.9 Prognostische Einschätzung, VorsteDongsgabe (Antizipation - 12) Ebenso unausweichlich wie mit der räumlichen Dimension ist der Mensch auch mit dem Phänomen der Zeit konfrontiert, mit der Zeit, die er hinter sich hat, wie mit der, die vor ihm liegt, mit seiner Zukunft. Entscheidung als geistige Vorwegnahme, als Festlegung kommender Handlung, ist stets auf die Zukunft gerichtet, selbst dann, wenn ζ. B. entschieden wird, in dieser Zukunft „nichts" zu tun. Daher liegt es nahe, bei einer Entscheidung bzw. der vorausgehenden Bewertung der Situation eine prognostische Einschätzung ihrer Wirkung einzubeziehen, was erleichtert wird, wenn man zugleich die zukünftigen Bedingungen abzuschätzen versucht.
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Zahlreiche Untersuchungen belegen, daß die „Zukunfts-Zeit-Perspektive" einer der wichtigsten Faktoren bei der Entscheidungsfindung ist. R. KASTENBAUM ( 1 9 6 5 ) vertritt die Auffassung, daß unser Verhalten weitgehend aus dem Wechsel zwischen der Inanspruchnahme durch die momentane Situation und dem Strukturieren des weiteren Verhaltens mit Hilfe zukunftsbezogener kognitiver Systeme besteht. Indem wir unsere Entscheidungen ζ. B. dyrch unsere Befürchtungen oder unsere Hoffnungen, durch zukunftsorientierte Einstellungen etc. beeinflussen lassen, sind wir zugleich gezwungen, zu antizipieren, wie diese Einflüsse berücksichtigt und wie ihnen entsprochen werden könnte. Handlungsentscheidungen sind also, "falls sie nicht „blind" getroffen werden, an die Frage nach der Erreichbarkeit der Handlungsziele und -zwecke gebunden. Diese Erreichbarkeitsfrage zu beantworten erzwingt Antizipation, selbst wenn diese in der Form einer gefühlsmäßigen Abschätzung erfolgt. Je nach Situation und Person dominieren unterschiedliche Komponenten die prognostische Abschätzung unserer Handlungskonsequenzen bzw. die Aussichten unsere Ziele zu erreichen. Oft glauben wir uns dabei durch Erfahrung oder Wissen abgesichert. Oft auch folgen wir einer gefühlsmäßigen Erwartung und nicht selten drängt uns lediglich eine Vorahnung, aus welchen Wurzeln sie auch stammen mag, zu diesem oder jenem Verhalten. Aber ebenso können wir dem verzerrenden Einfluß unserer Wünsche, des momentanen Zustandes oder der Überzeugung unterliegen. Und so bleibt unsere Antizipation stets nur eine subjektive Wahrscheinlichkeitsschätzung der voraussichtlichen Konsequenzen unserer Entscheidungen. Sie steht zudem in engster Verbindung mit der personenspezifischen Vorstellungsgabe, einer ebenso subjektiven Einflußgröße. Wie groß das Gewicht des prognostischen Elementes bei der Entscheidungsfindung ist, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß viele entscheidungsrelevante Faktoren, wie etwa unsere Einstellungen oder die geltenden Normen, nicht als solche, sondern vielmehr unter dem Blickwinkel, wie ihnen in Zukunft voraussichtlich entsprochen werden kann, auf unsere Entscheidungen einwirken. So betont H. THOMAE ( 1 9 7 4 , S. 110), der Entscheidung als Konfliktsituation interpretiert, „daß gerade im Konfliktfall nicht die Existenz von Werthaltungen, sondern... die Antizipation ihrer Verletzung" über die Art der Konfliktlösung entscheidet. Darüber hinaus vermögen ohnehin unsere prognostischen Einschätzungen, in direkter Einwirkung unsere Einstellungen, Vorhaben, Interessen etc. zu modifizieren. Wer verfolgt schon gerne ein Vorhaben, bei dem keine Aussicht auf Erfolg gegeben ist? Wer verfügt schon über die Härte, ständig weiter Überzeugungen anzuhängen, die nur Nachteile oder gar Gefährdungen mit sich bringen? Aussichtslosigkeit wandelt rasch die Pläne.
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Ob in direkter oder indirekter Einwirkung, die prognostische Einschätzung, so unsicher sie auch immer bleibt, spielt eine große Rolle bei der Bewertung des Wahrgenommenen und bei der Entscheidungsfindung. Allerdings schließt das nicht aus, daß unter der Dominanz anderer Faktoren, etwa unserer Affekte, bisweilen auch Entscheidungen fallen, ohne daß zuvor die möglichen Folgen bedacht wurden. Daß man mitunter „unbedacht", in Nichtachtung der voraussichtlichen Auswirkungen handelt, verdeutlicht nur, daß wir normalerweise in Abschätzung der Konsequenzen entscheiden. Wie wäre sonst verantwortliches Handeln möglich? 7.7.10 Gefühle und Intuition (13) Unter diesem Begriffspaar soll ein sehr komplexer Einflußbereich erfäßt werden. So hoch der Einfluß der Gefühle auf unser Verhalten auch von der Psychologie bzw. Motivationslehre eingeschätzt wird, besteht doch weder hinsichtlich der begrifflichen Fassung dieses Phänomens noch bezüglich dessen Erklärung durch eine Gefühlstheorie Übereinstimmung. Es kann hier nicht versucht werden, dies gewissermaßen ,,aùs der Hand" nachzuholen. In unserem Zusammenhang wollen wir unter Gefühl und Intuition vor allem jenen Aspekt der Verhaltenssteuerung erfaßt wissen, der uns als eine dem Intellekt, dem logischen Denken, dem Rationalen entgegengesetzte Größe beeinflußt. Oft entscheiden wir uns „gefühlsmäßig", bisweilen handeln wir, wie es das Gefühl uns „eingibt"; uns „überkommt ein Gefühl", ja wir werden von Gefühlen überwältigt, „übermannt". So verdeutlicht bereits unsere Alltagssprache, wie stark das Emotionale und Intuitive in uns werden kann. Dann folgen wir nur noch unseren „Eingebungen", tun, was unser Gefühl uns sagt. Ja man darf annehmen, daß in vielen der in uns aufkeimenden Gefühle vor allem die Stimmen der im Menschen vorhandenen Instinktreste, die Signale des Zwischenhirns wirksam werden. So äußern sich denn auch viele unserer genetischen Verhaltenstendenzen über in uns drängende Gefühle. Wahrscheinlich geht die Annahme von S. S. SARGENT (1948), daß unser Verhalten geradezu eine Funktion des Gefühls und der Gewohnheit sei, zu weit, denn eine nüchterne und weitestgehend gefühlsneutrale Überlegung oder eine Uberzeugung vermag das Verhalten ja ebenso zu steuern. Auch dürfte A. MEHRABIANS (1976) Annahme, wonach die Umgebung im Menschen bestimmte Gefühlsreaktionen erzeugt, die dann letztlich das weitere Verhalten bestimmen, den tatsächlichen Entscheidungsprozeß des Menschen zu sehr vereinfachen. Folgt man dem Ansatz von M. B. ARNOLD (1960), wonach aus der Bewertung der wahrgenommenen Dinge und der Situation ein bestimmtes Gefühl erwächst, das mit dem Verlangen, etwas demgemäßes
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zu tun, verbunden ist, so würde das Gefühl, wenn auch als Ausdruck einer emotionalen Bewertung, ebenso zur wichtigsten Steuerungsgröße des Verhaltens. In der Tat lassen sich ja „emotionale Reaktionsmuster" (Κ. H. DELHEES, 1975) beobachten - so etwa, wenn wir vor Ärger schimpfen oder gar tätlich werden, vor Begeisterung die Arme in die Luft werfen oder vor Kummer zusammensinken - bei denen wir gewissermaßen unseren Gefühlen erliegen. Aber ebenso sind wir, je nach Erziehung, Alter und Situation auch in der Lage, unsere Gefühle zu kontrollieren, uns zu „beherrschen" und unsere Entscheidungen gemäß anderer Kriterien zu treffen. Unsere Gefühle beherrschen nicht ständig unser Handeln, aber es kann sein, daß wir bisweilen weitestgehend gefühlsmäßig entscheiden. Oft ist schon unsere Wahrnehmung von unseren Gefühlen beeinflußt. Verliebte ζ. B. sehen die Welt meist anders als verängstigte, ältere Personen; bereits die Deutung all der auftreffenden Information, etwa das Rauschen der Bäume in einer milden Nacht, wird voneinander verschieden sein. So wirken Gefühle schon an der Vorauswahl der unserer Bewertung anheimgegebenen Informationen mit, sie vermögen diese gewissermaßen gefühlsmäßig zu „tönen". Das schließt nicht aus, daß umgekehrt auch durch bestimmte Wahrnehmungen bestimmte Gefühle erregt werden; „Wahrnehmung steuert Gefühlsreaktionen", betont Κ. H. DELHEES (1975, S. 164). Der Anblick etwa von Grausamkeit oder Mißhandlung vermag eine rasche emotionale Reaktion auszulösen, die sofortiges Einschreiten bewirkt. Neben der Wahrnehmung können aber auch andere Komponenten unsere Gefühle prägen; aufgrund bestimmter Einstellungen ζ. B. entwickeln wir etwa positive oder negative Gefühle. Die Erziehung, die Erfahrung, Normen etc. stabilisieren in uns eine bestimmte Gefühlsdisposition. So kann man ζ. B. entweder dazu erzogen sein, auf vermeintliche Ungerechtigkeit emotional und empört zu reagieren oder dazu, sie gelassen und beherrscht hinzunehmen. Die Fähigkeit, Gefühlsregungen zu kontrollieren, hängt vor allem auch vom Lebensalter ab. Die körperliche Entwicklung, die altersspezifische Physis des Menschen korreliert in genetisch vorgegebener Breite mit der Entfaltung seines emotionalen und seelischen Potentials. Unser Gefühlsleben unterliegt einem Reifungsprozeß, der sowohl durch eine zunehmende Differenzierung emotionaler Prozesse (vgl. R. OERTER, 1971) wie auch durch gesteigerte Kontrollfähigkeit gekennzeichnet ist. Eine emotional reife Person vermag ζ. B. unangenehme Gefühle besser zu beherrschen, die Frustrationstoleranz ist größer. Allerdings liegt in dem Bestreben, Gefühle zu beherrschen, zu unterdrükken oder zu verdrängen auch eine Gefahr. Gefühle sind aufs engste mit physiologischen Reaktionen verbunden: bei Angst bricht uns der Schweiß
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aus, Aufregung kann zu Übelkeit oder Durchfall führen, emotionale Erregung läßt unseren Puls höher schlagen etc. Stehen wir nun unter einer starken und anhaltenden gefühlsmäßigen Belastung bzw. Anspannung, so kann leicht eine Schwelle überschritten werden, ab der die physiologische Anpassung bzw. Bewältigung nicht mehr gelingt und psychosomatische Störungen auftreten. Die Streßforschung hat uns dies eindringlich verdeutlicht. Indem unsere Gefühle gebunden sind an neuronale und physiologische Prozesse, die einer differenzierten Steuerung durch Vorgänge im Thalamus, im Hypothalamus und Cortex unterliegen, ist unser subjektives Eijeben, unser Gefühlsleben zugleich ein Ausdruck unserer Körperlichkeit. Emotion und neuronaler und körperlicher Zustand stehen in engster Wechselwirkung. Dabei können sowohl neuronale und physiologische Abläufe und Rhythmen einen Gefühlszustand bewirken, wie auch unsere Wahrnehmungen und unsere kognitiven Strukturen solche neuronalen und physiologischen Prozesse anzuregen und entsprechende Gefühlsregungen auszulösen vermögen. Es ist nun schwer zu ermitteln, ob etwa die Stimulation eines Menschen durch das „andere Geschlecht" entscheidend von der momentanen Gefühlslage und damit von den mehr oder minder rhythmischen Gefühlsschwingungen in ihm abhängt oder vom visuellen Reiz, der von einer Person ausgeht und ein entsprechendes Gefühl erregt. Für unsere Überlegungen genügt die Einsicht, daß ein Gefühl mit einem Erregungszustand, im Sinne einer Aktivierung des Zentralnervensystems, zusammenhängt, der angenehm oder auch unangenehm getönt ist und zu einem demgemäßen Verhalten disponiert, ohne dies jedoch zu erzwingen. Ein solches Gefühl vermag uns dann etwa zu höherer Leistung zu beflügeln. Ein Gefühlshoch steigert die Aktivität. Das Gefühl der Angst dagegen mag uns lähmen, kann uns aber auch zur entschlossenen Abwehr einer Bedrohung treiben. Ebenso ist es möglich, daß ruhiges Nachdenken schließlich die Beruhigung unserer Gefühle bewirkt und wir uns nicht emotional, sondern besonnen verhalten. Fühlen wir uns glücklich, dann sind wir meist unternehmungsfreudiger, als wenn uns Niedergeschlagenheit erfaßt. Starke angenehme Gefühle vermögen beträchtliche nervliche und körperliche Energie zu mobilisieren, aber auch unangenehme Gefühle können zur Mobilisierung von Energie führen, dies aber ebenso verhindern. So beeinflussen uns die Gefühle zwar, aber nicht in genau voraussagbarer und regelhafter Weise. Dies gilt in noch stärkerem Maße hinsichtlich der Einwirkung unserer Intuitionen. Plötzlich überkommt uns eine Ahnung, eine Idee, eine Eingebung - oder wie auch immer wir diesen, dem Intellekt und der Rationalität entgegengesetzten Impuls umschreiben wollen - und wir bewerten eine Situation ganz
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anders und handeln anders als zuvor erwartet. Aus welchen Quellen die Intuition gespeist wird, ist schwer zu sagen. Wirkt so das Unterbewußte, das Verdrängte oder das Gewissen, wie es beim Gefühl sein mag? Experimentiert hier der Geist bzw. ein bestimmter Bereich unseres Denkens mit alternativen Möglichkeiten? Nicht zuletzt kann die Intuition, wie auch das gefühlsmäßige Erleben und Erfassen, eine Möglichkeit metaphysischer Erfahrung sein, die sich u. U. auch zur Sicherung des Überlebens als sehr nützlich erweisen mag. Gleichwie, werden wir mit diesen oder jenen Informationen und Reizen (auch der lebensräumlichen Fakten) konfrontiert, so unterliegt deren Verarbeitung und Bewertung, je nach Situation und Person unterschiedlich ausgeprägt, auch dem Einfluß der Emotion und Intuition - dies oft so stark, daß wir wie im Affekt entscheiden und handeln. Dabei spielt auch der Zufall eine große Rolle; mögen Gefühl und Intuition auch irgendwie verursacht sein, mögen ihnen auch ganz bestimmte neuronale und physiologische Prozesse entsprechen, so haben sie doch hinsichtlich der Voraussagbarkeit des Verhaltens unter konkreten Bedingungen einen verunsichernden Effekt. Der Einfluß des Gefühls und der Intuition läßt unsere Bewertungen und Entscheidungen innerhalb großer Bandbreite variieren. 7.7.11 Verhaltensstil, Verhaltenstyp, individuelle Eigenschaften, charakterliche Eigenart (14) Κ. H.
DELHEES
(1975, S. 122) glaubt:
„Jeder Mensch hat ein für ihn charakteristisches Verhaltensmuster. Der eine ist konservativ, der andere radikal... Ein Verhaltensstil ist eine Art persönliche Tradition."
So wie der Mensch reifer wird, mit wachsender Erfahrung bildet er seine sehr persönliche Art, den Dingen gegenüberzustehen und zu reagieren, heraus. Das bedeutet weniger, daß er immer stärker seinen Gewohnheiten folgt, dies zwar auch, aber vor allem, daß er einen persönlichen Stil, sich zu verhalten, entwickelt hat. Eine Person neigt dann etwa in hohem Maße zur Kontaktfreude, eine andere zu stärkerer Zurückgezogenheit. Jemand arbeitet gern kooperativ, folgt altruistischer Neigung oder unterliegt umgekehrt ausgeprägt egozentrischem Verhalten. Die Art und Weise, sich zu verhalten, kann sehr erstarrt sein; man handelt dann schematisch, ist stur, während ein anderer fähig ist, flexibel zu reagieren und sich „weltoffen" zu halten. Folgt der eine nur seinen Prinzipien, und seien sie noch so fragwürdig, ist der andere bis zur Prinzipienlosigkeit anpassungsfähig, fällt durch ständige Nachahmung auf, scheint ein „Opportunist" oder gar ein „Gesinnungslump" zu sein. Vermag der eine, seinen Zielen mit Zähigkeit nachzugehen, ermüdet ein anderer schnell und wechselt rasch die Prioritäten seines Handelns.
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Der Verhaltensstil eines Menschen wird wesentlich von seiner Lernerfahrung, von den Vorbildern, die er hatte, von seiner Erziehung und Umgebung (vom Milieu i. w. S.) beeinflußt. Wer ζ. B. auf dem Lande aufgewachsen ist, wird einen anderen Verhaltensstil herangebildet haben als der in großstädtischer Athmosphäre Heranwachsende, was nicht ausschließt, daß man unter gewandelten Bedingungen auch allmählich den bisherigen Verhaltensstil verändert. Ebenso formen der Gesundheitszustand, ererbte Persönlichkeitskomponenten, aber auch die Art der Ziele, die sich ein Mensch wählt und natürlich die Gewohnheit an der Ausbildung des persönlichen „Stils". Hat sich ein bestimmter persönlicher Verhaltensstil erst einmal herausgebildet, so wird er auch die Art der Reaktion auf Wahrnehmungen beeinflussen. Neigt jemand ζ. B. zu spontaner Reaktion, wird sich dies auch bei der Bewertung der Information bemerkbar machen. Kaum ist die Situation erfaßt, schon entscheidet er sich, und sei es auch falsch, vermag er doch, u. U. ebenso schnell irrtümliche Bewertung zu korrigieren. Der Verhaltensstil ist aufs engste mit den persönlichen Eigenschaften und der charakterlichen Eigenart eines Menschen verbunden. Auch diese bilden sich auf der Basis der jeweiligen Veranlagung im Laufe des Lebens heraus, wobei vor allem die Erfahrungen (i. w. S.), die Einstellungen und Überzeugungen, aber auch die kulturspezifischen Wertmuster beeinflussend wirken. Mit dem Komplex aus Verhaltensstil, persönlichen Eigenschaften und charakterlicher Eigenart versuchen wir, das Individuell-Einmalige einer Person zu erfassen. In unserer Sprache bemühen wir uns, mit einer großen Zahl von charakterisierenden Bezeichnungen die große Bandbreite individueller Eigenart des Menschen zu umschreiben. So sagen wir z. B., daß sich jemand durch sein sehr tolerantes Wesen auszeichnet, ein anderer fällt dagegen durch Taktlosigkeit, durch Prahlerei oder durch Engstirnigkeit und Sturheit unangenehm auf. Uns erscheint die eine Person als durch und durch „optimistischer Typ", eine andere als Pessimist, als ständiger Nörgler oder wie auch sonst. Wir empfinden jemand als gemütvoll, einen anderen als rastlos; wir kennzeichnen jemand als „ehrlich" oder „verlogen". Begriffe wie Treue, Liebenswürdigkeit, Gelassenheit, Fanatismus, Gewissenlosigkeit, Hartnäkkigkeit, Geschwätzigkeit, Arroganz, Egoismus, Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit etc. dienen uns zur Kennzeichnung all der verschiedenen möglichen Komponenten der individuellen Eigenart eines Menschen und umschreiben, was wir in der Alltagssprache den „Charakter" nennen. Es ist in unserem Zusammenhang nicht wichtig, sich mit den unterschiedlichen Auffassungen zur Strukturierung der individuellen Eigenart eines Menschen, wie sie durch die Charakterologie und Persönlichkeitsforschung vorgelegt werden, auseinanderzusetzen201; uns genügt die Einsicht, daß diese
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individuelle Eigenart wesentlichen Einfluß auf die Verarbeitung auch der lebensräumlichen Informationen und auf das Verhalten im Lebensraum hat. Nun ist nicht auszuschließen, daß der Verhaltensstil eines Menschen, also die für ihn typische Verhaltensweise, nicht nur Ausdruck der Individualität ist, sondern, daß der einzelne zugleich einem bestimmten Verhaltenstypus zuzuordnen ist, der weitestgehend auf erblicher Disposition beruht. So sieht A. MEHRABIAN ( 1 9 7 8 ) in der Art auf Umweltreize zu reagieren eine angeborene Persönlichkeitsdimension und unterscheidet ζ. B. den Typus des „Nichtabschirmers" vom Typus des „Abschirmers" (Kap. 4). Während Nichtabschirmer die Umweltreize weniger stark selektieren und strukturieren, die Orte und Situationen im allgemeinen reizstärker und komplexer erleben und stärker erregt werden, während sie in ihrem Verhalten nicht nur stärker zur Reizsuche neigen, sondern kompensierend auch stärkere Abschirmung suchen, sind dagegen die Abschirmer, zufolge ihrer größeren Fähigkeit komplexe Reizsituationen zu ordnen, eher in der Lage, hohes Reizvolumen zu reduzieren und sich stärker auf die relevanten Bestandteile zu konzentrieren. Entsprechend ist der Abschirmer in reizstarken Umgebungen meist weniger stark erregt und neigt daher auch zu einem anderen raumbezogenen Verhalten; er sucht ζ. B. nach einem anstrengenden Arbeitstag noch im Wirtshaus Kontakt mit anderen, während ein Nichtabschirmer sich erschöpft nach einem stillen Feierabend sehnt, was nicht ausschließt, daß er, kaum erholt, am gleichen Abend noch Erregung durch einen Kriminalfilm sucht. Eine ähnliche Persönlichkeitsdifferenzierung glaubt M. ZUCKERMAN ( 1 9 7 4 ) bezüglich des jeweils charakteristischen Verlangens nach Stimulation und Erregung (sensation seeking) gefunden zu haben. Derartige, vermutlich angeborene typenhafte Unterschiede mögen noch hinsichtlich anderer Persönlichkeitsdimensionen existieren. So dürfte etwa der mehr heitere dem mehr düsteren Typus gegenüberstehen. Auch ist nicht auszuschließen, daß bestimmte Körperbau- und Konstitutionstypen mit bestimmten Charakter- und Verhaltenstypen korrelieren. So hat bereits vor dem 2. Weltkrieg E. KRETSCHMER durch Versuche („Weltspiel") deutlich machen können, daß bestimmte psychophysische Konstitutionstypen ihre Umwelt in jeweils sehr charakteristischer Weise gestalten und zu einem ebenso charakteristischen Raumverhalten neigen. All diese, auch genetisch angelegten typologischen Unterschiede erfahren natürlich mit der individuellen Lebensgeschichte eine mehr oder minder ausgeprägte Überformung. Und es ist schwer zu sagen, inwieweit nun der tatsächliche Verhaltensstil eines Menschen typenhaft gebunden oder individuell entwickelt ist. Außer Frage steht aber, daß die angesprochenen Persönlichkeitsmerkmale, ob sie sich nun über den individuellen Verhaltensstil und
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Charakter oder den Verhaltenstyp bemerkbar machen, die Art der Bewertung lebensräumlicher Reize bzw. Fakten beeinflussen. 7.7.12 Selbstbild (15) Der einzelne hat, ob er sich dessen nun bewußt ist oder nicht, ein mehr oder minder ausgeprägtes Bild von sich selbst. Diese Vorstellung, wer und was wir sind oder gern sein möchten, unser Selbstbild, ist eine wesentliche Bestimmungsgröße unseres Verhaltens202. Meist sind wir bemüht, uns so zu verhalten, wie es dem Bild, was wir von uns haben, gemäß ist, mehr noch, unsere Entscheidungen scheinen der Tendenz zu unterliegen, die in uns aufgebaute Selbstvorstellung zu bestätigen. D. SNYGG und A . W . COMBS ( 1 9 4 9 ) behaupten sogar, daß es eigentlich nur ein echtes Grundbedürfnis gäbe, die Erhaltung und Erhöhung des phänomenalen Selbst. Auf jeden Fall versuchen wir, uns so zu verhalten, daß unser Selbstbild und eng damit zusammenhängend, unser Selbstbewußtsein nicht zerrüttet wird. Erfahren wir zu viele Enttäuschungen, ist die Aufrechterhaltung unseres Selbstbildes gefährdet, unser Ich bedroht. Entsprechend müssen Schutzmechanismen eingeleitet werden. So glaubt D. BEM (1967), daß wir ζ. B. durch Dissonanzreduktion, also durch Beeinflussung der Wahrnehmung (s. o.) versuchen, unser gestörtes positives Selbstbild wiederherzustellen. Selbstbild und Selbstwertgefühl hängen eng miteinander zusammen und stabilisieren den Menschen seelisch, aber auch in seinem Verhalten. Wenn wir im Alltagsleben hören, „das hab ich doch nicht nötig", oder „das laß ich mir doch nicht bieten", „das könnt ihr mit mir nicht machen", dann wird deutlich, wie wir uns an unserem Selbstverständnis orientieren, wie unser Selbstbild eine wichtige Orientierungsgröße, eine Art Maßstab für unser Verhalten ist. Daß dieses Selbstbild vielfältiger Beeinflussung unterliegt, muß nicht ausgeführt werden; Erfahrungen, charakterliche Eigenarten spielen dabei ebenso eine Rolle wie etwa auch Leitbilder, die als erstrebenswert erscheinen, ζ. B. das Verlangen, ein „fortschrittlicher Mensch" zu sein, was immer das auch sein mag. Zum Selbstbild gehören auch die Vorstellungen, die man von seiner Leistungsfähigkeit, von seiner Willenskraft, von seinen Schwächen, von seinen besonderen Fähigkeiten hat. In der Summe muß dabei ein subjektiv positives, ein akzeptables Bild herauskommen. Wer ζ. B. könnte schon lange, ohne Schaden zu nehmen, mit der Vorstellung leben, ein „Versager" zu sein? Das Selbstbild, das wir von uns entwickelt haben, so beeinflußbar es selbst auch sein mag, wird die Bewertung der wahrgenommenen Fakten beeinflus-
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sen, wird unsere Entscheidungen mit der Tendenz lenken, Übereinstimmung mit uns selbst zu erzielen und unser Selbstverständnis zu bestätigen. 7.7.13 ökonomisch-soziale Situation (16) Jeder hat seinen Platz in der Gesellschaft, hat eine bestimmte soziale Rolle inne, verfügt über einen bestimmten sozialen Status. Innerhalb der großen Bandbreite und auf den verschiedenen sozialen Ebenen des „Oben", „Mitte", „Unten" in einer Gesellschaft ist die Person eingeordnet. Gesellschaft ist immer vielfältig strukturiert. Einkommensschichten, Prestigestufen, Rangfolgen, Gruppenzugehörigkeit, Familienstand, Bildung, Hautfarbe etc. eröffnen zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten, die zugleich die ökonomisch-soziale Situation, in der sich ein Mensch befindet, kennzeichnen. Je nach dieser ökonomisch-sozialen Situation werden auch unsere Bedürfnisse verschieden sein. So entscheidet ζ. B. das Einkommen wesentlich über die Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung, über das, was man sich „leisten" kann. Das Einkommen konfrontiert unser Anspruchsniveau permanent mit den Realitäten. Die ökonomisch-soziale Situation, die ja viele Bedingungen unseres Handelns setzt, beeinflußt in starkem Maße auch all die anderen aufgeführten entscheidungsrelevanten Elemente. Es ist allerdings davor zu warnen, diese ökonomisch-soziale Determinante als vorherrschende Einflußgröße anzusehen, so wie das ζ. B. durch die Interessentheorie versucht wird, die Einstellung und Verhalten vor allem aus der Schichtzugehörigkeit erklärt und so für die sozialen „Klassen" bzw. Schichten bei gleicher Interessenlage eine gleiche Orientierung des Verhaltens unterstellt. Zweifellos beeinflußt der ökonomisch-soziale Standort eines Menschen sein Verhalten (auch im Raum), seine Wahrnehmung usw., aber er stellt eben nur eine von vielen Einflußgrößen dar. Daneben sind weitere Einflüsse wirksam, die durch ihre personenspezifische Ausprägung eine starke Streuung des Verhaltens bewirken, trotz u. U. gleicher Schichtzugehörigkeit. Der Psychologe H. J . EYSENCK (1973, S. 239) konnte die Ausbildung großer individueller Unterschiede in den Einstellungen und im Verhalten, trotz gleichen oder ähnlichen ökonomisch-sozialen Standortes, also angeblich gleicher Interessenlage, an zahlreichen Beispielen aufzeigen (ζ. B. bezüglich der Sexualität oder des Wahlverhaltens) und schlußfolgert: „Die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer bestimmten Schicht beeinflußt sein Verhalten deutlich auf vielerlei Weise, doch wird es modifiziert durch sein angeborenes spezifisches Temperament, seine gleichermaßen angeborenen Fähigkeiten,... die mehr oder weniger zufälligen Ereignisse seines Lebens . . . "
Nehmen wir ζ. B. an einem See eine Ansammlung eleganter Yachten wahr,
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so mag uns das faszinieren, es vermag vielleicht auch Neid auszulösen, eine konkrete Entscheidung jedoch - ζ. B. auch ein solches „Traumboot" und einen Liegeplatz im Hafen zu erwerben - wird nur in direkter Abhängigkeit vom eigenen Geldbeutel, von der eigenen ökonomisch-sozialen Situation getroffen werden. Gerade unsere raumbezogenen Bewertungen und Entscheidungen unterliegen in besonderem Maße der Abhängigkeit von den ökonomisch-sozialen Realitäten. Durchaus sehen die Menschen in Abhängigkeit ζ. B. von der finanziellen Situation die lebensräumliche Wirklichkeit mitunter recht verschieden. 7.7.14 Anspruchsniveau (17) Die Menschen stehen ihrer Umwelt mit einem oft sehr unterschiedlichen Anspruchsniveau gegenüber. Während sich ζ. B. der eine unter den Anspruch stellt, Prüfungen mit stets gutem Resultat zu absolvieren, ist der andere zufrieden, wenn er sie nur irgendwie hinter sich bringt und nicht durchfällt. Für den einen ist es selbstverständlich, sich um seine körperliche Fitneß zu bemühen, und er nimmt selbstverständlich auch die damit verbundenen Anstrengungen und Entbehrungen auf sich, während ein anderer sich gar nicht erst diesem Anspruch unterwirft, weil er glaubt, daß er dem sowieso nicht gewachsen wäre. Das Anspruchsniveau bezieht sich natürlich ebenso, und dort besonders sichtbar, auf die Ansprüche hinsichtlich der Kleidung, des Wohnkomforts, des Standards der Konsumgüter. Aber es betrifft auch die Art der bevorzugten Musik, der Bücher, der Unterhaltung etc. Dieses Anspruchsniveau ist durchaus keine konstante Größe, es unterliegt mit der Änderung des Lebensalters, der materiellen Möglichkeiten, der Erfahrung etc. selbst auch dem Wandel. Auch kann eine besondere Situation das Anspruchsniveau rasch verändern. Wer ζ. B. gewohnt ist, abends nach der Arbeit eine Flasche Wein zu trinken und gar nicht auf die Idee kommt, statt dessen Wasser zu bevorzugen, wird, wenn er sich aus irgendwelchen Gründen fern der Zivilisation in der Wüste befindet, glücklich sein, statt des gewohnten Weines genügend durststillendes Wasser zu haben. Der hohe Lebenskomfort der Menschen einer Wohlstandsgesellschaft besagt nicht, daß die gleichen Menschen in einer Katastrophensituation nicht in der Lage wären, unter äußerst primitiven und kargen Bedingungen zu existieren und dabei möglicherweise eher im seelischen Gleichgewicht wären als unter dem Druck hochgeschraubter Ansprüche. Normalerweise schafft eine Gesellschaft ein für sie charakteristisches Niveau der Bedürfnisbefriedigung und Ansprüche, den allgemeinen Lebensstandard. Selbst wenn dieser Standard auch bei der einzelnen Person recht hoch ist, schließt das jedoch nicht aus, daß sie unzufrieden oder gar unglück-
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lieh ist, denn die Unruhe des Vergleichs kann Neid bzw. ein Gefühl relativer Benachteiligung auslösen. Ist man mit seinen Ansprüchen und Erwartungen an einem Niveau orientiert, dem man durch das eigene Einkommen bzw. durch die eigenen Fähigkeiten nicht entsprechen kann, ist die Gefahr der Enttäuschung groß. Im Auseinanderklaffen von Anspruchsniveau und eigenen Möglichkeiten, von Ehrgeiz und eigener Leistung liegt die Wurzel so mancher Frustration und der durch sie ausgelösten Verhaltenstendenzen. Nun ist nicht jeder voll für sein Anspruchsniveau selbst verantwortlich, denn dieses ist auch ein Ergebnis der genossenen Erziehung, also der Lernerfahrung und des kulturellen Milieus, in dem man aufwächst. Wer entsprechend „verwöhnt" wurde, unterliegt bei gewandelten Bedingungen einem höheren Enttäuschungsrisiko. Auch eine Gesellschaft, die ein Anspruchsniveau kultiviert, das über ihre langfristigen Möglichkeiten hinausgeht, setzt sich der Gefahr einer umfassenden Ernüchterung aus. Der Erfolg oder Mißerfolg der Handlungen entscheidet beim einzelnen wesentlich über die Veränderungen des Niveaus seiner Ansprüche. Erfolg verführt zur Ausweitung des Anspruchs, man faßt das nächst höhere Ziel ins Auge. Entfernt sich die Anspruchsausweitung zu sehr von den Realitäten, wird der Mißerfolg wesentlich dazu beitragen, die zu hoch gespannten Erwartungen auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Die konkrete Ausformung unseres Anspruchsniveaus unterliegt natürlich neben dem Effekt der Erfahrung zahlreichen weiteren Einflüssen. Dabei können körperlich-seelischer Zustand („das kann ich in meinem Zustand nicht mehr erreichen"), wie auch Begabung („das ist ein Anreiz zur Bestätigung meiner Talente") oder die ökonomisch-soziale Situation („das entspricht nicht meinen finanziellen Verhältnissen") ebenso wie die Interessen oder die Sinnorientierung („dafür tue ich alles") und vor allem die Intensität unserer Bedürfnisse wirksam sein. Das Anspruchsniveau seinerseits wirkt in vielfältiger Weise auf die anderen beeinflussenden Elemente zurück. Der seelische Zustand kann miserabel sein, weil man unter dem Druck zu hoher, nicht zu befriedigender Ansprüche steht. Besonders eng ist die Verflechtung mit dem Selbstbild einer Person. Das Anspruchsniveau kann zu einem wesentlichen Ausdruck dieses Selbstverständnisses werden. Starke Beteiligung des Ichs an bestimmten Ansprüchen wird häufig deren Niveau erhöhen. Wer sich mit all seinen Interessen als Autokenner versteht, wird diesbezüglich besonders sachkundig kaufen, wird sich nichts „andrehen" lassen. Wer sich selbst als Künstler versteht, wird einem Kunstwerk mit entsprechend hohem Bewertungsniveau gegenüberstehen. Im Anspruchsniveau spiegeln sich also zugleich zahlreiche andere verhal-
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tensrelevante Faktoren. Und können Ansprüche auch sehr detailliert sein, so bildet sich doch beim einzelnen ein für ihn charakteristisches und viele Seinsbereiche umfassendes Niveau seiner Ansprüche heraus, das allerdings dem Wandel offen ist. J. VONTOBEL ( 1 9 7 0 ) bezeichnet dieses mehr oder minder generalisierte Anspruchsniveau gegenüber der Umwelt als die „Bezugslage" eines Menschen. Und tatsächlich setzen wir ja auch die wahrgenommenen Phänomene in „Bezug" zu unseren Ansprüchen, freilich ebenso auch zu anderen Bewertungskriterien. Auf jeden Fall beeinflußt unser Anspruchsniveau, sei es im konkreten Falle sehr spezifiziert oder nur als generalisiertes Niveau ausgebildet, die Bewertung der wahrgenommenen lebensräumlichen Realität. 7.7.15 Sinnorientierung (18) Von besonderem Einfluß auf unsere Entscheidung ist die Beantwortung der Frage nach dem übergeordneten Sinn unseres Handelns. Wir lassen uns lenken durch unsere Wünsche, Absichten, Pläne; diese finden in unseren konkreten Handlungszielen ihren Niederschlag und beeinflussen so unser konkretes Verhalten. Doch unsere Wünsche und Pläne sind oft nur Ausdruck übergeordneter und umfassenderer Zielvorstellungen, die wir als sog. Lebensziele, mehr oder minder deutlich artikuliert, mit uns tragen. Bewußt oder unbewußt unterliegt der einzelne Mensch einer solchen individuellen Sinnorientierung. Das tatsächliche Verhalten ist dann oft nur ein tastender und suchender Versuch, im Kompromiß mit den Realitäten, gemäß solcher übergreifender Lebensziele - und seien es nur Sehnsüchte und Hoffnungen - zu leben. Wird für den einen Menschen das Glück seiner Familie zum Höchsten, und ist er bereit, viele andere Lebensaspekte dem unterzuordnen, so sieht ein anderer im wissenschaftlichen Erkenntnisstreben seine oberste Sinnorientierung oder auch in der Verbindung beider Bereiche. Aber ebenso kann man in der Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse, im ständigen Genuß den höchsten Sinn sehen; man versteht sich gewissermaßen „als Schweinchen von der Herde Epikurs". Dem entgegengesetzt läßt sich das Leben unter einen metaphysisch und transzendental orientierten „Sinn" stellen, u. U. mit asketischer Lebensführung kombiniert. Das Streben, „glücklich" zu sein, sein Leben religiös zu orientieren, sein Leben irgendeiner Weltanschauung zu widmen, im Dienst an einer großen Sache aufzugehen, alles das schafft Sinnorientierung der individuellen Existenz. Solche Art Orientierung steht über den unmittelbaren Handlungszielen, den Vorhaben und Wünschen des Alltagslebens; und formt sie diese auch nicht unmittelbar und ständig, so begründet sie doch die langfristige Ausrichtung unserer Handlungen.
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Sinnorientierung ist nicht a priori vorhanden, wenn man vom Bestreben zu leben und zu überleben absieht, vielmehr bildet sie sich im Individuum heraus, allerdings sehr früh, so wie das Bewußtsein des Selbst einsetzt. Und so wie unsere Erfahrungen, Gefühle, Überzeugungen ebenso wie unsere Interessen, Begabungen etc. (s. o.) ständig auf die Sinngebung einwirken und diese ggf. modifizieren, so wirken auch unsere Sinnorientierungen ständig auf diese Einflußgrößen zurück. Sinnorientierung, sei sie präzise oder nur als dumpfer Drang vorhanden, ist die oberste und koordinierende Instanz unserer Entscheidungsfindung, ohne jedoch zwingende Determinante zu sein. Auch Sinnorientierung variiert, macht Kompromisse und hat viele, nicht stets deckungsgleiche bzw. logisch konsistente Komponenten. Fehlt jedoch der Sinn des Handelns, dann pendelt der Mensch zwischen wechselnden und vordergründigen Aktivitäten und kurzatmigen Orientierungen, und es bleibt fraglich, ob er sich langfristig dabei wohlfühlen kann, die Schwelle zum neurotischen Verhalten ist dann leicht überschritten. All die aufgeführten beeinflussenden Elementkomplexe (s. o.) konstituieren in oszillierender wechselseitiger Beeinflussung und unterschiedlicher Gewichtung, was wir die „Persönlichkeit" eines Menschen nennen. Sie kennzeichnen seine spezifische Art wahrzunehmen, zu bewerten, zu entscheiden. Dieses Besondere, dieses Selbst einer jeden Person ist der Ausdruck der zeitlichen Kontinuität eines Menschen und all der Formung seiner Veranlagungen, die er erfahren hat; es ist die besondere unverwechselbare Persönlichkeit, die der Umwelt gegenübersteht. Es mag hier offen bleiben, ob die in einer Person wirksamen, die Entscheidung beeinflussenden Komplexe in eine Hierarchie einzuordnen sind, ob ein geschichtetes Modell der Wirklichkeit näher käme, ob die vorgenommene Differenzierung befriedigend ist. Auf jeden Fall aber verdeutlicht die Zerlegung so komplexer Zusammenhänge, welch vielfältigen und unterschiedlichen und dennoch miteinander korrespondierenden Einflüssen Bewertung und Entscheidung ausgesetzt sind. Allerdings erhebt sich die Frage, wie denn nun die Bewertung der wahrgenommenen Sachverhalte überhaupt zustande kommt. Wie groß ist die Rolle des Zufalles, welches Gewicht haben die einzelnen Einflußgrößen?
7.8 Sinngebende synergetische Bewertung (19) Der Mensch verfügt in Konfrontation mit der ihn umgebenden lebensräumlichen Realität eigentlich nur über wenige grundsätzliche Verhaltensaiternati-
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ven. Er kann sich an die vorgegebenen lebensräumlichen Fakten anzupassen versuchen oder er kann sich um deren Veränderung gemäß seinen Wünschen bemühen. Er kann allerdings auch beides miteinander zu kombinieren suchen, indem er etwa seine Veränderungswünsche bereits an den lebensräumlichen Gegebenheiten korrigiert. So oder so, der Mensch muß sich in seinem Lebensraum irgendwie einrichten. Wir sind von der räumlichen Wirklichkeit in vielfältigen Dimensionen umschlossen, und dieses zwangsläufige Zusammenhängen von Mensch und Lebensraum gebietet es, eine zuträgliche Übereinstimmung zu suchen. Auch wenn der Mensch selbst der bisher rigoroseste Umweltveränderer ist, steht er doch unter dem Zwang, sein Überleben im Raum zu sichern; mehr noch, er unterliegt einer Tendenz, sich in seinem Lebensraum wohlzufühlen, in ihm „zu Hause" und geborgen zu sein. Allerdings sind wir befähigt, dies auf so vielerlei Weise zu erreichen, daß daraus keine Tendenz zur gleichen Bewertung gleicher lebensräumlicher Situationen abgeleitet werden kann. Vielmehr wirken die einzelnen Personen oder Gruppen aufgrund ihrer spezifischen Bewertungen der konkreten lebensräumlichen Fakten hinsichtlich der Entscheidungen der Menschen relativierend. Es wäre nun wenig sinnvoll wie auf der Suche nach dem Stein der Weisen immer wieder nach den „eigentlichen" Bewertungskriterien oder nach der vorherrschenden Einflußgröße zu fragen. Man wird der Wirklichkeit besser gerecht, wenn man Bewertung als Resultat eines oszillierenden Wirkungszusammenhanges, bei dem je nach Situation und Persönlichkeit sehr verschiedene Komponenten in unterschiedlichem Ausmaß beteiligt sind, versteht. Bewertung ist ein Prozeß inhärent hoher Variabilität hinsichtlich der wirksamen Einflußgrößen und potentieller Instabilität hinsichtlich der Bewertungsergebnisse. Und während in einem Fall die negative Erfahrung, weil sie so nachdrücklich war, ausschlaggebend sein kann, ist es in einem anderen die Gewohnheit oder das Gefühl. Bewertung darf also nicht als immer wieder gleich ablaufender Vorgang verstanden werden, bei dem alle Einflußgrößen in genau vorher bestimmter Weise gewichtet einwirken, sondern vielmehr entsteht die Bewertung als Ergebnis eines jeweils individuell überformten Wirkungsgefüges. Je nach Person und Situation werden diese oder jene Einflußnahmen stärker oder schwächer ausfallen. Einige Abhängigkeiten wirken sehr stark, andere Kanäle dagegen sind verschüttet oder liefern nur einen geringen Beitrag zur synergetischen Bewertung. Eine Person oder Gruppe wird möglicherweise fast ausschließlich durch Interessen (11) in ihrem raumbezogenen Verhalten geleitet, andere lassen sich auf Grund höherer Sensibilität gegenüber den genetischen Verhaltenstendenzen (4) stärker durch diese oder etwa durch Ergebnisse der Wissenschaft (7) beeinflussen. Zudem kann, was gestern noch beeinflussend wirkte, heute schon
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durch neues Wissen (7) oder durch geänderte prognostische Einschätzung (12) etc. verdrängt und unwirksam werden. 7.8.1 Der neuronale Aspekt Dem Verständnis förderlich ist eine vom Gehirnforscher J. C . ECCLES ( 1 9 7 5 ) vertretene Auffassung: J. C . ECCLES unterscheidet in Anlehnung an K . R. POPPER, als eine eigene Kategorie der Wirklichkeit, als eigenen Seinsbereich eine „Welt 2", den Bereich der Bewußtseinszustände von der anders gearteten Welt der physikalischen Gegenstände und Zustände („Welt 1") und der vom Menschen hervorgebrachten Welt des Wissens, der Erkenntnisse und theoretischen Systeme („Welt 3"). Von der physikalischen Welt und ebenso von der Welt des Wissens, wie sie etwa in einem Buch miteinander verknüpft sind, werden bestimmte physikalisch strukturierte Informationen bzw. Signale ausgesandt, die wir ζ. B. beim Lesen eines Textes aufnehmen, indem wir sie auf der Retina fokussieren und nach Umwandlung und Verschlüsselung in Nervenimpulse an das Gehirn und dort an die Sehrinde weiterleiten. Hier nun setzen Entschlüsselungen ein, die schließlich in den sog. „Sprach- und Liaisonzonen" der Großhirnrinde in neuronale Muster und Erregungszustände umgewandelt werden, welche uns dann als bedeutsame Sätze erscheinen, die wiederum zu einer Einsicht, zu einer emotionalen oder ästhetischen Empfindung führen. Es läßt sich bislang über diesen faszinierenden Prozeß der Verwandlung physikalisch strukturierter Informationen und daraus abgeleiteter neuronaler Muster in Phänomene des Geistes und der Seele wenig Erklärendes sagen. Wir stehen vor dem qualitativen Sprung der Übertragung des PhysikalischChemischen bzw. des Energetischen in das Geistig-Seelische und damit vor dem Wechsel und der untrennbaren Verknüpfung zweier verschiedener Seinskategorien. Es ist das alte Leib-Seele-Problem, dessen Verständnis noch vor uns liegt. Zwar läßt sich orten, in welchen Bereichen des Gehirns jene Verknüpfung von Gehirn und Geist geleistet wird, aber es bleibt ungeklärt, wie dies erfolgt. J. C. ECCLES (1975, S. 239) betont, daß es in der „bewußten Erfahrung" der uns umgebenden Welt zwei Ebenen gibt, die Ebene des „äußeren Sinns", der äußeren Empfindung über die Rezeptoren, die uns etwa Schmerz, Geruch, Farbe, Musik etc. vermittelt und die Ebene des „inneren Sinns", der inneren Empfindung, „die alle Erinnerungen einschließt, Erfahrungen viel subtilerer Art, im Grund genommen die gesamten Bewußtseinsinhalte, die nicht unmittelbar auf das zurückzuführen sind, was gerade durch die Sinnesorgane hereinkommt..."
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All diese Komponenten des „inneren Sinns" können mit den eintreffenden Wahrnehmungen angesprochen bzw. als neuronales Erregungsmuster freigesetzt werden. Im Gehirn kommt es mit der Aufnahme und Verarbeitung der durch die Rezeptoren vermittelten Impulse zu einer umfassenden neuronalen Aktivierung, zu einem unfaßlich differenzierten Arbeitsmuster in „Erregung" feuernder zerebraler Neurone. Dabei unterhegen diese unermeßlich komplexen und ja stets mit Bedeutung geladenen und in sich abgestimmten Muster einer ständigen Veränderung. Aber nicht nur die neuronalen Erregungsmuster sind unvorstellbar veränderlich und flexibel, nicht nur die neuronalen Abläufe im Gehirn, sondern auch dessen Aktionsstruktur selbst ist veränderbar. So müssen wir uns, wie J. C. ECCLES (1975, S. 229) schreibt, „das Gehirn auf der Mikroebene strukturell plastisch vorstellen, wobei einige Synapsen reif, andere wieder in der Entwicklung und wieder andere im Abbau begriffen sind".
Beim Lernen, beim Gedächtnis, bei der geistigen Entwicklung wird uns die Veränderbarkeit der Leistung des Gehirns sichtbar. Doch neben den Wandlungen der Funktionsstruktur arbeitet das Gehirn und das Nervensystem in Ausschöpfung der Vielfalt möglicher Erregungsmuster eben „nicht auf einheitliche und diktatorische Weise", sondern in Ausnutzung der inhärent hohen Flexibilität sehr variabel. Und nur so auch ist es möglich, die zahllosen Komponenten des „inneren Empfindens" bzw. all die unsere Bewertung beeinflussenden Bereiche (s. o.) situationsgerecht wirken zu lassen. So entspricht die Struktur der neuronalen Prozesse und des Gehirns der Komplexität und Variabilität des geistigen Bewertungsprozesses; die leiblichen Voraussetzungen und Spielregeln sind mit denen des Geistigen konsistent. Beide sind so strukturiert, daß sie in Auswahl aus der Vielfalt der Möglichkeiten und Kombinationen das Besondere, das Einmalige einer Person sowohl hinsichtlich der Ausformung der physikalisch-chemischen und neuronalen Prozesse wie auch der geistigen Prozesse begründen. Mit dem Heranwachsen und Älterwerden des einzelnen Menschen formt sich im hochkomplexen System der 15 Milliarden Einzelelemente des Gehirns eine höchst individuelle Struktur aus, sowohl hinsichtlich der Muster der möglichen Verbindungen und Signalkombinationen zwischen den Nervenzellen, deren Erregung das jeweils spezifische Beziehungsgefüge spezifischer Informationen und Gedächtnisleistungen mobilisiert, wie auch hinsichtlich der biochemisch-elektrischen Kontakte an den Synapsen, durch die die Nervenzellen als Träger von Gedächtnisspuren miteinander in informelle Beziehung treten. Sowohl bezüglich der Steuerung der Informationsverarbeitung wie auch bezüglich der physischen Strukturierung ist das Gehirn also
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innerhalb gewisser Grenzen veränderlich und einmalig. In seiner gewachsenen Feingestalt und Leistungsfähigkeit gleicht kein menschliches Gehirn dem anderen! Indem unser Verhalten letztlich aus höchst individuellen Programmen und Strukturen der Informationsverarbeitung resultiert, die Ausdruck der Identität einer Person, ihrer Geschichtlichkeit und damit Einmaligkeit sind, wird es sehr persönliche Züge annehmen. Wie sollte auch, was aus so unterschiedlichem Substrat wächst, bei verschiedenen Menschen stets gleich sein? Wie sollte zudem, was so von der veränderlichen Funktionsfähigkeit eines jeden Gehirns abhängt, beim einzelnen über alle Zeit gleich sein. So bleibt Verarbeitung von Informationen interpersonell wie auch zeitlich veränderlich, und muß es, wie sonst wäre Lernen möglich und hilfreich. Daher bewerten wir untereinander nicht stets gleich und auch als einzelne nicht über ein ganzes Leben, was jedoch Gleichartigkeit zufolge dominanter Einflüsse, seien es gemeinsame Kultur und Werte oder angeborene Verhaltenstendenzen etc., keineswegs verhindert. Es ist nun eine relativ sekundäre Frage, ob wir die Verarbeitung auftreffender Signale und lebensräumlicher Informationen in Orientierung an „inneren Empfindungen, Erfahrungen . . . " etc., wie bei J. C. ECCLES (1975) oder an einer „Überzeugungs-Wert-Matrix", wie bei E. Ch. TOLMAN (1951) oder in „emotionaler Bewertung", wie bei M. B. A R N O L D (1960) vornehmen. Entscheidend ist, daß wir mit Hilfe in uns herangebildeter potentiell variabler Maßstäbe und Einflüsse in potentiell variabler Mischung der Umwelt bewertend gegenüberstehen. Darüber hinaus ist es wichtig, daß wir das Ergebnis dieser flexiblen neuronalen Aktivität, wie es sich im Bewußtsein des einzelnen spiegelt, auch als Ausdruck der personalen Struktur und der Besonderheit einer jeden Situation ansehen können. Daher ist das Bewertungsergebnis als individuelle und situationsspezifische Hervorbringung eines einmaligen Selbst zwischen den verschiedenen Menschen potentiell verschieden. Auch begründet dies angesichts der vielen Menschen die Vielfalt raumbezogener Entscheidungen in der Realität. Welche Mischung der verschiedenen Einflüsse nach Art und Intensität im einzelnen zur Wirkung kommt, entscheidet sich in der Person selbst, was nicht ausschließt, daß mehrere Personen auch zu gleichen Bewertungsergebnissen gelangen können. Oft werden genetisch vorfixierte Verhaltenstendenzen in eine bestimmte Richtung drängen, aber selten nur setzen sie den personen- bzw. gehirnspezifischen Bewertungsprozeß völlig außer Kraft; die konkrete Entscheidung ist in der Regel ein Arbeitsergebnis des Gehirns und keine automatische Reaktion. Im einzelnen Menschen also, im einzelnen Gehirn vollzieht sich als kom-
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plex oszillierender Vorgang die Verschmelzung unterschiedlicher bewertungsbeeinflussender Faktoren. Bleibt zu klären, ob dies eine unüberschaubare Vielfalt raumbezogener Entscheidungen begründet oder ob nicht doch Tendenzen und Prinzipien wirksam sind, die Überschaubarkeit und eine gewisse Konformität sicherstellen. 7.8.2 Tendenzen des Bewertungsprozesses Unterliegen wir bei der Bewertung der Informationen der Führung durch Bewertungsregeln und grundsätzliche Orientierungen, etwa auf Wohlbefinden o. ä. hin, oder entscheiden wir in unabhängig freiem Willen und damit nicht nur variabel, sondern beliebig und generell unvorhersehbar? Die Auffassungen darüber gehen auseinander, und es lassen sich zahlreiche unterschiedliche Erklärungsversuche der in uns ablaufenden Verhaltensregelung nennen. Ohne ausführliche Erörterung sei auf einige der wichtigsten Konzeptionen verwiesen: Im sog. „Homöostasemodell" wird Verhalten als Folge eines gestörten Gleichgewichts der Bedürfnislage eines Organismus und als Versuch, diesen Gleichgewichtszustand wiederherzustellen, gedeutet. Es gilt also, ein ausgeglichenes inneres Milieu zu erhalten bzw. wiederzugewinnen (Kap. 7.1.1). Ähnlich sind Deutungsversuche einzuordnen, die in der Verminderung der inneren Spannung (ζ. B. auch der Angst in uns) und ganz allgemein im Bestreben, Konflikte abzubauen, die Hauptmaxime des Handelns bzw. der Situationsbewertung sehen. Analog kann der Drang zur Reduktion bzw. Befriedigung in uns wirksamer Triebe die Bewertung steuern. Wir unterliegen Gefühlsschwingungen und Triebzuständen, denen gemäß wir bewerten und entscheiden. In ähnlicher Argumentation kann man unterstellen, daß die mangelnde Befriedigung der Triebe und psychosozialen Motive einen Mangelzustand bewirkt, durch den wiederum ein Energiefluß im Menschen freigesetzt wird, der dann entsprechend „befriedigende" Entscheidungen anregt. Da die verschiedenen Triebe und Motive oft zu unterschiedlichen Handlungskonsequenzen führen, formt sich die tatsächliche Bewertung in Orientierung an der Hierarchie der Triebe und Motive, also an deren genereller Gewichtigkeit und zum anderen am momentanen situativen Kräfteverhältnis dieser Triebe und Motive heraus. Unter Verweis auf die unterschiedliche Bedeutsamkeit und Rangfolge der Triebe wird von mehreren Autoren nach der Befriedigung der vorrangigen biologischen Bedürfnisse im Drang zur Selbstverwirklichung der Hauptantrieb des Handelns und der Bewertung gesehen. Aber es ließe sich mit gleichem Recht ζ. B. der hedonistische Drang,
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„Schmerz zu vermeiden und Vergnügen zu sichern", zum obersten Kriterium der Entscheidung erheben. Ebenso kann behauptet werden, daß unsere Bewertungen gemäß der unterschiedlichen Belohnungserwartung alternativer Verhaltensmöglichkeiten ausfallen; es würde also diejenige Entscheidung gewählt, die die höchste Belohnungserwartung einschließt. Wie problematisch die Festlegung auf solche einzelne Dominanten ist, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß wir mitunter durchaus auch Schmerz in Kauf nehmen, um ζ. B. ein Ziel zu erreichen, das uns subjektiv besonders lohnenswert erscheint. Die Neigung, Schmerz zu vermeiden, wurde also ohne weiteres überspielt. Entsprechend kann ζ. B. auch die Vermeidung von Frustration nicht als Hauptkomponente unserer Entscheidungen angesehen werden, obwohl der Wunsch, Enttäuschung zu vermeiden, uns durchaus und auch stark beeinflussen kann. Ähnlich verhält es sich mit der Annahme, daß unsere Bewertungen und Entscheidungen unter der Maxime stehen, einen möglichst hohen subjektiven Nutzen zu erzielen (vgl. auch Kap. 7.3). Zwar erscheint es auf den ersten Blick als logisch, daß unsere Entscheidungen nach dem Prinzip erfolgen, so zu handeln, daß ein möglichst hoher Nutzen entsteht. Dementsprechend dürften diejenigen Handlungen bevorzugt werden, die die höchst subjektive Wahrscheinlichkeit bieten, diesen angestrebten subjektiven Nutzen zu maximieren203. Mit der Bewertung müßte also eine Bilanzierung der interpretierten Wahrnehmungen hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Nutzenmaximierung einhergehen204. Dieser sog. Nutzen ist allerdings eine äußerst verschwommene Größe und kann sich ebenso auf den subjektiven momentanen psychischen Nutzen beziehen, wie auch auf den subjektiven Gesamtnutzen, im Hinblick auf die gesamte Lebenszeit205. Er kann entweder ausschließlich egoistisch oder stärker gesamtverantwortlich orientiert sein. Zwar bildet sich in vielen Entscheidungssituationen eine Nutzenbewertung mehr oder minder deutlich heraus, stets aber bleibt sie das Ergebnis subjektiver Bewertung. Obwohl auch der Nutzen an das Ermessen gebunden ist, also nahezu beliebig festgelegt werden kann, könnte man trotzdem eine auf Nutzenmaximierung gerichtete Entscheidung als rational206 bezeichnen. Unterliegen also Bewertung und Entscheidung einer Tendenz zur Rationalität? Eine solche Annahme ließe sich als generelle Aussage nicht aufrecht erhalten, denn mit der Orientierung am Nutzen207 erfassen wir nur eine von vielen steuernden Komponenten. Synergetische Bewertung orientiert sich nicht allein an der rationalen Nutzenmaximierung. Gefühle, Intuitionen, aber auch genetisch bedingte Verhaltenstendenzen oder der momentane körperlich-seelische Zustand (s. o.) und nicht zuletzt die Wirkung des Unterbewußtseins etc. können variieren oder gar dominieren. Unsere Entscheidungen bezüglich des raumbezogenen Verhaltens erfolgen nicht nur gemäß dem rationalen Kalkül
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der Nutzenmaximierung oder der höchsten Wahrscheinlichkeit zur Förderung dieses Zieles, also „Erfolg" optimierend, sondern eben auch unter dem Einfluß des Emotionalen, des Intuitiven, des anscheinend Irrationalen. In einem anderen Erklärungsversuch wird unterstellt, daß der Mensch nach einem „optimalen Stimulationsniveau" strebt. Wir sind Neugierwesen und nur in Korrespondenz mit unserer Umwelt vorstellbar; die Aktivierung unseres Organismus ist kein Selbstzweck, sondern sie erhält erst durch das auf unsere Umgebung bezogene Denken und Handeln ihren Sinn. Diese unablässige Zwiesprache mit der Welt ist ein Grundfaktum unserer Existenz. Das Wohlbefinden des menschlichen Organismus ist daher abhängig von einer kognitiven und motorischen Aktivität mit und in unserer Umwelt. Wenn man unterstellt, daß jeder Mensch ein für ihn charakteristisches und optimales Niveau der Stimulation und Erregung durch die Umwelt hat208 und daß sein persönliches Wohlbefinden und die beste körperliche und geistige Verfassung erst gewährleistet sind, wenn dieses optimale Niveau erreicht wird, dann läßt sich in den Bewertungen und Entscheidungen der Menschen eine Tendenz zur Erreichung dieses Niveaus vermuten. Man sucht sich etwa diejenigen Anregungen, die einem gemäß erscheinen, die den intellektuellen oder körperlichen Ansprüchen gerecht werden. Und während der eine hochgradige Stimulation benötigt und nach Sensation und Attraktion, sei es in der Sportarena oder in der Nachtbar sucht, findet der andere sein optimales Niveau bei dezenter konzertanter Musik und einem guten Buch in der Hand, während es einen Dritten an den vertrauten Stammtisch in die derbe, aber herzliche Spielrunde zieht. Entsprechend werden die Menschen die lebensräumlichen Faktoren recht unterschiedlich bewerten. Aber könnte nicht auch die unterschiedlich in den Menschen entwickelte Phantasie, die Fähigkeit, ihre eigene Zukunft geistig vorzustrukturieren, entscheidend für die Bewertung der Wirklichkeit sein? Wenn Th. W I L D E R schreibt: „wir gestalten unser Leben, indem wir unsere Vorstellungsgabe betätigen",
so hat er damit einen wichtigen Aspekt des menschlichen Handelns erfaßt. Ist nicht überhaupt unser Denken ein eingebildetes Handeln im vorgestellten Raum209 und spielen wir nicht so u. a. auch die uns voraussichtlich befriedigenden Raumnutzungen geistig durch und bewerten also in Abhängigkeit von unserer Vorstellungsgabe? Ohnehin muß der Mensch, wenn er sich entscheidet, seine Erwartungen bezüglich der Konsequenzen des Handelns und der voraussichtlichen Bedingungen einbeziehen, denn welchen Motiven und Antrieben er auch folgen mag, stets steht er vor der Frage, ob und wie weit er mit seinen Entscheidungen auch diesen Orientierungen gerecht wird. Unsere Bewertungen werden also zwangsläufig auch von unseren Erwartun-
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gen hinsichtlich der Zukunft und von unseren Vorstellungen über das in Zukunft Mögliche, Sinnvolle, Wahrscheinliche abhängig sein und entsprechend gesteuert werden. Von besonderer Bedeutung scheint uns jedoch die Annahme zu sein, daß die Bewertung der wahrgenommenen Umweltreize mit der Tendenz erfolgt, den Sinnbezug unserer Handlungen herzustellen und zu sichern. 7.8.3 Schaffung und Sicherung des „Sinns" und der Einheit der Person Geraten wir in eine Konflikt- bzw. Entscheidungssituation, dann wird diese letztlich vor allem in Orientierung an der bisherigen Sinngebung unserer Handlungen gelöst. Alternative Entscheidungsmöglichkeiten enthalten stets die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des bisherigen Sinnbezuges. Die Bewertung einer Situation steht damit auch unter dem Druck, immer wieder Sinnbezug zu gewähren bzw. wiederherzustellen. So wird das Spiel der vielen möglichen bewertungsrelevanten Einflüsse integriert unter Bezug auf den Sinn unserer Handlungen. Diese Sinngebung wiederum ist auf's engste verbunden mit dem Selbstbild, das der einzelne von sich hat. Ein intaktes Selbstbild, die innere Einheit einer Person - seelisches Gleichgewicht, die Übereinstimmung mit sich selbst - die sich auch in der Sinnorientierung des einzelnen ausdrückt, gilt es zu sichern. Man muß ja bedenken, daß wir mit all unseren Sinnesorganen mit einer derart komplexen Welt konfrontiert werden, daß es eines Selektionsmechanismus bedarf, um aus dieser Vielfalt die für uns relevanten Informationen zu filtern. Das Kriterium der Relevanz ist letztlich der Sinnbezug, den wir unserem Verhalten geben. Sinngebung ist also zugleich ein Akt zur subjektiven Reduzierung von Umweltkomplexität210. Sinnbezug beeinflußt nicht nur unsere Wahrnehmung und deren Deutung, sondern unterwirft die so bereits gefilterten Informationen stets erneut der Prüfung auf subjektive, sinnbezogene Bedeutsamkeit211. Die Bewertung der aufgenommenen Informationen erfolgt nun unter dem Ziel, diese Sinngebung zu erhalten und sinnvolle Entscheidung zu ermöglichen. In der synergetischen Bewertung werden also die zahlreichen bewertungsbeeinflussenden Größen bzw. Aspekte so integriert, so miteinander gemischt und zu einer zusammenfassenden Bewertung verschmolzen, daß die daran anschließende Entscheidung bewertungsabhängig unter Sinnbezug steht. Das schließt nicht aus, daß durch spontane und gefühlsmäßige Entscheidung der Sinnbezug verfehlt wird und es zu einem geradezu sinnlosen und falschen Verhalten kommt. Langfristig jedoch unterliegt die Person, ihre Irrtümer immer wieder korrigierend, einer Tendenz zur sinnbezogenen Entscheidung. Es ist die Bewertung, die immer wieder die Sinnorientierung
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und sinnvolle Koordination unserer Entscheidung ermöglicht und gewährleistet. Eine die Signale der Umwelt unter Integration unterschiedlichster Einflüsse, Maßstäbe, Tendenzen sinnorientiert filternde und verarbeitende Bewertung sichert Sinngebung und erlaubt sinnorientiertes Handeln. Synergetische Bewertung ist so als sinnsichernder Selektions- und Integrationsmechanismus zu verstehen, der personen- und situationsspezifisch arbeitet. Aber Bewertung hat eine über die Sinnsicherung hinausgehende Funktion, nämlich die der Schaffung von Sinn. Dies zu verdeutlichen bedarf es einiger Überlegungen. Der Mensch verwirklicht sich sowohl im Handeln wie auch im Denken. Verstehen wir jedoch Denken, in etwas vereinfachter Sicht, als Handeln im vorgestellten Raum, dann wird deutlich, daß wir letztlich auf's Handeln und damit, angesichts nur geringer Instinktbindung, auf's Entscheiden orientierte Wesen sind. Der Mensch handelt zwangsläufig in irgendeiner Weise. Schon das Kleinkind entwickelt gegenüber seiner ihm noch fremden Umwelt eine sensomotorische Aktivität, die es mit den Dingen in Kontakt bringt. Damit schafft Handeln, das aus eigenem Antrieb kommt und zunächst nicht von der Ermunterung abhängt immer neue Konfrontationen mit immer neuen Dingen. Diese durch Handeln verursachte Begegnung mit unterschiedlichsten und veränderlichen Aspekten der Welt bedarf der Verarbeitung. Das Kind leistet dies, indem es in handelnder Konfrontation mit Elementen der Welt zunächst bildhafte Schemata, später sprachliche Kennzeichnungen, komplexere Koordinationen und schließlich konstruktiv verwertbare Abstraktionen aufbaut. Diese kognitiven Akte ermöglichen nicht nur, daß sich das Kind orientieren und Handlungsabläufe koordinieren kann, sie schaffen und verdeutlichen den Sinn der Dinge und Zusammenhänge. Indem ein Ding betastet, verschoben, wiedererkannt, bezeichnet und schließlich flexibel und erprobend eingesetzt wird, bilden sich zugleich Vorstellungen über seine Struktur, seine Verwendbarkeit bzw. über seinen adäquaten Einsatz und damit über seinen Sinn heraus. Aus den verschiedenen Formen des kindlichen Umgangs mit den Dingen, des probierenden Handelns entsteht in Bewertung und Beurteilung des Objektes eine Vorstellung über dessen Sinn. Erprobendes Handeln und Bewertung konstituieren Vorstellungen über den Sinn der Dinge. Mehr noch, Handeln vermag, vermittelt über die Bewertung, Sinn zu erzeugen. Das ist auch beim Erwachsenen nicht viel anders. Zwar versuchen wir von vornherein sinnvoll, also am Sinn orientiert zu handeln, zugleich provoziert Handeln, durch die dabei neu eröffneten Aspekte, neue Bewertung, durch die neue Sinngebung wachsen kann. Man stelle sich vor, ein in der Kalahari lebender Buschmann bekommt ein Fahrrad geschenkt, ein für ihn völlig neuartiges Objekt. Auch ohne Unter-
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Weisung und Bedienungsanleitung wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit durch erprobendes Verhalten, verbunden mit zahlreichen Stürzen, die Verwendbarkeit und damit den Sinn dieses Vehikels entdecken. Indem er nun das Fahrrad unter den nahezu wegelosen Bedingungen seines Lebensraumes handelnd erprobt, und es schließlich in objekt- und handlungsbedingter Zwangsläufigkeit auf seine Brauchbarkeit hin bewertet, ist er genötigt, die Sinnhaftigkeit einer Verwendung zu prüfen. Damit ist er herausgefordert, über den Sinn seiner Handlungen nachzudenken. Er wird bald entdecken, daß eine Verwendung dieses Fortbewegungsmittels für die an sich sinnvolle Jagd im Gelände sinnlos ist. Vielleicht aber verführt ihn die Erinnerung an eine Piste, auf die er während seines Umherstreifens stieß, dazu, das Fahrrad dort einzusetzen und erkennend, daß dies einigermaßen möglich ist, erfährt dieses Fortbewegungsmittel nunmehr eine positivere Bewertung. Und zugleich taucht eine neue Sinnorientierung des Handelns auf: in neuartiger Geschwindigkeit einem Weg zu folgen und pistengebunden den Raum zu erkunden. Einer Piste zu folgen erschien zuvor als sinnloses Handeln, nun erhält es mit den neuen Möglichkeiten des Objektes Fahrrad Sinn. Und vielleicht erreicht der Buschmann so eine Station, ein Camp und gewinnt neue Kontakte und Erfahrungen, baut sich durch neues Handeln, neue Sinnorientierung auf, vermarktet jetzt vielleicht seine Pfeile, die er sonst auf Wild abschießt, als Souvenirs und kauft vom Ertrag Büchsenfleisch oder ein Gewehr. Vielleicht aber hätte er das Fahrrad auch gleich wieder weggeworfen, weil es ihm für seine Lebensweise nicht brauchbar, nicht handlungsrelevant, nicht sinnvoll erschien und hätte sich so vor möglicherweise recht fragwürdigen Auswirkungen neuer Dinge und Handlungen, vor einer Krise seiner gewohnten Sinnorientierung bewahrt. Vielleicht aber auch nutzt er das Fahrrad mit seiner Lampe und dem Dynamo, indem er es umdreht als abendliche Lichtquelle. Vielleicht lernt er an der rotierenden Felge Pfeilspitzen zu schleifen, im Fahrradschlauch Wasser aufzubewahren oder macht die Entdeckung, daß er mit der Fahrradgabel grabend den Boden wenden kann und geht so vom Jagen und Sammeln in neuer Sinnorientierung zum gezielten Anbau über. Gleichwie, in den Objekten und Handlungen liegt immer auch die Chance zu neuer Sinngebung. Der Mensch steht stets in der Möglichkeit, durch neue Dinge, neue Umgebung, durch Entdeckungen etc. neues Handeln und neue Sinnorientierung zu gewinnen. In den Dingen, in der Umgebung sitzt ein Sinnpotential. Es wird freigesetzt durch Handeln und sei es als Folge zielloser Erprobung und des Spiels. Der Umgang mit Dingen, das Sich-Verhalten bzw. Handeln in einer Umgebung zwingt zur Bewertung und diese zwingt, die Frage nach
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der Sinnhaftigkeit zu beantworten. Der sinnschöpfende Effekt der Bewertung läßt sich besonders gut am Beispiel des technologischen bzw. zivilisatorischen Wandels erläutern. -Nehmen wir an, als Ergebnisse des Zufalles, des spielerischen Probierens oder auch des in uns angelegten Erkundungs- bzw. Forscherdrangs werden neue Erkenntnisse, Fertigkeiten oder Erzeugnisse gewonnen. Jede Konfrontation mit Neuem schließt das Risiko des Konflikts mit vorherigen Wertungen bzw. Sinnvorstellungen ein, denn diese waren gewachsen ohne Kenntnis des Neuen und der darin ruhenden Handlungsmöglichkeiten. Solche Konflikte der Werte und Sinnorientierung sind vor allem für gesellschaftliche Situationen charakteristisch, die starkem Wandel der materiellen und sozialen Strukturen ausgesetzt sind (in der Soziologie ist dieses Phänomen als „cultural lag" seit langem bekannt). Die durch das Neue, durch neue Technologien etc. eröffneten neuen Handlungsmöglichkeiten provozieren Sinnkrisen. Da die alten Wertungen nicht mehr mit den neuen Handlungen übereinstimmen, geht von diesen ein Druck aus, neue, nunmehr handlungsadäquate Sinnorientierung zu finden. Indem nun das neue Objekt, die neue Handlungsmöglichkeit unter Beachtung unterschiedlichster Kriterien einer Bewertung unterzogen wird (siehe Abb. 2) destillieren sich Möglichkeiten einer Sinngebung heraus. So kann man von einem sinnstiftenden Effekt neuer Handlungen und deren Bewertung sprechen. Je nachdem können nun Erfahrungen (7) oder die Antizipation der voraussichtlichen Wirkungen des Neuen (12) oder auch eine allem Neuen aufgeschlossene Einstellung (9) oder all die bewertungsrelevanten Einflußgrößen als Aspekte einer erneuten Sinnhaftigkeit relevant werden und koordiniert durch eine verschmelzende positive Bewertung, neuen Sinn vermitteln. Bedingungswandel zwingt zur Wiederherstellung von Sinnbezug. Ja, Bedingungen können sich so gewandelt haben, daß sie vorherige Werte ad absurdum führen und eine „Sinnleere" entstehen lassen, die dringender Füllung bedarf. Da auch unsere lebensräumliche Realität gewissem Wandel unterliegt, zwingt sie uns ebenso immer wieder, durch differenzierte und flexible Bewertung diesbezügliche Sinnvorstellungen aufzubauen, um sinnvoll im Raum handeln bzw. gestalten zu können. So zwingt ζ. B. die zunehmende Sinnentleerung der überkommenen, dicht bebauten Großstädte, da sie für die Vielfalt der lebensräumlichen Ansprüche des Wohnenden immer weniger zu gebrauchen sind, neue sinnorientierte Raumstrukturen zu entwickeln, wie wir dies etwa im weiteren dieser Untersuchung mit dem Modell des Stadt-Land-Verbundes versuchen (siehe fünfter Teil).
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Nun könnte man einwenden, daß allen neuen Objekten, Entdeckungen und neuen Handlungsmöglichkeiten von vornherein bereits ein gewisser Sinnbezug anhaftet, denn sie sind als Produkte unserer Aktivität durch deren Sinnhaftigkeit geprägt, sie tragen die Zeichen der Sinnorientierung unseres Handelns. Insofern muß Sinn nicht immer wieder neu konstituiert werden, denn er ist ja bereits in den Dingen und Handlungen enthalten. Eine solche Argumentation ist keineswegs falsch. Vergegenwärtigt man sich jedoch, daß die Dinge, Situationen, die lebensräumliche Realität etc. der Entwicklung unterliegen, welche das Phänomen der Wandlung und des Neuen einschließt, dann muß die Entsprechung von Verhalten und Sinn immer wieder neu gesucht werden. Und dies geschieht im Rahmen einer sich selbstregelnden rückkoppelnden Wechselwirkung, die Modifikation und Experimentierraum sowohl für Handlungen wie auch Sinngebung gewährt. Ungeachtet dessen sind zudem mit vielen Handlungen, und seien sie noch so sinnorientiert, unbeabsichtigte Nebeneffekte verbunden, die keineswegs von vornherein mit der intendierten Sinngebung übereinstimmen. So entstehen unerwartete neue Bedingungen, die des Sinnbezugs bedürfen, für die Sinn noch zu schaffen ist. Handeln enthält nicht nur Sinn, es enthält auch die Notwendigkeit, Sinn zu setzen. Faßt man zusammen, so hat der Prozeß der Bewertung vor allem folgendes zu leisten: Die wahrgenommenen und gedeuteten lebensräumlichen Informationen werden mit dem Ziel, die Sinnhaftigkeit unserer Entscheidungen zu sichern, bewertet. Der Bezug auf den Sinn erlaubt eine Selektion der Umweltreize im Hinblick auf ihre Relevanz und gewährt eine sinnbezogene Reduzierung der Umweltkomplexität, die uns mit der Gesamtheit ihrer Informationen überfordern würde. Bewertung sichert aber nicht nur den Sinnbezug, sie schafft ihn auch neu, vor allem in Situationen des Wandels, womit sie eine sinnschöpfende Funktion gewinnt. Da der Mensch nur einer relativ schwachen, instinktmäßigen Lenkung unterliegt, steht er latent im Zwang der Selbstentscheidung, die er letztlich am Sinn orientiert. Sinngebung ist daher von geradezu existentieller Notwendigkeit. Die Fähigkeit zur Sinngebung ist dem entsprechend in uns potentiell angelegt. Wir sind auf selbstzuschaffende Sinngebung hin konstruiert. Als Produkt unseres Geistes bzw. Denkvermögens ist Sinnorientierung leicht mobilisierbar und zudem potentiell variabel. Indem sie über die Bewertung in die Deutung und Wahrnehmung der Dinge reicht, wird sie als alles durchdringendes Phänomen zur wesentlichen Einflußgröße unserer Entscheidung, bleibt aber selbst, um jeweils angemessenes Verhalten zu ermöglichen, ein beeinflußbarer und flexibler Lenkungsfaktor. Sinnbezug sichert
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zugleich die Einheit der Person, denn der Mensch unterliegt in Konfrontation mit der Umwelt bzw. der lebensräumlichen Realität einem ständigen Anpassungsdruck und damit einer inneren Belastung. Unter Orientierung am Sinn vermag er zu entscheiden, inwieweit er sich an die vorgegebene Umwelt anpaßt oder diese gestaltend verändert, vermag er Gleichgewicht zu suchen bzw. einzupendeln zwischen sich und der Welt und vermag so in Übereinstimmung mit sich selbst zu bleiben. Zugleich ergeben sich aus den in diesem Kapitel angestellten Überlegungen einige Schlußfolgerungen für die Praxis: Wenn in der Umgebung, in den Dingen und den Handlungen die Möglichkeit ruht, mit Hilfe des individuellen Bewertungsprozesses Sinnorientierung aufzubauen, dann ist es eine folgerichtige Forderung, dieses sinnstiftende Potential von Lebensraum und Handlung durch bewußte Eröffnung eines größtmöglichen Handlungsspielraumes verfügbar zu machen. Im Handlungsspielraum und im Bewertungsspielraum liegt die Chance personen- und gruppengerechte Sinnorientierung zu finden. Gerade eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern keine Sinngebung bindend vorschreibt und sich der Freiheit verpflichtet fühlt, muß sich, um den Menschen die Selbstfindung zu erleichtern, verstärkt darum bemühen, Möglichkeiten und Spielraum zur subjektiven Bewertung, zu individuellen Handlungsweisen und zur subjektiven Sinnorientierung zu schaffen. Auch bliebe die Forderung nach mehr Freizeit allein höchst unbefriedigend; Freizeit bedarf der Gelegenheiten zu sinnstiftender und damit befriedigender Aktivität. Vor allem bedarf es eines vielfältigen und ausreichenden Raumangebotes für die verschiedenartigsten Lebensformen und Handlungsweisen. Zugleich allerdings ist die intelligente und planende Koordination notwendig, damit aus der Vielfalt der subjektiv sinnvollen Aktivitäten im Raum kein zerstörendes Chaos der Raumnutzung erwächst. Vielfalt der Möglichkeiten bedeutet nicht Zulässigkeit aller Arten von subjektivem Sinn vermittelnder Aktivitäten. Ungeachtet dessen bleibt es ein unverzichtbares Ziel der Lebensraumgestaltung, dem Menschen die Chance der Sinnstiftung durch subjektive Bewertung und entsprechenden Handlungsspielraum offen zu halten.
7.9 Variabilität und situative Offenheit durch Selbstregulation Wie unsere sinngebende Bewertimg ausfällt, ist innerhalb einer großen Bandbreite offen. Bewertung vermag also sehr unterschiedlichen Sinnbezug zu formen, wobei sie in Bindung an die jeweilige Person stets nur subjektiven Sinn vermittelt. Gerade damit aber dient sie der Erhaltung der „Einheit" einer Person, auch unter sehr verschiedenen Umweltbedingungen. Bewer-
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tung behält eine die Person, das Selbst unter unterschiedlichsten Bedingungen integrierende Funktion. Im Sinne dieser homöostatischen Komponente ist sinngebende synergetische Bewertung potentiell variabel·, in Abhängigkeit von der Situation und Person kann sie sich wandeln, kann variiert werden. Als regelnde Größe vermag sie mit ihren eigenen Schwingungen einen oszillierenden, pulsierenden Prozeß vielfältiger Riickkoppelung zwischen Wahrnehmung und sinnorientierter Entscheidung bzw. zwischen den Umweltgegebenheiten und unserem Verhalten in Gang zu halten. Man muß sich klar darüber sein, daß die Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum nicht analog einem mechanischen Schaltsystem, bei dem diese oder jene Komponenten zu- oder abgeschaltet werden, abläuft, vielmehr entfaltet sie sich, koordiniert durch sinngebende Bewertung, als Selbstregulation, flexibel pulsierend, wobei die verschiedenen Einflüsse wechselnd und unterschiedlich dosiert einwirken und zugleich Nebeneffekte und Rückkoppelungen auslösen. Wir nehmen mit unserem Bewußtsein, wie es in der synergetischen Bewertung zum Ausdruck kommt, zunächst theoretisch das raumbezogene Verhalten vorweg und erproben es dann in der Praxis, wobei wir durchaus Erwartungen bezüglich der wahrscheinlichen Folgen haben. So „überlegen" wir, wenn wir raumbezogene Entscheidungen treffen. Synergetische Bewertung ist folglich ein Denkvorgang. Mit Hilfe der Bewertung überprüfen und variieren wir unser Handeln und unsere Wahrnehmung. Eigentlich treten also vor allem unser „Geist" und die räumliche Umwelt miteinander in Wechselwirkung. So wie jede einzelne synergetische Bewertung durch Überlegen in der Regel allmählich heranwächst und zur Entscheidung führt, vermag sie sich nach dem Prinzip „Versuch- und Irrtumsbeseitigung"212 durch Erfahrung auch weiterzuentwickeln. So sind Entscheidungen in ihrer langfristigen Tendenz meist die Folge eines fast unmerklich ablaufenden „Reifungsvorganges"213. Wir erarbeiten uns Vorstellungen, Annahmen, wenn man so will, Theorien, die unser Verhalten steuern. Aber wir arbeiten diese durchaus nach Erfahrung, Überlegung, kritischer Abwägung und Diskussion anderer Möglichkeiten auch wieder um; wir steuern selbst auch unsere Theorien214. Vereinfachend gesagt, unsere Vorstellungen und Bewertungen lenken unser Verhalten gegenüber dem Raum; aber auch dieser wirkt, indem er uns Erfahrung vermittelt, auf uns ein und bewirkt, daß wir unsere Theorien, Maßstäbe, Bewertungen weiterentwickeln oder ändern. Davon abhängig, wird wiederum das Verhalten gegenüber dem Raum beeinflußt. So bilden also räumliche Realität (1), Wahrnehmung (im engeren Sinne - 2), synergetische Bewertung (Regler) und Verhalten in komplexer und untrennbarer Wechselwirkung als sich selbst steuernder Regelkreis (vgl. Diagramm) eine pulsierende Einheit215. Das Verhältnis Mensch-Raum un-
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terliegt gewissermaßen der „plastischen Steuerung"216; Mensch und Raum verbinden sich über einen Prozeß der Selbstregulation, der, koordiniert durch potentiell variable, sinngebende Bewertung, Veränderung des Verhaltens wie auch der räumlichen Bedingungen zuläßt. Die Plastizität dieser Wechselwirkung wird durch die beträchtliche Anpassungsfähigkeit des Menschen an unterschiedliche lebensräumliche Bedingungen begünstigt; allerdings liegt darin auch die Gefahr der Schädigung, denn unsere Bewertung ist nicht grundsätzlich frei von Irrtum. Wichtig aber ist vor allem, daß wir zufolge der plastischen, pulsierenden, veränderlichen Regelung die Fähigkeit steigern, gegenüber dem besonderen Aufforderungscharakter einer Situation, gegenüber gewandelten Bedingungen „offen" zu sein. Bewertung und resultierende Entscheidung können gemäß der Situation relativ leicht variieren, können Irrtum korrigieren und tendenziell, trotz sich wandelnder Situationen, ein dem Überleben und Wohlbefinden dienliches Verhalten bewirken. Es ist ja für das Wohlbefinden des Menschen nicht nur wichtig, daß durch personenspezifische sinnbezogene Bewertung die Einheit einer Person, ihr inneres Gleichgewicht gesichert wird, sondern ebenso muß ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Person und konkretem Lebensraum ermöglicht werden. Die aufgezeigte Reaktionsfähigkeit gegenüber der Situation und damit auch gegenüber räumlichen Bedingungen wird dem gerecht. Diese Freiheit, sinngebende Bewertung variieren zu können, erlaubt zugleich Entwicklung, Entfaltung und ist damit die folgerichtige Ergänzung zum Phänomen des Geistes und des Denkens, deren Ausdruck sie ja ist. So ist sie nützlich und im Sinne der Existenzsicherung notwendig. Unsere Bewertungen und Entscheidungen müssen potentiell veränderlich sein, selbst angesichts gleicher Situationen. Denn zufolge fehlerhafter oder unvollständiger Informationen, mangelnder Erfahrungen, unangemessener Gewohnheiten usw. können leicht problematische oder gar gefährliche Entscheidungen getroffen werden217. Ohnehin verfügt der Mensch nur über eine begrenzte Kapazität zur Aufnahme und Verarbeitung der an sich für seine Entscheidung relevanten Informationen; es wird daher auch keine vollständige Analyse der Entscheidungssituation angestrebt, sondern schrittweise die gemäß dem Informationsstand befriedigendste Lösung gesucht. In der Regel besitzt daher das Individuum auch die Fähigkeit, seine Entscheidung als nicht endgültig nach weiteren Informationen erneut zu überprüfen und zu ändern. Da bei den meisten Entscheidungen, die mit der Lösung von Problemen verbunden sind, unklar bleibt, welchem Endzustand der als unbefriedigend empfundene gegenwärtige Zustand zuzuführen ist und wie dies zu geschehen habe, also alles noch der Erprobung bedarf, steht zudem das Individuum während des Bewertungsprozesses nicht nur in einem latenten inneren
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Konflikt, sondern unter Irrtumsrisiko218. Irrtümliche Entscheidungen hinsichtlich des raumbezogenen Verhaltens sind also in gewisser Weise normal, ja, sie können sogar sinnvoll sein, denn durch diese lernt der Mensch. Durch Irrtum erst schält sich das Bewährte heraus219. Das Ausmaß der erfahrenen Frustration ist dabei für die Bereitschaft, unsere Wahrnehmung, unsere Einstellungen bzw. unsere sinngebenden Bewertungen zu modifizieren, von großer Bedeutung (vgl. u. a. Κ. H. DELHEES 1975, S. 143 f.). Allein um unsere Irrtümer, um falsches Verhalten ausgleichen zu können und um zu lernen, bedarf es der Veränderbarkeit unserer Bewertungen und Entscheidungen. Auch sinngebende Bewertungen müssen also immer wieder ausprobiert bzw. der Prüfung an der Realität unterworfen werden. Denn was ein Irrtum war, zeigt sich meist erst hinterher, folglich kann man auch zuvor nicht wissen, ob und wie sich Bewertung in Zukunft ändern wird. Die Variabilität der sinngebenden Bewertung verdeutlicht auch,.warum die gleiche Person auf gleiche Umweltreize zu unterschiedlichem Zeitpunkt durchaus unterschiedlich reagieren kann. Es gibt im individuellen Prozeß der Bewertungsfindung keine zwingenden und deterministischen Abhängigkeiten, stets sind vielfältige Kombinationen von Einflüssen und unterschiedliche Integrationen möglich. Bewertungen und Entscheidungen unterliegen nur in seltenen Fällen monokausaler Einwirkung, meist sind sie das Resultat komplexer Wechselwirkung. Mögen sich auch in einer Person bestimmte charakteristische Muster herausbilden ; geänderte Situation, neue Erfahrung etc. können sie verändern. Folgerichtig sind auch zwischen verschiedenen Personen die situativen Bewertungen mitunter recht verschieden. Gleiche Reize lösen bei verschiedenen Personen u. U. ganz verschiedene Reaktionen aus. Beim einzelnen wie einer großen Zahl von Menschen bleibt daher stets auch Ungewißheit bezüglich der Bewertungen und Entscheidungen in einer Situation. Unsere Bewertungen sind das Ergebnis eines situations- und personenspezifischen, potentiell variablen Wechselspiels zahlreicher Einflüsse. Und wir müssen uns klar darüber sein, daß dieser Prozeß nicht einem alleinigen und ständig vorherrschenden Prinzip, etwa dem, die größtmögliche Belohnung zu sichern, unterliegt, sondern durchaus mehrere Verhaltensorientierungen miteinander konkurrieren können. Je nach der Situation und Person kann sich ein anderes „Webmuster" der Einflüsse und eine andere Zielpriorität durchsetzen. Es gibt kein alleiniges dominantes zielgebendes Prinzip gemäß dem der Mensch bewertet und entscheidet, und es gibt keine allein und stets gültige Strategie, nach der der Mensch handelt. So einfach sind wir nicht konstruiert. Zwar unterliegen wir einer vergleichsweise stabilen Tendenz zur Sinnsicherung (Kap. 7.8) bzw. zur Sinnhaftigkeit unserer Entscheidungen, aber dieser kann unter Anwendung vielerlei Prinzipien und Strategien entsprochen werden.
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Jede Bewertung und jede Entscheidung bezieht sich auf eine bestimmte Situation. Und in der Regel sind die verschiedenen Situationen, mit denen sich eine Person im jeweiligen Raum zum jeweiligen Zeitpunkt konfrontiert sieht, in vielfältiger Weise strukturiert; sie sind durch mehrere Komponenten in jeweils besonderer Kombination gekennzeichnet. So befindet sich der Mensch meistens in einer „multivalenten Situation"; in dieser tatsächlichen und nicht in einer reduzierten „monovalenten" theoretischen Situation muß er entscheiden. Darüber hinaus ist nicht nur die Entscheidungssituation komplex, sondern dieser steht ein Mensch gegenüber, in dem sehr viele und unterschiedliche Handlungstendenzen und Entscheidungsprinzipien (s. o.) angelegt sind. Und diese Triebe, Bedürfnisse, Gefühle, Einstellungen, Verhaltensmuster, oder wie auch immer wir die beeinflussenden Elemente bezeichnen wollen, wirken nicht in stabiler und fixierter Intensität und in stets vorgegebener Hierarchie und Reihenfolge, sondern je nach Situation und Person gewinnen sie eine unterschiedliche Bedeutsamkeit. Die Komplexität der meisten tatsächlichen Lebens- und Entscheidungssituationen sowie der damit konfrontierten Personen begründen die Eigenart, die Besonderheit des einzelnen sinnorientierten Bewertungsprozesses. Dabei ist eine vielfältige Interaktion nicht nur zwischen den verschiedenen Einflußelementen (s. Abb. 2; 4-18), sondern auch zwischen den verschiedenen Verhaltenstendenzen (s. o.) wirksam. Es ist kaum möglich, das Spiel all dieser Komponenten und des differenziert steuernden Systems, aus dem die Bewertung erwächst, exakt zu erfassen oder zu messen. Der Voraussagbarkeit der Bewertung und Entscheidung werden daher, schon rein „technisch" gesehen, enge Grenzen gesetzt. Das schließt nicht aus, daß es möglich ist, in einfachen Entscheidungssituationen und in Kenntnis der für eine Person charakteristischen Einflußgrößen, Gewohnheiten, Sinnorientierungen etc. (der motivationalen und kognitiven Strukturen i. w. S.) annähernd zutreffende Voraussagen einfacher Verhaltensweisen zu machen. Aber diese Bedingungen sind in der Realität nicht oft gegeben. Je komplexer und je bedeutsamer die Entscheidungssituation ist und je differenzierter die Person und deren Verhaltensweisen sind, desto weniger ist verläßliche Prognose möglich. Dies hat seinen Grund nicht nur in der praktischen Unmöglichkeit der Messung, sondern in einem und vielleicht dem einzigen grundlegenden Prinzip der Bewertung: in der Reaktion auf die jeweilige Situation potentiell offen zu sein, um den individuellen Sinnbezug der Entscheidung zu ermöglichen. H. THOMAE (1974, S. 179) verweist darauf, daß für wichtige und existentielle, für „echte" Entscheidungen, die eine hohe Belastung darstellen, das Bemühen, das eigene Verhalten „offen" zu halten, also nicht determiniert und rasch zu entscheiden, charakteristisch ist.
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„Die Erfahrung der .Offenheit' gegenüber dem Gehalt der nicht eindeutigen Situation, wie sie sich in der Entscheidung ergibt, ist geeignet, dem Begriff der ,Freiheit' einen Sinn zu geben . . . . . . Freiheit wird hier, wie JASPERS betont, im Vollzug erfahren, in dem nicht restlosen Einklinken dieses oder jenes Aspekts einer Situation in diese oder jene Reaktionsbereitschaft."
Die Entscheidungen, die unsere Lebensführung und unsere Art und Weise im Raum zu leben betreffen, sind für uns im allgemeinen so bedeutsam, so existentiell relevant, daß die Offenheit für die Situation und deren verschiedene Möglichkeiten geradezu erforderlich ist, allein schon, um Irrtümer korrigieren zu können. Nicht zuletzt wird mit der situationsoffenen Bewertung die Reaktions- und Anpassungsfähigkeit und damit die Überlebensfähigkeit des Menschen beträchtlich gesteigert. Das Spiel der Einflüsse und Tendenzen ist also hinsichtlich der Ausrichtung unserer Bewertung variabel und offen-, das heißt nicht, daß es unbeeinflußt, willkürlich, ohne Abhängigkeit von Situation, Einflußgrößen und Person erfolgt. Das Herausdestillieren der konkreten Bewertung ist zugleich ein Akt der Sinnsetzung; die situative Bewertung ist nicht zu trennen vom Sinnhintergrund, den sich eine Person durch Bewertung immer wieder neu setzt. So ordnet Bewertung die Vielzahl der Einflüsse im Hinblick auf den Sinn des Handelns, sie sichert und artikuliert am konkreten Entscheidungsfall den Sinnbezug und wird so zur Voraussetzung sinnorientierter und nicht zufälliger bzw. beliebiger Entscheidung (Kap. 7.8). Bewertung und Entscheidung sind „frei" und variabel hinsichtlich des Weges und der Art, sinnorientiert zu entscheiden; sie sind, wenn auch durch das Vorleben einer Person, durch Kultur und Situation eingeschränkt, relativ „frei" und variabel hinsichtlich der Art des Sinnbezuges. Damit haftet den Bewertungen und den Entscheidungen des Menschen (auch in seinem Lebensraum) nicht nur potentielle Variabilität, sondern zugleich auch potentielle Unwägbarkeit an, nicht jedoch ungebundene Beliebigkeit. Verhalten ist stets irgendwie abhängig und zudem auch irgendwie orientiert, und das engt den Verhaltensspielraum ein. Auch ist nicht zu verkennen, daß Personen, Gruppen oder auch ganze Kulturgemeinschaften auf bestimmte lebensräumliche Bedingungen und Umgebungsreize einschließlich der damit verbundenen sozialen Gehalte in jeweils immer wieder ähnlicher oder gar gleicher Weise reagieren. Dabei ist zu bedenken, daß neben relativ stabilen genetischen Verhaltenstendenzen, neben der Wirkung von Tradition und Erfahrung etc. sich im Laufe einer Lebensgeschichte wie auch der Kulturgeschichte personale wie kollektive Wahrnehmungs- und Handlungsschemata herausbilden, die sich nur langsam ändern und so eine gewisse Konstanz des Verhaltens fördern. Dies darf jedoch nicht zum Irrtum verführen, räumlich-
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soziale Umgebung determiniere das menschliche Verhalten. Sehen wir ab von einer bestimmtes Verhalten erzwingenden Ausstattung (Türklinken muß man drücken, um die Tür zu öffnen), so bleibt Verhalten unter vorgegebenen räumlich-sozialen Bedingungen, aufgrund des beschriebenen Bewertungsprozesses, innerhalb gewisser Grenzen potentiell veränderlich - und dies beim einzelnen wie auch bei der Gruppe oder Kulturgemeinschaft. Damit auch wird deutlich, warum die oft geäußerte Behauptung, daß durch die Umgebung bzw. die Umwelt das Denken und Verhalten bestimmt würde (durch die Objekte, das Subjekt), als ungenügend zurückgewiesen werden muß. Sie stellt eine ähnlich problematische Vereinfachung und Verkennung der Wirklichkeit dar, wie die hinlänglich strapazierte Formel, daß das materielle Sein das gesellschaftliche Bewußtsein bestimme. Umgebung (lebensräumliche Bedingungen) und Sinngebung (sinngebende Bewertung) bestimmen einander in Selbstregulation wechselseitig und variabel.
7.10 Zur Frage der Voraussagbarkeit und Regelhaftigkeit Unsere Reaktionen auf Umweltreize sind potentiell variabel und daher kaum voraussagbar, dies umso mehr, je komplexer die Situation ist. Das heißt, daß auch unser raumbezogenes Verhalten nicht exakt und verläßlich zu prognostizieren ist. Schon die geringste Modifikation einer Konstellation sowohl bezüglich der situativen Voraussetzung wie auch der entscheidenden Personen vermag abweichende oder völlig andere Entscheidungen auszulösen. Der Entscheidungsprozeß unterliegt durchaus dem Effekt „kleine Ursache, große Wirkung"; durch Veränderung auch nur einer Einflußgröße, sei sie anscheinend noch so unbedeutend, kann die gesamte systemare Vernetzung des Bewertungs- und Entscheidungsprozesses (s. Abb. 2) zu einem völlig anderen Resultat führen. Bislang beobachtete Ähnlichkeiten des Verhaltens können sich also sehr rasch auflösen. Auch wenn die Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum in ihrer Struktur in etwa mit Hilfe des beschriebenen Regelkreises verdeutlicht werden kann, vermögen wir doch das Ergebnis der Regelung nicht verläßlich vorauszusagen. Es gibt keine direkte Kausalität zwischen räumlicher Realität (1) und menschlichem Verhalten (21). Daher schaffen auch weitestgehend gleiche Bedingungen noch lange keine weitestgehend gleichen Resultate, nicht zuletzt auch, weil die bewertenden Menschen nicht gleich sind und nicht in gleicher Weise denken und bewerten. Die verschiedenen Einflußgrößen (Kap. 7.7) werden innerhalb des Denkprozesses, und dieser schafft raumbezogene Bewertung, bei unterschiedlichen Menschen unterschiedlich wirksam. Unterliegt der eine vor allem seiner Vorstellungsgabe und Phanta-
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sie, bleibt ein anderer ängstlich der Gewohnheit verhaftet. Zudem sind viele verschiedene personenspezifisch „homöostatische" Zustände bzw. Ubereinstimmungen zwischen Mensch und Raum möglich220. Das Elend aller Prognose des sozialen Verhaltens und damit auch des Verhaltens im Lebensraum wird sichtbar. Menschliches Verhalten enthält eben stets auch eine Menge an Unwägbarkeit - notwendigerweise, da ohne Variabilität der Bewertung und des Handelns die Fähigkeit gemindert würde, unter gewandelten Bedingungen zu überleben. Das begründet auch die Fragwürdigkeit aller Simulationsmodelle des lebensräumlichen Verhaltens. Sie stehen unter der Ceteris-paribus-Klausel, denn sie wurden aus der Analyse konkreter Bedingungen erarbeitet; aber diese „sonst gleichen Bedingungen" existieren im menschlichen und gesellschaftlichen Leben kaum. Stets sind ja Entscheidungen und das Handeln vielfältig bedingt und genau dieses differenzierte Bedingungsgefüge und die davon beeinflußte Reaktion des Menschen kann sich rasch und schon durch minimalste Einflüsse verändern. Handeln bleibt bewertungsabhängig, und die synergetischen sinnbezogenen Bewertungen des Menschen wandeln sich durchaus; sie müssen dies, um den sich wandelnden Situationen gerecht zu werden. Das bedeutet allerdings nicht, daß unser Verhalten stets völlig beliebig und irregulär ist. Eine gewisse Stabilität und Regelmäßigkeit, eine, wenn auch begrenzte Regelhaftigkeit des Verhaltens ist ebenso möglich. Unser Verhalten ist zwar die Konsequenz einer potentiell variablen bzw. im konkreten Fall veränderten Bewertung, aber es liegt ja zugleich immer wieder unter dem Zwang, sich zu bewähren und wird so am Kriterium der Wirklichkeit, der Erfahrung kontrolliert. So kann sich angesichts einer bestimmten, immer wieder gleichen Situation für den einzelnen oder eine Gruppe durchaus ein gleiches, weil bislang bewährtes und Gleichgewicht schaffendes sowie sinnvolles Verhalten entwickeln, das dann als geradezu regelhaft erscheint. Neben dieser regelnd wirkenden Bewährung stellen die verhaltensgenetischen Bindungen und evtl. auch typologische und konstitutionelle Gemeinsamkeiten (im Sinne von A. MEHRABIAN, 1 9 7 6 oder E. KRETSCHMER, 1 9 6 7 ) sowie die physiologischen Notwendigkeiten weitere stabilisierende Elemente unseres konkreten Verhaltens im Raum dar. Auch kann ein spezifischer kultureller Rahmen, der Konformitätsdruck einer Kultur, die Vernunft, der Zwang der Situation etc. durchaus nahezu analoges und anscheinend regelhaftes Verhalten hervorbringen. Da bei der verschmelzenden Bewertung eine vielfältige direkte und rückkoppelnde Beeinflussung der beeinflussenden Elemente erfolgt, können gleiche situative Voraussetzungen in gleicher Weise beeinflussend auf andere Einflußgrößen wirken, wie auch diese wieder in entsprechend gleicher Weise weiterwirken. Zwar muß man beim synergetischen Bewertungsprozeß auch davon ausgehen, daß geradezu „alles alles
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beeinflussen" kann, aber die wechselseitige Beeinflussung der verschiedenen Bewertungselemente kann sich auch nach gleichem Muster und mit gleichem Resultat vollziehen. Entsprechend können qualitativ und quantitativ situationsspezifische Bewertungsabläufe einsetzen; auf Grund einer spezifischen Bewertungskonstellation, auf Grund einer situationsspezifischen Vernetzung des Bewertungsvorganges bilden sich dann bei vielen Menschen ähnlicher Sinnorientierung gleiche bzw. ähnliche Entscheidungen. Es lassen sich also durchaus mehr oder minder typische Häufungen bestimmter Bewertungen und Verhaltensweisen beobachten. Das ist vor allem dann der Fall, wenn in einer besonders eindeutigen und monovalenten Situation oder unter dem Druck zwingender und allgemein akzeptierter Prioritäten die gleichen Einflüsse dominieren und sich gleiche Handlungstendenzen durchsetzen. Die Situation vor einer roten Verkehrsampel ist eindeutig, und man wird um der eigenen Sicherheit willen ebenso wie der Nachbar warten, bis die Weiterfahrt gestattet ist. Aber erzwungenes, annähernd gleiches Verhalten im Straßenverkehr belegt noch nicht die Regelhaftigkeit anderer, differenzierterer raumbezogener Verhaltensweisen, sie laufen nicht gesetzmäßig ab. Stets können unterschiedlichste Einflüsse variierend wirken. Über einer bedingt stabilisierenden Verhaltensgrundlage des Menschen vermag unterschiedlich verschmelzende und sinngebende Bewertung stets den Wandel des konkreten Verhaltens im Raum auszulösen, durchaus auch gegen bewährte Verhaltensweisen und gegen genetisch vorgegebene Verhaltenskomponenten.
7.11 Zusammenfassung Fassen wir noch einmal die wesentlichen Aussagen unseres theoretischen Ansatzes zusammen: Das raumbezogene Verhalten des Menschen ist von seiner sinngebenden Bewertung, der selektiv wahrgenommenen Realität abhängig. Der Prozeß der Bewertung läuft als ein hochkomplexer Vorgang vielfältiger Wechselwirkungen und inhärent hoher Veränderlichkeit ab. Dabei sind sowohl verhaltensgenetische wie kulturabhängige Einflüsse, physiologische wie seelische, rationale wie irrationale Einwirkungen beteiligt. Dieser sinnbezogene synergetische Bewertungsprozeß unterliegt der Tendenz, Sinngebung zu sichern oder zu schaffen und daran orientiert inneres Gleichgewicht, die Einheit des Selbst sowie Gleichgewicht und Verträglichkeit zwischen den räumlichen Lebensbedingungen und der Person auf dem personenspezifisch angemessenen Niveau zu gewinnen, wobei jedoch stets das Risiko des Irrtums bleibt. Ein grundlegendes Merkmal der Bewertung ist die Offenheit gegenüber
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der Situation und deren Wandlungen. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist die personenspezifisch veränderliche Verarbeitung dieser Situation. Beides wird durch die Möglichkeit, die koordinierende Sinngebung variieren zu können, eine Leistung des Denkens, erleichtert. So ist der synergetische und sinngebende Prozeß der Bewertung lebensräumlicher Informationen durch potentielle Variabilität gekennzeichnet. Entsprechend können sich auch unsere raumbezogenen Entscheidungen relativ leicht und rasch ändern, selbst angesichts gleicher räumlicher Realitäten. Darin wurzelt auch unsere Fähigkeit, Irrtümer zu korrigieren. Menschliches Verhalten und lebensräumliche Realität sind, koordiniert durch sinngebende Bewertung, in plastischer Selbstregulation miteinander verbunden, deren „Spiel" sowohl die Veränderlichkeit anpassenden Verhaltens wie auch der aktiven Umformung der Umgebung einschließt. Aus der potentiellen Variabilität unserer Entscheidungen leitet sich zugleich die Unmöglichkeit ab, komplexes raumbezogenes Verhalten des Menschen in multivalenten Situationen verläßlich vorauszusagen. Es kann zwar nicht von einer „Freiheit" der Entscheidung im Sinne eines völlig willkürlichen Verhaltens bzw. einer bedingungslos beliebigen oder nur dem Zufall unterworfenen Entscheidung gesprochen werden, durchaus aber von der „Freiheit", unter gegebenen Bedingungen und Situationen in Abhängigkeit von der individuellen, potentiell variablen Bewertung unterschiedlich und wandelbar zu entscheiden. Die Freiheit, sinngebende Bewertung variieren zu können, begründet die Variabilität der Entscheidung und die Unmöglichkeit verläßlicher Voraussage. Das schließt jedoch eine begrenzte personen- oder situationsspezifische Regelhaftigkeit des raumbezogenen Verhaltens nicht aus.
7.12 Konsequenzen Es ist für unsere weiteren Überlegungen nicht wichtig zu wissen, wie nun genau die neuronalen Prozesse und Steuerungen, die zur Bewertung der räumlichen Phänomene führen, in ihrer vielfältigen Kausalität oder Zufälligkeit ablaufen, wie das Gehirn Bewertung und deren Variabilität schafft. Die volle Einsicht in die Funktionsweise des Gehirns wird uns wahrscheinlich ohnehin verschlossen bleiben (J. C. ECCLES, 1973). Denn unser Denken ist als eine Hervorbringung unseres Gehirns überfordert, wenn es dessen Arbeitsweise erklären soll; bedarf es doch zur Erklärung eines Systems des Einsatzes eines übergeordneten Systems. Aber genauso, wie man die letzten Geheimnisse der Welt nicht kennen muß, um sinnorientiert und wohlbefind-
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lieh zu leben, bedarf es nicht der genauen Kenntnis des detaillierten Ablaufes der raumbezogenen Entscheidung, um einen zuträglichen Lebensraum zu gestalten. Viel wichtiger ist es, aus der Einsicht, daß die Bewertung der lebensräumlichen Situation potentiell variabel ist, wie dies im vorgestellten Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie behauptet wird, die richtige Konsequenz für die Praxis zu ziehen. Da zudem unsere Bewertungen irrtumsverdächtig sind, kann diese Konsequenz nur lauten: Wir müssen unseren Lebensraum so gestalten, daß das Individuum gemäß seiner Bewertung die ihm sinnvoll erscheinende raumbezogene Lebensform auswählen, die getroffene Wahl aber gegebenenfalls auch wieder verändern kann. Das heißt, es muß ein größtmögliches Angebot verschiedener Möglichkeiten der individuellen Raumnutzung eröffnet werden, das zugleich möglichst leicht zu variieren und anzupassen sein muß. Unsere lebensräumlichen Strukturen bedürfen also der Vielfalt und der Flexibilität. Nur so kann den vielen Menschen unterschiedlicher Bewertungen die Möglichkeit zur Auswahl und Korrektur, zur Erprobung der individuell voraussichtlich bestbewährten Raumnutzung geboten werden. Nun sind ja die raumbezogenen Bewertungen im Menschen nicht von vornherein fixiert, vielmehr entwickeln sie sich in engster Bindung an das Handeln. Das Wahrnehmen der lebensräumlichen Realität, das DarüberNachdenken und Bewerten sowie das Entscheiden und Handeln sind über einen selbststeuernden Regelkreis miteinander verbunden und formen einander. Je nach den Möglichkeiten zu handeln, werden wir auch Unterschiedliches wahrnehmen und unserer Individualität gemäß unterschiedlich bewerten, wodurch wiederum unser Verhalten eine sehr personenspezifische Orientierung erhält. Zwar verdeutlicht uns dieser Zusammenhang, daß es keinen direkten und determinierenden Einfluß der Umgebung auf das Verhalten und Denken gibt; der Raum prägt uns nicht unmittelbar. Die Bewertung relativiert und eröffnet Spielraum, dennoch aber entwickelt sich die Person doch auch in Zusammenhang mit den Möglichkeiten des Handelns, Erlebens und Denkens, die der Raum gewährt. Unsere Innenwelt formt sich in aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt heraus. Und wie soll sich ein Individuum entfalten und die in ihm angelegten Möglichkeiten voll entwikkeln, wenn es durch ungünstige lebensräumliche Bedingungen kaum Resonanz, kaum Anreiz, kaum Handlungsmöglichkeit erhält. Die Interaktion zwischen Mensch und Umgebung, wie sie der aufgezeigte Regelkreis beschreibt, bedarf des Spielraums. So wie jeder die Welt anders erlebt, bedarf er auch anderer Handlungsmöglichkeiten, um die für ihn angemessene Sinnorientierung zu finden, um zu erproben, was seiner Selbstverwirkli-
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chung, seinem Wohlbefinden dient. Dazu bedarf es der Gelegenheiten, des Entscheidungs- und Handlungsspielraumes. Es kann nicht verwundern, wenn Menschen unter den Lebensbedingungen großstädtischer Wohnblöcke ihre Gestaltungsfähigkeit, ihr Begabungspotential mangels Gelegenheit oder durch zu häutige Störung nicht voll entwikkeln. Der Mensch vermag seine Identität vor allem durch zu ihm passendes, seinen Begabungen, Interessen, Erfahrungen etc. gemäßes Handeln zu finden. Handeln aber vollzieht sich im Lebensraum. Damit sich der Mensch als Selbst im Umgang mit seiner Umgebung finden kann, muß diese eine gewisse Wahlfreiheit eröffnen, sie muß Gelegenheit geben, gemäß der individuellen Sinnorientierung im Raum leben zu können. So wird auch klar, wie fragwürdig es ist, die gebaute Umwelt mit mehr oder minder stereotypen und genormten Einrichtungen (etwa für die Freizeit) zu versehen und sie gemäß starrer Vorgaben zu gestalten und langfristig festzulegen. Da wir das raumbezogene Verhalten als potentiell variabel und personenspezifisch erkennen müssen, liegt in solchen Festlegungen stets die latente Gefahr, die Abhängigkeit des Menschen, Einengung und Anpassungsdruck zu erhöhen. Da die tatsächlichen Entscheidungen eines Menschen wesentlich von der Art der Anreize und von der Erreichbarkeit bzw. der praktischen Durchführbarkeit seiner Vorstellungen beeinflußt werden, ist es notwendig, den Lebensraum planerisch so zu gestalten, daß durch entsprechendes Angebot einerseits deutliche Anreize für die verschiedenen raumbezogenen Lebensformen und andererseits Wege, diese zu verwirklichen, geschaffen werden. Dann wird es dem einzelnen erleichtert, räumliche Verhaltensweisen und Bedingungen anzustreben und zu erproben, die seinen Bewertungen, seiner Sinnorientierung sowie seinem optimalen Stimulationsniveau und so seinem spezifischen Mensch-Raum-Gleichgewicht gerecht werden. So ist raumbezogene Planung unter die Zielsetzung zu stellen, durch Anreiz und Vielfalt des Angebotes, durch Gelegenheit und Wahlfreiheit dem Menschen einen größtmöglichen Handlungsspielraum einzuräumen, der ihm gestattet, die seiner Sinnorientierung gemäße raumbezogene Lebensform und damit eine Komponente des „Glücklichseins" zu suchen und zu finden. Aus der Konzeption, größtmögliche Vielfalt des Angebots und Handlungsspielraum zu eröffnen, darf jedoch nicht abgeleitet werden, daß man bei der Planung des Lebensraumes, für alle Möglichkeiten offen, gewissermaßen wild darauflos experimentieren kann, in der Annahme, daß ja ohnehin stets unsicher sei, ob eine Planungsmaßnahme, ob eine Möglichkeit der Raumnutzung überhaupt „angenommen" wird, ob sie sich bewährt oder wieder geändert wird. Gibt es auch keine Sicherheit, so ist doch das Irrtumsrisiko bei den einzelnen Maßnahmen unterschiedlich hoch, so daß die Planung vor
Konsequenzen
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allem auch diejenigen Möglichkeiten anbieten soll, die ein vergleichsweise geringes Irrtumsrisiko enthalten oder nach denen eine deutliche Nachfrage besteht (ζ. B. Angebot von Baugelände, Erholungsmöglichkeiten). Mit dieser sehr pragmatischen Konzeption steht man zumindest nicht völlig im Nebel der Ungewißheit. Eine dem Menschen gerecht werdende Lebensraumgestaltung zu betreiben, bedeutet aber vor allem, die Offenheit für veränderte, wenn auch noch nicht genau bekannte Raumnutzungen zu erhöhen, unter der einschränkenden Bedingung, daß zuträgliche, der Gesunderhaltung dienende Lebensbedingungen entstehen. Der Offenheit menschlicher Entscheidung für den Aufforderungscharakter der Situation muß sich die Offenheit der Planung für gewandelte Bewertung und In-Wert-Setzung der lebensräumlichen Faktoren zugesellen. Eine Planung, die die aufgezeigten Aspekte berücksichtigt und eine Vielfalt veränderlicher Möglichkeiten der Raumnutzung anstrebt, wäre dem Charakter der Entscheidungsfindung und dem Verhalten des Menschen gemäß. Der Abbau unnötiger Anpassungszwänge und nicht die Einordnung in ein starres Raumnutzungsmodell wird dem Wechselspiel zwischen Raum und Mensch gerecht. Daß eine so orientierte Raumplanung zu chaotischen Raumnutzungen und Siedlungsstrukturen führt, ist nicht erwiesen und auch nicht sehr wahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, daß ein solches konfliktreiches Chaos entsteht, wenn der einzelne angesichts einer Vielzahl von Einschränkungen doch versucht, seine persönlichen Bestrebungen durchzusetzen und diese dann den durch die Planung vorgegebenen Rahmen sprengen bzw. unkoordiniert umgehen. Planung hat also den koordinierenden Rahmen für eine Raumstruktur zu setzen, die der potentiellen Variabilität der Bewertung entspricht und Handlungsspielraum eröffnet; sie hat zugleich diejenigen Bewertungen, die dem entgegenwirken, in verträgliche Bahnen zu lenken. Daß dies mit Hilfe entsprechender Leitbilder der räumlichen Entwicklung zumindest in etwa möglich ist, wird im Verlauf der vorliegenden Darstellung anhand des raumbezogenen Leitbildes des Stadt-Land-Verbundes zu zeigen sein.
8. Notwendigkeit eines flächenbezogenen Leitbildes und prognostischer Aussagen
Der Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie verdeutlicht, daß die raumbezogene Verhaltensweise des Menschen, in Abhängigkeit von der unterschiedlichen Wahrnehmung (2), Deutung (3) und synergetischen Bewertung (19) sowie von den räumlichen Existenzbedingungen (1), personen- oder gruppenspezifisch und situationsabhängig außerordentlich unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Das raumbezogene Verhalten der Menschen ist von vornherein durch eine gewisse Relativität und Unwägbarkeit gekennzeichnet und, damit eng verbunden, durch Verschiedenartigkeit. Diese äußerst unterschiedlichen Aktivitäten des Menschen im Raum und die verschiedenartigen Flächennutzungsansprüche erzwingen aber Koordination. Bei unkoordinierter Konkurrenz der einzelnen Flächennutzungsansprüche würden mit hoher Wahrscheinlichkeit die weniger konkurrenzfähigen - weil z. B. finanziell geringer abgesichert - abgedrängt, ungeachtet ihrer tatsächlichen Bedeutung für die Wohlfahrt und die Gesundheit des Menschen. Erst wenn alle Flächennutzungsansprüche mit dem Gewicht ihres Beitrages zum Wohlbefinden, zur Wohlfahrt, zum „Glück", zur Gesundheit der Menschen, zum individuellen und kollektiven „Nutzen", oder wie auch immer die einzelnen Kriterien eines auf Befriedigung gerichteten Lebens heißen mögen, gegeneinander konkurrieren könnten, wüchse die Wahrscheinlichkeit, daß sich optimale Flächennutzungen „selbstregelnd" herausbilden. Jedoch die Kriterien des Glücks sind vielfältig und abhängig von der sinnbezogenen Bewertung des einzelnen, von seinem Anspruchsniveau und seiner Bezugslage221 etc. Konkreter „Nutzen" enthält stets eine subjektive Komponente; er kann stärker auf den Moment oder aber auf das gesamte Leben gerichtet sein222. Einen allgültigen, gewissermaßen objektiven Nutzen, einen „Nutzen an sich" in detaillierter, für alle verbindlicher Aufgliederung gibt es nicht. So werden die Elemente des Nutzens wie auch des Glücks vom einzelnen oder von den Gruppen unterschiedlich gewichtet und entsprechend mit unterschiedlichem Nachdruck angestrebt. Wir sind also weit entfernt von der Wirksamkeit einer invisible hand, die eine Optimierung des Gesamtnutzens - was auch immer das sein möge - und eine entsprechende Flächennutzung selbstregelnd verwirklicht223. Daher werden wir nicht aus der Notwendigkeit entlassen, auch bezüglich der Flächennutzung Prioritäten so zu setzen, Leitbilder so zu konzipieren, daß
Notwendigkeit eines flächenbezogenen Leitbildes
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zwar unterschiedlichste raumbezogene Verhaltensweisen möglich sind, vor allem aber Schädigung des Menschen wie auch der Biosphäre vermieden wird. Gleichzeitig muß dem einzelnen bezüglich seiner Raumnutzung die Möglichkeit gegeben werden, eine Lebensführung zu erproben, die ihm, wenn auch nicht unbedingt optimalen, so doch relativ hohen Gesamt-Lebens-Nutzen224 verspricht - gebunden an die Bedingung, den Nutzen der anderen nicht bzw. nur in vertretbarem Maß zu beeinträchtigen. Ebenso wäre der kollektive „Nutzen"225, auch in seinen Flächenkonsequenzen (öffentliche Einrichtungen, Infrastruktur etc.), dahingehend zu steigern, daß er die bestmögliche Ergänzung zum individuellen „Nutzen" aller darstellt. Dementsprechend sind die Zielvorstellungen der kleinräumlichen, regionalen und überregionalen Flächennutzung festzulegen. Freilich bleibt anzumerken, daß es außerordentlich schwierig ist, konkrete kollektive und individuelle Nutzenziele bzw. Glückskomponenten, differenziert nach der Rangfolge ihrer Bedeutung einschließlich ihres Flächenbezuges, leitbildhaft herauszuarbeiten. Ungeachtet dessen dürfen entsprechende Gesichtspunkte zur Herbeiführung einer zuträglichen und damit nutzenorientierten Raumnutzung bzw. einer auf's Glücküchsein gerichteten Raumgestaltung nicht vernachlässigt werden. Wir können also auf ein flächenbezogenes Leitbild nicht verzichten. Steht ein solches flächenbezogenes Leitbild unter dem Ziel, eine Regelung des Verhältnisses Mensch-Raum unter der Vermeidung von Schädigung bzw. schädigenden Anpassungen zu ermöglichen, so wird es, aufbauend auf allgemeinen Leitvorstellungen (vgl. fünfter Teil, Kap. 1.2) dennoch eine regional jeweils besondere Ausprägung erfahren müssen, orientiert am besonderen regionalen Potential. Zur Verdeutlichung dieses regionalen Potentials werden prognostische Bemühungen erforderlich. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Prognose der Bevölkerungszahl. Die zukünftige Bevölkerungszahl entscheidet wesentlich über das erforderliche Ausmaß und die voraussichtliche Auslastung der infrastrukturellen Einrichtungen. Durch die Bevölkerungszahl und die Zahl und Art der Arbeitsstätten und die erforderliche Infrastruktur vor allem werden die Flächennutzungsansprüche in einer Region bestimmt226. Um gezielte und koordinierende Gebietsentwicklung zu ermöglichen, sind flächenbezogenes Leitbild und gebietliches Potential bzw. Prognosedaten, in ihrer wechselseitigen Beeinflussung, zueinander in Bezug zu setzen. Leitbild und Prognose sind zwei wichtige Komponenten zur exogenen Einwirkung auf die Regelung des Mensch-Raum-Verhältnisses. Wir werden uns daher im zweiten und dritten Teil der regionalen Prognose zuwenden, im fünften Teil das flächenbezogene Leitbild konzipieren und im vierten Teil beider Verknüpfung im Rahmen eines Vorschlages zum Verfahren der regionalen Lebensraumgestaltung erörtern.
Zweiter Teil
Die Problematik der sozialen Prognose Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.
1. Prognoseverfahren
In den letzten Jahren wurden in zahlreichen Veröffentlichungen Methoden und Möglichkeiten der regionalen Prognose (vor allem der Bevölkerungsprognose) erörtert. Häufig scheint allerdings dabei das Verlangen des Praktikers nach Orientierungsdaten zur Vorbereitung der Zukunft und der Wunsch des Wissenschaftlers nach Quantifizierung auch des noch nicht Bekannten, die methodologischen Bedenken verdrängt zu haben. Vereinfachend unterscheiden wir 3 Typen von Prognoseverfahren, die sich freilich teilweise überschneiden: Extrapolationen, Modellprognosen, Schätzungen.
1.1 Prognostische Extrapolation Dabei werden zunächst in der Vergangenheit oder Gegenwart beobachtete Phänomene in ihrer bisherigen Entwicklung als mathematische Funktionen oder als Trendlinien dargestellt. Davon ausgehend, werden, je nach dem Kurvenverlauf der Funktion bzw. der Trendlinie, Voraussagen für den Zeitraum jenseits der bisherigen Beobachtung abgeleitet. Es wird also unterstellt, daß sich bestimmte Meßdaten einem Trend oder einer bestimmten Kurve folgend (ζ. B. Wachstumskurve) entwickeln. Wichtig für die Vorhersage ist die Auswahl oder Erarbeitung des „passenden", also die Entwicklung eines Sachverhaltes möglichst angemessen kennzeichnenden Funktionstyps. Die Hypothese, daß es eine jeweils angemessene Funktion für die Entwicklung bestimmter Daten (ζ. B. Beschäftigtenentwicklung einer Branche) gibt, die Vorhersagequalität besitzt, ist die durchaus zweifelhafte Voraussetzung derartiger Verfahren227. Wird doch damit angenommen, daß hinter den beobachteten Daten ein regelhafter Zusammenhang und damit eine die Entwicklung erklärende Theorie (vgl. Kap. 2.3), steht. Diese Annahme ist jedoch, da die Funktion lediglich auf vorausgegangenen Beobachtungen beruht, keineswegs gerechtfertigt228 (vgl. Kap. 2.2). Zwar wurden zahlreiche Verfahren entwickelt, um solche Trends und Funktionen direkt, etwa aus verfügbaren Wirtschaftsdaten (ζ. B. Zeitreihenforschung, Invarianzforschung) oder indirekt (durch Strukturforschung, Verflechtungsanalyse) abzuleiten und dabei gleichzeitig den zukünftigen Trend beeinflussende Phänomene einzubauen (ζ. B. Grenzwertforschung, Schwellenwertforschung, Substitutionsforschung)229, um so die Trends entsprechend
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Prognoseverfahren
zu bereinigen, zu glätten, zu variieren. Aber alle diese Verfahren können nicht dem logischen Induktionsproblem (vgl. Kap. 2.2) ausweichen, wonach es unzulässig ist, von der Beobachtung bisheriger Einzelfälle unmittelbar auf noch nicht vorliegende Fälle zu schließen. Extrapolationen enthalten, selbst bei ausgeprägter Korrektur, als eine wesentliche Grundlage die Erfahrung mit bisherigen Fällen230. Wir bestreiten nicht einen gewissen Wert der extrapolierenden Methode besonders für kurz- und mittelfristige Voraussagen, gleichwohl bleibt sie unbefriedigend und irrtumsverdächtig. Die noch folgende Erörterung der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Prognose (vgl. Kap. 2; 2.2; 2.3.2) wird dies verdeutlichen.
1.2 Prognosemodelle Da Entwicklung in der Wirtschaft wie auch der gesamten Gesellschaft in der Regel auf der Wechselwirkung zahlreicher Faktoren beruht, die sich vielfach durch Rückkoppelung steuern, so daß die Änderung einer Größe nur selten unabhängig erfolgt, empfiehlt es sich, dieses Wirkungsgefüge der Faktoren aufzudecken. Mit Hilfe der Systemtheorie und -analyse wären daher Modelle der Wirklichkeit herauszuarbeiten, die das System der tatsächlichen Abhängigkeiten so freilegen, daß es für prognostische Zwecke operabel wird231. Nun sind im sozialen bzw. wirtschaftlichen Bereich die Abhängigkeiten und Wechselwirkungen meist so komplex, daß für Voraussagezwecke mehr oder minder stark vereinfachte Modelle und Teilmodelle der Wirklichkeit verwendet werden müssen, um aufgrund des begrenzten Datenmaterials überhaupt Voraussagen errechnen zu können. Diese Vereinfachung der Wirklichkeit ist eine wesentliche Quelle der Irrtumsanfälligkeit, da kleine unberücksichtigte Nebenbedingungen größte verändernde Wirkung haben können. Die Anwendung solcher mehr oder minder theoretischen Modelle der Wirklichkeit zum Zwecke der Voraussage ist umso eher gerechtfertigt, je stärker die Modelle auf einer Theorie beruhen, die nach bisherigem Wissensstand durch empirische Überprüfung als mit den Tatsachen übereinstimmend anzusehen ist. Werden mehrere Teilmodelle über ein Grundmodell zu einem komplexeren und dynamischeren Prognosemodell integriert oder arbeitet man von vornherein mit einem komplexen Modell, steigt ebenfalls die Irrtumsanfälligkeit, da dann immer mehr Aspekte der Vielfalt menschlichen Verhaltens einzubeziehen sind, es immer schwerer wird, eine determinierende Theorie zugrunde zu legen232. Relativierende Gesichtspunkte gewinnen zunehmend Bedeutung (vgl. Kap. 2.3.4; 2.4).
Erste praxisbezogene Einwände
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1.3 Subjektive Bewertung und Schätzung (i. w. S.)233 Hierbei erfragt man über sehr unterschiedliche Verfahren die Auffassungen von einzelnen oder zahlreichen Personen, in der Regel Experten, zu bestimmten Entwicklungen und unterwirft deren Aussagen durch wechselseitige Konfrontation der Überprüfung. Als entsprechende Verfahren werden Planspiele, die Delphi-Methode, Brainstorming, Ideenkonferenzen, Klausurbefragungen usw. angewandt. Ziel ist dabei immer, die Vielfalt denkbarer Möglichkeiten herauszuarbeiten und bewertend bestimmte Abläufe als wahrscheinlicher zu erkennen. Häufig wird dabei die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu Hilfe gezogen (Monte-Carlo-Methode, Spieltheorie, Entscheidungstheorie), um auf bestimmten Bewertungen beruhendes Verhalten mit Hilfe subjektiver Wahrscheinlichkeitsschätzungen vorauszusagen. Wir gehen auf diese Methoden nur am Rande ein; ihre Berechtigung ist unbestritten, ebenso aber die Unfähigkeit, Zukunft verläßlich vorauszusagen.
1.4 Erste praxisbezogene Einwände In der Praxis finden sehr häufig (ζ. B. für die Bevölkerungsprognose) vor allem projektive Verfahren Anwendung, die mit Hilfe der Regressionsanalyse und nachfolgender Extrapolation die vermeintlich herrschenden Tendenzen - wenn auch meist bereinigt - fortschreiben. Doch handelt es sich dabei um vergleichsweise naive prognostische Verfahren. Zwar verweist O . BOLLSTEDT (1965, S. 12) auf eine trendstabiüsierende Wirkung durch ein gewisses Beharrungsvermögen im generativen Verhalten der Bevölkerung und durch die einmal vorhandene Infrastruktur, er sieht allerdings in dieser relativen Stabilität keineswegs eine Rechtfertigung für „strenge Trendgläubigkeit". Methodologisch ist der Schluß, daß etwas, weil es in der Vergangenheit in bestimmter Weise wirksam war, so auch in Zukunft gelten dürfte, unzulässig (vgl. Kap. 2.2). Wie rasch als relativ stabil unterstellte Größen sich verändern können, zeigt der extrem starke Wandel gerade des generativen Verhaltens in den letzten Jahren, woraus wiederum nicht ohne weiteres abgeleitet werden kann, daß die gegenwärtig geringe Geburtenhäufigkeit als langfristiges Phänomen anzusehen ist. Ebenso ist ζ. B. eine infrastrukturelle Ausstattung heute relativ schnell veränderbar, wie auch die Bewertung vorgegebener Infrastruktur durch den Menschen rascher Veränderung unterliegt. Die, wenn auch vielfach verfeinerten, Verfahren der Regionalprognose bzw. der kleinräumlich angewandten Prognoseverfahren vernachlässigen außerdem meist einen sehr wesentlichen Sachverhalt, die gebietliche Relativität der entwicklungsbeeinflussenden Abhängigkeiten und Trends. Die glei-
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Prognoseverfahren
chen entwicklungsbeeinflussenden Abhängigkeiten, Wechselwirkungen, Trends können in verschiedenen Räumen - je nach deren Größe, Lage, Struktur etc. - sehr unterschiedlich ausgeprägt sein oder auch ungültig werden; auf ihnen begründete Prognosemodelle unterliegen also der räumlichen Relativierung (vgl. Kap. 3.1.2). Um die Zwangsläufigkeit dieses Phänomens zu erkennen, vor allem aber, um Klarheit über Möglichkeiten und Grenzen der Prognose sozialer Prozesse zu gewinnen, sind einige erkenntnistheoretische Überlegungen erforderlich.
2. Prognose aus der Sicht der Erkenntnistheorie
Wer Zukunft antizipieren will, tut gut daran, sich Klarheit über seinen methodologischen Standort zu verschaffen. Daran entscheidet sich, welche Prognoseverfahren er bevorzugen wird und welche Gültigkeit er für die Vorhersage beansprucht.
2.1 Versuchung zur Prophetie Die Sehnsucht nach Klarheit über die Zukunft, der Wunsch nach Einordnung in den ohnehin kommenden Ablauf, die beruhigende Vorstellung, Geburtshelfer einer folgerichtig kommenden Zukunft zu sein, gründet in dem Verlangen nach Sinngebung des eigenen Handelns. Hier liegt auch der Grund für die Suggestionskraft all jener Lehren, die in angeblicher Kenntnis des gesetzmäßigen Ablaufes der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung vorgeben, den einzelnen in den zielgerichtet dahinfließenden Strom der Menschheitsgeschichte zweckdienlich und sinnvoll einzubetten. Vor allem K. R. POPPER (1971) hat deutlich machen können, daß es unmöglich ist, den zukünftigen Verlauf der Geschichte mit rationalen Methoden vorherzusagen und entzauberte damit den sogenannten Historizismus, der davon ausgeht, daß die Entdeckung der „Rhythmen", „Gesetze" oder „Trends", die der Geschichte angeblich zugrundeliegen, historische Voraussagen ermöglicht. Wir folgen einer Gedankenführung K. R. POPPERS. Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft (1971, S. X f.) und damit die Geschichte wird wesentlich durch das Anwachsen des menschlichen Wissens beeinflußt: „wenn es so etwas wie ein wachsendes menschliches Wissen gibt, dann können wir nicht heute das vorwegnehmen, was wir erst morgen wissen werden" (1971, S. XII). Es ist also nicht möglich, den zukünftigen Verlauf der Geschichte vorherzusagen, da die zukünftige Gesellschaft stark durch das Wissen beeinflußt sein wird, über das wir noch nicht verfügen. Wie sollten wir dann aber zuverlässig dessen Wirkung auf die Menschen bestimmen können! Es bleibt ein altes weltanschauliches Verlangen, zu Vorstellungen, zu Aussagen und noch lieber zu angeblichen Wahrheiten zu gelangen, die geeignet sind, „den menschlichen Lebensprozeß, die Praxis so zu gestalten, daß sein Verlauf (partiell oder total) vorausgesehen und geplant werden kann, mögliche und notwendige Ziele des praktischen Handelns festgelegt, sowie realisierbare Schritte ihrer Erreichung beschrieben werden können"
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Prognose aus der Sicht der Erkenntnistheorie
(D. WITTICH, 1973, S. 152, 153). So wird die Festlegung notwendiger Ziele des praktischen Handelns, orientiert an der „objektiven Wahrheit" (S. 152) zum Ziel der Erkenntnis. Ist die Behauptung, der geschichtliche Prozeß sei ein gesetzmäßiger Ablauf von Klassenkämpfen, fundamentaler Bestandteil dieser „objektiven Wahrheit"234, dann vermag nur derjenige Zukunft wahrheitsgemäß vorauszusagen, der diese angebliche Gesetzmäßigkeit akzeptiert und der - in rascher Ableitung - aufgrund des richtigen Klassenstandpunktes den Willen der Geschichte begreift und entsprechend Partei ergreift; Wahrheit und Voraussage werden so parteilich, „Parteilichkeit der Wahrheit"235. Der Inhaber dieser „objektiven (parteilichen) Wahrheit" begibt sich zwar in das stützende Korsett, angeblich zukunftsgerecht zu handeln, eben weil auf das vermeintliche Ziel und Gesetz der Geschichte hin orientiert, aber er entzieht sich der Faszination echter Wissenschaft, die ihre Aussagen und Vorhersagen ständig dem kritischen Widerspruch und der Prüfung unterwirft; er wird zum Verkünder einer Doktrin. Es ist diese Rechtgläubigkeit, welche die Sozialprognose der Gefahr aussetzt, unduldsame Prophetie zu werden236. Wer als Zweck des Erkenntnisstrebens „notwendige Ziele des praktischen Handelns" (D. WITTICH, 1973, S. 153) festlegen will, strebt in seinem prognostischen Bemühen weniger nach der Vorhersage bestimmter Handlungen und Konsequenzen als vielmehr nach Vorentscheidung von Handlungen; das wiederum rückt ihn in die Nähe der Ideologen. Der Weg vom prognostischen Bemühen des Futurologen zum Chiliasten und zur doktrinären Verkündigung einer unzweifelhaften, weil „gesetzmäßigen", Entwicklung ist nicht weit. Das Verständnis für die Relativierung der Vorhersage verringert sich in dem Maße, wie man dem Historizismus verfällt, den wir noch einmal mit K. R. POPPER (1968, S. 115) als die allgemeine Vorstellung, daß der „Menschheitsgeschichte ein Plan zugrundeliege und daß wir im Falle der Aufdeckung dieses Planes den Schlüssel für die Zukunft in der Hand haben", kennzeichnen und als prognostischen Irrweg markieren. Sieht man die Aufgabe der Sozialwissenschaft darin, historische Prognosen, also Prognosen über soziale Revolution bzw. über angeblich gesetzmäßige Veränderungen oder Entwicklungen der Gesellschaftssysteme, aufzustellen, so huldigt man einer historizistischen Doktrin. Man wird dann auch kaum fähig sein, das den sozialen Prognosen immanente Phänomen der Relativität richtig zu verstehen. Abweichungen von den Voraussagen, besser von den Prophetien, im Laufe der tatsächlichen Entwicklung können dann nur als Folge von Konspiration, feindlichen Einwirkungen, Verzögerung der allgültigen historischen Gesetzmäßigkeit begriffen werden (vgl. Konspirationstheorie, K. R. POPPER, 1968, S. 120). Das Nichteintreffen der Vorhersage darf dann auch nicht als Versagen einer unterstell-
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ten Theorie gedeutet werden, die mangelnde Bewährung der Prämissen führt nicht zu ihrer Ablehnung oder Verbesserung. Auch die raumzeitliche Relativierung des der Prognose zugrundeliegenden Aussagesystems wird so nicht erkannt. Prophetie verführt zu geistiger Starrheit.
2.2 Der unzulässige induktive Schluß Zunächst liegt es nahe, aus der Beobachtung der Vergangenheit auf die Zukunft zu schließen. Es ist der vertraute induktive Schluß im menschlichen Alltagsdenken, der aus der wiederholten Beobachtung von Einzelfällen, die als Erfahrung vorliegen, das Eintreffen noch nicht vorliegender Einzelfälle in der Zukunft ableitet. Wir hegen aufgrund der bisherigen Beobachtungen die Erwartung, daß die zukünftigen Erfahrungen den bisherigen entsprechen werden; man ist allmorgendlich aufgewacht, wird also auch am nächsten Morgen erwachen. Im täglichen Leben verhalten wir uns häufig solchen Erwartungen gemäß237. Unsere Erwartungen bestehen aus subjektiven Annahmen über die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens bestimmter Ereignisse. Ein an solchen Erwartungen orientiertes Handeln erscheint als durchaus rational. Nun hat aber bereits D. HUME (1739) gezeigt, daß Voraussage und sichere Erwartung auf der Basis der Induktion, also in Analogie zur vorherigen Beobachtung, unzulässig ist: „Kein Gegenstand hat an sich selbst etwas, was einen Schluß über ihn hinaus ermöglichen könnte; und: Auch nach der Beobachtung der häufigen oder ständigen Verbindungen von Gegenständen ist kein Schluß auf irgendeinen Gegenstand außerhalb unserer bisherigen Erfahrung möglich..." An anderer Stelle führt D . HUME aus, daß wir keinen Grund für den Glauben hätten, „daß jene Fälle, von denen wir kein Erfahrungswissen haben, wahrscheinlich denen ähnlich sein werden, von denen wir Erfahrungswissen haben"238. Empirische Daten berechtigen uns also nicht zur „Extrapolation auf entsprechende Erfahrungen in anderen Fällen" (K. R. POPPER, 1973, S. 112)239. Der induktive Schluß von vorherigen Beobachtungen, die als wahre Prämissen (Einzelaussagen) anzunehmen wären, auf daraus abzuleitende Konklusionen (Ergebnis eines logischen Schlusses aus Einzelaussagen) wäre als Voraussage nur dann gerechtfertigt, wenn auch diese Konklusionen als wahr erwiesen sind. Gerade dieser Nachweis ist aber nicht zu erbringen, da sich das gesamte Wissen zum Zeitpunkt der Induktion auf die Prämissen, also auf deren Wahrheit beschränkt, nicht aber auf die der Konklusion. Außerdem kommt hinzu, daß selbst die Prämissen nur im Lichte unserer Wahrnehmung als wahr zu interpretieren wären. Da unsere Wahrnehmung
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Prognose aus der Sicht der Erkenntnistheorie
aber von vornherein von Erwartungen und Hypothesen in uns beeinflußt wird und ohnehin selektiv erfolgt (vgl. Kap. erster Teil, 7.6; zweiter Teil, 2.3.2), ist eine induktive „wahre" Konklusion auf der Basis bereits theoriegetränkter Wahrnehmung nicht möglich240. Induktion als Prinzip wissenschaftlicher Voraussage ist unhaltbar. 2.2.1 Grenzeo der Wahrscheinlichkeitsschätzaiigen Nun scheint eine Paradoxie darin zu liegen, daß wir uns offensichtlich im täglichen Leben sehr häufig induktiver Schlüsse zu unserer zukünftigen Orientierung bedienen und damit ja auch in der Regel erfolgreich sind. Wiederholung in der Vergangenheit verstärkt und bestätigt anscheinend unsere Annahmen über die subjektive induktive Wahrscheinlichkeit bestimmter Ereignisse und festigt unsere Erwartungen. Wir handeln gemäß diesen Erwartungen, „da dann die Erfolgswahrscheinlichkeit am größten ist" (F. v. KUTSCHERA, 1972, S. 217). Doch wissen wir, daß das induktive Prinzip als Mittel prognostischer Erkenntnis eigentlich unzulässig ist und für Zwecke wissenschaftlich begründeter Voraussage als ungeeignet erscheint. Werden Entscheidungen im Alltag demnach leichtfertig getroffen, ist das Verhalten fahrlässig? Wir werden sehen, warum nicht. F. v. KUTSCHERA (1972, S. 217,218) sieht die Aufgabe induktiver Schlüsse nicht darin, „ein aus logischen Gründen prinzipiell unerreichbares Zukunftswissen doch irgendwie zu vermitteln, sondern Richtlinien anzugeben, nach denen wir unsere gegenwärtigen Erwartungen zukünftiger Ereignisse als Grundlage gegenwärtiger Handlungen rational organisieren können". Das tatsächliche Handeln kann also durchaus auf induktiven Schlüssen beruhen, denn es bedarf keiner verläßlichen Voraussage, sondern nur der Entscheidungshilfe zur Reduzierung der zahlreichen Möglichkeiten des zukünftigen Handelns. Handeln ist ohnehin stets mehr oder minder riskant. Die Erfahrungen und die Erwartungen sind lediglich Orientierungshilfen; sie müssen nicht gleichzeitig auch noch „wahre" Voraussage sein. Erwartungen und Wahrscheinlichkeitsschätzungen bezüglich der Zukunft, die auf induktiven Schlüssen beruhen, sind daher nicht zu verwechseln mit „echten" Voraussagen; diese lassen sich nicht induktiv gewinnen241. So ist der induktive Ansatz zwar im Rahmen der Entscheidungstheorie vertretbar, weit weniger aber für Prognosezwecke. Vor allem die Einwände von K. R. POPPER haben in den letzten Jahren zu einer kritischen Überprüfung des Induktionsprinzips beigetragen. So ist wissenschaftstheoretisch die Frage, wie sich das induktive Prinzip für Voraussagen verwenden läßt, also wie sich durch induktive Schlüsse Zukunftsangaben gewinnen und rechtfertigen lassen, mittlerweile hinfällig geworden.
Der unzulässige induktive Schluß
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Das prognostische Ziel bestand darin, mit Hilfe des Induktionsprinzips „verfügbare Erfahrungen, die in der Vergangenheit gemacht wurden, für irgendeine Form von Zukunftswissen zu verwerten"; das hat sich erkenntnistheoretisch als Irrtum erwiesen242. Es wäre nun falsch zu glauben, daß es zwar unzulässig ist, von beobachteten Fällen auf unbeobachtete zu schließen (Induktionsprinzip), wir aber statt dessen zumindest auf die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Fälle oder Ereignisse schließen dürfen und entsprechend prognostizieren können. Es ist logisch nicht zulässig, von Beobachtungen auf das Nichtbeobachtete zu schließen, vom Vergangenen auf das Zukünftige; das gilt auch für die einschränkende Aussage einer „wahrscheinlichen" Gültigkeit solcher Schlüsse. Diese ist aus den gleichen logischen Gründen nicht gegeben. Wahrscheinlichkeitsschätzungen sind subjektive Annahmen und stellen keine echte Prognose dar. Erst wenn wir uns klar darüber sind, daß je nach den verschiedenen Erfahrungsdaten der einzelne eine subjektive Wahrscheinlichkeitsbewertung243 der Ereignisse vornimmt und daran, zumindest teilweise, sein zukünftiges Handeln orientiert bzw. entsprechende Annahmen über die Zukunft unterstellt, lassen sich solche subjektiven induktiven Schlüsse für die Überlegungen zum zukünftigen Handeln verwerten. Aber sie sind nicht in der Absicht zu verwenden, vorauszusagen, was in Zukunft sein wird (s. o.), wie sich eine Person in der Zukunft verhält, sondern wie in Beachtung von subjektiven Erwartungen (Wahrscheinlichkeitsannahmen) möglichst rationales Handeln aufgezeigt werden kann. So würde ζ. B. die subjektive induktive Wahrscheinlichkeit, gemessen an der Bereitschaft, auf das Eintreten eines bestimmten Ereignisses zu wetten, herangezogen, um eine Präferenzordnung alternativer Handlungen aufzustellen. Diese Präferenzordnung wäre dann die Grundlage rationaler Entscheidung. Die Frage, wie wir uns angesichts von Erfahrungen und subjektiver induktiver Wahrscheinlichkeitsschätzung möglicherweise verhalten werden, würde in Beachtung der Normen, die zur Findung rationaler Entscheidung herangezogen werden (vgl. normative Theorie des induktiven Räsonierens - W. STEGMÜLLER, 1973b) beantwortet244. Auf jeden Fall darf die Tatsache, daß wir unsere Entscheidung und unser Verhalten auch an den bisherigen Beobachtungen und Erfahrungen orientieren, nicht zu dem Trugschluß führen, es ließe sich aufgrund dessen auch zukünftige Entscheidung und zukünftiges Handeln voraussagen. Es muß betont werden, daß unsere subjektiven induktiven Wahrscheinlichkeitsannahmen bedingt sind durch die spezifischen Erfahrungen und die mehr oder minder intuitiven Bewertungen der jeweiligen Person245. Wir können davon ausgehen, daß in jedem Menschen zu einem bestimm-
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Prognose aus der Sicht der Erkenntnistheorie
ten Zeitpunkt ein Vorrat an Aussagen vorhanden ist, die er für wahr hält. Bisweilen arbeitet er aufgrund neuer Erfahrungen diesen Bestand um, d. h. also, seine Voraussage, seine Erwartung, ist stets relativ, da sie die noch nicht vorhandenen Erfahrungen nicht berücksichtigt. Schon wenig später kann Erwartung (als subjektive Wahrscheinlichkeitsschätzung) anders ausfallen. Darüber hinaus bewertet der Mensch Sachverhalte situationsbedingt unterschiedlich. Er neigt dazu, Annahmen für mehr oder weniger wahr oder wahrscheinlich zu halten, je nach der Bedeutung oder dem subjektiven Nutzen, den diese für ihn haben246. Da es „keine erfahrungsmäßige Evidenz gibt, die uns zwingt, einen Satz als unbezweifelbar wahr oder falsch anzusehen" (F. v. KUTSCHERA, 1972, S. 148), wird der Mensch unterschiedliche Aussagen und Erfahrungen als wahr akzeptieren bzw. für unterschiedlich wahrscheinlich erachten. So fußen subjektive Wahrscheinlichkeitsannahmen immer bereits auf irgendwelchen Erfahrungen, Kenntnissen, deren Bewertung. Diese gehen also induktiv in die Erwartungen und subjektiven Vorausschätzungen ein, aber der induktive Effekt wird von Person zu Person unterschiedlich sein. Entsprechend sind die Präferenzordnungen des zukünftigen Handelns zwangsläufig subjektiv. Sie stellen lediglich eine Möglichkeit des zukünftigen Handelns dar, eine Empfehlung, gemäß einer vermeintlich rationalen Entscheidungstheorie zu handeln. Welche Entscheidung allerdings tatsächlich getroffen wird, hängt von zahlreichen weiteren Einflüssen ab (vgl. u. a. Diagramm Abb. 2). Fassen wir zusammen: Wollte man soziale Voraussagen auf induktiven Schlüssen aufbauen, so wäre das in doppelter Hinsicht problematisch. Zum einen ist es erkenntnistheoretisch unzulässig, weil induktive Schlüsse nur als subjektive Wahrscheinlichkeitsannahmen vertretbar sind. Zum anderen sind solche Wahrscheinlichkeitsannahmen zwangsläufig unverbindlich. Sie werden trotz gleicher Sachverhalte je nach Person, Situation, Erfahrung, Bewertung usw. subjektiv überformt. Ja, überspitzt formuliert, sind Wahrscheinlichkeitsannahmen Konsequenzen einer durch subjektive Interpretation verfälschten Beobachtung. Zudem unterliegen sie fast ständig subjektiven Schwankungen. Subjektive Wahrscheinlichkeitsannahmen, als eine Form induktiver Schlüsse, können keine verläßliehe und allgemein verbindliche Grundlage für die Planung (ζ. B. Regionalplanung) sein. Ein im Alltag anscheinend bewährtes Prinzip scheitert, falls es der Erarbeitung von Prognosen zugrunde gelegt werden soll. Es wird zu zeigen sein, daß auch im Alltag der Mensch eigentlich nicht nach dem induktiven Prinzip verfährt, sondern vielmehr deduktiv, also ausgehend von seinen Vorstellungen (Theorien über die Welt) wahrnimmt und denkt, so daß sich die vermeintliche Paradoxie auflöst (vgl. Kap. 2.3.3.2).
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2.2.2 Trendextrapolation - ein antangtiches Prognoseverfahren Wir werden uns nachfolgend kurz einem weitverbreiteten prognostischen Ansatz zuwenden, der Trendextrapolation. Sie stellt eine Spielart induktiver Schlüsse dar, die in gleicher Weise wie diese wissenschaftstheoretisch problematisch ist, soweit sie nicht auf wirkende Gesetze zurückgeführt werden kann. Zweifellos lassen sich auch bei sozialen Prozessen Trends oder Tendenzen beobachten. Statistisch bzw. graphisch können solche Trends, ζ. B. als Linien der Bevölkerungsentwicklung, durchaus dargestellt werden. Es liegt dann nahe, den Trend einer zu beobachtenden Entwicklung oder auf soziale Veränderungen bezogen, die Richtung einer evolutionären Bewegung festzustellen und zu extrapolieren. Der Versuchung, historische Entwicklung als dynamische Bewegungen, die bestimmten Zyklen oder Bewegungsgesetzen folgen, zu verstehen und demgemäß extrapolierend Voraussagen zu treffen, sind Historiker häufig erlegen. Auf den ersten Blick erscheint es naheliegend, die für die dynamischen Systeme der Physik, wie sie etwa das Sonnensystem darstellt, geltende Sicherheit extrapolierender Voraussagen, auf die dynamischen Bewegungen historischer und sozialer Prozesse zu übertragen. Aber das wäre falsch, da die hochgradige Verläßlichkeit astronomischer Zyklen bei sozialen Abläufen keineswegs unterstellt werden kann. Die zur Voraussage geeigneten Systeme aus dem Bereich der Naturwissenschaft sind trotz ihrer inneren Dynamik „stationär"; sie entwickeln sich nicht bzw. kaum und ihre Wiederholungen beruhen nicht auf Wachstum und Wandel. Historische und soziale Prozesse sind dagegen gerade nicht stationär, sie sind zahllosen Wechselfällen und Einflüssen unterworfen, sie stellen extrem offene, nicht stationäre Systeme dar. So kann die Übertragung von Aussagen und Begriffen der Physik auf die Gesellschaft zu groben Fehlschlüssen verleiten, vor allem, weil beobachtete soziale oder geschichtliche Trends nicht wie in der Physik als Ausdruck wirkender Gesetze anzusehen sind247. Stellen wir ζ. B. einen bestimmten Trend in der Bevölkerungsentwicklung fest, so können wir diesen Sachverhalt durch einen singulären, historischen Satz ausdrücken, d. h. wir bestätigen zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. für einen bestimmten Zeitraum den Ablauf einer spezifischen Entwicklung, aber eben nur diesen; damit formulieren wir gerade keinen Allsatz, wir artikulieren kein universelles Gesetz. Der Trend der beobachteten Bevölkerungsentwicklung kann rasch umkippen, er ist durch jeweils spezifische Voraussetzungen bedingt. Diese Randbedingungen aber können sich rasch wandeln, zweifellos gibt es Trends, „doch ihr Andauern hängt vom Andauern gewisser spezifischer Randbedingungen ab (die ihrerseits wieder Trends
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Prognose aus der Sicht der Erkenntnistheorie
sein können)" (K. R . POPPER, 1971, S. 100). Trends sind bedingt und Bedingungen können sich wandeln. Damit unterscheiden sich Trends grundlegend von Gesetzen. Wer beides miteinander verwechselt, verfällt dem typischen induktiven Trugschluß, beobachtete einzelne Entwicklungen zu universellen Aussagen zu erhöhen. Beobachtete Trends allein können also, im Gegensatz zu Gesetzen, nicht zu Grundlagen wissenschaftlicher Prognose gemacht werden. Wollte man beispielsweise die Bevölkerungsentwicklung durch Extrapolation der Entwicklung vergangener Jahre „prognostizieren", wäre die Aussicht, eine zutreffende Voraussage zu gewinnen, recht gering. Das läßt sich am Beispiel beliebig herausgegriffener mitteleuropäischer Teilräume leicht überprüfen. Man stelle die Bevölkerungsentwicklung ζ. B. der letzten 150 Jahre für solche geographischen Räume als Zeitreihe (bzw. als Kurve) dar und untergliedert diese 150 Jahre nach Teilzeiträumen. Für diese ermittelt man die jeweiligen Trends der Bevölkerungsentwicklung. Extrapoliert man nun diese Trends auf den jeweils nachfolgenden Teilzeitraum, dann zeigt sich, daß die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung nur selten und zufällig getroffen wird. Ein solches Ergebnis ist durchaus zu erwarten, denn die Bevölkerungsentwicklung eines bestimmten Zeitabschnittes beruht auf bestimmten Bedingungen. Diese Bedingungen unterliegen aber, vor allem in dynamischen Räumen, stets mehr oder minder starkem Wandel. Durch veränderte Inwertsetzung unterschiedlichster Raumelemente werden in der Regel veränderte Entwicklungen ausgelöst. Ständig können neue Einflußgrößen wirksam werden, so daß nicht absehbar ist, wann beobachtete Trends abbrechen und durch andersartige Entwicklungen abgelöst werden. Das schließt nicht aus, daß sich für bestimmte Zeiträume typische Entwicklungen beobachten lassen, gewissermaßen als Folge bestimmter dominanter Abhängigkeiten (etwa verbesserte medizinische Versorgung bei traditionellem generativen Verhalten), aber es ist kaum zu ersehen, wann diese Bedingungen möglicherweise aussetzen, abgelöst werden; darüber vermag die Beobachtung der Vergangenheit und Gegenwart nichts Verläßliches auszusagen. Auch wenn man beispielsweise auf einen Raum mit sehr stetiger Bevölkerungsentwicklung stößt, dann decken sich zwar Extrapolation und tatsächliche Entwicklung in stärkerem Maße, niemals aber läßt sich mit Gewißheit sagen, ob diese stetige Entwicklung auch weiter anhalten wird. Häufig geht allerdings bei einer Datenreihe oder Merkmalstendenz von den jeweiligen Vordaten bzw. deren Ursachen ein veränderungshemmender Effekt auf die Folgedaten aus, der bewirkt, daß diese sich nur allmählich ändern (ζ. B. bei Geburtenraten). So läßt sich eine gewisse Trendverschleppung, eine trendstabilisierende Komponente (auch als Folge des Phänomens der Autokorrelation) beobachten, die kurzfristige Zukunftsannahmen nahelegt. Trotz eines
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solchen Nachhalleffektes kann der bedingungsabhängige Wandel eines Trends jederzeit und unvorhersagbar einsetzen. Erst wenn Trends oder beobachtete Tendenzen auf wirkende Gesetze zurückgeführt werden können, also deren Ausdruck sind, ist es zulässig, den Trend, gleich einem Gesetz, als Ausgangspunkt wissenschaftlicher Prognose zu akzeptieren, doch das ist im sozialen Bereich kaum der Fall. Durchaus ähnlich verhält es sich mit Beobachtungen von Einzelfällen oder Ereignissen der Vergangenheit. Erst wenn diese unmittelbar Ausdruck wirksamer Gesetze sind, dann wäre der induktive Schluß auf andere Einzelfälle oder kommende Ereignisse berechtigt, zumindest solange sich das zugrundeliegende Gesetz bewährt. Fällt so der Vorbehalt gegen induktive Schlüsse jeder Art in sich zusammen? Sicherlich nicht, denn der Beweis, daß es sich um Aspekte oder Wirkungen eines Gesetzes handelt, wäre lediglich durch die Beobachtung des Beobachteten, und das ist die einzige Basis des induktiven Vorgehens, nicht zu erbringen. Induktive Schlüsse lassen sich eben nicht durch sich selbst rechtfertigen. Bliebe die Frage nach der Kausalität beobachteter Einzelfälle, Ereignisse oder Abfolgen. Denn Entwicklungen und historische Abfolgen können ja eine Kausalkette darstellen, eine gesetzmäßige Sukzession, die es nur fortzuschreiben gilt, entsprechend dem einen wirkenden Sukzessionsgesetz. Zweifellos können ganz bestimmte Ereignisse, ζ. B. in der Physik, aber vermutlich und mit gewissen Einschränkungen auch im Wirtschaftsleben Folgen eines regelhaften, gesetzmäßigen Zusammenhanges sein. So wird, ζ. B. gemäß dem ersten Gossenschen „Gesetz" vom abnehmenden Grenznutzen, mit zunehmender Sättigung der Konsumenten das verfügbare Geld zum Erwerb anderer Produkte mit noch höherem subjektiven Nutzen verwendet. Die Änderung der Ausgabenstruktur ist dann durchaus kausal bedingt, ja wenn man so will, kausalgesetzlich bestimmt. An diese Verhaltensänderung werden sich u. U. mehr oder minder kausal zahlreiche andere Verhaltensänderungen anknüpfen. Zum Beispiel würde statt eines weiteren Anzuges ein Fahrrad gekauft, eine allerdings nicht kausalgesetzlich gelenkte Entscheidung. Entsprechend wird statt eines Spazierganges ein Fahrradausflug unternommen, der mit einem Sturz in den Straßengraben und dadurch verursachten Krankenhausaufenthalt enden kann; durch Beibehaltung des traditionellen Spazierganges wäre das vermieden worden. Zweifellos sind am Ablauf dieser Entwicklung mehrere einzelne Gesetze beteiligt, ζ. B. das Gravitationsgesetz bzw. die Wirkung der Schwerkraft während des Sturzes vom Fahrrad. Auch gelten für verschiedene Abläufe des gesamten Prozesses singuläre Kausalgesetze, also Sätze, die besagen, daß ein bestimmtes Phänomen ein anderes bewirkt. Falsch wäre es aber, zu unter-
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Prognose aus der Sicht der Erkenntnistheorie
stellen, daß die gesamte Entwicklung seit der Änderung der Ausgabenstruktur einem einzigen Kausalgesetz folgend abläuft. Die Abfolge ursächlich verknüpfter Ereignisse folgt nicht einem determinierenden Entwicklungsgesetz. Vielmehr dürfte jede Entwicklung von Ereignissen, außerhalb stationärer physikalischer Systeme, immer eine Abfolge neu aufeinander folgender Phänomene, die eine einzigartige neue Tatsache bzw. Abfolge hervorbringen, sein. Allerdings können auch durchaus ähnliche Abfolgen mit ähnlichen Ergebnissen zuvor schon einmal wirksam gewesen sein, aber eben dann in einem anderen Zeitzusammenhang, in anderer Situation mit veränderten Randbedingungen und mit sehr wahrscheinlich auch anderem weiteren (zukünftigen) Verlauf; man steigt eben nicht zweimal in denselben Fluß. Es gibt kein Gesetz, nicht einmal „ein bestimmtes System von Gesetzen, das die tatsächliche konkrete Sukzession kausal verknüpfter Ereignisse beschreiben würde" ( K . R . POPPER, 1971, S. 9 2 ) ; so gibt es auch kein Sukzessionsgesetz. Beobachtete soziale Trends mit der Behauptung, sie unterlägen der Wirkung eines Sukzessionsgesetzes, zu extrapolieren, ist wissenschaftlich nicht gerechtfertigt. 2.2.3 Kausalität als Grundlage der Prognose? Wir wollen unter Kausalität vereinfachend zunächst nur den Sachverhalt verstehen, daß ein Phänomen (A) ein anderes (B) bewirkt und zwar in dem Sinne, daß A die Ursache einer Wirkung Β ist248. Dabei beziehen wir uns auf tatsächlich stattfindende Ereignisse, denn nur diese können andere Ereignisse bewirken. Halten wir zum Beispiel fest, daß bei Neuansiedlung einer Arbeitsstätte eine Zuwanderung von Arbeitskräften zu beobachten ist, so liegt es nahe, in einem singulären Kausalsatz zu behaupten, die Ansiedlung einer spezifischen Arbeitsstätte unter bestimmten Bedingungen bewirke eine bestimmte Zuwanderung von Arbeitskräften; wir würden also den Zustrom von Arbeitskräften kausal mit dieser Ansiedlung einer spezifischen Arbeitsstätte erklären. Nun ist eine solche kausale Erklärung problematisch; denn die unterstellte Wirkung wird möglicherweise nur angesichts zahlreicher spezifischer Nebenbedingungen (ζ. B. Höhe der Löhne und Gehälter, günstige Arbeitsplatzbedingungen etc.) ausgelöst oder andere „Ursachen" spielen eine entscheidende Rolle; ζ. B. könnte der Zuzug der Arbeitskräfte wesentlich verursacht sein durch die günstigeren Lebensbedingungen am Standort, durch die Möglichkeit, dort ein Haus zu bauen usw.; mehrere voneinander unabhängige Ursachen können das beobachtete Ereignis bewirkt haben. Daß Ereignisse als einander anscheinend verursachend (Ansiedlung - Arbeitskräfte) beobachtet werden, besagt noch nicht, daß sie dadurch auch hinreichend
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kausal erklärt werden können. Es ist oft sehr leichtsinnig, eine beobachtete Wirkung auf eine Ursache zurückzuführen, da so ggf. vielfältige andere Einwirkungen vernachlässigt werden. Kausale Erklärungen scheinen also erst dann befriedigend zu sein, wenn sie sich auf einen tatsächlich notwendigen und zwangsläufigen Zusammenhang zwischen aufeinanderfolgenden Ereignissen, auf einen kausalgesetzlichen Zusammenhang reduzieren lassen. Was verstehen wir unter einem Kausalgesetz? Da Ursachen ihren Wirkungen vorausgehen, stellen Kausalgesetze allgültige (universelle) Aussagen dar über Vorgänge, bei denen mit Sicherheit als Folge ursächlicher Bedingungen ein bestimmtes Ereignis eintritt249. F. v. KUTSCHERA (1972, S. 353) schlägt, bisherige Auffassungen verbindend, vor: „Ein Kausalgesetz (für gewisse Größen) ist ein Naturgesetz, das (bezüglich dieser Größen) deterministischen und Sukzessionscharakter hat". Nun bleibt aber zu bedenken, daß es solche Sukzessionsgesetze nach K. R. POPPER (1971, S. 92) gar nicht gibt (vgl. Kap. 2.2). Und in der Tat, wie wollte man ein solches Gesetz erkennen? Etwa, indem man aus der Beobachtung endlich vieler Wechselwirkungen oder Ereignisabfolgen induktiv auf ein „wahres" Gesetz schließt, das dann entsprechend den Beobachtungen kausal definiert würde? Schließt man aber aus der Beobachtung einer anscheinend kausalen Ereignisfolge auf die Existenz eines kausalen Gesetzes, dann folgt man dem induktionslogischen Uniformitätsprinzip, nach dem „man vergangene Regelmäßigkeiten auf zukünftige Ereignisse übertragen kann" (F. ν KUTSCHERA, 1972, S. 358), bzw. Beobachtungen der Vergangenheit auch für die Gegenwart und Zukunft als relevant ansieht. Und dieses Prinzip ist falsch (s. o.), denn die Zukunft entspricht keineswegs in jeder Hinsicht der Vergangenheit. Wir würden vergangene, gegenwärtige und zukünftig zu erwartende Beobachtungen gleichsetzen, sie also als generell vertauschbar betrachten. Werden sie aber dadurch erklärt und erhalten so den Rang von allgültigen Zusammenhängen, von Gesetzen? Sicherlich nicht. So sollten wir also zunächst unsere Beobachtungen von Ursache-Wirkung-Ereignissen lediglich als singulare empirische Sätze betrachten, die der Erklärung durch Hypothesen und durch eine Theorie bedürfen250. Erst wenn diese Theorie als hinreichend bewährt gilt, dürfen wir die beobachteten Phänomene als Auswirkungen von „Gesetzen" verstehen. Wir gelangen somit zu einer veränderten Sicht anscheinend ursächlicher Ereignisse. Kausalität kann nicht als Wirkung im obigen Sinne beschriebener Kausalgesetze verstanden werden, sondern lediglich als Folgeerscheinung bestimmter universeller Gesetze. Das bedeutet, daß für die Prognosen nicht das Vorhandensein spezifischer und ggf. sogar situationsspezifischer Kausalgesetze unterstellt werden darf, aus denen die Zukunft direkt extrapolierend
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abzuleiten wäre, sondern nach Aussagesystemen zu suchen ist, die bestimmte Abhängigkeiten erklären und diese in eine Theorie einbetten. Nun sind aber unsere Erfahrungen mit vermutlich kausalen Wirkungen nicht völlig abwegig. Zumindest nehmen wir aufgrund der Beobachtungen an, daß Verknüpfungen von Ursache und Wirkung bestehen, die uns als logisch notwendig erscheinen. Der Versuch, eine vermutete Regelmäßigkeit durch die logische Notwendigkeit, mit der auf Anfangsbedingungen (Ursachen) ein vorausgesagtes Ereignis (Wirkung) folgt, zu kennzeichnen, stellt zugleich unsere, wenn auch hypothetische Erklärung dar. Entscheidend ist aber, daß wir die „kausale Erklärung" nur im Lichte einer hypothetischen Vermutung geben können und nicht unter der Annahme eines objektiv existierenden Kausalgesetzes251. Das heißt nichts anderes, als daß wir von einer Theorie über die Ereignisse ausgehen, „daß wir nie von Ursache und Wirkung schlechthin sprechen können, sondern sagen müssen, daß ein Ereignis die Ursache eines anderen - seiner Wirkung - in Hinsicht auf irgendein universales Gesetz ist". (K. R. POPPER, Hist. 1971, S. 97). Diese Unterscheidung zwischen angeblichen Kausalgesetzen einerseits und Vermutungen über eine notwendige kausale Verknüpfung zwischen bestimmten Elementen im Rahmen einer zuvor aufgestellten und möglichst bewährten Theorie andererseits, mag zunächst für die Prognose belanglos erscheinen, ist aber tatsächlich von grundlegender Bedeutung für das prognostische Verfahren und für die Interpretation seiner Ergebnisse. Vor allem auch aus folgendem Grund: Die Einbettung von kausalen Abhängigkeiten in eine erklärende Theorie oder Hypothese verringert die Gefahr, simplifizierende Verknüpfungen einer Ursache mit einer bestimmten Wirkung herzustellen. Solche einfachen Verknüpfungen sind in der Welt der Lebewesen und besonders natürlich beim Menschen mit seinem differenzierten sozialen Verhalten sehr selten252. Monokausale Abhängigkeiten spiegeln oft mehr die Erwartung des Menschen als die tatsächlich bestehende Vielfalt der Beziehungen und Wechselwirkungen in der belebten Natur wider. Der im ersten Teil vorgestellte Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie dürfte verdeutlichen, wie vielfältig die Verflechtungen sind, durch die das Verhalten des Menschen beeinflußt bzw. verursacht wird (vgl. erster Teil, Kap. 7 und besonders Kap. 7.7 sowie Abb. 2; auch die nachfolgenden Kap. des zweiten Teils, vor allem Kap. 2.3.4).
2.3 Bevorzugung des deduktiven Schlusses Es ist besser, wir verlassen uns in der Sozialwissenschaft nicht auf die „Allgültigkeit" aus Erfahrung beobachteter angeblicher Kausalgesetze, son-
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dem wir arbeiten mit einem hypothetischen Ansatz zur Erklärung beobachteter Sachverhalte, den wir ständig der Prüfung durch die Praxis unterwerfen und somit von vornherein als eine möglicherweise unbefriedigende oder falsche Theorie Verstehen. Wie müssen die Erklärungen beschaffen sein, um diese Aufgabe zu erfüllen? Sie sind als prüfbare und somit auch falsifizierbare allgemeingültige Aussagen (universelle Hypothesen) zu konstruieren. Aus ihnen werden konkrete, in der Praxis überprüfbare Prüfungshypothesen abgeleitet, das sind sogenannte „Beobachtungssätze", die sich auf konkrete beobachtbare Sachverhalte beziehen, wodurch ermittelt werden kann, ob diese Sätze wahr bzw. wahrheitsähnlich sind oder nicht253. Durch die ständigen Versuche zur Falsifikation werden wir gezwungen, die universellen Aussagesysteme (hypothetische Gesetze bzw. Thesen) laufend weiter zu verändern bzw. zu verbessern und sie mit verbesserter Prüfbarkeit zu immer höherem Gehalt und höherem Grad von Universalität und damit zu höherer Genauigkeit fortzuentwickeln. Wir werden dabei kaum bis zu einer letzten Erklärung, bis zur „wesentlichen Kausalerklärung" vordringen; stets dürfte die verbesserte Erklärung einen verbleibenden Rest der Erklärung neu eröffnen254. Unser Aussagesystem wird also ständig in Frage gestellt und gewinnt so erst allmählich mit der vorläufigen Bewährung in der Praxis seinen Nutzen, aber auch die Impulse zur weiteren Verbesserung und Änderung. Somit läuft ein Erkenntnisprozeß ab, der mit zunehmender Bewährung255 einer Theorie zwar niemals die absolute Wahrheit der Sachverhalte erreicht, aber - soweit Wahrheit als Übereinstimmung mit den Tatsachen definiert wird - (vgl. A. TARSKI, 1956, vgl. auch Anm. 279 in Kap. 2.3.3.2) immer wahrheitsähnlicheren Aussagen zustrebt. Die darauf aufbauenden Voraussagen werden immer verläßlicher, ohne freilich jemals absolute Verläßlichkeit zu erreichen. Von vornherein haftet damit einer aufgestellten Theorie über bestimmte Abhängigkeiten, Wirkungen und Ereignisse, wie auch den gewonnenen Voraussagen eine gewisse Relativität an. Prognosen sind nur unter der Annahme der unterstellten, aber weiter zu verbessernden oder eines Tages zu verwerfenden Theorie gültig. Sie sind nicht wahr, sondern nur relativ zutreffend. Wichtig ist, daß wir uns Hypothesen und Theorien erdenken müssen, durch die wir die beobachtbaren Dinge interpretierend wahrnehmen und daß wir versuchen, unsere Theorien an der Verträglichkeit mit der Praxis zu überprüfen und zu verbessern. Wir müssen also Vorstellungen (empirische Theorien) entwickeln, die über die Aussagen der bereits vorliegenden Beobachtungen und Befunde hinausgehen256 und die beobachteten Fakten über eine generalisierende Theorie in Form neuer universeller Sätze (universelle Hypothesen) so deuten, daß mit diesen Theorien Voraussagen über künftige
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Ereignisse möglich werden - „in dieser Hinsicht spricht man von der prognostischen Leistung einer Theorie"257. Hypothesen und Theorien sind für uns Mittel zum Zweck der Prognose. Unsere Aufgabe besteht also nicht darin, angebliche Kausalgesetze aufzuspüren, sondern Hypothesen und Theorien über die Wirklichkeit aufzustellen und sie fortwährend der empirischen Prüfung zu unterwerfen und so in einer ständigen Abfolge von hypothetischen Deutungsversuchen, Fehleraufdeckung und Beseitigung des Irrtums durch Hypothesenverbesserung258 zu wahrheitsähnlicheren bewährteren Theorien und verläßlicheren Voraussagen fortzuschreiten. Wir bezeichnen diese, dem bisher kritisierten induktiven subjektiven Vorgehen genau entgegengesetzte Konzeption als die deduktive Methode. Hauptaufgabe wird jetzt die Auffindung möglichst leistungsfähiger Hypothesen und daraus abzuleitender Theorien und deren Überprüfung und Verbesserung sein. Nicht das Beobachten und induktiver Schluß werden zum Schwerpunkt der Erkenntnis, sondern Denken und Prüfen. Denn die Aufgabe besteht darin, möglichst befriedigende Erklärungen für das, was wir beobachten, aber noch nicht erklären können, zu finden. Beobachtung ersetzt eben nicht Erklärung von Sachverhalten, deren Erklärung noch unbekannt ist259. Mit Hilfe unserer Hypothesen und Theorien versuchen wir die Welt zu erkennen. Die Welt teilt sich uns nicht über direkte, absolut gleich verbindliche Wahrnehmung unserer Sinnesorgane und unmittelbar beobachtbare Fakten mit, wie sie wirklich ist, sondern wir müssen uns bemühen, sie durch entsprechende hypothetische Interpretation möglichst objektiv zu erkennen (vgl. auch erster Teil, Kap. 7.6.2). Durch Phantasie und Intuition belebte Aufstellung möglichst kühner, neuer und besserer Hypothesen und Theorien sowie deren Bezug auf konkrete Fälle in der Praxis und damit verbundene (objektive) empirische Prüfung ist sinnvoll, nicht die Behauptung von Kausalgesetzen aufgrund der subjektiven Beobachtung. Wir werden in einem der nachfolgenden Kapitel (2.3.3) begründen, warum auch bei der Gewinnung von Prognosen der deduktive Ansatz zu bevorzugen ist. 2.3.1 Voraussage bleibt situationsabhängig relativ Wie verläßlich sind Prognosen, die auf bisher bewährten Theorien beruhen? Voraussagen werden aus Theorien bzw. hypothetischen Aussagesystemen stets unter der Ceteris-paribus-Klausel abgeleitet. Prognosen bauen also dann auf einem bestimmten, durch die Theorie erfaßten Zustand eines Systems von Abhängigkeiten auf. Vor allem im gesellschaftlichen Bereich sind aber diese Voraussetzungen nicht dauerhaft gegeben. Soziale Vorgänge
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wiederholen sich nicht unter genau den gleichen Bedingungen, für die die „Theorie" galt. Die sonst gleichen Umstände (Ceteris-paribus) sind bei sozialen Vorgängen meist nicht erfüllt. Das heißt aber nichts anderes, als daß eine am Beispiel bewährte Theorie auf dieses Beispiel zu beschränken ist, weil die Bedingungen, die sie erklärt, so nicht wiederkehren. Zwangsläufig wird sich also die Theorie (besser: Quasi-Theorie) ständig ändern müssen, vorausgesetzt, es sollen Aussagen über die Wirklichkeit und entsprechend wirklichkeitsgerechte Voraussagen gewonnen werden, die für die jeweils konkrete Praxis zutreffen. H. ALBERT260 verweist auf die Versuchung, die Ceteris-paribus-Klausel als ständiges Alibi zu verwenden. Rasch ist die Erklärung zur Hand, daß, wenn die durch eine Theorie postulierte Abhängigkeit nicht wirksam geworden ist, dann eben die sonst gleichen Bedingungen nicht erfüllt gewesen seien. Damit immunisiert sich jede Theorie gegen das Prinzip der Falsifizierbarkeit durch Tatsachen; leicht läßt sich dann darauf verweisen, das Gesetz als solches sei zwar gültig, aber die Bedingungen der Gültigkeit seien nicht erfüllt gewesen. Für abweichende Ergebnisse können dann stets irgendwelche beeinflussenden Faktoren verantwortlich gemacht werden. So besteht die Gefahr, Theorien bzw. Aussagesysteme ständig weiter zu verwenden und für die Prognose als gültig anzusehen mit der Behauptung, diese Theorien seien an sich richtig, sofern die sonst gleichen Bedingungen vorhanden sind. Es bleibt aber offen, ob dem tatsächlich so ist, denn schwerlich lassen sich Abweichungen bzw. fehlerhafte Voraussagen eindeutig entweder auf nicht erfüllte Prognosebedingungen oder aber auf Fehler des Aussagesystems zurückzuführen. Da die sonst gleichen Bedingungen keinesfalls unbedingt gegeben sind, ist es sinnvoller, jeweils veränderte Aussagesysteme gemäß den tatsächlichen gegebenen Bedingungen zu entwickeln. Wir sehen in der Versuchung, durch Verweis auf nicht erfüllte Ceteris-paribus-Bedingungen, theoretische bzw. gesetzmäßige Aussagesysteme, gegen die Tatsachen bzw. die tatsächlich auftretenden Abhängigkeiten zu immunisieren, eine besonders für Prognosen aktuelle Gefahr. So können dann durchaus auf theoretischen Vorstellungen und Aussagesystemen beruhende Prognosemodelle konstruiert und zur Voraussage angewandt werden, die unter Umständen den gegebenen Bedingungen, also ζ. B. der kleinräumlichen Relativität entwicklungsbeeinflussender Abhängigkeiten (s. Kap. 3.1) gar nicht mehr gerecht werden. Es entwickelt sich ein Modell-Platonismus (vgl. H. ALBERT, 19.68, S. 406 f.), der stets Erklärungen dafür finden wird, warum die Voraussagen des Prognosesystems nicht zutreffen konnten, da diese oder jene Komponente der Ceteris-paribus-Klausel angeblich verletzt wurde. So vermag Modell-Platonismus wirklichkeitsgerechte Prognosen zu erschweren, weil das der Prognose zugrundeliegende Aussagesystem bzw.
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Prognosemodell nicht den tatsächlichen Bedingungen angepaßt wurde (vgl. Kap. 3.1.2). Wir können uns daher nicht mit einer stets gültigen Theorie bezüglich eines bestimmten sozialen Sachverhaltes zufriedengeben. „Die Aufgabe der Wissenschaft ist nicht nur die, rein theoretisch zu erklären; sie hat auch ihre praktischen Seiten - Anwendung zum Zweck praktischer Voraussagen und technische Anwendung" ( K . R . POPPER, 1 9 7 3 , S. 3 8 1 ) , und diese Anwendung in der Praxis erfordert jeweils situationsgerechte Theorie (bzw. QuasiTheorie). Insbesondere für die Voraussage ist daher die erneute Konstruktion oder Überarbeitung der Aussage- bzw. Prognosesysteme eine ständige Aufgabe; jede Situation bedarf der ihr adäquaten „Theorie". Hochgradige Bewährung einer sozialwissenschaftlichen Theorie kann so, streng genommen, eigentlich nie erfolgen, da die Bedingungen ihre Gültig-, keit im sozialen Bereich rasch wechseln. Bezogen auf gesellschaftliche und soziale Prozesse sind also Theorien und Voraussagen, einschließlich evtl. Prognosemodelle, von vornherein situationsabhängig relativ. Auch daraus folgt: Es gibt keine absolut verläßlichen sozialen Voraussagen, denn der Zeitpunkt, für den die Voraussage gilt, unterliegt nicht mit Sicherheit den gleichen Bedingungen (Ceteris-paribus), für die die Theorie aufgestellt wurde. So können gegenüber Theorien ähnliche Bedenken wie gegenüber induktiven Schlüssen angemeldet werden. Theorien mögen zum Zeitpunkt ihrer Aufstellung als empirisch überprüft gelten; daraus darf jedoch nicht abgeleitet werden, daß sie dies auch zu einem späteren Zeitpunkt sind. Auch die auf dem deduktiven Verfahren beruhenden Voraussagen können daher nicht in Anspruch nehmen, absolut verläßlich zu sein, sie bleiben situationsabhängig relativ (vgl. auch Kap. 2.5 sowie Kap. 3), so wie auch auf induktiver Bestätigung ruhende Wahrscheinlichkeitsaussagen nicht verläßlich sind (vgl. Kap. 2.3.2; 2.2.1). Um das Irrtumsrisiko zu mindern, müssen wir zumindest versuchen, Voraussagen im sozialwissenschaftlichen Bereich nicht auf Theorien, Aussagesystemen und Prognosemodellen aufzubauen, die unter der Ceteris-paribus-Klausel als angeblich allgültig gelten, nicht Prognosemodelle und Theorien in abstracto, sondern situationsspezifische und auch raumzeitspezifische Aussagesysteme (Quasi-Theorien) und Prognosemodelle in concreto sind anzustreben (vgl. Kap. 2.5). 2.3.2 Gefahren induktiver Bestätigung Es wäre geradezu existenzgefährdend, wenn ein Lebewesen präzise Erwartungen über die Zukunft aufbaut und sich in jeder Weise und starr darauf
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einstellt, die tatsächliche Entwicklung dann aber ganz anders verläuft, so daß sich die Erwartungen, die „Voraussagen" als irrtümlich erweisen. Die gesamte Orientierung des Handelns wäre falsch gewesen, der Einsatz der Energie umsonst. Welches Lebewesen könnte sich ein solches Fehlverhalten und eine solche Vergeudung auf die Dauer leisten? Das gilt auch für die Raumnutzung des Menschen. Aufgrund falscher Voraussagen können falsche Investitionsentscheidungen, irrtümlich private Dispositionen etc. getroffen werden. Es wäre also jene Form von Zukunftserwartung zu bevorzugen, die die Möglichkeit falscher Voraussagen am deutlichsten berücksichtigt, um von vornherein eine experimentierende Haltung und weniger festgelegte Erwartungen zu begünstigen (siehe dazu Kap. 2.3.3). Gerade das ist aber bei Voraussagen, für die induktive Bestätigung angestrebt wird, nicht der Fall. Vorhersagen, die auf induktiv gewonnenen Hypothesen beruhen, also Konklusionen, die über den Gehalt beobachteter Prämissen hinausgehen (vgl. M. STEGMÜLLER, 1959, S. 1) und die folglich keine absolute Gültigkeit beanspruchen können, werden von den „Induktivisten" als um so zuverlässiger angesehen, je höher der Wahrscheinlichkeitsgrad der induktiv gewonnenen Hypothese eingestuft wird. Der Wert einer Hypothese wird folglich auch an ihrem Grad der Wahrscheinlichkeit261, an ihrer „Sicherheit", gemessen. Jede weitere Beobachtung, jede Erfahrung, die der Hypothese gerecht wird, macht im Sinne des Induktivismus die Hypothese wahrscheinlicher262 und ist damit wichtig für die Steigerung ihrer Verläßlichkeit, denn sie bestätigt die Hypothese263. Die zunehmende Zahl bestätigender Fälle erhöht so die, wenn auch subjektive Wahrscheinlichkeit, daß die Hypothese und die darauf aufbauende Voraussage zutreffend ist264. Bestätigung in diesem Sinne hat also für die Voraussage eine sichernde Wirkung und verringert die Zweifel an einer Voraussage; sie macht damit aber zunehmend unempfindlich gegen Warnungen vor dem Irrtum, ja sie verführt sogar dazu, nach Beispielen zu suchen, die die Erwartung bestätigen. Induktive Bestätigung stumpft gegen die Vielfalt der Möglichkeiten ab; sie lullt ein in den Alltagsverstand (vgl. Kap. 2.3.3, dort zur Kübeltheorie). Hart formuliert: Induktive Bestätigung täuscht in Wirklichkeit Voraussagesicherheit vor, denn wir wissen, daß es logisch keinen Grund dafür gibt anzunehmen, daß die in der Vergangenheit und Gegenwart beobachtete Entwicklung auch für die Zukunft zutrifft; wir wissen, daß wiederholte Einzelfälle, die uns als Erfahrung vorliegen, keine Schlüsse auf noch nicht vorliegende Einzelfälle erlauben (vgl. Kap. 2.2). De facto leiten wir aber im Alltagsleben immer wieder aus singulären Hypothesen, die sich aufgrund von Beobachtungen entsprechend spezifischer Sachverhalte herausgebildet haben, singuläre Voraussagen ab265, „gerechtfertigt" durch die von Beobachtungsfall zu Beobachtungsfall zuneh-
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mende subjektive Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens bzw. durch die damit wachsende induktive Bestätigung der singulären Hypothese - „wenn auch hohe Wahrscheinlichkeit nicht immer ein hinreichender Grund ist, sie zu akzeptieren . . . " (F. v. KUTSCHERA, 1972, S. 467). Aber wir haben bereits betont (Kap. 2.2.1), daß es sich dabei eigentlich nicht um Voraussagen, sondern um subjektive Erwartungen handelt. Werden diese aber als echte Voraussagen mißverstanden, so ist das nicht ungefährlich. Verwenden wir nämlich induktiv konstruierte Hypothesen also auf bisherigen Beobachtungen ruhende Hypothesen, so nehmen wir weitere Beobachtungen in der Regel mit der Absicht wahr, die Hypothese immer mehr zu bestätigen. Unsere subjektive Wahrnehmung wird also in den Dienst der Bestätigung induktiv gewonnener Hypothesen gestellt. Wir suchen nicht nach Erfahrungen, die helfen, die aufgestellten Hypothesen kritisch zu überprüfen; unsere selektive Wahrnehmung hat dann mehr die Funktion zu bestätigen als zu prüfen. So wächst das Risiko - wie auch beim Festhalten an der Ceteris-paribus-Klausel bezüglich deduktiv gewonnener Aussagesysteme - Informationen, die der Hypothese nicht gerecht werden, zu übersehen bzw. als irrelevant zu erklären. Das Irrtumsrisiko wird also mit fortschreitender Beobachtung nicht vermindert. So kann Irrtum dann in möglicherweise unerwarteter Heftigkeit deutlich werden, zahlreiche vorher angeblich abgesicherte „bestätigte" Entscheidungen (z. B. Investitionen) ad absurdum führend. Beobachten wir z. B. einen bestimmten Trend der Bevölkerungsentwicklung und sehen in dem regelmäßigen Zuwachs eine Bestätigung etwa der Hypothese vom geometrischen Bevölkerungswachstum, planen folglich „erwartungsgemäß" langfristig voraus, dann kann eine plötzliche Veränderung der Entwicklung völlig unerwartet einsetzen, da sie der zuvor durch Beobachtung „bestätigten" Tendenz nicht entsprach. Die auf der Basis vorheriger Beobachtung aufgestellte Hypothese des Bevölkerungswachstums hätte sich „überraschend" als falsch erwiesen. Sinnvoller und wirklichkeitsgerechter wäre eine Theorie gewesen, die durch deduktive Ableitung entsprechender Prüfungshypothesen zu der Einsicht führt, daß die Bevölkerungsentwicklung hochgradig abhängig von der situationsspezifischen Bewertung in einer Gesellschaft ist und die dann, sich selbst korrigierend, diesen Sachverhalt berücksichtigt. Dann wäre man nicht der Annahme verfallen, daß angebliche bisherige Bestätigungen der induktiven Hypothese die Sicherheit einer Voraussage erhöhen. Abweichungen von den Voraussagen induktiv abgeleiteter Hypothesen sind also unter logischen Gesichtspunkten durchaus zu erwarten (siehe Kap. 2.2). Soweit sich Hypothesen auf soziale Sachverhalte beziehen, sind sie abhängig von den Bewertungen der Menschen und diese können subjektiv und situationsspezifisch verschieden sein. Zudem ist es immer möglich, daß
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eine das Verhalten ändernde Situation noch nicht im bisherigen Beobachtungsvorrat enthalten ist und folglich nicht induktiv verarbeitet werden konnte. Dagegen können andere tatsächlich beobachtete Situationen als vermeintlich „bestätigend" wirken, obwohl sie zu einem nachfolgenden Zeitpunkt u. U. schon nicht mehr relevant sind. Auf induktiven Schlüssen,· also auf Wahrscheinlichkeitsannahmen, aufbauende soziale Voraussagen bieten keinerlei Gewähr, das tatsächliche Verhalten des Menschen zu erfassen. Das bedeutet nun nicht, induktive Ansätze hätten überhaupt keine Berechtigung; sie besitzen diese nur dann nicht, wenn durch sie, allein aufgrund vorheriger Beobachtung, zukünftige Ereignisse vorausgesagt werden sollen. Die sehr alte Alternative, Deduktivismus oder Induktivismus als Erkenntnis- und Voraussageprinzip zu bevorzugen, löst sich auf266. Beide erscheinen über veränderte Fragestellungen nicht mehr als gegensätzlich. Mit dem induktiven Ansatz kann nicht geprüft werden, ob sich Hypothesen oder Theorien bewähren oder verworfen werden müssen. Das ist nur in Anwendung des deduktiven Prinzips möglich. Aber mit Hilfe der induktiven Logik scheint es möglich zu sein, unterschiedliche statistische Hypothesen (Hypothesen zur statistischen Verteilung von Grundgesamtheiten) mit unterschiedlichem Grad zu bestätigen und zu stützen267. Darüber hinaus besitzt der induktive Ansatz gewissermaßen innerhalb des Deduktivismus eine gewisse Berechtigung. Zwar verstehen wir, im Sinne des Deduktivismus, Theorie und Gesetz als Vorbedingung und weniger als Ergebnis unserer Erfahrung. Wir bemühen uns also, unsere Voraussetzung zur Betrachtung bzw. Erkenntnis der Welt immer weiter zu verbessern und durch verbesserte Hypothesen immer neue Möglichkeiten durchzuspielen. Aber wir lassen uns gleichzeitig bei der Bildung unserer Hypothesen auch durch eine gewissermaßen „spielerische" Abwandlung der Beobachtung und Wahrnehmung anregen, die wir uns evtl. als „hypothesenoffen" vorstellen können, die also noch nicht bewußt Hypothesen voraussetzt, sondern die geradezu „mutativ" herumirrt. Danach kann mittels der induktiven Logik angegeben werden, in welchem Maße „die versuchsweise angenommene Hypothese durch die verfügbaren Erfahrungsdaten gestützt wird" (R. CARNAP, W. STEGMÜLLER, 1959, S . 9). Doch lassen wir offen, ob das als eine echte Bestätigung der Hypothese anzuerkennen ist. Wir haben bereits an anderer Stelle (erster Teil, 7.6.1) darauf verwiesen, daß es sinnvoll ist, eine gewisse Toleranz innerhalb der selektiven Wahrnehmung des Menschen zu unterstellen; wir scheinen also neben der theoriegetränkten Wahrnehmung einen zusätzlichen Spielraum zur Aufnahme von weiteren Informationen zu besitzen, durch die die Bildung von Hypothesen, eng verbunden mit Intuition, erleichtert wird. Manche Beobachtungen oder Erfahrungen im Rahmen der Überprüfung
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bestimmter Hypothesen können ganz beiläufig neue hypothetische Ansätze auslösen, gewissermaßen als „auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition"268, als durch Fakten provozierte plötzliche Eingebung. Sehr fruchtbare wissenschaftliche Fragestellungen und Ansätze können geradezu als Nebenprodukt der Prüfungsverfahren und Beobachtungen zu anderen vorherigen Hypothesen entstehen. Wenn man so will, wäre so zumindest ein induktiver Effekt wirksam, wenn auch u. U. unbewußt. Nicht zuletzt sind in Prüfung befindliche Hypothesen bzw. bewährte Hypothesen ja ebenfalls Bestandteile der Erfahrung und können zu neuen Hypothesen anregen269. Aber es ist eine ganz andere Frage, ob wir trotz des Wertes induktiver Schlüsse, diese als Erkenntnisweg bevorzugen und für die Erarbeitung von Regionalprognosen als brauchbar und sinnvoll erachten. Wir sehen gleichzeitig eine wesentliche Gefahr im Induktivismus, wenn er auf regionale Prognosen angewandt wird, da mit zunehmender Bestätigung durch Einzelfälle eine Voraussagesicherheit vorgetäuscht wird, die auf der Basis induktiv gewonnener Hypothesen logisch an sich nicht gerechtfertigt ist.
2.3.3 Die „Ehrlichkeit" der deduktiven Methode Warum nun erscheint uns der deduktive prognostische Ansatz dem induktiven überlegen? Vor allem, weil von vornherein davon ausgegangen wird, daß unsere Hypothesen und Theorien Versuche zur Erklärung der Wirklichkeit darstellen, die über Irrtum und Fehlerbeseitigung ständig verbessert werden müssen und weil somit alle darauf aufbauenden Voraussagen ebenso nur provisorisch und mit Verbesserung oder Änderung der Hypothesen und Theorien zu verändern sind270. Damit wird soziale Voraussage zu einem flexiblen Vorgang, sie wird zur ständig anzupassenden Orientierungshilfe, niemals aber zur endgültigen bzw. hochwahrscheinlichen Behauptung (im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung). Die Ableitung von Prognosen aus zuvor konstruierten axiomatischen, empirisch zu kontrollierenden Aussagesystemen (vgl. Kap. 2.5) steigert das Verständnis dafür, sie zwangsläufig als Leistungen unseres Denkens und nicht als Folge fortschreitender unmittelbarer Beobachtung aufzufassen; damit werden sie immer erneut in Frage zu stellen und zu verbessern sein. Sie stehen in Wechselwirkung zu unserem Bild von der Welt, unserer Wahrnehmung und Deutung der Phänomene sowie deren Bewertung. Somit wird der Sinn geschärft für die Relativität und Situationsabhängigkeit unserer Voraussagen. Besonders im Bereich des menschlichen (raumbezogenen) Verhaltens, und das ist im wesentlichen unser Feld, erscheint diese Sicht als unabdingbar
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und dem Wesen des Menschen besser gerecht werdend. Wir werden aufzeigen, warum. 2.3.3.1 Irreguläre Entscheidung gemäß Bewertung Richtet sich unser Handeln in einer Entscheidungssituation nur nach der (subjektiven) Wahrscheinlichkeit der zu erwartenden Ergebnisse? Also wechseln wir ζ. B. einen Wohn- und Arbeitsort lediglich unter dem Gesichtspunkt, daß die subjektive Wahrscheinlichkeit, an einem anderen Ort bessere Einkommens- und Arbeitsbedingungen vorzufinden, größer ist? Zweifellos nicht. Ebenso gehen zahlreiche andere Überlegungen, Gefühle, Annahmen etc. in unser Kalkül ein (vgl. Diagramm 2 - weiter vorn). Ein Prozeß der sinngebenden synergetischen Bewertung findet statt (siehe erster Teil, Kap. 7.8). Die subjektive Einschätzung des Wertes der Konsequenzen einer Entscheidung wird also von großer Bedeutung sein. Dieses Inwertsetzen stellt keine objektive Größe dar, etwa gemessen am Gebrauchswert, am Verkehrswert bzw. Verkaufswert einer Sache; es handelt sich weniger um eine numerische Größe als vielmehr um die Folge einer subjektiven Bewertung durch eine bestimmte Person. So werden auch gleiche Sachverhalte für die verschiedenen Personen von durchaus unterschiedlichem subjektivem Wert sein. Diese subjektive Bewertung ist eine der Grundlagen des subjektiven Nutzens, den man von einer Entscheidung erwartet. Wenn wir unterstellen, daß der Mensch unter der Maxime handelt, den Nutzen seines Verhaltens zu maximieren - ungeachtet dessen, ob eine solche Annahme berechtigt ist271 - müssen wir davon ausgehen, daß das tatsächliche Verhalten sowohl von der subjektiven Bewertung der erwarteten Ergebnisse des Handelns wie auch von der subjektiven Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, daß diese Ergebnisse eintreffen, 272 bestimmt wird. Entsprechend der Bewertung können also andere Präferenzen hinsichtlich der zukünftigen Handlungen gebildet werden, als sie sich aus der Wahrscheinlichkeitsschätzung ergeben; eine ausschließlich an der subjektiven Wahrscheinlichkeit orientierte Entscheidung wird folglich entsprechend überprägt273. Synergetische Bewertung und subjektive Wahrscheinlichkeitsschätzung erscheinen uns also keineswegs als wechselseitig ersetzbar und ableitbar, wie dies die rationale Entscheidungstheorie unterstellt274. Es ist allerdings außerordentlich schwierig, für das tatsächliche Verhalten, das sowohl auf der erwarteten Wahrscheinlichkeit von Verhaltensfolgen als auch auf der synergetischen Bewertung fußt, eine Theorie der Entscheidung zu konstruieren, die realistisch und anwendbar ist, zumal sich beide Komponenten durchaus wechselseitig beeinflussen können und ihr jeweiliger Ein-
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fluß auf die Entscheidung sehr verschieden ist275. Die Präferenzen, die durch die Bewertungen entstehen, lassen sich nicht verläßlich mit der subjektiven Wahrscheinlichkeit der zu erwartenden Ergebnisse des Handelns verbinden276, so daß keine eindeutige, beständige Präferenzskala für die voraussichtlichen Handlungen vorgelegt werden kann 277 . Zudem haben die einzelnen Bewertungen, im Sinne synergetischer, rational-intuitiver Bewertungen (vgl. ausführliche Darstellung erster Teil, Kap. 8), trotz einer gewissen Stabilisierung durch den Sinnbezug, als Folge ihrer Situationsabhängigkeit latent eine die Entscheidung relativierende Wirkung. Das heißt aber doch, unsere tatsächlichen Entscheidungen des praktischen Handelns entwickeln und verändern sich wie in einem brodelnden Kessel durch situationsabhängigen Wandel unserer Bewertungen 278 . Das bedeutet aber wiederum, daß unsere synergetischen Bewertungen und unsere Entscheidungen sich in der Regel nicht mehr oder minder „ähnlich" wiederholen, sondern sie unterliegen - abhängig von der Situation, vom Alter, von den Erfahrungen, der Sinnorientierung, den Gefühlen etc. - potentiell der Veränderung, und sie sind zwischen den Menschen außerordentlich verschieden. Das schließt nicht aus, daß als Folge ähnlicher synergetischer Bewertungen auch ähnliche Entscheidungen bei verschiedenen Menschen auftreten, das ist aufgrund der Wirkung des Biogramms sogar durchaus wahrscheinlich. Aber wir können eben Entscheidungen, gewissermaßen wiederholend, nicht verläßlich aus früheren Entscheidungen ablesen. Unsere Hypothesen und Theorien bezüglich des raumbezogenen Verhaltens der Menschen müssen also so geartet sein, daß sie situationsabhängige irreguläre Entscheidungen der Menschen einbauen und erklären. Unsere Theorien, ζ. B. zur regionalen Entwicklung, auf denen Voraussagen aufbauen, müssen so beschaffen sein, daß sie die relativierende Wirkung der Entscheidungen der Menschen berücksichtigen. Hier nun liegt der Vorteil der deduktiven Methode, daß wir Theorien aufspüren können, die diesen Gesichtspunkten gerecht werden sollen und daß wir ihre Bewährung daran prüfen, wie sie mit der Praxis übereinstimmen.
2.3.3.2 Verbesserang der Theorien statt „reiner" Beobachtung Unsere Beobachtungen zeigen uns die Wirklichkeit nicht, wie sie „an sich" ist, sondern so, wie wir sie durch die Filter unserer selektiven Wahrnehmung und entsprechend unserer hypothetischen Vorstellungen von der Welt aufnehmen (vgl. erster Teil, Kap. 7.7.1). Solange wir mit unserem Bild von der Wirklichkeit fähig sind, zu überleben und sogar durch spielerische Variation unserer hypothetischen Vorstellungen von der Welt in der Lage sind, bisher nicht wahrgenommene Dimensionen und Aspekte der Welt zu erkennen und
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diese unserem Überleben dienstbar zu machen, ist es auch nicht so wichtig zu wissen, was „die reine Wahrheit" dieser Welt ist. Wir begnügen uns damit, unsere jeweilige Wahrheit - insofern wir sie als Übereinstimmung mit den Tatsachen auffassen - durch fortschreitende Hypothesen- und Theorienbildung zu finden, wissend, daß damit „ Wahrheit" als flexibel, relativ und sich entwickelnd zu verstehen ist279. Wir werden nachfolgend einige von K. R. POPPER entwickelte Auffassungen heranziehen, um die Bevorzugung der deduktiven Hypothesenbildung und Theoriebildung einschließlich der darauf fußenden Voraussagen zu verdeutlichen. POPPER kritisiert vor allem eine von ihm als „Kübeltheorie des Geistes" bezeichnete Auffassung, nach der wir mit unseren Sinnen alle Informationen und Wahrnehmungen in uns hineinkippen und in uns Eindrücke, reine Informationselemente, direktes Wissen als reine Information etc. ansammeln280. Diese wahren Sinnesdaten lassen durch Assoziation zwischen verschiedenen Elementen und verstärkende Wiederholung Erwartungen und Glaube an unfehlbare Assoziationen entstehen, die dann als Erkenntnis verstanden werden. Gleichzeitig wendet sich POPPER gegen die gerade vom Behaviorismus vertretene Tabula-rasa-Theorie, die eine weitgehende „Leere" des Bewußtseins bei der Geburt unterstellt und davon ausgeht, daß wir mit dem Heranwachsen, so wie sich der Kübel durch Erfahrung, Assoziation und Verstärkung füllt, lernen. Der Fehler beginnt schon damit, daß unterstellt wird, der Mensch nehme reine unmittelbare Wahrnehmungen, reine Daten auf, auf denen dann seine Handlungen aufbauen281. Vielmehr setzt Beobachtung bereits Erwartungen voraus, „reine" Beobachtung gibt es nicht. Wir werden von vornherein mit Dispositionen (ζ. B. Disposition zum Erlernen der Sprache; oder vorprogrammiertes Erwartungsschema bezüglich der Wirklichkeit - Biogramm) geboren, die in uns durch zunehmende Erfahrung weiter heranreifen und uns in die Lage versetzen, die auf uns einströmenden Informationen zu entschlüsseln und in ein geordnetes System einzubauen. Die Theorie ist die Brille, die teils ererbt, teils selbst entwickelt, benutzt wird, um sich in der Welt zu orientieren. Entsprechend selektieren wir die Informationen und nehmen sie gemäß unseren Erwartungen bzw. theoretischen Vorbewertungen wahr, nicht, wie sie möglicherweise „an sich" sind. Die Entwicklung von Theorien über die Welt (auch als Sinngebung oder Werthaltung) ist also durchaus existenzwichtig, da wir sonst bei ungefilterten Informationen hilflos zwischen den vielfältigen Impulsen, die aus der Umwelt auf uns einströmen, hin und hergerissen würden. Vor allem aber sind wir in der Lage, unsere Theorien zu verändern und so auch unsere Wahrnehmung und Beobachtung und unser Handeln neu zu orientieren, besonders dann, wenn wir, unsere Erwartungen und Vorstellungen an der Erfahrung mit der Praxis überprüfend, feststellen, daß unsere
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Theorien der Verbesserung bedürfen, wenn wir also der auch in der Wissenschaft bewährten deduktiven Methode folgen. So entsteht eine Flexibilität im Handeln, durch die die Überlebenschance beträchtlich gesteigert werden kann, eben weil wir dann fähig sind, Theorien, Auffassungen, Wahrnehmungen von der Welt, die sich nicht bewähren, durch bessere Theorien zu ersetzen. Nicht Gewohnheit und Wiederholung sind typisch für unser Verhalten, sondern die Erprobung, das Prinzip „Versuch und Irrtumsbeseitigung". Mit zunehmender Verbesserung unserer Auffassungen, mit der wachsenden Bewährung im Rahmen dieses probierenden Verfahrens verbessern wir die Voraussetzungen für eine rationale Orientierung unseres Handelns. So wird unser Verhalten im täglichen Leben auch weniger durch induktive Verfahren bzw. Schlüsse gelenkt (natürlich auch durch diese) als vielmehr durch Erarbeitung, Verbesserung und Ausbau unserer Vorstellungen von der Wirklichkeit und durch Anwendung der bis auf weiteres besten verfügbaren Theorien (vgl. Verweis in Kap. 2.2.1). Freilich ist gerade darin, und das kennzeichnet die Realitätsnähe dieses Ansatzes, die Möglichkeit des Irrtums enthalten, aber dadurch werden die Menschen in ihrer Gesamtheit nicht gefährdet, vielmehr wird die Verbesserung der Theorien, Annahmen und Grundsätze ausgelöst282. So gewinnen wir eine hochgradige Fähigkeit zum Experimentieren, wie sie kein anderes Lebewesen auszeichnet. Wesentlich ist nun der Gedankengang POPPERS, daß sich der Mensch gewissermaßen selbst überschreitet, indem er mit diesem Verfahren der zunehmenden Verbesserung der Theorien, Ansichten, Erwartungen über die Wirklichkeit durch Versuch und Irrtumsbeseitigung in eine neue Welt, die Welt der sich schöpferisch entfaltenden Vorstellungen stößt283. Das SichVorstellen der Verhältnisse außerhalb unserer Erfahrungen bedeutet nach K. R . POPPER, daß sich der Mensch neben der ersten Welt der physikalischen Gegenstände oder Zustände und neben der zweiten Welt seines Bewußtseins in enger Zuordnung zu dieser eine dritte Welt, die Welt des „objektiven Geistes", die Welt der Theorien, der Wissenschaft, der Kunst etc. geschaffen hat284. Statt uns durch langsame Evolutionen die eigenen Organe zu verbessern und unsere Gedächtnisleistungen und Speicherkapazität unseres Gehirnes zu steigern, obwohl auch das möglicherweise stattfindet, verbessern wir durch argumentative Sprache und durch das Niederschreiben unserer Resultate des Denkens, durch Bücher, Bibliotheken, Rechenanlagen unsere rein organisch begrenzte Möglichkeit und schaffen uns selbst eine neue Dimension der Existenz, die sich abhebt von den Leistungen der Einzelorgane, diese aber mit neuen Möglichkeiten verbindet, sie mit einer neuen Welt, der dritten
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Welt, verknüpft. Ginge diese dritte Welt verloren, so wären wir, zumindest solange, bis der drittweltliche Apparat wieder erneut aufgebaut würde, lediglich mit unserem originären Denken doch recht hilflos. Mit dieser dritten Welt verfügen wir über ein Aktionsfeld für Spekulationen und die Phantasie bezüglich der möglichen Erklärungen und auch Wahrnehmung der Welt; hier werden Deutungen und Theorien erprobt; es ist die Welt der Wissenschaft, des Geistes. In ihr werden aber auch Vorstellungen, Bewertungen, Ziele bezüglich des konkreten Handelns der Menschen aufgebaut, aber sie sind in dieser spekulativen Zone einer dritten Welt in gewisser Weise vogelfrei, subjektiv und wandelbar. Diese Variabilität ist schon angelegt in der Wahrnehmung, aber auch in der ständigen Weiterentwicklung der Theorien; es macht die Freiheit des Denkens aus, die aber eben der Kontrolle durch deduktive Überprüfung in der Praxis bedarf. Es wird deutlich, daß auch unsere Voraussagen Leistungen dieser dritten Welt sind, nicht Verlängerungen „reiner" Beobachtungen, sondern daß sie im Rahmen bestimmter Vorstellungen (einer Theorie), deren Gültigkeit erst in deduktiver Überprüfung erprobt wird, abgeleitet werden müssen, so daß Irrtum nicht ausgeschlossen ist. Auch soziale Voraussage ist Experiment und niemals a priori wahr. Aber wir können unsere Voraussagen über Verfahren (der dritten Welt) gewinnen, die der jeweils spezifischen Situation möglichst gut gerecht werden. Diese Verfahren müssen berücksichtigen, daß die Entscheidungen der Menschen als Folge eines jeweils spezifischen differenzierten Bewertungsprozesses getroffen werden (vgl. vorheriges Kap.) und daß auch die der Entscheidung und Bewertung zugrundeliegenden Beobachtungen bereits theorieabhängig und an Hypothesen gebunden, von uns selbst gefiltert, aufgenommen wurden (vgl. vorliegendes Kap.). Die Verfahren müssen uns die Relativität unserer Voraussagen verdeutlichen, denn die Entscheidungen der Menschen können sich ständig wandeln. Wir benötigen Verfahren zur Durchführung flexibler Prognosen. Diesen Anforderungen ist die Ableitung der Voraussage aus der Beobachtung bisheriger Entwicklung, also dem induktiven Verfahren folgend, nicht gewachsen.
2.3.4 Verhalten ist potentiell relativ Die Auffassung, daß das Verhalten des Menschen letztlich als notwendige Folge einer Kette von Ursachen zu verstehen ist, also entweder im Sinne eines psychologischen Determinismus, der alle unsere Handlungen aus unserem Charakter, den Neigungen, Stimmungen, Umständen, Motiven etc. ableitet oder im Sinne eines physikalischen Determinismus, nach dem alle Handlungen wie auch schöpferische Leistungen als Folgewirkungen physika-
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lischer Systeme und entsprechender Steuerungen im Menschen zu begreifen wären, darf als weitestgehend überwunden angesehen werden. Spätestens mit der Entdeckung der Unschärferelation durch HEISENBERG wurde das Prokrustesbett des Determinismus verlassen. Der Indeterminismus in der Physik, wonach „nicht alle Ereignisse in der physikalischen Welt völlig genau in allen ihren kleinsten Einzelheiten vorherbestimmt sind" ( K . R. POPPER, 1 9 7 3 , S. 2 4 5 ) , schien die Brücke zu schlagen zum ohnehin wirksamen Unbehagen am Determinismus in den Geiseswissensçhaften. Klärend mußte aber vor allem wirken, daß nun die Phänomene der zumindest relativen Freiheit der Entscheidung nicht mehr von vornherein als Täuschung zu deuten waren, die sie hätten sein müssen, falls der Mensch als physikalisch oder psychologisch determinierter Apparat verstanden wird. Jetzt wurde der Freiraum sichtbar, in dem Geist und Wille ihren Platz haben und wo die Wurzeln auch unberechenbarer menschlicher Handlungen liegen. Die Unvorhersagbarkeit eines Quantensprunges285, die Unbestimmtheit, das Unwägbare, mit der jedes einzelne elementare Ereignis behaftet ist, konnte nun auch auf die beobachtete Unbestimmtheit vieler menschlicher Entscheidungen übertragen werden. In Fortführung dieser Parallele müßte also der Zufall eine große Rolle auch im menschlichen Verhalten spielen. In der Physik schließt die Unbestimmtheit des Verhaltens eines einzelnen Elementarteilchens nicht aus, daß dann, wenn solch „unscharfes" Verhalten in großer Zahl, also massenhaft, in makroskopischer Dimension, auftritt, das Verhalten der Gesamtheit der Teilchen gesetzmäßigem Ablauf unterliegt (ζ. B. den Gesetzen der Thermodynamik), der dann auch bezüglich der Elementarteile durch Wahrscheinlichkeitsaussagen als berechenbar erscheint. So läge es in Analogie zur Physik nahe, hinter den anscheinend zufälligen Verhaltensweisen des einzelnen Menschen ein geregeltes „massenhaftes" Verhalten der Gesamtheit zu vermuten und dieses mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie zu erfassen. So würde das Verhalten der großen Zahl der Menschen als ein stochastischer Prozeß voraussagbar (vgl. Kap. 2.4 am Ende). Es müßten sich also Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Verhalten des einzelnen (analog dem Elementarteilchen) oder vieler Menschen (analog dem Ensemble der Teilchen) gewinnen lassen. Doch diese Annahme unterliegt einem beträchtlichen Irrtumsrisiko. Das in seiner Gesamtheit gesetzmäßigem Ablauf unterliegende Ensemble von Elementarteilchen setzt sich aus gleichen Teilchen oder aus mehreren Kategorien gleicher Teilchen zusammen, zwischen denen sich - im Sinne des gesetzmäßigen Ablaufs - eine Wechselwirkung herausbildet. Beim Menschen jedoch treten Personen in Beziehung zueinander, die in ihrer Individualität sehr verschieden, in ihrem vielfältigen Verhalten sehr unterschiedlich sein können. Für das Verhalten
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gleicher Elementarteilchen oder Kategorien gleicher Teilchen lassen sich Wahrscheinlichkeitsaussagen (ζ. B. bezüglich ihrer Geschwindigkeit) gewinnen. Das ist hinsichtlich des menschlichen Verhaltens wesentlich schwerer, wenn auch für spezifische Handlungsweisen (ζ. B. das Einkaufsverhalten) keineswegs ausgeschlossen. Aber selbst wenn eine Wahrscheinlichkeitsaussage akzeptiert würde, besagt das wenig über das tatsächliche Verhalten. Eine gewisse „Zufälligkeit" des voraussichtlichen Verhaltens des einzelnen bliebe bestehen. Das gilt vor allem dann, wenn unterstellt wird, daß das Verhalten des einzelnen unabhängig von den Entscheidungen anderer sei, so daß die Entscheidungen nach einer Zufallsverteilung erfolgen würden. Mit Recht fragt K . R. POPPER ( 1 9 7 3 , S. 2 5 2 ) , ob Zufall, und wir fügen hinzu, ob Wahrscheinlichkeit, wirklich befriedigender sei als Determinismus286? Müssen wir nicht vielmehr nach Vorstellungen suchen, die uns ein besseres Verständnis des menschlichen Verhaltens bieten? Springt denn der einzelne unabhängig und zufällig zwischen verschiedenen Entscheidungen hin und her? Erfolgt denn seine Entscheidung für eine Alternative gemäß der unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit, wie sie sich aus dem angeblich gesetzmäßigen oder regelhaften Verhalten der Gesamtheit ergibt? 2.3.4.1 Die ¡categoriale Besonderheit des menschlichen Verhaltens Im allgemeinen handelt der Mensch als denkendes Wesen, nicht als kleinstes physikalisches Quantum. Diese höhere Seinsform „Mensch" ist auch im Ablauf ihres Verhaltens höher organisiert, selbst wenn im Menschen auch Prozesse niedrigerer Seinskategorien, also etwa des atomaren und molekularen Bereichs, eingebettet sind. Die von N. HARTMANN (1964) vorgestellte Lehre von den Schichten des realen Seins hilft uns, die qualitative Besonderheit menschlicher Entscheidungsprozesse und Verhaltensweisen zu erkennen. HARTMANN unterschied vier Schichten des realen Seins: das Anorganische, das Organische, das Seelische und das Geistige. Diese ruhen aufeinander - die jeweils höhere Schicht kann nicht ohne die jeweils niedrigere existieren - aber sie stellen durchaus andersartige Kategorien der Realität dar. So lagert sich das Anorganische mit seiner Gesetzlichkeit in das Organische ein, als Grundlage einer darauf aufbauenden Eigengesetzlichkeit des Organischen. Das Organische wiederum ist eine Voraussetzung des Seelischen und dieses eine Grundlage des Geistigen. Die Schichten des Seins sind miteinander verbunden, indem die Funktionsprinzipien der jeweils unteren Schichten in die jeweils höheren Kategorien eingebracht werden, als Basis darauf aufbauender neuer Eigengesetzlichkeit der höheren Schicht. Lassen wir offen, ob die Ünterscheidung der vier Schichten befriedigt. Wichtig bleibt die Einsicht, daß höhere Organi-
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sationen des Realen, höhere Seinskategorien, zwar auf den Funktionsprinzipien der niedrigeren (auch entwicklungsgeschichtlich gesehen) aufbauen, niemals aber durch diese voll erklärt werden können; das jeweilige Anderssein der Seinskategorien läßt auch neue Gesetzlichkeit und neue Regelung entstehen. Mit anderen Worten, Elektronen werden sich nicht wie Bakterien verhalten, diese sich nicht wie Katzen und Katzen nicht wie Menschen, wenn auch das Verhalten des Menschen nicht ohne Geltung der Verhaltensprinzipien niedrigerer Seinskategorien möglich ist. Jedoch gilt für die niedrigeren Schichten des realen Seins die Gesetzlichkeit der höheren Kategorien nicht. So kann der Mensch zwar zurückfallen auf niedrigere Stufen der Existenz, das geistige Leben kann ersterben, das seelische verkümmern, die Organe können verfallen, der Mensch kann sich immer unähnlicher werden; nicht aber vermag die Katze zu philosophieren, das Bakterium zu miauen und das Elektron sich kumulierend zu teilen. So sind die verschiedenen Ebenen der Gesetzlichkeit zwar untereinander verknüpft, aber gleichzeitig hierarchisch geschichtet. Allgültige Gesetze (Seinsprinzipien) gibt es nur von unten nach oben, nicht vom Höheren und Komplexeren nach unten. Welches Zerrbild vom Menschen würde man zeichnen, wenn menschliches Verhalten mit der Gesetzlichkeit oder Regelung des Organischen oder gar Anorganischen und nicht auch mit den Funktionsprinzipien des Seelischen und des Geistigen erklärt werden sollte. Die neue Qualität der Seinsprinzipien in den höchsten Schichten des realen Seins zeigt sich auch daran, daß sie eine größere Flexibilität der Lebewesen erlaubt. So beginnt oberhalb der strengen Gesetzlichkeit ζ. B. des Anorganischen und teilweise des Organischen die Variabilität der höheren Organisation, des Seelischen und vor allem des Geistigen. Es werden Regelungen, Seinsprinzipien, Steuerungen, oder wie wir es auch nennen mögen, wirksam, die differenziertes und flexibles Verhalten ermöglichen. Nicht zuletzt treten neue Phänomene auf, wie das der Freiheit, als eines wertvollen Bestandteiles der Empfindungen und des Geistes. Dieser Freiheit kann ein Berg oder Baum, als Element einer anderen Seinskategorie, niemals teilhaftig werden. Welche Regelungen des Seins, bzw. - im Rahmen unserer Fragestellungen - der Entscheidungen gelten nun für den Menschen? Zufall und Determinismus erklären auf keinen Fall befriedigend die Herausbildung menschlicher Entscheidungen. In der Regel sind die Entscheidungen der Menschen mehr oder minder gut überlegt. Sie reifen in einem Prozeß des Abwägens heran und wenn sie als spontan erscheinen, liegen ihnen meist zuvor erarbeitete Dispositionen zugrunde, oder es wird auf bewährte Erfahrungen zurückgegriffen, die routinemäßige Verhaltensweisen zur Folge haben, ohne damit deterministisch verankert zu sein. Freilich können auch
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Launen, Stimmungen, Eingebungen, die vermutlich sehr eng mit bestimmten physischen Abläufen kombiniert sind, entscheidend wirksam werden. Auf jeden Fall findet im Menschen, in Konfrontation mit den Möglichkeiten, die die Umwelt bietet, ein komplizierter Prozeß statt, an dessen Ende die Entscheidung zur Handlung steht. Nicht reiner Zufall und auch kein Determinismus, also strenge Abhängigkeit von letztlich physischen oder psychischen Phänomenen, regieren den Menschen. Seine Ziele, die Werthaltungen, Phantasie, Hoffnung, Glaube und Wissen, aber auch genetische Fixierungen des Verhaltens, beeinflussen ihn zumindest ebenso wie die vorgefundenen Umstände (Umwelt im weitesten Sinne) und seine physiologische und körperlich-seelische Begrenztheit287. Das Phänomen einer vergleichsweise freien Entscheidung des Menschen findet seine Erklärung nicht im Zufall und noch viel weniger in der strengen Abhängigkeit von wechselnden Umweltbedingungen, sondern kann nur über einen sehr komplexen Steuerungs- und Regelungsvorgang (unter Einschluß sinngebender Bewertung) zwischen der einzelnen Person und den Umweltbedingungen verständlich gemacht werden. Wir haben versucht, einen solchen Regelkreis (vgl. erster Teil, Kap. 7.5) darzustellen.
2.3.4.2 Freiheit als Fälligkeit zur phantasievollen Kritik eigener Hypothesen Freiheit und Regelung von Entscheidung und Verhalten lassen sich nur über die Vorstellung einer flexiblen Steuerung oder Regelung bzw. einer „plastischen Steuerung"288 in Einklang bringen (s. o. erster Teil, Kap. 7.9). Wir verzichten also von vornherein auf die Annahme, daß dieses Steuerungs- und Regelungssystem durch gleichmäßigen und genau proportionierten Fluß der Impulse und Wirkungen zwischen den verschiedenen beeinflussenden Elementen gekennzeichnet ist; eine starre Steuerung wäre ohnehin als unbiologisch zu kennzeichnen. Vielmehr wirken zahlreiche Rückkoppelungen, die von Person zu Person in ihrer Intensität und Anzahl unterschiedlich ausgeprägt sind und die sich außerdem in einer Person abhängig von der jeweiligen Situation allmählich wandeln und verändern können (s. o. erster Teil, Kap. 7.8). Auch an solchen Differenzierungen unterscheiden sich die einzelnen Menschen. Schon diese individuelle Komponente bei der Entscheidung und im Verhalten macht deutlich, daß „reiner Zufall" wohl eine sehr phantasielose Erklärung unserer Handlungen wäre289. Es wäre eine Erklärung, die geradezu mißachtet, daß der Mensch in sich Theorien und Vorstellungen von der Welt aufbaut und daß er denkend als Folge von Versuch und Irrtumsbeseitigung neue Theorien entwirft. Sollte sein Handeln nur so erklärt werden, als
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ob diese Denkleistungen in ihm gar nicht stattfinden? Wozu wären sie dann notwendig? Wäre dann nicht vielmehr die blinde Erprobung bestimmter Verhaltensweisen sinnvoller? Scheitert daran eine Person, dann überleben eben nur diejenigen, die nicht so fahrlässig experimentieren. So wäre der einzelne das Versuchskaninchen seiner Art. Gerade diese Vermutung aber unterschätzt den Menschen, denn auch als einzelner, und nicht nur allmählich als Art über Selektionen und Mutationen, lernt der Mensch, sich umweltgerecht zu verhalten. Dabei werden gefährdende Annahmen über das Prinzip „Versuch - Irrtum - Fehlerbeseitigung" ausgemerzt. Ein darauf ruhendes Verhalten kann nicht durch blindes Handeln nach dem Zufall, sondern nur durch Denken und vorsichtiges Erproben geleitet sein. Allerdings schließt das nicht aus, daß der einzelne auch mit falschen Theorien und demgemäß falscher und gefährdender Lebensführung scheitern kann (vgl. erster Teil, Hypothesen 7,9), aber entscheidend ist, daß auch daraus wieder andere Menschen lernen, indem sie ihre eigenen Hypothesen überprüfen und verändern. Wir haben die Freiheit, aus unseren und anderer Fehler zu lernen oder nicht, um den Preis des Erfolges oder Irrtums. Wir treten mit der Umwelt und mit uns selbst (bzw. mit unseren Vorstellungen) in Wechselwirkung, das ist die Freiheit in uns und die Freiheit gegenüber der Umwelt; es ist eine Freiheit der Wechselwirkung. Das heißt, wir lassen uns steuern durch unsere Theorien und Vorstellungen, aber eine kritische Unruhe bzw. Neugierde drängt uns dazu, die Theorien in Frage zu stellen; wir bedenken sie kritisch: „nicht nur unsere Theorien steuern uns, sondern wir können unsere Theorien steuern" (K. R . POPPER, 1973, S. 267). Daß wir uns die Freiheit nehmen, unsere eigenen Vorstellungen in Frage zu stellen und neue Vorstellungen und Hypothesen in der Umwelt zu erproben, ist unsere innere Freiheit. Die Wahl der Form, in der wir sie erproben, kennzeichnet unsere Freiheit gegenüber der Umwelt und der Situation (s. erster Teil, Kap. 7.9). Die Möglichkeiten, die uns Umwelt und Gesellschaft gewähren, das Ausmaß, in dem sie uns einschränken oder helfen, bezeichnen den Grad der äußeren Freiheit. Je besser entwickelt die äußere Freiheit ist, desto eher vermag sie als Kriterium zur Überprüfung unserer Vorstellungen, an der Verbesserung und Entwicklung bewährter, wahrheitsähnlicher Hypothesen, die dem Wesen des Menschen gerecht werden, mitzuwirken. Die Korrektur falscher Hypothesen wird erleichtert. Das alles gilt auch für die Gestaltung unseres Daseinsraumes290. Freilich kann der nicht denkende Mensch, so wie die Amöbe, weil er sich selbst nicht kritisch gegenübersteht, mit Beharrlichkeit auch falsche Hypothesen anwenden und auf falsche Erwartungen bauen, zahlt dafür aber möglicherweise mit seiner Existenz. Auch die entwickelte Menschheit ist vor solch unfruchtbarer Primitivität nicht sicher, wie die Starrheit totalitärer Theorien, die sich in der
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Regel erst durch Untergang der durch sie hervorgebrachten Ordnung überwinden lassen, immer wieder zeigt291. 2.3.4.3 Die Notwendigkeit der Flexibilität und potentiellen Unwägbarkeit der Entscheidung Dieselbe kritische Haltung, mit der wir unseren Theorien gegenübertreten, sollten wir auch gegenüber deren Konsequenzen, den von uns angestrebten Zielen, einnehmen. Analog wären mit der Methode von Versuch und Irrtumsbeseitigung aus alternativen Zielen flexibel die vernünftigsten herauszuarbeiten. Wollten wir unsere Ziele des Handelns grundsätzlich starr festlegen, so wäre das schon deswegen unsinnig, weil sich die Bedingungen ohnehin ändern - wenn auch möglicherweise nur allmählich - und weil dem Menschen bei seiner zielsetzenden Entscheidung nur begrenzte Informationen und mangelnde Kenntnis der Folgewirkungen und Entscheidungsinterdependenzen (vgl. Kap. 2.4, Punkt 10) verfügbar sind. Ideologisch verfestigte Zielsetzungen werden immer Gefahr laufen, Folgewirkungen auszulösen, die die Menschen gefährden oder ihnen zumindest schaden können. Eine entsprechend starre Haltung ist unnötig risikoreich. Auch wenn die Gefährdungen der Menschen aufgrund der außerordentlich hohen Anpassungsfähigkeit lange verschleppt werden können (vgl. Hypothesen 7-9), bedeutet das nicht, daß sie damit verhindert wurden. Ehe man aber die „natürliche Auslese" durch Untergang derjenigen, die an nicht angemessenen Zielen festhalten, provoziert, sollten zuvor die Ziele geprüft werden, ob sie noch angemessen sind. Besser aber sollte man „unsere Hypothesen anstelle von uns selbst sterben lassen" (K. R. POPPER, 1973, S. 274). Eng damit zusammen hängt, daß auch die Bewertungen, die der Mensch vornimmt, nicht starr sind, sondern je nach dem Ergebnis der flexiblen Wechselwirkung der Uberprüfung und ggf. der Veränderung bedürfen (s. o. Kap. 7.8). Sicher können dabei auch zufällige Intuitionen, Eingebung o. ä. eine hilfreiche Funktion erfüllen, aber die freien echten Entscheidungen der Menschen sind vor allem Folgen des Denkens, der Prüfung, der Wechselwirkung mit der Umwelt und keine Zufälle, so wie sie auch nicht deterministisch entstehen, sondern einschließlich ihrer Spannweite Ergebnisse abwägender sinngebender Bewertung sind. Mit diesem Versuch, Freiheit zu deuten (vgl. vorheriges Kap. 2.3.4.2) wird wiederum deutlich, daß menschliches Verhalten zwangsläufig durch eine potentielle Beweglichkeit, Veränderbarkeit und Unwägbarkeit gekennzeichnet ist.292 Wir haben bereits an anderer Stelle deutlich zu machen versucht (vgl.
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erster Teil, Kap. 7.8; zweiter Teil, Kap. 2.3.3.1), daß sich die Entscheidung des Menschen über eine sehr komplexe synergetische sinngebende Bewertung vollzieht, in die sowohl eine subjektive Einstufung der „Werte" unter dem Ziel, den subjektiven Nutzen zu maximieren, wie auch die subjektive Schätzung der Wahrscheinlichkeit, mit der dieses Ziel erreichbar erscheint, eingehen. Ebenso aber sind die intuitiven Komponenten (Eingebung, Stimmung, Unterbewußtsein etc.), die Konstitution, der Gesundheitszustand, die individuelle Erfahrung, aber auch Phänomene des kollektiven Verhaltens (N. J. SMELSER, 1972) beeinflussend wirksam. Die damit entstehende Variabilität ist Ausdruck eines existenzsichernden Prinzips (s. o. erster Teil, Kap. 7.9). Wir müssen immer wieder Vorstellungen, Erwartungen, Hypothesen und Theorien erproben. Wir müssen experimentieren, um im Rahmen veränderter Situationen die jeweils sinnvollen Entscheidungen und die am besten bewährten Verhaltensweisen herauszuarbeiten. Daher ist eine gewisse Flexibilität der Entscheidung notwendig. Das allerdings heißt nicht, daß Entscheidung zufällig erfolgt; sie bleibt bedingt durch synergetische Bewertung bzw. durch Denken, Intuition, Gefühl etc. Eine produktive geistige Unruhe im Menschen, die Fähigkeit, eigenen Theorien und Auffassungen kritisch gegenüberzustehen, die Möglichkeit, durch Denken zu experimentieren, (siehe auch Kap. 2.3.3.2) erklärt das Verhalten des Menschen als potentiell variabel. So ist menschliche Entscheidung durch Relativität und potentielle Unwägbarkeit, freilich auch durch eine begrenzte Regelhaftigkeit (Wirkung der kognitiven Dissonanzreduktion etc.) gekennzeichnet (siehe erster Teil, Kap. 8.8-7.10), nicht aber durch Zufälligkeit. Der tiefere Sinn und die Notwendigkeit dieser Unwägbarkeit wird uns deutlicher, wenn wir auf ein Prinzip, das der Gesamtentwicklung des biologischen Lebens zugrundeliegt, verweisen. Die Entwicklungsgeschichte wäre nicht möglich und auch der Mensch nicht vorhanden, wenn nicht bei den Nukleinsäuren, als den Trägern der genetischen Information, im Zuge der Vererbung ab und zu kleine Übertragungsfehler auftreten würden. Durch diese „Unschärfe" bei der an sich recht invarianten Reproduktion genetischer Informationen wird Leistung und Bau eines Organismus zufällig und gewissermaßen probeweise variiert. Doch findet der Zufall dieser Mutation seine Begrenzung im Zwang zur Bewährung dieser Organismen innerhalb ihrer Umwelt. Bewährt sich das variierte genetische Programm hinsichtlich seiner Konsequenzen für die Existenz unter konkreten Bedingungen nicht, wird das entsprechende Lebewesen scheitern. Es vermag sein variiertes genetisches Programm nicht zu vererben. Die zufällige Mutation findet ihre Kontrolle durch die Auslese. Bewähren sich dagegen die neuen Eigenschaften, und steigern sie die Überlebenschancen, so breiten sich die Träger des veränderten genetischen Materials ent-
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sprechend aus. Am Ende einer solchen Kette bislang erfolgreicher Zufälle bzw. Variationen steht der Mensch. J. MONOD (1973) hat in pointierter Formulierung auch den Menschen in seiner genetischen Entwicklung zwischen „Zufall und Notwendigkeit" gestellt; zwischen die zufälligen Variationen der biologischen Ausstattung und die unabwendbare Notwendigkeit, sich der Bewährungsprobe an den konkreten Existenzbedingungen zu unterziehen - dem Risiko ausgesetzt, durch Selektion beseitigt oder aber begünstigt zu werden. Zwar können die einzelnen Mutationen zufällig und unvorhersehbar zwischen zahllosen Möglichkeiten pendeln, in ihrer großen Zahl, in ihrer Gesamtheit, können sie sich aber nur so durchsetzen, wie es die Bedingungen der Existenz und deren einschränkende Gesetzlichkeit zulassen. Als Gesamtheit unterliegen die Zufälle der Notwendigkeit (dem Gesetz), daß die Entwicklung nicht vom Zufall der einzelnen Mutation bestimmt wird, sondern von denjenigen, die den Bedingungen der jeweiligen Existenz am besten gewachsen sind. Und nur in dieser Richtung, in einer Kette der bewährten Mutationen, wird sich die Gesamtheit der möglicherweise zufälligen einzelnen Mutationen fortentwickeln. Man ist versucht, diese Beobachtungen auf das menschliche Verhalten zu übertragen. Das gewohnte überlieferte Verhalten, wie es eine Kultur durch Tradition und Dogmen293 etc. anbietet, erfährt durch den einzelnen gewisse Verhaltensmutationen; freilich nicht in dem Sinn, daß diese völlig beziehungslos als Zufall auftreten. Vielmehr liegen heranreifende, an Hypothesen, Theorien und Bewertungen gebundene Entscheidungen zugrunde. Aber welcher Art diese veränderte Verhaltensweise ist, läßt sich vorher nicht genau sagen, nicht zuletzt, weil die ggf. zugrundeliegenden Intuitionen, Einfälle, Ideen nicht vorausberechnet werden können. Nur insofern erscheint die Verhaltensmutation als zufällig. Die Ideen und Hypothesen der Menschen bieten, wie die zufälligen Mutationen der Erbträger, die Möglichkeit, „neues" Verhalten zu erproben. Das veränderte Verhalten einzelner und die damit verbundenen Annahmen und Hypothesen werden den Notwendigkeiten der vorgegebenen Existenzbedingungen ausgesetzt; daran entscheidet sich, ob sie sich bewähren. So wird also das tatsächliche Verhalten der Gesamtheit nicht direkt durch die „Zufälle" des experimentierenden Verhaltens einzelner bestimmt. Bietet dieses jedoch mehr Vorteile als ein anderes Verhalten, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß es sich ausbreitet. Die unwägbare Entscheidung einzelner bietet also der gesamten Art die Möglichkeit, verändertes Verhalten, das sich bewährt, zu übernehmen. Vielleicht überlebt gerade so eine Gesellschaft oder Kultur. Das heißt aber nichts anderes, als daß ein gewisser Freiheitsspielraum des Verhaltens einzelner für das Überleben aller außerordentlich wichtig ist.
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In diesem Freiheitsspielraum ist auch die potentielle Unwägbarkeit des Verhaltens begründet. Sie erscheint uns als existenzwichtig - nicht nur für den einzelnen, sondern letztlich auch für die Gesamtheit294. Wichtig ist aber vor allem, daß sich die der Bewährung ausgesetzen, auf individuellen Verhaltensunterschieden beruhenden „neuen" Verhaltensweisen einschließlich ihrer potentiellen Variabilität sehr rasch in einer Gesellschaft ausweiten können, wenn auch unter Umständen gebunden an ideologische Bewegungen, aber auch als Moden, als Innovationswellen etc. So kann sich sehr schnell ursprüngliche individuelle Entscheidung und Verhaltensweise im Verhalten der Gesamtheit abbilden. Die dem Verhalten einzelner immanente Unwägbarkeit bzw. „Unschärfe" gilt dann auch für das Verhalten aller295. Nun ist aber zu betonen, daß sich, gemäß der anderen Seinskategorie des Menschen, nicht der blinde Zufall des Verhaltens eines Elementarteilchens auch im Verhalten der Gesamtheit wiederfindet. Vielmehr spiegelt sich die mit dem Denken verbundene, mehr oder minder bewußt experimentierende, obzwar potentiell unwägbare Verhaltensweise des einzelnen in der potentiellen Unwägbarkeit des Verhaltens der Gesamtheit einer Gesellschaft, Kultur, Zivilisation wider. Es ist die durch das Wechselspiel zwischen Geist und Umwelt bedingte Variabilität der Entscheidung, es ist eine Unwägbarkeit aufgrund der flexiblen Arbeitsweise des Denkens, es ist die Leistung der höheren Organisation des Seelischen und Geistigen, oberhalb strenger Gesetzlichkeit, die das Verhalten des Menschen kennzeichnet, gewiß nicht der Zufall. Diese Leistung wäre grundsätzlich sogar nachvollziehbar, der Forschung zugänglich. Sie ist zufällig nur in dem Sinne, daß Intuition, Ideen - obwohl auch diese nicht völlig unabhängig und zufällig einsetzen - Impulse geben können, die allerdings einer vielfältigen Kontrolle durch das Denken unterzogen werden. So scheint uns, um es zu wiederholen, Relativität, die Entscheidung und das Verhalten sowohl des einzelnen wie auch der Gesamtheit besser zu kennzeichnen als Zufälligkeit oder Determiniertheit oder gar klassenbedingte Gesetzmäßigkeit296. Gehen wir davon aus, daß es anstrebenswert ist, dem einzelnen einen möglichst großen Freiheitsspielraum zu gewähren, dann müssen wir gerade bei der Planung diese Relativität der Entscheidung berücksichtigen. Wir dürfen nicht auf vermeintlich verläßliche Voraussage der zukünftigen Entscheidung des einzelnen vertrauen, denn diese Verläßlichkeit ist nicht gegeben. Wir betonen noch einmal die dafür wesentlichen Gründe: 1. Die zukünftige Entscheidung fällt angesichts konkreter Bedingungen je nach der synergetischen Bewertung (einschließlich der subjektiven Wahrscheinlichkeitsbewertung bei der Nutzenmaximierung) und unter dem Einfluß zahlreicher und sehr unterschiedlicher Komponenten situations-
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abhängig verschieden aus, ist also ohnehin potentiell variabel und unwägbar (siehe erster Teil, Kap. 7.9). 2. Die tatsächlichen Bedingungen zum Zeitpunkt einer Entscheidung werden unterschiedlich zur Kenntnis genommen (ζ. B. durch selektive Wahrnehmung); es wird lediglich eine Informationsauswahl zugrundegelegt, viele Entscheidungsinterdependenzen und Folgen können nicht in das Kalkül einbezogen werden (s. o. erster Teil, Kap. 7.6.1). 3. Vor allem aber sind zum Zeitpunkt der Voraussage die tatsächlichen zukünftigen Bedingungen nicht bekannt, obwohl gerade diese die zukünftige Entscheidung beeinflussen. Fundamentale Voraussetzungen für eine Prognose der zukünftigen Entscheidung sind also nicht gegeben; es sei denn, wir wären in der Lage, über bewährte Theorien (Gesetze), die Zukunft und ihre Bedingungen und deren gesetzmäßige Auswirkung auf den Menschen vorweg zu konstruieren; doch bleibt das im sozialen Bereich ein süßer Wahn, da dem Charakter des Geistigen nicht angemessen. Es ist unmöglich, soziale Bedingungen so zu gestalten, Reglementierungen und Zwänge so festzulegen, daß im sozialen Bereich Zukunft verläßlich voraussagbar und „perfekt" planbar wird. Je mehr Entscheidungsmöglichkeiten dem einzelnen Menschen verweigert und durch allgemein verbindliche Entscheidungen verordnet werden, desto geringer sollte die Unwägbarkeit zukünftiger Entscheidungen sein; umso einfacher wäre die Planung. Aber eine solche, freilich recht unmenschliche Bestrebung würde nicht vor der Erfahrung bewahren, daß unerwarteter Protest, Revolution oder allgemeine Erstarrung des sozialen Lebens den Unfug eines total verordneten Lebens und darauf aufbauende angeblich sichere Voraussage ad absurdum führen297.
2.4 Zusammenlassend: Vielfältige Aspekte der Relativität machen verläßliche Voraussage unmöglich Bei einem falschen Bild vom Menschen besteht die Gefahr, daß ungerechtfertigte Erwartungen über die Voraussagbarkeit sozialer Phänomene entstehen, daß die Leistungsfähigkeit sozialer Prognose überschätzt wird und daß unangemessene Prognoseverfahren entwickelt und angewandt werden. Die entstandenen Hoffnungen, Zukunft voraussagen zu können, werden dann früher oder später an der Erfahrung mit der Praxis enttäuscht. Ein wesentliches Charakteristikum des Menschen ist die hochgradige Relativität seiner Entscheidungen. Entsprechende Aspekte wurden in den bisherigen Darlegungen bereits mehrfach berührt. Ungeachtet dessen wird
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nachfolgend noch einmal auf 11 wesentliche Bereiche der Relativität verwiesen, ohne damit Vollständigkeit erreichen zu wollen298. 1. Die Wahrnehmung des Menschen erfolgt in subjektiver Ausprägung selektiv, je nach seinen Mustern, Theorien und Thesen von der Wirklichkeit und der davon abhängenden Beeinflussung bzw. Ausbildung der Sinnesorgane. Es ist also relativ, was der Mensch und wie er es durch seine Sinne zur Kenntnis nimmt (vgl. erster Teil, Kap. 1.1). In uns sind bereits hypothetische Abbildungen von der realen Außenwelt aufgebaut bzw. sie entwickeln sich, und diese Muster und Vorstellungen werden in korrespondierender Wechselwirkung mit der Wirklichkeit erprobt. Unsere Wahrnehmung ist also gezielte Auswahl aus den Signalen der Wirklichkeit, und diese Auswahl kann sich mit der Veränderung unserer Vorstellungen und Erfahrungen allmählich in uns selbst wandeln, sie ist also durchaus auch flexibel. So ist es logisch, daß die Wahrnehmung zu einem bestimmten Zeitpunkt zwischen den Menschen mehr oder minder verschieden, also relativ ist. Das schließt nicht aus, daß sie auch weitestgehend gleich sein kann und dies bezüglich zahlreicher Informationsträger des Alltagslebens (ζ. B. Verkehrsschilder etc.) auch tatsächlich ist. Ja, wir können davon ausgehen, daß das gemeinsame Biogramm der Menschen und die weitestgehende Ähnlichkeit ihrer Sinnesorgane eine gemeinsame Grundlage der Wahrnehmung schaffen. Über dieser Basis beginnt aber die Vielfalt der individuellen Ausprägung des Wechselspiels zwischen Vorstellung und Überprüfung an der Realität299, die Vielfalt der Weltansichten, Meinungen, Anschauungen von der Welt und damit eben die Vielfalt der Wahrnehmungen. 2. In enger Wechselwirkung mit der subjektiv-selektiven Wahrnehmung sind auch die in uns aufgebauten Hypothesen, Vorstellungen über die Welt sehr verschieden. Subjektiv-selektive Wahrnehmung (gemäß „Vorurteil") wäre eben nur ein Aspekt der subjektiven Hypothesen und Theorien im Menschen; die „Relativität der Bilder" (F. v. KUTSCHERA, 1972, S. 399), die unsere Wahrnehmung von der Welt gibt, ist lediglich Ausdruck des relativen Charakters unserer Bewertungen, Theorien und Annahmen von der Welt. Diese unsere Theorien sind mehr oder minder vorläufig. Wir sind zwar gefangen in unseren Annahmen und hypothetischen Weltansichten, aber wir können sie gleichzeitig verändern (vgl. K a p . 2.3)300.
Bei Irrtum wird der Mensch seine Vorstellungen variieren und erneut erproben einschließlich der Neuorientierung seiner Wahrnehmung. Wir vermögen ständig neue oder verbesserte Hypothesen aufzustellen und zu erproben; das ist ein wesentliches Element der Freiheit des
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Menschen. Wir haben die Freiheit, mit unserem Denken und unseren Intuitionen, verbunden mit spielerischer Modifikation der Wahrnehmung, zu neuen Weltansichten vorzustoßen (vgl. Kap. 2.3.4.2), ohne im voraus abzusehen, welche das sein werden. Diese Weltansichten sind nicht zwischen allen Menschen gleichermaßen verbindlich, sie sind mehr oder minder relativ, also von Kultur zu Kultur, von Mensch zu Mensch verschieden. Ohnehin beruhen ja die Theorien und Weltansichten nicht auf absolut wahren, „reinen" Beobachtungen der Realität, sondern sind abhängig von Hypothesen, Erfahrungen, Wahrnehmung und differenzierten Nebenbedingungen und bleiben Interpretationen oder Deutungen der Wirklichkeit - wenn möglicherweise auch gut bewährte - , sind daher relativ (vgl. erster Teil, Kap. 7.7). Sie zeigen uns nicht, „was die Welt im Innersten zusammenhält", sondern sie entwerfen uns modellhafte Vorstellungen von der Welt. So ist Erkenntnis relativ, wenn sie auch durch ständige Verbesserung und Überprüfung einer Tendenz zur Objektivität unterliegt. Wir folgen, oder sollten dies zumindest tun, in der Entwicklung unserer Hypothesen, Vorstellungen und - eng damit zusammenhängend - in unseren Entscheidungen dem „Prinzip der dauernden Fehlerkorrektur" (K. R. POPPER). Damit haben Hypothesen und auf diesen gründende Entscheidungen etwas Vorläufiges, sind potentiell relativ. 3. Die Wechselwirkung zwischen Mensch (Subjekt) und Umwelt (Objekt), die Konfrontation seiner Hypothesen bzw. Weltansichten mit der Realität (pattern matching) erfolgt von Person zu Person und von Kultur zu Kultur unterschiedlich, auch weil die Reaktionsfähigkeit, die schöpferische Phantasie, Intuition, die Flexibilität der Wahrnehmung, die Fähigkeit zum Denken vor allem aber die sinngebende Bewertung unterschiedlich ausgeprägt sind. Der eine lernt aus Erfahrung, der andere weniger. Eine Kultur erlaubt oder fördert das schöpferische Spiel zwischen den Annahmen und deren Überprüfungen, zwischen hypothetischer Akzeptierung und Zweifel. Eine andere Kultur zwingt den Menschen verbindliche Weltansichten auf und stumpft sie, meist im Namen irgendeiner „höheren Wahrheit", entsprechend ab, sie verbietet die Artikulation der Ergebnisse bzw. geänderter Ansichten und Theorien, die ein verbotenermaßen experimentierender Geist dennoch erbrachte. Auch die Art der Wechselwirkung zwischen Geist und Realität ist relativ. 4. Viele Verhaltensweisen, über die noch keine hinlänglichen Erfahrungen vorliegen, muß der Mensch erst erproben. Zwar ist damit stets Risiko verbunden, aber gleichzeitig eröffnet sich den Menschen die Chance, neue, besonders günstige und angemessene, Verhaltensweisen aufzuspüren. Diese experimentierende Haltung, vor allem der Nonkonformisten,
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steigert die Fähigkeit des Menschen zur kulturellen Weiterentwicklung, ohne freilich die Gefahr der Fehlentwicklung völlig auszuschließen. Für welches Verhaltensexperiment sich der Mensch entscheidet, ist nicht genau voraussagbar. Auch darin liegt die Freiheit des einzelnen. Es gibt im sozialen Bereich keine zwingende Kausalität, gemäß der sich der Mensch unter bestimmten Umständen in bestimmter Weise, gewissermaßen kausalgesetzlich, entscheiden muß- sehen wir von den naturgesetzlichen Notwendigkeiten des biologischen Lebens ab. Die Entscheidungen der Menschen sind auch aufgrund ihres Versuchscharakters relativ. 5. Die Theorien und Vorstellungen unserer relativen Erkenntnis, vor allem im sozialen Bereich, ruhen ja nicht nur auf relativierter Wahrnehmung bzw. auf relativierender Wechselwirkung, sondern wir artikulieren sie und denken in je nach Kultur und Sprachraum unterschiedlichen Sprachen. Diese Sprachen vermitteln bzw. beschreiben zwangsläufig eine jeweils spezifische Weltansicht; unterschiedliche Sprachen führen also auch zu unterschiedlichen Vorstellungen von der Welt. Sprache und Weltansicht korrelieren. Wie die sprachwissenschaftliche Relativitätsthese herausstellt, ist Denken, Vorstellung, Erkenntnis immer sprachbezogen und auch daher in gewissen Grenzen relativ, je nach geltender Sprache301. 6. Aber auch das Phänomen der Entwicklung in der Zeit verursacht, daß die einzelnen biologischen Systeme und so auch die verschiedenen Menschen sich fast alle zum gleichen Zeitpunkt in einer jeweils anderen Phase ihrer Entwicklung befinden. Mit jedem weiteren Erwerb von Wissen und Erfahrung können sich Mensch, Verhalten, Weltansichten und Theorien sowie die sinngebende Bewertung der Dinge (erster Teil, Kap. 7.8) verändern. Jeder Zuwachs an Wissen und Erfahrung, jedes Lernen, wie auch das Älterwerden „machen" einen neuen Menschen. Jede Entscheidung besitzt damit eine gewisse zeitabhängige Einmaligkeit. Die Zeit relativiert. Menschen befinden sich jeweils in einer bezüglich ihres Lebens „unterschiedlichen Zeit", einer anderen Phase ihrer Veränderung, wobei die Zahl der Jahre nicht der Maßstab sein muß. So ist Weltansicht, Entscheidung, Verhalten der Menschen auch zeitabhängig relativ. 7. Eng mit den bisherigen Aspekten der Realtivität verbunden, sind auch die Wertvorstellungen der Menschen relativ; sie sind abhängig von der Kultur, vom Alter, von der Erziehung, von den Erfahrungen, von den Weltansichten, Sinngebungen, Anschauungen usw. Auf jeden Fall sind sie nicht von vornherein und auch meist nicht im Verlaufe eines Lebens zwischen verschiedenen Personen absolut gleich. Demnach ist auch die
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Bewertung des subjektiven Nutzens gleicher Sachverhalte, die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses sowie der Einfluß der irrationalen Komponente auf die Entscheidung interpersonell und zwischen den Kulturen verschieden (vgl. erster Teil, Kap. 7.8). So bewerten die verschiedenen Personen zahllose gleiche Faktoren durchaus unterschiedlich. Was den einen stört, ist die Freude des anderen. Subjektive Nutzenbewertung ζ. B. ist relativ, und viele unserer Entscheidungen und Auffassungen beruhen auf derartigen Nutzenbewertungen302. Unser Verhalten in Entscheidungssituationen ist abhängig von einer vielfältig und variabel beeinflußbaren sinngebenden Bewertung und ist mit dieser relativ (vgl. erster Teil, Kap. 7.8, zweiter Teil, Kap. 2.3.3.1). 8. Nicht nur die Zeit, sondern die Situation, also die Gesamtheit der Umstände, relativiert die Annahmen, Hypothesen, Entscheidungen der Menschen. So können ζ. B. das körperliche und seelische Befinden, situationsabhängige Launen, Einfälle sowie unterschiedlichste Umstände und Nebenbedingungen die Entscheidungen auf vielfältige Weise beeinflussen. Was man unter ganz bestimmten Umständen für sinnvoll erachtet, gilt trotz nicht veränderter grundsätzlicher Auffassungen unter anderen Umständen nicht mehr - eine geradezu banale Aussage; aber sie verdeutlicht die relativierende Wirkung der Situation. Das menschliche Verhalten ist also auch situationsabhängig relativ. 9. Einen weiteren Aspekt der Realtivität menschlicher Entscheidung wollen wir mit der Sentenz „kleine Ursache, große Wirkung" kennzeichnen. Schon kleinste, zunächst völlig nebensächlich scheinende Sachverhalte können Kausalketten auslösen, die am Ende völlig verändertes Verhalten bzw. geänderte Entscheidungen zur Folge haben. Was nebensächlich oder bedeutsam ist, entscheidet sich daher häufig erst später, wenn man die Folgewirkungen oder die durch solche kleinen Impulse in Gang gesetzten Prozesse kennt. Oft erst hat das Zusammentreffen bestimmter Kleinigkeiten aus jeweils anderen voneinander unabhängigen Ursachen heraus große Wirkungen zur Folge, die der isolierte Einzelimpuls nicht ausgelöst hätte. Die Systemtheorie bietet eine plausible Erklärung an. Wenn nur ein Element eines Systems verändert wird, ein neues Element hinzutritt oder die Folgewirkung eines anderen Systemzusammenhanges auf ein System trifft, dann kann sich die Leistung dieses Systems sprunghaft verändern und eine neue Qualität annehmen (vgl. ausführliche Darlegung Kap. 3.1.1). Wer aber weiß, wann solche unabhängigen „Nebensächlichkeiten" zusammentreffen? Bezogen auf die Relativität menschlicher Entscheidung halten wir fest, daß je nach den Konstellationen, Dispositionen, nach den Bedingungen etc. kleinste Einwirkungen auf einen beste-
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Prognose aus der Sicht der Erkenntnistheorie
henden spezifischen Systemzusammenhang menschlicher Entscheidung starke und oft nicht absehbare, von Mensch zu Mensch verschiedene Wirkung haben kann. Menschliches Verhalten ist also auch diesbezüglich relativ.
10. DerMensch ist durch sein phylogenetisches Programm von vornherein zur hochgradigen Modifikation seines Verhaltens befähigt303. Er ist als typisches Neugierwesen durch „Weltoffenheit" ( A . GEHLEN) ausgezeichnet, also in seinem konkreten Verhalten nicht genau festgelegt. Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Vielseitigkeit hinsichtlich seines Verhaltens befähigen ihn, verschiedenste Bedingungen zu bewältigen und zu erproben. Dieses vergleichsweise offene Verhaltensprogramm des Menschen, sein zweckfreies explorierendes Verhalten (vgl. erster Teil, Kap. 4; 7.7.1) sichert zwar eine hochgradige Veränderlichkeit des Verhaltens und der Entscheidung, hat aber gleichzeitig eine gewisse Unwägbarkeit zur Folge. So ist das Entscheiden des Menschen in seiner Bindung an ein phylogenetisch gewachsenes Verhaltensprogramm, das dem tatsächlichen Verhalten einen weiten Spielraum gewährt, also gemäß genetischer Disposition, potentiell relativ. Entsprechend schwer ist es, vorauszusagen, was der Mensch tun wird. 11. Die Entscheidungen der Menschen sind vielfältig beeinflußbar durch die erwarteten Folgen dieser Entscheidungen und durch die Entscheidungen anderer (Entscheidungsinterdependenz). Nur einen Teil dieser potentiellen Einflüsse, Abhängigkeiten und Folgen kann der einzelne Mensch wahrnehmen, berücksichtigen bzw. vorausschauend in die eigene Entscheidung einbauen. Es bleibt ein Potential denkbarer, aber noch nicht berücksichtigter Störungen durch die Entscheidung anderer und durch die Folgewirkungen eigener Entscheidungen. Um diesen Entscheidungsinterdependenzen gerecht zu werden, muß sich der Mensch trotz der einmal getroffenen Entscheidung eine gewisse Flexibilität erhalten. Das ist sowohl durch Anpassungsbereitschaft als auch durch Versuche zur Beeinflussung der Entscheidung anderer möglich. Gleichwohl ist damit Entscheidung niemals endgültig, sondern eben nur verhältnismäßig, also relativ.
Es mag noch weitere Aspekte der Realtivität menschlicher Entscheidung und des Verhaltens geben. Lassen wir auch offen, ob die vorgenommene Aufzählung deutlich genug verschiedene Aspekte unterscheidet; das ist in unserem Zusammenhang nicht wesentlich. Wesentlich für unsere Überlegungen ist, daß alle Voraussagen, die das Verhalten und die Entscheidungen der Menschen einbeziehen, zwangsläufig ungenau sein müssen, weil sie von vornherein einer vielfältigen Relativität unterliegen. Da Voraussagen für
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einen Zeitraum gelten, für den Beobachtungen noch nicht vorliegen, ist nicht absehbar, in welcher Weise die noch nicht bekannten Fakten relativierend wirksam werden. Während des Voraussagezeitraumes können veränderte Bedingungen, das Verhalten vielfältig relativierend, auftreten. Es ist nicht zu bestreiten, daß es trotz dieser immanenten Relativität bezüglich der Bewertung, Entscheidung und des Verhaltens der Menschen auch Regelhaftigkeit gibt, vor allem auch in ähnlicher Situation (i. w. S.), aber es bleibt immer eine wesentliche Unbestimmtheit. Selbst wenn wir unsere Vorhersagen (auch Regionalprognosen) auf einem Aussagesystem aufbauen würden, das alle Beeinflussungsmöglichkeiten des menschlichen Verhaltens einschließt - wobei zu bezweifeln wäre, ob das möglich ist - so bliebe aufgrund dieser Relativität letztlich doch Unsicherheit und ein nicht vorhersagbarer Rest. Dieser „Rest" ist zwangsläufig, da wir uns mit der Voraussage auf eine zukünftige Situation beziehen, deren relativierende Wirkung noch nicht bekannt ist. Auch subjektive Wahrscheinlichkeitsaussagen vermögen den unvorhersagbaren Rest nicht abzubauen, denn wir wissen nichts über die Wahrscheinlichkeit einer möglichen Relativierung und über deren Ausmaß. Es gibt auch beim Menschen kein „Naturgesetz des Handelns". Immer kann er von bisherigen Handlungen abweichen, ob gut für ihn oder nicht. Außerdem tritt noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu: selbst wenn es exakte Sozialprognosen gäbe, würde eine solche „zuverlässige" Voraussage von dem Zeitpunkt an, ab dem sie bekannt wird, mit großer Sicherheit Reaktionen der Menschen auslösen, die auf die Voraussage beeinflussend bzw. sie umstoßend wirken würden; selbst wenn beabsichtigt wird, der Vorhersage gerecht zu werden. Bereits durch die genannten Gründe wird deutlich, daß genaue differenzierte und verläßliche Sozialprognose unmöglich ist. Die Vielfalt der Entscheidungen und das Ausmaß der Relativität wird um so größer sein, je stärker eine Gesellschaft durch Freiheit und Pluralität gekennzeichnet ist. Theoretisch würde zuverlässige Sozialprognose den absolut gesteuerten und entsprechend der Prognose verläßlich gelenkten Menschen voraussetzen und damit die totalitäre Gesellschaft, die allerdings ihre erzwungenermaßen „gültigen" Prognosen auch früher oder später korrigieren müßte, weil der Wahn vom absolut voraussagbaren und genau steuerbaren Verhalten des Menschen nicht verhindern könnte, daß in gewissen Abständen die Diskrepanz zwischen Voraussage und Tatsachen hervorbricht. Totale Voraussage und Planung ist am Ende nichts anderes als eine erzwungene periodische Verschiebung der dennoch notwendig werdenden Bereinigung der Voraussageirrtümer; sie ist somit unnötig schmerzlich und aufwendig.
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Man könnte nun einwenden, die Relativität beeinflußt das Entscheiden und das Verhalten des Menschen dergestalt, daß es in seiner Gesamtheit (also ζ. B. auf alle Menschen eines Raumes bezogen) wie zufällig erfolgt und entsprechend zufällig streut. Es wäre dann möglich, dieses Verhalten - zumindest in seiner Streuung - durch Wahrscheinlichkeitsrechnung zu erfassen. Raumbezogene Handlungen, die räumlichen Aktivitäten der Menschen, müßten sich demnach, gemäß der statistischen Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher raumrelevanter Entscheidungen (ζ. B. Wanderungsströme unterschiedlicher Zielrichtung), als spezifische Verteilungsmuster im Raum abbilden304. Selbst wenn diese Vorstellungen für die Gesamtheit der Entscheidungen der Menschen eines größeren Raumes zuträfen, würde bezüglich der Vorhersage konkreter Entscheidungen (und das sind Einzelentscheidungen) nichts gewonnen sein. Zufolge der Streuungsrelation ist eine Voraussage für den konkreten Fall nicht möglich. Man vermag lediglich die Wahrscheinlichkeit, daß einzelne Entscheidungen gemäß bestimmter Entscheidungskategorien erfolgen, anzugeben. Zudem besagt eine Wahrscheinlichkeitsschätzung bezüglich beobachteter Verteilungen eben nicht, daß diese Wahrscheinlichkeit auch in der Zukunft gilt. Für eine echte Voraussage würden wir aber konkrete Angaben im Hinblick auf tatsächlich kommende Entscheidungen benötigen. Vor allem bleibt zu bedenken, daß sich die Entscheidungen der Menschen auch in ihrer Gesamtheit nicht „zufällig verteilen", sondern daß sie als Folgewirkungen besonderer Bewertungsprozesse und Situationen spezifisch ausfallen, d. h. sie sind hochgradig abhängig. Um zufällige Verteilungen entstehen zu lassen, wäre aber Unabhängigkeit erforderlich. Die einzelnen Entscheidungen werden nicht nach dem Zufall streuen. Sie sind nicht zufällig, sondern nur relativ, und das bedeutet, sie sind von spezifischen Bedingungen abhängig. Auch in ihrer Gesamtheit hängen Entscheidungen von einer großen Zahl sehr verschiedener Bedingungen ab; sie erfolgen also selbst dann situationsspezifisch. Daß Entscheidungen wie in zufälliger Verteilung ausfallen, ist demnach äußerst „unwahrscheinlich". Es dürfte also deutlich werden, daß die Möglichkeiten der Voraussage im sozialen Bereich sehr begrenzt sind. Eine wesentliche Ursache ist die Relativität der menschlichen Entscheidung und des Verhaltens. Das gilt selbstverständlich auch für alle Regionalprognosen, zumal dann ein weiteres Phänomen hinzutritt: Die oben beschriebenen Aspekte der Relativität werden so gut wie alle wirksam, wenn Voraussagen für verschiedene (geographische) Räume erarbeitet werden sollen und gleiche Aussagesysteme (Prognosemodelle) zugrundegelegt werden. Zur grundsätzlichen Unmöglichkeit genauer Voraussagen im sozialen Bereich gesellt sich dann
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zusätzlich die gebietliche Relativität. In den weiteren Kapiteln werden wir uns mit der Frage befassen, welche Möglichkeiten der Prognose im sozialen Bereich und für die Raumplanung trotz der erörterten vielfältigen Einschränkungen verbleiben.
2.5 Prognosesysteme als Voraussetzung deduktiver Verfahren Prognosen, die sich als wissenschaftlich verstehen, müssen bedingt sein305; sie beruhen auf Abhängigkeiten zwischen konkreten Sachverhalten, so daß Veränderungen bestimmter Größen zwangsläufig von den Veränderungen der anderen abhängigen Größen begleitet werden (vgl. K . R . POPPER, 19 Í8, S. 116). Die Vorhersage einer Größe ist also nur möglich, wenn die Bedingungen ihrer Veränderung tatsächlich gegeben und deren Wirkung bekannt sind. Es wird ein System von Abhängigkeiten vorausgesetzt bzw. konstruiert, aus dem sich die Prognose ableitet, bzw. durch das der Ablauf der Entwicklung erklärt wird. Wenn wir einen Vorgang zutreffend erklären können, sind wir auch in der Lage, ihn zu prognostizieren (vgl. H . ALBERT, 1 9 6 8 , S. 129). Ob wir ihn richtig erklären bzw. ob sich das zu konstruierende System der Wirklichkeit, den Tatsachen, annähert, ob es wahrheitsähnlich ist, läßt sich allein durch Erfahrung ermitteln. Anders gesagt, wir müssen versuchen, unsere Erfahrungen mit Hilfe der Phantasie, Hypothese und Theorie so zueinander in Beziehung zu setzen, daß sie ein Aussagesystem ergeben, aus dessen Anwendung Voraussagen zu gewinnen sind. Wir haben in den vorausgehenden Kapiteln verdeutlicht, warum wir unsere Voraussagen auf Hypothesen und Theorien aufbauen müssen, anstatt auf angeblich „reiner" Beobachtung und daraus gezogenen induktiven Schlüssen oder Extrapolationen (vgl. Kap. 2.2; 2.3 und besonders 2.3.3; 2.3.3.2).
Wir haben nun zu fragen, welche Bedingungen Aussagesysteme erfüllen müssen und welche Möglichkeiten wir für eine so orientierte Sozialprognose sehen. Die Methodologie der empirischen Wissenschaft hat klare Vorstellungen erarbeitet, wie Aussagesysteme beschaffen sein müssen und wie sie konstruiert werden, um der prognostischen Aufgabe gerecht werden zu können. Eine Theorie beruht vereinfachend auf einem System von Axiomen, die als generelle Hypothesen mit empirischem Gehalt in logischer Beziehung zueinander stehen und über Schlußregeln die deduktive Ableitung einer zutreffenden, noch nicht bekannten Aussage erlauben306. Entscheidend ist, daß die Hypothesen an der Erfahrung überprüft worden sind, daß sie als
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Prognoseverfahren
genügend bewährt angesehen werden können und daß sie überprüfbar bleiben; nur so ist die notwendige Nähe zur Realität gesichert und die Möglichkeit realitätsbezogener Voraussagen gegeben307. Solche empirisch überprüften Theorien erlauben dann durchaus Voraussagen für diejenigen Sachverhalte, die den Bedingungen für die Gültigkeit der Theorie gerecht werden. Das gilt sowohl für den natur- wie auch sozialwissenschaftlichen Bereich. Je nach dem Ausmaß des empirischen Gehaltes der Hypothesen und somit der gesamten Theorie wird deren Fähigkeit, tatsächliches Geschehen zu erklären, größer oder geringer sein. Je größer die empirische Absicherung ist, desto geringer wird der „Variabilitätsspielraum" (H. ALBERT, 1968, S. 130) und desto genauer können die Prognosen sein. Besitzt man Theorien, die nach den obigen Hinweisen auf generellen, empirisch abgesicherten Hypothesen raumzeitlich unbeschränkter Gültigkeit beruhen, die also allgemein charakterisierte Bedingungen mit ebenso allgemein charakterisierten Konsequenzen verknüpfen, so wäre erst eine Bedingung für die konkrete Voraussage erfüllt. Vor allem müssen die generellen Hypothesen durch Aussagen, die sich auf bestimmte Raum-Zeit-Bedingungen beziehen, konkretisierbar sein und die Ableitung entsprechend konkreter Konsequenzen zulassen. Prognosefähige Aussagesysteme müssen eine raumzeitliche Konkretisierung ihrer Aussagen erlauben und konkrete deduktive Ableitungen, also raumzeitlich konkretisierte Vorhersagen, ermöglichen. Das ist gleichzeitig ein Kriterium ihrer empirischen Gültigkeit. Leider verfügen wir im Bereich der Sozialwissenschaften kaum über Theorien der oben beschriebenen Qualität und in der Raumforschung ebenfalls nur über Ansätze. Es liegt kein befriedigendes hypothetisch-deduktives Prognosemodell der räumlichen Entwicklung mit raumzeitlich uneingeschränkter Gültigkeit vor308. Voraussetzung wäre ein Aussagesystem nomologischer Hypothesen über das raumbezogene Verhalten bzw. über die Wechselwirkung zwischen Raum und Mensch. Nun verdeutlicht ja gerade der Ansatz zu einer Raum-Verhaltens-Theorie (vgl. erster Teil, Kap. 7), wie schwierig es wäre, ein solches prognostisches Modell aufzubauen. Darin ist einer der Gründe zu sehen, weshalb wir von einer Relativierung raumbezogener Voraussagen ausgehen müssen. Ist damit regionale Prognose, also die von der Situation und Struktur eines bestimmten Raumausschnittes abhängige Voraussage, unter wissenschaftlichem Blickwinkel unmöglich? Diese Frage kann verneint werden, wenn sie die Anerkennung der räumlichen Relativierung der Prognosemodelle bzw. ihrer Struktur, wie überhaupt der Voraussage, einschließt und auf Verläßlichkeit verzichtet wird. Fragen wir daher zunächst, ob sich Aussagesysteme (Theorien) gewinnen
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lassen, die, wenn nicht auf generellen Hypothesen raumzeitlich unbeschränkter Gültigkeit, so doch auf Hypothesen beruhen, die sich in einer konkreten raumzeitlichen Situation, also etwa der Situation der Bundesrepublik oder bestimmter Teilräume zu bestimmtem Zeitpunkt (raumzeitlich begrenzt) als empirisch möglichst gut abgesichert erweisen? Empirische Aussagesysteme, deren Hypothesen von vornherein nur in räumlich-zeitlicher Begrenztheit gelten, also nur für diese bestimmten Bedingungen typisch sind, ansonsten aber den Anforderungen axiomatisch-deduktiver Systeme gerecht werden, lassen sich nach H. ALBERT (1968, S. 132) als Quasi-Theorien bezeichnen309. Man könnte nun versuchen, solche QuasiTheorien der räumlichen Entwicklung für bestimmte konkrete raumbedingte-zeitliche Situationen, also etwa für eine Region in einer bestimmten Entwicklungsphase, aufzustellen und als Prognosesysteme einzusetzen. Voraussetzung wäre, daß sich empirisch geprüfte Hypothesen über spezifische Abhängigkeiten der Entwicklung in dem jeweiligen Raum als Quasi-Gesetzmäßigkeiten feststellen lassen. So wäre das Problem regionaler Prognose zu lösen durch die Konstruktion spezifischer Systeme der regionalen Entwicklung bzw. regional gültiger Theorien (Quasi-Theorien) über die gebietliche Entwicklung. Der Einsatz solcher raumzeitlich begrenzter Aussagesysteme wäre nicht nur für die Raumforschung relevant, sondern angesichts ihrer raumzeitlichen Besonderheiten auch bei zahlreichen sozialen Sachverhalten. Würde man über solche empirisch abgesicherten Aussagesysteme verfügen, die also auf eine bestimmte historische Situation und einen bestimmten geographischen Raum (ζ. B. die Wiederaufbauperiode in der Bundesrepublik) bezogen sind, so dürfte man die daraus abgeleiteten Prognosen allerdings nur für den empirisch abgesicherten raumzeitlich spezifischen Gültigkeitsbereich des Aussagesystems anerkennen. Das Aussagesystem wäre also nur sehr eingeschränkt verwertbar. Derartige Voraussagesysteme (bzw. Prognosemodelle) unterliegen also der raumzeitlichen Relativierung310. H. ALBERT (1968, S. 132 f.) verweist nun auf eine weitere Möglichkeit, obzwar sie der Erarbeitung solcher raumzeitlich begrenzter Aussagesysteme (s. o.) sehr ähnlich ist. Wir nehmen diese Überlegungen, wenn auch modifiziert, auf. Es wäre eine Quasi-Theorie aufzustellen, die nur gültig ist für die konkreten Bedingungen, die ihre unmittelbaren empirischen Grundlagen darstellen. Freilich entstünde so eigentlich gar keine Theorie oder QuasiTheorie, sondern nur eine Interpretation und ein Erklärungsversuch unmittelbar vorliegender empirischer Sachverhalte - allein und direkt auf diese bezieht sich die Aussage, ohne auch nur den Hauch einer Allgültigkeit oder raumzeitlich begrenzten „allgemeinen" Gültigkeit beanspruchen zu können. Vielmehr müssen wir uns dann zufriedengeben mit der vermutlichen Gültig-
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Prognoseverfahren
keit allein für den konkreten Fall. Bemüht man sich aber, eine fallspezifische „Theorie" aufzubauen, ist man mangels weiterer empirischer Grundlagen gezwungen, nach ursächlichen Verknüpfungen zu suchen, um darauf die Theorie zu stützen311. Ein solches Aussagesystem wird also weniger raumzeitlich durch die Behauptung relativiert, es gelte eben nur für diesen oder jenen Zeitraum; man geht vielmehr davon aus, daß dieses Aussagesystem ständig in seinem Aufbau und in der Zuordnung seiner Abhängigkeiten, also strukturell, relativiert werden muß, je nach dem zugrundeliegenden „Fall" bzw. den genauen Anwendungsbedingungen. Wir könnten daher auch nur von einer „ Theorie" der konkreten empirischen Bedingungen sprechen, von einer „Fall-zu-Fall-Theorie", auch wenn das eigentlich ein Widerspruch in sich selbst ist. Wir schlagen vor, solche Aussagesysteme als „Ad hoc-Systeme" zu bezeichnen. Auf andere konkrete empirische Bedingungen (ad hoc) bezogen, müßte das Aussagesystem (bzw. Prognosemodell) eine andere Struktur erhalten. So gesehen, wären also derartige Theorien nicht nur raumzeitlich relativ, sondern auch strukturell, also in sich selbst, relativ. Voraussetzung für die Aufstellung solcher „Ad hoc-Systeme" wäre der Versuch einer kausalen Erklärung der vorliegenden konkreten Bedingungen312. Die am Fall orientierte kausale Erklärung und Durchdringung der Zusammenhänge und die Einbettung in eine „Ad hoc-Theorie" ist also erforderlich. Auf jeden Fall ist solchen Erklärungen („Theorien") eine gewisse fallbezogene Variabilität (Veränderlichkeit, Abweichung) geradezu immanent, keineswegs aber Allgültigkeit oder auch nur auf bestimmte Epochen oder größere Räume begrenzte Gültigkeit; sie sind potentiell von Fall zu Fall verschieden313. Der beschriebene Ansatz scheint eine Möglichkeit zu bieten, kleinräumlich bzw. regional angemessene Prognosemodelle zu erarbeiten und gewissermaßen situationsspezifisch zu prognostizieren. Wir benötigen also entsprechend der räumlichen Besonderheiten strukturell relativierte Aussagesysteme, fußend auf der kausalen Durchdringung der konkreten kleinräumlichen bzw. regionalen Verflechtung der entwicklungsrelevanten Faktoren. Wir haben bereits an anderer Stelle deutlich gemacht, daß eine kausale Durchdringung außerordentlich schwierig ist, denn im sozialen Bereich sind die ursächlichen Verflechtungen meist außerordentlich komplex; sie lassen sich nur mit Hilfe erklärender Hypothesen oder Theorien aufdecken (vgl. Kap. 2.2.3); eines geht ohne das andere nicht, so wird beides nicht leichter. Wir müssen also vor der Annahme, daß der angedeutete Weg leicht begehbar wäre, warnen. Warum? Würden wir ein Aussagesystem konstruieren, das die Voraussagen der gebietlichen Entwicklung, also ζ. B. der regionalen Bevölkerungsentwick-
Prognosesysteme als Voraussetzung deduktiver Verfahren
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lung in einem bestimmten Raum erlaubt, dann setzt das voraus, daß die zugrundeliegende „Ad hoc-Theorie" die wesentlichen Einflußgrößen der Bevölkerungsentwicklung in Form von Bedingung-Konsequenz-Aussagen unter der Voraussetzung ihrer empirischen Gültigkeit im konkreten Raum erklärt und kausal miteinander verbindet. Allein wenn man sich vergegenwärtigt, auf wie differenzierte Weise Entscheidungen im Menschen entstehen - und die Bevölkerungsentwicklung ζ. B. ist abhängig von zahllosen Entscheidungen der Menschen - dann wird deutlich, wie hochgradig komplex ein solches voraussagendes Aussagesystem sein müßte. Wie aufwendig und schwierig wäre es, alle Faktoren, die die Bevölkerungsentwicklung eines bestimmten Raumes endogen oder exogen beeinflussen, durch Empirie herauszuarbeiten und in einem kausalen Aussagesystem zu verbinden. Ist doch dabei zu bedenken, daß das empirische Objekt vor allem das Individuum sein muß. Und wir haben gesehen, daß die raumbezogene Entscheidung des einzelnen und sein Verhalten relativ und potentiell unwägbar sind, abhängig von einem differenzierten Prozeß der synergetischen Bewertung (vgl. erster Teil, Kap. 7.9 sowie zweiter Teil, Kap. 2.3.4.3). Es lassen sich zwar ζ. B. bestimmte anscheinend typische Verhaltensweisen bzw. Entscheidungen der Menschen während eines bestimmten Zeitraumes in das Vorhersagemodell einbauen. So kann etwa für die Bevölkerungsvoraussage eines kleinstädtischen Raumes berücksichtigt werden, daß zunehmend Menschen aus den Verdichtungsgebieten in günstig gelegene Kleinstädte abwandern, aber es ist schwer, diese Fakten, diese x-beliebigen Einzelentscheidungen so genau ursächlich zu durchdringen, daß sie für den konkreten Fall eines bestimmten kleinstädtischen Raumes genau quantifiziert in das fallspezifische Aussagesystem eingebaut werden können und entsprechend Voraussagen möglich werden. Selbst wenn es gelänge, solche fallspezifischen Aussagesysteme der regionalen Entwicklung herauszuarbeiten, und wir glaubten, daß das mit Hilfe einer detaillierten Systemanalyse unter großem Aufwand grundsätzlich möglich wäre314, so blieben doch Zweifel hinsichtlich der Anwendbarkeit in der täglichen Praxis der Regionalplanung. Denn ein solches ohnehin strukturell relatives Voraussagesystem muß unter Umständen bereits unmittelbar nach seiner Erarbeitung wieder verändert werden, weil sich ja geradezu ständig geringfügige oder größere Veränderungen der konkreten räumlichen, sozialen, ökonomischen Bedingungen ergeben, die die soeben noch beobachtete erklärende Struktur variieren oder total verändern. „Ad hoc-Prognosesysteme" sind also außerordentlich instabil und allein schon deswegen zumindest für eine langfristige Voraussage ungeeignet. Das Ursachengefüge kann sich im sozialen und ökonomischen Bereich sehr
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Prognose aus der Sicht der Erkenntnistheorie
häufig und rasch verändern. Es ist von vornherein weitestgehend ephemer. Ständig können von außerhalb oder von innen heraus neue Einflußelemente hinzutreten, andere herausfallen oder das Ausmaß ihrer Einwirkung verändern315, wodurch die Wirkungsweise der bisherigen Zusammenhänge außer Kraft gesetzt wird. So wären die mathematisierten Beziehungen des Prognosemodells nicht nur in der numerischen Ausprägung der Funktionen ständig zu ändern, sondern auch bezüglich der qualitativen Beziehungen neu zu ordnen. Zum gleichen Zeitpunkt, da die „Ad hoc-Systeme" mühsam als empirisch gültig herausgearbeitet worden sind und Prognoseaussagen erbringen, können sie aufgrund veränderter Situationen bereits wieder ungültig sein. Gerade die für die Anwendung von Prognosemodellen wesentliche Ceteris-paribus-Klausel ist bei den von vornherein strukturell relativen Aussagesystemen der regionalen Entwicklung kaum gegeben (vgl. dementsprechende Ausführungen im Kap. 2.3.1). Doch ein weiterer Einwand könnte erhoben werden. Die Bildung einer „Ad hoc-Theorie" wäre zunächst an den beobachteten konkreten Bedingungen des „Falles" orientiert; sie enthält also zwangsläufig eine sehr stark induktive Komponente und das steigert ihr Irrtumsrisiko, selbst wenn sie dann deduktiv auf den konkreten Fall bezogen wird und zuvor abstrahierende logisch verknüpfende Denkweise zur kausalen Erklärung eingesetzt wurde. Es liegt also nur eine äußerst schwache Bewährung an einem Fall vor; es sei denn, ein solches „Ad hoc-System" der regionalen Entwicklung wiederholt sich am Beispiel anderer Fälle. Es dürfen daher keine übertriebenen Erwartungen bezüglich der Erarbeitung und Anwendung raumspezifischer bzw. fallspezifischer Voraussagesysteme (Prognosemodelle) aufgebaut werden. In bestimmten konkreten Fällen mag es allerdings vertretbar sein, das raumzeitlich spezifische System der regionalen bzw. kleinräumlichen Entwicklung herauszuarbeiten (vgl. W. MOEWES, 1973, S. 173 f.), zumal ja keineswegs überall die aufgezeigte Instabilität der „Ad hoc-Systeme" so stark ausgeprägt ist. Zweifellos ist ja auch ein kleinräumliches oder regionales Beharrungsvermögen stabilisierend wirksam. Ob es allerdings sinnvoll wäre, die zahlreichen raumordnerisch zu „betreuenden" Teilräume so aufwendigen und risikoreichen Verfahren zu unterziehen, darf bezweifelt werden. So stellt sich grundsätzlich die Frage, ob sich kleinräumliche bzw. regionale Prognose angesichts der strukturellen Relativierung der Voraussagemodelle und des diesbezüglichen Aufwandes auch tatsächlich durchführen läßt. Erweisen sich die ausführlichen theoretischen Darlegungen zur Bevorzugung deduktiver, also modellorientierter Verfahren der Regionalprognose nicht als hinfällig, weil diese zu aufwendig wären, und ständig die Struktur
Prognosesysteme als Voraussetzung deduktiver Verfahren
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der Prognosesysteme regional- und situationsspezifisch umgearbeitet werden müßte und dennoch unklar wäre, ob sie während der Anwendung noch gilt? Welche Wege der Regionalprognose sind dann aber anzuraten, denn ganz ohne prognostische Orientierungsdaten würde die gezielte Gestaltung des Lebensraumes (Regionalplanung) außerordentlich erschwert? Wenn wir vermeiden wollen, daß wir ständig mit der notwendigen Veränderung und Anpassung der zwar raumspezifischen, aber eben strukturell relativen Prognosemodelle beschäftigt sind, müssen andere Möglichkeiten der kleinräumlichen bzw. regionalen Voraussage gefunden werden. Wie läßt sich dieses Problem lösen? Fragen wir uns zunächst noch einmal, ob sich nicht auf Quasi-Theorien beruhende Prognosemodelle der regionalen Entwicklung, also analog der anfänglich geäußerten Vorstellungen, erarbeiten lassen, die dann etwa für alle Regionen der Bundesrepublik im gegenwärtigen Zeitraum zutreffen, die zwar nicht allgültig, aber wenigstens auf größerer Ebene raumzeitlich begrenzt gültig sind? Lassen sich in Anwendung eines solchen allgemeinen Modells nicht doch ausreichend genaue Voraussagen für die verschiedenen Teilräume gewinnen? Wir werden uns im nachfolgenden Kapitel mit diesbezüglichen Überlegungen und Ansätzen zu entsprechenden Prognosemodellen befassen.
3. Wie tauglich sind die Modelle der Regionalprognose?
Prognosemodelle (auch für die Regionalplanung) beruhen in der Regel darauf, daß zwischen mehreren, die Entwicklung beeinflussenden Elementen bestimmte Abhängigkeiten unterstellt werden. In dem Maße, wie das Modell über seine analytische Funktion hinaus für die Prognose operabel gemacht werden soll, wird versucht, die einzelnen Elemente durch Parameter zu quantifizieren und die bestehenden Abhängigkeiten durch mathematische Funktionen auszudrücken316. Vor einigen Jahren wurde ζ. B . von H. BIERMANN ( 1 9 É9) ein bemerkenswerter Ansatz zu einem deterministischen Modell der Regionalprognose vorgelegt mit dem Anspruch, es durch weitere Operationalisierung zum anwendbaren kybernetischen Prognosemodell entwickeln zu können. Dieses noch immer vereinfachende Modell bietet bereits ein sehr komplexes Bild der Abhängigkeiten entwicklungsbeeinflussender Faktoren. Allerdings beruht es noch keineswegs abgesichert auf ursächlichen Verknüpfungen zwischen diesen zahlreichen Einflußgrößen; es ist also noch nicht kausal durchdrungen. Vielmehr gibt es die „Zusammenhänge nur aufgrund von Plausibilitäten" ( H . BIERMANN, 19,69, S. 1 3 7 ) wieder; auf die Einbeziehung zahlreicher weiterer Einflußgrößen wurde verzichtet. Wir haben es folglich mit einem Modell zu tun, das noch nicht voll durch eine Theorie abgesichert ist, sondern vielmehr auf zahlreichen, wenn auch plausiblen, Vermutungen beruht. Ungeachtet der noch ausstehenden Bewährung kann allerdings ein quasi-theoretischer Hintergrund zumindest heuristisch angenommen werden in dem Sinne, daß das vorgestellte System der Abhängigkeiten unter den Bedingungen der Bundesrepublik zum gegenwärtigen Zeitpunkt als eine „erste Näherung" (H. BIERMANN, 1 9 6 9 , S. 1 4 1 ) an die Wirklichkeit in etwa gültig sein dürfte. Es werden ζ. Β. folgende Abhängigkeiten unterstellt: zwischen der Geburtenhäufigkeit und der Bevölkerungsentwicklung, zwischen dem Wanderungssaldo und dem Wohnwert, zwischen dem sektoralen Output sowie der Arbeitsproduktivität und der sektoralen Arbeitskräftenachfrage, zwischen Konsum und den verfügbaren Einkommen, zwischen der Nachfrage nach Investitionsmitteln und differenzierten Einflußgrößen (Unternehmensziele, Zinsniveau, Nachfrageentwicklung etc.) usw.
Kleinräumliche Relativität entwicldungsbeeinflussender Abhängigkeiten
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Diese zugrundegelegten Abhängigkeiten dürften, zumindest analytisch gesehen, zutreffend sein; ungeachtet dessen, ob sie tatsächlich kausale Zusammenhänge ausdrücken. Wir können also von einem lediglich ansatzweise durch eine Quasi-Theorie abgesicherten stark analytischen Prognosemodell sprechen. H . BIERMANN ( 1 9 6 9 , S . 1 4 1 ) hat die zahlreichen Determinanten in einem entsprechenden Strukturdiagramm dargestellt. Die Beziehungen zwischen den Einflußgrößen müßten nun durch mathematische Funktionen ausgedrückt werden, wobei sie nach Möglichkeit als algebraische Funktionen weitestgehend zu approximieren wären. Eine solche Operationalisierung liegt beim Modell BIERMANNS noch nicht vor. Selbst wenn es gelänge, ein solches relativ komplexes Regionalmodell für die Bundesrepublik bzw. deren Teilräume zu operationalisieren, bleiben stärkste Bedenken, ob es für die Regionalprognose in der Praxis überhaupt verwertbar wäre. Warum? Wir müssen vermuten, daß entwicklungsrelevante Abhängigkeiten, die in globalem bzw. großräumigem Zusammenhang gelten mögen, unter Umständen kleinräumig sehr stark relativiert werden. Damit wäre auch das gesamte Modell der Regionalprognose für die Anwendung in bestimmten Teilräumen, in konkreten Regionen als strukturell relativ anzusehen (vgl. Ausführungen zur strukturellen Relativierung der „Ad hoc-Systeme" im vorausgegangenen Kap. 2.5, sowie nachfolgend Kap. 3.1.1). Es gäbe also keine für die Regionen und Teilräume der Bundesrepublik gültige Quasi-Theorie der regionalen Entwicklung (raumzeitlich begrenzt) und ein darauf aufbauendes Prognosesystem, sondern bestenfalls fallspezifische „Ad hoc-Systeme"?. Auch die Ζ. B. im BIERMANN'schen Modell der Regionalprognose dargestellten Abhängigkeiten und Beziehungen können durchaus zwischen verschiedenen Räumen anders ausgeprägt oder auch gar nicht wirksam sein; ja selbst nicht im Modell enthaltene Elemente können in einem spezifischen Kleinraum von entscheidendem Einfluß sein. Allgemein unterstellte Abhängigkeiten sind in kleinen Räumen viel weniger stabil als in Großräumen, da spezifische Störgrößen nicht nach dem „Gesetz der großen Zahl" weitestgehend abgefangen werden, sondern viel stärker das Modell beeinflussend oder außer Kraft setzend durchschlagen317. Bei langen Prognosezeiträumen wächst die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einem solchen störenden bzw. verändernden zuvor nicht absehbaren Impuls kommt, der dann im Gegensatz zum Großraum eben entscheidend wirksam wird. Verdeutlichen wir uns an einfachen Beispielen zunächst einmal die kleinräumlich unterschiedliche Ausprägung, die kleinräumliche Relativität, entwicklungsbeeinflussender Abhängigkeiten.
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Wie tauglich sind die Modelle der Regionalprognose
3.1 Kleinräumliche Relativität entwicklungsbeeinflussender Abhängigkeiten Entwicklungsrelevante Abhängigkeiten können durch Korrelations- und Regressionsrechnung mathematisiert und damit für prognostische Zwecke operationalisiert werden. Die Beziehung zwischen der Zahl der Arbeitsplätze und der Bevölkerungszahl ist als eine wesentliche Abhängigkeit der gebietlichen Entwicklung anzusehen; sie ist daher zentraler Bestandteil der regionalen Prognose. Freilich erscheint diese Abhängigkeit als geradezu zwingend; Menschen müssen, um zu leben, in der Regel einem Erwerb nachgehen. Dieser aber ist an bestimmte Arbeitsplätze gebunden. Wo Menschen leben, sind daher auch meist Arbeitsplätze, so daß die genannte Beziehung fast als Tautologie anzusehen ist. Aber ganz so ausschließlich ist die Abhängigkeit beider Größen doch nicht; vor allem kann sie in verschiedenen Räumen je nach deren Größe, der Struktur der Bevölkerung, nach der geographischen Lage, den Pendlerverflechtungen etc. recht unterschiedlich ausfallen318. Am Beispiel einiger vom Verfasser durchgeführter Berechnungen im Bundesland Hessen soll dies verdeutlicht werden. Für unterschiedlichste Raumkategorien wurde die genannte entwicklungsbeeinflussende Abhängigkeit quantifiziert. Als Raumkategorien wurden unterschiedliche Gebietseinheiten ausgewählt, die jeweils durch mehrere, für die Korrelations- und Regressionsrechnung ausreichende „Fälle" (aus Mittelhessen) repräsentiert waren. So wurden 620 Gemeinden, 88 Nahversorgungsbereiche, als die untersten zentralörtlichen Einheiten, 35 Grundversorgungsbereiche, als mittlere zentralörtliche Einheiten, 30 Abstufungen unterschiedlicher Abgelegenheit319, 20 naturräumliche Einheiten sowie die hessischen Landkreise zu je einer Raumkategorie zusammengefaßt. Es wurde deutlich, wie sich die gleiche entwicklungsbeeinflussende Abhängigkeit in verschiedenen Raumkategorien unterschiedlich ausprägt. So fiel der Rangkorrelationskoeffizient, mit dem die Intensität des Zusammenhanges beider Größen gemessen wurde, höchst unterschiedlich aus. Während ζ. B. bei der Raumkategorie der naturräumlichen Einheiten und den Lagetypen die Korrelationskoeffizienten recht hoch waren (rs zwischen 0,8 und 0,9), sanken sie bei den Nahversorgungsbereichen, den Grundversorgungsbereichen und vor allem bei den Gemeinden (rs unter 0,3) auf recht geringe Werte ab. Während also in einer Raumkategorie zwischen den Einflußgrößen ein deutlicher Zusammenhang, hohe Abhängigkeit, bestand, waren sie in einer anderen Kategorie nahezu unabhängig voneinander. Aber auch das Verhältnis zueinander, indem sich beide Größen verändern,
Kleinräumliche Relativität entwicklungsbeeinflussender Abhängigkeiten
259
ist - wie die Regressionsgerade als Abbild der mathematischen Funktion der Abhängigkeit verdeutlicht - zwischen den Raumkategorien sehr verschieden. Die gleiche Zunahme der Arbeitsstätten wäre also in den verschiedenen Raumkategorien mit einer voneinander abweichenden recht unterschiedlichen Zunahme der Bevölkerung verbunden (siehe Diagramm Abb. 3).
Abb. 3:
Abhängigkeit der Veränderung von Einwohner- und Arbeitsplatzzahl in Mittelhessen 1961/1970
Vergleicht man die quantitative Ausprägung der entwicklungsbeeinflussenden Abhängigkeiten nicht nur zwischen unterschiedlichen Raumkategorien, sondern zwischen einzelnen konkreten Räumen, so werden die beobachteten Unterschiede in ähnlicher Weise deutlich (W. MOEWES, 1973, S. 172).320 Die gebietliche Relativierung läßt sich außer bei der Beziehung zwischen Arbeitsplatz- und Bevölkerungsentwicklung noch für zahlreiche andere ent-
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Wie tauglich sind die Modelle der Regionalprognose
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Kleinräumliche Relativität entwicklungsbeeinflussender Abhängigkeiten
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wicklungsrelevante Abhängigkeiten beobachten; so variieren ζ. B. die Korrelationskoeffizienten der Abhängigkeit von Bevölkerungsentwicklung und der Entwicklung des Dienstleistungsbereiches oder von Beschäftigtenentwicklung im Verarbeitenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich zwischen den Raumkategorien innerhalb eines weiten Spielraumes (siehe Tabelle). Besteht ζ. B. zwischen der Veränderung der Beschäftigtenzahl im Verarbeitenden Gewerbe und im privaten Dienstleistungsbereich auf der Ebene der naturräumlichen Einheiten (NRE) ein deutlicher Zusammenhang (rs = 0,80), so sind beide Größen dagegen auf der Ebene der Gemeinden oder Grundversorgungsbereiche nahezu unabhängig. In Abb. 4 wird die gebietliche Relativierung zwischen unterschiedlichen Raumkategorien sowohl bezüglich der Regressionsgeraden wie auch der Korrelationskoeffizienten an weiteren Abhängigkeiten (zwischen BevölkeVeränderung der Beschaftigtenzahl (in % 0 d Ver m ΜΗ)
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Veränderung der Bevolkerungszahl (ih %o d Ver. m ΜΗ)
Abb. 4:
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= 2.279 — 0 294 3.741 — 1 576 — 2.936 — 0 877 = 3 406 — 1 241 4 929—1964 - 2 839 — 0 807
«Γ —0,439 (auf 21% Νιν. signifikant) X Gemeinden X Landkreise X DezentralitätskategorVen X Grundversorgungsberey X Naturraumliche Einheiten X Nahversorgung5bereiche r ~0655"*
räumliche Lage (gemäß Dezentraiitatskennziffer)
Beziehung zwischen der Veränderung der Einwohnerzahl 1961/1970 einerseits und der Veränderung der Beschäftigtenzahl im Dienstleistungsbereich sowie der räumlichen Lage andererseits
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Wie tauglich sind die Modelle der Regionalprognose
rungsentwicklung und Zentralität oder Dezentralität sowie dem Dienstleistungsangebot eines Raumes) verdeutlicht. Ändert sich nun nur das Verhältnis (Regressionskurve), indem sich zwei abhängige Größen beeinflussen, so kann die mathematische Funktion, die diese Beziehung beschreibt, durch Eingabe der entsprechend veränderten empirischen Variablen so verändert werden, daß sie die veränderte Beziehung beider Größen im Prognosemodell zur Geltung bringt. Eine gewisse Anpassung des Modells ist also möglich. Prognosemodelle lassen sich grundsätzlich so programmieren, daß numerische Veränderungen der Abhängigkeiten zwischen Variablen berücksichtigt werden, ohne das Prognosemodell in seiner Struktur, in seinem analytischen Aufbau, außer Kraft zu setzen321. Zeigt sich dagegen, daß die Beziehungen zwischen verschiedenen Einflußgrößen, nach denen das Modell konstruiert wurde, gar nicht mehr wirksam sind, wie dies durch gegen Null gehende Korrelationskoeffizienten verdeutlicht würde, dann wird der Aufbau des ganzen Modells in Frage gestellt. Die entsprechenden Beziehungen würden als die Entwicklung beeinflussende Abhängigkeiten ausfallen, die Struktur des Systems wäre betroffen; Prognose ist dann nicht mehr möglich. Dieses Phänomen, daß bestimmte, an sich entwicklungsrelevante Abhängigkeiten eines „allgemeinen" Prognosemodells einfach ausfallen322, läßt sich bei der empirischen gebietlichen Überprüfung dieser Abhängigkeiten häufig beobachten, je nach räumlicher Dimension bzw. Raumkategorie unterschiedlich ausgeprägt. Die kleinräumliche Relativierung entwicklungsbeeinflussender Abhängigkeiten kann sich so auf das gesamte, auf diesen Abhängigkeiten gegründete Prognosemodell (Aussagesystem) übertragen. Daher müssen wir auch von einer gebietlichen Relativität der Prognosemodelle sprechen. Da weder Korrelationskoeffizienten noch Regressionsgeraden etwas über die Ursächlichkeit eines Zusammenhanges aussagen, ist von vornherein völlig offen, welche kausalen Abhängigkeiten in den einzelnen Teilräumen bzw. verschiedenen Raumkategorien (siehe Diagramm) wirksam sind. Allerdings ist es möglich, daß auf großräumlicher Ebene, etwa dem Gebiet der Bundesrepublik, die genannten Zusammenhänge durchaus auch kausale, über eine Theorie zu erklärende, Abhängigkeiten widerspiegeln. Auf kleinräumlicher Bezugsbasis kann diese denkbare Kausalität aber besonders leicht durch andere Elemente bzw. gebietsspezifische synergetische Bewertungen verdrängt werden. So können ζ. B. die Bewohner relativ große Fahrentfernungen zu den Arbeitsstätten in Kauf nehmen, weil sich dadurch der Wunsch nach einem Einfamilienhaus, etwa durch billige Bodenpreise und geringe Erschließungskosten, realisieren läßt. Für den Bereich solcher Wohngemeinden würde also die Abhängigkeit der Bevölkerungsentwicklung von der im gleichen Raum stattfindenden Arbeitsplatzentwicklung
Kleinräumliche Relativität entwicklungsbeeinflussender Abhängigkeiten
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nicht wirksam sein323. Es ist aber auch möglich, daß an sich noch wirksame Beziehungen durch andere Einflüsse so überlagert werden, daß sie statistisch nicht mehr sichtbar sind; ζ. B. kann hoher Zuwachs der Bevölkerung vor allem durch Altenwohnsitze, Zweitwohnsitze etc. ausgelöst werden, obwohl gleichzeitig die Bevölkerungsentwicklung durchaus auch noch von der Arbeitsstättenentwicklung beeinflußt wird. Erst wenn die Verflechtung der raumspezifischen kausalrelevanten Beziehungen aufgedeckt wird, kann das Phänomen der kleinräumlichen Relativierung großräumlich gültiger Abhängigkeiten eliminiert werden und ein raumspezifisches anwendbares Prognosesystem entsteht. Es wäre also das raumspezifische „Ad hoc-System" der entwicklungsbeeinflussenden Abhängigkeiten aufzudecken. So wird deutlich, daß Prognosemodelle, die in ihrem Aufbau durchaus als analytisch allgemein plausibel erscheinen und darüber hinaus auf der Basis großräumlich verfügbarer Daten durch Regressions- und Korrelationsrechnung weitestgehend operationalisiert werden, die also nahezu quasi-theoretisch abgesichert sein mögen, vollkommen versagen können, wenn sie in einem konkreten Raum (Region oder ausgewählten Gebiet) angewandt werden. Das schließt nicht aus, daß sie großräumlich, also auf der Ebene ihrer unmittelbaren Datengrundlage (ζ. B. Gebiet der Bundesrepublik), bedingt brauchbar sein können. Das allgemein verbindliche gebietliche bzw. regionale Prognosemodell, als mathematisiertes Modell, gibt es jedoch nicht. Man könnte nun im Sinne des oben erläuterten Ansatzes die Regressionsanalyse in dem einzelnen Raum jeweils neu durchführen und die dann mathematisierte Beziehung in ein raumspezifisches Prognosemodell einsetzen324. Aber auch das bleibt problematisch, denn es ist keineswegs sicher, ob die mathematisch fixierte Beziehung tatsächlich typisch für den Raum ist, oder ob sie nur zufällig so beobachtet wurde, in Wirklichkeit also keine Kausalität dahintersteht. Hauptaufgabe müßte daher sein, kausalrelevante Beziehungen aufzudecken. Die Aufdeckung solcher kausalrelevanter Beziehungen wäre weniger eine statistische Aufgabe, sondern vor allem ein Problem sehr komplexer gebietsspezifischer Ursachenanalyse. Stets aber bliebe das verunsichernde Risiko einer Veränderung ursächlicher Verknüpfungen in der Zeit bestehen. Zusammenfassend halten wir fest: Da entwicklungsbeeinflussende Abhängigkeiten und die darauf basierenden Systeme gebietlich relativiert werden, auch wenn sie allgemein als durchaus plausibel und vermeintlich allgültig erscheinen, sind allgemeine mathematisierte Modelle der Regionalprognose (wie ζ. B . das von H. BIERMANN vorgelegte Modell) für eine gebietsspezifische (regionale oder kleinräumliche) Prognose in der Regel untauglich.
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Wie tauglich sind die Modelle der Regionalprognose
3.1.1 „Fulguration" relativiert das System der regionalen Entwicklung
Verdeutlichen wir uns noch einmal, warum mit der aufgezeigten gebietsspezifischen Änderung bzw. Relativierung einzelner Abhängigkeiten bzw. entwicklungsbeeinflussender Untersysteme das gesamte System der gebietlichen regionalen Voraussage relativiert werden kann und ein neuer Gesamtzusammenhang entsteht, mit völlig anderer Leistung, der also auch qualitativ und quantitativ völlig veränderte Voraussagen erbringen würde. Ständig können durch differenzierte Einwirkungen und Impulse ganz andere ursächliche Verflechtungen der gebietlichen Entwicklung entstehen, ohne daß sie mit den ermittelten Funktionen eines allgemeinen regionalen Prognosemodells hinreichend beschrieben werden. Die Qualität eines Ursachengefiiges der gebietlichen Entwicklung kann bereits durch unscheinbarste Einflüsse verändert werden. Wir müssen in diesem Zusammenhang einen systemtheoretischen Gedankengang aufgreifen. Das System der regionalen Entwicklung, gleich welcher Ausprägung, setzt sich aus zahlreichen miteinander verknüpften Teilsystemen zusammen; wie und welche Teilsysteme, aufeinander wirken, wissen wir nicht immer genau. Treffen nun bisher weitestgehend unabhängige Systeme aufgrund irgendwelcher Umstände zusammen, so können völlig neue Systemeigenschaften entstehen, die zuvor in den einzelnen Systemen (ζ. B. weil in verschiedenen Räumen wirksam) auch nicht andeutungsweise ausgeprägt waren. Es kommt also zur Neuschöpfung von Systemeigenschaften, zur „Fulguration" (Κ. LORENZ, 1973, S. 48); in diesem Zusammenhang kann durchaus das neue Ganze mehr als die Summe seiner zusammengefügten Teile sein. Stößt ζ. B. das Teilsystem „Fernerholung" großstädtischer Bewohner mit dem Teilsystem „landschaftlich reizvolles, klimatisch begünstigtes, aber in der Entwicklung zurückgebliebenes Agrargebiet" zusammen, einschließlich der jeweils unabhängigen besonderen Systemeigenschaften, so entsteht etwas völlig Neues, eine Symbiose beider Wirkungszusammenhänge mit neuen typischen Problemen, Prozessen und Eigenschaften, die in keinem der vorherigen Teilsysteme bisher wirksam waren. Es entwickeln sich ζ. B. ländliche Wohnsitze großstädtischer Bevölkerung, die hier „ländliche" Formen der Freizeitgestaltung neu herausbildet. Ähnlich lassen sich die Wirkungen erklären, die einzelne Personen mit ihren spezifischen Plänen und Möglichkeiten verursachen, die in einen Raum zuziehen. Gleiches gilt für die Auswirkungen bestimmter Erfindungen und technischer Entwicklungen, die weitab von einem bestimmten geographischen Raum geleistet werden, dann aber unter den besonderen Bedingungen dieses Raumes erst voll und entwicklungsverändernd wirksam werden. Sie lösen in einem spezifischen geographi-
Kleinräumliche Relativität entwicklungsbeeinflussender Abhängigkeiten
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sehen Raum Prozesse aus, wie sie in den entsprechenden Erfindungen und technischen Entwicklungen selbst a priori nicht festgelegt waren. Sind PKWs zunächst nur mehr oder minder nützliche Systeme der Fortbewegung in schlecht erschlossenen, dünn besiedelten Räumen, können sie gemeinsam mit den in diesem Raum dadurch freiwerdenden Entwicklungsfaktoren außerordentlich förderlich wirksam werden und den Zuzug von Menschen auslösen. Unter anderen räumlichen Bedingungen, etwa denen der Großstadt, bewirkt das System PKW durch Lärm und Luftverschmutzung im Zusammentreffen mit der verdichteten Wohnweise jedoch genau das Gegenteil, es verstärkt den Trend zur Abwanderung und hat möglicherweise insgesamt mehr schädigende als fördernde Wirkung. Die Entstehung neuer Systemeigenschaften bedeutet aber doch nichts anderes, als daß nach dem Zusammentreffen von verschiedenen, auch außerhalb lokalisierten, Teilsystemen innerhalb eines Systems der gebietlichen Entwicklung neue Effekte auftreten können, die mit den mathematischen Funktionen der angeblich entwicklungsbeeinflussenden Abhängigkeiten gar nicht erfaßt werden, denn diese beruhen auf „früheren" Daten oder „allgemein" bzw. großräumlich beobachteten Abhängigkeiten. Die Möglichkeit der ständigen Entstehung neuer Systemeigenschaften, d. h. neuer entwicklungsrelevanter Eigenschaften, relativiert ohnehin alle Prognosemodelle, besonders aber kleinräumliche Zusammenhänge, da hier Fulgurationen schon durch anscheinend „unbedeutende" neue Einflüsse sehr stark wirksam werden können, denn diese treffen auf ein weniger durch die „große Zahl" stabilisiertes Gefüge. Fulguration, blitzartige Veränderung von Systemeigenschaften, bedeutet für Kleinräume eine ständige Verunsicherung in der Zeit (da immer die Frage steht, wann wieder eine Fulguration einsetzt). Auch dadurch wird die Herausarbeitung kausalrelevanter kleinräumlicher Entwicklungssysteme erschwert; die gewonnenen Modelle unterliegen ständiger Unsicherheit (s. o.). Das läßt den ohnehin notwendigen, sehr hohen Aufwand zur Herausarbeitung des kleinräumlich spezifischen Entwicklungssystems noch problematischer erscheinen. In der Möglichkeit ständiger Veränderung der Systemeigenschaften eines kleinräumlichen Systems der Entwicklung liegt einer der Gründe, warum großräumliche, „allgemein" gültige Abhängigkeiten bzw. ihre mathematischen Funktionen, wie auch die Systeme der gebietlichen Entwicklung kleinräumlich unterschiedlich ausgeprägt, also relativ sind. Ständig kann veränderte Zuordnung von Teilsystemen, Elementen, Einflüssen anderer Systeme etc. neue Wechselwirkungen auslösen. Da wir über die zukünftige Zuordnung der Einflußgrößen nichts oder zumindest nichts Verläßliches wissen, kennen wir auch die voraussichtlichen Wirkungen nicht; es bleibt eine ständige Unsicherheit bezüglich der voraussichtlichen Entwick-
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Wie tauglich sind die Modelle der Regionalprognose
lungen - eine ständige, vor allem gebietliche, Relativität der entwicklungsbeeinflussenden Abhängigkeiten und Aussagesysteme. Das System der gebietlichen Entwicklung ist demnach als strukturell relativ anzusehen; es wäre als „Ad hoc-System" stets erneut aufzudecken, ohne jemals beständig zu sein (vgl. auch Kap. 2.5). Ehe wir die aus den bisherigen Überlegungen resultierenden kritischen Anmerkungen zur Verwendung mathematischer Modelle der Regionalprognose in der Praxis zusammenfassend darstellen, muß noch auf einen weiteren verfahrenstechnischen Einwand verwiesen werden. Die mathematischen Funktionen im Rahmen eines operationalisierten Prognosemodelles werden - vereinfacht ausgedrückt - meist durch eine Regressionsanalyse der empirischen Daten vermuteter Abhängigkeiten gewonnen. Eine Regressionsgerade oder -kurve stellt aber ohnehin nur eine durch statistische Operationen erreichte Vereinfachung des tatsächlichen Verhältnisses der Variablen dar. Innerhalb einer zugrundeliegenden Datenwolke können nacheinander, etwa zu verschiedenen Zeitpunkten des Beobachtungszeitraumes oder für bestimmte Gruppen von Daten (ζ. B. verschiedene Sozialschichten), mehrere voneinander abweichende Trends enthalten sein, die durch Reduktion auf eine durchschnittliche Regressionslinie nicht entsprechend ausgedrückt werden, also auch nicht angemessen in die Prognose eingehen. Die verwendete Abhängigkeit kann also durch die mathematisch statistische Vereinfachung in ihrer Struktur und Vielfalt verkannt werden. So kann ζ. B. gegen Ende des Beobachtungszeitraumes bereits eine ganz andere Tendenz wirksam sein als an seinem Anfang oder in seiner Mitte, ohne daß dies in der durchschnittlichen Regressionslinie, besonders dann, wenn es sich um eine Regressionsgerade handelt, zum Ausdruck kommt. Des weiteren ist zu betonen, daß es ohnehin problematisch ist, die in einem bestimmten Zeitraum beobachtete Regressionslinie als gültig für den Prognosezeitraum anzuerkennen; denn die Beobachtung einer Entwicklung in der Vergangenheit oder Gegenwart rechtfertigt nicht deren Übertragung auf die Zukunft325. Die Anwendung mathematischer Funktionen, die auf empirischem Material, also zwangsläufig mehr oder minder zurückliegenden Beobachtungen, beruhen, ist immer auch mit dem Risiko des induktiven Schlusses behaftet und streng genommen unzulässig. Das wird auch deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß schon die Hinzufügung weniger neuer Beobachtungen, etwa unmittelbar nach Abschluß der bisherigen Datenbeobachtung, ja schon eine einzige Beobachtung, die Änderung der zuvor ermittelten Regressionslinie bzw. Prognosefunktion zur Folge haben kann. Wie zuverlässig wäre also die jeweils verwendete Prognosefunktion326?
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3.1.2 Zweifel an der Brauchbarkeit ökonometrischer Voranssagemodelle Fassen wir die Überlegungen zusammen, aus denen sich die Skepsis gegenüber der Verwendung mathematisch operationalisierter kybernetischer Modelle der Regionalprognose ableitet, auch wenn diese kybernetischen Modelle ohnehin erst in Ansätzen vorliegen: 1. Entwicklungsbeeinflussende Abhängigkeiten, auch wenn sie möglicherweise auf einer Quasi-Theorie (gültig auf größerer räumlicher Ebene) beruhen, sind kleinräumlich als relativ aufzufassen327. Die mathematischen Funktionen, die die vermuteten Abhängigkeiten beschreiben, können in den verschiedenen Räumen anders ausgeprägt sein, sowohl hinsichtlich der Intensität eines Zusammenhanges (Korrelationskoeffizient) wie auch im Verhältnis, in dem sich die Größen zueinander verhalten. Es können also ganz andere Regressionslinien gelten, nicht nur hinsichtlich ihrer Steigung, sondern auch als andere Kurventypen (Gerade, Parabel, Exponentialfunktion etc.). Doch das kann durch Messung ermittelt werden. Problematisch ist, daß solche Abhängigkeiten in einem Raum wirksam sind, in einem anderen dagegen nicht mehr, während dann evtl. wieder ganz andere Abhängigkeiten entwicklungsrelevant werden. 2. Selbst wenn für jeden Kleinraum durch Eingabe der empirischen Daten die jeweils gebietsspezifische Funktion bzw. deren besondere Ausprägung für die entwicklungsbestimmenden Abhängigkeiten ermittelt wird, besagt das keineswegs, daß diese Funktion auch für den Prognosezeitraum die Abhängigkeit angemessen beschreibt. Die Unzulässigkeit induktiver Schlüsse verbietet eine solche Übertragung auf die Zukunft328. Auch wenn in einem Prognosemodell durch ständige Neuaufnahme der gebietsspezifischen Daten die Funktionen laufend angepaßt werden, ist damit wenig gewonnen, denn auch die auf Beobachtung ruhenden kleinräumlich spezifischen „aktualisierten" Funktionen erlauben keine daraus abgeleitete Voraussage, weil die soeben „beobachtete" Funktion in der Zukunft bereits wieder abweichen kann; so wie sie ja bereits gegenwärtig von der Funktion desselben Sachverhaltes in einem anderen Raum abweicht (s. o.). Die vermeintlich „raumspezifischen" mathematischen Funktionen können sich jederzeit wieder ändern. 3. Erst wenn raumspezifische Funktionen die Folge kausaler Zusammenhänge wären, die aufgrund einer möglichst bewährten gebietsspezifischen „Ad hoc-Theorie" zumindest als annähernd stabil aufgefaßt werden können, wäre ein solches Verfahren gerechtfertigt. Wir haben bereits erörtert, daß es außerordentlich schwierig und kaum verläßlich wäre, solche fallspezifischen „Theorien" und das zugehörige prognostizierende Aussagesystem herauszuarbeiten (vgl. Kap. 2.5).
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4. Im Laufe der Entwicklung werden vor allem bei Kleinräumen neu hinzutretende Faktoren oft so stark wirksam, daß sie das vermeintlich gültige Prognosesystem völlig außer Kraft setzen. Die Inwertsetzung der Faktoren eines Raumes kann sich sehr rasch nur durch kleine Impulse (Moden, Zufälle etc.), die im Modell möglicherweise gar nicht vorgesehen waren, völlig ändern und veränderte Entwicklungen auslösen; ein anderes Ursachengefiige wird wirksam. Die Struktur des Voraussagemodells ist also nicht nur zwischen verschiedenen Räumen (siehe 1.), sondern ohnehin in der Zeit relativ. 5. Stoßen im Laufe der regionalen Entwicklung bisher unabhängige Systeme aufeinander bzw. trifft ein neues Teilsystem oder beeinflussendes Element auf das bisherige System oder verändert sich ein bereits wirksames Teilsystem, so können durch Fulguration völlig neue Systemeigenschaften ausgelöst werden, die zuvor in keinem der beiden in Kontakt gebrachten Systeme vorhanden waren. Entsprechend ändert sich die gebietliche Entwicklung. Der gegenwärtige Systemzustand und die Systemeigenschaft (ζ. B. Stagnation der allgemeinen Entwicklung) ist also, vor allem bei Kleinräumen, relativ. 6. Regressionslinien (bzw. deren Funktionen ) entwicklungsbeeinflussender Abhängigkeiten sowie Zeitreihen entwicklungsrelevanter Größen können, sobald sie als Trendlinien interpretiert werden und als Grundlage der Extrapolation dienen, irreführend sein. Trends eines Beobachtungszeitraumes, oder überhaupt Entwicklungstendenzen der Vergangenheit, können sich im nachfolgenden Zeitraum jederzeit wandeln, sie sind hochgradig relativ (vgl. auch Punkt 2.). 7. Der gebietlichen Entwicklung sowie den entwicklungsbeeinflussenden Abhängigkeiten und ihren mathematischen Funktionen liegen in der Regel sehr differenzierte synergetische Bewertungen der Menschen zugrunde. Diese Bewertungen und Entscheidungen sind keineswegs stabil, zumal sie häufig von Menschen getroffen werden, die außerhalb des betreffenden Gebietes leben. Bewertungen können sich ständig ändern, sie sind relativ und relativieren so die durch sie beeinflußten entwicklungsrelevanten Abhängigkeiten. 8. Die Entscheidungen der Menschen erfolgen in der Regel unter Unsicherheit, zumindest aber unter Irrtumsrisiko. Die Fälle, in denen die Konsequenzen von Entscheidungen mit Sicherheit vorausgesagt werden können, sind im sozialen Bereich selten. Das erklärt sich schon daraus, daß der Mensch niemals über alle an sich entscheidungsrelevanten Informationen verfügt. So ist es auch niemals möglich, hinreichende Informationen über alle Größen, durch die regionale Entwicklung beeinflußt werden kann, zu besitzen. Ein vollkommen wirklichkeitsgerechtes, operationalisiertes Sy-
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stem der gebietlichen Entwicklung läßt sich also ohnehin kaum aufstellen. Selbst wenn das möglich wäre, könnte dieses hochkomplexe System vermutlich nicht mit den notwendigen Daten „gefüttert" werden, weil diese nicht beschaffbar sind. Selbst wenn das dennoch gelänge, darf man vermuten, daß die zukünftige Entwicklung nicht, wie durch das Modell ermittelt, verliefe. Verfügen doch die Menschen, die die tatsächlichen Entscheidungen im Raum vornehmen, mit Sicherheit nicht über diese „totale" Information, ganz abgesehen davon, daß sie sich ohnehin im konkreten Fall kaum modellgemäß verhalten würden. So bleiben doch alle ökonometrischen Modelle und ihre entwicklungsbeeinflussenden Abhängigkeiten nicht nur gebietlich relativ, sondern geradezu zwangsläufig mehr oder minder unvollständig und wirklichkeitsfremd. Allein die hier aufgeführten Hinweise lassen starke Zweifel an der regionalen, gebietlichen oder gar kleinräumlichen Anwendbarkeit ökonometrischer Modelle der Regionalprognose, wie sie als allgemeine Modelle vorgeschlagen wurden, entstehen329. Nun könnte man einwenden, die gebietliche Relativität ließe sich durch lernende Prognosemodelle, die sich an die besondere Ausprägung der Abhängigkeiten in einem bestimmten Raum anpassen, überwinden. Es wären also Prognosemodelle aufzustellen, die ihre Informationsverarbeitung aufgrund neu einkommender Daten ändern können (H. BIERMANN, 1970, S. 172 f.). Dieser Lernvorgang wäre vereinfachend so zu verstehen, daß sich aus dem Vergleich zwischen den beobachteten und prognostizierten Daten ständig Differenzgrößen, die als Zeitreihen der Abweichung darstellbar wären, bestimmen lassen. Das Ausmaß des Prognoseirrtums könnte dann statistisch beschrieben werden (ζ. B. durch Mittelwerte, Streuungsmaße) und würde so anzeigen, wie stark bestimmte neu beobachtete Variable von den durch das Prognosemodell ermittelten Werten abweichen. Diese „Erfahrungen" müßten dann fortlaufend als gebietsspezifische Erwartungswerte bezüglich der Beeinflussung bzw. Abweichung gewichtend in die betrachteten Variablen einbezogen werden (vgl. H. BIERMANN, 1970, S. 174 f., S. 180). Aber auch diesem Vorgehen, bei dem die Prognoseabweichung in einem Beobachtungszeitraum (also Vergangenheit) zur Beeinflussung der nächsten Prognose (also die Zukunft betreffend) herangezogen wird, liegt wiederum eine gewisse Trendgläubigkeit zugrunde. Es handelt sich also nur um eine weitere Spielart des induktiven Schlusses, den wir als erkenntnistheoretisch unbefriedigendes Voraussageprinzip in Frage stellen müssen. Im allgemeinen spricht wenig dafür, daß die tatsächliche Abweichung von der Prognoseberechnung eines bereits vergangenen Zeitraumes auch relevant ist für die Abweichungen von der Voraussage für den nachfolgenden Zeitraum. Die im obigen Sinne erläuterte Relativität ist kein Phänomen, das
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sich als ständig stabile gebietsspezifische Abweichungsrate gewissermaßen von einem Zeitraum auf den anderen „vererbt". Wir müssen weniger das Prognosesystem lernen lassen, als vielmehr selbst lernen, daß das System der entwicklungsbeeinflussenden Abhängigkeiten in den verschiedenen geographischen Räumen und zwischen den Zeiten durchaus anders sein kann. Es kann nicht durch die unterschiedliche Gewichtung der vermutlich entwicklungsbeeinflussenden Variablen aufgrund von Beobachtungen in der Vergangenheit „vereinheitlicht" werden, als ob es nur einer nachträglichen mehr oder minder quantitativen Bereinigung bedarf. Die Relativität in ihren vielfältigen Aspekten hat durchaus auch eine qualitative Abweichung räumlicher Wirkungsgefüge zur Folge; diese läßt sich kaum „bereinigen", sondern ein neues gebiets- und zeitspezifisches System der Entwicklung müßte aufgedeckt werden330. Die im deutschsprachigen Raum u. a. von W . KRELLE und Mitarbeitern für größere Räume (ζ. B. für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland - vgl. D. BECKERHOFF, W . KRELLE, H . LANGER, 1 9 6 7 ) erprobten ökonometrischen Prognosemodelle sind bereits, ungeachtet der ohnehin gegen sie geltenden Bedenken, in ihrer Umformung für Regionen (vgl. ζ. Β . H . BIERMANN, 1 9 7 0 ) problematisch, übertragen auf kleinere Gebiete sind sie als hinfällig anzusehen. Großräumlich bereits kaum anwendbare Prognosemodelle werden kleinräumlich geradezu zwangsläufig versagen. Die beobachtete kleinräumliche Relativität (s. o.) allgemeiner entwicklungsbeeinflussender Abhängigkeiten zeigt, daß wissenschaftstheoretisch befriedigende kleinräumliche Prognose nur über den oben beschriebenen wesentlich aufwendigeren und komplizierteren Ansatz einer ursächlichen Durchdringung der gebietsspezifischen Entwicklung im Rahmen einer fallspezifischen „Ad hoc-Theorie" möglich wäre. Da auch dagegen beträchtliche Bedenken hinsichtlich der Durchführbarkeit bestehen (s. o.), wird es notwendig, nach angemesseneren Verfahren zu suchen, um raumgerechte Gebietsentwicklung zu ermöglichen (vgl. Ausführungen im vierten Teil). Die zu beobachtenden ständigen Fehlvoraussagen in Anwendung ökonometrischer Modelle (Wirtschaftsprognose) verstärken nachdrücklich die Skepsis gegenüber solchen Verfahren der Sozialprognose.
3.2 Modellorientierte Projektionen Ungeachtet der kybernetischen Ansätze für relativ komplexe Prognosemodelle finden bereits seit mehreren Jahren für regionale Voraussagen und insbesondere für die Bevölkerungsprognose arbeitsmarktorientierte Verfahren Anwendung. Eine entsprechend umfangreiche Literatur331 liegt vor; wir
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können uns daher hier auf eine vereinfachende Darstellung des Verfahrens beschränken332. Das Verfahren kann als modellorientierte Projektion verstanden werden, stellt also eine Kombination zwischen Fortschreibungen und deren Verknüpfung über ein analytisches Modell dar. Zunächst werden getrennt die demographische und die ökonomische Komponente prognostiziert, über jeweils isolierte Vorausschätzungen. Durch Fortschreibung der natürlichen Bevölkerungsentwicklung unter Berücksichtigung der spezifischen Altersstruktur, Geschlechterverhältnisse, Fruchtbarkeits- und Sterbeziffern333 wird unter Annahme bestimmter Erwerbsquoten (möglichst differenziert nach Berufs- und Qualifikationsstruktur) das voraussichtlich natürliche Arbeitskräfteangebot eines Raumes ermittelt. In einem unabhängigen Arbeitsgang wird in Beachtung der voraussichtlichen Strukturänderung durch branchenspezifische Vorausschätzung der zukünftigen Beschäftigtenentwicklung (einschließlich des voraussichtlichen Rückganges in der Land- und Forstwirtschaft) die voraussichtliche Arbeitskräftenachfrage (ggf. differenziert nach der Berufsstruktur) vorgenommen. Aus der Bilanzierung des regionalen bzw. kleinräumlichen natürlichen Arbeitskräfteangebotes und der gebietlichen Arbeitskräftenachfrage lassen sich unter Schätzung der zukünftigen Pendlerbilanzen denkbare Wanderungsströme ermitteln. Diese denkbaren arbeitsplatzorientierten Wanderungen werden dann, ständig wiederholend, als beeinflussende Größe der natürlichen Bevölkerungsentwicklung für die einzelnen Teilzeiträume des gesamten Prognosezeitraumes einbezogen. Die Schwächen eines solchen Ansatzes sind offensichtlich. Die Berechnung der zahlreichen zukünftigen Größen, vom natürlichen Bevölkerungszuwachs, der Erwerbsquote bis zur gebietlichen Arbeitsplatzentwicklung etc., beruhen zunächst auf den vorausgegangenen Beobachtungen. Diese werden dann, allerdings meist deutlich verändert, fortgeschrieben. Dabei werden die voraussichtlichen Abweichungen vom bisherigen Trend durch Hinzuziehung möglichst fundierter Schätzungen der beeinflussenden Faktoren (ζ. B. der zukünftigen Erwerbsquote) ermittelt. Die voraussichtlichen Entwicklungstendenzen in unterschiedlichsten Bereichen (ζ. B. verlängerte Ausbildungszeiten, zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen usw.) finden dabei so gut wie möglich Berücksichtigung. Letztlich wird aber doch ein induktives, trendextrapolierendes Verfahren angewandt, obgleich es durch fundierte Schätzungen starke Umformung erfährt. Wir brauchen unsere Bedenken gegen induktive Ansätze nicht zu wiederholen (vgl. Kap. 2.2). Die einzelnen ermittelten Zahlenwerte werden dann gemäß dem analytischen Modell miteinander verrechnet und erbringen so, entsprechend den
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unterstellten vielfältigen Annahmen, Angaben zur zukünftigen Bevölkerungszahl. Ein solches Verfahren ist natürlich mit zahlreichen Fehlerquellen und Ungewißheiten behaftet. Es liegen zahlreiche Veröffentlichungen vor, die aufzuzeigen versuchen, wie eine Verfeinerung der Voraussagen für die einzelnen Einflußgrößen erreicht werden kann. Vor allem erscheinen uns kleinräumliche oder auch regionale Voraussagen der Beschäftigtennachfrage, aufgrund branchenspezifischer Trends problematisch; die gebietsspezifische Struktur und die gebietsspezifischen Besonderheiten können, wenn überhaupt, nur durch eine ergänzende Befragung und Untersuchung der einzelnen Arbeitsstätten erreicht werden. Für eine genauere Voraussage der natürlichen Bevölkerungsentwicklung wie auch für die Projektion der Berufs- und Qualifikationsstruktur werden ζ. B. sog. Kohortenanalysen empfohlen, in denen bestimmte Teilgruppen der Bevölkerung bzw. Erwerbstätigen jeweils gesondert fortgeschrieben werden334. Durch stärkere Berücksichtigung intraregionaler Wechselwirkungen bei den wirtschaftlichen Aktivitäten, durch Verbesserung der Vorausschätzung der Produktivität, besonders aber durch verbesserte Projektion der Wanderungsströme335 und durch bessere Berücksichtigung nicht arbeitsplatzorientierter Gesichtspunkte, also etwa der gebietlichen Wohnattraktivität336, soll eine größere Realitätsnähe erreicht werden. Aber fragen wir uns, wie differenziert müssen Modelle sein, wie groß muß die Zahl der Einflußgrößen, wie genau deren Kenntnis sein, um die zukünftige Zahl der Arbeitsplätze, die natürliche Bevölkerungsentwicklung oder die Wanderungsbilanzen usw. verläßlich vorauszusagen? Zwar kann man sich bemühen, ein Modell möglichst einfach und die Zahl der Einflußgrößen möglichst gering zu halten, aber damit wird die Projektion nur um so problematischer. Komplexität in der Wirklichkeit mit ihrer verunsichernden Wirkung kann nicht durch Reduzierung auf vereinfachende Modelle der Projektion umgangen werden. Die einzelnen Komponenten eines solchen Modells umschließen dann jeweils selbst einen derart komplexen Sachverhalt, daß eine verläßliche Vorausschätzung so gut wie unmöglich ist. Wie schwierig es ist, bezüglich solcher einzelner Komplexe brauchbare Voraussagen zu gewinnen bzw. diese zu verbessern, soll am Beispiel dès Wanderungsverhaltens kurz verdeutlicht werden. 3.2.1 Erklärungsversuche der Wanderungsvorgänge Es gab zahlreiche Versuche, Wanderungsbewegungen durch möglichst einfache und einleuchtende „Theorien" zu erklären, aber sie sind meist durch einen geradezu frappierenden Glauben daran, daß diese Wanderungen Ge-
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setzen gemäß verlaufen, gekennzeichnet. So beruhen die zahlreichen Distanz· und Gravitationsmodelle letztlich immer wieder auf dem Gedanken, daß sich analog der Schwerkraft im physikalischen Bereich die Interaktionen zwischen den Bevölkerungskonzentrationen direkt proportional zum Produkt der Bevölkerungszahlen und umgekehrt proportional zum Quadrat der Distanz zwischen ihnen entwickeln337. Zwar erfuhren diese Vorstellungen vielfach Korrektur und Variation durch Einbeziehung der an einem Standort sowie an „zwischenliegenden" Standorten gebotenen Möglichkeiten338 oder verschiedener Variablen339. Aber auch bestehende persönliche Kontakte wurden ergänzend hinzugezogen340, in deren Folge sich dann besondere „Kanäle" der Wanderung herausbilden können, durch die die Distanzen nahezu unwesentlich werden.341 Andere Autoren wieder sehen neben den Distanzen in den Differenzen des Lohnniveaus und des Arbeitsplatzangebotes die wesentlichen Bestimmungsgrößen des Wanderungsverhaltens342 sowie ergänzend in sog. Wohnfaktoren343. Aber letztlich liegt all diesen Versuchen die falsche Annahme zugrunde, Wanderungsverflechtungen ließen sich durch relativ einfache Gesetzmäßigkeiten erklären. Sie stehen meist zu sehr unter dem Wunsch, möglichst wenige determinierende Einflußgrößen als „kennzeichnende" Daten zu finden, um Wanderungsbewegungen durch mathematische Gleichungen oder innerhalb mathematisch-analytischer Modelle zu erfassen. Geradezu zwangsläufig werden dann zahlreiche Restriktionen und Vereinfachungen vorgenommen, die der Realitätsnähe äußerst abträglich sind. Besonders verwundert der mehr oder minder direkte Bezug auf physikalische Prozesse; er mißachtet die kategoriale Besonderheit des menschlichen Verhaltens (siehe Kap. 2.3.4.1). In anderen Ansätzen wird versucht, das Wanderungsverhalten unter Berücksichtigung soziologischer und psychologischer Komponenten als Ergebnis eines vorausgehenden Entscheidungsprozesses zu deuten. Danach bilde sich im Menschen zunächst eine Enttäuschung bzw. Unzufriedenheit344 hinsichtlich seines derzeitigen Lebens- und Wohnbereiches heraus, die dann die Bereitschaft, nach Alternativen zu suchen, steigert und je nach Informationsund Wahrnehmungsbreite sowie Bewertung zur Wanderungsentscheidung führt345. Für diese bewertende Entscheidung wird häutig das Prinzip der Nutzenmaximierung346 unterstellt; man bevorzugt also denjenigen Standort, den man hinsichtlich der Befriedigung seiner Bedürfnisse als bestgeeignet einschätzt347. Andere Autoren sehen in der Abwanderung den Versuch, eine zu große Diskrepanz zwischen den Ansprüchen und der Wirklichkeit abzubauen348. Oder aber Wanderung wird als eine Form des Ausgleichs der Spannungen, die bei der Verteilung von Macht und Prestige ständig entstehen, gedeutet349.
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Darauf aufbauend, kennzeichnet G . ALBRECHT ( 1 9 7 2 , S. 1 5 3 f.) die geographische Mobilität als eine Anpassungsleistung, die letztlich dazu beiträgt, die Einheit und Funktionsfähigkeit eines sozialen Systems zu erhalten350. Vergegenwärtigt man sich, in welch starkem Maße die Wanderungsentscheidungen von der persönlichen Situation eines Menschen, vom Alter, dem Beruf, der Veranlagung etc. abhängen, so daß es im allgemeinen zu personenspezifisch oder bestenfalls gruppenspezifisch ganz unterschiedlichen Entscheidungen kommt, so wird deutlich, wie problematisch es ist, das Wanderungsverhalten auf einzelne wenige dominante Einflußgrößen und Entscheidungskriterien zu reduzieren. G. ALBRECHT ( 1 9 7 2 , S. 165) betont, daß es hinsichtlich der Wanderungsgründe zu unterschiedlichsten spezifischen Kombinationen beim einzelnen kommen kann, etwa abhängig vom Familienlebenszyklus, der sozialen Mobilität, aber ebenso von der Wohnungsumwelt, den Wohnbedürfnissen und -wünschen usw. Damit wurde erkannt, wie vielfältig die Einflüsse sind, die das gesamte interdependente Geflecht der Wanderungen lenken. So vermerkt denn auch G. ALBRECHT (S. 2 7 9 ) , daß „die Verlaufsmuster der Migrationsprozesse sehr unterschiedlich ausfallen" und es nicht möglich ist, präzis festzulegen, von welchen Faktoren die entscheidende Wirkung ausgeht. So könne es „die Theorie der Wanderung" auch nicht geben - eine Einsicht, die auszusprechen, seit langem fällig war. Das heißt aber nicht anderes, als daß alle Wanderungsentscheidungen situationsspezifisch, fallspezifisch erfolgen. Sie sind nicht mit Hilfe eines allgemeinen Modells, aufbauend auf einer allgemeinen Theorie, voraussagbar. Wir haben an anderer Stelle bereits verdeutlicht, warum das so sein muß: auch Wanderungsentscheidungen liegen differenzierte personenspezifische Bewertungen zugrunde351, und diese folgen keineswegs zwingend etwa dem Gravitationsgesetz oder etwa den durch persönliche Kontakte vorgegebenen Wanderungskanälen, den Lohnniveauunterschieden, dem Arbeitsplatzangebot etc., sondern sind das Ergebnis einer potentiell variablen und subjektiv sinngebend koordinierenden Bewertung und entsprechend sinnorientierter Entscheidung352. Das bedeutet aber eben, sie sind außerordentlich schwer voraussagbar, wenn überhaupt, dann nur in Verbindung mit einer situationsspezifischen Ursachenanalyse und „Ad hoc-Theorie". Sollen gebietsbezogene Voraussagen möglichst zuverlässig sein, müßten sie sich auf eine fallspezifische Analyse des Ursachengefüges beziehen (s. o.). Wir haben bereits darauf hingewiesen, wie problematisch auch das aufgrund des ephemeren Charakters der analysierten Situation ist. Für exakte Voraussagen sowohl des Wanderungsverhaltens wie auch aller
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anderen Einflußgrößen des arbeitsmarktorientierten Modells würden wir eine bewährte Theorie des genauen Ablaufs aller entwicklungsrelevanten Wechselbeziehungen benötigen, also genau festliegende Verhältnisse und Abfolgen, in denen sich alle entwicklungsrelevanten Elemente beeinflussen. Eine solche Theorie gibt es nicht. Wir konnten zwar einen Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie vorlegen (siehe erster Teil, Kap. 7), aber gerade dieser zeigt, daß raumbezogenes Verhalten (und überhaupt Verhalten) eben potentiell relativ und variabel ist und nicht durch allgültige Gesetze in seinem Ablauf festgelegt werden kann. So deutet sich eine Theorie an, die zwar erklärt, nicht aber Voraussage erlaubt; eine Theorie allerdings, die auch erklärt, warum das so is?53. Die Suche nach dem universellen Gesetz des raumbezogenen Verhaltens bzw. nach stets gültigen exakten Abhängigkeiten, gar noch als eines operationalisierten allgültigen Aussagesystems, muß scheitern, all den zahlreichen intelligenten Versuchen, es zu entdecken, zum Trotz. Warum das so sein muß, vermag der vorgelegte Ansatz zu einer Raum-Verhalten-Theorie (erster Teil, Kap. 7) plausibel zu machen. Bedenkt man, daß Wanderungsentscheidungen das Ergebnis individueller Bewertung sind, und daß die Handlungsalternativen, gemäß der voraussichtlichen Befriedigung, die sie versprechen, unterschiedliche Präferenz erhalten, so lassen sich zwar keine allgültig determinierten Entscheidungen mehr unterstellen, aber es könnte möglich sein, zumindest unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Zu- und Abwanderungsregionen anzusetzen354. Dies würde erlauben, Wanderungen als stochastische Prozesse und damit über probabilistische Modelle zu erfassen355. Indem die Wahrscheinlichkeit, daß eine Person innerhalb eines Zeitraumes aus einer Region in eine andere Region abwandert, als sog. Übergangswahrscheinlichkeit festgelegt wird, könnten sich (unter Hinzuziehung einer Fortzugswahrscheinlichkeit und Zuzugswahrscheinlichkeit der jeweiligen konkreten Region) Angaben über die in Zukunft zu erwartenden Wanderungsfälle gewinnen lassen. Das setzt allerdings voraus, daß Beobachtungen über die Wanderungshäufigkeit in der Vergangenheit vorliegen, diese bilden die Basis der Wahrscheinlichkeitsangaben. Genau darin aber auch liegt die Problematik solcher Verfahren. Beobachtete Verteilungen und Häufigkeiten waren in spezifischer Weise bedingt, und diese Bedingungen unterliegen im sozialen Bereich besonders häufigem Wandel, so daß keineswegs von vornherein unterstellt werden kann, daß die zukünftigen Wanderungen in etwa analog den in der Vergangenheit beobachteten erfolgen. Auch derartige probabilistische Modelle unterliegen letztlich dem induktiven Trugschluß. Man könnte zwar einwenden, daß die in einem längeren Zeitraum beobachteten Wanderungen einer gewissen Stabilität unterliegen, die eine entsprechende zukunftsbezogene
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Bearbeitung (s. o.) erlauben; man könnte etwa auf das Phänomen der Autocorrelation verweisen, das eine gewisse Verzögerung von Trendänderungen kennzeichnet, aber alles das kann im konkreten Fall leicht hinfällig werden. Plötzlich veränderte Bedingungen, plötzliche Standortaufwertungen, durch Planung ausgelöste Veränderungen etc. lassen die bisherigen bzw. erwarteten Tendenzen ungültig werden. Rasch vermag, ζ. B. durch Errichtung größerer Altenwohnsitzgebiete oder Ferienanlagen oder neuer Betriebe, eines neuen Hafens etc. aus ehemaligen Abwanderungsräumen ein Zuwanderungsgebiet zu werden; rasch auch kann sich die Attraktivität eines bisherigen Zuzugsgebietes abschwächen, etwa durch knapp und teuer werdendes Bauland, durch belastende Gewerbeansiedlung etc., so daß die Zuwanderung versiegt. Vergegenwärtigt man sich, die verschiedenen Ansätze, Wanderungsverhalten zu erklären und zu prognostizieren (s. o.) in ihrer jeweiligen Problematik und ihrem Ungeniigen, so wird deutlich, wie schwierig es ist, allein diese eine Komponente einer modellorientierten Projektion (s. o.) zu prognostizieren. Modellorientierte Projektionen, bei denen mehrere mehr oder minder komplexe Einzelkomponenten abzuschätzen bzw. vorauszusagen sind, unterliegen also einem vielfältigen Irrtumsrisiko. Die den Vorausschätzungen fast ständig immanente induktive Komponente und zudem der lediglich analytische Charakter des Modells (Kap. 3.2), der einer fundierten theoretischen Absicherung entbehrt, erlauben bestenfalls die Bereitstellung grober Orientierungsdaten bezüglich der voraussichtlichen Entwicklung, aber keine verläßliche Prognose. Solcherart „Voraussage" vermag bestenfalls einen lockeren Spekulationsrahmen abzustecken. Letztlich handelt es sich bei der modellorientierten Projektion um ein Verfahren, das die Gefahr irrtümlicher Voraussage zufolge induktiver Fehlprojektionen durch Verbindung mit einem gewissen Modellplatonismus weiter steigert - ein Spiel mit dem Irrtum also, das allerdings dennoch, wie wir sehen werden, hilfreich sein kann (vgl. dritter Teil, Kap. 3).
3.3 Simulationsverfahren In dem Bemühen um bessere Verfahren der Regionalprognose scheinen sich zunächst auch Simulationsverfahren zu empfehlen. Mit deren Hilfe können, gewissermaßen experimentell, unter Verwendung beobachteter Maßzahlen bestehende Wirkungszusammenhänge nachvollzogen werden. Es liegt nun nahe, die Auswirkungen voraussichtlicher Zukunftsdaten im Rahmen eines aufgezeigten Wirkungszusammenhanges voraussagen zu wollen. Simulationsmodelle beruhen darauf, daß sich die innerhalb eines Systems
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bestehenden Abhängigkeiten durch mathematische Gleichungen erfassen lassen. Über diese mathematisierten Beziehungen soll dann die Reaktion des Systems auf bestimmte Einwirkungen prognostiziert werden. Um überhaupt solche Systeme konstruieren zu können, müssen zunächst die bestehenden Abhängigkeiten beobachtet werden. Dieses Verfahren ist also von vornherein induktiv, zumindest insoweit die Bestätigung des Modells an den beobachteten Daten erfolgt. Jede Simulation ruht auf spezifischen Beobachtungen und vermag so auch nur Entwicklungsabläufe unter den ihr immanenten numerischen Bedingungen aufzuzeigen. Bei der Simulation raumbezogener sozialer Prozesse kann nicht von der Existenz allgültiger streng gesetzmäßig ablaufender Wirkungszusammenhänge ausgegangen werden356. Folglich gilt jede ablaufende Simulation „nur für eine bestimmte numerische Konstellation von Parametern und Rahmenbedingungen" (J. WULF, 1972, S. 496). Genau darin liegt aber die Problematik einer prognostischen Verwendung. Gerade im sozialen Bereich sind die Verflechtungen zwischen unterschiedlichsten entwicklungsbeeinflusssenden Fakten sehr vielfältig und komplex, vor allem aber unterliegen sie ständigem Wandel in der Zeit. Sie sind von unterschiedlichsten Bewertungen abhängig, so daß es an sich unzulässig ist, zu unterstellen, die beobachteten Abhängigkeiten seien in ihrer mathematisierten Form auch zum Zeitpunkt der Simulation gültig. Die „bestimmte numerische Konstellation" gilt streng genommen nur für den Zeitpunkt, zu dem sie beobachtet wurde. Bei einer durchzuführenden Simulation wird also die Ceteris-paribus-Klausel unterstellt, die ja in Wirklickeit kaum erfüllt ist. Streng genommen können Simulationsmodelle nur Vorgänge, die zuvor beobachtet wurden, beschreiben und bestenfalls erklären. Sie können alternative Voraussagen (im Sinne von voraussichtlichen Auswirkungen veränderter Eingabedaten) nur innerhalb des Geltungsbereiches der bei der Modellbildung berücksichtigten Informationen und Einflußgrößen (Elemente) geben. Zukünftige Entwicklung ist aber in der Regel dadurch gekennzeichnet, daß neue Elemente hinzutreten oder daß sich bereits wirksame Elemente ändern und damit auch ihre Wirkung wandeln. Das unterstellte Abhängigkeitssystem wird dann außer Kraft gesetzt; es ist nicht stabil. Die Anwendbarkeit von Simulationsmodellen wird begrenzt durch das Auftreten neuer, im Modell nicht enthaltener Einflußgrößen, aber auch durch Veränderung der enthaltenen Elemente357 und durch die damit ggf. verursachte Veränderung entwicklungsrelevanter Abhängigkeiten. Gerade diese Veränderung im Zueinander der entwicklungsbeeinflussenden Elemente ist charakteristisch für die tatsächlichen Vorgänge im Raum und in der Zeit. Zufolge des synergetischen Bewertungsprozesses der Menschen unterliegen an sich gleiche Sachverhalte sehr häufig der Umwertung, beeinflussen folglich das System der Entwicklung in veränderter Weise,
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wandeln das Gefüge der Abhängigkeiten. Zudem sind auch in den verschiedenen Räumen unterschiedliche entwicklungsrelevante Größen wirksam. So ergeben sich auch von Raum zu Raum veränderte Systemzusammenhänge. Simulationsmodelle müssen also ohnehin fall- bzw. gebietsspezifisch konstruiert werden (vgl. auch Ad hoc-Theorie - Kap. 3.1, 3.2). Für die Simulationsmodelle gilt die gleiche gebietliche Relativität entwicklungsbeeinflussender Abhängigkeiten, wie sie bezüglich allgemeiner Modelle der Regionalprognose aufgezeigt werden konnte (vgl. Kap. 3.1). Untersuchungen von J. GÜSSEFELDT ( 1 9 7 4 , Kap. 4 ) machen am Beispiel eines Simulationsmodells des räumlichen Versorgungsverhaltens deutlich, daß innerhalb eines solchen Modells die Maßzahlen (ζ. B. Distanzen zum Zentrum, Ausstattungsgrad mit Dienstleistungseinrichtungen), die die Abhängigkeit zwischen den Elementen des Modells, die Einflußgrößen des Einkaufsverhaltens, kennzeichnen, zwischen unterschiedlichen Räumen unterschiedlich ausfallen. Dadurch verändert sich die diese Abhängigkeiten beschreibende Funktion numerisch. Darüber hinaus können sich je nach Raum inhaltlich andere Funktionen - also nicht nur numerisch voneinander verschiedene - herausbilden. So kann ζ. B. in einem bestimmten Mittelbereich der Anteil der Rentner ein das Einkaufsverhalten beeinflussendes Element sein, dagegen in einem benachbarten Raum statt dessen der Akademikeranteil. Diese potentielle Relativität erzwingt situations- bzw. raumspezifisch ausgeprägte Modelle. Wirklichkeitsgerechter Nachvollzug sozialer raumbezogener Prozesse bedarf raumspezifisch formalisierter Simulationsmodelle. Ähnlich wie bei der Suche nach einem angemessenen Modell der gebietsspezifischen Voraussage, wäre also jeweils ein gebietsspezifisches „Ad hocSimulationsmodell" zu entwerfen, ungeachtet dessen, daß auch dieses weiterhin der relativierenden Veränderung in der Zeit und Situation unterliegt (vgl. Kap. 3.3.1 zur Validierung). So würde es unter großem Aufwand möglich, gebietsspezifisch zu simulieren, ohne damit allerdings eine Voraussage im echten Sinne erreichen zu können. Simulationsmodelle sind zur Prognose letztlich nicht geeignet. Prognose müßte die mit der Zeit veränderten Wirkungen zwischen den Einflußgrößen berücksichtigen. Ein Simulationsmodell beruht jedoch auf Beobachtungen oder angeblichen Gesetzmäßigkeiten, die diese Veränderungen meist nicht einschließen358. So ist Simulation nicht Vorhersage, sondern vielmehr auf bestimmte Bedingungen bezogener Nachvollzug denkbarer Abläufe. Je besser es gelingt, Simulationsmodelle auf Quasi-Gesetzmäßigkeiten räumlicher Prozesse zu gründen, auch wenn diese räumlich und in der Zeit qualitativ wie quantitativ relativ sind, desto eher lassen sich die denkbaren Konsequenzen bestimmter Entwicklungen aufzeigen. Darin vor allem liegt der Nutzen der
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Simulation, nicht in der verläßlichen Prognose. Simulation soll uns ζ. B. die Kosten, die Effektivität und Risiken verdeutlichen, die mit den verschiedenen alternativen Politiken verbunden sind, sie soll den Entscheidenden helfen, wünschenswerte Zukunft („desirable future") aufzuzeigen359. Jedoch bleiben Zweifel, ob diese Orientierungsfunktion mit ausreichender Verläßlichkeit erfüllt werden kann. 3.3.1 Simulationsmodelle in der Stadt- und Regionalplanung - am Beispiel des SIARSSY Nach zahlreichen mehr oder minder befriedigenden Entwürfen in den USA, England und der Schweiz liegen nunmehr auch entsprechende Simulationsmodelle zur Stadt- und Regionalentwicklung in der Bundesrepublik vor360. Meist werden in diesen Modellen mehrere Teilmodelle, wie Verkehrs- und Migrationsmodelle sowie Allokationsmodelle zu relativ komplexen Landnutzungsmodellen miteinander verbunden. Um die Problematik solcher Simulationsmodelle detaillierter aufzuzeigen, wenden wir uns einem ausgewählten Beispiel, dem unter der Koordination von W . POPP (1973) weiterentwickelten Ansatz zur simulativen Analyse regionaler und städtischer Systeme (SIARSSY - 73; - 74) zu. Das Modell (SIARSSY) hat, analog ähnlicher Modelle, das Ziel, bei vorgegebener räumlicher Verteilung der Beschäftigten (Beschäftigungsprognose differenziert nach „Sozialklassen") in den verschiedenen Zonen der Stadt bzw. Region, die Verteilung der Wohnenden (ebenso differenziert nach „Sozialklassen") zu prognostizieren sowie ergänzend die Verteilung der Derivativbeschäftigten (ζ. B. in Versorgungseinrichtungen), der infrastrukturellen Einrichtungen und die verbindenden Pendlerströme aufzuzeigen. Das Modell beansprucht, eine, wenn auch vereinfachte, Nachbildung der Realität zu sein (S. 16) und verspricht demgemäß, die verschiedenen räumlichen Konsequenzen der planerischen Entscheidung (ζ. B. Allokation von Arbeitsplätzen) zu verdeutlichen und so Entscheidungshilfen u. a. für die Gestaltung der Flächennutzung bereitzustellen. Dabei soll es möglich sein, innerhalb der Simulation unterschiedliche ökologische Anspruchsniveaus zu berücksichtigen. Zunächst erscheint uns ein wesentlicher Einwand notwendig. Eigentlich sind solche Modelle gerade keine Nachbildungen der Wirklichkeit. Aus folgenden Gründen: Im Allokationsmodell innerhalb des SIARSSY - 73, das die räumliche Verteilung der Beschäftigten und Wohnenden erklären, beschreiben und prognostizieren soll, wird die Annahme zugrundegelegt, daß sich die Verteilungsmechanismen der Wohnplätze gemäß der zur Verfügung stehenden
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Wohnplätze sowie, unabhängig davon, gemäß der Entfernung vom Arbeitsplatz entwickeln. Danach nimmt der Anteil der in einer bestimmten Zone Wohnenden, die in anderen Zonen beschäftigt sind, mit wachsender räumlicher Entfernung vom Arbeitsplatz ab. Diese Annahmen zur räumlichen Verteilung der Wohnplätze der Beschäftigten erscheint zunächst plausibel und ist in der Literatur als Gravitationsmodell in zahlreichen Spielarten und Variationen eingeführt (vgl. auch Kap. 3.2). Ungeachtet dessen beginnt hiermit gleichzeitig der Irrtum der Modelltheoretiker. Denn in Wirklichkeit wird die Verteilung der Wohnplätze in Abhängigkeit vom Standort des Arbeitsplatzes auf viel differenziertere Weise beeinflußt, als es die beiden Größen einer angeblich „gesetzmäßigen Verteilung" (W. POPP et al., 1 9 7 3 , S. 134) anzeigen. Wir müssen hier nicht wiederholen, wie vielfältig und personenspezifisch die synergetischen Bewertungen raumbezogener Sachverhalte und die entsprechenden Entscheidungen ausfallen. Neben der Entfernung oder dem Wohnungsangebot beeinflussen - vor allem dann, wenn keine ausgeprägte Mangelsituation vorliegt - zahlreiche andere Faktoren die Wahl des Wohnstandortes, so z. B. die Vertrautheit mit einem Wohngebiet, der Kontakt zu Bekannten oder Verwandten, die Bindung an Besitz, differenzierte Ausstattungskriterien, auch unterschiedliche Fahrgewohnheiten (Bereitschaft, größere oder kleinere Distanzen zu überwinden), die geltenden sozial-räumlichen Schemata usw. Die Begründung eines gesetzmäßigen Verhaltens unter Einbeziehung von zwei Komponenten erscheint als zu stark simplifizierend; neben den theoretischen Einwänden belegen zahlreiche empirische Untersuchungen, wie problematisch solche Vereinfachungen sind361. So verwundert es auch nicht, daß in der praktischen Anwendung dieses auf „Gesetzmäßigkeiten" beruhenden Modells eigentlich nirgends eine Übereinstimmung mit den tatsächlichen Verteilungen gegeben ist. Folglich müssen korrigierende Koeffizienten herangezogen werden, um die Vorstellungen des Modells mit der beobachteten Realität zur Deckung zu bringen362. Es ist verständlich, daß dann diese Korrekturgrößen als „Widerstandskoeffizienten" (W. POPP et al. 1973, S. 30) bezeichnet werden, gewissermaßen als mysteriöse Größe den Widerstand gegen die Anwendung des reinen Modells darstellend363. Die Koeffizienten werden durch sogenannte Kalibrierung ermittelt; man ändert diese Parameter mit Hilfe iterativer Verfahren solange, bis eine hinreichend gute Anpassung der modellmäßig ermittelten Werte an die empirisch beobachteten Werte erreicht wird. Mit anderen Worten, durch beliebige Veränderung einer Korrekturgröße wird solange probiert, bis die Ergebnisse des Modells mit der Wirklichkeit übereinstimmen. So groß der Fehler des reinen Modells auch ist, niemals wird er so groß sein, daß er nicht durch einen „Widerstandsfaktor" bereinigt werden könnte364. Die „Gesetz-
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mäßigkeit" des Modells läßt sich also immer retten, der Widerstandsfaktor überspringt die Distanz zur Wirklichkeit, freilich indem er sie zudeckt - Modellpiatonismus par exellence. Nun ist es möglich, in jedem Untersuchungsgebiet das Modell durch Auffindung eines hinreichend korrigierenden Koeffizienten an die empirische Basis anzupassen (vgl. Kalibrierungen für Bern, Zürich, Mannheim etc. innerhalb des SIARSSY - 73). Man könnte also unterstellen, daß durch Kalibrierung eine gebietsspezifische Anpassung des Modells erfolgt, der Koeffizient die gebietsspezifische Besonderheit berücksichtigt und damit die Voraussetzung für gebietsspezifische Simulation oder gar Prognose gegeben ist. Aber es ist zweifelhaft, ob ein Koeffizient, dem ja in Wirklichkeit äußerst differenzierte Einflüsse zugrunde liegen, die Besonderheiten eines bestimmten Raumes stabil widerspiegelt; vielmehr dürfte er sich ständig in der Zeit verändern und außerdem in den verschiedenen Teilräumen dieses Untersuchungsgebietes verschieden sein. Der Faktor, der die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit herstellen soll, ist also zeitlich und teilräumlich relativ und instabil. Es ist daher äußerst fraglich, ob für den Zeitpunkt, für den die Simulation prognostiziert, der Widerstandskoeffizient noch gültig ist und ob er für die teilräumlichen Ergebnisse überhaupt jemals gültig war. Wir bezweifeln daher, daß eine darauf aufbauende Simulation wirklichkeitsgerecht simulieren bzw. voraussagen kann. Letztlich verdeckt ein „Widerstandskoeffizient" nur das tatsächliche spezifische Ursachengefüge der räumlichen Verteilung von Beschäftigten und Wohnenden. Und dieses Ursachengefüge ist ein System vielfältiger Entscheidungen und als solches potentiell variabel und unwägbar, so daß auch seine Auswirkungen, die konkrete Entwicklung, nicht genau voraussagbar ist. Vor allem aber besteht die Gefahr, daß durch die Einsetzung gebietsspezifischer Korrekturkoeffizienten, die besonderen gebietlichen Einflußgrößen, auf denen die zukünftige Entwicklung beruhen könnte, verdeckt werden. Dagegen würden diese durch Konstruktion eines auch in seiner Struktur gebietsspezifischen „Ad hoc-Simulationsmodelles" (vgl. Kap. 3.1) aufgezeigt, womit zusätzliche Erkenntnisse über die gebietlichen Wirkungszusammenhänge gewonnen würden. Gerade das wäre wichtig. Da verläßliche Voraussage mit Hilfe von Simulationsmodellen ohnehin nicht möglich ist, liegt deren Wert vor allem auch darin, spezifische Wirkungszusammenhänge sichtbar zu machen. Wohingegen ein Korrekturkoeffizient diese gerade verschleiert. Die gegenüber der Kalibrierung geäußerten Bedenken sind eng verbunden mit den Zweifeln bezüglich der Validierung (Erklärung der Gültigkeit) von Simulationsmodellen.
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Es gibt keine verläßlichen Kriterien für die Güte einer Simulationsleistung; es sei denn der spätere Vergleich zwischen der tatsächlich erfolgten Entwicklung und der zuvor simulierten, aber dieser ist im Moment der Anwendung eines Modells nicht zu erbringen. In der Regel wird die Validierung so vorgenommen, daß man das Modell an den gegenwärtigen empirischen Daten oder, falls es sich um Entwicklungsabläufe handelt, an den Daten des zurückliegenden Vergleichszeitraumes überprüft. Vermag das Modell diese Daten gewissermaßen in ex-postfacto-Prognose zu rekapitulieren, gilt das als Beleg für die Realitätsnähe des Modells. Jedoch liegt dem ein zirkulärer Trugschluß zugrunde, denn die Daten, aufgrund derer das Modell konstruiert wurde, sind dann in der Regel dieselben, die das Modell im Nachvollzug ermitteln soll, um daran seine Gültigkeit zu belegen. Ein weiterer Trugschluß, der typisch induktive, ist jedoch noch gravierender. Die in der Gegenwart oder Vergangenheit beobachteten Prozesse und geltenden Abhängigkeiten werden mit der Simulation auf die Zukunft übertragen, obwohl doch gerade das Ziel der Planung der Wandel und die Veränderung der Vergangenheit ist. Die Gültigkeit eines Modells für den Prognosezeitraum aufgrund der Gültigkeit für den vorausgegangenen Beobachtungszeitraum zu belegen, ist nicht möglich. Die beobachtete Vergangenheit unterlag vielleicht spezifischen Entwicklungsbesonderheiten, die keineswegs angeblich allgültigen Regeln folgten. Durch zeit- oder gebietsspezifische Brüche, ephemere Einwirkungen, Zwischentrends o. ä. nahm die beobachtete Entwicklung möglicherweise einen lediglich historisch relevanten Verlauf; gewissermaßen neutrale, „an sich" geltende Bedingungen waren gar nicht gegeben365. So kann eine echte Validierung für einen Prognosezeitraum eigentlich nicht erfolgen. Die Gefahr, unter Benutzung eines nicht wirklichkeitsgerechten Modells zu prognostizieren, bleibt bestehen. Zwar lassen sich durch möglichst genaue Berücksichtigung der im Planungszeitraum von unterschiedlichen „Experten" erwarteten Veränderungen und durch laufende Plausibilitätsprüfung des Modells gewisse Anpassungen vornehmen, niemals aber kann das ständige Risiko falscher Voraussage ausgeschlossen werden. In Fortentwicklung des Allokationsmodells (innerhalb des SIARRSY - 73), das ja lediglich auf einem durch zwei Einflußgrößen definierten Verteilungsgesetz und korrigierenden Koeffizienten beruht, wird im SIARRSY - 74 angestrebt, weitere Einflußgrößen (Umweltqualität, Reisekosten zu den wesentlichen Infrastrukturplätzen, Miethöhe - W. P O P P et al., 1973, S. 91) zur Erklärung einer gesetzmäßigen Verteilung im Raum einzubeziehen. Ob damit die Wirklichkeit angemessen erfaßt werden kann und die
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tatsächlichen Entscheidungen nachvollziehbar werden, ist jedoch ebenfalls zu bezweifeln. Zwar ist darin durchaus eine Verbesserung des Ansatzes zu sehen, durch die möglicherweise eine Abschwächung des Korrekturkoeffizienten erreicht wird, jedoch kann dieser einschließlich seiner relativierenden Wirkung nicht völlig ausgeschaltet werden. Die gleichzeitig vorgesehene Dynamisierung des Modells, also der Versuch, die prognostizierten Ergebnisse eines Teilzeitraumes als Ausgangsgröße des nachfolgenden Teilzeitraumes einzubeziehen (W. POPP, 1973, S. 54 f., S. 89 f.), vergrößert u. E. sogar das Irrtumsrisiko, da nunmehr die auf Grund des empirischen Materials kalibrierten Korrekturgrößen in Bedingungen hinein übernommen werden, unter denen ihre Relevanz fraglich ist. An sich müßten die Koeffizienten in den einzelnen Etappen der dynamisierten Simulation verändert werden, da die veränderte Situation und Zeit relativierend wirken. So aber wird es möglich, daß die zur Anpassung an die gegenwärtige Realität geeignete Korrekturgröße im späteren Teilzeitraum eine gegenteilige Wirkung hat. Freilich könnte das bereits ebenso für die unterschiedlichen Zeitpunkte des Prognosezeitraums beim komparativ-statischen Modellansatz (gemäß SIARSSY - 73) der Fall sein. 3.3.1.1 Problematische Simulation der Flächennutzung Welche Konsequenzen ergeben sich aufgrund der geäußerten Bedenken hinsichtlich der vom Modell zu leistenden Simulation der Flächennutzung? Fragen wir zunächst, wie die Flächennutzung simuliert wird und welche Kriterien dabei berücksichtigt werden. Das Allokationsmodell innerhalb des SIARSSY - 74 wird u. a. mit den ergänzenden Modellteilen „ökologische Standorteignung" (Ökologie), „Infrastruktur" und „Verkehr" gekoppelt. Im Modellteil „Ökologie", der als mathematisierte Landschaftsanalyse (W. POPP et al., 1973, S. 55) aufgefaßt werden soll, wird das Landschaftspotential kleinflächig nach bestimmten Kriterien366 bewertet. Durch gewichtete Addition der vergebenen Bewertungspunkte werden Eignungswerte für bestimmte Nutzungen, z. B. für die Wohnbebauung, für die Bebauung mit Einrichtungen des Produzierenden Gewerbes und der öffentlichen Dienste, für die Erholung oder für die Land- und Forstwirtschaft bestimmt. Außerdem läßt sich daraus ein „Wohn- und Freizeitwert" und sog. „ökowert" abschätzen, der als langfristiger „Vitalwert" ein Maß für die Belastbarkeit sein soll. Die Flächeneignung wird den Flächenanforderungen, wie sie durch das Allokationsmodell, Verkehrsmodell und Infrastrukturmodell als Bedarfsflächen für Wohnen, Verkehr und Infrastruktur ermittelt werden, gegenübergestellt. Danach ergibt sich für die einzelnen Zonen eines Untersuchungsgebie-
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tes gewissermaßen eine fiktive Bilanz der Flächennutzung bezüglich der voraussichtlichen Anforderungen und dem verfügbaren Potential differenzierter Eignung. Diese Bilanz würde dann als eine wichtige Entscheidungshilfe die tatsächlichen Planungen beeinflussen. Gleichzeitig soll rückkoppelnd sichtbar werden, wie die Flächenanforderungen die bisherige Eignung beeinflussen werden. Durch alternative Simulation würden alternative Flächennutzungen und Beeinträchtigungen der Umwelt verdeutlicht. Simuliert das Allokationsmodell die räumliche Verteilung des Wohnflächenbedarfs gemäß der oben erwähnten Gravitationsmodelle, werden beim Infrastrukturmodell Beschäftigte und Wohnende als Ausgangsgrößen vorausgesetzt. In Beachtung von Einwohnerrichtwerten, Normen und Erfahrungen werden dann die erforderlichen Einrichtungen der öffentlichen Infrastruktur367 mit ihrer Kapazität und ihrem Flächenbedarf sowie mit ihrem Standort (in Beachtung der ökologischen Standorteignung) für die einzelnen Zonen ermittelt. Dabei wäre unter Berücksichtigung der vorhandenen Einrichtungen und der strukturellen Besonderheiten (soweit möglich) ein Gleichgewicht zwischen der Bevölkerungszahl und der zur hinreichenden Versorgung erforderlichen Ausstattung anzustreben. Das Verkehrsmodell ermittelt in Abhängigkeit von der vorgegebenen räumlichen Verteilung der Beschäftigten und Wohnenden die voraussichtlichen Verkehrsströme, aus denen sich dann der zukünftige Verkehrsflächenbedarf ableiten ließe. Die durch die 3 Modelle ermittelten Flächenanforderungen sollen dann in Beachtung der durch das ökologische Modell festgelegten Eignungswerte in den einzelnen Zonen mit ihrem Standort fixiert werden. Bedenkt man jedoch die möglichen Fehler, dürfte das Ergebnis dieser integrierten Simulation kaum den in der Realität erfolgenden Abläufen gerecht werden. Es ist sogar zu vermuten, daß ein geradezu wirklichkeitsfremdes Bild entsteht, ein Verwirrungseffekt für die planerische Praxis ausgelöst wird. Warum? 1. Die Verteilung der Wohnenden gemäß dem Allokationsmodell wird angesichts der für die Zukunft möglicherweise gar nicht relevanten Kalibrierung der Korrekturkoeffizienten (bzw. der Relativierung) wahrscheinlich unrealistisch sein. 2. Das daran orientierte Verkehrssystem basiert also auf problematischen Bezugsdaten. Darüber hinaus schafft das Verkehrssystem selbst ein zusätzliches Irrtumsrisiko. Ohne darauf hier näher eingehen zu können, erscheint die sog. Modalsplitfunktion, die davon ausgeht, daß die prozentuale Aufteilung zwischen der Benutzung öffentlicher und privater Verkehrsmittel vom Verhältnis der Reisekosten bestimmt wird, als sehr problematisch. Das kann von Raum zu Raum sowie gemäß der herrschenden Gewohnheiten, je nach Image
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oder auch Lebensalter oder abhängig vom Angebot verschiedener Trassen usw. sehr verschieden sein. Es wird ein kostenorientiertes rationales Verhalten unterstellt, das sich keineswegs mit dem tatsächlichen Verhalten des Menschen deckt. Es mißachtet ζ. B. die geradezu verhaltensgenetisch begründete Bevorzugung der Individualverkehrsmittel, selbst bei vergleichsweise höheren Kosten (vgl. hierzu auch Hinweise der Verhaltensforschung - P. LEYHAUSEN, 1 9 7 2 ) . Auch wird keineswegs immer der gemäß der Graphentheorie368 kürzeste Weg oder, falls nach Kosten bewertete Graphen verwendet werden, der kostengünstigste Weg gewählt. Psychische Faktoren der gefühlsmäßigen Bevorzugung, die Einschätzung der Sicherheit einer Route, der Fahrtzweck oder die Frequentierung etc. können die Auswahl der benutzten Wege weitestgehend unabhängig von der Bindung an Fahrtkostenvorteile erfolgen lassen. 3. Das Infrastrukturmodell baut ebenfalls auf der möglicherweise unrealistischen räumlichen Verteilung der künftigen Wohnbevölkerung, wie sie durch das Allokationsmodell ausgeworfen wird, auf. Weiterhin muß es entsprechend problematische Verkehrsströme einbeziehen. Zudem unterliegt es auch in sich selbst hochgradiger Ungenauigkeit. Die erforderlichen Infrastruktureinrichtungen einschließlich ihres Flächenbedarfs werden in Orientierung an Durchschnittswerten ermittelt, die im konkreten Einzelfall völlig unangemessen sein können. Darüber hinaus lassen sich Einrichtungen, die unabhängig von der gebietsansässigen Bevölkerung zufolge funktionaler Verflechtungen mit anderen Räumen vorhanden sind oder in Zukunft geschaffen werden, so nicht berücksichtigen. Die konkrete Flächennutzung eines Raumes ist nicht etwa nur das Ergebnis der innerhalb seiner Grenzen erwachsenen Bedürfnisse, sondern auf fast jedem Erdausschnitt treffen differenzierte Nutzungsanforderungen als Folge von Systemzusammenhängen sehr verschiedener räumlicher und oft übergebietlicher Dimensionen und Verflechtungen aufeinander. Gerade bei der infrastrukturellen Ausstattung sind funktionale Verflechtungen in unterschiedlichster Reichweite aber von größter Bedeutung, durch sie kann eine völlig veränderte Situation entstehen. Die damit verbundenen Einrichtungen könnten zwar grundsätzlich als einschränkende Bedingungen bei der Simulation der Flächennutzung beachtet werden, aber eben nur insofern sie bereits bekannt sind, und das ist für den Prognosezeitraum um so weniger der Fall, je weiter dieser reicht. 4. Die ohnehin fehlerhaften Flächenanforderungen für die einzelnen Nutzungsarten werden in Orientierung an sehr fragwürdigen Eignungswerten der einzelnen Teilflächen standörtlich fixiert. Die allgemeine Bewertung der Eignung einer Fläche im Rahmen des Teilmodells „Ökologie" unterliegt der Gefahr vielfältiger Fehleinschätzung. Eine absolute Bewertung
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der Eignung, einer Eignung „an sich", ist ohnehin nicht zu ermitteln. Eignung ist stets zweckbezogen. Folglich werden im ökologischen Teilmodell die Flächenquadrate hinsichtlich ihrer Eignung für einzelne bestimmte Nutzungsarten, ζ. B. für die Wohnbebauung oder Industriebebauung, bewertet. Jedoch lassen sich solche Nutzungseignungen kaum allgemeingültig und quantitativ vergleichbar festlegen, so wie es eben nicht den „an sich" gut geeigneten Baugrund oder von vornherein die Industriefläche gibt - die Eignung für Wohnbebauung oder Errichtung eines Industriebetriebes kann trotz schlechten Baugrundes oder hoher landwirtschaftlicher Bodengüte hervorragend sein. So ist es auch nicht sinnvoll, die zahlreichen, eine spezifische Nutzungseignung kennzeichnenden Einzelkriterien, angemessen gewichtet zu einem allgemein verbindlichen Eignungswert zu addieren. Mit welchem Gewicht ein Einzelkriterium im konkreten Fall der Nutzung für die Eignung relevant ist, läßt sich nicht generell festlegen369. Die Entscheidung über die Eignung einer Fläche für eine bestimmte Nutzung kann nur fallspezifisch getroffen werden. Allgemeine, „endgültige", quantitative Eignungswerte, als Additionen unterschiedlich gewichteter Einzelkriterien, sind im Hinblick auf die fallspezifischen Anforderungen meist mehr oder minder nichtssagend. Wichtig wäre es dagegen, die jeweils spezifischen Auswirkungen einer in Frage kommenden Nutzung zu kennen370. Sicherlich gibt es Eignungen, die sich relativ verläßlich erfassen lassen, z.B. die Erholungseignung in Beachtung der Ausstattung und Lage einer Fläche - vorausgesetzt, es können einigermaßen stabile Erholungsgewohnheiten unterstellt werden. Aber je differenzierter und konkreter eine Eignung sein soll, desto weniger ist sie durch gewichtet additive Eignungswerte zu beschreiben; die Schwierigkeit liegt auch hier im Detail. Viele konkrete parzellenbezogene Nutzungen sind eben sehr fallspezifisch. Allein die zahlreichen Gesichtspunkte, die bei der Standortwahl eines Industriebetriebes - mit seiner betriebsspezifischen Inanspruchnahme und Beeinträchtigung der Umweltgegebenheiten - zu beachten sind, können nicht durch einen allgemeinen Eignungswert für das Produzierende Gewerbe371 erfaßt werden. Hierfür wären differenziertere ökologische Wirkungsanalysen erforderlich372. Weiterhin kommt hinzu, daß sich Eignungswerte in der Zeit, ζ. B. je nach der technologischen Entwicklung und zeitspezifischen Anforderungen, ständig ändern können; sie wären also ohnehin nur „ad hoc et nunc" festzulegen. Sicher ist es sinnvoll und möglich, unterschiedliche Restriktionen hinsichtlich der Nutzung einer Fläche zu verdeutlichen, kaum aber mit Hilfe pauschalierter Eignungswerte, wie sie als Bezugsgrö-
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ßen zur simulativen Ermittlung der Standorte unterschiedlicher Flächennutzung herangezogen werden sollen (SIARSSY - 74). Wir halten zusammenfassend fest: Zum Risiko der fehlerhaften räumlichen Verteilung von Flächenanforderungen kommt noch das Risiko, diese auf unangemessen bewertete Flächen zu beziehen und so insgesamt eine wirklichkeitsfremde Bilanzierung zukünftiger Flächennutzung vorzunehmen373. Die Wahrscheinlichkeit, daß das Modell Irrelevantes simuliert, erscheint recht hoch. Bleibt noch ein weiterer Einwand gegenüber dem Simulationsmodell (SIARSSY). Zur Erfüllung seiner prognostischen Funktion bedarf es bereits einer vorherigen Prognose. So wird ζ. B. beim Allokationsmodell eine bestimmte zukünftige Beschäftigtenzahl (Beschäftigtenprognose) vorausgesetzt, deren Auswirkungen hinsichtlich der Allokation des Wohnens, der Infrastruktureinrichtungen, der Verkehrsströme etc. prognostiziert werden sollen. Stellt sich die Frage, ungeachtet, ob die Beschäftigtenprognose auch eintritt, wären denn die Auswirkungen dieser prognostizierten Ausgangsgröße wirklich über ein Simulationsmodell zu erfassen, das auf vorheriger Beobachtung ruht, nicht aber auf den prognostizierten Ausgangsbedingungen, deren Auswirkungen es prognostizierend aufzeigen soll? Die Zweifel gelten um so mehr, wenn wir bedenken, daß die angeblich zugrundeliegenden Verteilungsgesetze erst durch Korrekturgrößen in Übereinstimmung mit dem empirischen Material zu bringen waren. Daß diese Korrekturgrößen aber über die Zeiten hinweg stabil sind, darf keineswegs unterstellt werden, denn das spezifische Ursachengefüge der Verteilungsmechanismen kann sich ständig ändern (s. o.). Ungeachtet der vorgetragenen Kritik handelt es sich bei der Erarbeitung von Simulationsmodellen um außerordentlich wichtige Versuche, die denkbaren Auswirkungen veränderter Einflußgrößen (ζ. B. Beschäftigtenzahlen) zu verdeutlichen. Wenn beachtet wird, daß Simulationsmodelle nicht die voraussichtliche tatsächliche Entwicklung unter ihren spezifischen Bedingungen simulieren können, sondern nur denkbare Wechselwirkungen verdeutlichen, stellen sie brauchbare Entscheidungshilfen dar. Sie zeigen denkbare Konsequenzen des Handelns auf. Sie vermögen so das Irrtumsrisiko in der Planung zu verringern. Denn daß Simulationen völlig abwegig simulieren, ist wenig wahrscheinlich. Vor allem, wenn darauf verzichtet wird, die im Raum ablaufenden Prozesse über „Gesetze" zu erfassen, die dann nachträglich je nach Raum unterschiedlich kalibriert werden, wenn statt dessen, basierend auf den Beobachtungen in einem konkreten Raum, „Ad hoc-Modelle" der Simulation erarbeitet werden374 und eine gewisse Stabilität der „Situation" unterstellt werden kann, dann lassen sich die geltenden Abhängigkeiten in
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ihren Folgewirkungen durchaus zur vorläufigen Absicherung planerischer Entscheidungen heranziehen. Die Ergebnisse solcher Simulationen jedoch als verläßliche, alternative Entwicklungsprognosen anzusehen, hieße Opfer eines blinden Vertrauens in die gar nicht gegebene Realitätsnähe eines Ceteris-paribus-Spiels zu werden.
3.4 Das Elend der gebietlichen Prognose Wir haben gezeigt, daß ökonometrische kybernetische Modelle der Regionalprognose (vgl. Kap. 3.1.2) höchst problematisch sind. Es existiert keine allgemein verbindliche, „allgültige" Theorie der gebietlichen Entwicklung, auf der sie aufbauen könnte375. Auch die Herausarbeitung raumspezifischer „Ad hoc-Theorien" der gebietlichen Entwicklung durch eine gebietsspezifische Ursachenanalyse bleibt unbefriedigend; sie wäre aufwendig und kaum exakt durchzuführen, würde vor allem aber ohnehin zeitlich relativiert, wäre mehr oder minder ephemer (vgl. Kap. 2.5). Modellorientierte Projektionen vermögen bestenfalls nur grobe Orientierungsdaten der zukünftigen Entwicklung bereitzustellen (vgl. vorheriges Kap. 3.2). Es muß nicht ausdrücklich betont werden, daß die verschiedenen Schätzverfahren (siehe Kap. 1) bei der Anwendung für die gebietliche Prognose ebenso vielfältigem Irrtumsrisiko unterliegen. Alle drei Typen der Prognoseverfahren (prognostische Extrapolation, Prognosemodelle, subjektive Schätzverfahren - vgl. Kap. 1, am Anfang) erbringen keine verläßlichen Voraussagen. Simulationsverfahren als Sonderform der Prognosemodelle sind für eine echte Voraussage ebenfalls nicht geeignet (vgl. Kap. 3.3). Auf den ersten Blick erscheinen zwar operationalisierte mathematische Prognosemodelle als relativ vielversprechend, zumal, wenn sie sich als kybernetische Modelle hohen mathematischen Aufwandes bedienen, doch sie beruhen auf der übertriebenen Erwartung, mit Hilfe mathematischer Verfahren das Verhalten und die Entscheidungen der Menschen befriedigend erklären oder gar voraussagen zu können376. Je realitätsnäher gebietsbezogene Prognosemodelle gestaltet werden sollen, desto komplexer müßten sie sein, um so vielfältiger und variabler wären die zu erfassenden Wechselwirkungen, und desto weniger wären die Modelle mathematisch operabel und praktisch anwendbar377. Je stärker sie dagegen vereinfacht würden, desto höher wäre ihre Anfälligkeit gegenüber dem Irrtum; die Gefahr falscher Voraussagen wüchse. Vor allem aber bleibt aufgrund der vielfältigen gebietlichen Relativität
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entwicklungsbeeinflussender Entscheidungen, Abhängigkeiten und räumlicher Prozesse stets auch bei modellorientierten Prognosen eine hochgradige Unsicherheit bestehen. Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen, es gibt keine Verfahren, die uns Gewißheit über die zukünftige gebietliche Entwicklung zu geben vermögen. Das Elend der regionalen und kleinräumlichen Prognose ist nicht in Erwartung erlösender mathematisierter Prognosemodelle zu beseitigen. Geht das Streben nach immer besseren Modellen der gebietlichen Prognose nicht von der falschen Annahme aus, daß das Verhalten der Menschen im Raum mehr oder minder gesetzmäßigem Ablauf folgt? Das, was uns häufig als gesetzmäßig erscheint, sind meist nur mehr oder minder regelhafte Reaktionen auf bestimmte kulturabhängige (ζ. B. ökonomische, soziale) Zwänge, die grundsätzlich innerhalb gewisser Grenzen wandelbar sind; sie begründen kein Gesetz des Verhaltens im Raum. Zwar unterliegt unser Verhalten einer vielfältigen Regelung, die trotz eines großen Spielraumes nicht völlig losgelöst von Gesetzmäßigkeiten (ζ. B. der Bindung an die Verhaltensgenetik) erfolgt, doch sind die Spielregeln so geartet, daß der Ablauf, gleich einem Schachspiel, nicht im voraus absehbar ist. Daher ist es nicht möglich, verläßlich vorauszusagen, was Menschen tun werden378. Ja, wenn man so will, beruht unser Verhalten auf dem Gesetz der flexiblen Regelung, das oberhalb der strengen Gesetzlichkeit des Anorganischen die Vielfalt der Möglichkeiten des biologischen, geistigen und seelischen Lebens eröffnet. Dadurch erst entsteht jene Reaktionsfähigkeit, die der Mensch zum Uberleben braucht. So können wir die folgende Behauptung aufstellen: Infolge der komplexen, in ihrem Ablauf und Ergebnis variablen Wechselwirkung zwischen menschlichem Verhalten und räumlichen Existenzbedingungen ist die gebietliche Entwicklung nicht verläßlich voraussagbar, dies um so weniger, je langfristiger die Prognose sein soll. Veränderte Inwertsetzung der räumlichen Realität vermag ständig die Nutzung des Raumes und dessen Entwicklung zu verändern. Wit kommen nicht an der Feststellung vorbei, daß eben alle sozialen Prognosen nur Versuche sind, zukünftige Entwicklung abzuschätzen. Sie sind nicht frei von Irrtümern und Fehlern, da ihr Ziel ja die Voraussage des sozialen Wandels und damit des Noch-nicht-Bekannten ist379. Es war der Sinn der relativ ausführlichen erkenntnistheoretischen Ausführungen zur Problematik der sozialen Prognose in den vorausgegangenen Kapiteln, zu verdeutlichen, daß es keine verläßliche Voraussage der gebietlichen Entwicklung und der sie beeinflussenden Größen geben kann. Je klarer das gesehen wird, desto eher sind wir fähig, die verfügbaren Prognosemethoden angemessen in den Prozeß der Lebensraumgestaltung einzubeziehen.
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Da es nicht möglich ist, im sozialen Bereich und so auch in der gebietlichen Entwicklung wahre Prognosen vorzulegen, liegt die Frage nahe, ob das nicht ohnehin unnötig wäre. Wie genau müssen überhaupt regionale oder kleinräumliche Voraussagen sein? Wie groß darf der Grad der Ungenauigkeit sein? Diese Frage entscheidet sich an den Anforderungen, die sich aus dem Verfahren der Raumgestaltung ergeben. Es ist daher zunächst durchaus fraglich, ob es sinnvoll ist, die Bemühungen in der Regionalwissenschaft vor allem auf den Ausbau, die Verfeinerung und Verbesserung von Modellen und Verfahren zu konzentrieren, die uns immer verläßlicher verdeutlichen sollen, was in der Zukunft sein wird, zumal es ohnehin keine Gewißheit über die Zukunft geben kann. Stehen wir in der Regionalplanung nicht eher vor einem organisatorischen als einem prognostischen Problem? Statt unsere Energie auf die Verbesserung der Prognosemodelle zu richten, wäre es sicher sinnvoller, sie der Verbesserung der Verfahren, die Zukunft schrittweise zu verwirklichen, zu widmen380. Ja, es erhebt sich sogar die Frage, ob die verfügbaren Verfahren der Regionalprognose mit ihrem zwangsläufig begrenzten Genauigkeitsgrad nicht ausreichend für den Planungsprozeß sind? Wir stimmen keineswegs der Behauptung, „gute Regionalpolitik setzt.. . gute Regionalprognosen voraus" (J. WULF, 1970, S. 6), zu. Im Rahmen der Regionalplanung benötigen die politischen Entscheidungsgremien zunächst realitätsnahe Orientierungsgrößen der denkbaren Entwicklung als Entscheidungshilfe, nicht aber unbedingt hochgradig verläßliche, exakte Voraussagen, denn wozu wäre dann noch zu entscheiden, wenn die Zukunft ohnehin bereits mit hoher Sicherheit feststeht. Eine Rechtfertigung der regionalplanerischen Entscheidungen erfolgt ja auch nicht durch die vorgelegten Prognosen, sondern vielmehr durch ein politisches Verfahren, das so geartet sein sollte, daß es legitimierende Funktionen hat. Die Ergebnisse der Prognose können ohnehin lediglich Entscheidungshilfen sein.
3.5 Warum benötigen wir keine absolut verläßlichen Voraussagen? Welche prognostischen Informationen werden für die Praxis der Regionalplanung benötigt? Zunächst sind Orientierungsdaten über die voraussichtliche Entwicklung einer Region und ihrer Teilräume erforderlich. So gilt es vor allem, die regionale sowie kleinräumliche voraussichtliche Eigendynamik aufzudecken. Welche Entwicklung ist also in einem Gebiet aufgrund der vorhandenen Struktur und des darin angelegten Entwicklungspotentials zu erwarten, unter der Annahme des voraussichtlichen, nicht administrativ
Warum benötigen wir keine absolut verläßlichen Voraussagen?
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beeinflußten Selbstlaufes? Wir stellen also die Frage, was würde in einem Gebiet geschehen, wenn man die Dinge unbeeinflußt sich selbst überließe. Selbstverständlich lassen sich so keine verläßlichen Angaben gewinnen, denn es ist kaum möglich, abzusehen, wie die einzelnen Faktoren eines gebietlichen Entwicklungspotentials zukünftig in Wert gesetzt werden und welche Entwicklungen dadurch ausgelöst werden. Welche Daten wären von besonderem Interesse, auch wenn sie nur als mehr oder minder fundierte Schätzgrößen, unter der Annahme der voraussichtlichen gebietlichen Eigendynamik, bereitgestellt werden können? Wichtig ist es vor allem, Vorstellungen über die zukünftige Bevölkerungszahl, die Zahl und Art der Arbeitsplätze zu gewinnen sowie nach Möglichkeit über Angaben zur voraussichtlichen volkswirtschaftlichen Wertschöpfung und Einkommensentwicklung zu verfügen. Damit wären Orientierungsgrößen vorhanden, die als Bezugsdaten für die Überlegungen zur Beeinflussung der gebietlichen Entwicklung von besonderer Bedeutung sind. Das möglicherweise Eintretende kann mit dem Seinsollenden konfrontiert werden, wobei sich zumindest andeutet, wie weit die voraussichtliche unbeeinflußte Entwicklung vom anzustrebenden Ziel abweichen könnte. Gleichzeitig ließe sich erkennen, ob die aus dem Selbstlauf heraus denkbare Zukunft akzeptabel erscheint oder nicht. Die Voraussage der denkbaren Entwicklung unter der Annahme, „daß keine wesentlichen Veränderungen der Bedingungen eintreten", hat also eine wichtige „Warnfunktion"381. Es würde deutlich, wie groß die Anstrengungen zur Veränderung sein müssen oder ob man sich nur auf eine geringfügige Beeinflussung der voraussichtlichen ohnehin erfolgenden Entwicklung oder gar deren Förderung beschränken kann; das Ausmaß wünschenswerter Veränderung und steuernder Korrektur würde sichtbar. Da Prognosen verdeutlichen sollen, was auf der Basis der vorhandenen Struktur und der gebietlichen Besonderheiten bei unbeeinflußter Entwicklung sein könnte, um daran die beeinflussenden Maßnahmen zu dimensionieren, Prognosen mithin nicht aufzuzeigen hätten, was sein wird, ist es ausreichend, wenn sie vergleichsweise grobe Angaben über die denkbare Entwicklung bereitstellen. Eine solche Grobprognose bietet Anhaltspunkte über den Gestaltungsspielraum der Entwicklung, soweit er sich aus dem gebietsspezifischen Potential ableitet. Was dagegen angestrebt wird, was sein soll, muß als Ziel durch den Menschen festgesetzt werden; es ergibt sich nicht aus der Prognose. Allerdings werden sich die Ziele auch an den durch die Grobprognose aufgezeigten Möglichkeiten orientieren müssen, um ein Mindestmaß an Realitätsnähe zu sichern. Grundsätzlich bleibt es für den Ablauf der Regionalplanung unverzichtbar, neben der Prognose ein Leitbild bezüglich der Gestaltung einer Region, also eine Vorstellung, wie die Region und ihre Kleinräume sein sollen, zu erarbeiten.
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Für die regionale Lebensraumgestaltung benötigen wir vor allem ein flächenbezogenes Leitbild, also eine Vorstellung, wie die Raum- und Flächennutzung einer Region erfolgen soll. Derartige flächenbezogene Leitbilder lassen sich nicht direkt aus gesellschaftspolitischen und wirtschaftspolitischen Bekenntnissen ableiten; sie stellen ihrerseits sehr komplexe Gebilde dar und können nur in Beachtung des sehr unterschiedlichen räumlichen Potentials, der Strukturen und Verflechtungen herausgearbeitet werden. Diese Leitbilder stellen gewissermaßen gebietsspezifische Idealkonstruktionen einer Flächennutzungs- und Siedlungsstruktur dar, Modelle sinnvoller Flächennutzung. Sie werden von Raum zu Raum, je nach Eignung, Ausstattung, Entwicklungspotential, Lage etc. anders ausfallen382. So liegt also die Aufgabe räumlich differenzierter Prognose vor allem darin, wichtige Rahmendaten für die Aufstellung eines Leitbildes gebietsspezifisch aufzuzeigen. Realitätsnahe Idealkonstruktionen der räumlichen Gestaltung (flächenbezogene Leitbilder) müssen am Machbaren und damit am Potential des Raumes orientiert sein. Da die Voraussetzungen (das Entwicklungspotential) kleinräumlich sehr unterschiedlich sind, sollte auch das flächenbezogene Leitbild raumspezifisch unterschiedlich sein. Dementsprechend benötigen wir auch jeweils für die verschiedenen Teilräume einer Region entsprechende Daten der denkbaren Entwicklung. Die potentiellen Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Teilräume wären also aufzuzeigen, um daran orientierte angemessene gebietliche Leitbildvorstellungen zu entwickeln. Aber noch ein weiterer wesentlicher Gesichtspunkt verdeutlicht die Notwendigkeit teilräumlich differenzierter Vorausschätzungen und Leitbilder der Gestaltung. Die Beeinflussung der gebietlichen Entwicklung durch die Verwaltungen bzw. Regierungen erfolgt zum einen über die administrative Festlegung bzw. Beschränkungen der Flächennutzung (entsprechende Gesetze, Flächennutzungspläne etc.), zum anderen über die Lenkung von investitionsauslösenden und damit die Flächennutzung verändernden Geldströmen. Lassen wir den ersten Aspekt außer acht - hiernach stünden die Festlegungen der Flächennutzung letztlich unter dem Ziel, der Gesundheit dienliche Lebensbedingungen zu schaffen - so bliebe noch immer die Frage, woran die Lenkung der Geldströme orientiert sein soll. Die privaten Geldströme unterliegen der Tendenz, in die Räume zu fließen, die den größten Zuwachs des konkreten Nutzens für den Investor erwarten lassen. Das werden für die Wirtschaft meist die Räume sein, die die relativ größten Gewinne ermöglichen, also Räume, bei denen die externen oder internen Ersparnisse möglichst groß sind. Durch Festlegung von Restriktionen oder Setzung von Anreizen (externe Ersparnisse durch günstige Infrastruktur, verlorene Zuschüsse der öffentlichen Hand, Zinsverbilligungen etc.) beeinflußt die öffentliche Hand die räumliche Verteilung der
Warum benötigen wir keine absolut verläßlichen Voraussagen?
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privaten Investitionen entsprechend der von ihr gewünschten Zielvorstellung - ζ. B. um die wirtschaftliche Entwicklung bestimmter Gebiete zu beleben. Derartige Restriktionen oder Anreize setzen allerdings eine Zielvorstellung bzw. ein Leitbild für die anzustrebende Allokation der wirtschaftlichen Aktivitäten voraus. Durch entsprechende Bundes-, Landes- bzw. Regionalprogramme werden diese Zielvorstellungen mehr oder minder befriedigend operationalisiert. Analog werden auch diejenigen öffentlichen Gelder räumlich umverteilt, die nicht direkt der Beeinflussung privater Geldströme dienen, sondern die, um wertgleiche Lebensbedingungen383 zu schaffen, starke Unterschiede in der gebietlichen infrastrukturellen Ausstattung vermindern sollen. Zu diesem Zweck ist es dringend erforderlich, über Orientierungsgrößen der denkbaren Bevölkerungsentwicklung in den verschiedenen Räumen zu verfügen, um in Verbindung mit den anzustrebenden Zielvorstellungen einen Verteilungsschlüssel zu gewinnen, nach dem die entsprechenden Finanzmittel eines Landes auf die Regionen und von diesen auf ihre Teilräume aufgeteilt werden. So würde also die kleinräumliche Prognose das Verteilungsmuster der Förderungsmittel widerspiegeln. Aber darin läge eine große Gefahr. Denn die auf der unbeeinflußten gebietlichen Eigendynamik beruhende voraussichtliche Entwicklung unterliegt ja in Abhängigkeit vom geltenden Leitbild und differenzierten Entwicklungszielen einer durchaus unterschiedlichen Bewertung. Es können also ganz andere Zielwerte anstrebenswert erscheinen, als sie sich aus dem Selbstlauf der gebietlichen Entwicklung ergeben. Das heißt aber, die Ergebnisse der Grobprognose dürfen letztlich gar nicht entscheidend sein für die Vergabe entwicklungsbeeinflussender Förderungsmittel. Vielmehr soll die Prognose ja gerade verdeutlichen, wo, in welchen Gebieten mehr oder minder starke Beeinflussungen der voraussichtlichen Eigendynamik vorgenommen werden sollen. Das geht aber eben nur in Abstimmung, in Korrespondenz mit den Leitbildvorstellungen. Damit ist das Verfahren der Regionalplanung vereinfachend als ein Wechselspiel zwischen der voraussichtlichen, unbeeinflußten Entwicklung einerseits, der anzustrebenden Zielsetzung andererseits sowie den vermittelnden, beeinflussenden Maßnahmen anzusehen. Das heißt aber auch, die gebietliche Prognose erfährt ständig ihre Kontrolle am praktischen Handeln, wie es sich durch Maßnahmen zur Zielerreichung darstellt. Da Prognose nicht wahr und von vornherein verläßlich sein kann, bedarf sie der Beurteilung an einem Maßstab384. Dieser wird durch das Handeln gesetzt, das notwendig ist, um in Korrektur der Voraussage das anzustrebende Ziel zu erreichen. Die ständige Voraussage ihrerseits kontrolliert das Handeln, inwieweit es dem gesetzten Ziel näherbringt, denn auch die Konsequenzen des Handelns sind nicht von vornherein verläßlich bekannt. Ebenso läßt sich an der Prognose und am Erfolg des praktischen Handelns kontrollieren, ob die Zielvorstellungen
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Wie tauglich sind die Modelle der Regionalprognose
annähernd wirklichkeitsgerecht und erreichbar sind. Dieses Wechselspiel als eine Form der wechselseitigen Überprüfung von Ziel, Prognose und Handeln, wäre ständig in Gang zu halten. Die ständige wechselseitig kontrollierende Konfrontation zwischen Ziel, Maßnahme und Prognose ist ein wesentliches Kennzeichen der regionalen Lebensraumgestaltung (Regionalplanung); hierin ist auch die Funktion der regionalen Voraussage begründet und nicht im Ziel, zu zeigen, was sein wird. Ja, es erscheint sinnvoll, Regionalplanung als ein Verfahren der schrittweisen wechselseitigen Bezugnahme (bzw. Orientierung) zu interpretieren; das schließt gleichzeitig eine schrittweise und vorläufige Vorwegnahme der Zukunft ein385 (vgl. vierter Teil). Das heißt, mit dem Prozeß der Regionalplanung werden die Vorstellungen zur zukünftigen Gestaltung eines Gebietes als konkrete, wenn auch nicht „ewige" Ziele in Wechselwirkung und Koordination zwischen dem, was leitbildhaft sein soll, was zufolge der Grobprognose in einem Gebiet sein könnte und dem, was aufgrund der vertretbaren Maßnahmen möglich ist, herausgearbeitet und ggf. allmählich verändert. Schon in Anbetracht dieser ständigen wechselseitigen Überprüfung bzw. Orientierung aneinander bedarf es keiner langfristigen absolut verläßlichen Vorhersage, denn nicht nur die Entwicklungen können sich „zwischendurch" ändern, sondern auch die Vorstellungen, was als wünschenswert erachtet wird und welche Maßnahmen eingeleitet werden können. Fassen wir zusammen: Wir benötigen ein Prognoseverfahren, das uns in möglichst rascher Abfolge, also kurzfristig, nach Teilräumen differenzierte, am momentanen Entwicklungspotential orientierte Grobprognosen liefert, die uns anzeigen, ob eine Entwicklung in der gewünschten Richtung verläuft und die eingeleiteten Maßnahmen dem dienlich sind. Es müßte also deutlich werden, welche Entwicklung bei unbeeinflußter Eigendynamik zu erwarten ist, aber auch, welche Wirkungen bestimmte Einflußnahmen zeigen (ζ. B. Arbeitsstättenansiedlung - vgl. dritter Teil, Abb. 5 (8)). Um uns Ergebnisse in kurzen Abständen zu liefern, müßte das Verfahren mit Hilfe der verfügbaren Daten durchführbar sein, aber es braucht auch nur vergleichsweise grobe Orientierungsdaten bereitzustellen386. Da die Gestaltung der räumlichen Umwelt ohnehin von den Entscheidungen im Rahmen eines legitimierenden politischen Verfahrens abhängt, die sowohl an allgemeinen gesellschaftlichen Zielvorstellungen wie auch an wirtschaftlichen Notwendigkeiten und kulturabhängigen Bewertungen wie auch dem Entwicklungspotential des Raumes orientiert sind, ist der Zweck der gebietlichen Prognose nicht, möglichst genaue und verläßliche Vorhersage der Zukunft, sondern die Bereitstellung von Entscheidungshilfen für die Aufstellung angemessener Leitbilder der
Warum benötigen wir keine absolut verläßlichen Voraussagen?
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gebietlichen Entwicklung und für die Einleitung entwickhingsbeeinflussender Maßnahmen. Aufgabe der gebietlichen sozialen Prognose ist es, dazu beizutragen, daß wir unser Handeln unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Erwartungen zukünftiger Ereignisse und der für anstrebenswert erachteten Ziele möglichst rational organisieren können; die Aufgabe besteht nicht darin, aus logischen Gründen grundsätzlich nicht erreichbares verläßliches Wissen über die Zukunft bereitzustellen.
Dritter Teil
Grobprognose - am Beispiel aus der Praxis „ . . . man sollte nie exakter oder genauer sein wollen als das vorliegende Problem verlangt". K. R . POPPER, 1 9 7 3
Grobprognose - am Beispiel aus der Praxis
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Fragen wir uns, welches Prognoseverfahren den gestellten Anforderungen am ehesten gerecht wird. Die sehr schwierige ursächliche Durchdringung der gebietsspezifischen Entwicklung unter Zugrundelegung einer Ad hoc-Theorie verspricht relativ gute Voraussageergebnisse. Aber auch diese werden niemals verläßlich sein, da ζ. B. äußere Einflüsse kaum berücksichtigt und vorhergesehen werden können, da die Relativität des gebietsspezifischen Voraussagesystems in der Zeit bestehen bleibt und da die Ceteris-paribusBedingung eben nicht gegeben ist. Aufwendige, allgemeine kybernetische Modelle der Regionalplanung (etwa gemäß dem von H . BIERMANN vorgelegten Ansatz - s. o.) erscheinen ebenso als ungeeignet. Abgesehen davon, daß sie noch nicht operationalisiert vorliegen, unterliegen sie der zeitlichen und gebietlich strukturellen Relativierung. Simulationsmodelle wiederum erbringen an sich keine Prognosen, sie setzen bereits prognostizierte Eingabegrößen voraus und verdeutlichen bestenfalls deren Konsequenzen. Am besten wären Verfahren, die auf allgültigen Aussagesystemen, auf empirisch bewährten Theorien gründen und die uns zeigen, welche Entwicklung zu erwarten ist und wie groß die zukünftige Bevölkerungszahl in den Teilräumen sein wird. Es müßten Verfahren sein, die uns gleichzeitig die vielfältigen Folgen dieser Entwicklung simulieren, die uns vor allem aber die Konsequenzen für die Flächennutzung aufzeigen. So würde die Erarbeitung eines sinnvoll beeinflussenden Leitbildes der Raumnutzung erleichtert und begünstigt. Aber ein solches Modell existiert nicht. Als vergleichsweise brauchbar erscheinen dagegen arbeitsmarktorientierte projektive Modelle (vgl. Hinweise im zweiten Teil, Kap. 3.2). Sie lassen sich in ihrem grundsätzlichen Aufbau für Grobprognosen in unterschiedlichsten Teilräumen anwenden. Die Korrektur der entwicklungsbeeinflussenden Variablen, wie sie sich aus der gebietsspezifischen Beobachtung und Erfahrung ableiten, ist leicht möglich. Bereinigende Schätzverfahren ζ. B. bezüglich der gebietlichen Wohnattraktivität können mühelos einbezogen werden. Mit Hilfe dieses Verfahrens ist ein Herantasten an die gebietlichen Besonderheiten relativ gut möglich. Unter Einsatz veränderter Variablen lassen sich alternative Prognosen gewinnen. Das Verfahren baut auf relativ wenig Daten auf und ist jederzeit kurzfristig wiederholbar. Die Ergebnisse verdeutlichen in etwa, welche Entwicklung aufgrund der gebietsspezifischen Eigendynamik denkbar wäre. Auch lassen sich mit Hilfe einer solchen arbeitsmarktorientierten Grobprognose zielgerichtete Beeinflussungen durch die Regionalplanung, also etwa Gewerbeansiedlung, in ihren Auswirkungen bezüglich der notwendigen Ergänzungsmaßnahmen (ζ. B. Beeinflussung der Pendlerbilanzen) leicht verdeutlichen. Vor allem aber liegt einem solchen arbeitsmarktorientierten Prognosemodell eine plausible Überlegung zugrunde, wonach
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Grobprognose - am Beispiel aus der Praxis
die Bevölkerungsentwicklung wesentlich durch die Arbeitsmarktbilanz beeinflußt wird. Zwar kann dieser Zusammenhang, in Beachtung unserer Überlegungen zur Relativität der Entscheidung (Kap. 2.4) und der Aussagesysteme (Kap. 3.1), nicht als allgültig und stets zutreffend anerkannt werden, aber es wird doch ein grobes Netz von Beziehungen zugrunde gelegt, an das gebietsspezifische Einflüsse, Besonderheiten, Erfahrungen, Schätzungen etc. relativ gut beeinflussend „angehangen" werden können. Dadurch wird eine flexible Modifikation dieses vereinfachenden Aussagesystems möglich. Es läßt sich dann jene Experimentierhaltung gegenüber erklärenden Modellansätzen realisieren, die notwendig ist, um gebietliche Besonderheiten berücksichtigen zu können und um zu vermeiden, daß im falschen Vertrauen auf eine angeblich verläßliche Theorie völlig wirklichkeitsfremde Voraussagen vorgelegt werden. Statt dessen lassen sich bei flexibler Anwendung grobe, aber annähernd wirklichkeitsgerechte Vorausschätzungen denkbarer Entwicklungen aufzeigen. Ein ausschließlich induktives Vorgehen, einschließlich des hohen Irrtumsrisikos der Trendextrapolationen wird vermieden. Nachfolgend sei eine solche Grobprognose kurz beschrieben. Dieses Beispiel einer Prognose der gebietlichen Bevölkerungsentwicklung wurde in unmittelbarer Berührung mit der regionalplanerischen Praxis erarbeitet und am Beispiel erprobt.
1. Arbeitsmarktorientierte Grobprognose
Das Verfahren der Grobprognose (siehe weiter hinten „Flußdiagramm" mit Numerierung der Arbeitsschritte) geht zunächst davon aus, daß die Menschen dort leben werden, wo sich Arbeitsplätze befinden, an denen sie das zur Existenzsicherung erforderliche Einkommen gewinnen können. Zwar gilt dies für große Teile der Nichterwerbsbevölkerung nicht, auch erlauben die modernen Verkehrsmöglichkeiten und neue Telekommunikationsmittel, daß bei zahlreichen Erwerbspersonen die Distanz zwischen Wohnort und Arbeitsort beträchtlich ausgeweitet werden kann; man wohnt also nicht mehr unbedingt auch in der Region, in der man arbeitet, aber im allgemeinen hängen noch immer Arbeitsplatz- und Erwerbsbevölkerungsentwicklung relativ stringent zusammen. Zweifellos sind auch heute noch starke Tendenzen wirksam, einerseits Arbeitsplätze dort zu schaffen, zu erhalten, neuzuschaffen, wo die Menschen leben, andererseits Menschen dort anzusiedeln, wo Arbeitsplätze angeboten werden bzw. aufgrund der Standortgunst neu entstehen. Entsprechend wird durch regionale Wirtschaftsförderung versucht, eine für die vorhandene Erwerbsbevölkerung ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen zu schaffen oder durch Förderung der Mobilitätsbereitschaft die Wanderung in Räume mit Überangebot an Arbeitsplätzen zu erleichtern - beides Maßnahmen, die ungünstige gebietliche Arbeitsmarktbilanzen, Mangel oder Überschuß an Erwerbspersonen ausgleichen sollen. Ein solcher Mangel oder Überfluß (4) wird nun keineswegs nur durch Veränderungen im gebietlichen Arbeitsplatzangebot ausgelöst, sondern kann genauso durch Veränderungen des Erwerbspersonenangebotes (2), das wiederum von der Entwicklung der Bevölkerungszahl (1), vom Ausbildungswesen und Wanderungsverhalten etc. abhängt, entstehen. Gleichwie deutet die Entwicklung der gebietlichen Arbeitsmarktbilanz (4), wenn man zusätzlich die Bilanz der Pendlerströme (5) berücksichtigt, auf die Entwicklung der Bevölkerungszahl (7) hin, von der Nichterwerbsbevölkerung abgesehen. Einer solchen Entwicklung kann natürlich durch ausgleichende Maßnahmen, ζ. B. Gewerbeansiedlung (8), Beeinflussung der Pendlerströme (9), entgegengewirkt werden, aber gerade die Notwendigkeit solcher beeinflussender Maßnahmen soll ja durch die Grobprognose aufgezeigt werden. Um nun eine solche prognostische Bilanzierung durchführen zu können, bedarf es zahlreicher Vorausschätzungen bzw. prognostischer Berechnun-
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Grobprognose - am Beispiel aus der Praxis
gen. Dabei wäre es völlig abwegig zu glauben, man könne all die eine solche gebietliche zukünftige Arbeitsmarktbilanz beeinflussenden Daten berücksichtigen und verläßlich voraussagen. So simpel diese Bilanz erscheinen mag, sie kann von zahllosen Einzelfakten beeinflußt werden, sowohl allgemeiner wie auch spezifischer Art. Will man ζ. B. die voraussichtliche Entwicklung des gebietlichen Arbeitsplatzangebotes in den verschiedenen Wirtschaftssektoren und Branchen abschätzen (3), so müßten Einflußgrößen globaler, staatlicher, wirtschaftspolitischer, konjunktureller Art oder Veränderung der Konsumgewohnheiten, neue technische oder wissenschaftliche Entwicklungen usw., wie auch gebiets- und betriebsspezifische Besonderheiten einbezogen werden. Selbst wenn man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit den Trend einer Branche auf der Ebene eines Staates glaubt voraussagen zu können, also etwa den Rückgang der Textil- und Bekleidungsindustrie oder die günstige Entwicklung der Pharmazeutischen Industrie, so muß das noch lange nicht auf regionaler Ebene oder für den konkreten Betrieb gelten. So ist bereits die Prognose des zukünftigen Arbeitsplatzangebotes in den verschiedenen Wirtschaftszweigen und den Teilräumen eines größeren Raumes ein kaum lösbares Problem, zu differenziert ist die systemare Vernetzung der zahlreichen Einflußgrößen, zu unsicher deren Tendenz. Vor allem (siehe zweiter Teil) müssen wir bedenken, daß keine hinlänglich bewährte Theorie, keine Gesetzmäßigkeit existiert, der gemäß sich die Wirtschaft bzw. deren Kennzahlen mit Gewißheit entwickelt. Nicht viel anders verhält es sich mit der natürlichen Bevölkerungsentwicklung (10). Auch hier wäre es z. B. sehr problematisch, gerade beobachtete Daten, etwa die altersspezifische Geburtenhäufigkeit oder sichtbare Tendenzen (Abnahme oder Zunahme der Geburtenhäufigkeit), als für die Zukunft geltend zu unterstellen. So wie vor 20 Jahren der starke Geburtenrückgang der letzten Jahre nicht mit Gewißheit vorauszusagen war, kann auch nicht unterstellt werden, daß die momentan so geringe Geburtenfreudigkeit bestehen bleibt; ein nächster Baby-Boom kann kommen, kann aber auch ausbleiben; das hängt von zahllosen Einflußgrößen ab, die vorauszusagen nicht möglich ist. Neben die Ungewißheit einer Prognose auf großräumlicher Ebene tritt noch die besondere gebietliche Ungewißheit. Es ist durchaus möglich, daß mit zunehmender Einfamilienhausbebauung (und Schuldentilgung) in bestimmten Teilräumen angesichts der verbesserten Wohnsituation bald auch die Geburtenhäufigkeit stärker zunimmt als in Gebieten vorherrschend verdichteter Mietwohnungsbebauung. Man kann natürlich versuchen, all diese Unsicherheiten durch subjektive Wahrscheinlichkeitsschätzung unter bestmöglicher Ausschöpfung des Wissensstandes, der Erfahrungen usw. einzuschränken und sich so zumindest zu subjektiv wahrscheinlichen Einzelannahmen und -daten vortasten, die man
Arbeitsmarktorientierte Grobprognose
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dann in die oben aufgezeigte zukunftsorientierte Bilanzierung einfließen läßt. Es soll hier nicht weiter erörtert werden, wie dies auf der übergreifenden räumlichen Ebene, also etwa der der Bundesrepublik Deutschland, geschehen kann. Es sei nur kurz angedeutet, daß man ζ. B. im Rahmen einer Industriebranchenprognose, etwa im Bereich der Roheisengewinnung, unterstellen kann, daß Produktionssteigerungen größeren Umfanges unwahrscheinlich sind. Deutsche Roheisenerzeugung dürfte lediglich dort aussichtsreich sein, wo sie unmittelbar an einen Prozeß differenzierter Weiterverarbeitung gekoppelt ist. Die Roheisenkapazitäten in der Welt und vor allem in vielen Entwicklungsländern sind so gestiegen, die Standortvoraussetzungen außerhalb der Bundesrepublik so viel günstiger, daß Beschäftigtenzuwachs in der deutschen Roheisenerzeugung vorerst recht unwahrscheinlich ist. Diese, wenn auch vereinfachende Betrachtung, deutet zumindest an, daß Daten auf der Bundesebene nur unter Beachtung solcherart übergreifender Situationen und Tendenzen beurteilt werden können. Es existiert zu dem Problemkreis der Wirtschaftsprognose auf Staatenund Weltebene eine kaum noch zu überblickende Literatur, so daß wir im weiteren auf die Erörterung dieses großräumlichen Aspektes verzichten. Dagegen zwingt die Berücksichtigung gebietlicher Besonderheiten, wie sie für die regionale bzw. gebietliche Grobprognose unverzichtbar ist, zu einigen Überlegungen und Hinweisen. Abweichend von der großräumlichen Ten denz können in einem bestimmten Teilraum Entwicklungen einen ganz anderen Verlauf nehmen. Während etwa ein Roheisen erzeugendes Werk an traditionellem inländischem Standort allmählich der Stillegung entgegengeht, weil heute ausländische Erze wie auch der Hüttenkoks über große Distanzen herangeführt werden müssen und weil es nicht gelang, eine betriebswirtschaftlich ausgleichende differenzierte Weiterverarbeitung im Flüssigverbund aufzubauen, kann trotz der gleichen Marktsituation ein neu an der Küste oder an leistungsfähigen Wasserwegen desselben Landes errichteter Betrieb, durch diesen Lagevorteil und durch die Koppelung mit einer marktgerechten Weiterverarbeitung (ζ. B. Stranggießanlage, Warmund Kaltbandwerk, Bandbeschichtung, Schwermaschinenbau etc.) kräftig prosperieren; es können also beträchtliche gebietsspezifische Entwicklungsunterschiede auftreten. Daher ist es sinnvoll, sich für die Regionalprognose soweit wie irgend möglich mit den gebietlichen Besonderheiten vertraut zu machen; das gilt auch für alle anderen prognoserelevanten Bereiche. Nun ist es aber sehr schwer, all diese Bereiche mit ihren zahllosen Variablen zu erfassen, auch sind in einem Gebiet Größen relevant, die in einem anderen unerheblich sind. Um dennoch einen Raum hinsichtlich seines Entwicklungspotentials und
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Grobprognose - am Beispiel aus der Praxis
der Entwicklungschancen sowie seiner Besonderheiten möglichst umfassend und dennoch gebietsspezifisch, aber auch vergleichbar mit anderen Räumen einschätzen zu können, wird im Folgenden ein annähernd systematisches Vorgehen empfohlen.
2. Analyse und Bewertung der gebietlichen Entwicklungssituation
Wir gehen von der vergleichsweise simplen Annahme aus, daß die Entwicklungssituation eines Raumes wesentlich davon abhängt, wie die zahlreichen in einem Raum verorteten Fakten und Geofaktoren vom Menschen bewertet werden (siehe erster Teil). Nun existieren ja für den Menschen sehr verschiedene Lebensbereiche, in denen er urteilend und bewertend handelt. Es ist daher sinnvoll, den der prognostischen Beurteilung unterliegenden Raum unter den Blickwinkel all dieser Lebensbereiche zu analysieren und zu bewerten. Dabei sollte sichergestellt sein, daß möglichst die gesamte Breite menschlicher Aktivität und menschlichen Erlebens bezüglich der lebensräumlichen Voraussetzungen berücksichtigt wird; alle für die Gebietsentwicklung relevanten Bereiche der menschlichen Existenz wären also zu erfassen. Gleichzeitig müßte gewährleistet sein, daß die gebietlichen Besonderheiten erkannt und beachtet werden. Eine dementsprechende Gliederung nach Lebensbereichen bzw. Analyseund Bewertungsbereichen wäre vorzunehmen. Es ist nicht leicht, einem solchen Anspruch Genüge zu tun, und beträchtliche Vereinfachungen sind nicht zu vermeiden. Zudem ist es höchst problematisch, die Spannweite und Komplexität der menschlichen Existenz und lebensräumlichen Wirklichkeit mit all ihren Wechselwirkungen und Verflechtungen gewissermaßen „tabellarisch" zu zerlegen, aber ohne einen ordnenden Rahmen ist die Bewertung und prognostische Einschätzung der zahllosen lebensräumlichen Fakten noch schwieriger und zwischen den verschiedenen Räumen noch viel weniger vergleichbar. So wird eine Gliederung nach Lebensbereichen und deren Aspekten vorgeschlagen, die zwar nicht als „wahr" oder objektiv gegeben unterstellt wird, aber zumindest für den Zweck der Analyse und Bewertung einer gebietlichen Entwicklungssituation als zweckmäßig und als vergleichsweise wirklichkeitsgerecht erscheint. Für unser pragmatisches Konzept unterscheiden wir 6 Lebensbereiche, an denen jeder Mensch mehr oder minder beteiligt ist (siehe beigegebene Matrix): 1. Lebensbereich der privaten Gestaltung - dieser umfaßt ζ. B. den gesamten privaten Lebensbereich einschließlich der dazugehörigen örtlichkeiten, also etwa die Wohnung, den bevorzugten privaten Lebensstil mit seiner spezifischen Geselligkeit, die Freizeitaktivitäten, Konsumgewohnheiten,
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Analyse und Bewertung der gebietlichen Entwicklungssituation
die vielfältigen „privaten" Vorlieben und Abneigungen, aber ebenso das private geistige Milieu, wie auch die Intimsphäre, den Bücherschrank, wie auch das Badezimmer, aber etwa auch die Wohndichte, den Anteil der Einfamilienhäuser etc. 2. Lebensbereich der Einkommensbildung - hier werden ζ. B. die gesamten Arbeitsstätten hinsichtlich ihrer Struktur und Besonderheiten, denn dort vor allem werden ja die Einkommen gewonnen, erfaßt. Aber ebenso gehören auch die Begleitumstände der Einkommensbildung, also etwa die Erreichbarkeit dieser Arbeitsstätten, das regionale Lohn- und Gehaltsniveau, die Qualifikationsstruktur, aber auch besondere Ressourcen, die Nebenwirkungen der Wirtschaftstätigkeit usw. zu diesem Lebensbereich. Auch die beträchtlichen infrastrukturellen Voraussetzungen, die im Rahmen des wirtschaftlichen Prozesses und der Einkommensbildung beansprucht werden, sind im Rahmen dieses Lebensbereiches zu erfassen, so wie spezifische infrastrukturelle Voraussetzungen auch im Rahmen anderer Lebensbereiche berücksichtigt werden. 3. Lebensbereich der materiellen Bedarfsdeckung - dieser schließt ζ. B. den gesamten Fragenkreis der Versorgung mit Gütern und materiellen Leistungen ein, also das gesamte Einzelhandelssystem, aber auch die verschiedenen Formen der Selbstversorgung (etwa durch vorhandene Kleingärten o. ä.). Aber auch das Preisniveau oder die bezüglich der materiellen Bedarfsdeckung relevante Verkehrssituation und Siedlungsstruktur kann Berücksichtigung finden. 4. geistige und kulturelle Versorgung sowie 5. soziale Versorgung - diese umfassen etwa die gesamte Ausstattung eines Raumes mit Einrichtungen der geistigen, kulturellen und sozialen Versorgung, vom Theater, den Schulen, der Bibliothek, den Sportanlagen, bis zu den Ärzten, Kliniken und Einrichtungen der Altenbetreuung. Aber auch die geistig-kulturelle Atmosphäre, der Bildungsstand, das „schöpferische Potential" eines Raumes, die Qualität der wissenschaftlichen Einrichtungen, wie auch das Angebot an Einrichtungen der Gesundheitspflege, der Erholung, der Unterhaltung, der Freizeitgestaltung etc. werden hier berücksichtigt. 6. Lebensbereich der öffentlichen Gestaltung- dieser erfaßt ζ. B. die Aktivität der Einrichtungen öffentlicher Hand, die Qualität der Verwaltungen, die Dynamik des kommunalen bzw. regionalen politischen Lebens, das dabei vorherrschende Milieu usw., ebenso die Möglichkeiten und die Bereitschaft der Menschen, an der lebensräumlichen Gestaltung mitzuwirken. Aber auch die für einen Raum bestehenden Planungsvorstellungen, die Fähigkeit (auch finanziell) diese zu realisieren, wie auch das öffentliche gesellschaftliche Leben mit seinen gebietlichen Besonderheiten können
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Analyse und Bewertung der gebietlichen Entwicklungssituation
für die Bewertung und den Einfluß dieses Lebensbereiches relevant werden. Die gegebenen Beispiele in den einzelnen Lebensbereichen sollen lediglich deren inhaltliche Bandbreite andeuten, ohne auch nur im geringsten umfassend sein zu wollen; wie detailliert ein Lebensbereich zu bearbeiten ist, hängt auch von den gebietlichen Besonderheiten ab.
Matrix der Elementkomplexe zur gebietlichen Entwicklungssituation \
Aspekte der
ν \
personaler Aspekt
gegenständlich institutioneller Aspekt
organisatorischer Aspekt
finanzieller Aspekt
Aspekt des ökologisozialen und scher psychischen Aspekt Milieus
räumlicher Aspekt
tendenzieller Aspekt
Mensch*
Einrichtungen* Anlagen
Ablauf*
Geld*
Fluidum*
Verflechtung* FlächenNutzung
Entwicklung* Trend
Existenz \
Lebensbereiche der
\ \ \
\
Umwelt-* bedingungen
privaten Gestaltung Einkommensbildung materiellen Bedarfsdeckung geistigen und kulturellen Versorgung sozialen Versorgung öffentliche Gestaltung * ausgewähltes Stichwort
Diese 6 Lebensbereiche (ausführlichere Kennzeichnung vgl. W . MOEWES 1969, S. 614) werden jeweils unter dem Blickwinkel der folgenden 8 Aspekte analysiert (siehe beigegebene Matrix): dem personalen, gegenständlich-institutionellen, organisatorischen, finanziellen, milieubetreffenden, ökologischen, räumlichen und dem tendenziellen Aspekt. Dadurch wird es möglich, geradezu systematisch in den verschiedenen Lebensbereichen auf die voraussichtlich entwicklungsrelevanten Besonderheiten eines Raumes zu stoßen. Allerdings wird dabei eine subjektive Einschätzung und Bewertung kaum zu vermeiden sein, aber das gilt, wie wir gezeigt haben, letztlich für alle prognostischen Bemühungen im sozialen Bereich. Auf jeden Fall ist es in Beachtung dieser Matrix leichter, die
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Analyse und Bewertung der gebietlichen Entwicklungssituation
zahlreichen entwicklungsrelevanten Einflußgrößen zu erfassen; eine ganz andere Frage ist, ob man sie angemessen beachtet, bewertet und ob man in der Lage ist, sie in ihrer Gesamtheit aufzuspüren und zu verarbeiten, aber auch das ist ein generelles Problem. So ist diese Matrix vor allem als Anregung und Anleitung zu verstehen, das für einen bestimmten Raum und dessen Entwicklung Relevante herauszuarbeiten und möglichst wenig zu übersehen. Diese Matrix wird also für jeden untersuchten Raum mit anderen oder zumindest modifizierten Informationen zu füllen sein. Es ist klar, daß zwischen den verschiedenen Lebensbereichen und Aspekten zahlreiche Überschneidungen und Abhängigkeiten, Wechselwirkungen bestehen, aber gerade diese gilt es ja mit Hilfe der Matrix für die jeweiligen geographischen Bezugsräume aufzuzeigen und für die prognostische Einschätzung verfügbar zu machen. Wir haben zuvor aufgezeigt (siehe zweiter Teil), daß es höchst fragwürdig ist, das genaue System der in einem Gebiet vorhandenen entwicklungsbeeinflussenden Abhängigkeiten aufdecken, quantifizieren und in einer Ad hocTheorie erfassen zu wollen, zumal diese systemaren Verflechtungen ständigem Wandel unterliegen. In der Einsicht in dieses Unvermögen wird statt dessen ein Rahmen, eine Matrix vorgeschlagen, die dazu zwingt, selbst einzuschätzen, welche Größen, welche Besonderheiten und Informationen entwicklungsrelevant sind und daher bei der Abschätzung der Einzelvariablen für die arbeitsmarktorientierte Grobprognose berücksichtigt werden müssen. Zunächst muß jedoch die vorgeschlagene Matrix durch eine umfassende und differenzierte Raumanalyse mit Material gefüllt und laufend ergänzt werden, damit die Felder der Matrix mit den dort festgehaltenen Informationen in ihrer Gesamtheit die Eignung und das Potential, die Chancen eines Raumes für seine weitere Entwicklung kennzeichnen. Die Füllung des vorgegebenen Rahmens erzwingt zwar ein systematisches Vorgehen, gestattet aber dennoch durch eine entsprechende Auswahl und unterschiedliche Gewichtung des für wichtig Erachteten eine gewisse Flexibilität. Eine subjektive Bewertung und Plausibilitätsannahme ist dabei nicht zu vermeiden, aber auch durchaus gerechtfertigt, erfordert allerdings bestmögliche Kenntnisse vor allem bezüglich des zu untersuchenden Raumes. Es soll an einem stark verkürzten Beispiel zumindest angedeutet werden, wie die Verknüpfung von Informationen aus dieser Matrix eine prognostische Aussage erleichtert. Die Analyse der Wirtschaftsstruktur (ein Teil des Lebensbereiches der Einkommensbildung) zeigt ζ. B., daß in einer Region der Anteil der eisenerzeugenden Industrie sehr hoch ist. Bisher war die Entwicklung dieser Betriebe branchendurchschnittlich, aber bleibt das so? Der räumliche Aspekt (siehe Matrix) offenbart, daß sich die Standortsituation dieser traditionellen
Analyse und Bewertung der gebietlichen Entwicklungssituation
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inländischen Roheisengewinnung und -Verarbeitung drastisch verschlechtert hat (ζ. B. Anlieferung der Rohstoffe, Zulieferung der Produkte über nunmehr große Distanzen). Auch sind die Werksanlagen aufgrund früherer Standortüberlegungen in den Tallagen eines Mittelgebirgsraumes lokalisiert, was angesichts der engen Zusammendrängung mit dichter Wohnbebauung und gebündelten Verkehrsstraßen zahlreiche zusätzliche Probleme für eine zeitgemäße Flächennutzungsplanung bringt. Die Emissionen der Werke tragen, verbunden mit den in diesen Tälern häufigen Inversionslagen zu einer deutlichen Verschlechterung des Kleinklimas bei (ökologischer Aspekt), ganz zu schweigen von weiteren ökologischen Nebenwirkungen dieser Werke (Aufheizung und Verunreinigung der in ihrem Oberlauf noch wasserarmen Gewässer, Staubemission auf benachbarte Wohngebiete etc.). Die ungünstigen Arbeitsbedingungen in diesen Werken (enge, zusammengedrängte Werksanlagen) bei relativ hohem Anteil körperlich anstrengender und schmutziger Arbeit haben einen hohen Gastarbeiteranteil zur Folge. Die noch an der direkten Produktion beteiligten deutschen Arbeitnehmer sind überwiegend zugleich sogenannte Nebenerwerbslandwirte in den nahen Dörfern des Umlandes; das bedeutet, daß den Entscheidungen einer fernen Konzernleitung hinsichtlich der weiteren Verringerung der in der Produktion Beschäftigten erfahrungsgemäß keine allzu großen Widerstände entgegengesetzt werden (personaler Aspekt). Angesichts der betriebswirtschaftlichen Situation, der Marktlage und Standortungunst ist die Ertragslage dieser Werke ungünstig (finanzieller Aspekt). Reinvestitionen oder gar Neuinvestitionen werden an diesen Standorten kaum vorgenommen (gegenständlich-institutioneller Aspekt), eine schon fast resignierende Haltung schleicht sich ein, der Wirtschaftsgeist in dieser Branche und Region droht zu ermüden (Milieu-Aspekt); die unteren Entscheidungsstrukturen erstarren, dynamische Personen weichen in andere Räume bzw. in die höheren Etagen der außerhalb der Region agierenden Konzernspitze aus. Dort beurteilt man die Zukunftsaussichten dieser regionalen Arbeitsstätten sehr zurückhaltend (organisatorischer Aspekt); Stillegung erscheint nicht mehr als ausgeschlossen. Zur Skepsis der wirtschaftlichen Entscheidungsträger gesellen sich die Bedenken der Regionalplaner und Städtebauer hinsichtlich der unglücklichen Lokalisation dieser alten Werke, Umweltschutzauflagen stellen die Betriebe vor zusätzliche Probleme (räumlicher und ökologischer Aspekt). Eine Berücksichtigung all dieser Aspekte, gestützt durch entsprechende Erkundigungen bei den Entscheidungsträgern, sowie die Beachtung der allgemeinen wirtschaftlichen und der betriebsspezifischen Situation, zeigen vergleichsweise verläßlich, daß mit einem Rückgang der Beschäftigtenzahl in diesen Betrieben der Region zu rechnen ist. Eine unter diesem Blickwinkel ergänzende Analyse des Lebens-
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Analyse und Bewertung der gebietlichen Entwicklungssituation
bereiches der privaten Gestaltung zeigt ζ. B., daß die deutschen Arbeitnehmer dieser Werke größtenteils in Eigenheimen bzw. auf ihren landwirtschaftlichen Anwesen wohnen; die Siedlungsstruktur des Raumes begünstigte die Herausbildung eines überdurchschnittlich hohen Eigenheimanteils. Die Bewohner der Region sind daher finanziell wie psychisch relativ stark an den Raum gebunden und müssen im Durchschnitt als weniger mobil eingeschätzt werden. Bei Stillegung dieser Arbeitsstätten wäre also, von den Gastarbeitern abgesehen, mit einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen zu rechnen; eine nennenswerte Abwanderung deutscher Arbeitnehmer in andere Räume mit entsprechendem Arbeitsplatzangebot kann kaum unterstellt werden. Die zukünftige fiktive Arbeitsmarktbilanz mit Überangebot an Arbeitskräften dürfte sich also kaum durch die Wanderungsbilanz selbstregelnd ausgleichen, lediglich durch verstärktes Auspendeln könnte ein gewisser Ausgleich geschaffen werden. Es dürfte so zumindest andeutungsweise deutlich werden, daß es unter Ausnutzung der in der empfohlenen Matrix aufbereiteten Informationen möglich ist, die prognostische Einschätzung unterschiedlicher Entwicklungsdaten wirklichkeitsgerechter vorzunehmen als unter ausschließlicher Berücksichtigung mathematisierter vermeintlich allgültiger theoretischer Abhängigkeiten. Aber mehr noch, es lassen sich in Ausschöpfung der von der Matrix bereitzustellenden Informationen gebietsspezifische Zielvorstellungen für die zukünftige Entwicklung der Region und ihrer Teilräume gewinnen. So liegt es ζ. B. nahe, wenn man die gute Ausstattung einer Beispielregion etwa in den Lebensbereichen der materiellen Bedarfsdeckung, der geistigen, kulturellen und sozialen Versorgung bedenkt, die in Anlehnung an die kleinund mittelstädtischen Zentren dieses Raumes entstand, dieses Potential nicht durch Rückgang des Gewerbes zu gefährden, sondern als Anreiz zur Ansiedlung neuer Arbeitsstätten zu nutzen. Die Arbeitsstätten wären also nicht ausschließlich auf ein Hauptzentrum der Region zu konzentrieren, sondern in Ausschöpfung der guten infrastrukturellen Ausstattung dieser aufgelokkert-industrialisierten Region auf die zahlreichen mittleren Zentren zu verteilen, zumal in diesen Teilräumen für den Lebensbereich der privaten Gestaltung durch ausreichendes billiges Bauland, durch eine außerordentlich erholungsfreundliche Landschaft, durch die gute Erreichbarkeit auch eines großstädtischen Angebotes etc. beste Voraussetzungen bestehen. So leistet eine differenzierte Raumanalyse in Anlehnung an die empfohlene Matrix nicht nur unentbehrliche Vorarbeit zur Prognose der bei unbeeinflußter Eigendynamik wahrscheinlichen Entwicklung, sondern leitet über zum zweiten Teil der Grobprognose, in der unter Beachtung der gewonnenen räumlichen Leitbildvorstellungen vorausschauend abgeschätzt wird, ob eine solche
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zielorientierte Entwicklung angesichts des Entwicklungspotentials überhaupt möglich ist, ob die Entwicklung schon in der gewünschten Richtung verläuft oder ob sie sich davon entfernt und ggf. wie weit. Es kann dann auch abgeschätzt werden, durch welche Korrekturmaßnahmen (ζ. B. Gewerbeansiedlung, Ausbau des Fremdenverkehrs, Ausweitung der Wohnbebauung, Beeinflussung der Pendlerströme etc.) und in welchen Teilräumen der Region welche Konsequenzen zu erzielen sind und ganz allgemein, was aufgrund der prognostischen Abschätzungen als realistisch erscheint bzw. getan werden muß. So wird nicht zuletzt auch die Überprüfung der Leitbildvorstellungen erleichtert und in Gang gehalten.
3. Vereinfachtes Prognosemodell
Nachfolgend wird in einem vereinfachten Flußdiagramm der Ablauf einer solchen zweiteiligen Grobprognose skizziert (siehe graphische Darstellung, Abb. 5), wie sie für eine Region im Bundesland Hessen durchgeführt wurde. Auf eine detaillierte Beschreibung wird verzichtet; die zahlreichen Komponenten, die bei der prognostischen Abschätzung der einzelnen Variablen zu beachten sind und die damit verbundenen Probleme können in diesem Rahmen nicht erörtert werden (vgl. hierzu u. a. Raumordnungsgutachten für die Planungsregion Mittelhessen - ROG 1973). So mußte ζ. B. bei der Prognose des aus der Eigendynamik heraus zu erwartenden Arbeitsplatzangebotes (3) auch eine Berechnung der zukünftigen Arbeitsplätze in der Land- und Forstwirtschaft vorgenommen werden, wofür aufwendige kleinräumliche Analysen zur Agrarstruktur und deren Veränderungsmöglichkeiten erforderlich waren. Eine betriebsbezogene Industrieprognose (3) wurde mit Hilfe eines differenzierten Verfahrens durchgeführt, wobei Branchentrends, betriebliche Sondertendenzen, Selbsteinschätzung durch die Betriebe, Arbeitsmarktsituation, weit- und regionalwirtschaftliche Verflechtungen und Tendenzen, Abschätzung struktureller Veränderungstendenzen etc., jeweils unterschiedlich gewichtet, berücksichtigt werden mußten. Ungeachtet dieses flexiblen und differenzierten Verfahrens verbleibt auch hier ein gewisses Irrtumsrisiko. Auch bei der Abschätzung einer außerökonomisch bedingten, also vom Arbeitsplatzangebot unbeeinflußten, zusätzlichen Zu- oder Abwanderung (11) ergeben sich zahlreiche Probleme. Wie hoch z.B. darf die reizvolle Landschaft eines Raumes, das Angebot preiswerten Baulandes etc. in Rechnung gestellt werden; wird der wachsende Anteil von Zweitwohnsitzen in einem Teilraum später zum Zuzug, zu neuen Dauer- bzw. Altenwohnsitzen führen usw.? Schätzungen sind oft nicht zu vermeiden. Im zweiten Teil der Grobprognose bereitet ζ. B. die Abschätzung der Veränderung der Pendlerbilanz (9) gewisse Schwierigkeiten; welcher Anteil von Erwerbspersonen ist ζ. B. bereit, seinen Arbeitsort zu wechseln und welche Pendelentfernung empfindet er dabei als noch zumutbar; das ist durchaus in den Teilräumen, je nach den Lebensgewohnheiten der Menschen (Lebensbereich der privaten Gestaltung) sehr verschieden und bedarf entsprechender Untersuchungen. Ungeachtet solcher Probleme konnten doch für die Teilräume und die gesamte Region Mittelhessen vergleichsweise wirklichkeitsgerechte und
Vereinfachtes Prognosemodell
Abb. 5:
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Grobprognose der gebietlichen Bevölkerungsentwicklung - vereinfachtes Flußdiagramm
„wahrscheinliche" Angaben einer „fiktiven zukünftigen Bevölkerungszahl", mit der angesichts der jeweiligen gebietlichen Eigendynamik zu rechnen wäre (7), ermittelt werden - vor allem wurden die voraussichtlich sehr unterschiedlichen Entwicklungen in den Teilräumen der Region, den sog.
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Grundversorgungsbereichen, sichtbar (vgl. ROG 1973). Diese unterschiedlichen Ergebnisse wurden im Vergleich zur jetzigen Situation (1973) in einer Karte durch zahlreiche gebietliche Entwicklungsdiagramme (siehe „Strukturbild der Grundversorgungsbereiche" im ROG Mittelhessen, 1973) dargestellt. So konnte plastisch verdeutlicht werden, wie unterschiedlich die eigendynamische Entwicklung in den verschiedenen Teilräumen verlaufen würde; dem Arbeitskräfteüberangebot in einem Teilraum stünde Mangel in einem anderen gegenüber. Im zweiten Teil der Prognose wurde dann ermittelt, welche Bevölkerungszahl erreichbar wäre (12), wenn durch Gewerbeansiedlung bzw. "Verlagerung (8), durch „Pendlerumpolung" (9) und durch außerökonomisch bedingte zusätzliche Wanderung - z.B. durch Altenwohnsitze - (11) unter Orientierung am gebietlichen Leitbild (13) die Entwicklungsmöglichkeiten des Raumes bestmöglich ausgenutzt werden. Die so prognostizierte potentielle Bevölkerungszahl (12) und die im ersten Teil der Prognose unter Beachtung der gebietlichen Eigendynamik gewonnene fiktive Bevölkerungszahl (7) bieten einen „Spekulationsrahmen" bezüglich der möglichen, teilräumlich differenzierten Bevölkerungsentwicklung. Im zweiten Prognoseteil wurde also in Beachtung des kleinräumlichen und regionalen Potentials eine begrenzte Einflußnahme, die am Leitbild der regionalen und kleinräumlichen Gestaltung (siehe fünfter Teil, „Stadt-LandVerbund") orientiert war, unterstellt und in ihren Auswirkungen auf die teilräumliche Situation und auf die Verflechtungen in der gesamten Region prognostiziert. Dabei galt es natürlich, in den verschiedenen Teilräumen zahlreiche und jeweils verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen: welche Verbesserung der Gewerbestruktur ζ. B. ist jeweils anzustreben, welche Bevölkerungsentwicklung ist zur Sicherung einer zeitgemäßen Versorgung teilräumlich erforderlich, sind hohe Fernpendleranteile abzubauen, welche Funktionen hat der Teilraum im Rahmen der gesamten Region zu erfüllen etc.? Vor allem aber war die Vereinbarkeit mit den Leitbildvorstellungen zu testen387. So stellt die skizzierte Grobprognose eine an der gebietlichen Entwicklungssituation (Matrix), an der voraussichtlichen gebietlichen Eigendynamik (7) und am gebietlichen Leitbild (13) orientierte Wenn-Dann-Vor aussage dar; sie ist also hinsichtlich ihrer Bestätigung durchaus abhängig davon, ob die unterstellten Annahmen zutreffen werden oder nicht. Auf jeden Fall verdeutlicht eine solche zweiteilige Grobprognose, welche Entwicklung aufgrund des gebietlichen Potentials möglich (I. Teil der Prognose) und bei gezielter Beeinflussung voraussichtlich erreichbar (II. Teil der Prognose) ist. Gleichzeitig deckt sie die unterschiedliche voraussichtliche kleinräumliche Dynamik auf, ist also gebietsbezogen und ermöglicht zudem in Wechselwir-
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kung mit den regionalen und kleinräumlichen Leitbildvorstellungen (13) auch deren Überprüfung und fördert deren Wirklichkeitsnähe. Das weitere Verfahren der Regionalgestaltung (siehe vierter Teil) wird nun in diesem Raum zeigen, welche Modifizierungen mit der Zeit am Leitbild vorgenommen werden müssen, welche Grobprognosen sich als zutreffend erweisen, welche korrigiert werden müssen. Auf jeden Fall kann auf der Basis der oben beschriebenen Analyse der Entwicklungssituation (siehe Matrix), im ständigen Wechselspiel mit einer kurzfristig zu wiederholenden Grobprognose (siehe Flußdiagramm) jene „offene Planung" der regionalen Gestaltung ablaufen, wie sie im vierten Teil dieser Arbeit empfohlen wird. Die Voraussetzungen bezüglich der prognostischen Information und der Erkenntnis wichtiger Abhängigkeiten und Wechselwirkungen sind gegeben. Für die Zwecke einer pragmatischen und dennoch zielorientierten Regionalgestaltung erwies sich das hier angedeutete „raumnahe" Verfahren gebietlicher Grobprognose als voll ausreichend, absolut „wahre" Voraussagen wurden und werden nicht benötigt.
Vierter Teil
Regionale Lebensraumgestaltung durch verbesserte Verfahren „Von einer gewissen Schwelle der Entwicklung ab müssen . . . qualitativ andere Formen der Legitimierung von Entscheidungen gesucht werden." N . LUHMANN, 1 9 6 9
1. „ O f f e n e " Planung
1.1 Zur Konzeption In der, sagen wir, „naiven" Planungstheorie unterscheidet man im allgemeinen drei Komplexe des Planungsablaufes, vereinfachend zu kennzeichnen als: 1. die Formulierung eines Zieles, 2. die Auffindung eines Modells zur Erklärung der Zusammenhänge und der Entwicklung des Planungsgegenstandes, 3. die Suche und Auswahl der Handlungsalternativen zur Zielerreichung. Demgemäß wäre also zunächst ein Ziel festzulegen und dann nach dem optimalen Weg, dieses zu erreichen, zu suchen. Aber so ist zu fragen: muß Planung eigentlich gemäß einer solchen festgeschriebenen Reihenfolge ablaufen? Liegt hier nicht die Annahme zugrunde, Planung müsse, ihrem „Wesen" entsprechend, eindeutig zielorientiert sein, ja, Planungen ließen sich nur aus vorgegebenen Zielen ableiten? Fast alle Versuche zur Definition der Planung gehen von einer solchen immanenten Zielorientierung aus. Dagegen betont ζ. Β . H . LENK ( 1 9 7 2 , S. 75), daß eine derartige essentielle, also die angebliche Wesenheit erfassende, Charakterisierung der Planung nicht gerechtfertigt ist. Folglich könne auch keine auf einer vermeintlich „wahren Wesensdefinition" beruhende Planungstheorie gewonnen werden388. Die Planung „an sich", aus der durch „wesensgemäße" Definition eine allgemeine Planungstheorie und ein Ablaufschema abzuleiten sei, gibt es nicht. Die auf der angeblichen Einheit des Planungsbegriffes aufbauenden Versuche, zu einer in unterschiedlichsten Bereichen praktikablen, allgemeingültigen Planungskonzeption zu gelangen, müssen scheitern389; sie unterliegen dem bereits hinlänglich kritisierten Irrtum des strikten Essentialismus, der durch angebliche Wesensdefinitionen Erkenntnis zu gewinnen sucht390. Definitionen sind jedoch lediglich Instrumente der gegenseitigen Verständigung, keineswegs aber absolut evidente Einsichten. In der Antwort auf die Frage, „was denn Planung nun eigentlich sei", Aussagen über einen zwangsläufigen und einzig sinnvollen Aufbau und Ablauf der „Planung" zu erhoffen, ist abwegig. So ist Planung durchaus auch vorstellbar ohne vorgegebene oder festliegend anzustrebende, konkrete Ziele. Ziele können sich ζ. B. erst während
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des Planungsprozesses herauskristallisieren, und häufig ist es sinnvoll, sie ständig weiter zu verändern. Planung ist also keineswegs zwangsläufig Verwirklichung vorgegebener Ziele, sondern kann ebenso - vor allem als Folge der Konfrontation mit neuen Informationen, Entwicklungen und Voraussagen - Zielfindung und Zieländerung einschließen. Das erscheint schon insofern einleuchtend, da die konkreten Ziele des menschlichen Handelns potentiell relativ und vorläufig sind; sie sind stets mehr oder minder provisorisch. Ja, bisheriges Handeln nach Erfahrung abwandeln zu können, also nach dem Prinzip Versuch-Irrtum-Fehlerbeseitigung zu verfahren, dürfte eine wesentliche Voraussetzung zur Sicherung des Überlebens sein. Wir haben bereits mehrfach darauf verwiesen, daß tatsächliches Verhalten und sinngebende Bewertungen eine gewisse Flexibilität und Unwägbarkeit besitzen müssen, auch weil der Entscheidende aufgrund selektiver Information niemals alle möglichen Alternativen vor Augen hat und in der Lage ist, Konsequenzen vollkommen abzuschätzen und zu bewerten. Der Mensch muß in seinem Verhalten offen sein für neue, noch nicht bekannte Möglichkeiten, da er in der Regel unter „Unsicherheit" entscheidet. Zielsetzungen (durchaus auch solche der Lebensraumgestaltung) sind daher als potentiell dynamisch und instabil anzusehen391. Da sich Ziele wandeln, könnte bislang auf optimale Zielverwirklichung gerichtetes Handeln plötzlich als völlig sinnlos erscheinen. Von vornherein ist daher die Natur des menschlichen Verhaltens nicht nur dadurch gekennzeichnet, rational und optimal einem Ziel zuzustreben, sondern gleichzeitig verbleibt ein zunächst irrational erscheinender, tatsächlich aber sehr vernünftiger Spielraum zur Berücksichtigung möglicher anderer Ziele. Es gibt nicht das Ziel des Handelns; Ziele sind in der Regel hochgradig komplex und variieren hinsichtlich ihrer Präferenzen. Der Mensch schließt Kompromisse, in sich selbst und gegenüber anderen. In dieser potentiellen Unwägbarkeit und ständigen „Unruhe" der subjektiven Entscheidung, ja, in ihrer zwangsläufigen Wandelbarkeit, liegt auch der Grund, warum objektive, verbindliche Kriterien oder statistische Entscheidungsprinzipien (ζ. B. gemäß der normativen Entscheidungstheorie) oder die eindeutigen Lösungsverfahren der linearen Optimierung für viele Bereiche einer menschengemäßen Planung letztlich kaum anwendbar sind. Sie sind es um so weniger, je komplexer und differenzierter das Planungsproblem ist. Freilich schließt das nicht aus, daß sich der Mensch in straffer Verfolgung eines konkreten Zieles auch gemäß der statistischen Entscheidungstheorie verhalten kann, aber viele Situationen lassen ein solches Entscheidungsverhalten gar nicht zu, sie erfordern statt dessen spontanes, intuitives oder
Zur Konzeption
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experimentelles Verhalten; wollte daher der Mensch stets gemäß der normativen Entscheidungstheorie handeln, wäre er manchen Situationen nicht gewachsen, müßte er scheitern. Bewertungsabhängige Entscheidungen, und das sind fast alle Entscheidungen, fallen meist recht subjektiv aus, unterliegen intuitiven Einflüssen, werden oft kurzfristig getroffen, ändern sich häufig. Würden wir also den Planungsprozeß auf klare und beständig festliegende Ziele hin orientieren und dann nach Optimierungsverfahren zur Zielerreichung suchen und entsprechend handeln, blieben uns - zunehmend mit der Zeitdauer - negative Erfahrungen nicht erspart392, begleitet von beträchtlichen Fehlinvestitionen. Je differenzierter eine Gesellschaft ist, desto komplexer und unbestimmbarer werden die in ihr und im Raum wirkenden Abhängigkeiten; das gilt zumindest, solange auf eine alles erfassende Reglementierung, auf ein totalitäres System, verzichtet wird. Die Abhängigkeiten und Wechselwirkungen sind immer weniger mit Hilfe operabler mathematischer Modelle erklärbar und prognostizierbar. Das heißt aber auf den Planungsprozeß bezogen, die Folgen einer langfristigen Planung werden immer weniger absehbar. Langfristig festlegende Planung ist um so problematischer, je detaillierter sie erfolgt und desto weiter sie in die Zukunft ausgreift393. Folglich ist es viel sinnvoller, für den tatsächlichen Planungsprozeß eine grundsätzliche Offenheit der Zielsetzung zu fordern. Entsprechend wäre das Planungsverfahren zu organisieren. Für die Praxis der Planung erscheinen daher heuristische Verfahren, die die potentielle Unwägbarkeit der Entscheidung, den Wandel, die Vielfalt (Komplexität) denkbarer Zukunftsbewältigung besser berücksichtigen, angemessen394. Danach sind die konkreten und detaillierten Planungsziele und die damit verbundenen Entscheidungen nicht von vornherein und dauerhaft festgelegt, sondern sie sollen sich im Laufe der tatsächlichen Entwicklung Schritt für Schritt als diejenigen Lösungsvorschläge ausformen, die jeweils am ehesten versprechen, den Wertsetzungen der übergeordneten Normen, den geltenden Sinngebungen gerecht zu werden. Das heißt also, die getroffenen Planungsentscheidungen (bzw. konkreten und detaillierten Planungsziele) müssen, jenseits ihrer Bindungen an allgemein akzeptierte Normen und Leitvorstellungen, möglichst leicht revidierbar, an veränderte Gegebenheiten anpassungsfähig sein. Die Planung muß als Prozeß ablaufen, der seine vielfältigen Festlegungen ständig der kritischen Kontrolle aussetzt und der Korrektur unterzieht. Die konkreten Ziele sind so als potentiell instabil anzusehen; sie sind ständig neu herauszuarbeiten in Wechselwirkung mit den Ergebnissen einer ständigen Situationsanalyse, neuer Prognosen und in Kenntnis der Handlungsmöglichkeiten. Empfiehlt man, daß sich die konkreten Planungsziele immer erst im
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Rahmen des Planungsprozesses flexibel und situationsabhängig herausdestillieren, dann liegt es nahe, auch die den einzelnen Planungszielen zugrundeliegenden Normen und Wertvorstellungen als veränderbare Größen, die rückkoppelnd durch die Ergebnisse und Maßnahmen der laufenden Planung beeinflußt werden, in den Planungsprozeß einzubeziehen. Die Relativierung und der Wandel so vieler unserer traditioneller Wertvorstellungen spricht für eine solche Einbeziehung. Vor allem kybernetisch orientierte Konzeptionen bieten sich für eine solche sowohl Ziel- wie auch wertflexible Planung an. So legte ζ. Β . H . OZBEKHAN ( 1 9 6 9 , S. 1 1 8 f.) mit seinem „human-action-model" einen Ansatz vor, der sowohl zielabändernde Rückkoppelungen als auch Norm- und Wertänderungen einbezieht. Planung wird also als ein normenflexibler und zieldynamischer Prozeß verstanden, der gewissermaßen „rollend" seine Orientierung sucht und demgemäß Planungsentscheidungen und -maßnahmen vergleichsweise flexibel auswirft und diese rückkoppelnd und kontrollierend wirken läßt. Allerdings sind solche wertungs- und zielflexible Planungskonzeptionen über den Entwurf hinaus kaum zu praktikablen Modellen fortentwickelt worden. Ihre Konkretisierung am Fall, und so auch für die Praxis der Lebensraumgestaltung, steht noch weitestgehend aus. Gleichwie wird mit einem solchen Ansatz, in Einsicht in die Variabilität sozialer Entwicklung, darauf verzichtet, die Zielformulierung als zwangsläufigen Anfang eines Planungsprozesses zu sehen, so wie dieser auch keinem Ende, der gewissermaßen abschließenden Zielerreichung zustrebt; vielmehr wäre Planung als ein Prozeß ständiger Wechselwirkung als ein wert- und zielflexibler Planungskreislauf zu begreifen395. Nun ist allerdings zu bedenken, daß vielen Normen, Werten und Sinnorientierungen des menschlichen Handelns doch eine gewisse Stabilität anhaftet. Das Bestreben der Kulturen, Gesellschaften und Personen, Sinngebung aufzubauen oder zu erhalten, ist sicher ebenso alt und permanent, wie die Versuche, diese ggf. in Frage zu stellen oder zu variieren. Erhaltung oder Wandel, so oder so ist eine Tendenz zur Sinnorientierung, zur ethischen Verankerung vorhanden. Es wird daher die Frage zu erörtern sein, ob es nicht doch zur Sicherung einer erfolgreichen Lebensraumgestaltung der Erarbeitung vergleichsweise stabiler, ethisch relevanter Leitvorstellungen bedarf, die jenseits intellektueller Moden liegen, um, und hier sei der viel strapazierte Begriff gestattet, unsere „Umweltprobleme" bewältigen zu können (siehe Kap. 1.1.1; fünfter Teil, Kap. 1). Eine in der Setzung der konkreten Ziele flexible Planung sollte also nicht von vornherein die Orientierung an übergeordneten Leitvorstellungen ausschließen; diese selbst sind weniger als oberste Zielkategorien, sondern vielmehr als Grundhaltungen, als Einstellungen und Prinzipien, gemäß derer man den Lebensraum gestalten will, zu interpretieren. Auf
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jeden Fall aber kann mit der angedeuteten Konzeption einer zieloffenen bzw. zielfindenden Planung die Forderung, daß als erster Schritt eines Planungsprozesses das Ziel (möglichst konkret) zu formulieren sei, getrost aufgegeben werden; dies vor allem dann, wenn es sich um Dauerplanung komplexer sozialer und ökonomischer Strukturen bzw. um die Daueraufgabe der Gestaltung unseres Lebensraumes handelt; hier ist die rückkoppelnd „zielflexible" Planung einer gewissermaßen „technokratischen" Planung, die starrer Zielsetzung folgt, unbedingt vorzuziehen. Es ist nur folgerichtig, daß angesichts des Charakters der menschlichen Entscheidung auch die zweite Forderung einer „naiven" Planungstheorie, die Auffindung von Modellen, die die Entwicklung erklären, kaum zu erfüllen ist. Es lassen sich keine operablen Modelle gewinnen, die die gesamte Komplexität der Entscheidung und des zielgerichteten Verhaltens - und darauf beruhen soziale Zusammenhänge und die Entwicklung des Planungsproblems - erfassen und prognostizierbar machen. Die Erkenntnistheorie hat hinlänglich verdeutlicht, daß solche ganzheitlichen „Totalmodelle" nicht zu gewinnen sind. Folglich gibt es auch kein Gesamtmodell der regionalen oder gebietlichen Entwicklung, aus dem sich deren Ziel und Ablauf ermitteln läßt. Alle bisher in der Regionalplanung verwendeten oder angebotenen Modelle sind so auch letztlich nur Teilmodelle, die stets bestimmte Einflußgrößen ausklammern. Damit beruhen sie meist auf an sich unzulässigen, mehr oder minder problematischen Abstraktionen der Wirklichkeit. Sie beziehen zahlreiche Prämissen und subjektive Bewertungen ein. Ihr mathematischer Aufwand darf nicht über ihre inhaltliche Unzulänglichkeit hinwegtäuschen. In Wirklichkeit verfügen wir über kein operables Modell, das uns das Verhalten des Menschen (auch das raumbezogene) vollkommen erklärt, nachvollziehen und voraussagen läßt. Je realitätsnäher ein solches Modell wäre, desto komplexer würde es sein und desto deutlicher müßte es die potentielle Unwägbarkeit des Verhaltens herausarbeiten. Die der Wirklichkeit am meisten gerechtwerdende Theorie wäre jene, die uns am besten die Relativität und potentielle Unwägbarkeit des Verhaltens und der Entscheidung verdeutlicht, eben eine Theorie, die zwar erklärt, aufgrund des Erklärten aber keine Voraussage ermöglicht (vgl. auch Anmerkung353). Es kann also für die Praxis der Planung keineswegs unterstellt werden, daß sich für den Planungsgegenstand, also auch für regionale sozio-ökonomische Zusammenhänge, operable Modelle gewinnen lassen, die die Entwicklung erklären und verläßlich Voraussage und zielgerichtete Beeinflussung der zukünftigen Entwicklung ermöglichen; ganz zu schweigen davon, daß beeinflussende Maßnahmen oft erst wirken, wenn die Bedingungen, die sie
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beeinflussen sollen, sich bereits wieder gewandelt haben, und so letztlich ganz andere als die gewünschten Effekte eintreten. So sollte vor allem bei dauerhafter sozio-ökonomischer (regionaler) Planung die Ziel-Modell-Mittel-Kombination der Planungstheorie durch einen ständigen Umlauf abgelöst werden, in dem Situationsanalyse-Bewertung(Norm- bzw. Sinnorientierung)-Vorausschätzung-Erörterung-Maßnahmen in wechselseitiger Beeinflussung miteinander verbunden sind (siehe auch Abb. 6). Bezogen auf die regionale Lebensraumgestaltung wären in Kenntnis der spezifischen gebietlichen Struktur und Situation, der geltenden Normen und wertorientierten Leitvorstellungen sowie unter Beachtung der vorausgeschätzten Entwicklung (Grobprognose), gebietsspezifische vorläufige Ziele zu erarbeiten; diese sind politisch zu erörtern und durch entsprechende Maßnahmen solange anzustreben, bis sie im ständig umlaufenden Planungsprozeß durch veränderte Ziele abgelöst werden396. Es wäre also ein Planungsverfahren anzuwenden, das, so wie die tatsächlichen Veränderungen erfolgen, in Konfrontation mit den norm- bzw. sinnorientierten Leitvorstellungen, die konkreten Ziele und zielerreichenden Maßnahmen immer wieder neu herausarbeitet und so schrittweise Zukunft „verwirklicht". Ob Planung erfolgreich sein wird, hängt nicht von der vorherigen Festsetzung eines konkreten Planungszieles ab, sondern vor allem vom Verfahren, von der angewandten Strategie, durch die gewährleistet werden muß, daß die konkreten Ziele und Entscheidungen situationsgerecht und flexibel herausgearbeitet werden.
1.1.1 Notwendigkeit wert- und sinnorientierter Leitvorstellungen Die angedeutete Konzeption darf nicht zu dem Trugschluß verführen, alle zielbeeinflussenden Entscheidungen würden sich während des Planungsprozesses gewissermaßen von selbst herausbilden, der Planungsablauf sei also nur in Gang zu setzen, die Richtung finde sich von allein. Auch zieloffene Planung kann nicht auf sinngebende Orientierung verzichten. Trotz der seit geraumer Zeit vor allem in den westlichen Ländern sichtbaren Wertrelativierung sind doch viele gesellschaftliche und individuelle Aktivitäten als Versuche, auf diese oder jene Weise Sinnorientierung zu finden, anzusehen. Und es bleiben in der Tat Zweifel, ob eine Gesellschaft in ständigem Taumel zwischen unterschiedlichen und dissonanten Sinn- und Wertaspekten die zukünftigen Gestaltungsaufgaben zu bewältigen vermag, zu groß ist das Risiko jeweils gegenläufiger oder das Notwendige versäumen-
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der Maßnahmen. Eine gewisse Übereinstimmung bezüglich dessen, was langfristig wert sein soll, angestrebt zu werden, ist erforderlich. Andererseits ist die Möglichkeit, geltende Werte zu variieren, ebenso notwendig, um irrtümliche Orientierungen revidieren zu können. Zweifellos aber wachsen die Chancen, Zukunft wohltuend zu gestalten, wenn dem Handeln und Planen sinnorientierte Leitvorstellungen zugrundeliegen, die diesem „Wohltun" dienen wollen und zugleich den Bedürfnissen und Eigenarten der Menschen gerecht werden; dies um so mehr, wenn sie eine freiwillige und breite Zustimmung erfahren. Da es kaum absolut „wahre" sinnorientierte Leitvorstellungen geben kann, müssen sie zwar der Anpassung bzw. Veränderung offen sein, bleiben aber dennoch für zukunftsorientiertes Handeln hilfreich - auch um die Vielfalt individueller Aktivitäten in einer pluralistischen Gesellschaft im notwendigen Maße koordinieren zu können. Solche sinnorientierten Vorstellungen werden zwangsläufig sehr allgemein gefaßt sein und sich mehr oder minder auf ethisch ausgerichtete Grundaussagen beschränken. Die Festlegung der Auffindung dieser obersten Planungsgrundlagen, die gewissermaßen prinzipielle Einstellungen, Grundhaltungen zukunftsorientierten Handelns (bzw. der Lebensraumgestaltung) darstellen, ist einiger Mühe wert. Es ist ja keineswegs sicher, daß die gerade geltenden, momentan bevorzugten Auffassungen, Normen und Bewertungen - seien sie auch ökonomisch oder politisch bislang bewährt - als längerfristige sinnorientierte Planungsgrundlage vertretbar sind und es könnte leichtfertig sein, sie, gewissermaßen kommentarlos, als „vorgegeben" hinzunehmen. So stehen wir mit der Festlegung der letztlich sinngebenden Grundlagen für die Planung vor dem eigentlichen Entscheidungsproblem, wenn wir nicht die jeweils geltenden Normen, Ideale, die jeweils aktuellen Schwingungen des Zeitgeistes als tabu, als von vornherein und stets richtig, ansehen wollen. Und das wäre zweifellos, die Irrungen intellektueller Moden bedenkend, unklug. Es bewahrt also auch die Konzeption der „offenen" Planung nicht vor der Suche nach und der grundsätzlichen Entscheidungen für übergeordnete sinnund wertorientierte Leitvorstellungen397. Dabei sind möglichst beständige und grundsätzliche, nicht aber verengte, sondern flexibel zu realisierende Leitvorstellungen398 aufzuzeigen, bei denen eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie sich auch längerfristig bewähren. Anderenfalls wüchse die Gefahr, daß sich, im ständigen Hin und Her der Grundsätze, während des Planungsprozesses gegenläufige konkrete Ziele herausbilden. Jeweils neue Maßnahmen könnten dann den vorherigen immer wieder entgegenwirken. Desorientierung und ineffektiver Einsatz der Mittel würden zunehmen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß immer wieder der Wunsch nach verbindlichen Normen und Werten, nach übergeordneten
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Zielen, ja nach weltanschaulicher Fundierung als den erhofften Fixpunkten der Planung geäußert wird. Darin liegt eine Aufforderung an die praktische Philosophie, universalistische aber gleichzeitig praxisorientierte Entwürfe bereitzustellen. Doch zutreffend wendet der Philosoph (H. LENK, 1972, S. 101) ein, daß die Hauptschwierigkeiten weniger in „der neuen begrifflichen Formulierung von Leitideen und im Entwerfen von humanen Sozialplänen, als vielmehr in der sozialen Durchsetzung solcher Pläne" liegen. Auf ein überquellendes Angebot faszinierender Utopien oder idealer Modelle der gesellschaftlichen und räumlichen Existenz des Menschen kann umso eher verzichtet werden, je weiter diese Vorstellungen von der praktischen Realisierbarkeit entfernt sind. Dessen ungeachtet bedarf es neuer schöpferischer Anstrengungen, um realitätsgerechte sinn- und wertorientierte Leitvorstellungen auch der Umweltgestaltung zu erarbeiten. Zweifellos können wir uns dabei nicht auf derart allgemeine normative Festlegungen, daß das ökologische Gleichgewicht auf unserem Planeten zu sichern und hygienische Umwelt- und Lebensbedingungen zu schaffen seien, beschränken399. Es ist erforderlich, normative Leitvorstellungen im Hinblick auf die Planung inhaltlich stärker zu konkretisieren, ohne den universalistischen Aspekt aus den Augen zu verlieren. Hierbei werden sowohl die Ergebnisse der Verhaltensforschung, der Sozialpsychologie, der Kulturanthropologie und -Soziologie, der Organisations- und Verwaltungswissenschaft, der Wirtschaftswissenschaften, der Geographie, Biologie, Ökologie, Werttheorie und Moralphilosophie usw. zu berücksichtigen sein, auch wenn sie sich nicht nahtlos ineinanderfügen und widerspruchsfrei ergänzen. Auf die integrierenden Bemühungen zur Entwicklung praxisgerechter wertorientierter Leitvorstellungen (auch der Raumnutzung) kann nicht verzichtet werden (siehe auch fünfter Teil, Kap. 1). Die gebietlichen Besonderheiten und die situations- und bewertungsspezifischen Verhaltensweisen der Menschen machen es notwendig, über die allgemeinen Leitvorstellungen hinaus, auch gebietsspezifische Grundsätze der lebensräumlichen Gestaltung zu entwerfen (vgl. fünfter Teil, Kap. 1.3), um so einen praxisbezogenen Orientierungsrahmen für die daraus abzuleitenden konkreten gebietlichen Planungsziele zu gewinnen. Für den Prozeß der regionalen Lebensraumgestaltung empfiehlt es sich also, von einer Hierarchie zukunftsorientierter Vorgaben auszugehen. Aus „oben" stehenden vergleichsweise allgemeinen Leitvorstellungen werden nach „unten" zunehmend konkretisierte und detaillierte Festlegungen abgeleitet, gemäß dem folgenden Aufbau:
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1. möglichst allgemein akzeptierte, wert- und sinnorientierte universalistische LEITVORSTELLUNGEN der Raumnutzung 2. daraus abgeleitete gebietsspezifische allgemeine GRUNDSÄTZE der Raumnutzung und Gebietsentwicklung 3. das integrierende gebietsspezifische flächenbezogene LEITBILD 4. konkrete und detaillierte gebietliche PLANUNGSZIELE als Ergebnisse der politischen Erörterung und heuristischer Strategie. Der Grad der Stabilität dieser zukunftsorientierten Aussagen sollte dabei von „oben" nach „unten" abnehmen. Das Planungsverfahren müßte also sicherstellen, daß die detaillierten gebietlichen Planungsziele, um den universalistischen Leitvorstellungen in den veränderlichen Situationen entsprechen zu können, möglichst leicht zu variieren sind. Die wert- und sinnorientierten Leitvorstellungen wie auch die gebietsspezifischen Grundsätze sollten ihrerseits so konzipiert sein, daß sie nicht immer wieder völlig verändert werden müssen, durchaus aber, falls es neue Erfahrungen oder geänderte Bedingungen nahelegen, im Rahmen des ständigen Planungsprozesses variiert werden können. Um allerdings zu vermeiden, daß die aus den Leitvorstellungen abgeleiteten Modelle der Raumnutzung bzw. gebietsspezifischen flächenbezogenen Leitbilder (siehe 3.) gewissermaßen dem Moment „hörig", flüchtiger Mode folgend, ohne Verwurzelung ständig der beliebigen Beeinflussung offen, „herumirren", müssen diese sinnorientierten Leitvorstellungen auf möglichst fundierten anthropologischen Erkenntnissen ruhen, die frei von ideologischer Einseitigkeit und Starrheit, dem Menschen weitestgehend gerecht werden. Bleibt festzuhalten, daß die dargelegte Planungskonzeption integrierende, wert- und sinnorientierte Überlegungen und Entscheidungen noch vor dem Planungsablauf (Primärentscheidungen) keineswegs entbehrlich macht. Es kann nicht darauf vertraut werden, daß solche „ausformulierten Leitentwürfe" mit dem Planungsablauf von selbst entstehen oder etwa durch Befragung der Bevölkerung zu gewinnen sind400. Eine interdisziplinär orientierte schöpferische Anstrengung ist nicht zu vermeiden. Voraussetzung für eine erfolgreiche und sinnvolle Planung ist also, daß eine auf vielfältigem Wissen beruhende sinngebende Leitvorstellung vorhanden ist, ohne selbst schon konkretes und detailliertes Ziel zu sein, vor allem aber, daß ein Verfahren abläuft, das im Wechselspiel mit der tatsächlichen Entwicklung und diesen Leitvorstellungen, durch politische Erörterung legitimiert, die konkreten Ziele herausarbeitet und entsprechende Maßnahmen einleitet. Da Leitvorstellungen nicht a priori für alle Zeiten festliegen und vor allem in ihrer spezifischen räumlichen Konkretisierung (Grundsätze) durchaus auch Schwankungen unterliegen, darf offene, zielfindende Planung
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nur schrittweise und nicht langfristig festlegend ablaufen; Planung bleibt dann in konstruktiver Weise provisorisch. Der Vorwuf, eine solche Planungskonzeption empfehle letztlich das „Durchwursteln" (muddling through), läßt sich um so leichter ausräumen, je besser es gelingt, Leitvorstellungen zu entwickeln, die über eine so große innere Flexibilität verfügen, daß zwischenzeitliche Schwankungen der Bewertungen und konkreten und detaillierten Ziele möglich sind, ohne gegensätzliche, sich neutralisierende Maßnahmen auszulösen. Das wird um so eher gelingen, je besser die Leitvorstellungen dem „Wesen" des Menschen bzw. einem wirklichkeitsgemäßen Menschenbild gerecht werden und je leichter das Planungsverfahren aufeinander abgestimmte konkrete Ziele herausarbeitet, je besser also die offene zielfindende Planung „funktioniert". Offene zielfindende Planung zu betreiben, bedeutet also keineswegs, auf langfristig sinnorientierte Leitvorstellungen (also oberste Zielsetzungen) zu verzichten. Im Gegenteil, um zu verhindern, daß eine flexible Planung nicht desorientiert zwischen den denkbaren Alternativen detaillierter Planung hinund herspringt, bedarf sie der Führung durch universalistische sinn- und wertorientierte Leitvorstellungen, die ihrerseits die Möglichkeit für innovative Entwürfe der konkreten Lebensraumgestaltung offenhalten. Eine lediglich adaptive Planung401 oder auffangende und vorbeugende Planung, die bewußt aus der Sorge vor irrtümlichen Zielsetzungen eine langfristige Orientierung vermeiden will, ist um so weniger sinnvoll, je überzeugender die Leitvorstellungen eine menschengerechte wünschenswerte Zukunft konzipieren402 und je weniger sie zugleich die dahinführenden Wege vorschreiben bzw. einschränken403. Unterhalb der zukunftsorientierten Leitvorstellungen muß die Vielfalt der Möglichkeiten, sie zu verwirklichen, wie auch die Chance, sie nach Erfahrung rückkoppelnd zu modifizieren, „offen" bleiben. So kann insgesamt die notwendige Flexibilität der Planung gesichert werden, ohne sie in Desorientierung fallen zu lassen. H. KLAGES (1971, S. 100 f.) gibt einige Anregungen, wie die Flexibilität einer umfassenden Planung ermöglicht werden kann. So wären ζ. B. jeweils die sachspezifisch vertretbar kürzesten Zeithorizonte einer umfassenden Planung zu wählen, „um die sozialen Kosten von Ziel- oder Strategieänderungen auf ein Minimum zu senken". Auch wären diejenigen Ziele und Strategien zu bevorzugen, „die korrigierenden Änderungen verhältnismäßig wenig Widerstand entgegensetzen". Die ausgewählten konkreten und aktuellen Ziele sollen routinemäßig der regelmäßigen Überprüfung unterworfen werden. Vor allem aber ist Planung in einem „Geist" zu betreiben, der stets neue Lösungen, Konzeptionen, Methoden einbezieht, der das Potential der Alternativen steigert, statt es einzuschränken. Unsere Planungskonzeption ist daher zweipolig: auf der einen Seite die universalistischen sinnorientierten
Legitimation durch regionale Verfahren
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Leitvorstellungen, auf der anderen Seite die schrittweisen Versuche, diese durchzusetzen. Durch ein solches „sinnorientiertes Durchwursteln" dürften sich die Nachteile sowohl einer starren Zielverfolgung wie auch des völligen Verzichts auf längerfristige wert- und sinnbezogene Orientierung vermeiden lassen. In dem noch vorzustellenden Ansatz zu einer solchen offenen zielfindenden Planung, dem „Verfahren der schrittweisen wechselseitigen Bezugnahme" (Kap. 2), wird versucht, die aufgezeigten Gesichtspunkte bei der regionalen Lebensraumgestaltung anzuwenden.
1.2 Legitimation durch regionale Verfahren Die bei der regionalen Lebensraumgestaltung hinsichtlich der konkreten Ziele zu treffenden Entscheidungen beziehen sich auf sehr komplexe und in ihrer gebietlichen Differenzierung außerordentlich vielfältige Sachverhalte. Es ist kaum möglich, die Auswirkungen all der verschiedenen raumbezogenen Maßnahmen im voraus zu kennen und entsprechend zu berücksichtigen. Immer bleibt eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Effekte des Handelns. Folglich kann es auch keine allein richtigen, generell sinnvollen maßnahmebezogenen Entscheidungen geben. Stets sind mehrere Lösungen denkbar. Da die Festlegung konkreter Ziele bzw. Maßnahmen also nicht an das Kriterium der alleinigen „Wahrheit" bzw. Richtigkeit zu binden ist, gewinnt die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung besondere Bedeutung. Wie werden die konkreten Ziele gefunden, wer entscheidet, wodurch legitimiert? In der Praxis werden sehr viele Entscheidungen durch die Verwaltung getroffen, und nicht jeder Sachverhalt ist so eindeutig durch Gesetze erfaßt, als daß der Verdacht „willkürlicher" Entscheidung stets vermieden werden kann. N. LUHMANN (1969, S. 203) betont: „Nur wenn und soweit Entscheidungen optimale Rationalität erreichen oder an eindeutigen Kriterien der Richtigkeit kontrolliert werden können . . . , ist es prinzipiell gleichgültig . .., wie die Entscheidungen zustande kommen". Soll „planende Verwaltung" vom Menschen akzeptiert werden, soll das Gefühl des „Beherrschtseins" abgebaut werden, dann müßten die Entscheidungen möglichst rational und gemäß einsichtiger und klarer Kriterien erfolgen. Messen wir die Rationalität der Zielfindung u. a. daran, in welchem Ausmaß es gelingt, die verschiedenen Möglichkeiten der Entscheidung innerhalb einer begrenzten Zeit „zu erfassen und gegeneinander abzuwägen" (N. LUHMANN, 1969, S. 204), dann hängt Rationalität auch vom Umfang der verfügbaren Informationen ab. Zur Steigerung der Rationalität einer Entscheidung wäre es also wichtig, daß
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möglichst alle relevanten Informationen verfügbar sind. Dann kann die selektierende Entscheidung hinreichend informiert erfolgen. Diese Voraussetzungen sind aber bei der Raumordnung, Landes- und Regionalplanung um so weniger gegeben, je detaillierter die Planungen für die Vielzahl unterschiedlicher Räume festgeschrieben werden. Eine Landesbehörde ζ. B. besitzt keine ausreichende Kenntnis der sehr differenzierten Voraussetzungen für die zukünftige Entwicklung in den zahlreichen Teilräumen des Landes. Diese kann erst durch gebietsspezifische Situationsanalysen gewonnen werden. Sie kann nicht durch die bisher verfügbaren Daten der statistischen Landesämter und Regionen ersetzt werden. Annähernd rationale und wirklichkeitsgerechte Entscheidungen zur gebietlichen Entwicklung können aber nur dann getroffen werden, wenn die Situation und die Bedingungen eines Raumes ausreichend beachtet werden. Dann erst wird die gebietsspezifische Relativierung der Entscheidung bzw. der Zielformulierung möglich, können gebietliche Besonderheiten berücksichtigt und entsprechend genutzt werden. Es sind also die komplexen Zusammenhänge der Entwicklung in ihrer besonderen gebietlichen Ausprägung so weit wie möglich herauszuarbeiten. So ließe sich zwar die Rationalität planerischer Entscheidung steigern, niemals aber in dem Maße, daß sich allein daraus die volle Legitimation ergibt und sich die Frage, wie die Zielfindung zustande kam, erübrigen würde. Es ist also trotzdem erforderlich, raumplanerische Entscheidung durch einsichtige Verfahren zu rechtfertigen. Da die Bevölkerung einer Region, als die an der Entwicklung Beteiligten bzw. von ihr Betroffenen, ohnehin die wesentliche Größe innerhalb der Lebensraumgestaltung und -nutzung darstellt, ist Legitimation vor allem durch deren Einbeziehung zu erreichen. Die planerischen Entscheidungen müssen der Kontrolle der Betroffenen unterliegen. Das heißt nun allerdings keineswegs, daß auf die Vorlage von Leitvorstellungen, gebietsspezifischen Grundsätzen sowie raumbezogenen Gestaltungsvorschlägen verzichtet werden kann. Die Beteiligung der Betroffenen bedeutet ja nicht, daß sich damit gewissermaßen automatisch sinnvolle, wertorientierte Leitbilder und Modelle der Lebensraumgestaltung sowie entsprechende konkrete Planungsziele herausbilden. Vielmehr ist es geradezu unverzichtbar, daß die dazu befähigten Fachleute oder Universalisten sowohl normative Leitvorstellungen und Grundsätze (vgl. fünfter Teil, Kap. 1.2 und 1.3) wie integrierende konkrete Zielvorstellungen erarbeiten und dem Planungsverfahren zur Auswahl „anbieten". Auf die besondere Leistung der jeweils besonders Begabten oder Ausgebildeten kann nicht verzichtet werden; das ist keine elitäre Anmaßung, sondern die Folge der ungleichen Verteilung jeweils besonderer Leistungsfähigkeit, auf deren besonderen Nutzen zu verzichten, töricht wäre. Um möglichst wirklichkeitsgerechte sowie legitimierte Entscheidungen zu erbringen, sollte das
Legitimation durch regionale Verfahren
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Verfahren, aufbauend auf einer gründlichen gebietsspezifischen Analyse der Entwicklungssituation, wertorientierte Leitvorstellungen sowie gebietsspezifische Grundsätze einschließlich ihrer zielsetzenden Konsequenzen so zur Diskussion stellen, daß die Betroffenen beeinflussend mitwirken können und am Entscheidungsprozeß beteiligt sind. Daher ist es sinnvoll, wenn das Planungsverfahren im wesentlichen innerhalb der betroffenen Region abläuft und nicht auf Landes- oder Bundesebene, gewissermaßen in Fernsteuerung der gebietlichen Entwicklung. Das schließt allerdings nicht aus, daß wertund sinnorientierte Leitvorstellungen sowohl auf Bundes- oder Landesebene als auch regional erarbeitet, erörtert und abgestimmt werden. In wechselseitiger Kontrolle zwischen der beobachteten Entwicklung - der Vorausschätzung - dem gebietsspezifischen Leitbild - der politischen Erörterung durch die Betroffenen - und den Maßnahmen sollte eine ausreichende Legitimation der Regionalplanung, als einer „offenen" Planung, erreichbar sein. Mit dem nachfolgend vorgeschlagenen „Verfahren der schrittweisen wechselseitigen Bezugnahme" soll ein Weg aufgezeigt werden, wie die gebietliche Entwicklung und die Gestaltung der räumlichen Lebensbedingungen ausreichend legitimiert, und mit der Aussicht, wirklichkeitsgerechte und wünschenswerte Ergebnisse hervorzubringen, auf regionaler Ebene durchgeführt werden kann.
2. Das Verfahren der schrittweisen wechselseitigen Bezugnahme (die im Text in Klammer angegebenen Ziffern verweisen auf Abb. 6, Regelkreis zur regionalen Lebensraumgestaltung)
Wir müssen uns auf eine vereinfachende Darstellung beschränken. Der vorgelegte Entwurf soll zunächst nur die Konzeption der „offenen" Regionalplanung verdeutlichen und zur Diskussion stellen404.
2.1 Allgemeiner beeinflussender Komplex (1) In der Praxis verläuft Regionalplanung keineswegs als ein durch die regionalen Planungsgemeinschaften, Gebietskörperschaften und Interessengruppen einer Region frei gestaltbarer Prozeß der gebietlichen Entwicklung. Vielmehr unterliegt die Regionalplanung vielfältigen Begrenzungen und vorgegebenen Festlegungen. Neben der Bindung durch Bundes- und Landesgesetzgebung405 sind zahlreiche übergeordnete Pläne und Programme406 zu beachten. In manchen Landesentwicklungsplänen (z. B. LEP Hessen 80) werden sogar relativ langfristig detaillierte Investitionspläne, differenziert nach sehr verschiedenen Sachbereichen407 vorgelegt. Zahlreiche Rahmenpläne (Landschaftsrahmenpläne, Agrarstrukturpläne, Wasserwirtschaftliche Rahmenplanung etc.) enthalten planerische Festlegungen. Eine kaum mehr übersehbare Zahl408 von größtenteils gesetzlich verankerten Planungen, Programmen, Projekten wird durch Bund und Land bereits vorgegeben. Sie belegen eine deutliche Tendenz zur Planung fast aller gesellschaftlichen Bereiche. Verwaltung wird zunehmend zum Träger der Entwicklungsplanung einschließlich der nachfolgenden Investitions- und Finanzplanungen, die zum großen Teil durch Bundes- oder Landesgesetzgebung festgelegt sind. Der Entscheidungsspielraum auf regionaler oder kleinräumlicher Ebene ist also bereits stark eingeengt409, so daß sich ohnehin die Frage erhebt, ob gegenwärtig eine den regionalen und gebietlichen Besonderheiten angemessene Integration der zahlreichen Aspekte der Entwicklungsplanung noch möglich ist410. Wie dem auch sei, der Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum der Träger der Regionalplanung ist durch den gesetzlichen bzw. administrativen Rahmen (la) 411 vielfältig eingeengt und festgelegt.
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Allgemeiner beeinflussender Komplex (1) φ · · Ι
Ablauf der Regelung weitere wesentliche Beeinflussungen
^^
tatsächliche gebietliche Entwicklung
standige Analyse der Entwicklungssituation
Einwirkung
Mtere beeinflusser Maßnahmen φ (leitbildunabhangige Aktivitäten des Bundes. Landes, der prtv Wirtschaft, der Orgamsat . Gruppen. Indiv etc
® arbeitsmarktorientierte Grobprognose bereinigt nach den Ergebr der Situationsanalyse(3
Forderungsmaßnahmer aufgrund gebietsspezifischer Nachfrage
Konsequenzen für die achennutzung
gebietsspezifische Grundsätze u. flächenbezog. Leitbild Fortführung zum region Raumordnungsplan ( 5 )
Maßnahmen der Verwaltung zur leitbildgerechten Beeinflussung
kooperative politische Erörterung und Zielfindung (Kontrolle. Korrektur, Konkretisierung der Planungsziele, vorläufige Genehmigung)
vorgegebener gesetzlicher bzw. administrativer Rahmen (Ja) (raumrelevante GesetzeProgramm« Plane des Bundes. Landes, der Körper schaften.Zweckvcrb. etc.)
differenzierte Bewertungen der Menschen
Entwicklung der raumrelevanten wisse nschafthchen Erkenntnisse und technischen Möglichkeiten
©
allgemeine wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung
wert- und sinnorientierte Leitvorstellungen
(
der Lebensraumgestaltung
Abb. 6:
Regelkreis zur regionalen Lebensraumgestaltung (Regionalplanung durch „schrittweise wechselseitige Bezugnahme")
Darüber hinaus unterliegt die regionale Planung zahlreichen weiteren allgemeinen gewissermaßen „übergeordneten" Einflüssen. So sind ständig mehr oder minder direkt die synergetischen Bewertungen der Menschen (lb) - etwa als Folge des jeweiligen „Zeitgeistes", oder in Form von Ideologien, Normen, Moral, Motivationen, Moden, Interessen, Bedürfnissen etc. - beeinflussend wirksam412, auch wenn sie sich nicht bereits in Gesetzen, Programmen manifestieren. Ebenso wirkt die Entwicklung der raumrelevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse (lc), wie sie durch die Umweltpsychologie und -Soziologie, Sozialmedizin, Verhaltensforschung, Ökologie, Geographie und ganz allgemein durch die Regionalwissenschaften (i. w. S.) zunehmend bereitgestellt
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Das Verfahren der schrittweisen wechselseitigen Bezugnahme
werden, auf das Verfahren der wechselseitigen Bezugnahme ein. Deckt ζ. B. die Sozialmedizin die schädigenden Folgen spezifischer räumlicher Lebensbedingungen (etwa der Wohnweise) auf, so werden solche Aussagen, Konsequenzen für die Konzeption des flächenbezogenen Leitbildes (5) haben. Aber auch veränderte technische Möglichkeiten (lc) vermögen die Entscheidungen beträchtlich zu beeinflussen. So kann sich die Inwertsetzung der räumlichen Faktoren ständig ändern. Bewertungen (lb) und Erkenntnisse (lc) stehen in engster Wechselwirkung mit den wert- und sinnorientierten Leitvorstellungen, die sich in einer Gesellschaft herausbilden. Hier sind jene integrierenden universalistischen Gesichtspunkte verwurzelt, die für Entwurf und Weiterentwicklung der gebietsspezifischen flächenbezogenen Leitbilder von besonderer Bedeutung sind. Hier ist der Bereich einer Philosophie der normativen Entwürfe. Nicht zuletzt wird hier über das kulturelle bzw. zivilisatorische Niveau einer Gesellschaft entschieden. Je besser die geltenden Leitvorstellungen (1), Bewertungen und vorhandenen Erkenntnisse der „Natur" bzw. der Bedürfnisstruktur des Menschen gerecht werden, desto bessere, wirklichkeitsgerechtere flächenbezogene Leitbilder (5) sind zu erwarten. Von stärkstem Einfluß auf den Prozeß der regionalen Lebensraumgestaltung ist die allgemeine wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung (ld). Ist ζ. B. die wirtschaftliche Lage schlecht, herrscht eine konjunkturelle oder strukturelle Krise, sind die Regionen und Teilräume in der Regel unterschiedlich stark betroffen. Ebenso profitieren sie unterschiedlich vom wirtschaftlichen Aufschwung. Die gebietlichen Voraussagen werden also sehr verschieden sein; ggf. sind Korrekturen am gebietlichen Leitbild erforderlich. Die aufgeführten unterschiedlichen Einflußgrößen lassen sich vereinfachend als „beeinflussender" Komplex zusammenfassen; ohnehin stehen sie miteinander in Wechselwirkung und können durchaus als rahmengebende Einheit begriffen werden. Das beigegebene Diagramm (Abb. 6) verdeutlicht, wie dieser Komplex auf den Ablauf der Planung einwirkt; selbst rückkoppelnd durch die Ergebnisse des Verfahrens beeinflußt.
2.2 Analyse, Prognose, Leitbild (3, 4, 5) Das Verfahren baut zunächst auf einer Analyse der Entwicklungssituation der Region und ihrer Teilräume (3) auf. Die tatsächlich stattfindende Entwicklung wird beobachtet und, soweit möglich, das Entwicklungspotential aufgezeigt. Diese Analyse stellt eine ständige Aufgabe dar, sie ist kurzfristig periodisch zu wiederholen (siehe Matrix der Entwicklungssituation; dritter
Analyse, Prognose, Leitbild (3, 4, 5)
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Teil). Eine solche ständige Situationsanalyse kann nur interdisziplinär bewältigt werden. Von besonderer Bedeutung ist es, die tatsächliche Entwicklung der Flächennutzung, möglichst in all ihren ökologischen und sozialen Konsequenzen, zu erfassen und die Wechselwirkungen, die bei konkreten Maßnahmen in Gang gesetzt werden, über entsprechende Matrizen zu verdeutlichen. Diese permanente gebietsspezifische Analyse der Entwicklungssituation stellt eine nicht einfach zu lösende Aufgabe dar, dürfte aber wichtiger sein als mehr oder minder problematische prognostische Simulationsverfahren. Ziel wäre es, die Situation und besonderen Zusammenhänge und voraussichtlichen Auswirkungen der gebietlichen Entwicklung aufzuzeigen. Gelingt es dabei, ein gebietsspezifisches „Ad hoc-System" der entwicklungsbeeinflussenden Zusammenhänge aufzudecken, entstünden ideale Voraussetzungen für die Erarbeitung des gebietsspezifischen Leitbildes und für eine gebietsspezifische Prognose413. Allerdings ist die Auffindung eines solchen „Ad hoc-Systems" für den Ablauf des Verfahrens keineswegs unabdingbar notwendig. Das modellhafte System der gebietlichen Entwicklung wäre ohnehin in der Zeit relativ. Aber das Verfahren der Regionalplanung kann um so wirklichkeitsgerechter ablaufen, je besser die gebietliche Entwicklungssituation erkannt und in ihren Zusammenhängen verdeutlicht wird. Auf die komplexen gebietlichen Situationsanalysen, die die tatsächlichen Entwicklungen und deren Auswirkungen im Raum aufzeigen, sind die wissenschaftlichen Bemühungen zu konzentrieren; bislang fehlt es an in dieser Hinsicht befriedigenden Untersuchungen. Auf der Analyse der Entwicklungssituation basierend, wird die arbeitsmarktorientierte Grobprognose für die Region und ihre Teilräume (4) erarbeitet. In Anwendung der entsprechenden Prognosemodelle (vgl. zweiter Teil, Kap. 3.2; dritter Teil) wird die denkbare Entwicklung unter Berücksichtigung der vorhandenen Struktur und der spezifischen voraussichtlichen Eigendynamik aufgedeckt. Die entwicklungsbeeinflussenden Besonderheiten der jeweiligen Teilräume, die nicht automatisch durch das Prognosemodell erfaßt werden, aber durch die Analyse der Entwicklungssituation aufgezeigt wurden, finden ergänzend eine möglichst angemessene Berücksichtigung. So ist die Vorausschätzung am vorhandenen Entwicklungspotential orientiert und nicht an etwa vorgegebenen Zielprojektionen; diese finden erst rückkoppelnd mit dem weiteren Verfahrensablauf Berücksichtigung. In Kenntnis dieser Grobprognose und der gebietlichen Situation werden dann die voraussichtlichen Konsequenzen der Entwicklung hinsichtlich der Flächennutzung aufgezeigt (4a). Nach diesen Vorarbeiten ist als integrierende und schöpferische Leistung ein gebietsspezifisches flächenbezogenes Leitbild (5) bzw. Raumnutzungsmodell für die Region und ihre Teilräume zu entwerfen (vgl. auch fünfter
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Das Verfahren der schrittweisen wechselseitigen Bezugnahme
Teil)414. Dabei sind nicht nur gebietliche Entwicklungssituation und Grobprognose zu berücksichtigen, sondern vor allem auch die raumrelevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Bewertungen der Menschen. Der universalistische Aspekt, wie er sich in norm- bzw. sinnorientierten Leitvorstellungen wie auch in den gebietsspezifischen Grundsätzen manifestiert, gewinnt nun besondere Bedeutung und Berücksichtigung. Voraussetzung ist, daß die Leitvorstellungen und Grundsätze zuvor durch die Bevölkerung bzw. deren Vertreter akzeptiert wurden und damit ein Grundkonsens besteht. Die Erarbeitung des gebietsspezifischenflächenbezogenenLeitbildes ist dann der Versuch, diese Leitvorstellungen (siehe fünfter Teil, Kap. 1) hinsichtlich der gebietlichen Lebensraumgestaltung, also praxisbezogen, zu vergegenständlichen. Der Entwurf dieses flächenbezogenen Leitbildes wird durch Anhörungsverfahren und politische Erörterung zu prüfen und ggf. zu verändern sein; gleichzeitig aber ist er hinsichtlich der einzelnen Planungsziele stärker zu konkretisieren, indem er zum Regionalen Raumordnungsplan (o. ä.) fortentwickelt wird.
2.3 Kooperative politische Erörterung und Zielfindung (6) Grobprognose und flächenbezogenes Leitbild gehen in die politische Erörterung ein. Und so wie der Entwurf eines flächenbezogenen Leitbildes Korrektur erfährt und schließlich vorläufige Genehmigung erhält, werden die detaillierten Planungsziele konkretisiert und im vorläufigen Regionalen Raumordnungsplan festgelegt. Bei dieser Zielfindung sollten alle von den Planungen Betroffenen bzw. deren Vertreter gehört werden. Gegebenenfalls sind dann rückkoppelnd Korrekturen am Entwurf des Leitbildes bzw. des Regionalen Raumordnungsplanes vorzunehmen. Gebietliche Grobprognose, Entwurf des Leitbildes und nachfolgende Konkretisierung im Regionalen Raumordnungsplan dürften zunächst entweder vom Verwaltungsapparat bzw. von den dortigen Fachleuten oder aber von mehr oder minder unabhängigen Gutachtern erarbeitet werden, wobei freilich unterstellt werden muß, daß die Absicht, möglichst realistische Prognosen und angemessene Leitbilder bzw. Regionale Raumordnungspläne zur Vorlage zu bringen, vorhanden ist. Das schließt aber eben nicht aus, daß die Prognosen falsch415 und die Leitbilder unangemessen sein können. Daß der integrierende und universalistische Aspekt bei der Erarbeitung der Leitbilder ausreichend und als schöpferischer Beitrag auf entsprechendem Niveau zur Geltung kommt, kann keineswegs immer vorausgesetzt werden. Oft sind entweder Fachleute, die entsprechend integrierend zusammenarbeiten können, nicht vorhanden, oder es fehlt an konzeptionellen Impulsen bzw. schöpferischen Personen. Oder aber, die
Kooperative politische Erörterung und Zielfindung (6)
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Leitbilder werden durch „ideologiehörige" Planer erarbeitet, die aus Unwissenheit oder „Parteidisziplin" zu einer unvoreingenommenen Auseinandersetzung mit der Zukunft kaum fähig sind. So oder so, es ist keineswegs sicher, daß die vorgelegten Entwürfe befriedigend ausfallen. In der bisherigen Praxis werden häufig die einmal konzipierten Planungsvorstellungen nur noch geringfügig geändert; Technokraten, Gutachtern, Verwaltungen etc. fällt damit zunehmend Macht und Einfluß zu. Es erfolgt die vielfach beklagte Verschiebung der Herrschaftsstrukturen zugunsten der Spezialisten und der mehr oder minder anonymen Verwaltungen. Der Verwaltungsapparat droht so immer mehr selbst zur Planungs- und Entscheidungsbehörde zu werden, zur zunehmend allmächtigen Exekutive. Dieser wachsende Einfluß ist sachbedingt geradezu zwangsläufig, bedarf daher einer bewußt gesteigerten Kontrolle und anregender Impulse durch verbesserte Verfahren der politischen Erörterung. Herkömmliche Parlamente, wie auch die Verbandsversammlungen der Planungsgemeinschaften sowie deren Ausschüsse können aufgrund der häufigen fachlichen Inkompetenz ihrer Mitglieder diese Kontrollfunktion und Anregung kaum leisten, so daß auch die bisherigen Anhörungsverfahren unbefriedigend bleiben. Die Prüfung der auf regionaler Ebene erarbeiteten Entwürfe durch den Regierungspräsidenten oder durch die Staatskanzlei bzw. Innenminister der Länder stellt zwar, solange sie sich auf die Rechtsaufsicht und auf die Verträglichkeit mit den landesplanerischen Zielen konzentriert, eine durchaus sinnvolle Kontrolle dar; aber das ist nicht ausreichend. Strebt dagegen beispielsweise der Regierungspräsident eine Ausweitung der Kontrollfunktion an, indem auch inhaltliche Eingriffe vorgenommen und die inhaltliche Genehmigung beansprucht wird416, sind jedoch stärkste Bedenken anzumelden. Die Entscheidungen würden dann ohne die notwendigen Kenntnisse der regionalen Voraussetzungen getroffen werden müssen, zudem werden sie ihrerseits keineswegs ausreichend kontrolliert. Eine Ausweitung der „obrigkeitlichen" Kontrollfunktion verspricht daher weder eine Qualitätssteigerung noch eine Erhöhung der Legitimation der Planung. Die Legitimation und Wirklichkeitsnähe der Regionalplanung muß, ungeachtet der möglicherweise gegebenen fachlichen Qualität der Vorlagen, vor allem durch verbesserte politische Verfahren erreicht werden (s. o. und nachfolgend). Bezüglich der zukünftigen Gestaltung einer Region sind stets mehrere Lösungen denkbar, es gibt nicht das einzig „wahre" flächenbezogene Leitbild, den einzig sinnvollen Regionalen Raumordnungsplan und entsprechende Einzelziele. Die Fähigkeit zur Entscheidung so komplexer Sachverhalte, wie sie bei der Erarbeitung eines flächenbezogenen Leitbildes anfallen, steigt, wenn es gelingt, entsprechend kompetente und schöpferische Perso-
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nen sowie Vertreter der unterschiedlich Betroffenen zu beteiligen. Gute Planungskonzeptionen bedürfen sowohl des Beitrages des schöpferischen einzelnen, der interdisziplinären Leistung eines Teams kooperativer Fachleute wie auch der Kontrolle durch die in der Praxis Betroffenen. Idee und Wissen, demokratische Kontrolle, Korrektur und Rechtfertigung sind wesentliche Elemente einer „offenen" Planung. Dabei muß ein Druck zur integrierenden und Konsens findenden Entscheidung wirksam sein, da auch mit brillant vertretenem Fach- oder Gruppenegoismus allein und seiner mehr zufälligen Durchsetzungskraft wenig gewonnen ist, die integrierende Aufgabe aber gefährdet werden kann. Sinnvoller ist es, wenn die an der Entscheidung Beteiligten durch Qualifikation, durch Betroffensein oder durch politisches Mandat legitimiert, miteinander ein Kontaktsystem417 bilden. Es wäre also ein Entscheidungsgremium so zu besetzen, daß zwar durchaus die Vertreter unterschiedlichster Interessen aufeinandertreffen, diese aber möglichst auch in anderen Belangen auf einen wechselseitigen Ausgleich und Kompromiß angewiesen sind, so daß eine kooperative Grundstimmung begünstigt wird. Das wechselseitig Voneinander-Abhängigsein steigert die Fähigkeit zum Konsens, auch in Fragen der Lebensraumgestaltung. Es ist daher sinnvoll, eine breitere pluralistische Palette für die politische Entscheidungsfindung zu schaffen, als sie die bisherigen Vertreter der politischen Parteien in den Verbandsversammlungen bzw. Parlamenten der Planungsgemeinschaften darstellen. Die an der politischen Erörterung Beteiligten sollten über eine entsprechende Qualifikation und Kompetenz oder aufgrund des Betroffenseins über unmittelbare Kenntnis der Situation verfügen. Vertreter der Parteien allein sind kaum noch in der Lage, die vielfältigen Probleme mit sachkundigem Urteil zu bewältigen. Der Politiker ist hier zunehmend überfordert, ungeachtet dessen bleibt er als Vertreter einer bestimmten politischen Orientierung und eines bestimmten geographischen Raumes unentbehrlich. Vor allem aber müssen zusätzlich unabhängige Fachleute sowie Universalisten418, aber auch die sachspezifisch direkt Betroffenen oder deren legitimierte Vertreter eingeschaltet und gehört werden. Dennoch aber wird es nicht möglich sein, alle entwicklungsrelevanten Gesichtspunkte hinreichend zu beachten, zumal viele Auswirkungen von Planungsentscheidungen nicht absehbar sind. Es ist daher notwendig, zur weiteren Kontrolle, die Sensibilität des Verfahrens gegenüber Äußerungen derjenigen (möglicherweise auch unvorhersehbar) Betroffenen, die politisch oder fachlich nicht entsprechend vertreten sind, zu erhöhen. Der direkte Einluß der Bürger bzw. ihrer Willensäußerungen auf die politische Erörterung wäre also zu erleichtern. Allerdings ist vor einer blinden Hörigkeit gegenüber solchen Initiativen zu warnen, sie sind oft Ausdruck eines ideolo-
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gisch motivierten Unmutes gegenüber einer Entwicklungsplanung, die nur als dem Interesse der „Herrschenden" dienend, verstanden wird; sie enthalten dann meist keine konkreten Anregungen für eine bedürfnisgerechte Planung. Nicht selten sind Bürgerinitiativen aber nur reaktiv konservativ, wenden sich aus mehr oder minder egoistischer Sicht gegen notwendige Veränderungen und wirken so für die Erhaltung überholter Strukturen oder sie werden mißbräuchlich politischer Agitation einverleibt und wenden sich damit nicht selten unbewußt gegen das allgemeine Interesse. Aus der Addition unterschiedlicher Bürgerinitiativen ergibt sich in der Regel keine sinnvolle Entwicklungsplanung. Dessen ungeachtet bedarf der Prozeß der regionalisierten „offenen" Planung einer stärkeren Beteiligung der Bewohner. Die Vielfalt individueller oder gruppenspezifischer Bewertungen lebensräumlicher Fakten, die Vielfalt der Wünsche, Interessen oder auch Nöte muß vor allem durch diejenigen artikuliert werden, die sie haben, also durch die Bewohner des jeweiligen Lebensraumes. Insofern hat die vielstrapazierte Forderung nach mehr „Partizipation" durchaus ihren Sinn. Hierbei sind nun vor allem die Möglichkeiten der modernen Kommunikationstechnik419 zu nutzen und aus der geradezu obrigkeitsstaatlichen Vormundschaft durch die Post und die „öffentlich rechtlichen Anstalten" mit ihrem limitierten Programm- und Kanalangebot zu entlassen. Lokale bzw. regionale, also jeweils „lebensräumliche" Fernsehprogramme bzw. Kanäle vermögen, unter Ausschöpfung der technisch leicht zu realisierenden Befragungsmöglichkeiten, eine unmittelbare und allen „sichtbare" Beteiligung der interessierten Bewohner an Planung und Entscheidung herbeizuführen. Gleichzeitig eröffnen sich so bessere Möglichkeiten für die notwendige Information der Bewohner. Denn es ist ja für eine konsenssuchende Planung ζ. B. unverzichtbar notwendig, die Menschen mit den Planungen und ihren Grundlagen umfassend vertraut zu machen, um Zustimmung bzw. Korrektur zu bewirken und damit ja zugleich die Durchsetzung zu erleichtern. Rein technisch ist das Problem absolut lösbar. Bereits jetzt existiert in der amerikanischen Großstadt Columbus/Ohio ein Zweiweg-TV-Kabel-System, das es neben der Wahl zwischen 30 überregionalen wie auch kommunalen Kanälen gestattet, über „Columbus alive" in unmittelbarer Zuschauerbeteiligung, durch Betätigung entsprechender Tasten, zustimmend oder ablehnend auf eine Sendung Einfluß zu nehmen. Das gilt nicht nur etwa für eine Talent-Show, die den besten Sänger ermitteln soll, sondern vor allem für Live-Ubertragungen aus dem Rathaus, für Arbeitssitzungen örtlicher Ausschüsse, für die Erörterung von Planungsprojekten etc. Man kann durch unmittelbare Meinungsäußerung per Knopfdruck über Fernsehen beeinflussend dabei sein. Zwar steht damit für die Planenden bzw. die Entscheidungsträger noch nicht unbedingt eine repräsentative Bevölkerungsmeinung zur
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Verfügung, auch kann so keine Rechtsverbindlichkeit von Planungen begründet werden, das bleibt parlamentarischen Gremien vorbehalten, aber die Antworten der Bevölkerung vermögen doch wertvolle Hinweise, wie Planungsabsichten aufgenommen werden, welche Reaktionen zu erwarten sind, zu geben. Zudem läßt sich ein solches System leicht weiter ausbauen und systematisch in den Planungsprozeß einbeziehen. Nicht zuletzt liegt darin auch eine Chance, die Unterstützung bestimmter Vorschläge, Forderungen oder auch Proteste etc. durch die Bevölkerung besser und schneller als bisher zu erfassen. Wie aber ließe sich, trotz solchermaßen gesteigerter wechselseitiger Informationsmöglichkeiten, angesichts der unterschiedlichen Auffassungen der Menschen, durch „televisionsgestützte" politische Erörterung kooperativ ein Ausgleich der Interessen bzw. konkretes und legitimiertes Handeln herbeiführen? Zunächst sollte Klarheit und Einvernehmen über die allgemeinen wert- und sinnorientierten Leitvorstellungen, soweit sie sich nicht bereits im gesetzgeberischen Rahmen widerspiegeln, gewonnen werden420! Darüber hinaus wären für eine Region spezifische, aber weitestgehend allgemein akzeptierte, Grundsätze der räumlichen Gestaltung festzulegen. Darauf basierend, sind gebietsspezifische Leitbilder der räumlichen Gestaltung festzulegen! Sie sind unter dem Ziel zu konzipieren, daß sie insgesamt eine möglichst positive Bewertung erfahren. Ein Leitbild und die zu seiner Durchsetzung eingeleiteten Maßnahmen müssen insgesamt mehr Nutzen stiften als sie Nachteile mit sich bringen. Je nach Interessenlage wird jedoch die Nutzenbewertung des Leitbildes und der Maßnahmen eine andere sein. Ziel wäre es daher, diejenigen Vorstellungen und Kompromisse herauszuarbeiten, bei denen die Notwendigkeit einer Zurückweisung durch den einzelnen oder durch Gruppen am geringsten ist. Dabei ist sowohl die Rückfrage via Television wie auch die Hörung der Vertreter in den Planungsparlamenten hilfreich. Werden also nach Ansicht der Betroffenen oder deren Vertreter wesentliche Belange mißachtet oder Interessen geschädigt, ist der gesamte Vorschlag zu überprüfen. Es ist solange zu variieren, bis die voraussichtliche Schädigung hinreichend vermindert oder ausgeglichen wird, wobei freilich keine neuen Interessenkonflikte und Beeinträchtigungen aufgebaut werden dürfen. Es wäre also die den Protest minimierende Lösung anzustreben. Das flächenbezogene Leitbild und die daraus abzuleitenden konkreten Planungsziele müssen solange revidiert werden, bis sie nach der kooperativen politischen Erörterung nicht mehr abgewiesen werden. Das dürfte erst dann der Fall sein, wenn für die Beteiligten eine positive Nutzenbilanz in Aussicht steht, auf jeden Fall aber Schaden vermieden und eine bessere Alternative eröffnet wird. Auch wenn das nicht immer voll erreichbar ist, denn die Beseitigung überholter
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Strukturen läßt für die Betroffenen oft keinen unmittelbaren Nutzenzuwachs entstehen, so ist das empfohlene Vorgehen dennoch sinnvoll, verringert es doch die Gefahr daß wesentliche Interessen der Bürger oder Gruppen mißachtet werden. „Offene"Planung stellt sich damit als ein Verfahren dar, das in seiner Zielfindung solange offen ist, bis derjenige Vorschlag (meist als Kompromiß) herausgearbeitet wurde, der den geringsten Protest auslöst, gleichzeitig aber den allgemeinen Wertvorstellungen (Leitvorstellungen) weitestgehend gerecht wird421. Flexible „offene" Planung verwirklicht sich so nach dem Prinzip der geringsten Zurückweisung wertorientierter Vorschläge. Die Organisation eines solchen Prozesses ist keineswegs einfach. Besteht Klarheit über die übergeordneten Leitvorstellungen oder allgemeinen Grundsätze für die Entwicklung einer Region (ζ. B. durch Beschluß einer erweiterten Planungsversammlung und televisionäre Beteiligung), dann muß sich die planende Verwaltung (Gutachter etc.) bemühen, dementsprechende, gleichzeitig aber möglichst konfliktarme Vorschläge vorzulegen und hinreichend zu begründen. Es wäre der Entwurf zu einem gebietsspezifischen Leitbild der räumlichen Gestaltung zu erarbeiten, der auf der gebietlichen Situationsanalyse (3) und der Grobprognose (4) beruht, aber auch differenzierte wirtschaftliche Erkenntnisse (lc), die Bewertungen (lb) sowie den gesetzlichen Rahmen (la), also den universalistischen Aspekt, und damit vor allem die wert- und sinnorientierten Leitvorstellungen (1) beachtet. Dabei sind die unterschiedlichsten Interessen soweit wie möglich zu berücksichtigen und innerhalb des Leitbildes zu integrieren. Allerdings muß über dieser Vorlage noch keineswegs politischer Konsens entstehen. Mitunter sind Planungsvorschläge aufgrund sachlicher Gesichtspunkte sogar so zu konzipieren, daß sie gerade keinen Konsens von vornherein ermöglichen, sondern aus „neutraler" Sicht, aus übergreifender Einsicht in die Zusammenhänge, zu notwendigen Entwicklungen und Veränderungen anregen. Zahlreichen für die Planung höchst wichtigen Gesichtspunkten wird nicht der nötige Nachdruck verliehen, da keine interessierte Lobby dahintersteht, so daß sie durch den Planer bzw. Wissenschaftler zur Geltung gebracht werden müssen. Die Harmonisierung der als sinnvoll erachteten Entwicklungsvorstellungen mit den unterschiedlichen Interessen ist dann Aufgabe des Verfahrens der televisionsgestützten politischen Erörterung. N. LUHMANN (1969, S. 209) weist darauf hin, daß in dem Maße, wie die Politik ihre Funktion erfüllt, „die Verwaltung von politischer Selbstversorgung mit Konsensus entlastet" werden kann. Und wir fügen hinzu, daß sie sich dann um so mehr auf die Findung qualifizierter Lösungsvorschläge und deren Verwirklichung zu konzentrieren vermag, der eigentlichen Aufgabe einer planenden Verwaltung422. Zur Förderung des Entscheidungsprozesses wären ζ. B. von Verwaltungen oder Gutachtern Aufstellungen des Nutzwer-
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tes verschiedener konkreter Zielsetzungen und Maßnahmen in Bindung an die jeweils zugrundeliegenden Bewertungen (erweiterte Nutzwertanalyse) vorzubereiten. Die politische Erörterung in den Planungsparlamenten und die televisionäre Rückfrage wird dann zeigen, ob damit die unterschiedlichen Interessenslagen angemessen berücksichtigt und verdeutlicht wurden. Ist das der Fall, dann wäre diejenige Mischung von Zielsetzungen und Maßnahmen zu suchen und vorzuschlagen, die den vielfältigen Interessen am besten gerecht zu werden verspricht und die größte Chance besitzt, die weitere politische Erörterung zu bestehen. Je überzeugender die wert- und sinnorientierten Leitvorstellungen erscheinen, je besser es gelingt, in den gebietsspezifischen Grundsätzen unterschiedlichste Gesichtspunkte und Interessen angemessen zu berücksichtigen, je geschickter im flächenbezogenen Leitbild die verschiedenen wissenschaftlichen Hinweise, die vielfältigen Bewertungen der Menschen und die wirtschaftlichen Notwendigkeiten - immer in Beachtung der gebietlichen Besonderheiten - integriert werden, je vielfältiger die Möglichkeiten sind, die ein Leitbild dem einzelnen eröffnet, ohne die Belange der Gesamtheit einzuengen, desto leichter wird es sein, durch politische Erörterung Konsens zu finden. Die Qualität und Überzeugungskraft integrierender Entwürfe entscheidet also wesentlich über den Grad der Übereinstimmung bei der Findung konkreter Planungsziele. In Wechselwirkung zwischen politischer Erörterung einschließlich der unmittelbaren televisionären Bevölkerungsbeteiligung und den entsprechend korrigierten Vorschlägen der planenden Verwaltung oder Gutachter werden dann diejenigen Lösungen herausgearbeitet, die bei möglichst allen Betroffenen eine positive Bewertung auslösen, die zugleich unvermeidbare Nachteile minimieren und ausgleichen. 2.3.1 Heuristische Strategie zum Zwecke besserer Überschaubarkeit Stellt man sich alle Wege und Möglichkeiten, all die denkbaren konkreten und detaillierten Planungsziele vor, bei denen zu erwarten ist, daß sie den vorgegebenen Leitvorstellungen gerecht werden, so steht man vor einer kaum zu überblickenden Vielfalt, zumal, wenn die verschiedensten Konsequenzen all dieser denkbaren Entscheidungen mitberücksichtigt werden. Es wäre die Situation eines Schachspielers, der zwar weiß, daß er gewinnen soll, also sein Endziel, seine Leitvorstellung, vor Augen hat, aber angesichts der nicht zu überblickenden Vielzahl von zielführenden Kombinationen und Reaktionen zu einem ersten Zug unfähig ist. Vielzahl der Möglichkeiten ist für die Entscheidung meist mehr irreführend als hilfreich. Daher ist es unumgänglich, die Vielfalt der zur Auswahl stehenden Entscheidungen
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einzuschränken. Das ist möglich, indem man zunächst, unter Ausschöpfung aller verfügbarer Erfahrungen (sowie der Ergebnisse der Grobprognose und Situationsanalyse), bestimmte Konstellationen voraussichtlicher Folgewirkungen423, Wenn-Dann-Komplexe, spezifische Abfolgen unterscheidet, die typisch für bestimmte Situationen und Entscheidungen sein dürften. Bestimmte „typische" Kombinationen, Abhängigkeiten, Folgewirkungen erscheinen wahrscheinlicher als andere. Allerdings bleibt dabei immer das Irrtumsrisiko der induktiven Schlüsse und subjektiven Wahrscheinlichkeitsbewertungen bestehen. Aber immerhin kann so die chaotische Vielfalt der angesichts einer bestimmten Situation denkbaren Einzelentscheidungen auf eine überschaubare Zahl naheliegender Möglichkeiten reduziert werden. Die einzelnen Wenn-Dann-Komplexe erscheinen ja, je nach Situation, als unterschiedlich geeignet, die Leitvorstellungen zu verwirklichen. Es werden also diejenigen Konstellationen, Kombinationen ausgewählt, für die sich erwarten läßt, daß sie den angestrebten Leitvorstellungen und Grundsätzen am ehesten gerecht werden424. Nachdem somit die Planungsalternativen verringert bzw. überschaubar gemacht wurden, sind nunmehr die günstigsten Lösungen, die bestmöglichen konkreten Planungsziele, auszuwählen. Zu diesem Zweck werden die reduzierten Alternativen wiederum unter Zuhilfenahme spezifischer Erfahrungen (Erwartungen von Reaktionen und Rückwirkungen), nunmehr aber bereits nach konkreten Planungszielen differenziert, jeweils schrittweise durchgespielt. Dabei wird folgende Strategie425 angewandt: Die Alternativen werden fiktiv bezüglich ihrer wahrscheinlichen Konsequenzen soweit wie möglich vorausschauend (also antizipierend) verfolgt, zumindest aber solange, bis deutlich wird, daß die Alternativen den vorgegebenen Leitvorstellungen unterschiedlich gerecht werden. Dementsprechend, aber auch in Beachtung des zur Verwirklichung erforderlichen Aufwandes, werden diese alternativen Bündel konkreter und detaillierter Planungsziele verschieden bewertet. Die Festlegung dieser Bewertungsdifferenzen ist nur unter Zuhilfenahme der politischen Erörterung möglich, denn Bewertungen bleiben subjektiv, bedürfen also der politischen Legitimation. Die Verwaltung hätte vor allem die Funktion, die Alternativen hinsichtlich ihrer voraussichtlichen Konsequenzen zu verdeutlichen und ggf. Empfehlungen zu geben. Je nach dem Ergebnis der Bewertung wird diejenige Alternative bzw. Gruppierung konkreter Planungsziele ausgewählt, die am verläßlichsten verspricht, die vorgegebenen Leitvorstellungen und Grundsätze zu verwirklichen. Diese Planungsziele werden nun als Teilziele zur Verwirklichung der Leitvorstellungen festgelegt. Im Rahmen der empfohlenen heuristischen Strategie ist es also ausreichend, wenn diejenigen konkreten Planungsziele - im Sinne von Teilzielen
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oder Etappenzielen, also kurz- oder mittelfristigen Zielen - ermittelt werden, die am ehesten erwarten lassen, daß eine Entwicklung eingeleitet wird, durch die allmählich die Leitvorstellungen verwirklicht werden. Allerdings ist der Prozeß zur Festlegung dieser konkreten Teilziele ständig zu wiederholen. So wie sich die Situation ändert, kann auch, stets dem beschriebenen Prinzip folgend, eine Korrektur der Etappenziele notwendig werden. Verwaltungen oder Gutachter legen also den politischen Gremien immer wieder bzw. in regelmäßigen Abständen verbesserte, überarbeitete, angepaßte Vorschläge (Zielbündel) vor. Diese Gremien prüfen, unter gleichzeitiger televisionärer Beteiligung der Bevölkerung, ob die unterstellten Annahmen akzeptabel erscheinen, vor allem aber kontrollieren sie, ob die vorgelegten Etappenziele gleichzeitig die protestminimierende Lösung darstellen. Andernfalls sind die konkreten Zielbündel solange zu korrigieren, bis sich die Lösung, die den geringsten Widerspruch erfährt und gleichzeitig möglichst optimal den Leitvorstellungen dienlich ist, herausgebildet hat. Die Auswahl der Planungsziele kann also nur im Wechselspiel zwischen televisionsgestützter politischer Erörterung und Planungsvorschlag erfolgen. Die angedeutete Strategie schützt keineswegs vor Fehlentscheidungen - diese lassen sich bei der Planung sozialer Abläufe niemals völlig eliminieren - aber sie ermöglicht rasche Fehlerkorrektur, mehr noch, sie eröffnet einen Weg, sich flexibel den akzeptierten normorientierten Leitvorstellungen (fünfter Teil, Kap. 1) zu nähern, sie wird gleichzeitig dem für unsere Existenz so charakteristischen Daseinsprinzip von Versuch - Irrtum - Fehlerbeseitigung weitestgehend gerecht. 2.3.2 Chancen und Grenzen Mit Hilfe der kooperativen Erörterung und in Anwendung heuristischer Strategien (s. o.) können auch die unterschiedlichen Belange der verschiedenen Teilräume einer Region besser zur Geltung gebracht werden; die kooperative politische Erörterung läßt mit ihrer kontrollierenden und korrigierenden Wirkung einen Druck zum Ausgleich der Interessen (auch der teilräumlichen) entstehen. Dieser Ausgleich kann allein mit der Vorlage der Leitbilder und Maßnahmekataloge durch Verwaltungen oder Gutachter kaum erreicht werden; selbst wenn wissenschaftliche Erkenntnisse und die tatsächliche Situation soweit wie möglich berücksichtigt werden. Durch die konsenssuchende und televisionsgestützte politische Erörterung wird dagegen eine ständige Überprüfung und Überarbeitung der Leitbildvorstellungen und der daraus abgeleiteten konkreten Planungsziele, wie auch der vorherigen Analysen und Prognosen, gefördert; Zukunft wird nicht nach einem großen, langfristig festlegenden Entwurf bewältigt, sondern schrittweise, kontrolliert
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durch „offene" Planung. Gewissermaßen in ständiger Rückkoppelung zwischen den Elementen des Verfahrens kann so eine gebietsspezifische weitestgehend situationsgerechte Entwicklung426 eingeleitet werden. Die vorgelegten Ansätze können im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter konkretisiert werden427. Allerdings muß auch vor zu großen Hoffnungen gewarnt werden, durch das angedeutete Verfahren stets kooperativ Konsens finden und Konflikte abbauen zu können. Nicht alle Interessen lassen sich durch Kompromiß und Ausgleich harmonisieren. Die Beseitigung oder Minderung des Konflikts ist nicht nur eine Frage der sozialen Technik und des guten Willens. Der Glaube, man brauche nur alle Beteiligten solange miteinander kommunizieren zu lassen und Kompromißvorschläge vorzulegen, bis sich die Auffassungen weitestgehend angeglichen haben und konfliktfreier sozialer Wandel (bzw. Veränderung der Raumnutzung) stattfinden kann, enthält eine utopische Komponente428. Es ist keineswegs immer möglich, Entwicklungsziele so abzustimmen und solange zu variieren, bis alle Betroffenen einen subjektiven Nutzengewinn verbuchen. Sozialer Wandel und Entwicklung erfolgt häufig auch zu Lasten bestimmter Individuen oder Gruppen bzw. nicht mehr zeitgemäßer Erwerbs- oder Lebensformen. Meist werden durch die Veränderungen die einen größeren, die anderen geringeren Nutzen oder gar Schaden haben. Es soll daher noch einmal betont werden, daß Konsens umso eher erreicht werden kann, je überzeugender Leitbild und Maßnahmen verdeutlichen, daß durch Planung auch ein ausreichender Spielraum des einzelnen und der Gruppen für „eigene" Entscheidungen geschaffen wird. Kooperation stünde also auch unter dem Ziel, dem einzelnen und den Gruppen einen Freiraum des Handelns zu eröffnen und zu sichern. Innerhalb gewisser Grenzen muß es möglich sein, daß der Mensch tun kann, was er glaubt, zu seiner Befriedigung tun zu müssen. Aufgabe der Kooperation wäre es, sein Wollen so zu beeinflussen, daß es das Wollen anderer möglichst wenig beeinträchtigt und mit dem allgemeinen Interesse vereinbar bleibt. Ohnehin ist in einer Gesellschaft eine gewisse Bereitschaft, allerdings auch Druck, zur Anpassung und Abstimmung der Vorstellungen, Ziele, des Anspruchsniveaus wirksam. Auch bezüglich der gebietsspezifischen Ziele der Raumnutzung wird sich daher nicht immer Harmonie von selbst ergeben; oft werden Mehrheitsentscheidungen Planungsziele festlegen müssen. Je ausgewogener jedoch das flächenbezogene Leitbild ist, je besser es durch allgemein akzeptierte Leitvorstellungen abgesichert wird, je größer der Handlungsspielraum ist, den es eröffnet, desto sanfter kann der „Druck" zur Festlegung der konkreten Planungsziele sein. Ungeachtet der bestehenden Probleme dürften sich innerhalb des vorge-
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Das Verfahren der schrittweisen wechselseitigen Bezugnahme
gebenen gesellschaftspolitischen Rahmens die konkreten Planungsziele am besten durch das konsenssuchende Verfahren der kooperativen televisionsgestützten politischen Erörterung - gefördert durch integrierende und möglichstflexibleLeitbilder der Raumnutzung, die einen breiten Entscheidungsspielraum eröffnen - herausarbeiten lassen.
2.4 Maßnahmen (7, 8, 9) Nach der vorläufigen Festsetzung der konkreten Planungsziele, als einem Ergebnis der kooperativen politischen Erörterung, werden durch die „planende Verwaltung"429 direkt steuernde Aktivitäten und Maßnahmen (u. a. auch durch Zuweisung öffentlicher Mittel) in Gang gesetzt; gleichzeitig erfolgen differenzierte leitbildgerechte Festlegungen (vor allem der Flächennutzung). Neben der - wenn auch legitimierten - Beeinflussung der gebietlichen Entwicklung durch die regionale Verwaltung von „oben" muß ergänzend eine - ggf. auch leitbildneutrale - direkte Einflußnahme durch die Gemeinden und rechtliche Personen möglich sein. Trotz politischer Erörterung werden Zuweisungen öffentlicher Mittel stets an mehr oder minder generalisierende Richtwerte gebunden sein; ebenso vermögen regionale Festlegungen der Raum- und Flächennutzung viele gebietsspezifisch oder örtlich durchaus sinnvolle Belange nicht hinreichend zu berücksichtigen. Zudem unterliegt das geltende Leitbild trotz ständiger Überarbeitung einem gewissen Verzögerungseffekt, der allein schon durch die Zeitdauer des Informationsflusses und der Verfahren verursacht wird. Es muß daher möglich sein, einer direkten gebiets- und situationsspezifischen von „unten" kommenden Nachfrage (8) nach bestimmten infrastrukturellen Einrichtungen, notwendigen Arbeitsstätten oder Wohnflächen etc. flexibel nachzukommen. Der Nachweis einer entsprechenden Bedürftigkeit wäre dann von den Gemeinden bzw. den kleinräumlichen Gebietskörperschaften oder Personen zu erbringen. Gewisse Abweichungen vom Leitbild, in gebietlicher bzw. gemeindlicher Eigenentscheidung, müssen also ermöglicht werden. Eine begrenzte Bezuschussung mit öffentlichen Mitteln sollte daher auch gemäß nachgewiesener unterschiedlicher Bedürfnispräferenzen in den einzelnen Teilräumen erfolgen (siehe weiter unten), auch wenn diese dem gerade geltenden Leitbild und den konkreten Planungszielen nicht voll entsprechen. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß die „überschaubare" Gemeinde (bzw. deren politische Vertretung) den jeweils besonderen Bedürfnissen ihrer Bewohner näher ist als noch so tüchtige regionale Gremien.
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Neben den Maßnahmen der gebietlichen Verwaltung zur leitbildgerechten Beeinflussung der Entwicklung sind natürlich weitere Aktivitäten und Einflußnahmen (9) wirksam. So werden etwa durch die Bundesraumordnung oder die Landesplanung durchaus auch Eingriffe vorgenommen, die nicht unbedingt am gebietsspezifischen Leitbild orientiert sind, sondern großräumlichen oder übergeordneten Gesichtspunkten unterliegen. Im wesentlichen wird es sich dabei um finanzielle Zuweisungen für unterschiedliche Projekte, aber auch um restriktive Festlegungen der Raumnutzung und spezifische Nutzungsansprüche handeln. Es wird von besonderer Bedeutung sein, diese Maßnahmen mit den Bestrebungen zur Durchsetzung des gebietlichen Leitbildes sinnvoll zu verbinden. Zweifellos ist das möglich. Bereits im Rahmen der televisionsgestützten politischen Erörterung wären die unterschiedlichen Belange miteinander abzustimmen. Desweiteren wirken aber vor allem Entscheidungen und Maßnahmen der privaten Wirtschaft, der Verbände und Organisationen, Gruppen und Individuen in differenzierter Weise auf die gebietliche Entwicklung ein. Zwar werden auch diese durchaus vom flächenbezogenen Leitbild beeinflußt, sowie vom Gestaltungsspielraum, wie er durch die Prognose aufgedeckt wird und von den Maßnahmen der öffentlichen Hand, aber sie unterliegen doch häufig andersartigen privatwirtschaftlichen oder gruppenegoistischen Erwägungen. Es kann also keinesfalls von vornherein unterstellt werden, daß sie bezüglich ihrer räumlichen Konsequenzen stets leitbildgerecht ausfallen. Zwar ließe sich durch entsprechend detaillierte Genehmigungsverfahren eine Allgleichung oder ein Verbot erzwingen, aber es ist durchaus fraglich, ob das in jeder Weise sinnvoll wäre. Ein solches Vorgehen würde ja doch voraussetzen, daß das Leitbild als absolut richtig und stets angemessen anzusehen wäre. Aber gerade diese Annahme trifft nicht zu!
2.5 Notwendigkeit der Iteration Im Zusammentreffen der eingeleiteten, sehr verschiedenen beeinflussenden Maßnahmen (7, 8,9) und der ohnehin wirksamen Eigendynamik der Region und ihrer Teilräume bildet sich eine beobachtbare Entwicklung heraus. Diese tatsächliche Entwicklung (2) muß nun keinesfalls so ablaufen, wie sie durch die vorherige Grobprognose vorausgesagt wurde oder wie sie durch das konzipierte Leitbild als erstrebenswert erkannt und durch beeinflussende Maßnahmen der Gebietskörperschaften angestrebt wird. Wir dürfen geradezu von vornherein Abweichungen unterstellen. Unsere Erwartungen (Grobprognose) sind nicht verläßlich, unsere Zukunftskonzeptionen (Leitbilder, Ziele) sind nicht als dauerhaft sinnvoll anzu-
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sehen. Wichtige Elemente des Planungsprozesses sind demnach irrtumsverdächtig. Um negative Auswirkungen des so bestehenden Irrtumsrisikos zu verringern, ist es notwendig, die Planung laufend an den tatsächlichen Entwicklungen im Raum (2) und an den sich wandelnden beeinflussenden Bedingungen (la, lb, le, Id) zu kontrollieren bzw. zu korrigieren. Der beschriebene Ablauf der wechselseitigen Bezugnahme (Abb. 6) sollte also ständig von neuem einsetzen, muß iterativ ablaufen. So erfahren Grobprognose, Leitbild, politische Erörterung und Maßnahmen in der ständigen Konfrontation mit der tatsächlichen Entwicklung im Raum die Kontrolle ihrer Wirkung. Entsprechend bewähren sie sich, sind zu verändern oder zu verwerfen. Leitbilder, Grobprognosen und Maßnahmen unterliegen also derselben kritischen Behandlung wie üblicherweise Hypothesen und Theorien in der Wissenschaft. Beruht das Verfahren auch nicht auf einer bewährten Theorie der räumlichen (regionalen) Entwicklung, so kann es doch durch die ständige Orientierung an den tatsächlichen Veränderungen annähernd wirklichkeitsgerechte Ergebnisse erbringen und vermag sich, indem es eine sinnvolle gebietliche Entwicklung ermöglicht, zu bewähren. Je kürzer die Abstände der iterativen Durchläufe des Verfahrens sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß bedenkliche Entwicklungen langfristig gefördert werden. Damit folgen wir einer raumbezogenen allerdings sinn- und wertorientierten „Sozialtechnik der kleinen Schritte". Das Risiko größerer Fehlentwicklungen (wie sie in der Vergangenheit ζ. B. die Herausbildung der Ballungen darstellt) kann so eher vermieden werden, Irrtümer werden relativ schnell sichtbar; wir nähern uns dem Verfahrensablauf von Versuch - Irrtum - Fehlerbeseitigung. Das Verfahren der schrittweisen wechselseitigen Bezugnahme bewahrt zwar nicht grundsätzlich vor Irrtum430, aber es ermöglicht, Irrtum schnell zu erkennen. Entwicklung und Zielfestlegung erfolgen wechselseitig kontrolliert. Die Wahrscheinlichkeit, daß es zwischen den Bewertungen, den Bedürfnissen der Menschen und den Möglichkeiten, diesen zu entsprechen (televisionäre Beteiligung!), auf der einen und den regionalplanerischen Zielsetzungen auf der anderen Seite zu Dissonanzen bzw. zur zeitlichen Verzögerung (time lag) kommt, sinkt. Man könnte nun einwenden, durch die fortwährende Wiederholung des Verfahrensablaufes und die damit verbundene Vorläufigkeit von Prognose, Leitbild, konkreten Planungszielen und Maßnahmen wird eine ständige Unsicherheit in den Planungsprozeß getragen; langfristig angestrebte Entwicklungen werden immer wieder in Frage gestellt. Dieser Effekt ist durchaus erwünscht, denn langfristige Festlegungen erhöhen das Irrtumsrisiko. Es sollte also ein Prozeß in Gang gesetzt werden, der die vorgegebenen langfristigen Festlegungen solange umformt, bis sie mit den notwendigen Schwan-
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kungen und Anpassungen der konkreten und detaillierten Planungsziele verträglich sind und keine Entwicklungen vorschreiben, die, weil nicht mehr der Wirklichkeit und den Möglichkeiten gerecht werdend, zu teueren oder schädigenden Fehlplanungen führen. Ist das nicht gesichert, sind langfristige Festlegungen aufzugeben. Ein Ziel des iterativen Verfahrens ist es, durch ständige Wiederholung der Bezugnahme allmählich gebietsadäquate und dem sozialen Wandel gerechtwerdende Leitbilder bzw. Modelle der räumlichen Gestaltung zu erarbeiten. Wir benötigen Leitbilder, die gegenüber kleinen Bewertungsschwankungen und Variationen der konkreten Planungsziele einigermaßen stabil, mit diesen verträglich sind. Vorstellungen, die im Rahmen der iterativen politischen Erörterung oder aufgrund der Erfahrung wieder verworfen werden müssen, sind sukzessive aus den raumbezogenen Leitbildentwürfen zu eliminieren. Daher müssen auch Leitbilder ständig mit der tatsächlichen Entwicklung, mit den sich evtl. wandelnden Einflußgrößen konfrontiert werden, an ihnen sind sie zu überprüfen. Entwicklungsziele langfristig festzulegen, ist nur solange sinnvoll, wie sie auf grundsätzlichen allgemeinen Werthaltungen, auf akzeptierten wert- und sinnorientierten Leitvorstellungen aufbauen. Sie geraten zwar dann in den Verdacht, Leerformeln zu sein431, haben aber den Vorteil, daß sie sich vielfältig interpretieren und konkretisieren lassen und innerhalb eines weiten Spielraumes verwirklicht werden können432. Je stärker dagegen langfristige Entwicklungsziele, bezogen auf detaillierte Sachverhalte, konkretisiert würden, desto größer wäre die Wahrscheinlichkeit, daß sie irgendwann völlig irreal werden und eine sinnvolle Entwicklung erschweren oder verhindern. Hochgradig konkretisierte langfristige Zielsetzungen sind zwar informativer, wirken verbindlicher, geben konkretere Hinweise zur Gestaltung der Realität, sind aber in erhöhter Gefahr, durch die tatsächliche Entwicklung ad absurdum geführt zu werden433. Die konkreten und detaillierten Planungsziele sind vielmehr immer wieder erneut und kurzfristig, schrittweise durch wechselseitige Bezugnahme (s. o.) herauszuarbeiten, wobei sie gleichzeitig durchaus an einigermaßen stabilen übergeordneten Leitvorstellungen und Grundsätzen orientiert sein sollten. Die empfohlene Konzeption bietet einen vergleichsweise hohen Schutz gegen modische oder ideologische Einflüsse, vorausgesetzt die Ergebnisse der Fernsehbefragungen bzw. televisionären Spontanbeteiligung unterliegen der Erörterung durch legitimierte Gremien bzw. Parlamente, um so die möglicherweise negativen Auswirkungen lediglich modischer oder zufälliger sowie einseitig beeinflußter „Strömungen" mindern zu können. Auch dürfte sich mit dem aufgezeigten Planungsmodell der falsche Einsatz öffentlicher Gelder langfristig verringern lassen. Nichts wäre bedenklicher als mit planerischer Rechtgläubigkeit einmal
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festgelegte Leitbilder, regionale Raumordnungspläne, konkrete Planungsziele zu verfolgen, ohne sie der ständigen Kontrolle an den sich wandelnden Bedingungen, Bewertungen, Nonnen sowie wachsenden wissenschaftlichen Kenntnissen zu unterwerfen. Das flächenbezogene Leitbild vor allem darf diesen Bezug zu den Bewertungen der Menschen, den wissenschaftlichen Erkenntnissen und den integrierenden universalistischen Leitvorstellungen nicht verlieren, darf nicht zum technokratischen Ergebnis von Analyse (2) und Grobprognose (3) werden. Innerhalb des beschriebenen Verfahrens der wechselseitigen Bezugnahme sind flächenbezogenes Leitbild und Prognose von vornherein nur Hilfsmittel zur Unterstützung eines regionalen Planungsverfahrens, das gebietliche Fehlentwicklungen möglichst schnell korrigieren soll434. Rasche Fehlerbeseitigung erscheint uns sinnvoller, als die Festlegung „ewige" verbindlicher Entwicklungsziele435, in deren starrer Verfolgung häufig erst Fehler entstehen. Regionalplanung wird dann suspekt, wenn sie glaubt, aufgrund angeblicher Entwicklungsgesetze oder bestimmter Weltanschauungen langfristig detaillierte Zielsetzungen unnachgiebig realisieren zu müssen. Warnende Signale, die die mangelnde Übereinstimmung mit der Realität anzeigen, werden dann leicht als böswillige Störungen „negativer" gesellschaftlicher Kräfte mißdeutet und verurteilt436. Ein wesentlicher Grund für die Entwicklung verbesserter Verfahren der regionalen Planung ist, daß es dringend notwendig wird, neben den von Land und Bund vorgegebenen Rahmenbedingungen und wachsenden Eingriffen in die regionale Entwicklung, die gebietliche Komponente mit ihren Besonderheiten - hinlänglich legitimiert - stärker zur Geltung zu bringen. Die in Unkenntnis der gebietlichen Details erarbeiteten Vorstellungen der Bundesraumordnung und Landesplanung bedürfen, dem Gegenstromprinzip folgend, der Kontrolle durch Vorstellungen und Ziele, die in Kenntnis der differenzierten gebietlichen Bedingungen gewonnen wurden. Durch die zunehmende Tendenz zur möglichst umfassenden Planung, bei der im Namen einer territorialen Gleichheit und zu schaffender wertgleicher Lebensbedingungen die Zielsetzungen der gebietlichen Entwicklungsplanung von den Landesbehörden immer differenzierter aufgeschlüsselt vorgegeben werden, wächst die Gefahr, daß teilräumliche Besonderheiten nicht ausreichend beachtet werden. Diese können dann infolge fehlender gebietsspezifischer Förderung nicht voll nutzbar gemacht werden. Es bedarf also ohnehin einer stärkeren Regionalisierung der Entwicklungsplanung. Das vorgeschlagene Verfahren einer „offenen" Planung verspricht dagegen, den Möglichkeiten der Teilräume gerecht zu werden und vermag gebietsadäquate, durch Verfahren ausreichend legitimierte Zielsetzungen zu erbringen. Gleichzeitig berücksichtigt es die zwangsläufige Unschärfe sozia-
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1er Prognosen. Beachtend, daß sichere Voraussagen unmöglich und menschliche Entscheidungen potentiell unwägbar sind (zweiter Teil), bewältigt es schrittweise und vorläufig die Aufgabe zukünftiger Gestaltung, legitimiert durch kontrollierendes Verfahren. Es ist daher wichtig, daß regionale Lebensraumgestaltung als eigenständiges gebietliches Verfahren erhalten bleibt bzw. entsprechend entwickelt wird und nicht total den vorgegebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen (la) untergeordnet und zu einem diesbezüglichen Ausführungsinstrument reduziert wird. Die gesellschaftspolitischen Gestaltungsmaßnahmen des Staates sind, solange sie nicht in staatlicher Omnipotenz alle Lebensbereiche bis ins einzelne durchdringen wollen (diese Tendenz ist durchaus sichtbar), im allgemeinen „langzeitliche Ordnungspläne" (vgl. W . WEBER, 1972, S. 23). Um diese zu verwirklichen, darf man sich nicht nur an starren vorgegebenen Richtgrößen (ζ. B. bundeseinheitlichen Förderungsschwellenwerten) orientieren, sondern eine gebietsspezifische Interpretation der langzeitlichen Ordnungsvorstellungen sowie wertorientierten Leitvorstellungen und eine daran orientierte Förderung ist erforderlich. Das läßt sich mit einem Verfahren, das die Berücksichtigung regionaler und teilräumlicher Gesichtspunkte erzwingt, besser erreichen als durch strikte Verwirklichung mehr oder minder differenzierter Landes- und Bundesvorgaben. Die bislang praktizierten Versuche, durch Beantragung von Förderungsmitteln bzw. durch stereotype Schwerpunktprogramme des Bundes, durch persönliche Kontakte oder „Beziehungen" zu den Oberen der mächtigen Planungsbehörden des Landes oder auch über die Gewährung von „Wahlgeschenken" wahlkampfreisender Politiker eine gebietsspezifische Entwicklung zu ermöglichen, sind unbefriedigend. Statt dessen sind der regionalen Planung bzw. deren Träger größere Selbständigkeit und ein ausreichender Entscheidungsspielraum einschließlich der Verfügungsgewalt über die entwicklungsrelevanten öffentlichen Gelder zu gewähren. So können die regionalen und kleinräumlichen Besonderheiten und die gebietliche Relativität der entwicklungsbeeinflussenden Abhängigkeiten und Systemzusammenhänge besser berücksichtigt und in einem entsprechend raumadäquaten flächenbezogenen Leitbild zielbeeinflussend zur Geltung gebracht werden. Die Probleme der regionalen Lebensraumgestaltung lassen sich nicht durch eine stärkere Verlagerung der Entscheidung auf die Landes- oder gar Bundesebene lösen. Das angedeutete Verfahren setzt zudem entsprechende regionale und teilräumliche Aktivitäten frei. Es bezieht die Betroffenen in den Entwicklungsprozeß ein, fördert den Konsens der an der Entwicklung Beteiligten und von ihr Betroffenen, ermöglicht koordinierte Entwicklung. Die Legitimation und Qualität regionaler Planung wächst, die Wahrscheinlichkeit, in
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regionaler und gebietlicher Dynamik wohltuende und gedeihende Lebensräume zu schaffen, nimmt zu. Es empfiehlt sich mehr Entscheidungsbefugnis und mehr Mittel der „Region", dem Gebiet bestmöglicher wechselseitiger Ergänzung der verschiedenen lebensräumlichen Funktionen, zu überlassen und eine dezentralisierte zieloffene Planung einzuleiten, um gemäß dem Verfahren der konsenssuchenden „schrittweisen wechselseitigen Bezugnahme" (s. o.) eine gebietsspezifische und bewohnergerechte Lebensraumgestaltung zu erleichtern.
2.6 Bleibendes Irrtumsrisiko, aber Risikominderung Man muß sich natürlich darüber im klaren sein, daß auch noch so gutgemeinte, noch so bürgernah und dezentralisiert durchgeführte Planungsverfahren nicht das Risiko des Unwägbaren auszuräumen vermögen. Unsere Planungen und Maßnahmen sind fast immer begleitet von unbeabsichtigten Nebenwirkungen, von Folgen, die wir nicht voraussehen; auch wandeln sich oft die Bedingungen, während wir noch in Orientierung an den vorherigen handeln. So kommt es immer wieder zu Entwicklungen, die wir „so" eigentlich gar nicht gewollt haben. Das gutgemeint Gewollte, will oft das Gute nicht werden. Mit berechtigter Skepsis verweist O. MARQUARD (1977, S. 18 f.) auf „die Unverfügbarkeit der Folgen"; viele Auswirkungen unseres Handelns und Planens entziehen sich der verläßlichen Voraussage und Steuerung, sie fügen sich nicht unseren Absichten. Je umfassender und vollständiger wir die soziale, ökonomische und auch räumliche Welt festlegen, planen und gestalten wollen, desto größer wird das Risiko, daß die erstrebte Perfektion an ihren Defekten dahinsiecht. Je totaler und umfassender die Planung, desto störender wird der Sand des Unvorhergesehenen wie des „Unverfügbaren" im Getriebe der Planungsmaschinerie knirschen und desto wahrscheinlicher wird es, statt des erhofften reibungslosen Ineinandergreifens zum Chaos der Wirkungen und Gegenwirkungen, kommen437. Es sei denn, ein immer umfassenderer und totalerer Zwang sucht das Störende, die „negativen Elemente" zu unterdrücken, zu verdrängen und läßt so eine immer totaler werdende Planung, gewissermaßen „im Dienste der Sache", am Ende in der Diktatur erstarren. Vernünftige und sich bescheidende Planung sucht daher vor allem den Spielraum des Handelns und der Wirkungen zu sichern, sie strebt keinen Totalmodellen und keiner Totalplanung gesellschaftlicher wie auch lebensräumlicher Strukturen zu. Sie orientiert sich zugleich hinsichtlich ihrer theoretischen Leitvorstellungen und ihren Modellen der Raumnutzung (flächenbezogene Leitbilder) auch an den Erfahrungen aus der Vergangenheit, denn Zukunft bedarf der Orientierung
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am bisher Bewährten. Die Spekulationen der Futurologie (einschließlich ihrer modellabhängigen quantifizierenden Zukunftsspiele) und der Geist der Utopie sind zu mäßigen durch Vergleich mit dem erfahrungsgemäß Machbaren, sind zu beleben durch Bedenken des in der Vergangenheit Gut-Gelungenen, denn auch dieses existiert. Flexibilität der Planung und Sicherung des Handlungsspielraumes bezüglich der Lebensraumgestaltung dürfte am ehesten durch einen regionalisierten Planungsprozeß konsenssuchender wechselseitiger Bezugnahme (s. o.), der in Kenntnis des gebietlichen Potentials in Eigeninteresse die gebietlichen Möglichkeiten ausschöpft, erreichbar sein. Aber auch ein solches Vorgehen schließt die Gefahr fehlerhafter Entscheidung niemals völlig aus. Die Möglichkeit enttäuschender Ergebnisse ist im Bemühen, unsere Welt zu machen, stets Inbegriffen. Daher bedürfen wir Verfahren der Zukunftsbewältigung, die es uns erleichtern, Irrtümer und Enttäuschungen zu verkraften und die zugleich reagierende neue Versuche erlauben. Indem mit dem vorgeschlagenen Ansatz die zukunftsgestaltenden Maßnahmen eine erhöhte Legitimation durch konsenssuchende politische Erörterung erfahren, sind auch die Fehlentscheidungen besser legitimiert. Irrtümer wären also immer mehr oder minder gemeinsame Irrtümer, die durch das Verfahren beteiligten Menschen, Bürger selbst, nicht die „Anderen" oder die „Verhältnisse" sind verantwortlich. Es ist dann nicht mehr so leicht, sich mit dem intellektuellen Trick, daß man zufolge des politischen Systems nicht selbst verantwortlich sei, aus den Konsequenzen des eigenen Denkens und Verhaltens zu stehlen. Es wächst das Verständnis, daß irren eben menschlich ist und Irrtum nicht nur Ausfluß der Gesellschafts- und Herrschaftsstruktur sein muß. Die Einsicht in die latente Präsenz des Irrtums wächst in dem Maße, wie es gelingt, die Menschen an der Planung zu beteiligen und wie ihnen durch diese selbstverantwortlicher Handlungsspielraum, der ja potentiell auch immer irrtumsverdächtig bleibt, bei der Nutzung des Lebensraumes eröffnet wird. Eigene Fehler ist man bekanntlich leichter bereit zu vergeben. Ohne Groll, ohne soziale Destruktion kann dann der neue Versuch beginnen. Planung wird zum gemeinsamen legitimierten Spiel von Versuch und Irrtum. Aus Fehlern lernend, sich zu entwickeln, ist nicht nur ein Grundzug allen Lebens, sondern auch ein sehr menschengemäßes Prinzip der Planung. Die Kunst der Planung liegt dann darin, die Irrtumsrate und Irrtumsschwere möglichst gering zu halten. Dies ist auch eine Frage der Intelligenz und der Fähigkeit, aus Vergangenem wie Neugefundenem vorsichtig tastend und abwägend, zu lernen. Aus der Notwendigkeit, die Dinge um sich zu gestalten, wird der Mensch nicht entlassen. Der Mensch ist in seinen Lebensraum gesetzt; ut operaretur eum, damit er ihn bebaue und gestalte. Wir sind
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zum Machen und Planen verurteilt, an der Muße allein müßten wir verhungern. Zum Machen aber gehört der Irrtum. So darf die Angst vor dem Irrtum, die apokalyptische Ahnung der Skeptiker oder Erlöser nicht abhalten vom immer wieder neuen und intelligenten Versuch, die Bedingungen wohldurchdachten Zwecken gemäß zu schaffen. Planendes Handeln ist eo ipso gerechtfertigt, aber es steht unter dem Gebot, Fehler bestmöglich zu bereinigen, Enttäuschungen zu bewältigen und dennoch immer wieder auf die Zukunft gerichtete gestalterische Aktivität freizusetzen. Auch diesbezüglich erscheint das Verfahren der schrittweisen wechselseitigen Bezugnahme hilfreich. Zusammenfassend ist zu betonen, daß es nicht darum geht, die beste aller möglichen Umwelten, den gewissermaßen idealen Lebensraum zu planen, vielmehr genügt es das Risiko der Fehlplanung so weit wie möglich zu vermindern. Risikoverminderung durch reaktionsfähige orientierte Verfahren statt beharrliche Planung vermeintlicher Vollkommenheit - heißt die Devise.
Fünfter Teil
Stadt-Land-Verbund, Ein flächenbezogenes LeitbOd für die regionale Lebensraumgestaltung „Bei den Überlegungen zur Zukunft ist es bedenklich, Eventualitäten ins Auge zu fassen und zu sagen: Trifft dies ein, so werde ich so handeln, trifft jenes ein, so beschließe ich dies. Denn oft kommt ein drittes und ein viertes, woran Du nicht gedacht, und Du stehst in der Luft, wenn es Dir an einem Fundament Deiner Entschließung fehlt." F. GUICCIARDINI, 1 4 8 3 - 1 5 4 0 !
1. Wert- und sinnorientierte Leitvorstellungen und Grundsätze
Auch bei der Anwendung zielfindender Planungsverfahren kann nicht auf normorientierte Leitvorstellungen verzichtet werden. „Offene" Planung, wie sie im „Verfahren der schrittweisen wechselseitigen Bezugnahme" (siehe vierter Teil) konzipiert wurde, entläßt nicht aus der Abhängigkeit von den in einer Gesellschaft geltenden Wertvorstellungen. Die konkreten Ziele der räumlichen Gestaltung lassen sich nicht lediglich aus den räumlichen Fakten - seien sie wirtschaftlicher, sozialer oder ökologischer Natur - ableiten, gewissermaßen als Resultate einer raumspezifischen Sachlogik. Die Bewertung dieser Fakten bleibt zwangsläufig an Werten, sinngebenden Leitvorstellungen etc. orientiert. Ebenso können die Ergebnisse sozialer Prognosen, da ohnehin nicht „wahr" und verläßlich, nur in Bezug auf die sinnsetzenden Wertvorstellungen einer Gesellschaft angemessen beurteilt werden. Auch die Versuche, die unterschiedlichsten Flächen- und Raumnutzungen zu simulieren, befreien uns nicht aus dem Zwang, letztlich wertorientiert zu entscheiden.
1.1 Vorgaben Entwickelte Gesellschaften einigen sich in ihren Verfassungen und den darauf aufbauenden Gesetzen auf zahlreiche allgemein zu akzeptierende Leitvorstellungen. Es ist nicht die Aufgabe dieser Studie, das gesellschaftspolitische Leitbild der Bundesrepublik in seinen raumbezogenen Aspekten darzulegen. Das ist hinlänglich und oft geschehen438. Aber wir müssen die Frage stellen, ob diese gesetzlichen Festlegungen als wertorientierte Leitvorstellungen für die Raumnutzung und für das vorgeschlagene Verfahren der Lebensraumgestaltung ausreichend und befriedigend sind. Die Parlamente von Bund und Ländern haben das gesellschaftspolitische Leitbild in zahlreiche Rechtsnormen gekleidet, die über Programme und Pläne verwirklicht werden sollen. So schreibt ζ. B. das Bundesraumordnungsgesetz in seinem § 1 vor, daß diejenige räumliche Struktur herbeizuführen ist, „die der freien Entfaltung der Persönlichkeit in der Gemeinschaft am besten dient". Der Landesentwicklungsplan ζ. B. von Hessen bindet die Landesregierung an das Ziel, „die Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingun-
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gen zu verbessern und im Lande wertgleiche Verhältnisse zu schaffen".439 Derartige Formulierungen mit ihrer bindenden Unverbindlichkeit scheinen dem Regionalplaner einen relativ weiten Interpretationsspielraum zu belassen. Doch gerade dieser Interpretationsspielraum erhöht für die übergeordnete Landesbehörde die Versuchung, ihn selbst auszufüllen und landesweit ein verbindliches Leitbild der Regionalplanung festzulegen. Da durch die Landesbehörden ohnehin die gebietliche Umverteilung raumrelevanter Investitionszuschüsse und Förderungsmittel vorgenommen wird, hegt es nahe, auch das Muster der räumlichen Verteilung im Lande, den Verteilungsschlüssel, zu beeinflussen oder gar zu bestimmen. So werden Landesentwicklungspläne erarbeitet, die in zahlreichen Investitionsbereichen die Verteilung raumrelevanter öffentlicher Mittel langfristig weitgehend festzuschreiben suchen. Besonders fortgeschritten auf diesem Wege dürfte das Land Hessen sein. Der Landesentwicklungsplan in seinen einzelnen 4-jährigen Durchführungsabschnitten „enthält alle wesentlichen Investitionen und auch jene gesellschaftspolitischen Maßnahmen, die die Landesregierung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Bevölkerung direkt und indirekt durchführen bzw. mitfinanzieren will"440. Somit umfaßt der Landesentwicklungsplan „praktisch das gesamte Arbeitsprogramm, das sich die Landesregierung . . . vorgenommen hat und das wesentlich über das hinausgeht, was man bisher in der Bundesrepublik unter Landesentwicklung verstanden hat" 440 . Der Gestaltungsspielraum der Regionen bzw. der regionalen Planungsgemeinschaften wird durch derartige Festlegungen beträchtlich eingeengt. Wesentliche Aufgabe der Regionalplanung ist es dann, die vom Land zugedachte Finanzmasse in Bindung an landesplanerische Vorgaben kleinräumlich aufzuschlüsseln. Zweifellos liegt in dieser Beschränkung des Entscheidungsspielraumes eine Gefahr. Regionalplanung droht so lediglich zur Vollzugshilfe bei der Durchsetzung landesplanerischer Festlegungen zu werden441. Wahrscheinlich wird es möglich sein, leichte Korrekturen an den Landesvorgaben vorzunehmen, insbesondere dann, wenn die alle 5 Jahre zulässige Überarbeitung der regionalen Raumordnungspläne zu große Diskrepanzen zwischen den Festlegungen des Landes und der Realität aufdeckt. Insgesamt dürfte die Durchsetzungskraft der Regionen bei der Korrektur der Landesvorgaben aber relativ gering sein; nach dem hessischen Landesplanungsgesetz ζ. B. ist der Landesentwicklungsplan (S. 4) „für die Träger der Regionalplanung (die regionalen Planungsgemeinschaften - der Verf.) verbindlich"442. Darüber hinaus sind die einmal aufgestellten regionalen Raumordnungspläne auch von anderen Planungsträgern zu beachten; verbindliche Abhängigkeit erhöht nicht unbedingt die Flexibilität. Angesichts der starken Bindung der Regionalplanung an ζ. T. sehr detaillierte und langfristige
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Festlegungen durch das Land, erheben sich Zweifel, ob die gebietlichen Besonderheiten, das gebietliche Entwicklungspotential und die spezifischen Eignungen der Regionen und ihrer Teilräume angemessen zur Geltung kommen werden. Es erscheint daher notwendig - die Einengung durch Landesvorgaben mindernd - aus der genauen Kenntnis der regionalen bzw. gebietlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten ein gebietsspezifisches Leitbild der Raumgestaltung für die einzelnen Regionen zu entwickeln. Das gesellschaftspolitische Leitbild, der umfangreiche gesetzgeberische Rahmen und die Vorgaben der Landesplanung (Landesentwicklungspläne o. ä.) vermögen dieses Leitbild der Raumgestaltung nicht zu ersetzen; als Leitvorstellungen für die flächenbezogene Gestaltung des Daseinsraumes bleiben sie zu allgemein und hinsichtlich der räumlichen Besonderheiten zu indifferent. So lassen sie ζ. B. im Hinblick auf die Raumnutzung jene universalistischen Gesichtspunkte weitestgehend vermissen, ohne die die räumliche Gestaltung einer Region Gefahr läuft, lediglich additiv den Anforderungen verschiedener, entsprechend repräsentierter Interessen, den funktionalen Erfordernissen oder den parteipolitisch beeinflußten Zielen der Landespolitik gerecht zu werden. Es ermangelt ihnen sowohl an wertorientierten wie an raumspezifischen Hinweisen, durch die eine Konzeption der Raumnutzung gefördert wird, die den Wünschen und Bewertungen der Menschen in Ausnutzung des gebietlichen Potentials weitestgehend entgegenkommt. Es ist daher erforderlich, zunächst allgemeine Leitvorstellungen der Raumnutzung und -gestaltung aufzuzeigen. Daraus sollten dann gebietsspezifische Grundsätze abgeleitet werden. Diese, wie auch die allgemeinen Leitvorstellungen und die gesetzlichen Grundlagen, sind wichtige Voraussetzungen, um ein konkretes flächenbezogenes Leitbild für die Gestaltung einer Region zu erarbeiten. Dieses flächenbezogene Leitbild kann dann zu einem Zielrahmen der gebietlichen Entwicklung werden, der sowohl wertorientierte normative Gesichtspunkte der Raumnutzung als auch das Potential und die Eignung der Region berücksichtigt. Nachdem dieses Leitbild in der Region durch kooperative Erörterung politisch legitimiert wurde (vgl. vierter Teil), vermag es als modifizierendes Gegengewicht zu den Festlegungen der Landesplanung zu einer gebietsadäquaten Entwicklungsplanung beizutragen. So kann erreicht werden, daß der durch das gesellschaftspolitische Leitbild gewährte Freiraum nicht ausschließlich durch mehr oder minder „gebietsferne" Entwicklungsplanung des Landes, sondern gleichzeitig durch gebietsspezifische Regionalplanung ausgefüllt wird.
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1.2 Vom Ansatz einer lebensräumlichen Ethik zu wert- und sinnorientierten Leitvorstellungen der Lebensraumgestaltung Es wäre ungenügend, allgemeine Leitvorstellungen der Lebensraumgestaltung lediglich aus dem gesetzgeberischen Rahmen unserer Gesellschaft ableiten zu wollen. Es ist vielmehr zu fragen, ob über diese kulturspezifischen Setzungen und Vorgaben hinaus eine tiefer fundierte Grundlage für die Gestaltung unseres Daseinsraumes gefunden werden kann. Aus den Überlegungen zum Verhältnis von Raum und Mensch im ersten Teil dieser Arbeit und in Beachtung der dort erörterten Raum - Verhalten - Theorie (erster Teil, Kap. 7; 7.8, 7.9), ergeben sich zunächst folgende, allerdings noch recht allgemeine Empfehlungen für die Praxis einer dem Menschen gerechtwerdenden Gestaltung des Lebensraumes: 1. Man gestalte den Lebensraum nie so, als ob man verläßüch und langfristig wüßte, wie ihn der Mensch nutzen werde. Man vermeide starre Festlegungen der Lebensraumnutzung und invariable Raumstrukturen um so entschiedener, je detaillierter und umfassender, je teurer und langfristiger sie sein sollen. Alle das räumliche Verhalten betreffenden Entscheidungen des Menschen sind vielfältig bedingt, und Bedingungen ändern sich bekanntlich; daher ist Wandel und nicht die Konstanz konkreter Raumnutzungen normal. Also ist eine möglichst hohe Flexibilität der Überbauung und möglichst hohe Variabilität der Flächennutzung anzustreben (ausführlicher W. MOEWES 1975). 2. Man sichere durch die Gestaltung des Lebensraums, daß der Mensch stets und möglichst leicht den biologisch vorgegebenen Tendenzen seines raumbezogenen Verhaltens gerecht werden kann. 3. Man vermeide Anpassung an lebensräumliche Bedingungen, die das Risiko späterer Schädigung erhöhen. 4. Man eröffne ein derart differenziertes Angebot an lebensräumlichen Nutzungsmöglichkeiten, eine derartige Vielfalt unterschiedlicher Möglichkeiten der Raumnutzung, daß es erleichtert wird, diejenigen auszuwählen, die den individuellen oder gemeinschaftlichen Bewertungen und Handlungsmöglichkeiten am ehesten gerecht zu werden versprechen. Man erhöhe den raumbezogenen Handlungsspielraum und erleichtere, daß irrtümliche Entscheidung revidiert werden kann. 5. Man schütze den Lebensraum vor Beeinträchtigungen und Zerstörungen, die dessen Funktionsfähigkeit und damit auch den Handlungsspielraum des Menschen einengen. Nun ist ja der Mensch zwangsläufig in eine irgendwie geartete Kultur eingebettet. Wie die angegebenen Empfehlungen stets nur unter den ein-
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schränkenden Bedingungen des verfügbaren Daseinsraums und des daran gebundenen ökologischen Potentials verwirklicht werden können, so werden auch die Notwendigkeiten der jeweiligen Zivilisation - also etwa ihre Produktionsweise, ihr technischer Standard, das vorherrschende Anspruchsniveau und ganz allgemein der in ihr praktizierte Lebensstil - die Verwirklichung der obigen Forderungen vielfältig beeinflussen. Wir sind eben auch, um mit A. GEHLEN ( 1 9 6 0 ) zu sprechen, „instinktentsicherte Mängelwesen" und als solche um des Überlebens willen gezwungen, Kultur und Zivilisation selbst zu formen, um so Orientierung für unser Handeln zu finden. Kultur und Zivilisation bilden sich nicht nur gemäß ihrer materiellen Basis, der Entwicklung der Produktionsmittel o. ä. heraus, sondern durchaus auch in Orientierung an den Vorstellungen vom Sinn der menschlichen Existenz, die ihrerseits keineswegs nur Folgewirkungen der materiellen Voraussetzungen sind. Auch viele Raumnutzungen unterschiedlichster Art müssen in erster Linie als Auswirkungen sinnorientierter Entscheidungen gedeutet werden. Eine Gesellschaft, die etwa unter dem Primat militärisch-strategischer oder weltanschaulich-missionarischer Überlegungen handelt, wird den Lebensraum anders formen als eine Gesellschaft, die geistig wie materiell selbstgenügsam und isoliert existieren will. Zudem bliebe „Kultur" wie auch gesellschaftliches und privates Leben, das auf Sinngebung verzichtet, der zufälligen und vordergründigen Orientierung oder materiellen Notwendigkeiten unterworfen, würde eines Gerüstes für langfristig orientiertes Handeln weitestgehend entbehren. Es empfiehlt sich also auch, nach unserer Sinngebung, unserem obersten Ziel der Gestaltung des Lebensraums, zu fragen. Aber welche Sinngebung dürfte denn aus zeitgenössischer Sicht überhaupt beanspruchen, als oberster Grundsatz über aller Lebensraumgestaltung zu stehen? Spätestens hier kommt man nicht an dem Bekenntnis, an der subjektiven Entscheidung vorbei, was denn soviel Wert und Sinn hat, um vor dem anderen gewollt zu werden; hier auch endet der wissenschaftliche Versuch. Aber es bietet sich hilfreich die Hand des Philosophen, wenn er wie Aristoteles „als Endziel im höheren Sinn" das „seiner selbst wegen Erstrebte" empfiehlt, also das, „was allezeit seinetwegen und niemals eines anderen wegen gewollt wird" und wenn er dann zu dem Ergebnis kommt, daß eine „solche Beschaffenheit" vor allem die „Glückseligkeit"besitze. Die Glückseligkeit also sei „als ein Vollendetes und sich selbst Genügendes" das eigentliche „Endziel" allen Handelns443. Einem solchermaßen Übergeordneten zuzustreben, bedürfe auch keiner Rechtfertigung. Wollen wir also, diese Gedanken aufnehmend, die Glückseligkeit oder sagen wir das Glücklichsein und Wohlbefinden als sinn- und zielgebend
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unserem Handeln zugrundelegen und nicht irgendeine andere kulturspezifische Priorität im Dienste irgendeiner Sache, sei es des Sieges, der Askese, der Kasteiung, des Wohllebens, der Ehre, der Herrschaft, der Gleichheit oder was sonst Befriedigung geben und Sinngebung sein mag, dann bleibt als weitere Frage noch immer offen, was denn die Kriterien dieses Glücklichseins seien und wie, durch welche Art zu leben, es zu erreichen sei? Ist denn das Glücklichsein als einigermaßen anhaltender Zustand für den Menschen überhaupt erreichbar oder weicht es ständig vor unserem Zugriff aus? Hat etwa S. FREUD ( 1 9 3 0 , S. 2 4 ) recht, wenn er sagt, „die Absicht, daß der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten", denn die Kultur verlange immer wieder, daß wir uns vieler unserer Triebe versagen. Und selbst wenn man sich hemmungslos seinen „Trieben" und Gelüsten, der Schwelgerei, dem Sinnenrausch hingeben würde, bliebe nicht nach all der raschen Befriedigung ein schaler Geschmack zurück; läßt nicht die mühelose Erfüllung der Wünsche und Begierden auch Überdruß und Leere entstehen? Ist es nicht vor allem die Anstrengung, die das Erreichte köstlich macht? Und selbst wenn es so wäre, daß glücklich sei, „wer alles hat, was er will", wie kein geringerer als AUGUSTINUS glaubt441, so bleibt doch Zweifel, ob er auch dauerhaft glücklich bleiben kann, wenn alles bei ihm ist, wenn er dann alles hat, was er wollte. Droht nicht der neu auftretende, noch unerfüllte Wunsch über das hinaus, was man hat, ihn wieder, um das gerade ergriffene Glück zu bringen? Hat unser Begehren Grenzen, ist unser Verlangen nach immer Weiterem, nach Mehr und Höherem - von der forschenden Neugier bis zur Verfügungsgewalt über Mittel und Menschen - nicht unstillbar und immer wieder leicht zu erregen? Und kann nicht andererseits auch Verzicht und Enttäuschung oder gar Leiden, also was wir eigentlich nicht wollen, dennoch Glücklichsein begründen? Selbst das ist möglich, wie Beispiele zeigen. So läßt sich zweifelnd fragen, ist denn Glück überhaupt machbar, kann man es gewissermaßen managend, organisierend zu uns zwingen? Oder versagt sich Glück gerade dem, der all sein Streben darauf gerichtet hat, dem vor lauter Anspruch auf Glück im allgemeinen wie auch auf Lustlösung im Privaten die entspannende Freude entflieht? So weiß etwa der Psychiater, daß sich Sexualneurotikern „das Glück, nach dem sie jagen" nur zu leicht entzieht, so wie umgekehrt manchem Zuchthäusler, der in seinem Unglück einen Sinn, eine Chance zur Besinnung und zum Wandel zu sehen vermag, eine beglückende Empfindung überkommt, ihm neue Hoffnung, neuer Sinn zuwächst und ihm so unerwartet das Glück geradezu in den Schoß fällt - „Paradoxien des Glücks" (V. E. FRANKL 1 9 7 6 , S. 1 0 8 ) . Ist Glück gar Zufall, braucht es vor allem Gelassenheit und Warten? Ist Glück etwas, was man ergreift, aber nicht allen Ernstes anstrebt? Fragen, die offenbleiben.
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Ist aber nicht zumindest eines sicher, daß es des Grundes zum Glücklichsein bedarf? Hat nicht auch, wer „grundlos glücklich" scheint, tieferen Grund dazu? Zwar ist nicht jeder, der in den Augen der anderen „allen Grund hat, glücklich zu sein" auch glücklich; doch das liegt wohl eher daran, daß die vermeintlichen Gründe subjektiv nicht als hinreichend erkannt werden, um „Glück" entstehen zu lassen. Ist Glücklichsein nicht vor allem die Auswirkung entsprechender Gründe, glücklich zu sein? Damit wäre Glücklichsein, wie auch die Freude, etwas „Nachfolgendes"445; es bedarf also bestimmter Bedingungen. Womit sich die Frage erhebt, welche Bedingungen und Gründe vor allem denn solche glücksbringenden Effekte haben. Auch hier erweist sich, indem ARISTOTELES an eine Aufschrift in Delos erinnert, der Philosoph als hilfreich: „Aber das Süßeste ist, wenn man erlangt, was man liebt". Danach geht es zum einen um das Erlangen, das Erreichen von Zielen, von Gütern etc., also um zielgerichtetes Handeln und die befriedigende Wirkung der Zielerreichung. So definiert auch etwa T H . HOBBES Glück „als möglichst wenig gehindertes Aufsteigen zu immer weiteren Zielen"446. Hier tritt zugleich der Aspekt der immer neuen und über die bisherigen hinausführenden Ziele hinzu. Ziele anstreben, erreichen und neuen Zielen erfolgversprechend folgen, vermittelt demnach Glück. Daß auf die Zielerreichung neue Sehnsucht folgt, mindert nicht unbedingt die beglückende Wirkung des bisherigen Erfolges. Auf jeden Fall vermag erfolgreich zielorientiertes Handeln, auch wenn es immer wieder von neuem beginnt, bzw. auf Weiteres gerichtet ist, eher Freude und Glücksgefühl zu spenden, als ständig erfolgloses Bemühen, dies hat zerstörende Wirkung. So ruht durchaus im Tätigsein, im Erstreben von Zielen und Dingen die Chance, glücklich zu werden und dies vor allem dann, wenn wir das, was wir zu erlangen, zu erwerben, zu erreichen suchen, lieben. Und in diesem zweiten Aspekt der delischen Weisheit, daß es dem Glücke dient, wenn man liebt, was man erlangt, wird der sinn- und glückstiftende Effekt einer zustimmenden Bewertung der Ziele, die man zu erlangen sucht, sichtbar. „Man findet das Glück nur darin, zu tun, was man liebt, und nur dort, wohin es den Menschen aus dem Herzensgrunde zieht",
schreibt M. PROUST (Tage der Freuden, 1974, S. 36); Erfolg als einziges Lebensziel dagegen tauge wenig. An das, was man zu erlangen sucht, sind also qualitative Maßstäbe anzulegen, hinsichtlich des emotionalen Wertes bzw. des glücks- und sinnstiftenden Potentials. Zu entscheiden ist dies allerdings nur gemäß sehr subjektiver Bewertungen. Und wenn THOMAS V O N AQUIN glaubt, „der Besitz des Guten ist die Ursache der Freude", so ist das Gute in den Augen der
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verschiedenen Menschen zufolge deren unterschiedlicher Bewertung eben oft etwas recht Verschiedenes und stets nur subjektiv gut. Aber in diesem subjektiv Guten, Liebenswerten liegt die Möglichkeit, das eigene Glück zu finden, auch dann, wenn man immer wieder Neuem als gut Erkanntem zustrebt. Durch welchen Grand und worüber ein Mensch glücklich werden kann, ist von Person zu Person verschieden, also bedarf es der jeweils adäquaten Objekte, Dinge, Gelegenheiten, Ziele. Das können äußere Güter sein wie auch innere, geistige oder emotionale Bereiche - ein schönes Haus, ebenso wie ein Kunstwerk, ein Buch, Freude an der Musik oder die Nähe zu einem geliebten Menschen, aber ebenso das Eintreten für ein hohes Ziel. Die Dimensionen der jeweils geeigneten glücksstiftenden Sachverhalte sind höchst verschieden. So kann im wissenschaftlichen Erkennen, im Schauen des Schönen, in der liebevollen Berührung, im Erwerb geschätzter Güter wie auch in der hingebenden Gestaltung von Dingen, in der Pflege des Liebgewonnenen oder im Handeln für eine Idee ein glückbringender Effekt ruhen. Handeln und erreichen, lieben und sich hingeben, Aktivität und Erfolg eröffnen Glücklichsein, dies um so mehr, wenn das diesbezügliche Verhalten zugleich Ausdruck unserer Sinnorientierung ist, wenn wir das, was wir tun, im Hinblick auf einen von uns akzeptierten und angestrebten Sinn tun. Denn obzwar die oberste Sinngebung als das in sich gerechtfertigte als „ein Vollendetes und sich selbst Genügendes" (ARISTOTELES) die Glückseligkeit sein soll, so ist diese selbst doch vor allem über ein am Sinn orientiertes Verhalten zu erreichen. Sinnbezogen zu handeln, stiftet Glück, so wie dieses Glück zu erreichen, durchaus auch selbst Sinn ist. Der „Wille zum Sinn"447, das Bedürfnis auf Übergeordnetes, auf Leitvorstellungen hin zu leben, dürfte geradezu eine anthropologische Konstante sein - eine Folge unserer starken Lösung aus dem Instinkt, Konsequenz der Evolution und der damit gewonnenen Fähigkeiten unseres Großhirns, flexibel zu entscheiden. Diesen Sinn, um daran orientiert zu handeln, müssen wir jedoch selbst suchen und finden. Das ist einiger Mühe wert, wie die unerfreulichen Begleiterscheinungen eines weit verbreiteten Sinnlosigkeitsgefühls nachdrücklich belegen. Treffend formuliert V . E. FRANKL (1976, S. 124): „Im Erfüllen von Sinn verwirklicht der Mensch sich selbst."
Indem der Mensch selbstgewähltem Sinn nachlebt, wird das Glücklichsein erreichbar. Doch Sinnfindung und sinnorientiertes Handeln bedarf der geeigneten Gelegenheiten und Bedingungen. Diese müssen eröffnet werden. Und das ist der Grund, warum auch bezüglich der Lebensraumgestaltung das Nachdenken über das Glück und seine Voraussetzungen notwendig ist.
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Zweifellos gehen auch von lebensräumlichen Situationen „Aufforderungen" aus, sein Handeln so oder so zu orientieren. Eine Bücherei, ein Garten, ein Theater enthalten als Objekte auch Angebote für eine sinnorientierte Betätigung. Auch lebensräumliche Möglichkeiten enthalten Sinnchancen und Tätigkeitschancen, und beide sind Glückschancen. Wenn der Psychiater etwa auf das Phänomen der „Sonntagsneurose" verweist, die häufig eintritt, wenn der Mensch vorübergehend aus der Bindung einer sinnstiftenden beruflichen Tätigkeit entlassen wird und in ein sonntägliches Vakuum fällt, dann mag dies auch an mangelnder Gelegenheit zu anderweitiger sinnorientierter Aktivität liegen, und dies ist oft genug eine Folge ungünstiger lebensräumlicher Bedingungen. Zweifellos können also mit einer entsprechenden Gestaltung des Lebensraumes Sinnchancen als sinnstiftende Möglichkeiten der Betätigung, des Erlebens und Erkennens eröffnet werden. Allerdings lassen sich angesichts der Vielfalt solcher sinnorientierten Aktivitäten sowie der damit verbundenen unterschiedlichen Bewertung lebensräumlicher Fakten keine allzeit verbindlichen Kataloge gewissermaßen sinnmobilisierender Gelegenheiten vorgeben. Es bedarf vielmehr vor allem der Vielfalt der Möglichkeiten. Daher ist der Lebensraum so zu gestalten und so zu organisieren, daß er vielfältig verfügbar bleibt. Man maximiere die Nutzungschancen, so daß der Bau eines Wochenendhauses ebenso möglich ist, wie der kontemplative Waldspaziergang, so daß der jeweilige Interessent einen wohnungsnahen Kleingarten oder einen Bootsliegeplatz finden kann, einen Stellplatz für den Campingwagen oder ein Appartement in der belebten City, eine Bibliothek ebenso wie den Konzertsaal. Man bedenke aber, daß trotz unseres sinnsuchenden Großhirns in uns auch Instinktreste, genetisch bedingte Verhaltenspotentiale vorhanden sind, die bisweilen mächtig danach drängen, sich auszuleben. Auch sie brauchen ihre „Gelegenheiten" und sei es der Sportplatz zum Abreagieren des Bewegungsdranges und aggressiven Potentials. Neben der Stille des Studierzimmers, neben dem intellektuellen Vergnügen an einer schönen Ausstellung, was unser Großhirn befriedigen mag, kann auch ein Garten oder die Weite des freien Raumes, um den Instinktresten gemäß mit den Händen zu wühlen oder das Land zu durchstreifen und in die Ferne zu sehen, sehr wohltuend und glückbringend sein. Sicherlich sind lebensräumliche Gelegenheiten und Bedingungen nicht die alleinigen und auch nicht die entscheidenden Voraussetzungen, um das Glücklichsein zu ermöglichen, aber immerhin ist auch sicher, daß durch starke und nachhaltige lebensräumliche Einschränkungen die Chancen, glücklich zu werden, drastisch verringert werden können, was nicht ausschließt, daß es bisweilen gerade dann gelingt, in das „Glück" der Halluzinationen, der Träume, in den Heroismus asketischen Leidens auszuweichen oder zur heilsamen Besinnung zu gelangen. Im allgemeinen winkt Glück
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jedoch vor allem in der Möglichkeit, nach eigener Auswahl sinnorientiert zu handeln und zu leben und weniger in der Not und der Anpassung an Ungeliebtes. ARISTOTELES fragt: „Was hindert uns, denjenigen als glückselig zu bezeichnen, der gemäß vollendeter Tugend tätig und dabei mit äußeren Gütern wohl ausgestattet ist, und das nicht nur eine kurze Zeit, sondern ein ganzes, volles Leben lang."
Könnte man nicht mit den äußeren Gütern zugleich auch die lebensräumlichen Bedingungen meinen (enge Mietwohnungen oder eigenes Haus) und schlösse nicht das gemäß vollendeter Tugend Tätig-Sein auch das gemäß eigener Sinnentscheidung im Räume Handeln-Können ein? Sei es wie es wolle, es liegt auf jeden Fall in der Möglichkeit, gemäß eigener Entscheidung tätig zu sein und zu erlangen, was man mag oder liebt, eine Möglichkeit, Glück zu finden. Viele unserer Entscheidungen und Handlungen haben geradezu zwangsläufig einen Raumbezug, und so sind lebensräumliche Chancen eben auch Glückschancen. Die vorgestellten wenigen Überlegungen zum Glück legen folgende zusammenfassende Argumentation nahe: Der Mensch bedarf der Gründe, um glücklich zu sein. Ein wesentlicher Grund kann im Anstreben und Erreichen von Zielen, die zugleich unter Sinnbezug stehen, liegen. Um aber immer wieder neu, hingebungsvoll und erfolgreich tätig zu sein, bedarf es der geeigneten Gelegenheiten und Objekte. Diese mögen sich beziehen auf die unmittelbar praktische Tätigkeit, auf das Handgreifliche oder auf die Dimensionen des Geistigen, auf das Erleben und Erkennen, gleichwie, sie müssen vorhanden sein. Um aber der Individualität der Menschen und den interpersonell oft unterschiedlichen Bewertungen der Gelegenheiten und Objekte gerecht werden zu können, bedarf es in Ermangelung eines einzig und allein seligmachenden „Glücksobjektes" der Vielfalt unterschiedlichster Möglichkeiten. Dies gilt umso mehr, wenn dem zielorientierten Handeln zugleich sinnstiftende Qualität zukommen soll. Dann müssen die Gelegenheiten und Objekte Sinnpotential haben. Und wenn man bedenkt, in welch unterschiedlichen Aktivitäten subjektiv Sinn liegen kann, von der Hingabe an die Kunst, die Wissenschaft, die Politik, an das Transzendentale, die Familie und Kinder oder das gegenständliche Hobby, dann wird deutlich, wie breit die Palette der Handlungs- bzw. Zielmöglichkeiten sein muß. Bedenkt man ferner, daß der Mensch, um glücklich zu sein, nicht nur sinnorientiert handeln und Ziele erreichen soll, sondern auch so handeln soll, daß er seine Neigungen (ζ. B. auch zur Muße) und Begabungen ausleben kann und seinen genetischen Verhaltenstendenzen gerecht wird, also hinsichtlich Vernunft und Antrieb in
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Übereinstimmung mit sich selbst ist, dann wird einsichtig, daß ein so differenziert bedingtes Glück schwerlich in einer Welt der Monotonie und Einengung zu finden ist. Ob Glücklichsein als ein Dauerzustand zu erreichen ist, mag bezweifelt werden, sicher aber ist es möglich, immer wieder Momente des Glücklichseins mit dem Erreichen sinnorientierter Ziele und durch subjektiv sinnvolles Verhalten zu gewinnen. Diese Momente des Glücks lediglich zu mehren, ist bereits ein sinnvolles Bestreben. Daß günstige wünsch- und zielerfüllende lebensräumliche Bedingungen diesbezüglich hilfreich sein können, steht außer Zweifel. Daher ist es berechtigt, auch die Lebensraumgestaltung unter die oberste Aufgabe zu stellen, die Chancen der Menschen, glücklich zu sein, zu mehren; fast möchte man fragen, worunter denn sonst. Aus all unseren bisherigen Überlegungen destilliert sich schließlich folgende oberste wertorientierte Leitvorstellung der Lebensraumgestaltung als Ansatz zu einer lebensräumlichen Ethik heraus: Man gestalte den Lebensraum so, daß dem Menschen das Glücklichsein, Wohlbefinden und die Erhaltung der Gesundheit erleichtert wird - indem die größtmögliche,Vielfalt' der Raumnutzungsmöglichkeiten eröffnet wird, um Gelegenheit zu geben, gemäß subjektiver sinngebender und potentiell variabler Bewertung im Raum sinnorientiert und zielerreichend tätig zu sein, Um darüberhinaus Gelegenheit zu Stimulation und Entfaltung der Neigungen und Begabungen der Menschen zu geben und um den genetischen Verhaltenstendenzen im notwendigen Maße gerecht zu werden. (So oder so, es bedarf der vielfältigen Gelegenheiten sowohl für Aktivitäten unterschiedlichster Art wie auch zur störungsfreien Muße und zum Faulenzen, damit ein jeder „gemäß seiner Fasson selig werde".) - indem der Raum für-die unterschiedlichen Aktivitäten und Wünsche soweit wie möglich »verfügbar' ist. - indem durch reichliches und differenziertes Raumangebot und Abbau von Einschränkungen die .Erreichbarkeit' lebensräumlicher Ziele und der .Handlungsspielraum' des einzelnen erhöht wird, - indem die Nutzung des Raumes nicht starr und langfristig festgelegt wird, sondern bei Bewertungs- und Situationswandel möglichst leicht zu verändern' bzw. anzupassen ist, - indem der Raum nicht in Orientierung an vermeintlich gesetzmäßigen bzw. exakt voraussagbaren Entwicklungen gestaltet wird, sondern nur kurzfristiger und schrittweise zu verfolgender Veränderung unterworfen wird, - indem der Raum so gestaltet wird, daß zwar die Gewinnung ausreichender
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Einkommen ermöglicht wird, zugleich aber das ökologische Potential nicht überfordert wird und eine angemessene materielle, geistige, kulturelle und soziale Versorgung der Menschen gewährleistet bleibt, - indem durch all die aufgezählten Aspekte die Chancen steigen, durch personengerechte Lebensraumnutzung und -gestaltung schädigende Anpassungszwänge zu vermeiden und nicht nur Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst, sondern gewissermaßen selbstregelnd .Harmonie' zwischen dem Streben des einzelnen nach Sinn und Glücklichsein und Wohlbefinden und der lebensräumlichen Ausstattung und Struktur zu finden, - indem aber auch raumbezogene Einzelinteressen und Veränderungen, die die vielfältigen Nutzungswünsche in einer Gemeinschaft zu stark einzuschränken drohen oder wichtigen Gemeinschaftsinteressen entgegenwirken, im notwendigen Maße geändert werden. Die skizzierte oberste Leitvorstellung dürfte der Eigenart des menschlichen Verhaltens weitestgehend gerecht werden und entspricht dem im ersten Teil der Arbeit (Kap. 2, 4, 6) aufgezeigten Menschenbild, ist aber zugleich auch mit dem im vierten Teil entwickelten Planungsverfahren verträglich. Wie stets bei allgemeinen Leitvorstellungen liegt die Schwierigkeit jedoch in ihrer Konkretisierung am Detail und in ihrer Realisierung unter den Bedingungen einer vorgegebenen Wirklichkeit. Es ist daher sinnvoll, diesen obigen Ansatz zu einer lebensräumlichen Ethik, der bei aller Abstraktheit auf zumindest einen gewissen Konsens hoffen darf, durch weitere Leitvorstellungen zu ergänzen, die zwar noch immer relativ abstrakt bleiben, aber dennoch einige konkretere Hinweise zur Lebensraumgestaltung geben. Dabei kann die folgende Auflistung wert- und sinnorientierter Leitvorstellungen zur Gestaltung des Daseinsraumes keinesfalls als vollständig angesehen werden, verweist aber auf einige wichtige allgemeine Aspekte der Regionalgestaltung, die in den der Gesellschaft vorgegebenen Rahmengesetzen zur Raumordnung und ganz allgemein zur Lebensraumgestaltung bisher noch keine angemessene Berücksichtigung fanden. 1. Unser Lebensraum muß so gestaltet sein, daß er dem Drang zu explorierendem Neugierverhalten und dem Verlangen nach Orientierung bestmöglich gerecht wird. Der Daseinsraum muß also wohlstrukturiert und unser Interesse anregend sein, er muß „erkundbar", also verkehrsmäßig gut erschlossen sein, muß dabei aber gleichzeitig die Orientierung erleichtern, darf nicht verwirrend wirken. Die Ausstattung unseres Lebensraumes soll so vielfältig und anregend sein, daß sie zur räumlichen Exploration, zur Entfernungsüberwindung wie auch zur geistigen Exploration und Entfaltung herausfordert, ohne zu überfordern. Es muß dem
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einzelnen erleichtert werden, sein personen- und situationsspezifisches „optimales Stimulationsniveau" zu finden. Abstumpfende Eintönigkeit ist ebenso wie ständige Reizüberflutung zu vermeiden. 2. Der Lebensraum ist so zu gestalten, daß dem Verlangen nach räumlicher Bewegungsfreiheit, dem Drang zur geistigen und körperlichen Motorik gemäß unserer Organausstattung durch Betätigung, Gestaltung, durch raumbezogene Aktivität entsprochen werden kann. Die räumlichen Voraussetzungen sollen zur wohldosierten körperlichen Aktivität, zur Bewegung im Freien, zum Umgang mit Geräten, zur Ausübung und Entwicklung von Fertigkeiten und Neigungen, aber auch zur geistigen, schöpferischen Aktivität anregen. Wir benötigen Raum, in dem wir selbstentscheidend gestalten, uns betätigen und bewegen können. 3. Ein ausreichender und vielfältiger Kontakt zur belebten und unbelebten „Natur" soll ermöglicht werden; der Stabilisierung der seelischen und körperlichen Gesundheit dienende natürliche und naturnahe Raumelemente sind in größtmöglichem Umfang bereitzustellen. 4. Dem Verlangen, Schutz vor Störungen und Beeinträchtigungen, vor Einblick wie auch dem zeitweiligen Bedürfnis nach Alleinsein, nach Rückzug und ungestörter Ruhe, muß durch entsprechende Lebensraumgestaltung entsprochen werden. Die Individualsphäre der Menschen muß auch räumlich gesichert werden, das Gefühl einer räumlichen Geborgenheit ist zu vermitteln. Der Mensch muß über Schutzraum und Eigenraum verfügen. 5. Die begrenzte Dichtetoleranz des Menschen darf nicht überfordert werden; die personenspezifischen Distanzzonen sind zu beachten; Überbelastung durch zu hohe interpersonelle Dichte ist zu vermeiden. 6. Dem einzelnen Menschen sollte mehr Raum bereitgestellt werden, über den er selbst und weitestgehend frei verfügen kann. In einem solchen Raum gewinnt er jene Entscheidungsfreiheit, jene Vorrechte und Möglichkeiten, die ansonsten im Leben oft genug eingeschränkt werden. Auf einem solchen „Eigenterritorium" (Freizeitparzelle, Eigenheim mit Garten, größere Wohnung, Wochenendhäuschen etc.) ist der einzelne vor der Unterordnung und Hierarchie des Erwerbslebens etc. weitestgehend verschont, sein Freiheitsspielraum wächst. Eine solche ausgleichende, die Beanspruchung, die oft drückende Hierarchie des Alltagslebens relativierende Raumnutzung (Verfügungsraum) ist angesichts der im wirtschaftlichen und öffentlichen Leben erforderlichen Einordnung und Disziplinierung zur Sicherung des Wohlbefindens der Menschen von nicht zu unterschätzender Bedeutung. 7. Dem Verlangen der Menschen nach sozialer Interaktion und Kooperation, nach Kommunikation und zwischenmenschlichem Kontakt ist durch
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Schaffung entsprechend differenzierter Kontakträume (zentralörtliche Einrichtungen, Stätten für die unterschiedlichsten kontaktabhängigen Aktivitäten, für Vereinsleben etc.) entgegenzukommen. 8. Eine für die Organisation des menschlichen Lebens wünschenswerte Mindestdichte der Besiedlung ist sicherzustellen, ohne dabei die Dichtetoleranz der Menschen zu überfordern. Ein allgemein verbindlicher Richtwert kann jedoch nicht angegeben werden. Je nach den geographischen Gegebenheiten, vor allem der Siedlungsstruktur und den Funktionen eines Raumes, je nach dem Entwicklungsstand des Kommunikationswesens sind unterschiedliche Dichtewerte angemessen. Mindestdichte ist daher gebiets- und situationsspezifisch verschieden. 9. Durch die Ausstattung und Nutzung des Raumes soll psychisches Wohlbefinden erleichtert und gefördert werden. Bei der Gestaltung des Lebensraumes sind ästhetische Gesichtspunkte zu beachten; Schönheit und Harmonie sind, trotz ihres subjektiven Charakters, anzustreben. 10. Der Lebensraum ist so zu gestalten und zu gliedern, daß ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Verbundenheit, der „Verwurzelung" in einem bestimmten Raum entstehen kann. Soweit diese Bindungen für die Menschen besondere Bedeutung gewinnen, ist darauf bei Veränderungen der Raumnutzung entsprechend Rücksicht zu nehmen. 11. Der Lebensraum ist so zu gestalten, daß gesundheitsschädigende und sozial zerstörerische Anpassungsleistungen vermieden werden; streßauslösende Faktoren sind soweit zu reduzieren, daß die Belastungsgrenzen nicht überschritten werden, die lebensdienliche Funktion des Streß jedoch erhalten bleibt. Unvermeidbare streßsteigernde, zu stark belastende oder aggressionsfördernde Raumnutzungen müssen durch entsprechend kompensierende Lebensraumgestaltung ausgeglichen werden. 12. Raumnutzung ist so zu organisieren, daß sie den körperlichen und seelischen Rhythmen des Menschen, der Periodik der Lebensabläufe, den rhythmischen Schwankungen des Verhaltens weitestgehend gerecht wird. 13. Der Daseinsraum muß so gestaltet und ausgestattet sein, daß die für die verschiedenen Lebensbereiche (private Gestaltung; Einkommensbildung; materielle Bedarfsdeckung; geistige und kulturelle Versorgung; soziale Versorgung; öffentliche Mitwirkung) wesentlichen Raumelemente in ausreichender Qualität vorhanden und unter zumutbarem Zeitaufwand erreichbar sind. Unter besonderer Beachtung der Existenzsicherung und unter Wahrung eines möglichst hohen zivilisatorischen und kulturellen Niveaus ist für die Funktionsfähigkeit einer differenzierten Raumnutzung Sorge zu tragen. Ganz allgemein müssen diejenigen räumlichen Voraussetzungen geschaffen werden, die die sehr verschiedenartigen Ver-
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haltensweisen und Tätigkeiten der Menschen störungsfrei ermöglichen. 14. Die räumliche Mobilität ist zu erleichtern. Wird Ortswechsel gewünscht, muß er sich möglichst problemlos realisieren lassen. 15. Die verantwortliche Mitwirkung und Interessiertheit bei der Gestaltung des Daseinsraumes ist anzuregen und zu fördern. 16. Soziale Verantwortung, gemeinschaftliche Aktivitäten und individuelle Selbstverwirklichung müssen soweit wie möglich gefördert, angeregt und miteinander in Einklang gebracht werden. 17. Die potentielle Unwägbarkeit menschlicher Bewertung und Entscheidung verlangt eine möglichst hohe Flexibilität und Variabilität der Raumnutzung; die Nutzung des Daseinsraumes muß sich möglichst leicht an veränderte Situationen anpassen lassen; die Gestaltung darf nicht zur Verfestigung der Raumstrukturen und Elemente führen, sondern sie muß offen sein für zukünftige Entwicklungen. Vorausgesetzt, daß die Nutzungsfunktion erfüllt wird, sind diejenigen konkreten Raumnutzungen zu bevorzugen, die den korrigierenden Änderungen möglichst wenig Widerstand entgegensetzen, deren Flexibilität am höchsten ist, die am wenigsten einengen. Die Zeithorizonte planerischer Festlegungen sind möglichst kurz zu wählen, eine regelmäßige Überprüfung ist vorzunehmen. Die Freiheit zur schadensfreien kulturspezifischen Selbstgestaltung der Raumnutzung muß ebenso selbstverständlich gewährt werden, wie die Raumnutzung der Erhaltung der Gesundheit (s. o.) förderlich sein soll. 18. Die für unterschiedlichste Nutzung notwendigen Flächen müssen verfügbar sein. Anpassungsfähigkeit der Flächennutzung und Verfügbarkeit der Flächen sind zu erhöhen. 19. Möglichst vielfältige und gleichzeitig konfliktminimierte Raumausstattungen und Raumnutzungen sind anzustreben, um eine personen- und gruppenspezifische Auswahl der angemessenen Raumnutzung zu ermöglichen. Dabei sind die verschiedenen Räume unter bestmöglicher Ausnutzung ihrer Eignung in einem System sich ergänzender vielfältiger Raumnutzung zu integrieren. 20. Durch ein entsprechend reichhaltiges und differenziertes Angebot von lebensräumlichen Nutzungsmöglichkeiten und Gelegenheiten soll der Handlungsspielraum des einzelnen erweitert und die Chance, die ihm sinnvoll erscheinenden Nutzungen zu verwirklichen, vergrößert, also die Erreichbarkeit individueller lebensräumlicher Ziele erhöht werden. Entsprechend sind z. B. auch Modelle ergänzender Lebensraumnutzung für unterschiedlichste Einkommensschichten und Bedürfnisgruppen anzubieten. Indem solche Angebote zu individuellen Zielen der Raumnut-
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zung werden und erreichbar bleiben, vermögen sie Glücklichsein zu fördern. 21. Wesentliches Ziel muß es sein, angesichts der zwangsläufig zunehmenden Anforderungen an den Raum, neue Nutzungsmöglichkeiten zu eröffnen und die Zahl der Alternativen zu steigern. Aufgabe der Planung ist es, ein flexibles Angebot für unterschiedlichste Raumnutzungen zu schaffen und zu verhindern, daß die Raumnutzung in einer zunehmend inflexiblen Struktur erstarrt. Da es insgesamt nicht an Fläche mangelt, sondern Flächenknappheit nur für einige Räume typisch ist, ist die bessere Abstimmung zwischen Flächenbedarf und Flächenangebot letztlich eine Frage der Organisation und Konzeption der Raumnutzung. Planung soll vor allem durch Schaffung neuer und alternativer Möglichkeiten der Raumnutzung dazu beitragen, daß sich zwischen dem verfügbaren Raum und den menschlichen Ansprüchen ein lebensdienliches Gleichgewicht einpendeln kann. Dabei soll jedoch kein stabiler Gleichgewichtszustand, sondern Fließgleichgewicht, das die Erprobung immer wieder neuer Variationen der Raumnutzung erleichtert, angestrebt werden. 22. Eine Überbeanspruchung und schädigende Beeinflussung des ökologischen Potentials ist zu verhindern; die verfügbaren Ressourcen dürfen nicht verwüstet und vergeudet werden. 23. Bei der Festlegung der konkreten Zielvorstellungen für die Gestaltung eines bestimmten Daseinsraumes sind die wirtschaftlichen und soziologischen Voraussetzungen und die geographischen Gegebenheiten zu beachten. Vorstellungen, die sich abstrakt über die Realitäten hinwegsetzen, mögen zwar anregend sein, sind aber einer lebensnahen Planung kaum dienlich. Es ließen sich zahlreiche weitere Aspekte aufzählen, aber es ist diesbezüglich im Rahmen dieser Studie keine Vollständigkeit beabsichtigt. Zweifellos wird in der Praxis der Lebensraumgestaltung gegen viele der genannten Forderungen verstoßen; sie sind noch keineswegs allgemein respektierte Leitvorstellungen für die raumbezogene Planung. Es soll hier nicht erörtert werden, wie den einzelnen noch recht allgemeinen und bisweilen zwangsläufig etwas „wolkig" anmutenden Leitvorstellungen am besten entsprochen werden kann; das ist stets auf vielerlei Weise möglich. Auch scheinen sich einige Forderungen auf den ersten Blick zu widersprechen, etwa sowohl dem Verlangen nach Alleinsein wie auch dem Verlangen nach zwischenmenschlichem Kontakt zu entsprechen. Es besteht aber nun gerade die „Kunst", ein wirklichkeits- und bedürfnisgerechtes flächenbezogenes Leitbild zu erarbeiten, darin, die unterschiedlichen Aspekte der Leitvorstellungen in Ausschöp-
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fung der Besonderheiten einer Region so zu konkretisieren und in einem modellhaften Vorschlag zu integrieren, daß ein insgesamt funktionsfähiger und bedürfnisgerechter, ein gewissermaßen „harmonisierter" Lebensraum sichtbar wird. Damit eröffnet sich dann die Möglichkeit, diesen Konkretisierungsvorschlag der Leitvorstellungen (s. o.) im Rahmen der kooperativen Erörterung (s. vierter Teil) zu prüfen, ggf. zu korrigieren und schließlich als Zielmodell zukünftiger gebietsspezifischer Raumnutzung zu erproben. Wichtig ist aber vor allem, daß in einer Region zunächst über diese oder ähnliche Leitvorstellungen ein politischer Grundkonsens bezüglich der grundsätzlichen Orientierung bei der Lebensraumgestaltung erzielt wird. Auf diesem Minimalkonsens aufbauend, kann dann trotz des Realisierungsspielraumes nachfolgend die Übereinstimmung hinsichtlich der konkreten Planungen um so leichter gesucht und gefunden werden448.
1.3 Grundsätze In Kenntnis der räumlichen Besonderheiten und unter Berücksichtigung sinnvoller Schwerpunkte der jeweiligen regionalen Entwicklung wären dann aus den allgemeinen Leitvorstellungen der Raumnutzung gebietsspezifische Grundsätze abzuleiten. Wie bereits über den Leitvorstellungen hätten die politischen Gremien der regionalen Planung auch über diesen Grundsätzen Konsens zu erzielen, um darauf basierend - mit Hilfe des Verfahrens der wechselseitigen Bezugnahme - das konkrete flächenbezogene Leitbild zu erarbeiten. Gebietsspezifische Grundsätze der regionalen Entwicklung sind also sowohl an den Leitvorstellungen, an den gesetzlichen Vorgaben als auch an den räumlichen Voraussetzungen und der spezifischen Eignung eines Raumes zu orientieren. Derartige Grundsatzaussagen wären für die verschiedenen Bereiche der Raumnutzung stärker zu spezifizieren, als dies im Rahmen der Leitvorstellungen möglich ist, sie müssen diesen aber gleichzeitig gerecht werden. So kann ζ. B. der 3. Leitvorstellung (s. o.), nach der ein ausreichender Kontakt zur „Natur" ermöglicht werden soll, gebietsspezifisch auf sehr vielfältige Weise entsprochen werden. Je nach den geographischen Voraussetzungen werden also die diesbezüglichen regionalen Grundsätze entsprechend anders ausfallen. Der hohe Anteil des Brachlandes (Wohlstandsbrache) etwa im Lahn-Dill-Gebiet in landschaftlich durchaus reizvoller Lage, bei gleichzeitig relativ geringer Entfernung zu mehreren Verdichtungsgebieten legt es ζ. B. nahe, in dieser Region nichtgenutzte Flächen verstärkt einer differenzierten Freizeitnutzung zuzuführen. Ebenso erlaubt die gegenwärtige Siedlungsstruktur des Raumes auch flächenverbrauchende bodennahe Be-
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bauung, ohne die Herausbildung gliedernder Grünzüge zu verhindern449. So kann etwa der 4. Leitvorstellung, wonach die Dichtetoleranz nicht überfordert werden darf, entsprochen werden. In anderen dichter besiedelten Regionen würde man statt dessen begrenzt verdichtete Bauweise bevorzugen und sie durch besondere Auflagen an die Beachtung obiger Leitvorstellungen binden. Da die Grundsätze in den einzelnen Regionen unterschiedlich sein werden, ist es abwegig, sie hier aufzählen zu wollen. Besteht dann in einer Region Übereinstimmung über die Leitvorstellungen und Grundsätze, wäre das konkrete flächenbezogene Leitbild zu erarbeiten.
2. Leitbilder
Unter einem flächenbezogenen Leitbild soll die modellhafte Vorstellung der Flächennutzung eines Gebietes verstanden werden. Es wären die unterschiedlichen Nutzungsansprüche und Nutzungsmöglichkeiten in einem konkreten Lebensraum modellhaft so miteinander zu integrieren, daß dem einzelnen Menschen wie auch der Gesamtheit, Möglichkeiten der Raumnutzung eröffnet werden, die dem Lebensglück450 (was auch immer das für den einzelnen bedeuten mag) förderlich sind. Da „Glück" eine relative Größe ist, gilt es lediglich, die Voraussetzungen bzw. die Gelegenheiten zu schaffen, unter denen es sich entfalten kann. Dies dürfte umso eher erreichbar sein, je besser den wertorientierten Leitvorstellungen zur Gestaltung des Lebensraumes (s. o.) entsprochen werden kann. So steht das flächenbezogene Leitbild unter dem Gebot, diejenigen Raumnutzungsmodelle aufzuzeigen, die den universalistischen Leitvorstellungen der Raumnutzung unter den Bedingungen eines konkreten Raumes am besten gerecht werden.
2.1 Die Utopiefalle Bei den Überlegungen zur Gestaltung des Daseinsraumes besteht allerdings immer die Gefahr, in utopische Idealvorstellungen abzugleiten. Gesellschaftspolitische Idealvorstellungen sind häufig mit entsprechend idealisierenden Modellen der Siedlungsstruktur und Lebensraumgestaltung verbunden451. So bedürfen die utopischen Entwürfe, in denen beispielsweise der Übergang von der bisherigen Familie zur „Kommune" postuliert wird, folgerichtig entsprechend geeigneter Lebensräume, so etwa neuartiger Typen von Wohnhäusern, um die geforderte und prophezeite „allgemeine bewußte und freie Praktizierung sexueller Querverbindungen" zu ermöglichen452. Die Reihe der mehr oder minder utopischen Konzeptionen, bei denen den Vorstellungen zu einer neuen Gesellschaftsstruktur solche zu einer angeblich notwendigen und einzig sinnvollen der Siedlungsstruktur zugesellt werden, ist lang453 und erfährt auch in unserer Zeit angesichts eines umweit- und zivilisationskritischen Zeitgeistes, angesichts der Energiesorge, sowie einer latenten Sehnsucht nach ursprünglichem, nach „alternativem" Leben lebhafte Ergänzung. Zweifellos verführen die offensichtlichen Mängel der gegenwärtigen Siedlungsstruktur, mit den weit ausufernden Verdichtungsgebieten oft chaotischer Raumnutzung, zur Suche nach dem „rettenden
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Einfall", durch den Umweltnutzung und Gesellschaftsstruktur zur Harmonie gebracht werden könnten. So schlägt ζ. Β. N. CALDER (1968) ein umfassendes „real-utopisches" Programm der Gesellschaftsveränderung vor, durch das - verbunden mit einer Änderung der Umweltnutzung - der Mensch von den negativen Aspekten seiner gegenwärtigen Existenz zu befreien wäre. Danach soll der größte Teil der Erdoberfläche in Wildnis, in freie Natur zuriickverwandelt werden, um so den Menschen den verlorengegangenen Naturbezug zurückzugeben. Die Nahrungsmittel wären durch industrielle Erzeugung auf stark verringerter Fläche zu gewinnen. Die verdichtet und chaotisch besiedelten Räume wären zu „renaturalisieren". Die Menschen würden innerhalb sog. Standard-Städte mit ca. 50 000 Einwohnern in vielstöckigen Häusern, in schalldichter Wohnung und gesicherter Intimsphäre leben. Durch die Überdachung der Städte würde ein beständiges Frühlingsklima ermöglicht, zahlreiche Genüsse für Auge und Ohr sollen den Reiz des städtischen Lebens erhöhen. Durch zu starke Zusammendrängung verursachte körperliche und seelische Schäden würde es nicht mehr geben. Ergänzend zum Stadtleben läge die wesentliche Tätigkeit des Menschen in der Jagd und in der Hege der weiten Natur vor der Stadt. Es ist unnötig, CALDERS Vorstellungen detaillierter darzulegen. In Beachtung einiger durchaus akzeptabler Überlegungen, wie etwa der Intensivierung des Naturbezugs oder dem Abbau zu großer verdichteter Siedlungsstrukturen, wird doch insgesamt ein Modell entworfen, das mehr die Unbekümmertheit des Visionärs dokumentiert, als daß es ein praktikables und menschengerechtes Leitbild der Raumnutzung darstellt. Abgesehen davon, daß es angesichts der vorgegebenen Siedlungsstruktur ohnehin kaum möglich wäre, eine solche total veränderte Raumnutzung zu realisieren, gewaltige Investitionen wären erforderlich, befremdet vor allem die geradezu dogmatische Festlegung einer Standard-Stadt und die anscheinend stillschweigend zugrundegelegte Annahme, daß die Menschen diese Norm-Stadt auch akzeptieren werden. So wäre der Mensch nur in die neue ideale Hülle, die der Zukunftskomponist bereitstellt, „umzusiedeln", unterstützt durch die Umformung seines „konservativ-kleinbürgerlichen" Bewußtseins. Da ja gleichzeitig dem Drang des Menschen nach Jagd in freier Natur entsprochen würde, stünde dem Wohlbefinden dann nichts mehr im Wege. So einfach ist das. Doch Utopisten haben selten Hemmungen, ihr „perfektes" Zukunftskorsett, verbunden mit dem Glauben und der Forderung, daß alle Menschen sich wie geplant und vorgeschrieben verhalten werden, als „ideal" zu empfehlen. So waren schon PLATONS detaillierte Anweisungen zur räumlichen Struktur und Gliederung seines Idealstaates mit strenger Regelung des sozialen Lebens verbunden; und damit der ganze Mechanismus funktioniere, wird mit
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nahezu totalitärem Impetus geraten, daß, wer das „Musterbild" des Staates und des Landes aufzeige und in Angriff nehme, „in nichts von dem abgehe, was das Schönste und Wahrste ist" (ΝΟΜΟΊ, V., Kap. 15). Wohl wissend, daß ζ. B. das vorgeschriebene „Ganz-im-Kreise-herum-Wohnen"454 geradezu ein „Traumbild" ist, als könne man Stadt und Bürger wie aus „Wachs" gestalten, so sei dem Gesetzgeber doch gestattet, „seine Absicht bis zum Ende durchzuführen". Klugerweise wird zumindest eingeräumt, daß der einzelne dann, wenn sich etwas als unausführbar erweist, auf das der Natur nach „Verwandteste" ausweichen solle; auch sei, nachdem alles bis zum Ende durchgeführt worden ist, gemeinschaftlich zu erwägen, „was von dem Gesagten zuträglich ist". Gleichwie die Idealvorstellung soll erst einmal, indem von nichts Wesentlichem abzugehen ist, bis zum Ende realisiert werden - ein für die Beteiligten sehr strapaziöses und durchaus vom Zwang nicht freies Experiment, Beginn des Modellpiatonismus. T H . M O R U S (1478-1535) beschreibt, daß alle Städte seiner Insel „Utopia" vollständig übereinstimmend gebaut waren, gleich aussahen, so wie auch die Bewohner dieser standardisierten Städte denselben strengen Sitten, Gesetzen unterworfen waren. Diese Städte, quadratisch angelegt, mit einer Kantenlänge von 3km, umfassen ca. 80-90 000 Einwohner, die alle in den gleichen Reihenhäusern ohne Privatbereich wohnen, in Häusern, die dem allgemeinen Zugang geöffnet sind und die zudem noch alle 10 Jahre neu verlost werden. Ein bis ins letzte geregeltes und uniformiertes Leben läßt dieses Gebilde funktionieren; es gibt keinerlei Möglichkeit zum Müßiggang, streift einer „auf eigene Faust außerhalb seines Bezirkes" herum, „so wird er mit Zwangsarbeit bestraft". So oder so, wollen solcherart Modelle bzw. Utopien funktionieren, dann muß der Mensch „passend" gemacht werden, sei es durch Änderung seines Bewußtseins oder durch Zwangsarbeit. Das reduzierte Menschenbild und die Mißachtung der Komplexität und Variabilität sozialen Verhaltens und sozialer Entwicklung sind es, die diese Visionen vermeintlich idealer Gesellschafts- und Raumstruktur in Konflikt mit den Menschen, wie sie tatsächlich sind, geraten lassen. So scheitern denn auch in der Praxis die Modelle der Frühsozialisten wie etwa FOURIERS stadtdorfähnliche Phalanstères als sich selbst genügende Gemeinschaften oder O W E N S villages of New Harmony nicht etwa am Mangel guter Absicht oder guten Willens der Erfinder, sondern vor allem daran, daß die Verhaltensweisen und Entscheidungen der Menschen eben anders ausfallen als im Modell vorgesehen und erwünscht. Die Schwächen solcher fertigen Reißbrettentwürfe liegen vor allem auch darin, daß sie als nahezu geschlossene Utopien die Bedingungen, unter denen sie funktionieren, festschreiben und damit den Wandel und die Weiterentwicklung weitestgehend ausschließen. So ist z. B. eine durch-
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schnittliche Normbesiedlungsdichte von 24 Ew./qkm eine Voraussetzung für das von CALDER geforderte Modell; das wäre ein Zehntel der gegenwärtigen Besiedlungsdichte in der Bundesrepublik. So erhebt sich dann immer die Frage, wie lassen sich die geforderten Bedingungen erreichen und wie können sie stabilisiert werden? Um die Utopien nicht zu gefährden, müssen alle Risikofaktoren weitestgehend ausgeschaltet werden und das bedeutet, daß vor allem die Unwägbarkeit menschlicher Entscheidung zu verringern wäre, wenn nicht gar zu eliminieren. Es ist dann nur noch ein kleiner Schritt zur Sicherung des fragwürdigen Idealmodells, die Einschränkung der menschlichen Entscheidungsfreiheit zu fordern und zu rechtfertigen. Zur Standard-Stadt gehört der standardisierte Mensch; ist er noch nicht vorhanden, wäre er zu „machen". Zu Recht warnt H. KLAGES (1971, S. 124) vor den totalitären Implikationen solcher absoluter Zukunftsentwürfe: „Das absolut Gefährliche daran ist nicht etwa die Vision als solche - man kann sich ohne weiteres vorstellen, daß irgend eine zukünftige Generation den Calderismus praktizieren wird. Vielmehr ist es eben jene schreckliche Naivität, mit welcher dem heutigen Menschen der als eine angeblich durch diese oder jene Theorie bewiesene Sollform übergestülpt wird." Immer wieder wird die gefährliche Wirkung eines reduzierten Menschenbildes sichtbar. Das gilt auch für jene, vor allem von avantgardistischen Architekten produzierten Entwürfe, bei denen ganze Städte in riesenhaften Gebäuden, Pyramiden, Trichtern, Säulen verschwinden - gewaltige Termitenhügel einer durchorganisierten Population. So preist B. FULLER (1974) riesenhafte Tetraeder mit einer Kantenlänge von 3 km als kompakte Behausung für 1 Million Menschen an; die ganze Apparatur vermag sogar zu schwimmen und sei dadurch erdbebensicher; auch könne man damit jeden beliebigen Standort irgendwo auf dem Meer aufsuchen - bliebe die Frage, was man dort wolle. P. MAYMONT stellt gewaltige Pyramiden vor, an deren Außenwänden sich die Balkons reihen, W. JONAS reckt große trichterartige Gebilde, an deren Wänden sich die Wohnungen staffeln, der Sonne entgegen; Japaner, wie JSOZAKI oder KIKUTAKE übertreffen sich im Arrangement gewaltiger Baumassen. Man könnte die Aufzählung lange fortsetzen, die Kreation riesiger Baukomplexe scheint für den Architekten besonders reizvoll zu sein, zumal sich doch anscheinend durch das Übereinanderstaffeln zahlreicher Etagen auch das Problem der Zusammendrängung großer Menschenmassen auf knapper Bodenfläche befriedigend lösen lasse. Um 1914 stellte der italienische Futurist ANTONIA SANT' E L I A mit seiner Città Nuova das Modell einer Stadt vor, in der sich der Verkehr zwischen aufragenden Hochhäusern in bis zu sieben übereinanderliegenden Ebenen entwickelt.
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Vorstellungen, die sich in der Gegenwart andeutungsweise etwa im Zentrum von Montreal verwirklichten. V. GRUEN ( 1 9 7 3 ) gibt zahlreiche Beispiele für Planung und Ausführung solcher in mehreren Ebenen gestaffelten Verdichtungen. Große geschichtete Bau- und Menschenmassen faszinieren und scheinen zu „funktionieren", wie es vielstöckige City-Komplexe oder Einzelbauwerke, etwa CORBUSIERS Wohnanlagen, vermuten lassen. Doch es bleibt Skepsis. Noch immer hält in den entwickelten Ländern der Auszug aus den Gebieten zu hoher baulicher, horizontaler oder vertikaler Verdichtung, die die begrenzte Dichtetoleranz des Menschen überfordern, an. Man sucht nach Ausgleich, der nicht selten nur durch Auszug in die wohnlicheren Vorstädte mit ihrer bodennahen Bebauung gewonnen wird. So stört das tatsächliche Verhalten der Menschen die Pläne eines manchen Architekten gigantischer Baukörper, doch darüber vermag sich ζ. Β . B. FULLER ( 1 9 7 4 , S. 4 0 2 ) hinwegzusetzen, indem er das Wohnproblem der Welt zum „Erziehungsproblem" reduziert. Wenn auch die Technik solche hochaufragenden Großbauten zu verwirklichen vermag und wenn sie auch für spezifische menschliche Aktivitäten (Verwaltung, Organisation etc.) hilfreich oder etwa bezüglich der Energieversorgung sinnvoll455 sein mögen, so ist doch zu bezweifeln, ob derartige Zusammendrängungen geeigneten Wohnraum, ob die Anhäufung großer Baumassen geeigneten Lebensraum schaffen. So liegt es denn auch nahe, im Gegensatz zur großen Konzentration, die Auflösung kompakter Baustrukturen, die allgemeine Dezentralisation, zu empfehlen. J . GALTUNG ( 1 9 7 0 ) schlägt vor, die großen Ballungen aufzugliedern und die Menschen in kleinen selbstgenügsamen Stadt- oder Dorfstrukturen unterzubringen. Durch diese Gliederung der Gesellschaft in zahlreiche kleinere Einheiten soll der Mensch wieder in die Lage kommen, zwischen unterschiedlichsten Lebensmilieus und Tätigkeiten entsprechend seiner Wünsche zu wählen. Da in GALTUNGS Vision die vollautomatisierte Überflußgesellschaft alle Knappheitsprobleme gelöst hat, kann jeder Mensch mit einem arbeitslosen Mindesteinkommen ausgestattet werden, wodurch ihm ermöglicht wird, zu tun, was er will. Im Gegensatz zur Standard-Stadt bei CALDER wird größtmögliche Unterschiedlichkeit der sozialen und räumlichen Einheiten angestrebt. Durch erleichterte räumliche Mobilität und Vielfalt der Möglichkeiten sollen gleichzeitig größtmögliche individuelle Selbstverwirklichung und größtmögliche Gleichheit der Menschen miteinander verbunden werden. Mögen auch einige beobachtbare Tendenzen, z. B. bezüglich der wachsenden räumlichen Mobilität, die vorgeschlagene Entwicklung als erreichbar erscheinen lassen, möchte J. GALTUNG dennoch nicht auf eine Revolution verzichten, durch die sein postrevolutionäres Modell erst entstehen und dauernden Bestand gewinnen kann. So wären die Gleichheits-
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schranken westlicher Gesellschaften durch eine Kulturrevolution chinesischen Typs zu beseitigen. Es bleibt das Geheimnis GALTUNGS, wie kollektive Verpflichtung und Disziplin gleichzeitig die volle individuelle Selbstentfaltung ermöglichen soll, oder wie angesichts einer Vielzahl gestreuter kleiner selbstgenügsamer Stadt- und Dorfstrukturen beispielsweise bestimmte Großvorhaben in der Wirtschaft oder Wissenschaft bzw. größere gesamtgesellschaftlich wichtige Aufgaben zu bewältigen sind. E. GOLDSMITH, R . ALLEN ( 1 9 7 2 , S. 4 2 f.) preisen das Leitbild der Dezentralisierung. Eine „abwechslungsreiche Mischung kleiner städtischer und ländlicher Siedlungsgebiete", mit Nachbarschaften von ca. 500 Ew., die sich zu Gemeinden von ca. 5000 Ew. gruppieren, wird empfohlen. Durch veränderte dezentralisierte Produktion (unter Verzicht auf großangelegte Industrieprojekte) und durch veränderte Anbaumethoden in der Landwirtschaft soll eine höhere Selbstversorgung dieser Einheiten erreicht werden. Gleichzeitig ließen sich so die Umweltbelastung, der Verkehrsaufwand, die Transportkosten und ganz allgemein der Umsatz materieller Güter beträchtlich verringern. Es wird unterstellt, daß sich das Individuum in der kleinen Gemeinschaft besser entfalten kann. Mehr noch, liegt die Behauptung zugrunde: „Ganz allgemein kann nur durch eine Dezentralisierung das Wohlbefinden des einzelnen erhöht werden". Gebunden an die Veränderung der Siedlungsstruktur wird gleichzeitig ein grundlegender Wandel der Sozialund Wirtschaftsstruktur postuliert. Danach wäre der Kapitaleinsatz bei der Produktion zu verringern, der Energieverbrauch herabzusetzen, die menschliche Arbeitsleistung stärker zu beteiligen; durch die Abwendung von der Quantität zur Qualität der Erzeugung könne die Arbeit wieder mehr Befriedigung vermitteln. Das Gerüst dieser neuen Gesellschaft bilden weitestgehend selbstgenügsame territoriale und soziale Zellen. Den Autoren schwebt eine neue, aber stabile Gesellschaft vor: „Die neuen Gemeinschaften werden als Folge einer Kombination industrieller Veränderungen (s. o. - der Verf.) und des Wunsches nach einer gesellschaftlichen Umgruppierung geschaffen. Hauptziel dieser Bemühungen werden wahrscheinlich eine Umverteilung der Regierungsvollmachten und die allmähliche Schaffung eines Gemeinschaftsbewußtseins und anderer für eine stabile Gesellschaft wichtiger Wertvorstellungen sein" (S. 49). Y. FRIEDMAN (1975) hat eine umfassende Verlagerung der bisherigen Besiedlung vor Augen; da die gemäßigten Zonen für den Getreideanbau besonders geeignet sind, sollten sie der Agrarproduktion vorbehalten bleiben, während sich die Bevölkerung mit ihren Wohn- und Industriebauten in einer „globalen Stadt" in den heißen und tropischen Zonen konzentriert - „Europa ein dünn besiedeltes Agrargebiet und die Sahara dicht besiedelt und industrialisiert, aber schließlich - warum nicht?". Zudem würde das
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Wohnen in den warmen Regionen Energie und Wohnfläche sparen, da man auch öfter im Freien wäre. Diese „globale Stadt" ist allerdings nicht als großer Siedlungsbrei vorstellbar, sondern setzt sich aus einem Netzwerk von „egalitären Stadtdörfern" zusammen, die auch untereinander in nur schwacher Kommunikation stehen. Solche „Stadtdörfer" begrenzter Größe, gedacht auch als Ansammlung hotelartiger Unterkünfte, wären also die sinnvollen Zellen einer dem Menschen gerecht werdenden Siedlungsstruktur der Zukunft, da der Mensch nur eine bestimmte Zahl von Kontakten, Impulsen und Wechselwirkungen verarbeiten und entsprechend reagieren könne, wodurch sich eine sog. kritische Gruppengröße ergibt, deren Überschreitung eine demokratisch-egalitäre Sozialstruktur zerstören würde. Aus der Hypothese von der kritischen Gruppe leitet sich also die Vision des Stadtdorfes, der Lebensraum einer stabilen egalitären Sozietät ab; was man benötigt und nicht selbst erzeugt, wird vor allem durch Tauschhandel beschafft, und zudem soll man die Gelegenheit haben, notfalls in ein anderes Stadtdorf auszuwandern - „machbare Utopie" a la FRIEDMAN. Nun ist es keineswegs neu, daß Vorstellungen von einer besseren Zukunft, Idealmodelle der Gesellschaftsordnung und Lebensweise an mehr oder minder arkadische Strukturen, an dörfliche oder stadtdörfliche Harmonie und Egalität gebunden sind und die großflächigen dichtbebauten Stadtgebilde zurückweisen oder aufzulösen empfehlen. Und so haben GALTUNG oder GOLDSMITH, ALLEN oder FRIEDMAN ihre Vorläufer in Visionären wie den Anarchisten Fürst P . KROPOTKIN ( 1 9 0 4 ) , den Frühsozialisten FOURIER und OWEN, aber auch dem Science-Fiction Autor H . G. WELLS ( 1 9 0 1 ) oder dem eher „bürgerlichen" R . PEMBERTON ( 1 8 5 4 ) , der seine „Happy Colony" empfiehlt, in der Spezialisierung und Arbeitsteilung zu vermeiden seien, Gemeinschaftseigentum vorherrsche und die Landwirtschaft die wichtigste Existenzgrundlage sei. Heute wie damals eine wenn auch nicht befriedigende, aber verständliche Antwort auf die Lebensbedingungen in verdichtet besiedelten, die Menschen zu stark belastenden großen Städten. Die Zahl der Autoren ist groß, die ihre glücklichen, meist agrarisch-handwerklichen Inseln zu Papier bringen. Und zahlreich sind auch z. B. die verschiedenen Versuche, allein oder in Gruppen „alternative Lebensformen" zu erproben. Und so wie etwa im Jahre 1900 junge Leute des Bürgertums, vor der „Hohlheit des gesellschaftlichen Lebens" flüchtend, zum Lago Maggiore auf ihren „Berg der Wahrheit" (Monte Verità-Ascona) zogen, um in genossenschaftlich vegetarischer Siedlung, dem Kult der Sonne zugewandt, wie auch der Heilkraft der Natur, einen „neuen sozialen Staat" aufzubauen, so drängt es auch heute zahllose Gruppen, der „Überzivilisation" den Rücken zu kehren und im „solidarischen Haushalt", „biologisch" gezogenes Gemüse essend, Gas aus der Faulgrube ziehend, einfach, energie-
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sparend und vielleicht auch glücklich zu leben. Bis eines Tages die Gesellschaft ihre Söhne wieder hat und sei es, um dann doch die Apparatur der modernen Medizin zu beanspruchen oder die Lücken der „reinen" Existenz mit den Produkten der so verachteten Großtechnologie zu schließen. Zweifellos sind viele dieser Bemühungen auch Zeichen einer vernünftigen Besinnung, und es mögen diese Versuche, verzichtend, weniger verbrauchend zu leben, wertvolle Anregungen vermitteln. In vielerlei Hinsicht ist die Maxime „Small is Beautiful"456 von der Besiedlung bis zur dezentralisierten Produktion der Diskussion würdig; nicht alles, was groß und gewaltig ist, ist überlegen. So vermag durchaus unter bestimmten Bedingungen auch die sog. kleine und mittlere Technologie, viele Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Aber meist befremdet doch der Anspruch, nur so und nicht anders ließen sich die Probleme der Zukunft noch bewältigen und entsprechend sei Umkehr zwingend. Die Rigorosität und Ausschließlichkeit wie auch die Umerziehungskomponente begründen den Verdacht, daß hier nicht selten, basierend auf kulturkritischem Mißvergnügen und sozialkritischer Unruhe, an Modellen einer neuen Lebensform gebastelt wird, die im Drang, die Menschen von den vermeintlichen oder tatsächlichen Mißständen der gegenwärtigen Gesellschaft zu erlösen, bewußt oder unbewußt neue und vermehrte Zwänge mit sich bringen. Und nicht selten auch entgleist die gutgemeinte Vision, wenn sie fürs ganze Volk verwirklicht werden soll, zur Barbarei, wie dies etwa Kambodscha nach 1975 widerfuhr, als eine Clique verengter Intellektueller um Pol Pot im Interesse ihrer agrarisch-kommunistischen Idealvorstellungen rigoros die Menschen der Stadt ins „Glück" des von der Partei bewachten kollektivistischen Landlebens und dabei nicht selten in den Tod trieben457. Ganz abgesehen von solchen Extremen repräsentieren viele Visionen vom einfachen und glücklichen Leben im ländlichen Raum oder auch vom Leben in der „Standard-Stadt" und der sie umgebenden Wildnis wohl mehr die ewige Sehnsucht nach der besseren, der „gerechteren" Ordnung, nach dem vollkommenen und glückverheißenden Leben; sie sind der Utopie zu nahe und zu stark mit ideologischen Vereinfachungen befrachtet, als daß sie als praktikable Leitbilder zur Gestaltung der zukünftigen Raumnutzung akzeptiert werden können. Es ist nur folgerichtig, daß viele dieser Entwürfe dann auch „die stabile" Gesellschaft und mit ihr die endgültige, gewissermaßen ideale räumliche Struktur anbieten. Allein das macht sie suspekt; als habe es nur der rettenden Idee bedurft, um die Mängel dieser Welt zu beseitigen, um den stabilen Endzustand aufzuzeigen und herbeizuführen. Nein, auch hinsichtlich seiner Raumnutzung wie auch der Gesellschaftsstruktur wird der Mensch ständig dem lebensdienlichen Prinzip von Versuch - Irrtum - Fehlerbeseitigung folgen müssen. Immer wieder werden zufolge gewandelter
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Bedingungen, wachsenden Wissens oder dem Drang nach freiheitlicher Selbstgestaltung gehorchend, kulturspezifisch neue Modelle der Raumnutzung zu erproben sein. Besteht auch die Notwendigkeit, zwischen Mensch und Raum ein lebenssicherndes Gleichgewicht herzustellen, so gibt es doch viele Varianten dieses Gleichgewichtes; es kann sich immer wieder unterschiedlich ausgeformt einpendeln. Zu jeder Zeit muß nach der jeweilig angemessenen Raumnutzung, nach dem aktuellen Gleichgewicht gesucht werden - analog verändern sich die Siedlungsstrukturen. Stabile, vermeintlich ideale Raumnutzungen festlegen zu wollen, ist so unsinnig, wie stabile, vermeintlich endgültige Ergebnisse des Denkens zu dekretieren. Eine sich ewig bewährende, gewissermaßen „allgültig" festgelegte Siedlungsstruktur und Raumnutzung, kann es genauso wenig geben, wie die stabile, dauerhafte, endgültige Gesellschaftsordnung458. Das wäre ohnehin nicht befriedigend, würde es doch den nach uns und nach unseren „endgültigen Entdeckungen" Geborenen das Denken über diese Dinge abnehmen. Und gerade das dürfte wohl auch in Zukunft nur ungern akzeptiert werden.459 Sinnvoller erscheinen dagegen Entwürfe, die die Variabilität der Raumnutzung erhöhen und dabei die Grenzen der ökologischen Belastbarkeit beachten, nicht aber Modelle, die im Wissen, daß solche Grenzen existieren, eine allgültige Raumnutzung und Siedlungsstruktur anpreisen - sei es als Standard-Stadt, als absolute Dezentralisation, als Superverdichtung oder als kleine selbstgenügsame Stadt- oder Dorfstrukturen. Die Gefahr ist groß, aus dem Unmut an der Gegenwart - gebannt von Visionen neuartiger Sozialsysteme und Raumstrukturen, in denen der endlich „emanzipierte" Mensch, nicht mehr „entfremdet" und nicht mehr „ausgebeutet", seine Verwirklichung finden soll - in die stets offene Falle der Utopie zu springen. Bei all den angebotenen Zukunftsentwürfen ist daher zunächst zu prüfen, ob sie aus der Gegenwart heraus entwickelt werden können, ob praktikable Ziel-Mittel-Kombinationen ihre Durchsetzung überhaupt möglich machen. Skepsis ist vor allem dann angebracht, wenn erst alles Bestehende „systemtransformierend" zu beseitigen ist, wenn erst „neues" Bewußtsein und der „neue" Mensch geformt werden müssen, wenn die Gegenwart einseitig und verzerrt interpretiert wird, wenn schließlich die Brücken zur Vergangenheit abzubrechen sind und jeglicher Wert der Tradition geleugnet wird, wenn sich Zukunft der Herkunft entledigt, kurz, wenn die bisherige Erfahrung nichts mehr gilt. Es ist dann der Weg nicht mehr weit, um im Interesse der neuen „Gesellschaft" des neuen „Reiches" oder welcher „Neuheit" auch immer, Widerstrebendes rigoros zu beseitigen; die Stunde der Opportunisten und Gewalttäter beginnt. Die Gesellschaft verkommt. Die Zukunft aber als Chance zum klugen Werk wird vertan.
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Ebenso suspekt sind Entwürfe, die zu ihrer Verwirklichung zwar keine Revolution benötigen, die aber erst in einer sehr fernen Zukunft realisiert werden können, dennoch aber bereits jetzt in langfristiger Zielbindung anzustreben wären; zu stark kann der zwischenzeitliche Wandel der Bedingungen, durch den dann die festgeschriebenen Ziele ad absurdum geführt werden, sein. Bezüglich der Raumnutzung muß vor allem die Bindung zum konkreten geographischen Raum vorhanden sein. Neue Strukturen, die sich nicht aus den vorhandenen räumlichen Gegebenheiten entwickeln lassen, entbehren des notwendigen Bezugs zur Praxis. Leitbilder, die den genannten Anforderungen nicht gerecht werden, sind, wie H . KLAGES ( 1 9 7 1 , S . 1 1 3 ) formuliert: „unter Abstraktheitsverdacht zu stellen und insofern als Leitsysteme praktischer Planung nicht akzeptierbar. Ihre Realisierung hätte mit großer Wahrscheinlichkeit totalitäre Konsequenzen, da sie sich auf die Imaginierung einer angemessenen Welt für einen selbstherrlich-utopisch antizipierten Zukunftsmenschen konzentrieren." 2.1.1 Mangelnde Flexibilität Die meisten der mehr oder weniger utopischen Visionen mißachten eine einfache Erfahrung, die durch Siedlungsgeographie und Siedlungsgeschichte hinreichend verdeutlicht wurde: Raumnutzung und Siedlungsstruktur unterliegen im Laufe der Zeit der Veränderung, sie sind durch eine gewisse Instabilität gekennzeichnet. Raumnutzung und Siedlungsstruktur sind Ausdruck spezifischer Verflechtungen ökonomischer, kultureller, sozialer und politischer Sachverhalte; sie sind sichtbares Zeugnis differenzierter ständiger Wechselwirkungen; entsprechend bilden sich jeweils angemessene Siedlungsstrukturen heraus, die aber mit den sich wandelnden Bedingungen der Umwertung unterliegen, entweder angepaßt werden oder als nicht mehr funktionsgerecht verfallen. Siedlungs- und Wüstungsforschung und Archäologie belegen uns hinlänglich den ständigen Wandel der Raumnutzung; je nach Baumasse und Beständigkeit der Werkstoffe, je nach dem Ausmaß der umweltverändernden Eingriffe liegen die nicht mehr funktionsgerechten Hinterlassenschaften der Vergangenheit monumental erhalten oder mühsam aufgedeckt vor uns. Für unsere Belange ist die simple Einsicht wesentlich, daß sich auch die Siedlungsstruktur nach dem Prinzip Versuch-Irrtum-Fehlerbeseitigung entwickelt460. Siedlungsstruktur und Raumnutzung enthalten also eine hypothetische Komponente, sind potentiell provisorisch; sie stellen letztlich immer wieder nur Versuche raumbezogener Existenzformen dar, die in der Praxis und im Wandel der Zeit ständig der Überprüfung unterzogen werden. Viele Raum-
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nutzungen können, obwohl sie in der Gegenwart als angemessen erscheinen, langfristig gesehen „Irrtümer" sein. So ist bei der Gestaltung unseres Lebensraumes von vornherein zu bedenken, daß nahezu alle Elemente der gebauten Umwelt früher oder später veränderter Bewertung unterliegen. „Ewig" gültige Raumstrukturen gibt es daher nicht; sie anzustreben, hieße einer Illusion nachjagen. Die für eine ferne Zukunft sinnvollen oder gar idealen Raumstrukturen bereits in der Gegenwart festlegen zu wollen - obwohl man die Bedingungen der Zukunft nicht verläßlich kennt - darf zumindest als leichtsinnig bezeichnet werden. Raumnutzung und Siedlungsstruktur binden in hochorganisierten industriellen Gesellschaften in der Regel beträchtliche Investitionen an bestimmte örtlichkeiten. Verwendet man daher die knappen verfügbaren Mittel - ggf. sogar unter hoher Verschuldung461, also im Vorgriff auf zukünftige Zahlungsfähigkeit - für den großzügigen Ausbau bestimmter Raumelemente in dem Glauben, diese seien langfristig sinnvoll und bedürfnisgerecht, so wächst das Risiko der Fehlinvestition im allgemeinen umso stärker, je weiter in die Zukunft hinein die Investitionen gebunden und je stärker sie durch den Verweis auf den zukünftigen Nutzen gerechtfertigt werden. So kann es leicht geschehen, daß zukünftige Gesellschaften für die „Ewigkeit" gedachte, in Wirklichkeit aber verbaute Strukturen unter größtem Aufwand wieder beseitigen oder notdürftig an die gewandelten Bedingungen anpassen müssen, ohne dann noch über die Mittel zur Gestaltung der eigentlich angemessenen neuen Raumnutzung zu verfügen. Die Investitionen der Vergangenheit binden die Zukunft umso stärker, je größer die laufenden Reininvestitionen sein müssen und je teurer die Beseitigung überholter Strukturen wird (vgl. entsprechende Hinweise zur Problematik monozentral orientierter Verkehrsnetze - Kap. 2.2.5). Die Mittel für die „Versuche" bzw. Veränderungen der Raumnutzung und Siedlungsstruktur werden dann entsprechend reduziert; nicht nur die materielle Flexibilität der Raumnutzung wird herabgesetzt, sondern ebenso die finanzielle Handlungsfähigkeit. Die Neigung des Menschen, sich durchaus auch an Raumnutzungen anzupassen, die ihm bereits nicht mehr zuträglich sind, ihn in eine schädigende Lebensweise drängen (erster Teil, Kap. 6.1), zeigt, wie sehr wir auch bezüglich raumrelevanter Investitionen geradezu zum Irrtum prädestiniert sind und wie dringend wir der antizipierenden Intelligenz bedürfen. Die durch veränderte Bewertungen und sich verändernde Wirtschaftsweise der Menschen verursachte funktionsbedingte potentielle Instabilität der Raumnutzung droht sowohl bei utopischen Ansätzen wie auch bei einer Planung, die auf Anpassung an momentane Scheinprioritäten (ζ. B. angebliche Notwendigkeit des verstärkten U-Bahn-Baues) und beobachtete Trends gerichtet ist, gründlich mißachtet zu werden. Auch die etwa von E.
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(1971) vorgelegte Konzeption, die einzelnen städtebaulichen Elemente, wie etwa die Wohnungen, Dienstleistungseinrichtungen usw., in eine Tragwerkkonstruktion, die die Siedlungsfläche als mehrstöckiges Gerüst überzieht, einzuhängen und ggf. innerhalb eines solchen „Neutralsystems" zu verschieben und neu zueinander zu ordnen, befriedigt nicht. Zwar könnte die innere Beweglichkeit einer Stadt- bzw. Siedlungsstruktur und damit die Flexibilität gesteigert werden, aber nur, wenn das Tragwerk so großzügig angelegt und mit soviel Freistellen versehen ist, daß entsprechende Auswahlmöglichkeiten bestehen. Ein gewaltiger Kostenaufwand für dieses „Neutralsystem" wäre also erforderlich, der um so fragwürdiger erscheint, wenn man bedenkt, daß es sehr zweifelhaft ist, ob die Menschen auch in solch einer „Schachtelei" leben wollen, ganz zu schweigen vom äußeren Erscheinungsbild einer derartigen Gerüstwelt. Es erscheint sinnvoller, die Flexibilität der Lebensraumnutzung zu steigern durch die Erhöhung des Angebotes unterschiedlicher Nutzungsmöglichkeiten, durch ein vielfältiges lebensräumliches Angebot, aus dem der einzelne gemäß seinen Bewertungen auszuwählen vermag; und das ist vor allem eine Frage der planerischen Festlegung und Zuordnung der Flächennutzung. SCHULZE-FIELITZ
2.2 Aspekte der Wirklichkeit Fragen wir uns, wie müßte ein flächenbezogenes Leitbild aussehen, das dem Charakter der menschlichen Entscheidung und Bewertung (vgl. erster Teil) und den damit verbundenen Variationen der Raumnutzung gerecht wird, ohne sich dabei auf lediglich passive Anpassung der Raumnutzung zu beschränken. Wir benötigen ein Leitbild, das zwar auf utopische Visionen verzichtet, nicht aber auf eine aktive wertorientierte Gestaltung des Daseinsraumes. Ein flächenbezogenes Leitbild wäre zu konzipieren, durch das die wert- und sinnorientierten Leitvorstellungen (s. o.) in Beachtung der jeweiligen räumlichen, soziologischen und ökonomischen Gegebenheiten so gut wie möglich verwirklicht werden können. Bevor wir uns dem Versuch, ein solches Leitbild zu erarbeiten, zuwenden, soll auf einige allgemeine Aspekte einer zukünftigen lebensräumlichen Struktur verwiesen werden. 2.2.1 Aspekt-Vielfalt der Möglichkeiten Einseitige, wenig differenzierte Strukturen der Raumnutzung sind weniger in der Lage, den sich wandelnden Wünschen, Bedürfnissen, Bewertungen zu genügen. So ist es also von vornherein vorteilhaft, wenn in einer Planungsregion vielfältige Möglichkeiten der Raumnutzung angeboten werden. Wenig
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differenzierte Strukturen erzwingen wenig differenziertere Nutzungen, und das widerspricht der Bedürfnisvielfalt der Menschen. Konzentriert der eine seine Anstrengungen auf den Erwerb eines Hauses mit Garten, strebt der andere die städtische Komfortwohnung inmitten gesteigerter „Urbanität" an. Solange die unterschiedlichen Präferenzen der Menschen einander nicht ausschließen und die Raumnutzung einzelner nicht die Nutzungsmöglichkeiten der anderen grundlegend einschränkt, ist die Einengung der „erlaubten" Nutzungen durch den Planer fragwürdig. Vielmehr sollte man sich bemühen, wie dies G. ALBERT (1969, S. 23) empfiehlt, „der Spannweite und Polarität jener Wünsche Rechnung zu tragen, mit der der Mensch an seine Umwelt herantritt". Freilich ist dabei zu beachten, daß dem einzelnen nur insoweit Entscheidungsfreiheit gewährt werden kann, als sie notwendige Veränderungen der Raumnutzung nicht verhindert und keine zusätzlichen Flächennutzungskonflikte entstehen, vor allem aber keine Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und keine schädigenden Lebensbedingungen hervorgerufen werden. Dennoch aber ist es wichtig, daß dem einzelnen Menschen bezüglich einer raumbezogenen Lebensweise vielfältigste Wahlmöglichkeiten verbleiben und eröffnet werden; wie sonst will er die ihm angemessenen und wesentlich erscheinende Raumnutzung verwirklichen? Verwehrt man dem einzelnen die für seine Entfaltung wichtigen räumlichen Lebensbedingungen, kann das auch für die Gesellschaft nachteilig sein. Personen ζ. B., die für ihre Arbeit der Ruhe bedürfen, diese aber am Arbeitsplatz oder im Wohnbereich nicht finden, können der Gesellschaft auch kaum diejenigen Arbeitsergebnisse bereitstellen, zu denen sie aufgrund ihrer Ausbildung und ihres Könnens an sich befähigt sind. Unter unangemessener Raumnutzung leidet dann nicht nur der einzelne ; auch der Nutzen des einzelnen für die Gesellschaft kann so wesentlich verringert werden. Angemessene räumliche Voraussetzungen für unterschiedlichste Aktivitäten zu bieten, ist daher außerordentlich wichtig. Was ζ. B. hätte der Neid auf die ruhige ländliche Zweitwohnung einer hochgradig beanspruchten Führungskraft der Wirtschaft für einen gesellschaftlichen Nutzen, wenn die gleiche Leistungsfähigkeit des Eigentümers bei beengtem Wohnen in einem zu lauten Wohnblock nicht aufrechterhalten werden könnte. Neben dem Verlangen nach Gleichheit sollte auch die Sorge, gesellschaftsdienliche Leistung nicht zu erschweren, stehen. Was auch nutzt der Zorn über die Begeisterung junger Männer für lärmende schwere Motorräder, ist sie doch gleichzeitig Ausdruck einer Vitalität und Lebensfreude, die in anderen Bereichen der Gesellschaft großen Nutzen stiftet. Vielmehr ist Sorge zu tragen, daß Raumnutzung so organisiert wird, daß unterschiedliche Anforderungen ohne wechselseitige Belästigung und Konflikt erfüllt werden können (Politik und Planung aber sollten durchsetzen,
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daß ζ. Β. Motorräder nicht unnötig laut sind, daß ländliche Wohnsitze nur Flächen beanspruchen, die nicht gleichzeitig besonderen Wert für die Allgemeinheit besitzen). Die Forderung nach vielfältigster Wahlmöglichkeit kann leicht, wenn auch mißverständlich, als unverantwortlich liberal mißdeutet werden; sie bedarf daher einer sozialphilosophischen Rechtfertigung. Wir haben bereits deutlich gemacht (erster Teil, Kap. 7), daß das raumbezogene Verhalten des Menschen abhängig ist von einem komplexen synergetischen Bewertungsprozeß, der individuell unterschiedlich ausgeprägt abläuft und entsprechend unterschiedliche Resultate erbringen kann. Wir haben weiter darauf verwiesen, daß sich der Mensch von vornherein theoriebildend mit seiner Umwelt auseinandersetzt. Er hat also vorgefaßte Vorstellungen. Je nach Lebensablauf, Erfahrung, Alter etc. werden diese Annahmen unterschiedlich überarbeitet und verändert, so daß sich die einzelnen Menschen - jeweils in einer anderen Situation und Phase ihrer „Theoriebildung" befindlich - in Bewertung, Wünschen und Zielen, auch bezüglich der Raumnutzung, unterscheiden. Planung, die das ignoriert, verkennt das „Wesen" des Menschen gründlich und ist in der Gefahr, nur noch technokratisch orientiert, mehr oder minder diktatorisch zu planen. Zwar scheint im Menschen auch ein gewisses Bedürfnis nach kultureller Übereinstimmung, Neigung und Druck zur interpersonellen Konformität wirksam zu sein, so daß sich auch gleiche Wünsche und Bewertungen herausbilden, dennoch aber ist Individualität für den Menschen zumindest ebenso typisch wie Gesellschaftlichkeit. Individualität aber verlangt individuelle Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten; Soziabilität bedarf der Möglichkeit zur Interaktion, Kommunikation, Gemeinsamkeit, Dazugehörigkeit, Verbundenheit462. Aus beiden Aspekten ergeben sich konkrete Anforderungen an die Raumnutzung. N. LUHMANN hat durch sozialphilosophische Interpretation der kybernetischen Theorie der Sozialsysteme zugleich ein tieferes Verständnis für die Individualität des Menschen eröffnet. Jedes identifizierbare System - und so auch der Mensch - muß sich gegen seine Umwelt in existenzerhaltender Weise abgrenzen. Gegenüber der Weltkomplexität baut das System seinen eigenen Regelkreis ein - sein inneres Milieu - als ein Instrument zur Reduktion der ihm gegenüberstehenden Komplexität der Welt. Das heißt aber auch, es wird aus der Vielfalt der Umweltsignale eine deutende Auswahl getroffen, um die eigene Orientierung zu ermöglichen und den Umgang mit der Welt steuern zu können. In Anlehnung an K . R. POPPER sehen wir in dieser deutenden Auswahl die Leistung und Funktion der antizipierenden Theoriebildung. Entsprechend wird die Wirklichkeit gefiltert aufgenommen (gemäß unserer über die Welt aufgebauten Hypothesen), interpretiert und bewertet (vgl. erster Teil, Kap. 7.5). So stellen nach N. LUHMANN aktuelles Erleben und die Handlungen der Menschen Selektionsleistungen aus ver-
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schiedenen denkbaren Möglichkeiten dar, orientiert an einer die Weltkomplexität reduzierenden subjektiven Sinngebung463. Damit ist Handeln keine unabhängige, oder a priori feststehende Verhaltensweise, sondern Folge einer subjektiven sinngebenden Auswahlleistung, auch wenn gleichzeitig weitere Einflüsse (Verhaltensgenetik, Aggressionen, Stimmungen etc.) wirksam sind. Zwar geht von der Gesellschaft ein Anpassungsdruck auf ihre Mitglieder aus, aber komplexe pluralistische Gesellschaften müssen ihren Teilen, also den Gruppen und den einzelnen einen großen Spielraum gewähren. Dieser wird entsprechend der jeweils verschiedenen Sinngebungen, aber auch zufolge der unterschiedlichen Funktionen der Mitglieder einer Gesellschaft, unterschiedlich genutzt. Je komplexer die Rollenstruktur einer Gesellschaft ist, je verschiedenartiger die Rollen der Individuen und die daran gebundenen Verhaltenserwartungen sind, desto größer muß der sinnorientierte Spielraum (Freiraum) des Handelns sein. N. LUHMANN (1971, S. 23) folgert: „Komplexere Gesellschaften müssen in ihren Teilsystemen höhere Beliebigkeit institutionalisieren". Daraus ergibt sich für komplexe und pluralistische Gesellschaften als geradezu zwangsläufige Konsequenz: „Entlassung aus gesamtgesellschaftlicher Kontrolle, also Übernahme hoher struktureller Risiken durch die Gesellschaft selbst und durch ihre Teilsysteme, die füreinander unberechenbar werden".
So stehen die Menschen in ihrem Handeln - wenn auch sinngebend orientiert an ihren subjektiven Bewertungen, Rollen und Funktionen - doch notwendigerweise in einem beträchtlichen Freiraum der Entscheidung. Wollte man hochdifferenzierte, pluralistische und dynamische Gesellschaften, über das notwendige Maß sittlicher Orientierung hinaus, durch uniforme, allgemein verbindüche und detailliert festgelegte Verhaltensweisen binden (stabilisieren), würden schnell beträchtliche Funktionsstörungen eintreten. Der Preis der verläßlichen Berechenbarkeit des Verhaltens aller Teile der Gesellschaft (auch der Individuen) wäre Erstarrung und Zwang, letztlich also allmählicher Rückfall in überwunden geglaubte gesellschaftliche Strukturen - Kulturverlust. Für unsere Belange ist wichtig, daß komplexe und pluralistische Gesellschaften bezüglich der voraussichtlichen Handlungen des einzelnen keine Gewißheit, keine verläßliche Voraussage gewähren. Vorausschauende Festlegung der Raumnutzung bleibt daher stets riskant. Umso sinnvoller ist es, Möglichkeiten für die zukünftige Entscheidung, Auswahl aus einem Angebot unterschiedlicher Raumnutzungen offen zu halten oder zu eröffnen. Nur so vermag sich der einzelne, räumliche Lebensbedingungen zu schaffen, die ihm aufgrund seiner Bewertungen, Erwartungen, Bedürfnisse erstrebenswert er-
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scheinen. Dabei zwingt die starke Streuung der Wünsche und Präferenzen bezüglich der Raumnutzung464 zur Vielfalt. So warnt P. LEYHAUSEN ( 1 9 7 2 ) , S. 4 0 4 ) ζ. B . davor, „sich einseitig und radikal für die eine oder andere Siedlungsform" zu entscheiden. Statt dessen sei es notwendig, den zwangsläufig sehr verschiedenen Wohnbedürfnissen gerecht zu werden: „Worauf es vielmehr ankäme, wäre, das Wohnverhalten und die Wohnmöglichkeiten der Menschen den verschiedenen Rhythmen und Phasen ihres Lebensablaufes entsprechend zu dynamisieren und die verschiedenen Wohn- und Siedlungsformen für diese Dynamik durchlässig zu machen". Eine wesentliche Voraussetzung, dies zu realisieren, wäre ein vielfältiges Angebot differenzierter Wohnmöglichkeiten. Zusammenfassend halten wir fest: Bei der Erarbeitung eines Leitbildes für die Regionalplanung ist vor allem zu beachten, daß vielfältige Möglichkeiten der Raumnutzung geschaffen werden, eine entsprechende Angebotsbreite gesichert bzw. ausgeweitet wird. Notwendige Einschränkungen der Raumnutzung dienen diesem Ziel. Durch Vielfalt der Möglichkeiten können Anpassungszwänge und -Schäden reduziert werden, kann die Entscheidung des einzelnen für eine bedürfnisgerechte und zuträgliche Raumnutzung und zugleich der glückvermittelnde Effekt, es zu erreichen, erleichtert werden. Die Grenzen für die Entscheidungsfreiheit liegen erst dort, wo die Freiheit des anderen und der Gesamtheit zu stark eingeschränkt wird. Man könnte nun einwenden, solche doch recht allgemeinen Aussagen geben wenig Hinweise zur konkreten Gestaltung der Raumnutzung. Was etwa nutze der Verweis auf die anzustrebende Vielfalt, wenn nicht gleichzeitig aufgezeigt wird, über welche Raumstrukturen, über welche optimalen Größenordnungen städtischer Gebilde usw. diese realisiert werden kann. Doch gerade die sehr allgemeine Forderung nach Vielfalt der Möglichkeiten ist keinesfalls eine Leerformel, mit der Orientierungslosigkeit verdeckt werden soll; vielmehr enthält sie einen Appell an die Phantasie, die für die Gestaltung der Regionen von großer Bedeutung ist. Denn wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß wir nach wie vor bei der Planung und Gestaltung unseres Lebensraumes unter Unsicherheit, zumindest aber unter Risiko handeln. Vor allem die außerordentlich komplexen Wechselwirkungen zwischen privaten und öffentlichen Investitionen, den regionalplanerischen Eingriffen und ihren Auswirkungen auf die regionale Entwicklung sind regionalwissenschaftlich (regionalwirtschaftlich) noch keineswegs bewältigt. Wir sind weit entfernt von einem operablen, genau steuerbaren System der regionalen Entwicklung, in dessen Anwendung etwa optimale Raumstrukturen herbeigeführt werden können465. Die Voraussetzungen für eine allumfassende Planung der räumlichen Ordnung und der raumbezogenen Lebensbedingungen sind nicht gegeben.
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Und sie wird es auch nicht geben, da wir niemals alle entwicklungsrelevanten Umstände in ihrer Wechselwirkung mit anderen Faktoren kennen werden und auch nicht erfassen können und so die Prozesse der Entwicklung im Raum nicht exakt - die Konsequenzen vorausschauend - zu steuern vermögen. So werden die einzelnen Regionen auch weiterhin - durchaus in einem gewissen Wettbewerb zueinander - stets nach der jeweils angemessenen Raumgestaltung suchen müssen. Daher lassen sich Strukturmodelle nicht verbindlich und detailliert festlegen, sondern sie bedürfen der gebietsspezifischen Ausgestaltung. Die übergeordnete Regionalpolitik wird dabei eine unterstützende und die Disparität mindernde Rolle spielen. Sie sollte aber keinesfalls verbindliche Raumnutzungsmodelle vorschreiben und die Entwicklungsprozesse in der Region zu stark einengen. O. SIEVERT (1974, S. 131 f.) verweist darauf, daß keine hinreichenden regionalwissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, um eine produktivitätsorientierte Regionalpolitik unter Angabe optimaler Siedlungsstrukturen betreiben zu können. So haben wir kein verläßliches Wissen über die optimale Stadtgröße466, über die Mindest- oder Maximalgröße städtischer Gebilde, ab der die sozialen und wirtschaftlichen Vorteile oder umgekehrt die Nachteile überwiegen. Scheinen auch einige Gesichtspunkte für aufgelockerte Siedlungsstrukturen, bei Erhaltung eines großen Zentrums, zu sprechen, so kann doch die Regionalwissenschaft aus ökonomischer Sicht keine optimale Raumstruktur anbieten; so wie sie auch über keine befriedigende Theorie zur Erklärung aller Prozesse im Raum verfügt. O. SIEVERT (1974, S. 137) schlußfolgert: „Das verläßliche Gesamtgerüst bleiben wir schuldig. Andererseits läßt die Wirklichkeit - auch die ökonomische - mehr Gestaltungsspielraum, als viele zu glauben sich angewöhnt haben. Es geht vielleicht nicht ohne den genialen Synthese-Einfall des Planers im Prozeß des Trial and Error, doch auch die Trefferchancen sind so schlecht nicht."
Dem ist umso mehr zuzustimmen, wenn man bedenkt, wie viele zusätzliche nichtökonomische Gesichtspunkte, etwa die begrenzte Dichtetoleranz des Menschen oder seine raumbezogene Verhaltensgenetik (erster Teil, Kap. 3.2; 4) zu berücksichtigen sind. Allerdings sollte weniger auf den genialen Einfall vertraut werden als auf die Schulung eines raumbezogenen, integrierenden, universalistisch orientierten Denkens. Eine wesentliche Aufgabe besteht dann darin, Vielfalt der Raumnutzung zu eröffnen und zu erhalten, sie aber gleichzeitig in systemarer Ergänzung zu integrieren - raumbezogenes konstruierendes Denken.
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2.2.2 Aspekt - Kontakt und Kommunikation Auch zukünftige Gesellschaften bedürfen der Kommunikation und des Kontaktes zwischen den Menschen. Wahrscheinlich werden im Rahmen einer höher entwickelten Produktionsweise, die mit dem begrenzten ökologischen Potential abzustimmen ist, wie überhaupt für die immer differenzierteren Formen der gesellschaftlichen Organisation weit leistungsfähigere Informationssysteme, als gegenwärtig genutzt, eingesetzt werden. Eine ganz andere Frage ist es jedoch, ob es zur verstärkten Kommunikation, Information und hochorganisierten Kooperation zugleich auch der Zusammendrängung der Menschen in riesenhaften Stadtregionen bedarf. Es ist gar nicht so abwegig, wenn in einer Science fiction-Story467 ein nach langer Zeit aus fernen Welten heimkehrender Astronaut äußert, als er die vertrauten Städte nicht mehr vorfindet: „Städtebau ist primitiv, nehme ich an". Ist denn die Antwort, die er erhält, „Städte sind weiter nichts als Ansammlungen von Menschen, so oder so sind sie notwendig für ein organisiertes Leben", wirklich zutreffend? Könnte die hochgradig verdichtete Siedlungsweise unserer Großstädte, die Ansammlung so vieler Menschen auf so engem Raum nicht doch „überholt" sein, zumal sie, ungeachtet ihrer Vorzüge, die begrenzte Dichtetoleranz der Menschen häufig überfordert und hinlänglich bekannte Verkehrsprobleme und Belästigungen mit sich bringt? Dem wachsenden Kommunikationsbedürfnis moderner Gesellschaften kann zunehmend auch ohne räumlichen Kontakt, ohne körperliche Nähe der Beteiligten entsprochen werden468. Ja, viele Probleme und Konflikte der gegenwärtigen Raumnutzung entstehen erst durch unsere noch mangelhaft entwickelte Fähigkeit, wirtschaftliche Aktivitäten ohne den unmittelbaren räumlichen Kontakt zwischen den Beteiligten zu entfalten. Da wir in unseren verschiedenen Lebensbereichen an unterschiedliche Bezugsräume gebunden sind - das private Leben vollzieht sich räumlich oft weit getrennt vom Erwerbsleben, vom kulturellen Leben oder von der politischen Mitwirkung etc. - und da wir noch immer Informationen und Kenntnisse in Bindung an die „ganze" Person zwischen den verschiedenen „Bedarfsorten" hin und her bewegen, wir also nicht nur Gütermassen, sondern auch Informationen vergleichsweise aufwendig transportieren, entsteht jener gewaltige Verkehrsaufwand, der viele Lebensabläufe erschwert. Damit eine Person eine Maschine überwachen, ein Buch in der wissenschaftlichen Bibliothek studieren, an einer Besprechung teilnehmen kann, muß sie noch immer auch körperlich anwesend sein; angesichts der raumzeitlichen Beweglichkeit des Denkens mag das durchaus als „primitiv" anmuten. Um nun den Verkehrsaufwand nicht unnötig zu vergrößern, drängen sich die
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Menschen in Verdichtungsgebieten zusammen, beklagen den verloren gegangenen Kontakt zur „Natur", oder sie fahren und fahren, hinaus in die ländlichen Erholungsgebiete oder täglich hin und her zwischen der Stadt und dem eigenen Haus im Grünen, weit draußen. Hatte der vergleichsweise geringe Informationsfluß in der Agrargesellschaft eine relativ ausgeglichene Besiedlung des nutzbaren Raumes begünstigt, führte der mit der Industrialisierung zunehmende Austausch von Informationen, Gütern, Arbeitskräften zur verstärkten Zusammendrängung der Menschen an den verkehrsgünstigen Punkten und Achsen. In dem Maße, wie es jedoch gelänge, die Informationen als solche räumlich stärker „beweglich und unabhängig" zu machen, schwände eine wesentliche Ursache hoher Verdichtung. Dies gilt umso mehr, als die Zahl der ausschließlich an der materiellen Erzeugung und Verteilung beteiligten Personen ohnehin tendenziell zugunsten der „Informationsträger" zurückgeht. Werden Informationstechnik, Datenfernübertragung, Telekommunikation, Automation weiter verbessert, werden Systeme der Fernüberwachung und -Steuerung sowie Fernorganisation von Prozessen entwickelt, die nicht der körperlichen Anwesenheit und der räumlichen Zusammendrängung der Beteiligten bedürfen, dann läßt der Druck zur räumlichen Konzentration von Wohnplätzen und Arbeitsstätten bzw. zur großen „Fahrerei" allmählich nach. Es ist hier nicht der Raum, die Möglichkeiten, die sich durch neue und immer mehr vervollkommnete Kommunikationssysteme eröffnen, detailliert zu erörtern. Wichtig ist, daß es mit hoher Wahrscheinlichkeit möglich sein wird, ähnlich wie zuvor mit dem PKW der Verkehr individualisiert und gleichzeitig beschleunigt wurde, den einzelnen mit immer mehr und wirksameren, individuell zu nutzenden Informationsträgern zu verbinden und zugleich den Informationsfluß zu beschleunigen. In absehbarer Zeit wird es möglich sein, über das private Telefon und Bildschirm oder durch Festbildübermittlung an Computer, an Bibliotheken bzw. an die differenzierten Informationsträger der Welt des Denkes und des Geistes (der „dritten Welt") angeschlossen zu werden. Individuelle Möglichkeiten der Rückfrage und Speicherung, Konferenzschaltungen, hohe Auswahl unter zahlreichen Informationskanälen (ζ. B. Kabelfernsehen), auf Fernübertragung beruhende Überwachung und Steuerung von Prozessen der Produktion wie Verwaltung schaffen die Voraussetzungen, weit mehr als bisher, direkt νom elektronisch unterstützten Arbeitsplatz in der Wohnung aus aktiv „beruflich" tätig zu sein, ohne daß die räumliche Nähe zur Informationsquelle, zum gesteuerten Prozeß, zum Ereignis notwendig ist. Aber auch für die betriebliche Organisation eröffnen sich neue Möglichkeiten. Auf dem Gebiet der dialogorientierten Datenverarbeitung ist heute bereits ein so hohes Maß an Integration möglich, daß zwischen hochgradig
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dezentralisierten, über viele Kilometer voneinander getrennten Standorten, mit Hilfe dezentralisierter Computerverbundsysteme (unter Einbeziehung zahlreicher Zusatzgeräte wie Terminals, Drucker, Speichermedien, Eingabegeräte etc.) sowie durch Fernkopierer, Bürofernschreiber etc. ein so rascher Informationsfluß erreicht werden kann, daß unter diesem Blickwinkel einer zunehmenden räumlichen Dezentralisierung der Abteilungen und Betriebe eines Unternehmens nichts im Wege stünde. Doch auch im Bildungswesen ist eine Tendenz zur „Standortbefreiung" sichtbar. Schüler und Studenten treten über Bildschirm und Teledialog mit dem Lehrenden in Verbindung. Bibliotheken liefern ihre Dienste über Sichtschirm oder Fernkopierer ins Haus. Auch der Einkauf kann unkomplizierter werden, man wählt am Bildschirm zu Hause aus. Bezahlt wird bargeldlos; Computer wickeln den Zahlungsverkehr ab, an den alle Banken und Geschäftskassen angeschlossen sind. Der Kunde beschränkt sich darauf, seine Codekarte in die Kasse zu stecken oder von zu Hause aus durch Teleüberweisung o. ä. zu zahlen. Will man etwa in seiner Freizeit Karten oder Schach spielen, dann geht das notfalls auch ohne das Haus zu verlassen, man holt sich die Partner via Bildschirm oder spielt notfalls auch direkt gegen den Computer. Ganz allgemein kann gesagt werden, daß mit immer weiter zunehmendem Angebot immer leistungsfähigerer distanzüberwindender Kommunikationsmittel, von der Telekommunikation bis zur Fernsteuerung automatischer Prozesse, immer mehr individuelle Distanzüberwindungen abgebaut werden können. Damit auch läßt der Zwang zur Konzentration in riesenhaften Siedlungsgebilden nach; die Entwicklung der Kommunikationstechnik begünstigt die Dezentralisation, ohne daß dabei der Verkehr zunehmen muß. Es wäre natürlich völlig abwegig, anzunehmen, das Reisen der Menschen, die Überwindung von Entfernungen würde damit hinfällig. Das Reisen wird nicht weniger werden, aber sich stärker auf Freizeitzwecke oder gewünschte berufliche Begegnungen, weniger aber auf dienstliche Routineangelegenheiten beziehen. Nach wie vor aber bedürfen die Menschen auch der unmittelbaren Begegnung und der direkten Kontakte sowohl mit den Mitmenschen wie auch mit den Objekten ihres Interesses; keinesfalls wird sich das Bedürfnis, miteinander zu reden und einander zu sehen, allein durch televisionäre Kontakte befriedigen lassen. Aber ζ. B. auch der Gütertransport wird kaum geringer werden; das stoßartige tägliche Ein- und Auspendeln großer Massen zu ihren Arbeitsplätzen und zurück zu den Wohnungen jedoch kann sowohl hinsichtlich der Entfernungen wie auch der Häufigkeit allmählich reduziert werden. Entscheidend ist, daß die im Städtebau und in der Regionalplanung übliche Trennung in meist große monofunktionale Flächen für Wohnen einerseits, Arbeiten andererseits (bzw. für Erholung, Versorgung etc.) nicht
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mehr so zwingend erscheint. Wohnen und Arbeiten können räumlich wieder stärker integriert werden, soweit sich dies nicht durch zu starke Vermischung mit störenden Produktions- oder Verkehrsanlagen von selbst verbietet. Von der Informations- und Kommunikationskabine im eigenen Hause aus werden sich viele und vor allem berufliche Tätigkeiten erledigen lassen, die gegenwärtig noch mit beträchtlichem Fahraufwand verbunden sind. Für unsere Überlegungen wichtig ist vor allem, daß sich durch die angedeuteten Möglichkeiten die Bedeutung und die Dominanz der Großstädte und Agglomerationen verringern dürfte; hochwertige zentralörtliche Leistungen, soweit auf Information und Kommunikation beruhend, sind dann weniger stark standörtlich monopolisiert. Es verbessern sich die Voraussetzungen, die großen Ballungen aufzulockern und neue, nur begrenzt gebündelte Siedlungsstrukturen herauszubilden, die dennoch vielfältigste Kommunikationsmöglichkeiten bieten. Zugleich würde die größere und individuellere Auswahl aus zahlreichen elektronischen bzw. televisionären Informations-, Unterhaltungs-, Bildungsund Kommunikationsangeboten die „Provinzialität" abgelegener Räume immer weiter abbauen helfen. Bisherige Beeinträchtigungen der Chancengleichheit durch räumliche Distanz schwinden. Ja, es erscheint dann sogar eine Belebung regionaler oder kleinräumlicher Aktivitäten möglich. So vertritt G. BARRY ( 1 9 6 5 , S. 3 0 3 ) ζ. B . die Auffassung, daß das regionale und örtliche Gemeinschafts- und Kulturleben starke Impulse, sich vielseitiger und kreativ zu entfalten, erhielte, daß die Abhängigkeit von wenigen großen Massenkommunikationsmitteln mit ihren „Konservenvergnügen" gemindert würde. Die differenzierende Wirkung der Distanzen läßt nach. Auch die Abhängigkeit von Dienstleistungszentren kann, soweit nicht auf den unmittelbaren persönlichen Kontakt angewiesen, durch Datenübertragungssysteme gemindert werden (ζ. B. im gesamten Zahlungsverkehr, im Bildungsbereich, in der Verwaltung usw.) Die Zahl und die Größe der heute in den Städten konzentrierten Verwaltungen, Schulen, Kaufhäuser etc. könnte allmählich zumindest reduziert werden. Entsprechende Entlastung erführe der häufig kollabierende Straßenverkehr. Nicht alle traditionell „zentralörtlichen" Einrichtungen müßten in den Zentren der Städte lokalisiert sein; werden sie vor allem televisionär beansprucht, bedarf es nicht der zentralen Lage in der Stadt bzw. im Knotenpunkt des Verkehrsnetzes. Zwar lassen sich die Auswirkungen neuer technischer Möglichkeiten nicht verläßlich voraussagen, zwischen den technischen Möglichkeiten und der tatsächlichen Entwicklung steht die Bewertung, das Wollen der Menschen bzw. die Politik. Aber es ist zumindest sehr wahrscheinlich, daß die neuen Kommunikationsmöglichkeiten die „dezentralisierend" wirkenden Tendenzen begünstigen werden. Ergänzend bedürfte es jedoch in der Bundesrepu-
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blik des Abbaues des Monopols von Post und öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, da es bezüglich der Durchsetzung und Ausbreitung der neuen Kommunikationstechniken bereits eher hemmend als fördernd zu wirken beginnt. Allerdings wäre es leichtfertig, nun zu glauben, es könne nun eine allgemeine weite Streuung kleiner Siedlungszellen, die eingebettet in die „Natur", über ein vielfältiges Kommunikationssystem miteinander verbunden sind, herbeigeführt werden, in der trügerischen Hoffnung, eine so weitgehende Dezentralisation wäre all den Anforderungen und Aufgaben einer hochentwickelten Zivilisation gewachsen. Die Ausstattung mit derart differenzierten und weit streuenden Kommunikationsdiensten wäre mit beträchtlichen Investitionen verbunden. Bildkommunikationsdienste, Datenterminals, Kabelfernsehanschlüsse, wie überhaupt alle von Leitungen oder von teuren Empfangsanlagen abhängigen Informationssysteme, lassen sich nur unter entsprechend hohem Kostenaufwand beliebig über die Fläche verteilen. Mit zunehmender Individualität der Benutzung und räumlicher Streuung der Verbindungen erhöhen sich die erforderlichen Investitionen469. Auch in der Zukunft dürfte daher eine begrenzte Konzentration der Besiedlung für die Erschließung mit leistungsfähigen Kommunikationssystemen, ganz zu schweigen von anderweitiger Ausstattung, wesentlich günstiger sein als eine starke Streuung vieler kleiner Siedlungen. Gegen eine begrenzte Konzentration der Besiedlung ist vor allem dann nichts einzuwenden, wenn gleichzeitig die Nachteile zu starker Verdichtung vermieden werden; ohnehin dürften die Menschen auch in Zukunft den unmittelbaren Kontakt wahrnehmen wollen und müssen; sie werden auch weiterhin nicht nur die Distanz voneinander, sondern auch die Nähe zueinander suchen. Ja, scheinen nicht einige Phänomene sogar eine stärkere Konzentration der Besiedlung zu begünstigen? Die Ausweitung des Bildungs- und Forschungsbereiches, ständige Fortbildung, das mit der Freizeit wachsende Interesse an Museen, Ausstellungen können zur Folge haben, daß die großen Städte immer mehr zur „Heimstätte des Intellekts" werden, „deren Kern das lebendige und immer komplexer gewordene Universitätssystem bildet"470. Eine Konzentration differenzierter, verfeinerter Dienstleistungen einschließlich des kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens an wenigen Großzentren dürfte auch zukünftig große Bevölkerungsteile anziehen. Der Wunsch nach persönlicher Begegnung zwischen Menschen hohen und spezialisierten Intellekts, das Verlangen, einen jeweils angemessenen Bezugskreis in einer so vielfältigen Gesellschaft zu finden, das Bemühen um persönlichen Kontakt zwischen Personen ähnlicher Qualifikation in verschiedensten Bereichen der Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft und Politik, die davon ausgehenden Anregungen lassen entsprechende überregionale „Kontakträume" und „Treffpunkte" als wün-
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sehenswert erscheinen. Zentren des Kultur- und Wirtschaftslebens, der Wissenschaft sind also nach wie vor erforderlich und sinnvoll. Je differenzierter die Menschen in ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen entwickelt sind, desto schwerer ist es, all ihren sozialen Neigungen und Wünschen innerhalb des „überschaubaren" begrenzten Wohnbereiches gerecht zu werden. Allerdings ist es keineswegs zwingend, daraus die Notwendigkeit einer großen kontaktfördernden „Superverdichtung" abzuleiten. Zudem bedürfen nicht alle Menschen derart besonderer persönlicher Bezugs- und Kontaktkreise, wie sie nur in Millionenstädten oder in entsprechenden „Spezialsiedlungen" für Wissenschaftler, Künstler, Wirtschaftsführer o. ä. aufgebaut werden können. Viele solcher spezifischen Kontakte lassen sich, gewissermaßen ephemer an bestimmten zentralen Punkten zwischen den Beteiligten organisieren (als Kongresse und Tagungen, Festspiele, Messen, überregionale Ausstellungen, Sportveranstaltungen etc.), so daß entsprechende zentrale Kommunikationspunkte wichtiger sind als die um sie herum wuchernden Großstädte. Es ist anzunehmen, daß dicht besiedelte Stadtregionen mit mehreren Hunderttausend oder Millionen von Einwohnern, um die unterschiedlichsten Aktivitäten hochentwickelter Gesellschaften zu ermöglichen, umso weniger erforderlich sind, je höher Kommunikationstechnik und Datenfernübertragung entwickelt werden. Wir halten also fest: mit zunehmender Entwicklung des Kommunikationswesens können stärker dezentralisierte Siedlungsstrukturen verwirklicht werden, ohne einen zivilisatorischen Rückschritt auszulösen, ohne daß die Menschen in Isolierung fallen, ohne daß die Kontakte zwischen ihnen reduziert werden. Unter Aufrechterhaltung hochorganisierter Produktion und Verteilung eröffnet sich allmählich die Möglichkeit, mit Hilfe verbesserter Informationssysteme die Menschen aus dem Zwang, sich in riesenhaften Agglomerationen zusammenzudrängen, zu lösen. Zwar wird auch in Zukunft der Städtebau und eine gewisse räumliche Konzentration der Besiedlung keineswegs als „primitiv" anzusehen sein, zu groß sind die damit verbundenen Vorteile, aber allgemeine Zusammendrängung auf engster Fläche wird zunehmend als unnötig und rückständig erscheinen. Verdichtung wird für verschiedene Zwecke und für bestimmte Bevölkerungsteile durchaus sinnvoll und anstrebenswert bleiben, sie wird aber nur eine der möglichen räumlichen Existenzformen sein. Nicht die städtische Lebensweise an sich ist überholt, nicht die Stadt als solche ist schlecht. Die Konzentration fast der gesamten Menschheit allerdings in wenigen hochgradig verstädterten, dichtest besiedelten Zonen, wie dies von manchen Futurologen vorausgesagt und empfohlen wird, wäre höchst bedenklich, dies umso mehr, da sie mit der Verfeinerung des Kommunikationswesens ohnehin nicht mehr notwendig wäre.
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Die überkommene Siedlungsstruktur, zumindest in großen Teilen Europas, bietet noch immer zahlreiche kleine und mittlere städtische Ansatzpunkte, durch deren Entwicklung und axiale Verknüpfung einer allgemeinen Verdichtung in wenigen Zentralregionen leicht entgegengewirkt werden kann. Eine aufgelockerte oder nur begrenzt verdichtete Besiedlungsstruktur läßt sich also unter Nutzung neuer Kommunikationsmöglichkeiten aus den vorhandenen Gegebenheiten heraus durchaus entwickeln. Statt höchste Konzentration der Bevölkerung in wenigen Zonen und gleichzeitig große gering genutzte Gebiete entstehen zu lassen, wäre es sinnvoller, den gesamten verfügbaren Raum durch ein System dezentralisierter, begrenzter Siedlungskonzentration in kleinräumlicher wechselseitiger Ergänzung unterschiedlich intensiv beanspruchter Flächen zu nutzen. Fassen wir zusammen: wachsende Kommunikationsbedürfnisse und -fähigkeiten erzwingen keineswegs für die Zukunft eine zunehmende Verdichtung, im Gegenteil, sie ermöglichen eine gewisse Dezentralisation, eine stärkere räumliche Streuung bei nur begrenzter Konzentration. Entsprechende Ansatzpunkte der bestehenden Siedlungsstruktur vermögen eine derartige Entwicklung zu begünstigen. Nicht zuletzt gewährt eine weniger stark konzentrierte Siedlungsstruktur Schutz vor erzwungener überfordernder Kommunikation (Communications Stress - R. L. MEIER, 1 9 7 2 ) , wie sie als Folge zu starker räumlicher Verdichtung der Lebensfunktionen auftritt, erlaubt aber dennoch den erwünschten Kontakt.
2.2.3 Aspekt - Distanz und Nähe Der Mensch bedarf für unterschiedlichste Verrichtungen und Aktivitäten eines Mindestindividualraumes, so wie auch beim gemeinschaftlichen Zusammenwirken bestimmte Dichtewerte (Wohndichte, Besiedlungsdichte, Arbeitsplatzdichte) nicht ständig und unbegrenzt überschritten werden dürfen, wenn man Schädigungen vermeiden will (vgl. erster Teil, Kap. 3.2; 4). Die Möglichkeit zur räumlichen Distanz dürfte für die erfolgreiche Organisation des menschlichen Lebens ebenso wichtig sein, wie die Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu treten. Zweifellos stellt eine zu starke räumliche Einengung eine beträchtliche Belastung und Gefährdung des normalen Zusammenlebens einer Sozietät dar. Die Einengung des Raumes vermag bislang funktionierende soziale Strukturen zu zerstören. Es ist ζ. B. sehr wahrscheinlich, daß dann, wenn man dem Menschen die für die Existenzsicherung und das Wohlbefinden wesentlichen Raumbezirke und Territorien verwehrt, wenn durch zu starke Zusammendrängung die territoriale Toleranz überfordert wird, aggressive Neigungen freigesetzt werden471. Das ag-
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gressive Potential wird mobilisiert. Auch Erziehung zur Friedfertigkeit und soziale Disziplin können dann rasch ihre Wirkung verlieren. So dürfte E. FROMMS ( 1 9 7 4 , S. 9 7 ) Annahme, „daß nicht große Bevölkerungsdichte an sich, sondern der Mangel an einer sozialen Struktur, an echten Bindungen und Lebensinteressen Ursache der menschlichen Aggression ist", sehr fragwürdig sein. Selbstverständlich reagiert der Mensch nicht geradezu gesetzmäßig auf erhöhte interpersonelle Dichte mit Aggression, zu differenziert verlaufen seine Entscheidungs- und Bewertungsprozesse (siehe Darstellung im ersten Teil, Kap. 7.9). Sicher trifft es auch zu, daß sich hohe interpersonelle Dichte bis zu gewissem Grade kompensieren läßt. Zweifellos aber begünstigt zu hohe Dichte, besonders die ständige Nichtachtung der menschlichen Distanzblase (etwa in überfüllten Wohnungen, Lagern etc.), eine Zunahme der Reizbarkeit und beeinträchtigt das Wohlbefinden. E. FROMMS ( 1 9 7 4 , S. 9 8 ) Behauptung, erst die Begleiterscheinungen zu großer Bevölkerungsdichte - also die sozialen, psychologischen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen, der Streß und oft die Armut - würden die Aggression fördern und seien für sie verantwortlich, nicht die Dichte als solche, ist ebenso bedenklich, als wenn man etwa eine Grippe als an sich völlig harmlos begreifen wollte und erst im damit verbundenen Fieber, Husten oder Schnupfen das Übel und die Ursache der Ermattung und Schwäche sähe. Verdeutlichen wir es auf andere Weise: Man setze eine Anzahl sozial bevorzugter, wohlhabender, glücklicher (?) Menschen, die zudem zu besten Manieren erzogen wurden, Menschen, die als durchaus friedfertig gelten, in einem abgeriegelten Raum unter Dichtestreß. Man gebe zur „Verschönerung" der Enge auch gehobenes Kulturgut hinzu und reiche erlesene Menüs; auf daß es an nichts fehle. Dennoch dürften - zunehmend mit der Dauer und dem Grad der Einengung - langsam aber sicher Verhaltensstörungen einsetzen, sozial destruktive Phänomene wirksam werden. Das würde nicht deswegen geschehen, weil gewisse soziale Bedingungen etwa schlecht gewesen wären, sondern weil die territoriale Sensibilität, die auf Motorik gerichtete Verhaltensgenetik und die begrenzte interpersonelle Dichtetoleranz dieser eingeengten Menschen mißachtet wurden. Es soll natürlich nicht bestritten werden, daß umgekehrt soziale Bedingungen destruktives Verhalten und Aggression fördern können, ohne daß die begrenzte Dichtetoleranz des Menschen überschritten wurde. Also auch eine räumlich in keiner Weise eingeengte Lebensweise wird allein nicht verhindern können, daß in einer Gesellschaft soziale Spannungen entstehen und Aggressionen frei werden. Nun wäre es an sich nicht der Erwähnung wert, wenn einige Gelehrte den Einfluß der territorialen Komponente zu hoher Besiedlungs- und Wohndichte auf das soziale Leben unterschätzen, würde nicht von gleicher Seite recht
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rigoros zu radikalen gesellschaftlichen Veränderungen aufgerufen. So verkündet Ζ. Β . E. FROMM ( 1 9 7 4 , S. 9 8 ) , daß dem „Bedürfnis des Menschen, in einer Welt mit menschlichen Proportionen zu leben", nur entsprochen werden kann, „wenn die gesamte gesellschaftliche und geistige Struktur radikal geändert wird". Angesichts eines solchen revolutionären Veränderungsdranges stellt sich die Frage, wie denn dann wohl die Raumnutzung der Menschen zu gestalten sei, denn diese wäre ja auch ein Aspekt der erwünschten „Welt mit menschlichen Proportionen". Und es ist zu fragen, ob die Bevölkerungsdichte tatsächlich so gering geachtet werden darf. Wer die Menschen über eine radikale Veränderung beglücken will, muß schon gefragt werden, wie denn nun der bessere Zustand konkret sein soll. Die angebliche „Anomie" gegenwärtiger gesellschaftlicher Existenz, also der Zustand mangelnder, unbefriedigender sozialer Ordnung, sei nur zu überwinden, „wenn die Beziehung zu unserem Nebenmenschen und die Ausdrucksmöglichkeiten für die eigenen Kräfte und nicht der Konsum von Dingen und die Feindseligkeit gegen unsere Mitmenschen zum beherrschenden Prinzip für unser soziales und individuelles Leben werden". (E. FROMM, 1974, S. 98). Lassen wir offen, ob Analyse und Rezept stimmen. Bemerkenswert ist jedoch die Annahme, daß eine solcherart verbesserte menschliche Existenz unabhängig von der Dichte des Wohnens und der Besiedlung gewährt werden könne: „dies ist auch bei einer starken Bevölkerungsdichte möglich, doch erfordert es ein radikales Überdenken unserer gesamten Prämissen und eine radikale soziale Wandlung". Begrenzte Dichtetoleranz, räumliche Bedingungen spielen anscheinend keine Rolle. So einfach ist das. Man stülpe die bestehende Gesellschaftsstruktur um und die Probleme unserer Siedlungsstruktur und -dichte lösen sich auf. Die konkrete Aufgabe, die Raumnutzung industrialisierter Gesellschaften gezielt zu verbessern, wird in den Nebel sozialrevolutionärer Verheißung entrückt. Da wir keine instinktmäßig gebundenen Tiere seien, wären die Probleme, die sich aus zu dichter Besiedlung ergeben, auf sozialem und politischem Wege zu bewältigen. Als Resultat dieser recht verkürzten Betrachtungsweise wird die Organisation der Raumnutzung unter das Diktum gestellt: „die Lösungen für die Probleme der Überbevölkerung sind soziale und politische" (E. FROMM, 1 9 7 4 , S. 9 9 ) . Demgemäß hätten wir uns also durch soziale Arrangements und durch radikalen sozialen Wandel über die territoriale Sensibilität und begrenzte Dichtetoleranz hinwegzusetzen. Es darf bezweifelt werden, ob nach einer radikalen sozialen Wandlung die territoriale Sensibilität schwindet, ob dann etwa das Eindringen eines Fremden in die eigene Wohnung weniger empört, ob die Mißachtung unserer individuellen Distanzzonen dann nur noch als Ausdruck allgemeiner Menschenliebe gedeutet wird.
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Wichtiger als der Wille zum Umsturz ist zunächst das Bemühen, unser Wissen hinsichtlich der Grenzen und Möglichkeiten der Raumnutzung auszuweiten, zuträgliche Raumnutzungsmodelle zu entwickeln und über praktikable Verfahren Schritt für Schritt anzustreben. Denn gerade die Beachtung der territorialen Komponente unserer sozialen Existenz dürfte wesentlich zum Abbau der innerartlichen Aggression und zur Friedenssicherung beitragen. Stießen wir auf das Produkt eines intellektuellen Spiels mit Halbwahrheiten, wie es bisweilen auch in gelehrten Köpfen abläuft? Oder sollte es nicht vielmehr die alte Sehnsucht nach der aggressionsfreien Gesellschaft sein, die zu dem Glauben verführt, die umweltbedingten Erschwernisse des sozialen Lebens allein durch revolutionierenden gesellschaftlichen Wandel bewältigen zu können? Wenn es nur so einfach wäre - als könne das Paradies, so man nur herzhaft genug auf die miese Gegenwart schlägt, vom Himmel fallen. Angesichts der weltwirtschaftlichen Verflechtung mag es vertretbar sein, daß sich Gesellschaften auf Territorien beschränken, die aufgrund einer zu geringen agrarischen Tragfähigkeit die Ernährung aller Bewohner nicht sicherstellen. In einer einigermaßen befriedeten Welt läßt sich ein solcher Mangel durch andere Leistungen durchaus ausgleichen, wenngleich er in anderen historischen Perioden aggressionsfördernd wirkte. Territoriale Toleranz kann eben für Tier und Mensch nur solange gelten, wie die Grundlagen der Existenz nicht zerstört werden. Auch kann hohe interpersonelle Dichte durchaus zeitweilig zu bestimmten sozialen Zwecken willkommen sein, ebenso aber kann sie zur sozialen Überforderung und zur Reizbarkeit führen. Eine Gesellschaft muß also jenseits aller Wünsche nach „radikalen sozialen Wandlungen" bestrebt sein, zwischen Raumnutzung und Sozialstruktur ein lebensdienliches Gleichgewicht zu finden. Es wurde an anderer Stelle aufgezeigt, daß die gegenwärtige Siedlungsstruktur mit ihrer oft hohen interpersonellen Dichte die Menschen vielfach überfordert, ja sogar pathologische Phänomene auslösen kann (vgl. erster Teil, Kap. 3.2). Die Abhängigkeit vom Raum, das Verlangen nach Mindestindividualraum, nach Bewegungsfreiheit etc. kann auch die schönste soziale Revolution nicht beseitigen. Es soll nun keineswegs behauptet werden, daß eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern die jeweils wünschenswerten räumlichen Lebensbedingungen bereitstellt, einer gesellschaftlichen Harmonie und allgemeinen Friedfertigkeit zustrebt; zu vielfältig sind die Ursachen sozialer Spannungen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch kann eine Entlastung vom Dichtestreß und dem damit oft verbundenen Kommunikationsstreß zur Herabsetzung der Reizbarkeit und der gesundheitlichen Gefährdung beitragen. Nicht zuletzt aber läßt sich eine wesentliche Komponente des Gemeinschaftslebens, die aktive Mitgestaltung des Daseinsraumes, beleben, wenn die Bewohner die Möglich-
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keit sehen, ihre territorialen Ansprüche selbstgestaltend auszuformen und zu befriedigen. Nachbarliches Interesse kann geweckt, gemeinschaftsfördernde Aktivität freigesetzt werden, etwa bei der Verwirklichung gemeinschaftlicher Projekte472. Auch lassen sich körperliche Motorik, Freude am Umgang mit Geräten, Ausgestaltung und Verschönerung des Wohnbereiches leichter realisieren, wenn ein entsprechender „Gestaltungsraum" zur Verfügung steht. Über eigenen Raum verfügen zu können, verbessert die Voraussetzungen, in vielfältiger Weise selbstgestaltend tätig zu sein, selbstgesetzte Vorhaben zu verwirklichen, worin ein glückstiftender Effekt ruht. Es ist schwer festzulegen, welche Raumgestaltung und welche Siedlungsform als ideal zu bezeichnen wäre, zumal dies stets abhängig von der Sozialstruktur und der Kulturstufe bleibt. Konzentration in dichtgedrängten Hochhausblöcken, besetzt mit einkommensschwachen Schichten, voller Lärm und wechselseitiger Störung, dürfte ebenso ungünstig sein wie eine extrem weit gestreute dünne Besiedlung, in der erst stundenlanges Fahren in die Nähe des Mitmenschen führt. Da wir uns brauchen, sollten wir füreinander erreichbar sein, da wir uns stören, dürfen wir uns nicht zu nahe kommen. Distanz voneinander und Nähe zueinander, Alleinsein und Zusammensein, beides ist notwendig. Raumnutzung ist, vereinfachend gesagt, so zu gestalten, daß dem einzelnen sowohl ein störungsfreier Mindestindividualraum gewährt wird, als auch Räume angeboten werden, in denen er auf unterschiedlichste Weise gesellschaftlich, geistig oder körperlich aktiv gestaltend, tätig sein kann. Ausreichend „persönlicher" Raum ist ebenso bereitzustellen wie gleichzeitig auch Raum verbleiben muß für das Gedeihen der Beziehungen zwischen den Menschen; so auch finden die Ansprüche des einzelnen und der Gesamtheit aneinander ihre Grenzen, nicht als Gegensatz, sondern sich ergänzend. Auch wenn wir damit eine sehr allgemeine und geradezu banale Aussage treffen, soll zusammenfassend betont werden, daß den Menschen ermöglicht werden muß, die zu ihrem Wohlbefinden erforderlichen räumlichen Voraussetzungen zu finden, ohne ihre begrenzte Dichtetoleranz zu überfordern und ohne isoliert zu sein. 2.2.4 Aspekt - Fläche Es erhebt sich nun die Frage, verfügen wir überhaupt über das notwendige Flächenpotential, um den Menschen eine veränderte, wenig stark verdichtete Siedlungsstruktur anzubieten? Zweifellos besteht dort, wo sich viele Menschen und Anlagen in Ballungszonen und Großstadtregionen zusammendrängen, Flächenknappheit, wodurch hohe Bodenpreise entstehen und intensivste Nutzung der Flächen erzwungen wird. Mit Sicherheit ermangelt es
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aber nicht generell überall an Fläche. Während der Boden zufolge vielfältiger Nutzungsansprüche gebietsweise außerordentlich knapp ist und durch intensive Beanspruchung zahlreiche Mehrfachnutzungen und Nutzungskonflikte entstehen, wird der Boden in anderen Landesteilen nicht oder kaum beansprucht, besteht Überangebot an ungenutzter Fläche. Nicht nur lokale Bodenknappheit kennzeichnet die Situation der Flächennutzung in der Bundesrepublik, sondern ebenso gebietlicher Bodenüberschuß. Gegenwärtig sind auf dem Gebiet der Bundesrepublik lediglich knapp 12% der gesamten Fläche mit Gebäuden und Anlagen dieser oder jener Art überbaut, der Rest ist mehr oder minder „offenes" Land. Mehr als die Hälfte unserer Gesamtfläche dient der Erzeugung von Nahrungsmitteln. Trotz dieser wichtigen Funktion wird gerade hier immer mehr Land entbehrlich. Die Fortschritte in der Agrarproduktion und der Verbund im Rahmen der EG machen es sehr wahrscheinlich, daß in den nächsten 10 Jahren in der Bundesrepublik ca. 5 Millionen ha landwirtschaftliche Nutzfläche aus der Produktion ausscheiden werden. Noch immer wäre dann eine etwa 70%ige Selbstversorgung - für ein Industrieland ein angemessener Wert - gesichert (vgl. G. THIEDE 1975, S. 353 f.). Aber es ist nicht auszuschließen, daß ein noch viel größerer Flächenanteil freigesetzt wird, da ζ. B. in den nächsten Jahren der Anteil der synthetisch erzeugten oder durch Hydrokulturen (Nährlösungen), durch Aquakulturen (ζ. B. hochproduktive Fischzucht) etc. gewonnenen Nahrungsmittel zunehmen dürfte. Es wird also höchstwahrscheinlich, um kostspielige Erzeugungsüberschüsse zu vermeiden, zur allmählich fortschreitenden „Stillegung" großer Teile der agrarisch genutzten Fläche kommen, vor allem in den Gebieten mit ungünstigen Produktionsvoraussetzungen. Eine allgemeine Aufforstung all dieser freiwerdenden Flächen erscheint nicht als zwingend. Überschüsse sind in der Forstwirtschaft vorerst kaum zu erwirtschaften; zudem ist fast ein Drittel der Fläche der Bundesrepublik schon mit Wald bestanden, wodurch immerhin etwa die Hälfte des derzeitigen Holzbedarfs gedeckt wird. Es kann also keinesfalls von einer bevorstehenden allgemeinen „Flächennot" gesprochen werden. Flächenmangel besteht lediglich dort, wo die Menschen zu dicht siedeln und sich ihre Nutzungsanforderungen häufen und überschneiden. Daß ein „Flächenüberschuß" durch die Stillegung landwirtschaftlich genutzter Flächen meist in Gebieten entsteht, in denen gegenwärtig nur geringe Siedlungstätigkeit zu beobachten ist, besagt nicht, daß dies immer so sein muß. Mittelgebirgslagen verfügen vielfach ζ. B. bezüglich der klimatischen Bedingungen, verglichen mit den inversionsgefährdeten Talund Beckenlagen vieler Verdichtungsgebiete und Großstädte oder bezüglich des Grundwasserdargebotes, der Naturnähe etc. über durchaus günstige Voraussetzungen für eine verstärkte Besiedlung (vor allem mit Zweitwohn-
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sitzen). Zwar ist gegenwärtig die Nutzung unseres Lebensraumes noch höchst unausgewogen und seine Beanspruchung räumlich sehr ungleich verteilt, aber das ist weit eher eine zivilisatorische Fehlleistung als ein Mangel an lebensräumlichem Potential. So muß es doch ζ. B. verwundern, daß die Menschen - trotz insgesamt ausreichender Fläche - für das „Wohnen", also für das eigentliche „Zu-Hause-Sein" in der Welt, noch immer vergleichsweise wenig Fläche verbrauchen. In der Bundesrepublik entfallen auf den Einwohner im Durchschnitt lediglich etwa 100 qm für (i. w. s.) „Wohnen" verfügbare Bodenfläche. Die städtebauliche Literatur mißt dem Bewohner sogar lediglich einen Bodenanteil für „Wohnzwecke" (Nettobauland einschl. Freiflächenanteil) von durchschnittlich etwa 5 0 qm zu (vgl. K . BORCHARD 1974, S. 41 f.). So drängen sich viele Menschen und engen sich in ihrer persönlichsten und wesentlichen Lebensraumnutzung ein, obwohl doch selbst in einem dicht besiedelten Land wie der Bundesrepublik auf den Einwohner ca. 4000 qm Anteil an der Gesamtfläche entfallen. Noch immer bewohnt nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung eigene Häuser mit Gärten, durch die großzügigere Wohnmöglichkeiten eröffnet werden - weit weniger als in den meisten Ländern Westeuropas. Leider ist unsere Siedlungsstruktur allerdings häufig so geartet, daß die Bewohner dieser Einfamilienhäuser einen überdurchschnittlichen Verkehrsaufwand in Kauf nehmen müssen, um zu den unterschiedlichsten lebenswichtigen Einrichtungen zu gelangen. Selbst wenn man für die verdichtet in Mehrfamilienhäusern wohnenden Haushalte bodennahes großzügigeres Wohnen ermöglichen wollte, wäre noch nicht einmal eine Million Hektar zusätzlich zu überbauender Fläche, also weniger als 4% der Fläche des Bundesgebietes, erforderlich. Eine allgemeine bodennahe Wohnweise in Ein- oder Zweifamilienhäusern würde in der Bundesrepublik lediglich zur Folge haben, daß ca. 16% der Fläche durch Gebäude und sonstige Einrichtungen überbaut werden müßten. Dabei wäre eine solche Überbauung sehr aufgelockert und durchgrünt. Es ist ohne weiteres möglich, eine Eigenheimbebauung in Form von Reihenhäusern, Gartenhof- oder Atriumhäusern in „Teppichbebauung" etc. unter weit geringerem Flächenanspruch zu verwirklichen; der Flächenverbrauch muß dabei nicht wesentlich größer als bei einer mehrstöckigen Bebauung sein (vgl. u. a. H. HOFFMANN, 1972). Allerdings wäre es höchst fragwürdig, eine solche allgemeine bodennahe Wohnweise zu fordern, da gar nicht alle Menschen in Ein- oder Zweifamilienhäusern leben wollen und eine störungsverminderte verdichtete Wohnweise in den Städten auch weiterhin für große Bevölkerungsteile (aufgrund empirischer Hinweise für gegenwärtig ca. 20-30%) attraktiv bleiben wird. Das Argument jedoch, wir müßten die Menschen in Großstadtregionen und Verdichtungsgebieten zusammenpferchen, weil es an Fläche, an „Lebens-
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räum" fehle, ist keineswegs stichhaltig. Gewiß, die Beanspruchung der Fläche auch durch andere Nutzungen wird zunehmen, aber das rechtfertigt keinesfalls einen Zwang zur möglichst verdichteten flächensparenden Wohnbebauung. Es besteht kein allgemeiner Flächenmangel für Wohnzwecke und er darf nicht bestehen (von politisch verursachten Sondersituationen, wie etwa in Berlin, abgesehen). Vielmehr ermangelt es an einer Siedlungsstruktur, die bodennahes Wohnen begünstigt. Wir stehen vor einem organisatorischen Mangel, vor Planungsschwächen, nicht vor Flächenknappheit. Selbst für die Schweiz errechnete R . BOSSHART ( 1 9 6 8 , S. 1 1 3 f.), daß im Jahre 2 0 0 0 , falls alle Menschen in Einfamilienhäusern wohnen wollten, einschließlich des weiteren Flächenbedarfs für die Wirtschaft, den Verkehr und die Infrastruktur, usw. ca. 20% der unter 1200 m über dem Meeresspiegel liegenden und nicht mit Wald bestandenen Fläche überbaut sein würden - wobei ohnehin eine zu großzügige Bevölkerungsprognose zugrundeliegt. Wer Flächenknappheit konstatiert und damit für allgemein verdichtete Wohnbebauung und grundsätzlich gegen flächenverbrauchendes Bauen argumentiert, scheint auch zu vergessen, daß zahlreiche weniger dicht besiedelte Landesteile verstärkt in eine neue Siedlungsstruktur einbezogen werden können; er schränkt seine Phantasie, gebannt von den Problemen der großen Städte und den zahlreichen Flächennutzungskonflikten in den verdichtet besiedelten Gebieten, unnötig ein. Der Vorwurf liegt nahe, man verkünde eine angebliche Eigenheimideologie; weit gefehlt. Es gilt lediglich, nach Wegen zu suchen, die die Belastung der Menschen durch zu hohe interpersonelle Dichte und Dichtestreß abbauen helfen. Das ebenso ideologieverdächtige Ideal „urbaner Verdichtung" ist diesem Bestreben weniger förderlich, zumal dann, wenn Verdichtung als angeblich zur Kommunikation unentbehrlich, als unverzichtbar begriffen wird. Hochhaus und Eigenheim haben beide ihre erprobte Berechtigung, so daß es unnötig ist, sie, einander ausschließend, gegeneinander zu richten, vielmehr wären sie in eine vielfältige Siedlungsstruktur, einander ergänzend, einzubeziehen. Beider Vorteile wären zu nutzen; ein Angebot, die jeweils angemessene Wohnweise wählen zu können, wäre zu schaffen. Wenn gegen die Verwirklichung des Eigenheimgedankens mit dem Einwand argumentiert wird, daß dann keine freie Bodenfläche mehr übrig bliebe, so gilt nach wie vor E. DIETTRICHS (1966, S. 434) Hinweis, daß es sich dabei um eine „absurde Vorstellung" handele, „denn dafür würde der Grund und Boden allemal ausreichen." Dem ist hinzuzufügen, daß wir es aus umweltpsychologischen, sozialmedizinischen und sozialpolitischen Überlegungen für verantwortungslos halten würden, wenn durch die Regionalplanung nicht versucht würde, größeren Teilen der Bevölkerung bodennahe Wohnweise zu ermöglichen. Frei von
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sozialer Romantik scheint noch immer eine Siedlungspolitik der Diskussion wert, die es ermöglicht, daß „der Arbeiter (jeder der es möchte - d. Verf.) mit seiner Familie ein ländliches oder halbländliches Eigenheim hat"473, wobei es uns weniger wesentlich ist, ob die ausgleichende Funktion bodennaher Wohnweise auch durch Wochenendgrundstücke o. ä. erfüllt wird, ob ein bestimmtes Eigenheim lebenslänglich bewohnt oder nach Ortswechsel gegen ein anderes „getauscht" wird. Auf jeden Fall fällt es schwer, in der mehrstöckigen und stärker gedrängten Bauweise die einzige Möglichkeit angemessenen Wohnens zu sehen474. Wir erinnern an G. ALBERS (1972, S. 111) Hinweis: „Eine Abkehr vom Einfamilienhaus wäre also zweifellos auch ein Schuß über das Ziel hinaus". Es besteht kaum Zweifel, daß Einfamilienhäuser, und seien es auch Reihenhäuser, Atriumhäuser etc. relativ enger Bebauung, dem Familienleben förderlich sind und vor allem den Kindern - und sei der Garten auch noch so klein - größere Bewegungs-, Erlebnis- und Entfaltungsmöglichkeiten gewähren. Es ist ein hinreichend bestätigtes Phänomen, daß es zwischen Familienmitgliedern, die jeweils über eigene Räume und über mehr Freiraum verfügen, seltener zu Spannungen und Aggressionen kommt; so hat der Umzug einer Familie aus einer relativ engen Mietwohnung in ein eigenes oder gemietetes Haus, wie oft beobachtet, einen geradezu „entspannenden" Effekt - Kinder, die sich zuvor oft zänkisch gegeneinander verhielten, werden friedlicher, sind weniger aggressiv. Nicht zuletzt zeigt auch die höhere durchschnittliche Kinderzahl der Familien mit Hauseigentum, ungeachtet des Qualifikations- und Bildungsgrades der Mutter, daß entsprechend großzügige Wohnmöglichkeiten der Familie und Fortpflanzungsbereitschaft förderlich sind; angesichts der sozialpolitisch bereits bedenklich geringen Geburtenhäufigkeit ist dies ein durchaus bedenkenswertes Phänomen (vgl. Familie und Wohnen, 1976). Nun könnte man gegenüber einer durch bodennahe Bebauung flächenhaft ausgeweiteten, weniger stark verdichteten Besiedlung einwenden, daß dadurch kaum lösbare Verkehrsprobleme entstünden. Ist dieser Einwand berechtigt? 2.2.5 Aspekt - Verkehr Wenn man den gesamten verfügbaren Raum in die Überlegungen zur Umformung der Siedlungsstruktur einbeziehen will, um die Schaffung eines möglichst vielfältigen Angebots sich ergänzender Nutzung zu erleichtern, dann müssen die verschiedenen Teilräume gut zugängig sein, es bedarf also einer umfassenden Verkehrserschließung. Um die Bedeutung der Verkehrserschließung und des Transportwesens
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für die Ausformung der Siedlungsstruktur voll zu erfassen, soll auf die folgende siedlungsstrukturelle Grundregel verwiesen werden: Ist die Fähigkeit und das Verlangen der Menschen, große Mengen an Gütern, Diensten und Information hervorzubringen und zu verbrauchen, stärker entwickelt, als das Verlangen und die Fähigkeit diese zu transportieren, wird eine Tendenz zur räumlichen Konzentration wirksam; ist dagegen die Fähigkeit zu transportieren hoch entwickelt, kann eine Tendenz zur räumlichen Streuung wirksam werden. Sehr wahrscheinlich befinden wir uns inmitten einer siedlungsstrukturellen Tendenzwende. Die lange Zeit wirksame Konzentrationstendenz kippt mehr und mehr um; ein Umbruch der Siedlungsstruktur läuft ab, durch den immer mehr Menschen angesichts gewandelter Transportsituation in die Lage versetzt werden, lebensräumliche Vorstellungen zu verwirklichen, die ihnen in den Agglomerationen des Industriezeitalters vorenthalten wurden. Noch immer hält der Prozeß einer allmählichen Umverteilung unserer Wohn- und Arbeitsstätten, der durch die Verfügbarkeit über Kraftfahrzeuge und den Bau eines flächenerschließenden Straßennetzes ausgelöst wurde, an. Konzentration der Besiedlung an den Haltepunkten der Bahnen war nicht mehr erforderlich, dagegen setzte eine zunehmende Streuung und Auflockerung der Besiedlung ein; eng damit verbunden wurden vielen Menschen großzügigere Wohnmöglichkeiten eröffnet. Diese sich vor allem in den letzten 20 Jahren immer deutlicher herausbildende veränderte Siedlungsstruktur ist bereits weitestgehend irreversibel, bringt allerdings gleichzeitig, vor allem in den Großstädten und deren ausufernden Randzonen beträchtliche Flächennutzungsprobleme mit sich, so daß vielfach eine räum- und städteplanerische Gegensteuerung durch erneute stärkere Siedlungskonzentration und den Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel empfohlen wird. So wird das Dilemma der Großstädte häufig dem PKW angelastet, durch dessen Verdrängung und ergänzende Maßnahmen angeblich auch die Städte gerettet und die Verkehrsprobleme bewältigt werden könnten. Dies dürfte allerdings eine sehr fragwürdige Annahme sein. Zwar hat in der Tat der PKW wesentlich zur Verringerung der Wohnattraktivität der Großstädte und vor allem der innerstädtischen Bereiche beigetragen. Auf zahlreichen Trassen strömen die PKW-Massen zu den sich ausweitenden tertiären Arbeitsstätten, zu den vielfältigen Einrichtungen der Innenstädte; die Wohnfunktion wurde zunehmend in randstädtische Bereiche bzw. nach außen abgedrängt. Der von außen und von immer weiter her radial einströmende Verkehr kollabierte schließlich. Daher liegt es nahe, im Ausbau attraktiver öffentlicher Verkehrssysteme, in aufwendigen S- und U-Bahnprojekten den rettenden Ausweg zu sehen. Doch welche Folgewirkungen eines solchen zentrumsorientierten Ausbaus sind zu erwarten?
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Die in ihrer Rentabilität vom Transport möglichst vieler Menschen abhängigen öffentlichen Verkehrssysteme müssen so trassiert werden, daß im Bereich ihrer Haltepunkte möglichst viele Personen leben. Da bei fortgeschrittener Individualmotorisierung im allgemeinen nur ca. 1/3 der Einwohner öffentliche Verkehrsmittel benutzt, wären in der Nähe der Schnellbahntrassen und ihrer Haltepunkte relativ hohe Verdichtungen sinnvoll. In Ergänzung zur Verkehrsplanung müßte also die Stadtplanung und Raumordnung solche Bevölkerungskonzentrationen anstreben. Zwar kann durch ein Park-and-Ride-System der Einzugsreich der Haltepunkte ausgeweitet werden, damit entstünde aber für den einzelnen wieder ein entsprechend hoher Gesamtverkehrsaufwand. Will er diesen reduzieren, wird er verdichtet wohnen müssen. Über den Ausbau eines radial vom dominierenden Zentrum ausstrahlenden Verkehrsnetzes würden die mehr oder minder verdichteten Vorstädte, Satellitenstädte, Entlastungsorte etc. nach wie vor der Großstadt zugeordnet. Deren Innenstadt bliebe Verkehrsknoten; auch die „Umverteilung" der Verkehrsteilnehmer, die andere Stadt- oder Randzonen aufsuchen wollen, müßte sich dann vor allem über das innerstädtische Verkehrskreuz abwickeln. Diese Verkehrsbündelung in der Innenstadt ist aber problematisch; sie kann eine sehr bedenküche Entwicklung begünstigen. Die radiale Ausrichtung des Verkehrsnetzes auf das Zentrum fördert die Überlastung des Innenstadtbereiches, so daß früher oder später die Aussperrung der PKWs aus den Kernstädten erwogen werden muß. Damit verliert die Innenstadt, trotz der auf sie orientierten Trassen, schließlich doch an Verkehrsgunst; die Standortvorteile für zahlreiche innerstädtische Einrichtungen, vor allem des Handels, schwächen sich ab. Immer mehr Nebenzentren in verkehrsgünstiger Lage, für PKWs gut zu erreichen, würden, falls durch die Planung nicht untersagt, entstehen. Ungeachtet dieses allmählichen Funktionsverlustes wären die Innenstädte nach wie vor Drehscheiben des Verkehrs; die Verkehrserschließung großer verstädterter Regionen würde über das „umverteilende" Zentrum (bzw. dessen unmittelbare Randzone) erfolgen. Das alte radialorientierte Verkehrssystem eines monozentralen Großstadtraumes würde durch ausgebaute oder neu errichtete öffentliche Verkehrssysteme weiter verfestigt. P . BARON ( 1 9 7 4 , S. 4 2 3 ) vermutet: „Sind radial zur Innenstadt verlaufende U- oder Stadtbahnstrecken erst einmal gebaut, wird es unmöglich sein, sie wieder stillzulegen. Hat die monofunktionale Verdichtung erst einmal begonnen, kann man sie kaum wieder stoppen und damit gleichzeitig die Planungsgrundlagen für das Radialnetz aufheben". So wird die Funktion des innerstädtischen Bereichs als Verkehrsknoten immer weiter verstärkt, ohne aber den gleichzeitigen Funktionsverlust der
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Innenstadt vermeiden zu können, ohne zu verhindern, daß „außerhalb" neue Zentren entstehen. Zwischen Individualverkehr und öffentlichem Verkehrssystem besteht dann kaum noch Ergänzung, weil beide zunehmend auf verschiedene Ziele orientiert sind. Der PKW sucht die lagegünstigeren Nebenzentren auf, die durch das radiale öffentliche Verkehrssystem kaum erschlossen werden. Der öffentliche Verkehr aber droht in seiner nicht mehr voll funktionsgerechten monozentrischen Orientierung zu erhärten.475 So ist es also höchst fraglich, ob ein solches radiales Verkehrssystem langfristig den tatsächlichen Verkehrsbedürfnissen gerecht zu werden vermag, ob es entsprechend frequentiert wird, ob es rentabel arbeiten kann und die getätigten Investitionen rechtfertigt. Auch ist keineswegs sicher, ob man die Benutzer von Individualverkehrsmitteln ohne zumindest indirekten Zwang zur Inanspruchnahme solcher öffentlicher Verkehrsmittel bewegen kann. Die Vorteile einer individuellen und zielvariablen Distanzüberwindung lassen sich niemals voll durch die weniger flexiblen öffentlichen Verkehrsmittel ausgleichen; unter den Bedingungen des Wohlstandes werden auch die höheren Kosten für die Benutzung des eigenen Fahrzeuges nicht von dessen Bevorzugung abhalten. Im Jahre 1978 wurden in der Bundesrepublik etwa 80% des Personenverkehrs unter Nutzung des PKW's abgewickelt; die Attraktivität des PKW's ist also ungebrochen, das läßt sich nicht so leicht zurückdrehen. P. LEYHAUSEN ( 1 9 7 2 , S. 4 0 6 ) verweist darauf, daß die Menschen, falls sie nicht dazu gezwungen sind, es stets vorziehen werden, ihren Weg aktiv zurückzulegen, „statt sich passiv transportieren zu lassen". Eine wahrscheinlich sogar genetisch festgelegte Neigung, Distanzen aktiv und eigenverantwortlich zurückzulegen, sollte bei der Verkehrsplanung bedacht werden. Falls gleichzeitig individuellere Möglichkeiten der Distanzüberwindung gegeben sind, wird daher die Zurückhaltung gegenüber Massenverkehrsmitteln bestehen bleiben. Die Bereitschaft, auf den PKW sowohl bei der Fahrt zum Arbeitsplatz, zum Einkauf, zum Freizeitvergnügen zu verzichten, ist, wie auch empirisch belegt, äußerst gering; das Image öffentlicher Verkehrsmittel ist zu schlecht, die damit assoziierten und tatsächlichen Nachteile sind zu zahlreich (vgl. u. a. WEMA-Studie, Köln 1 9 7 1 ) . Welches andere Fahrzeug als der PKW käme dem Drang nach eigener Distanzüberwindung, nach räumlicher Beweglichkeit und individueller Exploration, aber auch nach Eigenraum, nach Distanzraum gegenwärtig besser entgegen oder gewährt ähnlich beweglichen, privaten Transportraum, ist ein ähnlich günstiger rollender Behälter für die Familie, das Paar, den einzelnen? Im Verständnis der meisten Menschen überwiegen solche Vorzüge die offensichtlichen Nachteile (Sicherheitsrisiko, steigende Kosten etc.).
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So besteht die gegenwärtige Gefahr, daß beträchtliche Investitionen in den Ausbau öffentlicher Verkehrssysteme gepumpt werden, die auf die Innenstädte der Großstadtregionen orientiert sind und so der Stützung einer fragwürdigen monozentralen Siedlungsstruktur dienen, die wir als Erbe aus der Vergangenheit mit uns schleppen. Wenn ζ. B. in 16 Großstädten der Bundesrepublik Deutschland durch den Bau von U-Bahnen mit extrem hohem Kostenaufwand (von ca. 100 Millionen DM und mehr pro km Tunnelstrecke), durch Ausbau von S-Bahnen im Bereich der Ballungen, durch Hochleistungsschnellbahnen, die die wichtigsten Zentren verbinden sollen und für diese zusätzlich Verkehrsangebot schaffen, gewaltige Ausgaben auf die Rettung der Agglomerationen konzentriert werden und ζ. B. gleichzeitig in ländlichen Gebieten, betriebswirtschaftlich durchaus gerechtfertigt, Bahnstrecken stillgelegt werden, bleibt die Vermutung, daß die gegenwärtige Siedlungsstruktur besonders dort gestützt wird, wo sie sich als zunehmend problematisch erweist. Ähnlich problematisch ist die im Pendelschlag des Zeitgeistes erwogene Reduzierung der Ausbaupläne eines großräumlich erschließenden Autobahnnetzes, zumal durch dieses lediglich ca. 0,4% der Fläche des gesamten Landes beansprucht würde, die Voraussetzungen für eine Harmonisierung der Raumstruktur jedoch beträchtlich erhöht werden. Wie aber und durch welche Siedlungsstruktur ließe sich das Verkehrsproblem lösen und gleichzeitig ein wohltuender Lebensraum gewinnen? Steht die Gestaltung unseres Lebensraumes unter der Auflage, dem Menschen eine möglichst große Vielfalt von unterschiedlichen Raumnutzungen, die sich auf vielfältige Weise wechselseitig ergänzen, zu bieten, so müssen diese verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten nicht nur vorhanden, sondern auch leicht erreichbar sein. Diese Erreichbarkeit kann vereinfachend auf zweierlei Weise gewährleistet werden. Entweder konzentriert sich ein vielfältiges Raumnutzungsangebot in unmittelbarer Nähe des Menschen, dann kann der Verkehrsaufwand, es zu erreichen, gering bleiben, oder die sich ergänzende Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten streut stärker im Raum und der Mensch ist distanziell so beweglich, daß er dieses nun nicht mehr räumlich konzentrierte Angebot dennoch leicht wahrnehmen kann. So stünde etwa dem einen Extrem einer distanzminimierenden Superverdichtung, innerhalb derer alle Wege, um die Vielfalt zu nutzen, zu Fuß oder per Aufzug bewältigt werden können, ein anderes Extrem gegenüber, die weitestgehende Dezentralisation der lebensräumlichen Strukturelemente, bei der erst durch gesteigerte räumliche Beweglichkeit die erwünschte Nutzungsvielfalt erreicht wird. Zweifellos böte eine starke räumliche Konzentration von Menschen und unterschiedlichen Tätigkeiten in großen multifunktionalen Wohn- und Ar-
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beitskomplexen, vor allem hinsichtlich der Kommunikationsmöglichkeiten und „kurzen Wege", zahlreiche Vorteile. Auch technisch sind solche Konzentrationen durchaus zu bewältigen. So bietet ζ. B. das ca. 140 m hohe COLONIA-Hochhaus in Köln Wohnraum für rund 1000 Menschen. Dienstleistungseinrichtungen, Räume für Freizeitaktivitäten und Wohnungen (351) wurden hier räumlich aufs engste miteinander verbunden. Im SEARS TOWER, einem 412 m hohen Gebäude in Chicago, finden 17 000 (!) Menschen ihren Arbeitsplatz. Es ist also ohne weiteres vorstellbar, in einer Art „senkrechten Gesellschaft", in Hochhauskomplexen die unterschiedlichsten Lebensbereiche auf geringer Grundfläche räumlich zu integrieren. Eine ganz andere Frage ist, ob der Mensch eine solche verkehrsmindernde Zusammendrängung auch bei gleichzeitiger Nutzungsvielfalt auf die Dauer auch psychisch verkraftet. Und entstünden nicht erneut große Verkehrsprobleme, wenn die Menschenmassen aus solchen Konzentrationen in Erholungs- und naturnahe Freizeiträume ausbrechen wollen und dann wieder zurückströmen? Wird andererseits die lebensräumliche Vielfalt räumlich zu stark gestreut angeboten, dann fluten ständig Verkehrsströme zwischen den verschiedenen Nutzungen hin und her. Durch allgemeine Dezentralisation kann zwar Dichtestreß vermieden und können zahlreiche Nutzungskonflikte der Verdichtungen abgebaut werden, auch wird der Verkehr stärker gestreut und mag dadurch weniger störende Nebenwirkungen haben, aber der Verkehrsaufwand wird für den einzelnen umso höher sein müssen, je stärker die verschiedenen Raumnutzungen streuen. Erst wenn mit der Dezentralisation die Herausbildung einer Vielzahl kleiner weitestgehend autonomer Siedlungszellen beabsichtigt wäre, die den Bewohnern alles Erforderliche böte, könnte der Verkehrsaufwand reduziert werden, aber eben um den Preis zahlreicher Einschränkungen; die gegenwärtige Breite der materiellen Erzeugung könnte nicht aufrecht erhalten werden, Konsum und Komfort müßten eingeschränkt werden, was sich bekanntlich leichter fordern als praktizieren läßt. Stärkste Verdichtung wie auch allgemeine Dezentralisation, stellen also kaum überzeugende Modelle zur Gewährung lebensräumlicher Vielfalt dar. Sicherlich könnten durch Zusammendrängung in großen multifunktionalen Baukörpern oder durch Verteilung auf dezentrale kleine, jedoch möglichst autonome Siedlungszellen, die Verkehrsströme reduziert werden, aber um den Preis des Dichtestreß und eingeengten Bewegungs- und Betätigungsraumes einerseits, bzw. einer Herabsetzung des materiellen Lebensstandards andererseits. Die tatsächliche Siedlungsstruktur jedoch ist durch zahlreiche Übergänge zwischen beiden Extremen gekennzeichnet und bringt entsprechend Verkehr hervor.
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Monozentrisch auf einen Verdichtungsschwerpunkt ausgerichtete Stadtbzw. Siedlungsstrukturen dürften allein aufgrund der Verkehrssituation (s. o.) zunehmend mit der Größe und Besiedlungsdichte immer fragwürdiger werden, so wie auch stärker gestreute dezentrale bzw. polyzentrale Siedlungsgebilde mit zunehmender Durchschnittsdichte in ein Verkehrschaos zu geraten drohen. So wie sich die aus den Wohngebieten zum verdichteten multifuktionalen Zentrum flutenden Verkehrsströme schließlich unerträglich bündeln, so bringt die unterschiedliche Zielorientierung innerhalb der dezentralen Siedlungsstruktur einer großen Agglomeration ab einer bestimmten Bevölkerungs- und Flächengröße zahllose, sich kreuzende Verkehrsströme hervor, die nur durch ein aufwendiges Schnellstraßensystem zu bewältigen sind. So ist ζ. B. sowohl die stark monozentrische Agglomeration von Paris, wie auch die stärker polyzentrische Agglomeration von Los Angeles unter dem Blickwinkel des Verkehrsaufwandes imbefriedigend. Es ist jedoch eine Siedlungsstruktur mit durchaus städtischem Angebot vorstellbar, die weder monozentral orientiert, noch chaotisch dezentral, das Verkehrsproblem relativ leicht zu bewältigen vermag. Zunächst ist zu berücksichtigen, daß das Verkehrsvolumen in einer Agglomeration mit deren zunehmender Größe (Bevölkerungszahl) nicht nur linear in gleicher Weise zunimmt, sondern eindeutig überproportional wächst476. Durch eine Verdichtung kann dem zwar entgegengewirkt werden, es bedarf aber im Vergleich zur Vergrößerungsquote der Bevölkerung einer weit höheren Steigerungsrate der Dichte, um deren Verkehrszuwachs auszugleichen. Effektiver läßt sich das Verkehrsvolumen verringern durch eine Verkleinerung der Agglomeration. Gegenüber einer Großagglomeration wird in zwei oder drei kleineren Agglomerationen mit zusammen gleicher Bevölkerungszahl insgesamt beträchtlich weniger Verkehr erzeugt, was Kosten, Zeit und Belastungen erspart. Auch ist es empirisch belegt, daß die Bereitschaft der Bevölkerung, große Entfernungen täglich zu fahren, mit abnehmender Größe einer Stadtregion bzw. Agglomeration deutlich abnimmt. Während die Bewohner großer Agglomerationen willens sind, große Entfernungen zu überwinden, lehnen dies die Bewohner kleinerer Stadtregionen ab, zumal es ja auch nicht erforderlich ist. Je nach Siedlungsstruktur ist also der Verkehrsaufwand, der als zumutbar gilt, recht verschieden; diesbezüglich ist der Bewohner großer Agglomerationen nolens volens verdorben, er ist ein „Verkehrsmacher" und dazu auch in hohem Maße bereit. Will man aber eine großräumliche Struktur verwirklichen, in der statt weniger großer Verdichtungsgebiete viele kleinere Bevölkerungsschwerpunkte entstehen, dann muß zunächst eine vergleichsweise geringe „Maschenweite" eines möglichst große Teile des Gesamtraumes erschließenden
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Verkehrsnetzes angestrebt werden, wie dies annäherungsweise ja in der Bundesrepublik durch den Bundesstraßen- und BAB-Ausbau bislang geschah. Denn je größer die räumliche „Maschenweite" eines Verkehrsnetzes, desto geringer ist die Zahl der Punkte bzw. Zonen, in denen sich dank hoher Verkehrsgunst Agglomerations- bzw. Verdichtungseffekte einstellen. Anders gesagt, je größer Maschenweite und Kapazität eines Verkehrssystems sind, desto größer ist die Verdichtungstendenz an umso weniger Punkten und Achsen. Je größer die Agglomerationen, desto mehr Verkehr, denn der Verkehr innerhalb der Siedlungsstrukturen übertrifft bei weitem den großräumlichen Verkehr zwischen diesen. Umgekehrt würden durch ein dichteres Verkehrsnetz bzw. durch geringere Maschenweite an weit mehr Punkten bzw. Bereichen die Effekte der Verkehrsgunst wirksam und desto kleiner können die jeweiligen Verdichtungen sein, wodurch insgesamt weniger Verkehr entstünde. Innerhalb dieser zahlreichen aber kleineren Räume stärkerer Besiedlung läßt sich dann wiederum der Verkehr verringern, wenn ein relativ engmaschiges gebietliches bzw. regionales Verkehrsnetz vorhanden ist, das nicht monozentral auf ein Hauptzentrum ausgerichtet ist, sondern im Rahmen einer polyzentralen, nur begrenzt verdichteten Siedlungsstruktur mehrere abgestufte Zentren bzw. unterschiedliche Nutzungsbereiche miteinander verbindet, an denen sich jeweils ergänzende, also meist gemeinsam bzw. zum gleichen Zeitpunkt beanspruchte Einrichtungen befinden. Es müßten beispielsweise Kaufhaus oder Verbrauchermarkt nicht gemeinsam mit der Konzerthalle oder dem Freilichttheater im gleichen Zentrum bzw. Punkt konzentriert sein; eine solche Multifunktionalität wäre sinnlos, denn man beansprucht diese „Funktionen" nicht alle gleichzeitig. Auch wer den Lebensmitteleinkauf für die kommende Woche erledigt, muß nicht unbedingt unter dem gleichen Dach den Kunsthändler finden, denn nur wenige Menschen werden gemeinsam mit den Tomaten ein Gemälde kaufen wollen; auch der Einzelhandel kann also, gruppiert nach sich sinnvoll ergänzenden Blöcken, durchaus räumlich getrennt lokalisiert sein. Zwischen den verschiedenen Zentren dieses dezentral-polyzentrischen Grundmusters verbliebe hinreichend Raum für eine relativ aufgelockerte bodennahe Wohnweise. Dabei bündeln sich diese Wohnbereiche jeweils so, daß bestimmte Einrichtungen gemeinsam benutzt werden können (ζ. B. Kindergarten, Schule für die unteren Jahrgänge, Schwimmbad etc.); zu anderen Einrichtungen (ζ. B. Theater, Zoologische Gärten etc.) wird man jeweils unterschiedliche Wege in Kauf nehmen. Zwischen den verschiedenen Wohnbereichen und Zentren findet sich „offenes" Land, sowohl agrarisch wie forstwirtschaftlich, aber auch für Freizeitzwecke genutzt. Ein dichtes Wegenetz verbindet die verschiedenen Zentren, Wohnbereiche, Gewerbegebiete. Da sich die Verkehrsströme ent-
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sprechend aufgliedern, können aufwendige Verkehrstrassen, von den regionalen und überregionalen Hauptachsen abgesehen, vermieden werden. Der Verkehr verteilt sich stärker, das Zusammenströmen an einem oder wenigen multifunktionalen Zentren mit der damit verbundenen Verkehrsverdichtung wird weitestgehend vermieden. Der gesamte Verkehrsaufwand dürfte bei entsprechender Anordnung innerhalb dieser aufgelockert polyzentrischen Siedlungsstruktur nicht größer sein, denn es ist letztlich nicht weiter, ob man 10 X in dasselbe Großzentrum fährt oder 10 X in verschiedene, jeweils etwa ebenso weit entfernte unterschiedliche Zentren. Ja er kann sogar weit geringer sein, und dies um so eher, je besser es gelingt, die verschiedenen lebensräumlichen Aktivitäten und Ansprüche innerhalb eines gegenüber der großen Agglomeration wesentlich kleineren Raumes (einschließlich seiner Zentralbereiche) zu befriedigen. Durch eine begrenzte axiale oder punktuell gereihte Bündelung der Wohnbereiche und entsprechende Zuordnung der Zentren und Gewerbegebiete wird es möglich sein, öffentliche Verkehrsmittel, vor allem den Bus, ergänzend zum Individualverkehr einzusetzen. Zugleich lassen sich aufwendige und unrentable öffentliche Verkehrssysteme hoher Kapazität einschließlich ihrer groß- und kleinräumlich verdichtungsfördernden Effekte vermeiden. Darüber hinaus werden sich für den Fernverkehr ohnehin öffentliche Verkehrssysteme auch weiterhin bewähren, wobei wahrscheinlich auf Stelzen geführte Schnellbahnsysteme, die vergleichsweise wenig Boden beanspruchen und eine flexible Trassenführung gestatten, besondere Bedeutung gewinnen. Dagegen erscheint es als abwegig, heute noch eine Siedlungsstruktur konzipieren zu wollen, die das Individualverkehrsmittel weitestgehend verbannen möchte; dies wäre selbst unter dem Blickwinkel des Energieverbrauchs nicht sinnvoll (siehe Kap. 2.2.6). Eine befriedigende Lösung des Verkehrsproblems wird dann erfolgen, wenn es gelingt, den Wunsch nach individueller Beweglichkeit mit einer insgesamt wohltuenden Siedlungsstruktur zu verbinden. Hochgradig verdichtete, weitausgreifende Großstädte und Agglomerationen erweisen sich diesbezüglich als ungeeignet. Dagegen würde durch eine aufgelockerte, nur begrenzt verdichtete, gestreut polyzentrische Struktur mit nicht zu starker und nicht zu schwacher durchschnittlicher Besiedlungsdichte und flächenerschließendem Straßennetz, wie im noch folgenden Modell des Stadt-LandVerbundes beschrieben, nicht nur das Verkehrsproblem gemildert, sondern gleichzeitig den vielfältigen lebensräumlichen Belangen des Menschen vergleichsweise gut entsprochen (siehe detaillierte Ausführungen Kap. 2.4.1). Eine solche Siedlungsstruktur wäre, gemäß der oben genannten siedlungsstrukturellen Grundregel, das folgerichtige Ergebnis der gesteigerten Fähig-
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keit unserer Zivilisation zu transportieren. Sicherlich ist nicht der Wunsch nach bodennahem Wohnen und nach etwas Garten und auch nicht Objekt Pkw die entscheidende Ursache der Verkehrsprobleme, sondern vielmehr sind die Siedlungsstruktur der Agglomerationen und großen Stadtregionen und die auf die großen Stadtzentren ausgerichteten Verkehrsstränge und vor allem die großflächig hohe Besiedlungsdichte dieser Räume die Wurzeln des Übels. 2.2.6 Aspekt - Energie Zweifellos wird die Siedlungsstruktur auch von der Art und dem Umfang der verfügbaren Energie beeinflußt. Die überkommenen großen Industriebetriebe entstanden vor allem in der Nähe der Kohle als dem Hauptenergieträger oder an Standorten günstiger Anlieferung durch Eisenbahn oder Schiffahrt. Gingen also von der Kohle punktuelle und axiale Konzentrationseffekte aus, so erlaubte der Einsatz von Oel und Elektrizität aufgrund kostengünstigerer Verteilung in der Fläche in weit höherem Maß auch eine dezentrale, gestreute Allokation. Nun ist es natürlich außerordentlich schwer, zu Art und Umfang der in der Zukunft verwendeten Energie Aussagen zu machen und die möglichen Konsequenzen für die Siedlungsstruktur zu erfassen, zumal sich Siedlungsund Raumstruktur nicht nur in Abhängigkeit von der Energiesituation, sondern von zahlreichen anderen bewegungsabhängigen Faktoren entwikkeln. Selbst beim Einsatz der gleichen Energieart können allein neue technologische Entwicklungen unterschiedliche standörtliche Auswirkungen haben, es bleibt also Unsicherheit. Dies sei am Beispiel der Nuklearenergie verdeutlicht: Unterstellt man, daß die Probleme der Wiederaufbereitung, der Endlagerung der Rückstände wie auch der Sicherheit der Kraftwerksanlagen gelöst werden, dann könnte ohne weiteres der gesamte und wachsende Strombedarf in der Bundesrepublik mit je nach Größe 30-100 Kernkraftwerken gedeckt werden, zumindest solange Brennstoff zur Verfügung steht. Über ein weiter ausgebautes Hochspannungsverbundnetz (380 kV) ließe sich das gesamte Bundesgebiet geradezu flächendeckend beliefern, entsprechend könnten auch die Standorte der Kraftwerke räumlich streuen. Allerdings ist zu bedenken, daß sich mit den gegenwärtigen Reaktortypen lediglich ca. 25% der eingesetzten Primärenergie in elektrischen Strom verwandeln lassen, was angesichts des knappen spaltbaren Materials ein höchst unbefriedigender Wirkungsgrad ist. Versucht man nun in gekoppelter Energieproduktion, die anfallende Restwärme besser zu nutzen, dann läßt sich die Endenergierate im Durchschnitt auf immerhin 50% det eingesetzten Primärenergie
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erhöhen. Da aber Wärme nur sehr schwer über größere Entfernungen zu transportieren ist und etwa ab 35 km die Grenzen der Wirtschaftlichkeit überschritten werden477, würde nukleare Wärme-Kraft-Kopplung (Elektrizität + Wärme) Kraftwerksstandorte nahe der Verbrauchergebiete erzwingen. Zugleich müßte aber auch eine Mindestwärmemenge abgenommen werden. Außerdem wäre eine Mindestdichte der Besiedlung erforderlich, damit die hohen Kosten der Wärmefernverteilung (in die Arbeitsstätten, Haushalte etc.), die immerhin etwa 5 0 % und mehr der gesamten Energiegestehungskosten betragen" können, durch eine entsprechende Kapazitätsauslastung und Ausnutzung des Netzes gerechtfertigt werden. Da eine Baudichte von 0,3 (GFZ) etwa nur 1/4 der gegenwärtig als erforderlich angesehenen Wärmebedarfsdichte gewährt, ist also eine Verdichtung von Wohn- bzw. Arbeitsstätten zu ausreichend großen Abnahmegebieten erforderlich. Da bereits ein Kernkraftblock mit einer Stromerzeugung von 1000 MW den Fernwärmebedarf von ca. 1 Mill. Einwohnern abzudecken vermag, müßte auch eine entsprechende Menschenzahl im Anschlußbereich des Fernwärmenetzes dieses Kraftwerkes wohnen. Damit wären also die Kernkraftwerke jeweils nahe bzw. am Rande einer Agglomeration von etwa 1 Mill. Menschen zu lokalisieren. Angesichts der maximalen wirtschaftlichen Reichweite der Fernwärmeversorgung von ca. 35 km könnte allerdings eine nukleare Anlage auch in der Mitte bzw. im Zentralpunkt eines polyzentralen Raumes, der innerhalb eines Durchmessers von ca. 70 km 1 Mill. Menschen einschließt und damit nur eine durchschnittliche Besiedlungsdichte von ca. 260 Ew/km 2 (entspricht in etwa dem Bundesdurchschnitt) hätte, lokalisiert sein. Ein solcher Siedlungsraum könnte also auch von ländlichen Bereichen durchzogen sein, bedürfte jedoch der Besiedlungskonzentration und verdichteten Bebauung ζ. B. in Mittelstädten oder entlang verdichtet besiedelter Achsen, um das Fernwärmenetz anschließen zu können. Die Lokalisation zahlreicher Kernkraftwerke jeweils inmitten oder am Rand vergleichsweise dicht besiedelter Gebiete wäre allerdings aus vielerlei Gründen problematisch; geeignete Standorte mit entsprechenden Sicherheitszonen innerhalb der vorhandenen Siedlungsgebiete zu finden, dürfte auch in Beachtung der thermischen Belastung der Umgebung nicht leicht sein. Gelänge es allerdings, Hochtemperaturreaktoren einzusetzen, dann wäre es möglich, am Kraftwerksstandort Methan in seine Komponenten Wasserstoff und Kohlenmonoxyd aufzuspalten und die dabei chemisch gebundene Energie im kalten Gasgemisch ohne größere Energieverluste über größere Distanzen in Rohrleitungen zu transportieren. In Heizzentralen innerhalb der Versorgungsgebiete kann dann durch Methanisierung die gebundene Wärme wieder freigesetzt und zum Teil in Elektrizität verwandelt werden. Die Feinverteilung der Wärme erfordert zwar wiederum eine gewisse Sied-
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lungskonzentration, nicht aber unbedingt im Rahmen einer größeren Agglomeration bzw. einer großräumlichen Mindestdichte. Von Vorteil wäre vor allem, daß gestützt auf ein Fernenergieverbundsystem (Gasgemisch-Leitungen) die Kernkraftwerke in größerer Entfernung von den dichter besiedelten Räumen und in weit geringerer Anzahl, bei gesteigerter Größe (in Nuklearparks mit mehreren 1000 MW Kapazität) errichtet werden könnten. Ungeachtet dessen scheint der verstärkte Einsatz von Nuklearenergie in Verbindung mit Fernenergie bzw. Fernwärme, bezogen auf die Siedlungen und angeschlossene Arbeitsstätten einen verdichtungsfördernden Effekt zu haben. Aber auch bezüglich der großräumlichen Struktur dürfte eine agglomerationsfördernde Tendenz wirksam sein, denn der Ausbau der kapitalintensiven Fernenergieverbundsysteme hoher Kapazität wird aus Wirtschaftlichkeitsgründen vor allem auf die Verdichtungsräume und -achsen bzw. Großstadtregionen ausgerichtet sein und diese aneinanderkoppeln. Die Netzweite solcher großräumlichen Verbundsysteme wäre also relativ groß, was zu Standort- bzw. Kostenvorteilen der angeschlossenen Gebiete bzw. Agglomerationen und u. a. auch zu deren Bevorzugung durch die Industrie führen würde, vor allem dann, wenn es sich um Großabnehmer ζ. B. von Vorprodukten (CO, H 2 ) handelt. Doch solche Zusammenhänge sind labil, einzelne technische Veränderungen können sie rasch außer Kraft setzen. Es ist ζ. B. möglich, das kalte weittransportierte Gasgemisch (CO + H 2 ) auch in sehr kleinen Anlagen (10 Megawatt) in Nutzenergie (Elektrizität, Wärme) umzuwandeln, so daß es lohnend werden kann, statt nur wenige große Verdichtungsgebiete gleichzeitig auch zahlreiche kleinere Siedlungsgebilde und Gewerbestandorte an den Fernenergieverbund anzuschließen, zumal diese keines teuren großflächigen Fernverteilungsnetzes (ζ. B. Wärmeleitungen) bedürfen. Einzelne technische Entwicklungen können also leicht und immer wieder eine völlige Veränderung der räumlichen Versorgungssituation bewirken. Das wird noch deutlicher, wenn man ζ. B. davon ausgeht, daß die Kernfusion in großtechnischem Maßstab zur Energiegewinnung gelingt; das ist absehbar und könnte einschließlich der Erprobung und des Baues sicherer Anlagen (evtl. unterirdisch) in ca. 40 Jahren erreicht sein. Dann würden sich auch hinsichtlich der Raum- und Siedlungsstruktur ganz andere Konsequenzen ergeben. Wenige Fusionskraftwerke können dann bei einem Wirkungsgrad von ca. 60% und bei einer Kapazität von jeweils mehreren 1000 MW den gesamten, selbst drastisch gesteigerten Strombedarf decken; Rohstoffprobleme bestünden kaum. Elektrische Energie wäre geradezu standortneutral überall billig, da es von den aus Sicherheitsgründen abgelegenen Kraftwerksstandorten aus möglich wäre, durch supraleitende Übertragung (extrem tiefe Leitungstemperatur) Elektrizität nahezu Verlust-
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los an die Verteiler des vorhandenen Netzes zu liefern. Da nunmehr Elektrizität für jede weitere Nutzenergie eingesetzt werden kann, bedarf es nicht mehr allgemeiner Besiedlungsverdichtung im Bereich der Fernwärme- und Fernenergiesysteme; Elektrizität ist in höherem Maße flächenerschließend. Einer Dezentralisationstendenz stünde unter dem Aspekt der Energie nichts im Wege. Der Individualverkehr würde über verbesserte Batterien aus der Abhängigkeit vom knapper werdenden Oel entlassen, einschränkende Maßnahmen wären hinfällig. Man könnte allerdings einwenden, daß die thermische Belastung durch eine solcherart ausgeweitete Energiegewinnung gefährlich wäre. Global gesehen bestehen jedoch keine Bedenken; die Energieeinstrahlung der Sonne auf die Erde beträgt IO17 Watt, der gegenwärtige Energieverbrauch dagegen nur IO13 Watt, selbst eine Verdoppelung oder Vervierfachung kann daher global als vorerst unproblematisch angesehen werden. Lediglich lokal, also im Bereich solcher Kraftwerke, könnte eine Erwärmung auftreten, die aber durch verbesserte Kühlverfahren oder gezielte Ableitung in vertretbaren Grenzen gehalten werden kann. Bezieht man andere nichtnukleare Arten der Energiegewinnung in die Überlegungen ein, wird das Bild hinsichtlich der möglichen Raum- und Siedlungsstruktureffekte immer differenzierter. Wollte man z. B. in stärkerem Maße die solare Energie nutzen, dann bestünde, da diese flächendeckend und gewissermaßen dezentral einfällt, keinerlei Notwendigkeit zur Siedlungsverdichtung. Im Gegenteil, je größer die pro Person verfügbare Einstrahlungsfläche (z. B. Dach- bzw. Kollektorenfläche) ist, umso mehr Wärme kann gewonnen werden. Wenn Warmwasser und Heizwärme durch Sonnenenergie erzeugt werden sollen, so bedarf es unter den Bedingungen des gemäßigten Kümas und bei guter Isolation der Bauten einer Kollektorenfläche von ca. 15 m2 pro Person. Das heißt aber, daß dafür nur Wohngebiete mit einer Geschoßflächenzahl von 0,3 und weniger, also mit Einfamilienhaus-, Reihen- oder Gartenhofbebauung, in Frage kommen. Des weiteren könnte versucht werden, die Umgebungswärme besser zu nutzen. Durch Wärmepumpen ist es möglich, das Temperaturgefälle zur Außenwelt für die Wärmegewinnung im „Inneren" zu nutzen. Wird als Speichermedium die umgebende Luft genutzt, dann kommen dafür aufgrund der relativ geringen Speicherkapazität nur aufgelockert bebaute Gebiete in Frage. In einer hochgradig verdichteten und kompakt bebauten großen Stadt würde die Umgebungswärme vor allem an windstillen sonnenarmen Tagen rasch verbraucht werden; solche Städte würden sich dann häufig gewissermaßen selbst auskühlen. Und auch bei Nutzung der Grundwasserwärme könnten keine größeren und dicht besiedelten Stadträume beheizt werden, nicht zuletzt auch wegen der ökologischen Folgewirkungen. Zieht man dagegen
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die Umgebungswärme aus Flüssen oder Seen oder dem Meer, dann ließen sich über kleine Fernwärmesysteme nahe gelegene, dicht bebaute Gebiete versorgen. Dennoch sind alle diese verschiedenen, letztlich die solare Energie nutzenden Systeme unter unseren Klimabedingungen auf ergänzende Energielieferanten (Oel, Strom, Kohle etc.) angewiesen, um Einstrahlungsbzw. Temperaturschwankungen auszugleichen. Auch solare Energie (i.w.S.) entläßt also nicht aus dem Zwang, an weitere Energieversorgungssysteme angeschlossen zu sein, wobei allerdings kapitalintensive Anlagen (ζ. B. Fernwärme) zu vermeiden sind, da deren Kapazität dann gar nicht ausgeschöpft werden kann (von kompakten Großbauten abgesehen). Nutzung solarer Energie und Fernwärme schließen sich im allgemeinen geradezu aus, da die Verwendung solarer Energie die Fernwärmeabnahmedichte eines Gebietes so reduzieren würde, daß extreme Verdichtung angestrebt werden müßte, die aber wiederum die lokale Nutzung der Sonnenenergie erschweren bzw. verhindern würde. Die stärkere Nutzung der Sonnenenergie (i.w.S.) dürfte also bezüglich der Siedlungsstruktur einen eher auflockernden und die Bebauungsdichte senkenden Effekt haben und auch hinsichtlich der großräumlichen Struktur stärker dezentralisierend als verdichtend wirken, da die vermutlich agglomerationsfördernden Fernenergiesysteme nicht notwendig wären. Gelänge es nun aber durch neue Technologien etwa die geothermische Energie, die durch den Zerfall radioaktiver Elemente im Erdinnern entsteht, zu nutzen, dann würden sehr wahrscheinlich von solchen Anlagen zufolge der kapitalintensiv zu verteilenden Fernenergie bzw. -wärme wiederum verdichtungsfördernde Wirkungen ausgehen, gelänge dagegen eine Verstromung dieser Energie mit hohem Wirkungsgrad, wäre dies nicht der Fall. Geht man davon aus, daß in Zukunft die großen heimischen Kohlevorräte als Energieträger stärker genutzt werden müssen, dann wird dies aufgrund der höheren Transport- und Umladekosten zu einer Verteuerung und Benachteiligung in den abgelegenen Gebieten führen. In den „kohlenahen" kostengünstigen Verdichtungsgebieten (Rhein-Ruhr und entlang des Rheins sowie der Binnenschiffahrtswege) sind allerdings lufthygienische Nachteile in Kauf zu nehmen, die entweder die Attraktivität dieser Gebiete senken oder Investitionen erfordern, die vorherige Kostenvorteile möglicherweise neutralisieren. Ähnlich wie das Oel, gestattet zwar auch die Kohle, trotz höherer Kosten, eine flächendeckende Versorgung, läßt also eine dezentrale Besiedlung und aufgelockerte Siedlungsstruktur ohne weiteres zu, dennoch könnte eine Tendenz zur Siedlungsverdichtung wirksam werden, da sich Mehrfamilienhäuser und größere kompakte Baukomplexe zufolge effektiver Außenisolation als energiesparender erweisen und großräumlich gesehen eine Tendenz zur Agglomeration nahe der Kohle einsetzen würde. Auch wenn Kohle
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in Zukunft unter Hinzuziehung von Nuklearenergie zum gasförmigen oder flüssigen Energieträger umgeformt wird, lassen sich aufgrund des erforderlichen Verteilernetzes - wie bereits jetzt beim Erdgas - verdichtet bebaute Siedlungsbereiche wirtschaftlicher versorgen als aufgelockert bebaute. Bezüglich der kleinräumlichen Siedlungsstruktur würde also eine Konzentrationstendenz gefördert. Auf großräumlicher Ebene kann dagegen durch ein entsprechend ausgebautes Gasleitungsnetz die Versorgung auch mittel- bis kleinstädtischer Räume, bei vergleichsweise geringen Energietransportkosten, gewährleistet werden. Die möglichen Auswirkungen unterschiedlicher Energiegewinnung auf die Raum- und Siedlungsstruktur werden noch schwerer absehbar, wenn man etwa den Verkehr, der immerhin gegenwärtig nahezu 20% der Endenergie beansprucht, mit einbezieht. Würde man sich aus Gründen der Energieknappheit für eine verstärkte Nutzung solarer Energie (i.w.S.) entscheiden, würde die dadurch begünstigte aufgelockerte Siedlungsstruktur zugleich einen höheren Individualverkehr bewirken, der, falls nicht preisgünstige Treibstoffe (Methan, Wasserstoff, Batterieelektrizität) für neue Antriebssysteme zur Verfügung stünden, den solaren Energiegewinn wieder aufzubrauchen droht. Entstünden dagegen in Abhängigkeit von der nuklearen Fernwärme zunehmend verdichtete Siedlungsgebiete innerhalb von Agglomerationen mit jeweils mehr als 1 Mill. Ew., dann würde durch die in diesen Verdichtungsräumen gegenüber dem Durchschnitt um ein vielfaches höheren Fahrleistungen insgesamt weit mehr Verkehr entstehen. Lediglich wenn es gelänge, diesen mit Hilfe öffentlicher Verkehrsträger zusammenzufassen, könnte ein überproportionaler Zuwachs bzw. Verbrauch an Verkehrsenergie verhindert werden. Das setzt eine hochgradige punktuell-axiale Verdichtung voraus, durch die aber dann dennoch nicht verhindert würde, daß ein umfangreicher Freizeit-Individualverkehr entsteht, der den Energiegewinn des öffentlichen Berufs- bzw. Pendlerverkehrs wieder zunichte zu machen droht. Nicht zuletzt steigen auch die Kosten für die aufwendigen Verkehrsbauten unterschiedlichster Art in den Agglomerationen überproportional im Vergleich zur Verkehrserschließung polyzentraler oder mittelstädtisch-kleinstädtischer Räume. Gelänge eine kostengünstige Gewinnung der Elektrizität, dann würde die Wahrscheinlichkeit wachsen, daß auf wenigen Hochgeschwindigkeitstrassen großräumige Schnellverbindungen öffentlicher Verkehrsmittel errichtet werden. Diese wiederum würden wegen des erforderlichen Fahrgastaufkommens und zur Minimierung der Fahrzeiten in großer „Maschenweite" der Trassen vor allem die Verdichtungsgebiete miteinander verbinden, was dort als Standortvorteil und damit weiter agglomerierend wirksam werden könnte, wodurch wiederum überproportional zunehmender Verkehr in die-
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sen Agglomerationen (s. o.) entstünde. Die unterschiedlichsten Wirkungszusammenhänge zwischen Siedlungsstruktur - Verkehr - Energieverbrauch sind also möglich. Es könnte nun durchaus folgendermaßen argumentiert werden: Man konzentriere die Bevölkerung in möglichst wenigen, möglichst großen, kompakt bebauten Agglomerationen, wodurch eine vergleichsweise kostengünstige Versorgung mit Fernwärme ermöglicht würde; man bewältige zudem den Verkehr innerhalb dieser Agglomeration mit Hilfe öffentlicher Verkehrsmittel hoher Kapazität, durch die die jeweiligen Bereiche dichter Wohnbebauung, der Arbeitsstätten bzw. der Versorgungszentren miteinander verbunden werden. Zwischen diesen großen Agglomerationen wird der Verkehr über trassengebundene Schnellbahnsysteme bewältigt. Der Individualverkehr würde dagegen stark reduziert. Die gesamte Raum- und Siedlungsstruktur wäre vergleichsweise energiesparend. Allerdings würde eine solche Konzeption den lebensräumlichen Belangen der meisten Menschen kaum gerecht werden. Wohnt man in hochgradig kompakter Bebauung, dann bedarf es der Ausgleichsräume entweder außerhalb der Verdichtungen oder in ausreichend großen Freiräumen innerhalb der Agglomerationen. Entweder die Agglomerationen weiten sich also räumlich beträchtlich aus, werden von Grünzonen und offenem Land durchzogen bzw. erlauben bodennahes Wohnen oder sie müssen verkehrlich auf's engste mit dem größeren Umland und den dortigen Möglichkeiten der Erholung, des Freizeitwohnens etc. verbunden werden. In beiden Fällen entsteht beträchtlicher zusätzlicher Verkehr entweder aus der kompakten Agglomeration heraus und wieder zurück oder innerhalb einer weniger stark verdichteten aber flächenmäßig vergrößerten Agglomeration hin und her. Der angeblich energiesparende Effekt hochgradiger Verdichtung erweist sich also, will man nicht wesentliche Bedürfnisse der Menschen ignorieren, als illusorisch. Es besteht sogar die Gefahr, daß durch großräumliche Agglomeration die Verkehrsprobleme und der entsprechende Energieverbrauch vergrößert werden, da allem Anschein nach folgender Zusammenhang zwischen Agglomerationsgröße und -dichte einerseits und dem Verkehrsvolumen andererseits besteht: Mit wachsender Größe und Bevölkerungszahl einer Agglomeration ist ein überproportionaler Zuwachs des Verkehrsvolumens verbunden. Zugleich verringert steigende Besiedlungsdichte innerhalb dieser Agglomeration das Verkehrsvolumen. Aber bislang ist der verkehrsverstärkende Effekt zunehmender Bevölkerungszahl gegenüber der verkehrsvermindernden Wirkung zunehmender Dichte bei jeweils gleicher Erhöhungsrate höher478. So würde sich also durch eine Verkleinerung der Agglomeration bzw. durch Aufteilung einer Großagglomeration in mehrere kleinere Verdich-
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tungsräume der Verkehrsaufwand insgesamt beträchtlich verringern lassen. Strebt man eine bezüglich des Verkehrs energiesparende Raum- und Siedlungsstruktur an, so dürften sich auf großräumlicher Ebene statt weniger Großagglomerationen zahlreiche kleinere und mittlere, im Raum verteilte Verdichtungen empfehlen, die untereinander über ein vergleichsweise dichtes und flächenerschließendes Verkehrsnetz verbunden sind. Ob dann innerhalb solcher kleinerer Agglomerationen in polyzentraler Struktur die Siedlungen verdichtet bebaut sein sollen, entscheidet sich auch an der Frage, inwieweit solare Energie genutzt wird. Zwar führt auf großräumlicher Ebene eine Dezentralisation der Großagglomerationen zu zahlreichen und kleineren verdichtet besiedelten Räumen zu einer Ausweitung des großräumlichen bzw. überregionalen Verkehrs, da sich jedoch zugleich der an sich umfangreichere Verkehr innerhalb der Siedlungsstrukturen durch die Auflösung der Großagglomerationen überproportional verringern würde, reduziert sich die gesamte Verkehrsleistung479. Das heißt aber auch, daß bei steigenden Transportkosten, was bei möglicherweise zunehmender Energieverknappung nicht unwahrscheinlich ist, durchaus auch eine Tendenz zur großräumlichen Dezentralisation in Verbindung mit gebietlicher Siedlungsverdichtung wirksam werden kann, da so der gesamte Transportaufwand sinken würde, ebenso könnte für viele Produzenten eine Dezentralisation der Standorte in die jeweiligen Konsumentengebiete sinnvoll werden, was ohnehin durch weitere standortbeeinflussende Tendenzen (Kommunikationstechnik Mikroprozessoren etc.) begünstigt würde. Es wäre natürlich vollkommen abwegig, unter Verweis auf die Energiesituation die zukünftige Raum- und Siedlungsstruktur voraussagen zu wollen bzw. gar diese oder jene als zwingend notwendig zu empfehlen. Zu unterschiedlich sind die Möglichkeiten zukünftiger Energiegewinnung (vom Einsatz der Biomasse bis zum Strom aus der Meereswärme und dem Wind oder zur Kernfusion) und die damit möglicherweise verbundenen standörtlichen Effekte, zumal außerdem für die Zukunft von einer Mischung unterschiedlicher Energieträger und -erzeuger ausgegangen werden kann. Auch sind die aufgezeigten Abhängigkeiten viel zu vage und instabil. Außerdem spielen ggf. Einflüsse eine Rolle, so etwa die Werthaltungen in einer Gesellschaft, Wechselfälle der Politik, Moden etc., die sich nicht aus den Möglichkeiten der Energiegewinnung ableiten. Selbst wenn sich ζ. B. Solarheizung als völlig ungenügend und unrentabel erweisen würde und eine kompakte Wohnweise angesichts der effektiveren Verwendung knapper Energie sinnvoller erschiene, wer könnte dann denjenigen, der dennoch im eigenen Hause wohnen will, daran hindern, sich notfalls die Kohle mit dem Handwagen vom Bahnhof zu holen, falls ihm dieser Aufwand im Sinne seiner Prioritäten
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gerechtfertigt erschiene. Siedlungsstruktur verändert sich nicht nur gemäß der Energielage bzw. so, daß deren Nutzung optimiert werde. Auch kann es durchaus sein, daß gewandelte Wertvorstellungen im wirtschaftlichen Wachstum, im steigenden Energieverbrauch keinen Sinn mehr sehen und sich daher energiesparendere, gewissermaßen „kleinere" Techniken und stärker regionalisierte Wirtschaftskreisläufe sowie stärker selbstversorgende Lebensweisen durchsetzen. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht mit Sicherheit auszuschließen. Zumindest aber wird eines deutlich, daß es nicht gerechtfertigt ist, unter Verweis auf die Versorgung mit Energie eine allgemeine Verdichtung der Besiedlung und Bebauung zu postulieren und ergänzend im öffentlichen Verkehr hoher Transportkapazität die Lösung der Verkehrsprobleme zu sehen und daraufhin entsprechend verbietend und einschränkend tätig zu werden. Eine demgemäß rechtfertigende Argumentation würde „vorn" und „hinten" hinken. Durchaus vermögen sich auch dezentralisierte großräumliche Strukturen sowie aufgelockerte Siedlungsstrukturen an gewandelte Energiesituationen anzupassen und in diesen zu bewähren.
2.2.7 Zusammenfassung und Konsequenz Die Entwicklung der Kommunikationstechnik erleichtert es, zahlreiche Kontakte ohne räumliches Beisammensein der Beteiligten wahrzunehmen. Zufolge der begrenzten Dichtetoleranz des Menschen, seiner territorialen Sensibilität, stellt die zu starke Zusammendrängung in großen verdichteten Siedlungsbereichen ein Risiko für Wohlbefinden und Gesundheit, wie auch für das soziale Zusammenleben dar. Auch kann von einem angeblichen Flächenmangel, der zu Siedlungskonzentration und Beschränkung des Wohnraumes zwingt, nicht die Rede sein. Flächenerschließende öffentliche Verkehrsträger und vor allem das Individualverkehrsmittel erlauben durchaus, das Wohnen wie auch wirtschaftliche Aktivitäten stärker als in den überkommenen Großstadträumen räumlich aufzulockern. Zwar werden nach wie vor Bündelungen unterschiedlicher Nutzungen an bestimmten günstigen Standorten sinnvoll sein, um so entsprechende wirtschaftliche wie private Kontakte, Beziehungen zu erleichtern; großflächige Verdichtungen jedoch lassen sich ohne Funktionsverlust durch entsprechende Planung vermeiden bzw. auflockern. Darüber hinaus kann sogar durch Dezentralisation der Besiedlung bei begrenzter Konzentration im Rahmen einer polyzentrischen Siedlungsstruktur das Verkehrsvolumen verringert werden.
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Auch wenn man der Auffassung P. LEYHAUSENS ( 1 9 7 2 , S. 4 0 3 ) , daß sich die Lebens- und Menschenfeindlichkeit des Verdichtungsprinzips, gleich welcher Art, zweifelsfrei erwiesen habe, nicht vorbehaltlos folgt, sondern' bedenkt, daß die räumlich verdichtete Lebensweise in der Stadt gleichzeitig auch differenzierte kulturelle, wissenschaftliche, geistige und materielle Leistungen begünstigt hat, so bleiben doch berechtigte Zweifel, ob die Zusammendrängung der Menschen in den großen Verdichtungsgebieten notwendig und für die zu planende Zukunft wünschenswert ist. Ebenso wäre eine allgemeine Dezentralisation zu kleinen, weitestgehend autonomen Siedlungen problematisch. Wir stehen nicht vor der falschen Alternative zwischen zunehmender Konzentration in Verdichtungsgebieten bzw. -Schwerpunkten oder allgemeiner und weitgehender Dezentralisation zu kleinen und mittleren Siedlungsgebilden hoher „Selbstversorgung". Städtische Verdichtung oder ländliche Idylle bzw. Hochhaus oder Eigenheim mit Garten wären als alleinige, ausschließliche Leitbilder nicht sinnvoll, da für unser Leben Aspekte beider „Antipoden" nützlich sein können. Treffend bemerkt G. ALBERS ( 1 9 6 9 , S, 2 3 ) : „den Gedanken, eine optimale Unterbringung für den Durchschnittsmenschen ein für alle Mal festzulegen, sollte man, als in einem negativen Sinne utopisch, als in hohem Maße unmenschlich, fahren lassen". Dagegen dürfte sich eine begrenzt konzentrierte, aber unterschiedliche Kleinräume verflechtende Dezentralisierung, die Schaffung polyzentrischer und aufgelockert gegliederter Siedlungsstrukturen mit nur maßvoller Verdichtung, zufolge ihrer Vielfalt als vorteilhaft erweisen. Gegen eine solche Siedlungsstruktur können auch unter dem Blickwinkel der Energieversorgung keine zwingenden Einwände erhoben werden. Zudem kann sie in vielerlei Variationen verwirklicht werden und wird damit auch sehr verschiedenen Ausgangssituationen gerecht (vgl. Kap. 2.4, 3.3.1).
2.3 Realitätsnahe bisherige Ansätze und Konzeptionen Seit mit der Industrialisierung die Städte zu großflächigen dicht besiedelten Gebilden ausufern, hat es nicht an Modellvorstellungen gefehlt, wie dieser Wachstumsprozeß in geordnete Bahnen gelenkt werden könnte und wie eine möglichst sinnvolle räumliche Kombination zwischen Wohnflächen, Arbeitsstätten und Versorgungseinrichtungen sowie den verbindenden Verkehrsflächen und den notwendigen Freiflächen zu erreichen wäre480. Dabei spielt vor allem der Gedanke, die Stadt durch Grünflächen aufzulockern und zu gliedern, eine wesentliche Rolle; sei es bei TH. FRITSCH ( 1 8 9 6 ) , in dessen „Stadt der Zukunft" von außen keilartig Freiflächen hineinstoßen und auch das Zentrum in Grünflächen eingebettet ist; sei es bei E. HOWARD ( 1 8 9 8 ) ,
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der seine kreisförmigen Gartenstädte - reichlich mit Grünflächen durchdrungen - als Trabanten einer Kernstadt in ein ländliches Umland hineinsetzt; aber auch beim Modell der „Bandstadt" (A. SORIA Y MATA, 1882) oder dessen Abwandlung zum „Kammsystem" (J. L. SERT, 1944) ist die Gliederung durch Freiflächen, der leichte Zugang zu Grünzonen ein wichtiger Aspekt. Im Laufe der Jahre leidvoller Erfahrung mit zu dicht bebauten Großstädten wurden zahlreiche weitere Variationen der Auflockerung und Durchgrünung vorgelegt (vgl. Zusammenstellung bei H. SCHOOF, 1965): R. UNWIN (1912,1922) etwa will um einen zentralen städtischen Kern mehrere Vororte mit jeweils eigenem Zentrum anordnen; diese Vororte wiederum sollen sich in kleinere Zellen gliedern, in denen sich ein eigenes Gemeinschaftsleben entwickelt. Zwischen den Vororten befinden sich Grüngürtel, die als Parkland, Wald- oder Agrarfläche der gesamten Bevölkerung enge Verbindung mit dem Freiraum gewähren sollen. T. A. EDWARDS (1930) dagegen möchte das größere städtische Zentrum bis auf die repräsentativen Einrichtungen der Stadt (Rathaus, Museum etc.) weitestgehend auflösen; von Wohnzonen begrenzter Größe aus sollen die Industrie- und Handelsgebiete wie auch die Erholungszonen unmittelbar erreichbar sein. H. B. REICHOW (1941) beabsichtigt, die Mängel und Schäden der Großstadt abzubauen, indem er vom Zentrum Siedlungsbänder ausstrahlen läßt, an denen sich aufgelockert Wohnzellen aneinanderreihen, begleitet von benachbarten Industriezellen und Landwirtschaftsbereichen. Kleine Wohnzellen von 1000 bis 1500 Einwohner gruppieren sich zu größeren Einheiten (ζ. B. mit höheren Schulen), die durch zahlreiche unterschiedlich große Grünflächen durchzogen und aufgelockert werden. Eine reich durchgrünte gegliederte Siedlungsform, die unter betonter „Naturbejahung" engste Verbindung mit der umgebenden, nicht verstädterten Landschaft sucht, wird angestrebt. Ähnlich will auch E. SAARINEN (1943) die „ungeordnete Zusammenballung", die Hauptursache für den Niedergang der Städte, durch entsprechende Freihaltung zwischen den einzelnen Stadtzellen verhindern. Auch bei der Konzeption der „gegliederten und aufgelockerten Stadt" von J. GÖDERITZ, R. RAINER, H . HOFFMANN (1957) sollen, ähnlich wie bei den genannten früheren Ansätzen, die einzelnen abgestuften Siedlungselemente, die „Nachbarschaften" (4000-6000 Einwohner), die „Stadtzellen" (16 000 Einwohner), die „Stadtbezirke" (40-50 000 Einwohner) etc., wie auch die Industrie- und Gewerbebereiche, die Verwaltungs- und Geschäftszentren voneinander durch Freiflächen getrennt werden. So gliedern großzügige Grünzonen, in denen sich gleichzeitig die Hauptverkehrswege befinden, den Stadtraum. Durch geschickte Zuordnung einander ergänzender Nutzungen (ζ. B. Gewerbeflächen, Wohnflächen u. Erholungsflächen) sollen die Verkehrsbewegungen in dieser relativ weiträumigen durchgrünten Stadt verringert und
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zeitlich wie räumlich gestreut werden. R. HILLEBRECHT ( 1 9 6 2 ) schließlich trennt in seinem Modell der „Regionalstadt" die sternartig vom Zentrum der Stadtregion ausstrahlenden Achsen mit ihren aneinandergereihten Stadtbezirken (jeweils ca. 30 000 Einwohner) durch große land- und forstwirtschaftliche Flächen. Um eine chaotische Besiedlung in der Randzone und im Umland einer großen Stadt zu vermeiden, soll ein System von Nebenzentren mit unterschiedlichen vorrangigen Funktionen und somit eine möglichst polyzentrische Stadtstruktur entstehen, bei der Zentralstadt, die Nebenzentren des Umlandes sowie die umgebende Landschaft eine Einheit, eben die Regionalstadt, bilden. Die räumliche Ausdehnung einer solchen Regionalstadt wird durch die Reichweite des Nahverkehrs bei einem Schwellenwert von etwa 30-45 Minuten Fahrtzeit begrenzt. Innerhalb eines solchen Raumes gilt es, den großstädtischen Schwerpunkt über die ausstrahlenden Achsen und Nebenzentren mit den noch ländlichen Gebieten des Umlandes zu integrieren, gestützt auf ein differenziertes Verkehrsnetz. Dabei wird zugleich die Erwartung ausgesprochen, daß durch Dekonzentration zu einem differenzierten Zentrensystem innerhalb einer verdichteten Region eine Entzerrung des Verkehrs und damit eine Entlastung des Gesamtsystems erreicht werden kann. Weniger Verkehrsprobleme und zugleich stärkere Durchgrünung! W . PASSARGE (1972) legte das Modell einer „Kreis-Stadt" vor, bei der sich ein vielstöckiger, ringförmiger Trakt um eine gewaltige innere Grünfläche schlingt - die kreisförmige Anordnung allerdings begrenzt die Entwicklung der Stadt (ca. 100 000 Einwohner); Expansion und Wachstum finden nicht statt - ein zwar hinreichend begrüntes, aber doch recht inflexibles Modell. Dagegen ist ζ. B . das von C. BUCHANAN (1966) für South Hampshire erarbeitete Modell, das der städtischen Struktur ein Raster rechtwinklig geführter Straßen zugrundelegt, die in ihren Hauptachsen auf städtische Zentren zielen, relativ anpassungsfähig, da so große verkehrserschlossene Räume vergleichsweise flexibel genutzt werden können; gleichzeitig läßt sich eine gewisse Auflockerung und Gliederung sicherstellen. Allen diesen Überlegungen scheint der Wunsch gemeinsam zu sein, die geschlossene, ausufernde Überbauung großer Areale (Agglomerationen, Großstadtregionen) zu vermeiden und durch ein funktionsfähiges System gegliederter, band-, raster- oder punktartiger Strukturen zu ersetzen und damit gleichzeitig ein weiteres Gedeihen städtischer Gebilde zu ermöglichen. Der bereits angedeuteten Konzeption polyzentrisch aufgelockerter, gegliederter Siedlungsstrukturen (s. o.) gehen also zahlreiche frühere, allerdings vor allem auf die Stadtgestaltung beschränkte, Entwürfe voraus. Wenn man unterstellt, daß ein allgemeiner Verstädterungsprozeß anhalten werde, dann liegt es nahe, als flächenbezogenes Leitbild die „dezentralisierte
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Großstadt" zu empfehlen. Ehe man die großen Stadtgebilde immer weiter in ihr Umland hinauswuchem läßt, ehe man die Verfestigung eines vor allem auf das großstädtische Zentrum ausgerichteten Verkehrsnetzes betreibt und so die Misere der Großstadt verstärkt, erscheint es sinnvoller, die Großstadtregionen stärker zu gliedern und so allmählich aus der monozentrischen Struktur herauszuführen. Anknüpfend an ohnehin entstehende Nebenzentren, wäre eine „Dezentralisierung in maßvoll verdichtete multifunktionale Schwerpunktbereiche" (P. BARON, 1974, S. 422) anzustreben. So läßt sich vermeiden, daß ein alles beherrschendes Hauptzentrum entsteht; die Großstadt könnte etwa in mehrere Bereiche mit jeweils 50 000 bis 90 000 Ew.481 gegliedert werden, die jeweils eine mittelstädtische Ausstattung bieten und so die wesentlichen Versorgungsfunktionen abdecken482. Einschließlich der damit verbundenen Vorteile, ζ. B. bezüglich der Bodenpreisbildung, der politischen Mitwirkung und Verwaltung, der sozialen Kommunikation etc. sollte sich so eine vielfältigere, sich kleinräumlich ergänzende Flächennutzung organisieren lassen. Vor allem aber könnte insgesamt der tägliche Transportaufwand verringert werden. So betont P. BARON (1974, S. 422): „eine solche Dezentralisation würde zweifellos eine erhebliche Verringerung des Transportaufwandes nach sich ziehen: sie würde die heute problematische Kombination von großen Entfernungen und großen Verkehrsmengen sowohl bei der Straße als auch im öffentlichen Personennahverkehr weitgehend beseitigen. Das Verkehrssystem würde entsprechend nicht mehr den enormen Belastungsspitzen ausgesetzt werden, die wir heute jeden Morgen und Abend erleben". Doch ist die dezentralisierte Großstadt eine sinnvolle Alternative zur gegenwärtigen Siedlungsstruktur? Nach wie vor würde ja eine hohe Besiedlungsdichte auf relativ eng begrenzten Gebieten, seien diese nun monozentral oder polyzentral strukturiert, aufrechterhalten. Ist eine solche lediglich etwas aufgelockerte Großstadtregion oder ein gegliedertes Verdichtungsgebiet eine langfristig wünschenswerte Form der Raumnutzung? Zur Verbesserung gegenwärtiger Großstadtstrukturen erscheint das Leitbild einer solchen polyzentrischen Großstadtregion einigermaßen brauchbar, als Konzeption für eine allgemeine Neuordnung der Siedlungsstruktur kann es jedoch nicht überzeugen. Auch die Konzeption der Regionalstadt (R. HILLEBRECHT, 1962) vermag zwar zu einer besseren Gliederung der Großstadträume beizutragen, sie ist aber vor allem dann, wenn sie auf verdichtete Regionen mit einer dominierenden Zentralstadt orientiert bleibt und solange sie nur ein besser, gewissermaßen polyzentrisch abgestimmtes Hinausgreifen der großen Städte in das Umland fördert, ungenügend. So kritisiert sie ζ. Β. T. ROMAHN (1974, S. 31) als bisher weitestgehende „und unter dem Aspekt der Umweltzerstörung
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schlimmste Form der Stadtexpansion". Der Warnung vor einer flächenhaften Ausweitung einer typisch städtischen Umweltgestaltung trotz polyzentrischer Bündelung wäre beizupflichten. G. ALBERS (1972, S. 110) z.B. fordert dagegen die Regionalstadt, um so die Stadt sozioökonomisch besser in die Region integrieren zu können; die Stadt müsse „in der Region aufgehen". Ist damit auch eine stärkere flächenhafte Verflechtung städtischer und ländlicher Räume unter jeweiliger Erhaltung ihrer positiven Charakteristika gemeint, wäre dem zuzustimmen. Solange aber unter „dezentralisierter Großstadt" oder „Regionalstadt" in erster Linie nur die bessere Gestaltung verdichtet besiedelter Gebiete verstanden wird, bleiben Zweifel. Derartige Konzeptionen sind noch immer auf die Stadt und die Stadtregion bezogen, als gelte es nur, den dicht besiedelten Raum zu gestalten und nicht das gesamte besiedelte Land. Nicht die „Stadt" ist die sinnvolle Gestaltungseinheit, sondern der gesamte Raum in all seiner Vielfalt der Raumelemente, der „ländliche" Raum also genauso wie der „städtische". Isolierte „Stadtplanung" wäre ebenso fragwürdig wie ausschließliche „Landplanung". Gewiß, es ist notwendig, die Struktur der Raumnutzung in den Großstadtbereichen zu verbessern - insofern bieten die obigen Ansätze Hinweise - aber von vornherein ist die Verbesserung der Raumnutzung unter Einschluß des gesamten Territoriums zu sehen; ganz andere Möglichkeiten eröffnen sich dann. Zudem stehen wir ja nicht nur vor unbefriedigenden großstädtischen, sondern vielfach auch vor unbefriedigenden ländlichen Siedlungsstrukturen. Gibt es nicht Modelle, die das Problem durch verbesserte wechselseitige Ergänzung lösen? Wäre es ζ. B. nicht auch denkbar, daß in den großen Städten zu dicht bebaute Wohngebiete, statt sie zu sanieren, eines Tages niedergelegt werden und so neuer, offener Raum, neues Grün in der Stadt entsteht und sich allmählich städtische Strukturen nicht nur wie bisher stark konzentriert lokalisieren, sondern sich über einen weit größeren Raum, dem sie ja ohnehin dienen, verteilen und so die Stadt sich wie ein großer Garten mit dem Land verbindet. Ohnehin wachsen ja bereits nahe vieler Großstadträume - wie in automatischer Gegensteuerung zu den Belastungen in den am stärksten verdichteten Bereichen - neue Städte oder Siedlungen, räumlich abgesetzt oder am äußersten Rande der Großstädte und Metropolen483. Auch nehmen die Arbeitsstätten vor allem in diesen erweiterten Randzonen zu484. Zwar entziehen so neue Siedlungsgebilde den gegen einen drohenden Verfall mancher Viertel ankämpfenden Großstädten die Bewohner, gleichzeitig weitet sich aber insgesamt der verdichtet be(zer)siedelte Raum immer mehr aus. Andererseits zeigt sich, daß viele Klein- und Mittelstädte in der Bundesrepublik, auch wenn sie entfernt der Großstädte liegen, eine günstige Entwicklung erfahren und zunehmend an Wohnattraktivität gewinnen. Ja sogar in vielen
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ländlichen, relativ abgelegenen Räumen mit kleinstädtischen Zentren fallen bemerkenswerte Wanderungsgewinne auf485. So deutet sich durchaus in verschiedenen Gebietsteilen eine gewisse Wiederbesiedlung der Mittelgebirgsräume an. Liegt es so nicht nahe, das Ausweichen aus den am dichtesten besiedelten Zonen über eine entsprechende Konzeption mit neuen Möglichkeiten - entfernt von den Verdichtungsgebieten - zu koordinieren? Gewiß ist das keine sonderlich originelle oder neuartige Vorstellung. So verfolgen ja bereits Raumordnung und Landesplanung in der Bundesrepublik das Ziel, großräumig ausgewogene Raumstrukturen herbeizuführen, großräumige Disparitäten abzubauen (Bundesraumordnungsprogramm - BROP, 1974, S. 4 f.). Für die Teilräume der Bundesrepublik werden „gleichwertige Lebensbedingungen" angestrebt. Wesentliches Instrument der erforderlichen Verbesserung der Siedlungsstruktur soll der „Ausbau von Entwicklungszentren und Achsen" sein. Aber diese doch recht allgemeinen Zielvorstellungen reichen weder aus, noch vermögen sie voll zu überzeugen. 2.3.1 Achsen-Schwerpunkt-Prinzip und „gebündelte Dekonzentration" Nach den Vorstellungen der Bundesraumordnung soll ein Netz von Entwicklungsachsen und Entwicklungsschwerpunkten das Territorium der Bundesrepublik überziehen. Man folgt also einem „Achsen-Schwerpunkt-Prinzip", durch das auch in den ländlichen Räumen an geeigneten Ansatzpunkten, an Entwicklungsschwerpunkten486, „städtische Lebensformen" herbeigeführt werden sollen, gleichzeitig könne man so einer Zunahme zu stark belasteter Verdichtungsräume entgegenwirken. Durch den Aufbau eines bundesweiten dezentralen Systems von Verdichtungsachsen und Verdichtungsschwerpunkten - also durchaus über die Verdichtung - wenn auch netzartig modifiziert - soll ein Auffanggitter zum Abbau der anhaltenden und teilweise sogar zunehmenden regionalen Ungleichheit geschaffen werden. Als wesentliche Voraussetzung einer „leistungsfähigen Siedlungsstruktur" wird ein „ausreichendes Maß an Verdichtung von Wohnungen und Arbeitsstätten" (BROP, 1974, S. 5/6) angesehen. Dabei wird ausdrücklich betont, daß nur eine begrenzte Zahl von Entwicklungszentren ausgewiesen werden kann, wobei vor allem die von den Programmen der Länder ausgewiesenen Mittel- und Oberzentren in Betracht kommen. Die Zentren und Achsen wären solange bevorzugt zu fördern, „als es notwendig ist, großräumige Disparitäten in der Raum- und Siedlungsstruktur zu beseitigen" (BROP, 1974, S. 7). Vermag jedoch eine solche Konzeption voll zu befriedigen? Zunehmende Disparität zwischen hochgradig urbanisierten Gebieten und abgelegenen Schwächeräumen, ungleiche Bevölkerungs-
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entwicklung, ist vor allem ein kleinräumliches Phänomen487. Eine bessere kleinräumliche Ergänzung und ausgleichende Zuordnung dürfte also besonders wichtig sein. Was ζ. B. würde dem Bewohner eine ausgeglichene Tendenz in der Entwicklung der Großräume und Regionen nutzen, wenn die Disparitäten innerhalb dieser Räume, von denen er direkt und unmittelbar vergleichend betroffen ist, zunehmen? Die Bundesraumordnung (Raumordnungsbericht der Bundesregierung - RB, 1972, S. 171) will für die abgelegenen ländlichen Räume zwischen dem Netz der Verdichtungsachsen durch „Kommunikations- und Transportsysteme" eine bessere Anbindung an die städtische bzw. großstädtische Ausstattung herbeiführen. Die großräumig bedeutsamen Verdichtungsachsen sollen „durch Achsen ergänzt werden, die eine ausreichende innergebietliche Erschließung . . . gewährleisten" (BROP, 1974, S. 47)488. Doch lassen wir offen, ob ein solches Anhängen an das doch relativ grobmaschige Netz der Verdichtungsachsen den erwünschten Effekt bringt. Sollte nicht ein intensiverer funktional vielfältigerer und räumlich feiner gegliederter Verbund zwischen so gegensätzlich charakterisierten Raumkategorien sinnvoller sein? Gleichzeitig wird ja im BROP ausgeführt, daß sich auch großräumige Disparitäten nur ausgleichen ließen, „wenn in allen Teilräumen des Bundesgebietes auch eine den räumlichen Gegebenheiten . . . entsprechende Funktionsvielfalt" erhalten oder geschaffen wird. Und dies erfordere eine entsprechende „Aufgabenteilung zwischen dichter besiedelten Räumen und Freiräumen" (BROP, 1974, S. 7). Bleibt anzumerken, daß das vor allem ein Problem der kleinräumlichen, gebietlichen, sich wechselseitig ergänzenden Flächennutzung sein dürfte und erst in zweiter Linie eine Frage der funktionalen Aufgabenteilung zwischen Regionen (ζ. B. den Planungsregionen) bzw. größeren Räumen. Es sollte nicht das Ziel sein, städtische Verdichtung, Agglomeration, einschließlich ihrer Nachteile nun band- und netzartig über große Teile des Territoriums auszuweiten, während gleichzeitig „leere" Zwischenräume entstehen489, es gilt eben auch kleinräumliche Disparitäten zu harmonisieren oder abzubauen. Auch die Leitbildvorstellung einer „dezentralisierten Konzentration" oder einer „konzentrierten Dezentralisation", wie sie etwa von R. BOSSHART (1968, S. 196) für die Schweiz vorgeschlagen wurde, enthält daher ein beträchtliches Risiko. Hierbei hätten u. a. sog. Auffangzentren, die den Großstädten und Agglomerationen in größerer Entfernung vorgelagert werden, einerseits der Agglomerationstendenz entgegenzuwirken, andererseits dem übrigen Raum entsprechende Entwicklungskerne zur Vermeidung der Abwanderung zu bieten. Dabei bleibt aber nach wie vor die Gefahr einer gewissen Entsiedlung der umliegenden großen ländlichen Bereiche bestehen, zumal dann, wenn man die in den neuen Zentren aufzufangenden Menschen
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in städtischer Wohnweise „verdichten" will (die gleiche Gefahr besteht übrigens auch für die Entwicklungszentren, für die Verdichtungsschwerpunkte, wie sie in der Bundesrepublik vorgesehen sind). Flächenverbrauchende bodennahe Wohnweise würde vermieden, man bliebe räumlich konzentriert. Die angebliche „Flächenknappheit" würde dann aus den Agglomerationen nur punktuell in die ländlichen Räume exportiert. Man würde sich - völlig unangemessen - so verhalten, als sei Fläche überall knapp. Wenn man unter konzentrierter Dezentralisation die Errichtung größerer „isolierter" Auffangzentren inmitten eines nahezu leeren ländlichen Raumes versteht oder die Herausbildung einer das Land in grobmaschigem Netz überziehenden Bandstruktur von Verdichtungsachsen mit dazwischenliegenden weitestgehend siedlungsfreien Räumen, dann ist sie höchst fragwürdig. In den Niederlanden gilt die sogenannte gebündelte Dekonzentration als Leitidee der Raumordnung490. Dahinter stand zunächst vor allem die Absicht, den Prozeß der Suburbanisation bzw. der Abwanderung aus den Großstädten und Agglomerationen so zu lenken, daß eine chaotische Aufsiedlung großer Räume vermieden wird und statt dessen neue Siedlungen in gebündelter Form und innerhalb der Einflußsphäre der größeren Städte entstehen; wobei durchaus der Einfamilienhausbebauung Vorrang eingeräumt werden sollte. Eine starke Konzentration innerhalb weniger Großstädte wurde dagegen abgelehnt, statt dessen einer stadt-regionalen Entwicklung der Vorrang gegeben. Gleichzeitig strebte man, bezogen auf das gesamte Land, eine stärkere Streuung an. Vor allem sollte eine stärkere Besiedlung der nordöstlichen Hälfte des Landes erfolgen und so eine gleichmäßigere Beanspruchung des gesamten Landes erreicht werden (Zweiter Raumordnungsbericht der niederländischen Regierung, 1966), dies aber nicht im Rahmen einer allgemein und stark zerstreuten bzw. gemischten Siedlungsstruktur sondern durchaus unter Erhaltung des landwirtschaftlichen Charakters bestimmter Gebiete einerseits und verstädterter bzw. gebündelter Siedlungsbereiche andererseits, bei gleichzeitiger Dekonzentration der zu stark verstädterten Agglomerationen. In Wirklichkeit veränderte sich jedoch die Siedlungsstruktur in anderer Weise. Die Bevölkerungsabwanderung aus den Großstädten (ζ. B. aus dem Städtering der Randstad) kam weniger den geplanten Entlastungs- und Wachstumsorten am Rande der Agglomeration (gebündelte Dekonzentration), sondern vielen kleineren Gemeinden außerhalb oder randlich der Großstädte (bzw. des Städteringes) zugute und weitete den suburbanen, vergleichsweise aufgelockert besiedelten Raum mit großräumlich „zersiedelndem" Effekt aus. Eine kritische Überprüfung der Leitidee lag also nahe. Entsprechend wurde die bisherige Steuerungspolitik, die durch stärkere Besiedlung des Nordens und Nordostens des Landes eine insgesamt ausgewogenere Bevölkerungsverteilung
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herbeiführen sollte, nicht mehr weiter verfolgt. Statt dessen sollen die Abwanderungswilligen aus dem hochgradig verstädterten Raum der Randstad in diesem durch zusätzliche Wohnungsbaumöglichkeiten festgehalten werden (Dritter Raumordnungsbericht, Verstädterungsbericht, 1976). Der Bevölkerungsrückgang der großen Städte bzw. der verdichtet bebauten eigentlichen Stadtgebiete soll abgebaut und gestoppt werden, wobei man hofft, auch ohne Hochhausbebauung die Bebauungsdichte in bodennaher Wohnbebauung erhöhen zu können. Neue Wohngebiete hoher Verdichtung will man im Anschluß an die Schienenverbindungen öffentlicher Verkehrsmittel innerhalb einer maximalen Entfernung von 35 Min. Fahrtzeit von der jeweiligen Zentralstadt errichten. Die Entlastungsorte nahe der Randstad sollen in ihrer Bevölkerungszahl erhöht werden. Den ländlichen Gebieten wird dagegen nur ein geringer und unterdurchschnittlicher Zuwachs zugesprochen, der sich zudem auf einige zentrale Orte, suburbane Ausweitung vermeidend, beschränkt. Und während man die noch ländlich strukturierten und auch landschaftlich reizvollen Gegenden, etwa Gelderlands und Nordbrabants, in die immer mehr Stadtbewohner ziehen, vor weiterem Zuwachs zu bewahren sucht, um so die landschaftlichen Qualitäten zu erhalten, wird gleichzeitig die Erhaltung und der Ausbau der großen Stadtbereiche angestrebt, so daß im Westen der Niederlande sich allmählich eine zusammenhängende Großagglomeration mit annähernd 8 Mill. Bewohnern herausbilden könnte. Das Leitbild der „gebündelten Dekonzentration" bleibt zwar gültig, nunmehr aber mit einer Verlagerung des Schwergewichts auf den Aspekt der Bündelung der Siedlungsbereiche, wobei diese in ihrer Gesamtheit im Rahmen eines verstädterten Großraumes allerdings einer gewissen Dekonzentration zu mehreren Schwerpunkten unterliegen. Es bleibt die Frage, ob sich solche Konzeptionen nicht doch als der Vielfalt der lebensräumlichen Bedürfnisse des Menschen zuwiderlaufend erweisen werden und damit in gewisser Weise wirklichkeitsfremd sind. In einem verstädterten Großraum mit einer durchschnittlichen Dichte von über 2000 Ew/km 2 ist es sehr schwer, eine dem Wohlbefinden des einzelnen förderliche Lebensraumnutzung zu ermöglichen; es ist dann kaum genügend Raum sowohl für private Gestaltung, für Naturbezug und Bewegung etc. vorhanden. Es ermangelt dann der kleinräumlichen Ergänzung zwischen unterschiedlichsten Raumnutzungsmöglichkeiten. Und so ist es z. B. leicht möglich, daß die erhoffte Verringerung der Mobilität und des Verkehrsaufwandes, wie sie durch räumliche Annäherung von Arbeitsstätten und Wohnbereichen (bzw. möglichst geschlossene und kompakte Arbeitsmarktbereiche) sowie durch verdichtetes Wohnen nahe der Haltepunkte schienengebundener Verkehrssysteme erreicht werden soll, durch das gleichzeitig wachsende Bedürfnis, ausgleichend möglichst oft in den ländlichen oder suburbanen
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Bereich zu flüchten, wieder verloren geht. Der zu den Wochenenden drastisch anschwellende Verkehr erzwänge dann ohnehin die beträchtlichen Ausgaben für ein leistungsfähiges flächenerschließendes Straßennetz. Und würden außerdem nicht nach wie vor viele der verdichtet siedelnden Städter versuchen, doch irgendwie im „Grünen", auf größerem „Eigenraum" in den kleineren Gemeinden außerhalb der Stadt zu wohnen und nach Wegen suchen, durch die Lücken einer einengenden Planung zu schlüpfen? Würde nicht außerdem eine verstärkte Nachfrage nach unterschiedlichen Formen des Freizeitwohnens außerhalb der hochgradig verstädterten Gebiete wirksam und die ländlichen Gebiete ohnehin verwandeln? Wollte man aber alles das verwehren, geriete dann nicht Planung in die Gefahr, dem Menschen Lebenschancen zu verweigern und den raumbezogenen Lebensstil gewissermaßen vorzuschreiben? Es bleiben sowohl bezüglich des Achsen-Schwerpunkt-Prinzips wie auch bezüglich der konzentrierten Dezentralisation und der gebündelten Dekonzentration Zweifel, ob damit für die Menschen ein kleinräumlicher Verbund zwischen unterschiedlichen und einander ergänzenden Lebensraumnutzungen möglich wird und ob so der differenzierten lebensräumlichen Bedürfnisstruktur der Menschen glücksfördernd entsprochen werden kann. Bezüglich der Erschließung des gesamten Raumes stellt allerdings das Achsen-Schwerpunkt-Prinzip einen brauchbaren Ansatz für die großräumliche Raumordnung dar, auch wenn es zugleich wenig zur Klärung der Frage beiträgt, wie denn nun eine sich wechselseitig ergänzende Raumnutzung, die sowohl die unterschiedliche Eignung der Räume, wie auch die menschliche Bedürfnis- und Bewertungsstruktur angemessen berücksichtigt, konkret zu gestalten sei. Wollte man dagegen das Achsen-Schwerpunkt-Netz als Grundraster der Siedlungskonzentration verstehen, in das unterschiedlich geeignete Vorrangräume (etwa für die Landwirtschaft, Wassergewinnung, Erholung etc.) gewissermaßen eingehangen werden, die in ihrer Gesamtheit ein großräumlich grobes Mosaik unterschiedlich spezialisierter Räume bilden, dann bliebe Skepsis, denn eine vielfältige Kombination und wohldimensionierte Mischung unterschiedlicher Raumfunktionen, die den unterschiedlichen Bewertungen der Menschen weit eher entspräche und bei geringerem Aufwand differenziert nutzbar wäre, ist dann kaum zu realisieren. 2.3.2 Ausgeglichene Funktionsräume Von einem Arbeitskreis der Akademie für Raumforschung und Landesplanung unter Leitung von D. M A R X wurde 1975 mit der Konzeption der „ausgeglichenen Funktionsräume" ein beachtenswertes Modell zur zukünftigen Entwicklung der Siedlungsstruktur vorgelegt.
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Zugrunde liegt ein bereits vertrauter Gedankengang. In der Absicht, die Nachteile übermäßiger Verdichtung abzubauen und die Vorteile einer Konzentration im ländlichen Raum zu nutzen, wird die „relative Dezentralisation durch regionale Konzentration" empfohlen. So sei die Siedlungsstruktur in den bestehenden Verdichtungsgebieten durch „relative Dezentralisation von Bevölkerung und Wirtschaft" zu verbessern, in den ländlichen Räumen dagegen durch „regionale Konzentration". Leitbildhaft stehen sowohl für die vorhandenen Verdichtungsgebiete wie auch den stärker ländlichen Raum siedlungsstrukturelle Gebilde vor Augen, in denen vor allem befriedigende Arbeitsmöglichkeiten mit befriedigenden Möglichkeiten der Freizeitgestaltung verknüpft werden; „diese Verbindung zwischen Erholungs- und Arbeitsgebieten wird als ausgeglichener Funktionsraum bezeichnet". Die Verdichtungsgebiete wären also aufzulockern, in den ländlichen Räumen dagegen seien regionale Konzentrationen neu zu schaffen. Dies deckt sich durchaus mit den Absichten bereits früher vorgelegter Konzeptionen, auch hier sollen die Verdichtungsgebiete entlastet und aufgelockert werden. In den dünner besiedelten Räumen dagegen sei die Herausbildung von Entwicklungsschwerpunkten als Wachstumspolen und Versorgungszentren zu fördern. Doch darüber hinaus möchte man beim Konzept der „ausgeglichenen Funktionsräume" kein System, keine Hierarchie zentraler Orte oder Entwicklungsschwerpunkte ausbauen bzw. gefördert wissen, sondern vielmehr den bestehenden Ballungsgebieten „neue Agglomerationen" gegenüberstellen, die sich gegenüber den älteren Verdichtungsgebieten als „konkurrenzfähig" erweisen (D. M A R X , 1 9 7 5 , S. 9 ) . Dabei geht man von der Annahme aus, daß „relative Dezentralisation durch regionale Konzentration" nur dann erfolgreich sein kann, wenn die „regionale Konzentration" ein Entwicklungsimpulse gebendes Ausmaß erhält. Diese Auffassungen sind stark beeinflußt von der Theorie der Entwicklungspole491; entsprechend werden räumlich konzentrierte Komplexe stark expandierender wirtschaftlicher Aktivität, die auch belebend auf den sie umgebenden Raum wirken, empfohlen. Solche wettbewerbsfähigen neuen Agglomerationen sollen durch allmähliche Verdichtung der Siedlungsstruktur einer Region aufgebaut werden; eine „intraregionale Konzentration der Siedlungsstruktur und der Bevölkerung", begrenzt auf wenige Zentren, wird gefordert (D. STORBECK, M. LÜCKE, 1 9 7 5 , S. 5 7 ) . Zwar kann die Art der Verdichtung durchaus variieren, aus Furcht aber, daß diese Strategie des Aufbaues konkurrenzfähiger Zentren durch mangelnde Größe solcher Schwerpunkte mißlingen könnte, wird betont, daß ein wesentlicher Umbau der Siedlungsstruktur im ländlichen Raum, verbunden mit einer Verdichtung der Besiedlung an entsprechenden Schwerpunkten, notwendig ist. Entsprechend wird „eine radikale Abkehr von den bisherigen zentralörtli-
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chen Gliederungsprogrammen" artikuliert, da durch die bisherige Festschreibung der Unter- und Mittelzentren eine „Konzentration auf dem erforderlichen Niveau" verhindert wird (dgl. S. 57). Es wird bezweifelt, ob Entwicklungsschwerpunkte mit einem Einzugsgebiet von bis zu 100 000 Einwohnern groß genug sind, um Wachstums- und Entwicklungseffekte auszulösen (dgl. S. 29). Da in den empfohlenen neuen Agglomerationen eine Vielfalt Urbanen Angebotes gewährleistet sein soll, und da man unterstellt, daß die „Chancen für Urbanität" mit steigender Stadtgröße zunehmen, und da zudem ein funktionsfähiger Arbeitsmarkt mit differenziertem Arbeitsplatzangebot gefordert wird, empfiehlt man eine Untergrenze der Bevölkerung von ca. 500 000 Einwohnern und der Arbeitsplatzkonzentration von ca. 100 000-200 000 (D. MARX, 1975, S. 9).
Zudem soll die Höchstentfernung der Wohnplätze „zum Schwerpunktbereich des Angebotes von Arbeitsplätzen" 60 Minuten nicht überschreiten (F. BUTTLER e t a l . , 1 9 7 5 , S . 6 5 ) .
Die Autoren geben keine generellen Hinweise zur Besiedlungsdichte in den angestrebten „neuen Agglomerationen". Der Verweis auf die erwünschte Urbanität, die Forderung, durch innerregionale Konzentration Verdichtungsschwerpunkte für die Region zu schaffen, läßt vermuten, daß eine nahezu städtische bzw. urbane Bevölkerungsdichte in dieser Agglomeration angestrebt wird. Da 60 Minuten PKW-Fahrzeit zwischen Wohn- und Arbeitsgebiet als Höchstfahrzeit innerhalb des „ausgeglichenen Funktionsraumes" festgelegt ist, darf man annehmen, daß der größte Teil der Bevölkerung geringere Fahrzeit benötigt und weniger weit entfernt wohnt. So kann unterstellt werden, daß für die „begrenzte Agglomeration", den konzentriert besiedelten Bereich innerhalb des größeren Funktionsraumes, Besiedlungsdichten von ca. 1000 Einwohner/km2 und darüber als angemessen angesehen werden. Zwar findet sich auch ein Hinweis, daß diese Agglomerationen u. U. auch weiträumig sein können, im Normalfall scheint aber doch, um der Urbanität und Agglomerationsvorteile willen, eine beträchtliche Konzentration der Besiedlung zu einem größeren Urbanen Verdichtungsschwerpunkt bzw. Agglomeration mehrerer solcher Verdichtungen erwünscht zu sein. So verbleiben gegenüber der interessanten Konzeption „ausgeglichener Funktionsräume", etwa im Hinblick auf die konkrete Flächennutzung oder die Intensität der Forderung, die überkommene Siedlungsstruktur zu innerregionalen neuen Agglomerationen zu verdichten, einige Bedenken: 1. Obwohl die neuen Agglomerationen begrenzt sein sollen, engt die zu starke Betonung der räumlichen Konzentration und Verdichtung die Möglichkeiten einer differenzierten Raumnutzung, bei der sich durch ein Mosaik unterschiedlichster Flächennutzung und durch jeweils angemesse-
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ne (nicht zu beengte) Dimensionierung größtmögliche Vielfalt und wechselseitige Ergänzung ergeben, zu stark ein. Auch wenn die einzelnen Kerne der neuen Agglomeration durch Erholungsräume voneinander getrennt sein sollen, also eine großflächige geschlossene Verdichtung offensichtlich nicht beabsichtigt ist, wird doch durch Verdichtung eine vielfältige wechselseitige Ergänzung unterschiedlicher Nutzungen erschwert. Das Ausmaß der „neuen Agglomeration" und die vermutete Bevölkerungsdichte dürften einer größtmöglichen lebensräumlichen Vielfalt weniger förderlich sein, als eine aufgelockerte Siedlungsstruktur, die unter Erhaltung unterschiedlich dimensionierter, aber flächenmäßig nicht zu großer städtischer Siedlungszellen, städtische und ländliche Nutzungen vielfältig miteinander verklammert; allerdings muß dabei eine Mindestbesiedlungsdichte erhalten bleiben (etwa 250 Einwohner/km2, siehe weiter hinten), um innerhalb eines vertretbaren Fahraufwandes ein hinreichend differenziertes Angebot „städtischer" Leistungen und Einrichtungen zu gewährleisten. Aber durchaus können auch aufgelockerte städtisch-ländliche Siedlungsstrukturen eine zeitgemäße Versorgung, ein differenziertes Arbeitsplatzangebot, vielfältigste Wohnformen, Urbanität und zahlreiche Nutzungsergänzungen gewährleisten; zugleich lassen sich die typischen Nachteile verdichteter Siedlungsbereiche vermeiden (siehe Kap. 2.4). Es kann also durchaus sinnvoll sein, unter bestimmten gebietlichen Voraussetzungen, auch kleinere zentrale Orte, ohne daß sich diese räumlich unmittelbar an den Verdichtungsschwerpunkt anlehnen, zu fördern. Eine unnötig starke räumliche Polarität zwischen auszubauenden neuen Agglomerationen und dem umgebenden ländlichen Raum wird zum Ausdruck gebracht, ungeachtet der ausdrücklich betonten wechselseitigen Ergänzung. 2. Der an sich überzeugende Gesichtspunkt, ausreichend große funktionsfähige regionale Arbeitsmärkte zu schaffen, die so vielfältig sind, daß sie ohne staatliche Hilfe langfristig wettbewerbsfähig bleiben (sowie ein differenziertes Fähigkeitspotential der Arbeitnehmer binden, ferner angemessene Arbeitseinkommen sichern und den Zwang zur regionalen Mobilität verringern), zwingt nicht dazu, diese Arbeitsplätze in so großer Zahl (immerhin ca. 200 000) an einem Verdichtungsschwerpunkt räumlich zu agglomerieren. Das Argument, Zentren könnten erst ab einer bestimmten Größenordnung konkurrenzfähig und für das Umland impulsgebend sein, folglich sei eine entsprechende Agglomerationsstufe, eine entsprechende Größenordnung siedlungsstruktureller Verdichtung herbeizuführen, vermag nicht voll zu überzeugen. Die Standortentscheidungen der Unternehmen werden je nach betriebli-
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eher Situation von derartig vielen und oft äußerst unterschiedlichen Faktoren beeinflußt, daß das Vorhandensein sogenannter Agglomerationsvorteile und die Einbeziehung in verdichtete Siedlungsbereiche hinsichtlich ihrer standortentscheidenden Wirkung nicht überschätzt werden darf. Sicherlich sind für zahlreiche Arbeitsstätten gewisse infrastrukturelle Mindestvoraussetzungen erforderlich; die Palette der darüber hinaus entscheidungswirksamen Größen kann aber so breit und differenziert sein, daß durchaus Standorte außerhalb der Agglomeration relevant sind. Bereits mittel- oder gar kleinstädtische Siedlungsbereiche vermögen daher in einem Land mit allgemein gut ausgebauter Infrastruktur und nicht zu geringer Besiedlungsdichte, Unternehmen anzuziehen. Die tatsächlichen Standortentscheidungen der letzten Jahre etwa in der Bundesrepublik oder den USA belegen dies; gestützt durch die technischen Entwicklungen im Kommunikations- und Transportwesen, ist eine Tendenz zur räumlichen Streuung bei nur begrenzter standörtlicher Bündelung wirksam. Das schließt allerdings nicht aus, daß verbundorientierte Betriebe (ζ. B. Chemie) oder spezifisch standortgebundene Branchen sich nach wie vor an entsprechenden Standorten oder Zonen massieren (siehe Kap. 2.4). Aber immer weniger ist die Agglomeration Vorbedingung und beste Voraussetzung für die Gewerbeansiedlung. Aufgelockerte Siedlungsstrukturen mit mittelstädtischen Ansatzpunkten ζ. B. sind daher keinesfalls als entwicklungsungünstig anzusehen, vorausgesetzt sie verfügen vor allem über gute Verkehrsverbindungen, deren vorrangige Bedeutung für die Standortentscheidung vielfach belegt ist. Zwar muß auch weiterhin davon ausgegangen werden, daß die zumutbare Entfernung bzw. die Nähe zu traditionell städtischen Einrichtungen (mit steigendem Sozialstatus zunehmend auch nach großstädtischen) vom Großteil der potentiell mobilen Bevölkerung gewünscht wird (u. a. H . ZIMMERMANN, 1 9 7 3 ) , das besagt aber keineswegs, daß diese in traditionell großstädtischer Form punktuell agglomeriert sein müssen. Auch in einem städtisch - ländlichen Raum läßt sich ab einer Mindestbesiedlungsdichte von etwa 250 Ew./qkm an unterschiedlichen verkehrsgünstigen Zentralbereichen ein entsprechendes städtisches Angebot lokalisieren (siehe auch die nachfolgenden Kap. zur Konzeption des Stadt - Land - Verbundes). Darüber hinaus sind dann lebensräumliche sowie infrastrukturelle Vorzüge verfügbar, die Agglomerationen nur einschränkend bereithalten (ζ. B. Naturbezugsraum). Die folgende Argumentation ζ. B. überzeugt daher nicht: Um eine regionale Stabilität des Arbeitsmarktes, um ein Wachstum der Einkommen etc. zu erreichen und um gleichzeitig Urbanität zu ermöglichen sowie eine differenzierte Versorgung auf städtischem Niveau sicherzustellen, ist es notwendig, mit Hilfe eines Umbaues der Siedlungsstruktur,
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die Menschen in neuen Agglomerationen zu konzentrieren, da nur diese konkurrenzfähig sind und entsprechende Möglichkeiten eröffnen. Angesichts der ohnehin erfolgenden Wandlungen unserer Siedlungsstruktur kann nicht mehr ohne weiteres unterstellt werden, daß auch in Zukunft in den Agglomerationen die Arbeitsplätze sicherer wären, der Einkommenszuwachs höher und die Urbanität entwickelter sei (vgl. Kap. 2.4). Aufgelockerte mittelstädtische und „vorstädtische" Siedlungsbereiche ζ. B. erweisen sich angesichts der gesteigerten räumlichen Beweglichkeit der Menschen (PKW), neuer Formen des Einzelhandels, gesteigerter Möglichkeiten der Telekommunikation etc. sowie eines vielfältigeren Angebotes unterschiedlicher Flächennutzungen für Wirtschaft und Personen als zunehmend attraktiver, trotz der damit auch verbundenen Nachteile. 3. Soweit mit der beabsichtigten „radikalen Abkehr von den bisherigen zentralörtlichen Gliederungsprogrammen" einer Verfestigung der überkommenen Siedlungsstrukturen und zentralörtlichen Abstufungen vorgebeugt werden soll, wäre dem zuzustimmen. Doch bleibt zu fragen, ist es sinnvoll, in dem Bemühen, die „offenkundigen Mängel" der gegenwärtigen Siedlungsstruktur abzubauen, nun durch „intraregionale Konzentration" der Besiedlung, „Verdichtung" und eine wesentliche Veränderung der Siedlungsstruktur zu postulieren. In der Absicht, so eine Verzettelung der knappen Mittel zu vermeiden, könnte gleichzeitig ebenso eine langfristig problematische „Ballung" der Gelder in den neuen Agglomerationen, von denen keinesfalls sicher ist, daß sie sich als die sinnvollsten Siedlungsgebilde erweisen, eingeleitet werden. Fördern zunehmend verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten, neuartige Verkehrssysteme, die begrenzte Dichtetoleranz der Menschen und die insgesamt reichlich vorhandene Fläche unter Umständen nicht auch die Erhaltung oder gar Herausbildung einer aufgelockerten Siedlungsstruktur? Bieten überkommene Siedlungsstrukturen nicht auch brauchbare Ansatzpunkte? Besitzen nicht auch manche kleinere zentrale Orte und die ihnen zugeordneten Siedlungen vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten (s. o. - Verweis auf die günstige Entwicklung im Hohen Westerwald)? Zwingen nicht überhaupt die unterschiedlichen geographischen Gegebenheiten zu gebietsspezifisch möglicherweise recht verschiedenen Entwicklungskonzeptionen? Und schließlich, wer kennt denn die Bedürfnisse und Bewertungen der Menschen hinsichtlich der Raumnutzung - einschließlich der möglichen Schwankungen - so genau, daß eine derart stark an die Schaffung neuer Agglomerationen bzw. verdichteter Siedlungsstrukturen gebundene Konzeption ohne Skepsis empfohlen werden könnte? 4. Es entsteht der Eindruck, als solle eine neue Grundeinheit der Raumordnungspolitik angeboten werden, eine Art normative Idealzelle der Regio-
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nalplanung. Da die empfohlenen Funktionsräume flächendeckend zu ermitteln wären, würde sich aus dem Mosaik dieser räumlichen Grundeinheiten, bzw. vermeintlich ausgeglichenen Räume das Gesamtterritorium addieren. Es besteht u. E. die Gefahr, diese Zellen als räumliche Ganzheiten, als gesellschaftlich-räumliche Elemente bestimmten Totalcharakters (also sozialräumliche Totalitäten) aufzufassen. Entsprechend könnten diese Raumeinheiten dann als Bezugsräume einer „steuernden" staatlichen Aktivität empfohlen werden. Doch wäre es problematisch, Beeinflussungsräume aus einem etwas holistisch anmutenden Ansatz herleiten zu wollen, denn statt eines angeblich „funktionsfähigen regionalen Arbeitsmarktes" könnten andere Abgrenzungskriterien herangezogen werden; das Vorhandensein eines differenzierten Arbeitsmarktes ist nur eines von vielen anderen entwicklungsrelevanten Kriterien. Zur Dimensionierung von Planungsräumen ζ. B. könnte das Vorhandensein lebensräumlicher Vielfalt und potentieller Ergänzungsmöglichkeiten entscheidendes Kriterium räumlicher Gliederung sein. Es lassen sich also durchaus andere Raumeinheiten, andere räumliche Integrationsebenen vorstellen, in denen sich eben nur eine andere Mischung menschlicher Aktivitäten bzw. eine andere Prioritätenliste günstig koordinieren ließe; doch auch derartige Räume können ggf. durchaus als ausgeglichene bzw. funktionsfähige Räume gedeutet werden. Versteht man unter „ausgeglichenen Funktionsräumen" Regionen, die, unter dem Ziel gleichwertiger Lebensbedingungen, sowohl Mindeststandards der Siedlungs-, Wirtschafts- und Infrastruktur als auch Höchststandards der Umweltbelastung (im Sinne des Beirates für Raumordnung) erfüllen und eine dementsprechende Mischung räumlicher Funktionen erreichen, wie dies von R. THOSS und H . BÖLTING ( 1 9 7 6 , S. 4 ) empfohlen wird, dann kann solcherart Vereinheitlichung hinsichtlich spezifischer Nutzungsaspekte durchaus auch als funktionsmindernd angesehen werden. Die gleichartige Grundausstattung kann zu einer Minderung der jeweiligen lebensräumlichen Besonderheit beitragen. Wahrscheinlich werden gar nicht von allen Menschen alle Komponenten einer zivilisationsspezifischen Mindest-Infrastruktur (etc.) in gleicher Weise geschätzt. Wenn Glücklichzusein ein Ziel ist, kann ein generell gleicher zivilisatorischer sowie ökonomisch-sozialer Level mit all seinen Folgewirkungen mitunter auch als nicht zielfördernd empfunden werden. Modifikation der Bewertungen kann es rasch als unbefriedigend erscheinen lassen, daß alle Regionen funktional ähnlich strukturiert sind; gleiches kann jedoch auch bei ausgeprägten Unterschieden geschehen. Die vorgestellte Konzeption scheint allerdings auf der Suche nach einem regionalpolitischen Steuerungs- und Kriterienrahmen sowie nach Egalität
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die Möglichkeiten einer bewertungs- und regionalspezifischen Lebensraumgestaltung zu unterschätzen. Entsprechend bemängeln die Verfasser auch, daß die Zentrale - Orte - Konzeption eigentlich nicht mit der Vereinheitlichung der Chancen aller Bürger verträglich ist. Statt Gleichmäßigkeit (S. KLATT, 1973 zitierend) folge „Differenzierung, statt Vereinheitlichung hierarchische Abstufung". So müsse bei der Zuhilfenahme eines hierarchischen Prinzips die Absicht, „gleiche Chancen zu schaffen", scheitern. Dagegen werde durch die Konzeption ausgeglichener Funktionsräume ein gleichwertiges Maß an Urbanität angestrebt. Nun erscheint es fraglich, ob Chancengleichheit durch die Uniformität in gleicher Weise konzipierter Funktionsräume, also durch bis zu gewissem Grade vereinheitlichte räumliche Konstruktionen, in höherem Maße geboten werden kann. Wer Chancengleichheit gewähren will, muß ja vor allem bedenken, daß die Menschen jeweils sehr verschiedene raumbezogene Lebensstile bevorzugen oder anstreben. Die Bewertungen unterschiedlicher Lebensziele sind eben verschieden (vgl. erster Teil, Kap. 7.8). Eine berufliche Karriere inmitten der Agglomeration, etwa um den Preis des Verzichtes auf ein eigenes Haus mit großem Garten, ist nicht für jeden in gleicher Weise erstrebenswert und sinnvoll. Chancengleichheit bedeutet eben auch, die Mögüchkeit haben, Unterschiedliches zu tun. Den Menschen sind also unterschiedliche Möglichkeiten zu eröffnen, die sie dann, je nach ihrer unterschiedlichen Bewertung, Begabung, Fähigkeit etc. nutzen werden. Unter Umständen sieht dann jeder seine Chance woanders; wichtig bleibt freilich, daß er sie nutzen kann. Die urbane Verdichtung, die, wenn auch begrenzte, Agglomeration, darf nicht der allgemein verbindliche Lebensraum sein, zu groß sind die damit verbundenen Nachteile. Zwar eröffnet die Agglomeration vielen Menschen zahlreiche Chancen, gleichzeitig verweigert sie aber viele alternative raumbezogene Existenzformen. Die Vielfalt des Angebotes und der Kontakte in einer Agglomeration gewährt noch nicht die ganze Vielfalt der denkbaren unterschiedlichen raumbezogenen Lebensformen. Zudem kann sich die vielberufene Gleichheit aller, wie etwa der Verhaltensforscher W. WICKLER (1971, S. 194) betont, „vernünftigerweise nur auf etwas allen Menschen Gemeinsames beziehen, vor dem die nachweislich vorhandenen Unterschiede keine Rolle spielen und unerheblich sind". Hinsichtlich der raumbezogenen Lebensweise und der Präferenzen hinsichtlich Erwerb, Wohnen, Privatleben, Freizeitbeschäftigung etc. bestehen aber gerade beträchtliche Unterschiede zwischen den Menschen; und diesen gilt es gerecht zu werden, weniger der „Vereinheitlichung". Regionalplanung steht so auch vor der Aufgabe, ein möglichst vielfältiges
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Angebot unterschiedlicher Möglichkeiten der Raumnutzung zu schaffen, durch Vielfalt zur Entfaltung chancengleicher, aber dennoch unterschiedlicher Menschen beizutragen. Die Konzeption ausgeglichener Funktionsräume mit ihren „neuen Agglomerationen" könnte unter diesem Blickwinkel als zu stereotyp, zu einengend, nicht differenziert genug gedeutet werden. Chancengleichheit läßt sich wohl eher bei Vielfalt des Angebotes als durch Vereinheitlichung verringerter Möglichkeiten verwirklichen. Hinsichtlich der Bewertung der „ausgeglichenen Funktionsräume" wird also viel davon abhängen, inwieweit es mit Hilfe dieser Leitvorstellung gelingt, möglichst vielfältige Raumnutzungen zu eröffnen. Durchaus mag sich mit dieser Konzeption auch ein Weg, ergänzende Vielfalt herbeizuführen, anbieten. Gerade in dem Bestreben, ein möglichst großes und differenziertes Arbeitsplatzangebot, vielfältige Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und befriedigende Wohnbedingungen bereitzustellen, zeigt sich, daß zu einseitige und damit chancenmindernde Raumnutzungen abgebaut werden sollen und funktionaler Ausgleich zwischen verschiedenen Raumkategorien gesucht wird. Auch wird der Gedanke einer räumlichen „potentialoder begabungsabhängigen Arbeitsteilung" betont, aber das eigentliche Problem liegt eben in der Frage, wie dieser Ausgleich, wie Vielfalt und Ergänzung herbeigeführt werden sollen. Das ist in erster Linie ein Problem sich ergänzender Zuordnung der Flächennutzung. Es ist dann weniger wichtig, mehr oder minder theoretische Vorstellungen zu entwickeln, vielmehr sind Überlegungen zur Praxis der Flächennutzungsplanung erforderlich. Ein stärker flächenbezogenes Leitbild wird benötigt. So liegt die eigentliche Schwierigkeit auch nicht in der Definition irgendwelcher Funktionsräume oder Regionen, sondern vielmehr darin, wie deren Flächennutzung im Inneren konkret zu gestalten ist. Die Abgrenzung solcher regionalplanerischer Gestaltungseinheiten hat lediglich zu gewährleisten, daß hinreichend vielfältige und unterschiedliche Räume einbezogen werden, die einen ergänzenden wechselseitigen Ausgleich ermöglichen. Regionalforschung und -planung stehen vor allem vor der Aufgabe, Raumnutzungsmodelle zu erarbeiten und zu verwirklichen, die in Beachtung der gebietlichen Besonderheiten eine sich ergänzende Flächennutzung ermöglichen. Die Lösungen können von Teilraum zu Teilraum sehr verschieden sein und durchaus auch von der Vorstellung ausgeglichener Funktionsräume abweichen. Die geographischen Voraussetzungen können beträchtliche Variationen erzwingen. Letztlich ist die kleinräumliche Abstimmung der Flächennutzung zu bewältigen, normative Konstruktionen für eine Regionalpolitik (Funktionsräume) können dabei bestenfalls als Orientierungshilfe dienen.
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2.4 Stadt - Land - Verbund Bei den Überlegungen zu einem flächenbezogenen Leitbild der Regionalplanung sollte von vornherein davon ausgegangen werden, daß der gesamte Raum für eine Neuordnung zur Disposition steht. Damit ist es unnötig, sich einseitig auf die Neugestaltung großstädtischer Siedlungsstrukturen oder auch des ländlichen Raumes zu beschränken. Ohne damit den Bezug zur gegenwärtigen Siedlungsstruktur verlieren zu müssen, sollten wir Vorstellungen entwickeln, die das räumliche Potential in seiner ganzen Vielfalt erschließen und wechselseitig ergänzend nutzbar machen. Haben wir etwa nur die „dezentralisierte Großstadt", das „polyzentrische Verdichtungsgebiet", die „Regionalstadt" oder für den ländlichen Raum die „dezentralisierte Konzentration", den Ausbau neuer „Entwicklungszentren und Achsen", neuer „Verdichtungsschwerpunkte" oder „verdichtet besiedelter Auffangzentren" vor Augen, dann schränken wir die Möglichkeiten zur Neuordnung des gesamten Raumes durch zu stereotype Vorstellungen unnötig stark ein. Noch immer wären wir dann zu einseitig auf Verdichtung und Konzentration ausgerichtet492. Vielmehr benötigen wir Leitvorstellungen, die begünstigen, daß sich entsprechend der jeweiligen gebietlichen Voraussetzungen vielgestaltige Systeme der Flächennutzung herausbilden, die dem Menschen differenzierteste Nutzungsmöglichkeiten eröffnen. Gebietsspezifisch wird das jeweils anders aussehen, stets aber ist anzustreben, daß eine ergänzende Vielfalt der Raumnutzung entsteht. Dann stellen neue Verdichtung im ländlichen Raum, Auflockerung zu dezentralisierten Großstädten etc. nur einzelne Möglichkeiten unter anderen dar; ebenso können mittlere und kleinere zentrale Orte mit umliegenden Siedlungen bei einer bestimmten räumlichen Lage (etwa zumutbare Entfernung zu einem Oberzentrum) sinnvolle Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung der Siedlungsstruktur sein. Vor allem sollten die Vorteile ländlicher Umwelt wie auch städtischer Umwelt den Menschen in wechselseitiger Ergänzung stärker nutzbar gemacht werden - möglichst unter Minderung der jeweiligen Nachteile. Läßt sich aber ein solches simples, gewissermaßen nur die Nachteile abbauendes räumliches Ergänzungsmodell überhaupt konstruieren und wäre es wirklichkeitsgerecht? Durchaus, falls die durch die Technik eröffneten neuen Standortmöglichkeiten ausgeschöpft werden und die lebensräumliche Struktur als dem Wandel offen begriffen wird und nicht an starren kulturlandschaftlichen Schemata orientiert sein soll. Nun ist allerdings ein solcher Wunsch, städtische und ländliche Formen der Raumnutzung miteinander zu verbinden, keineswegs neu. Bereits die konkreten Vorschläge von R. OWEN ( 1 8 2 4 ) oder E . HOWARD ( 1 8 9 6 ) standen
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unter dem Ziel, die Vorzüge von Stadt und Land zu vereinigen. G. ALBERS (1974, S. 143) betont, indem er etwa auf E. WORTMANNS (1941) Überlegungen zur „Stadtlandschaft" verweist, daß bereits vor dem Ende des II. Weltkrieges der Schritt „von der Stadt zur Ganzheit Stadt und Land" und zu planerischen Vorstellungen „einer so verstandenen Stadtlandschaft" vollzogen wurde. G. BARDOT (1940) versucht, die Vorteile von Stadt und Land zu verbinden im Rahmen der „humanen Stadt", die ca. 30 000 Einwohner umfassen und den Bürgern die wichtigsten städtischen Einrichtungen bieten soll und die dennoch, umgeben mit einem Schutzring von Grünanlagen und den dort eingebetteten Sportanlagen, Krankenhäusern etc., frei von den typisch großstädtischen Belastungen bleibt. Unterhalb dieser ja relativ kleinen städtischen Kategorie befinden sich weitere Stufungen von Siedlungszellen, ζ. B. Nachbarschaften mit 150—450 Einwohnern, so wie oberhalb der „humanen Stadt" regionale und nationale Zentren die größeren Siedlungsbereiche bilden. Solche großen Siedlungen und Metropolen werden aber wiederum in relativ unabhängige Einheiten, die der „humanen Stadt" entsprechen, aufgelöst bzw. räumlich gegliedert. In ländlichen Gebieten sollen sich die Dörfer so um Zentralorte gruppieren, daß sie gemeinsam die Einrichtungen der „humanen Stadt" tragen können. Ähnlich schlägt C. CULEMANN (1941) ein gegliedertes System von Siedlungseinheiten vor, das beginnend bei der „Nachbarschaft" (mit ca. 500 Einwohnern) über das „Wohnviertel" (mit ca. 1500-2000 Einwohnern), den „Schulbezirk" (mit ca. 5000 Einwohnern) schließlich zur „Normalstadt" (mit 15 000-20 000 Einwohnern) führt, die als der anstrebenswerte „normale Fall" einer Stadt wichtigster Bestandteil dieser Siedlungshierarchie ist, obwohl sich darüber noch weitere größere Stadtkategorien befinden. Die zentralörtliche Konzentration in der Raumordnung der Bundesrepublik wurde also hier in etwa schon vorweggenommen. Auch die Strukturmodelle der gegliederten und aufgelockerten Stadt (J. GÖDERITZ et al., 1957) sowie der Regionalstadt (R. HILLEBRECHT, 1962) lassen die Stadt, in sich zellenartig gegliedert, beträchtlich ins ländliche Umland hineingreifen und weisen damit allmählich über die Stadtplanung im engeren Sinne hinaus zur regionalen Gestaltung. Deutlicher noch empfahl vor allem L. MUMFORD (u. a. 1963, beeinflußt bereits von P. GEDDES) ein Stadt - Region - Konzept, städtische Strukturen, die die Region überziehen. F . L. WRIGHT ( 1 9 4 9 ) entwickelt in seiner Vision der BROAD ACRE CITY
Vorstellungen von einer weit das Land, die Täler und Hügel überziehenden „Stadt" vorwiegender Einzelhausbebauung. Entlang der zahlreichen Autostraßen reihen sich geradezu endlos die Häuser und Gärten und lösen so die Stadt gewissermaßen im Lande auf. Ein differenzierteres Konzept im Sinne einer „Regionalisierung mit
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Schwerpunktbildung'' hat G. FISCHER (1973, S. 35, aufbauend auf Überlegungen von A . NYDEGGER) vorgestellt. Hiernach wären - in Entlastung der Großstädte - Regionalzentren (Subzentren) infrastrukturell auszubauen; gleichzeitig aber würden auch Infrastrukturinvestitionen „in eine Reihe weiterer kleinerer Ortschaften, die sich im Einzugsbereich der Subzentren befinden", fließen. Die funktionale räumliche Ergänzung soll also bei durchaus differenzierterer Siedlungsstruktur ermöglicht werden. Es wird betont, „daß die Strategie einer Regionalisierung mit Schwerpunktbildung zu einem Siedlungskonzept führt, das im Gegensatz zu extremeren räumlichen Leitvorstellungen mehr Menschen ermöglicht, in kleineren Ortschaften wohnen und arbeiten zu können, ohne auf die immer wichtiger werdenden Agglomerationsvorteile verzichten zu müssen." Hier deutet sich eine Auffassung an, die unseren Intentionen entgegenkommt; indem die Möglichkeiten des ländlichen Raumes stärker genutzt werden, kann die Vielfalt raumbezogener Existenzformen erhöht werden. Die aufgezeigten Vorschläge zur Neugliederung der regionalen Siedlungsstruktur sind stark von dem Gedanken beeinflußt, den Menschen die für notwendig bzw. zeitgemäß erachteten Einrichtungen (des Einzelhandels, des Bildungswesens, der sportlichen Betätigung, des kulturellen Angebotes etc.) möglichst gut erreichbar und gebündelt an unterschiedlich gestuften „zentralen Orten" bzw. Siedlungsschwerpunkten anzubieten. Die Sicherung einer angemessenen Versorgung und eines mehr oder minder „städtischen" Angebotes wird zum wichtigen Kriterium einer Umformung der Siedlungsstruktur; entsprechende Kristallisationspunkte oder Entwicklungsachsen sind daher im ländlichen Raum auszubauen. In den stärker verstädterten, verdichtet besiedelten Räumen steht dagegen der Abbau typischer Verdichtungsnachteile unter Erhaltung der Vorteile im Vordergrund. Das Wohnen soll wieder störungsfreier, die Naherholung erleichtert, der Verkehr gebändigt werden, die städtische Vielfalt des Angebotes und die differenzierten Erwerbsmöglichkeiten aber erhalten bleiben. Daher wird Auflockerung, aber meist gleichzeitig in den Siedlungszellen zur Erhaltung der Bevölkerungszahl verdichtete Bebauung empfohlen. In der Vergangenheit sind also durchaus zahlreiche Vorstellungen entwikkelt worden, durch welche Änderung der überkommenen Siedlungsstruktur bislang typisch „ländliche" und „städtische" Nachteile abgebaut werden können (siehe auch Kap. 2.3.2 - ausgeglichene Funktionsräume). Trotz all dieser Ansätze scheint jedoch ein konkretes flächenbezogenes Leitbild, das modellhaft die Konzeption eines systematischen Stadt-LandVerbundes aufzeigt und das zugleich auf ganz bestimmten wert- und sinnorientierten Leitvorstellungen basiert, bisher nicht vorzuliegen. Nachfolgend sei daher eine entsprechende Konzeption vorgestellt, wobei es sich jedoch
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nicht um ein Leitbild regionalpolitischer Art bzw. um ein ökonomisches Regionalstrukturmodell handelt, sondern um ein Leitbild der Flächennutzung und Regionalgestaltung. 2.4.1 Das flächenbezogene Leitbild des Stadt-Land-Verbundes Die Ansprüche und Bewertungen der Menschen sind zu vielfältig, als daß sie durch vereinfachende und einseitige Idealmodelle der Raumnutzung langfristig befriedigt werden könnten. Wir bedürfen einer Siedlungsstruktur, die den sich wandelnden Bewertungen und Bedürfnissen gerecht wird, die in sich entwicklungsfähig ist und die verschiedene räumliche und soziale wie wirtschaftliche Entwicklungen möglichst konfliktfrei zu koordinieren vermag, die den Wandel zu jeweils bedürfnisgerechten Raumnutzungen begünstigt. Das dürfte umso eher möglich sein, je vielfältiger die Nutzung des Raumes erfolgen kann, je mehr Nutzungsmöglichkeiten geboten werden. Allein das legt es nahe, „städtisch" und „ländlich" zu charakterisierende Gebiete räumlich so miteinander zu verbinden, daß die jeweils vorteilhaften Eigenheiten nutzbar werden. Das heißt aber auch, die Besonderheiten und spezifischen Vorteile solcher verschieden geprägten Räume sind zu erhalten; positiv bewertete „städtische" wie „ländliche" Charakteristika sind zu bewahren. Eine ausgleichende, sich ergänzende „Gegensätzlichkeit" dürfte sinnvoller sein, als die mehr oder minder uniforme „genormte" Gestaltung des Raumes. Nun ist es eine Frage der Definition, ab wann eine aufgelockerte Besiedlung noch als„städtisch" oder bereits als „ländlich" zu bezeichnen wäre. Solche Festlegungen sind jedoch nicht wichtig. Wichtig ist es, daß, gleich unter welchem Namen, „Stadt" und „Land" besser räumlich miteinander verflochten werden, daß eine flächenhafte Verfingerung zwischen besiedelten, infrastrukturell gut ausgestatteten Bereichen und naturnahen Bereichen erfolgt, damit eine sinnvolle Ergänzung und Entlastung von den jeweiligen Nachteilen begünstigt wird. Das ist leichter möglich, wenn jeweils kleinere unterschiedlich charakterisierte Räume miteinander verflochten werden, wenn eine Region stärker durch fein gegliederte Vielfalt der Flächennutzung ausgezeichnet ist, als wenn sich jeweils riesenhafte Areale, entweder monoton städtisch oder ländlich strukturiert, gegenüberstehen. Die Berührungsflächen, die Kontaktzonen und die wechselseitige Ergänzung sind umso größer, je intensiver sich unterschiedlich genutzte Flächen unterschiedlicher Eignung miteinander verzahnen. Ein „Stadt" und „Land" integrierendes Ineinandergreifen unterschiedlich intensiv genutzter und belasteter Räume ist anzustreben. Das darf jedoch nicht im Sinne einer kleingestückelten, allgemeinen
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Mischung unterschiedlicher Nutzflächen mißverstanden werden; ein derart „verquirltes" Durcheinander ließe zwar zahlreiche Berührungsflächen entstehen, würde aber insgesamt wohl mehr der wechselseitigen Funktionsstörung als der Ergänzung dienen. Bei G. ALBERS (1974, S. 85) findet sich ein Hinweis, der weitestgehend unserer Konzeption eines besseren Stadt-LandVerbundes gerecht werden dürfte: „Weit aussichtsreicher erscheint demgegenüber ein maßvolleres Vorgehen im Sinne einer planmäßigen Verzahnung und Verflechtung verschiedener Nutzungsbereiche, die in sich nicht zu groß dimensioniert sein dürfen." In welchen Proportionen also die unterschiedlichen Nutzflächen miteinander verklammert werden, ist daher eine wichtige Frage, die jedoch vor allem am konkreten Fall entschieden werden sollte; dessen ungeachtet lassen sich durchaus grobe allgemeine Angaben zur räumlichen Zuordnung und Dimensionierung geben (siehe Tab. „Flächennutzungsanteile . . . " Kap. 2.4.1.2). Entscheidend ist, daß die Dimensionierung, die „Körnung" des Verbundes weder zu grob noch zu fein ausfällt, da sonst entweder die leichte Erreichbarkeit ergänzender Flächen oder die wechselseitige Störungsfreiheit nicht mehr gewährleistet sind. Es gibt natürlich viele Möglichkeiten, städtische und ländliche Charakteristika miteinander zu mischen. In verdichtet besiedelten Gebieten kann man versuchen, Stadtzellen abzugrenzen, sie gewissermaßen aus dem Siedlungsbrei allmählich „herauszuschälen" und mit ergänzenden Freiräumen, mit Grün- oder Gartenland, mit Parks und Freizeitgelände, mit Agrar- oder Waldflächen zu verbinden. Bei stärker gestreuter, relativ dünner Besiedlung wird man in verkehrsgünstiger Lage „Kristallisationspunkte", die städtisches Angebot bereithalten, ausbauen. Wird in dem einen Raum die Auflockerung zu dichter Besiedlung anzustreben sein, ist in einem anderen begrenzte Bündelung sinnvoll. Agglomerationen, die geschlossen große Flächen überziehen, setzen allerdings, ebenso wie zu dünn besiedelte abgelegene Agrarräume, der Herausbildung eines vielfältigen Stadt-Land-Verbundes stärkeren Widerstand entgegen; während sich in einer differenzierteren Siedlungsstruktur mit Klein- und Mittelstädten und bereits stärker aufgelockertem, großstädtischem Ansatzpunkt die Flächen ergänzender Nutzung leichter miteinander verflechten lassen. Ungeachtet dessen kann der Stadt-Land-Verbund viele Gesichter haben; wichtig ist nur, daß städtische und ländliche Nutzungsmöglichkeiten dem Bewohner gut erreichbar sind. Eine städtische Familie, die aus ihrer innerstädtischen Wohnung problemlos zum Wochenendhaus im Grünen gelangen kann, verwirklicht ebenso Stadt-Land-Verbund wie vorstädtische oder dörfliche Eigenheimbewohner, die problemlos, d. h. ohne unzumutbaren Fahraufwand, eine sehenswerte Ausstellung im „städtischen" Museum besuchen. Ausgleichende lebensräumliche Vielfalt kann auf vielerlei Weise ver-
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S u l z b a c h - R o s e n b e r g , Stadt und Industrie inmitten „offener L a n d s c h a f t " Luftbildverlag Hans B e r t r a m , München
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wirklicht werden - vom Reihenhaus nahe eines größeren Zentrums aus, vom freistehenden Einfamilienhaus der Klein- oder Mittelstadt ebenso wie von der großstädtischen Terrassenwohnung am Zentralpark aus, je nach Lebensalter, persönlicher Vorliebe, Einkommen etc. Ungeachtet der durchscheinenden Romantik soll mit W . HÖLLERERS (1974) Schilderung seiner oberpfälzischen Heimatstadt Sulzbach-Rosenberg eine Möglichkeit der städtisch-ländlichen Verknüpfung deutlich werden: „Ich bin dankbar dafür, daß mich hier eine ganz offene Landschaft geprägt hat, nichts Eingezwängtes. Die Hügel reichen bis in die Stadt hinein, die Bäume reichen bis in die Stadtgärten, in die Plätze und Gassen, sogar die Felsen, die Jurafelsen sind ein Teil von dieser Stadt, und Gott sei Dank ist sie nicht so groß, daß sie sich selber abwürgt - jedenfalls bis jetzt nicht. Wenn die Linden blühen, dann riecht man es in der ganzen Stadt, besonders an den Abenden . . . Die Stadt hat noch ein Wohnklima, in dem Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Zusammenleben ein enges Verhältnis zueinander haben und nicht voneinander abgesondert sind. Alles das gehört zu dem Eindruck der Offenheit und Nachbarschaft, der mich hier geprägt hat. . . . Es ist mir bei dem allen klar, daß dieser, mein Geburtsort, kein idyllischer Garten ist, sondern ein Gegenwartsort mit seinen ökonomischen und sozialen Fragen und mit seinen Entscheidungsnotwendigkeiten. Auch das hat auf alles, was ich gemacht habe, eingewirkt, insbesondere, daß es ein Ort der Arbeit ist und ein Ort des Zusammenwirkens der verschiedenen notwendigen Arbeiten. Dafür habe ich von Kind auf ein Exempel mitbekommen, wie moderne Industriearbeit, städtische und gewerbliche Dienstleistungsarbeit, bäuerliche Produktion und Nachschubarbeit aufeinander angewiesen sind. Hier konnte man es deutlich sehen, in dieser Stadt. Und daß bei allen Interessengegensätzen ein Zusammenspiel möglich sein muß, eine Balance. Es war ein großer Vorteil für mich, daß ich in keinem Intellektuellengetto aufgewachsen bin . . ," 494 .
Sicherlich wird die Entfaltung des einzelnen wesentlich auch durch die räumlichen Lebensbedingungen beeinflußt, so wie diese auch auf das Wohlbefinden und die Gesundheit wirken können. Der Wert lebensräumlicher Vielfalt mag sich besonders gut im Rahmen einer aufgelockerten Mittelstadt gewinnen lassen, kann aber auch durch einen städtische und ländliche Elemente aktiv verbindenden Lebensstil verwirklicht werden. So war es und ist es für große Bevölkerungsteile anstrebenswert, neben dem Haus oder der Wohnung in der Stadt auf dem Lande ein weiteres Domizil zu besitzen, sei es in Form der aufwendigen Villa, des Landhauses, des bescheidenen Wochenendhäuschens oder des Campinganhängers, um so in den Ferien, an den Wochenenden oder wann immer sonst möglich, ins Ländliche auszuweichen. So verdeutlicht etwa der Schriftsteller M. PAGNOL (1964, S. 58) die Freude des Stadtkindes, das, heraus aus Marseille, erwartungsvoll dem nahen Ferienhaus in der Provence mit seinem üppigen Garten zueilt: „Der Garten war von einem rostigen Gitter umgeben und mindestens hundert Meter breit. Ich konnte nichts außer einem kleinen Hain von Mandeln und Oliven unterscheiden, die über dichtem Gestrüpp ihre wildwuchernden Zweige miteinander vermählten: aber diesen winzigen Urwald hatte ich in all meinen Träumen gesehen, und gefolgt von Paul stürzte ich mich mit einem Freudenschrei hinein."
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Zweifellos vermag der Wechsel zwischen dem Stadthaus und dem Landhaus, zwischen städtischem Treiben und ländlichem Ausgleich zu einem anregenden und wohltuenden Leben beizutragen; und wer es sich leisten konnte, bevorzugte eh und je schon den periodischen Wechsel - im Rom der Antike, im Florenz der Renaissance (vgl. sechster Teil), im Wien der Monarchie etc. So etwa vermittelt H. v. DODERER (1951) in seinem Roman „Die Strudlhofstiege" ein treffendes Bild der Wiener Gesellschaft zur Zeit der ausklingenden Monarchie, die genüßlich die Reize des Stadtlebens mit den Annehmlichkeiten des Landaufenthaltes zu verbinden weiß. Auf der einen Seite genießt man das Treiben auf den Straßen Wiens, „dieses Gehen oder Laufen, Stehen, Eilen oder Promenieren der Menschen hier und die mehr als lebhafte Mischung von schmuckem Pferdefuhrwerk und brummenden Automobilen" und spürt, wie dies geradezu „lebensbestärkend" wirkt. Noch fehlt die Erfahrung des Dichtestresses, den zu viel städtisches Durcheinander, zu viele Sinnesreize und zu dichtes Wohnen schließlich den Städtern brachten. Noch trifft man sich gelassen heiter, snobistisch, bisweilen schon zum Golfspiel umgezogen, im Stadtcafé Pucher, um noch etwas zu plaudern, auch um zu erfragen, „wer morgen, Samstag, zu Stangelers auf die Villa hinausfahren würde". Wann immer möglich, möchte man „der Sonnenglut in der Stadt entrinnen", fährt hinaus auf die Hänge des Wiener Waldes nahe der Stadt und erfreut sich der „sommerlichen Gartenfeste hoch über der Stadt, deren herauftretende Schnüre von Lichtern den Reiz mehrten, wenn man im Freien soupierte und späterhin auch tanzte." Oder man gelangt per Eisenbahn leicht in's hochgelegene Semmering-Gebiet; dann „wird die frische Gebirgsluft beim Aussteigen zu spüren sein; und dann werden sie im Landauer hinauffahren" die Serpentinstraße zur Villa. Wen der Dienst oder Geschäfte in der Stadt erwarten, fährt zu Beginn der Woche früh am Morgen nach Wien zurück; „es war ein bequemer Schnellzug, geradezu für diesen Zweck eingerichtet." Soll Stadt-Land-Verbund verwirklicht werden, ob auf kleinräumlicher Ebene, in einer oberpfälzischen Mittelstadt (s. o.) oder im weiten Umland von Wien, so geht es doch immer wesentlich darum, städtische und ländliche Flächennutzungsmöglichkeiten einander ergänzend bereitzustellen. Damit eine entsprechende wechselseitige Beanspruchung möglich wird, müssen die Nutzungen jeweils gut erreichbar sein. Ein Grundsatz für den Stadt-LandVerbund lautet daher, unterschiedliche, sich ergänzende Flächennutzungskategorien bestmöglich verkehrsmäßig zu verbinden oder sie direkt durch ein mosaikartiges, oft kleinräumliches Nebeneinander räumlich miteinander zu verflechten, nicht aber so eng, daß wechselseitige Beeinträchtigungen - etwa zwischen Arbeitsstätten und Wohnbereichen - entstehen oder die spezifische Funktion zu stark beeinträchtigt wird (ζ. B. wird sich eine Mindestgröße
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agrarisch genutzter Gebiete empfehlen, auch wenn diese teilweise Erholungsfunktionen für benachbarte Wohnbereiche oder ökologische Nebenfunktionen erfüllen.) Durch eine wohldimensionierte Durchmischung, eine /eingliedrige Verfingerung ursprünglich „städtischer" und „ländlicher" Elemente vor allem soll die erwünschte lebensräumliche Vielfalt erreicht und die Möglichkeit erhöht werden, sich Anpassungszwängen zu entziehen oder diese zu kompensieren. Die kleinräumliche Gliederung wird jedoch so erfolgen müssen, daß ausreichend große Schutz- und Gliederungszonen und Mindestdistanzen zwischen disharmonischen Nutzungen gewährleistet bleiben (vgl. Tab. Flächennutzungsanteile). 2.4.1.1 Hauptaspekte der Raumnutzung Bevor wir uns einem detaillierten Modell des Stadt-Land-Verbundes zuwenden, sollen, um den Bezug zur Wirklichkeit zu sichern, zunächst die Möglichkeiten unterschiedlicher Raumnutzungen angesichts unserer zivilisatorischen Situation erörtert werden; dies allerdings unter der Voraussetzung eines flächenerschließenden relativ engmaschigen Verkehrsnetzes (s. o.). Vereinfachend werden die folgenden 4 Hauptaspekte der Raumnutzung unterschieden: - Einkommensbildung - differenzierte Versorgung - Wohnen - ökologisch sinnvolle Freihaltung Jedem dieser vier Aspekte kann man auf sehr verschiedene Weise und durch unterschiedliche räumliche Verteilung der entsprechenden Nutzung gerecht werden. Man kann sein Einkommen inmitten einer Industriestadt oder als Nebenerwerbslandwirt im ländlichen Gewerbeort und ergänzend auf dem eigenen Hof gewinnen; man kann im innerstädtischen Hochhaus oder auf dem Lande wohnen. Je nach der Entscheidung für diese oder jene „Spielart" eines Aspektes wird auch die ergänzende Beanspruchung der anderen Raumnutzungen unterschiedlich ausfallen. So ergeben sich vielfältige Kombinationen ergänzend genutzter Raumelemente, durchaus auch in Abhängigkeit von der subjektiven synergetischen Bewertung. Wenn man etwa in einem Wohnhochhaus inmitten dichtester Bebauung lebt und dadurch zwar die Nähe zur Arbeitsstätte und zu zahlreichen Einrichtungen behält, aber auch zahlreiche Dichtebelastungen verkraften muß, benötigt man ausgleichend - je nach Neigung, Alter oder Familienstruktur - entweder eine stadtnahe Gartenparzelle, ein Wochenendhaus, einen Standplatz für den Campingwagen, eine Freizeitparzelle oder ähnliches. Andererseits bietet eine solche Wohnweise vielfältige kommunikative Vorteile; die Versorgung
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etwa mit Dienstleistungen und Gütern wird erleichtert, auch der Weg zur Arbeitsstelle ist kürzer usw. Für jede Person wird sich eine andere Mischung lebensräumlicher Möglichkeiten als vorteilhaft erweisen; der finanzkräftige Junggeselle mag die Komfortwohnung im städtischen Hochhaus und ausgleichend die Fernreise zu attraktiven Ferienzielen bevorzugen und nach seiner Rückkehr wiederum die nahen großstädtischen Möglichkeiten nutzen; der kinderreiche Familienvater wird das Einfamilienhaus in noch zumutbarer Entfernung zu seinem Arbeitsplatz und zu den Versorgungseinrichtungen anstreben und dafür u. U. auf das Wochenendhaus, auf die Nähe zum Theater oder Opernhaus verzichten. Es leuchtet ein, daß die Entscheidung für eine spezifische Raumnutzung in einem Bereich Konsequenzen für die ergänzenden Nutzungen in anderen Bereichen hat; ein jeweils spezifisches System von Wechselwirkungen pendelt sich ein. Abb. 7 soll, wenn auch stark vereinfachend, verdeutlichen, welche Bandbreite der standörtlichen Verteilung der Hauptnutzungsaspekte angesichts unserer räumlichen und zivilisatorischen Voraussetzungen bereits möglich ist, welche Kombinationen aus der Sicht des einzelnen naheliegen und welche Vielfalt sich ergänzender Raumnutzungsmöglichkeiten bei einer entsprechenden planerischen Konzeption geschaffen werden kann. Zunächst sollen die einzelnen Aspekte der Raumnutzung hinsichtlich ihrer Allokationsmöglichkeiten kurz untersucht werden. Einkommensbildung Die räumliche Verteilung der Menschen und damit die Siedlungsstruktur wird so lange wesentlich von der räumlichen Verteilung der Arbeitsstätten beeinflußt werden, wie diese die Quellen des Einkommens sind und nicht etwa durch „Fernbedienung", also in Abwesenheit der Einkommensbezieher, betrieben werden können. Zwar wächst der Anteil derer, die durch Renten oder ähnliches sowie durch verbesserte Kommunikationstechnik (im weitesten Sinne) distanziell unabhängiger von den Arbeitsstätten werden; auch nimmt durch gesteigerte räumliche Beweglichkeit der Zwang größtmöglicher Nähe zur Arbeitsstätte ab, aber noch immer muß der größte Teil der Erwerbspersonen in der Region leben, in der er sein Einkommen findet. Allerdings kann bei einer allgemein relativ guten infrastrukturellen Erschließung und relativ hohen Besiedlungsdichte und Motorisierung die Allokation vieler Arbeitsstätten zunehmend räumlich gestreut erfolgen. Mit den Wandlungen im Verkehrsund Kommunikationswesen, mit dem verringerten Transportkostenanteil und mit dem verbesserten und verbilligten, weitestgehend raumunabhängigen Informationsfluß sind die Standortentscheidungen flexibler geworden. Die Verknappung und Verteuerung des Bodens innerhalb der Verdichtungs-
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gebiete angesichts wachsenden Flächenbedarfs automatisierter horizontaler Produktionsprozesse, die Tendenz zur Abwanderung der Menschen aus zu stark verdichteten Siedlungsräumen in wohltuendere Wohnlagen, aber auch die zunehmenden Auflagen in den Agglomerationen, durch die der Vorteil externer Ersparnisse immer mehr ausgeglichen wird, schwächen die Neigung zur weiteren Konzentration der Arbeitsstätten in den Verdichtungsgebieten zusehends ab. Zudem werden die Bezugs- und Lieferverflechtungen angesichts einer hochgradig arbeitsteiligen und komplexen Produktion ohnehin auch räumlich immer komplexer und differenzierter; es wird immer schwe-
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Stadtrandzone
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Abb. 7:
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Innenstadtbereich
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Verwaltung, Dienste etc.
Möglichkeiten der räumlichen Kombination verschiedener Nutzungen - je nach Haushaltstyp und persönlicher Bewertung
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rer, alle Kunden und Lieferanten innerhalb desselben relativ engen Raumes zu finden. So wundert es nicht, daß, wenn auch gefördert durch entsprechende staatliche Programme, neue Arbeitsstätten zunehmend im Bereich von Mittel· und Kleinstädten, außerhalb der Verdichtungsgebiete in einem noch stärker ländlich anmutenden Raum errichtet werden. In der Bundesrepublik zum Beispiel wurden in den 10 Jahren zwischen 1965 und 1975 ca. 2/3 der neu errichteten Betriebe des Produzierenden Gewerbes außerhalb der Verdichtungsgebiete und Agglomerationen im gewissermaßen städtisch-ländlichen Raum angesiedelt. Die zunehmende Tendenz zur vergleichsweise dispersen Allokation und zur Verringerung der Konzentration an wenigen Standorten wird auch sichtbar, wenn man das Beschäftigtensaldo aus den Standortwanderungen der Industriebetriebe in seiner räumlichen Verteilung betrachtet (jährliche Veröffentlichungen des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung). Während bis etwa Mitte der 60er Jahre die meisten Ballungsgebiete durch zuwandernde bzw. neue Arbeitsstätten noch einen deutlich höheren Beschäftigtenzuwachs als eine Beschäftigtenabnahme durch abwandernde bzw. stillgelegte Arbeitsstätten hatten, beginnen seit Ende der 60er Jahre die Abwanderungen zu überwiegen. Zunehmend mit den 70er Jahren weisen positive Beschäftigtensalden aus Standortverlagerung fast nur noch randlich der Verdichtungsgebiete und sogar weit von diesen entfernte Räume mittelstädtischen bis ländlichen Charakters auf, während die Ballungsräume teilweise beträchtliche Wanderungsverluste an Beschäftigten in der Industrie verzeichnen. Interessant ist auch, daß sich viele Hauptverwaltungen großer Industrieunternehmen in die Randzonen der Ballungsgebiete verlagert haben, wobei nicht selten die Nähe zu attraktiven Wohngebieten gesucht wird. Diese skizzierten Verlagerungen sind übrigens in den USA noch weit deutlicher ausgeprägt. Das schließt natürlich keineswegs aus, daß bestimmte Branchen nach wie vor sehr spezifischer Standortvoraussetzungen bedürfen und etwa die Eisenund Stahlgewinnung die Nähe zur Küste sucht, daß die Chemie aufgrund eines zunehmenden geradezu weltweiten Massengutverbundes Hafenstandorte bevorzugt und sich dort oder entlang leistungsfähiger Transportadern, wie gegenwärtig etwa im „Chemical Corridor" am unteren Mississippi, agglomeriert. Das allerdings schließt wiederum nicht aus, daß sich führende Unternehmen dieser Branche, wie etwa Dow CHEMICAL in den USA, eben auch an mittelstädtisch-ländlichem Standort (Midland, Mich.) gut entwikkeln, durchaus begünstigt vom Phänomen der allgemein reduzierten Standortabhängigkeit. Zudem gewinnen heute unter der Vielzahl der standortentscheidenden Kriterien diejenigen, die das lebensräumliche Wohlbefinden der
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Beschäftigten und Entscheidungsträger betreffen, an Bedeutung; und das spricht oft für einen Standort außerhalb der überkommenen großstädtischen Agglomerationen. So vollzieht sich denn auch heute das regionale Wachstum (der Einkommen, des regionalen Kapitals, der Arbeitskräfte, der Bevölkerung etc.) - wie empirische Untersuchungen zeigen (vgl. u. a. H . HAUTAU, 1976), wie aber auch die gegenwärtige regionale Wachstumstheorie betont - im wesentlichen analog einem Dispersionsprozeß, bei dem von den am höchsten entwickelten Räumen ausgehend weniger entwickelte Regionen erfaßt und in einen allmählichen Prozeß der begrenzten räumlichen Konzentration und begrenzten Verstädterung einbezogen werden. Die wirtschaftlichen und siedlungsstrukturellen Aktivitäten unterliegen damit einem Prozeß der „dezentral konzentrierten Streuung" (vgl. H. W. RICHARDSON, 1973). Die Verdichtungsgebiete wuchern also nicht endlos in den umgebenden Raum hinaus; es setzt keine allgemeine Verstädterung ein, sondern ab einer gewissen Größe der Siedlungskörper - mit zunehmenden Agglomerationsnachteilen - werden immer mehr Aktivitäten abgezweigt und gewissermaßen dezentral gestreut, dies aber nicht wahllos über die Fläche, sondern begrenzt konzentriert an günstigen Standorten. Also selbst bei einer ungesteuerten und durch großräumige Planung unbeeinflußten Entwicklung wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer zunehmenden Herausbildung von Dispersionspolen, d. h. zu Wachstum an kleineren und mittleren Städten günstiger Lage und damit zu einer relativen Schwächung der zu stark verdichteten Regionen kommen. Damit ist im Bereich der Einkommensbildung sowohl bezüglich der produzierenden wie auch dienstleistenden Arbeitsstätten eine Tendenz zu gesteigerter Standortflexibilität und zur räumlichen Streuung wirksam, freilich nach Branche und Einzelbetrieb unterschiedlich ausgeprägt. Das heißt aber nichts anderes, als daß sich die Voraussetzungen zum Umbruch einer überkommenen und unbefriedigenden Siedlungsstruktur verbessert haben. Grundsätzlich steht heute die Produktion von Gütern und Leistungen und damit die Einkommensbildung weit weniger als früher unter dem Druck, sich an bestimmten Standorten zu häufen, von spezifisch standortgebundenen Tätigkeiten abgesehen. Ähnlich liegen die Dinge bei der Versorgung der Menschen sowohl mit Gütern als auch mit Leistungen und Diensten der verschiedensten Art. Differenzierte Versorgung Auch hier hat sich dank der gesteigerten räumlichen Beweglichkeit (Individualmotorisierung) der Konsumenten sowie der Versorgungsgüter und -leistungen eine gewisse „Standortbefreiung", eine größere standörtliche Flexi-
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bilität ergeben. Im Einzelhandel - einem Bereich der materiellen Versorgung - etwa beobachten wir, daß durch entsprechend verkehrsgünstig gelegene Verbrauchermärkte und Einkaufszentren sowie durch verbesserte Lagerung in den Haushaltungen, die Versorgung einer gestreut siedelnden Bevölkerung relativ leicht möglich ist; mobile Einzelhändler mit entsprechenden Verkaufsfahrzeugen (in der Bundesrepublik bereits ihrer 5000) sowie Versandhandel vermögen darüber hinaus denkbare „Versorgungslücken" relativ leicht zu schließen. Ohnehin drängen zahlreiche Einzelhandelseinrichtungen aufgrund ihres hohen Flächenverbrauchs aus der monozentrischen Lage inmitten der Großstadt an kosten- und verkehrsgünstigere Standorte. Verbrauchermärkte entstehen, falls sie restriktive Planung nicht verhindert, an räumlich gestreuten Standorten, in logischer Konsequenz einer sich wandelnden Siedlungsstruktur und betriebswirtschaftlicher Überlegungen. Der Einwand einer zentralörtlich orientierten Planung, dadurch würden die Innenstädte ausgezehrt, überzeugt nicht. Die Einkaufsfahrten zur Deckung des täglichen oder wöchentlichen Bedarfs entscheiden nicht über die Urbanität einer Innenstadt. Dagegen sollte sich der gehobene und höchste Bedarf in einem „städtischen" Zentrum oder an einem für ein größeres Umland günstig gelegenen Standort bündeln, ggf. in räumlicher Verbindung mit weiteren traditionell städtischen, nicht täglich frequentierten Einrichtungen. Auf jeden Fall ist es aber nicht mehr notwendig, daß sich die Behausungen der Menschen, hochgradig verdichtet, möglichst nahe der Kaufhäuser oder Innenstädte drängen; so wie sie sich ja auch nicht mehr in möglichst großer Nähe zu den Arbeitsstätten häufen müssen. Es ist lediglich sinnvoll, daß Einkaufs- und Arbeitsstätten für die jeweilige Bezugsbevölkerung verkehrsgünstig liegen; das kann in einer aufgelockert bebauten Region durchaus auch weit außerhalb der alten Großstadtzentren sein. Besondere Bedeutung kommt diesbezüglich, angesichts der überkommenen Siedlungsstruktur, den zahlreichen Klein- und Mittelstädten zu. Vor allem dann, wenn sie sich in Verbindung mit der Stadtsanierung ein schönes Ortsbild erhalten haben und über ausreichend innenstädtische Einzelhandels- und Dienstleistungsfläche sowie innenstadtnahe Parkplätze verfügen, vermögen sie durchaus in vielen Warenbereichen erfolgreich mit den großen Verbrauchermärkten günstiger Verkehrslage wie auch mit den großstädtischen Kaufhäusern zu konkurrieren. Empirische Untersuchungen zeigen, daß die Bewohner städtisch-ländlicher Lebensräume trotz zumutbarer Entfernung zum großstädtischen Angebot und zu großen Verbrauchermärkten und -Zentren nach wie vor in hohem Maße bereit sind, in einer gut ausgestatteten Kleinstadt einzukaufen, sei es der anheimelnden Atmosphäre wegen - man kennt sich oft persönlich, spricht miteinander - sei es aus Zugehörigkeitsgefühl oder der kurzen Entfernungen wegen oder sei es auch aus Abneigung vor dem Verkehrsge-
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wühle und der Hektik der großen Stadt493. Gleichwie, klein- und mittelstädtische Strukturen sind auch hinsichtlich der Versorgung für viele Menschen attraktiv. Auch in anderen Bereichen der materiellen Versorgung ist man immer weniger abhängig von der räumlichen Konzentration mehrerer hunderttausend Menschen auf möglichst kleinem Areal. Das Energieangebot ζ. B. in Form von ö l , Elektrizität, Sonnenenergie, Kohle, Erdwärme etc. ist nicht auf bestimmte, verdichtet besiedelte Standorte beschränkt. Die Ver- und Entsorgung der Haushalte wird keinesfalls immer billiger, je konzentrierter die Menschen siedeln (vgl. u. a. F. GERCKE, 1976), im Gegenteil; in den besonders dicht wie auch den extrem dünn besiedelten Räumen entstehen überproportional hohe Kosten für die Erhaltung und den Ausbau einer leistungsfähigen materiellen Infrastruktur. Bezüglich der geistig-kulturellensozialen Versorgung ergibt sich ein ähnliches Bild. Eine Universität, ein Theater, ein Museum, eine Konzerthalle, ein Stadion, ein Künstlertreffpunkt, eine Diskothek etc. muß nicht aufs engste von einer Million Einwohnern umschlossen sein; wichtig ist lediglich, daß all diese Einrichtungen für die Interessenten erreichbar sind, nicht aber unbedingt zu Fuß. Wer läuft denn schon zur Universität, ins Theater, ins Museum? Das schließt nicht aus, daß, wer will, in unmittelbarer Nähe wohnen kann. Aber erweist sich das auch für diejenigen Menschen als sinnvoll, die ohnehin nur selten oder periodisch Benutzer dieser Einrichtungen sind? Zudem wächst dank verbesserter Kommunikationstechnik die „Erreichbarkeit" für eine differenzierte immaterielle Versorgung im eigenen Haushalt; die Unabhängigkeit von bestimmten Standorten des geistigen und kulturellen Lebens nimmt zu, die Gefahr regionaler geistiger Unterentwicklung nimmt ab. Auch wirksame Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge, der Alten- und Kinderbetreuung sind keinesfalls an großstädtische Siedlungsstrukturen oder hochgradig verdichtete Siedlungsweise gebunden. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Wichtig bleibt die Feststellung, daß eine räumliche Streuung versorgender Einrichtungen einschließlich motorisierter Dienste durchaus möglich ist; das schließt nicht aus, daß sich auf den unterschiedlichen Versorgungsstufen sinnvolle standörtliche Bündelungen solcher Einrichtungen ergeben. Wohnen Auch für das Wohnen hat die entwickelte Verkehrs- und Kommunikationstechnik neue Voraussetzungen geschaffen. Gewiß, es ist dank verbesserter Werkstoffe und Aufzugstechnik möglich geworden, große Bevölkerungsmengen in großen, vertikal aufragenden Baumassen unterzubringen und verdichtet wie nie zuvor zu wohnen. Einige Futurologen glauben daher, die Menschen in gewaltigen Baukörpern vereinigen zu müssen, technisch sei dies
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ja durchaus machbar. So empfiehlt etwa B. FULLER riesige 3 km aufragende Tetraeder, an deren Außenwand sich ausreichend große Wohnungen für ca. 1 Million Menschen übereinanderschichten. Dieser ganze „konstruierte Berg" vermag sogar zu schwimmen; auch kann man die einzelnen Wohnzellen beim Umzug zu einem anderen solchen Gerüst, wo auch immer gelegen, mitnehmen. Soweit, so gut; problematisch wird es dann, wenn der Mensch sich an all das technisch so Faszinierende anpassen und, um das zu erleichtern, entsprechend erzogen werden soll, wenn sträflich vereinfachend das „Wohnproblem der Welt" zu einem „Erziehungsproblem" (s. B. FULLER 1974, S. 402) wird. Dahinter steht ein gründliches Mißverstehen der eigentlichen Aufgabe der Technik. Sie soll dem Menschen nicht neue Anpassungszwänge auferlegen, sondern ihn in die Lage versetzen, leichter und aus einem größeren Angebot das auszuwählen, was ihm gemäß, was zuträgüch und seiner Entfaltung förderlich ist. Zwar hat die Technik die „Wohnmaschine" hervorgebracht, aber doch auch zahllosen Menschen die Möglichkeit eröffnet, im Einfamilienhaus zu wohnen; durch verbesserte Technik wurden ehedem „abgelegene" Räume für Personen, Güter und Informationen leicht erreichbar und so für die Aufsiedlung neu erschlossen. Das ist einer der Gründe, warum gegenwärtig vergleichsweise abgelegene Räume wie etwa in der Bundesrepublik die Landkreise Ammerland, Friesland, Gifhorn, Kleve oder Rosenheim Wanderungsgewinne aufweisen. Es geht also nicht darum, das technisch Machbare und Reizvolle zu verwirklichen, sondern durch Technik soll die Vielfalt der Wohnmöglichkeiten gesteigert werden, damit das jeweils erwünschte Wohnen verwirklicht werden kann. Aus guten Gründen (siehe obige Zielsetzung) hält die Mehrzahl der Menschen, wie empirische Untersuchungen belegen, das Wohnen im Einfamilienhaus für erstrebenswert. Ein diesbezügliches besseres und preisgünstigeres Angebot wäre durch eine entsprechende Flächennutzungsplanung zu schaffen. Von Flächenknappheit kann umso weniger gesprochen werden, je stärker das Flächenpotential außerhalb der Verdichtungsgebiete, etwa im Bereich der Mittelstädte, beansprucht wird, was sich zudem mit standörtlichen Tendenzen der Wirtschaft deckt. Dort, wo jedoch stark verdichtetes Wohnen bevorzugt wird oder nicht zu vermeiden ist, müssen ausreichend Ausgleichsmöglichkeiten im Sinne alternativer Freizeitaufenthalte, etwa in ländlichen Wochenendhäusern, Zweitwohnsitzen etc. angeboten werden. Daß allerdings auch eine allgemeine und dünne Streusiedlung nicht sinnvoll ist, liegt auf der Hand; eine gewisse Bündelung aufgelockerter bebauter Wohnbereiche gewährt neben den Vorteilen des bodennahen Wohnens zahlreiche Kontakt-, Versorgungs- und Erschließungsvorteile, unter gleichzeitiger Sicherung der erwünschten Distanz. Bereits Siedlungskörper von 30 000-60 000 Einwohnern - die sich auch
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aus mehreren locker bebauten, räumlich voneinander abgesetzten Siedlungszellen zusammensetzen können - vermögen diejenigen grundversorgenden Einrichtungen anzubieten, die den durchschnittlichen Ansprüchen innerhalb unserer Zivilisation gerecht werden. Das schließt keineswegs aus, daß gleichzeitig an verkehrsgünstigen Standorten die „höheren" Einrichtungen für eine größere Bevölkerung bereitstehen. Das Wohnen der Menschen kann also durchaus weit stärker als in den Großstadtregionen und Verdichtungsgebieten räumlich gestreut werden, ohne „Abgelegenheit" entstehen zu lassen. ökologisch sinnvolle Freihaltung Dieser wichtige Aspekt kann hier nur andeutungsweise berührt werden (vgl. u. a. W . LENDHOLT 1 9 7 4 ) . Im allgemeinen lassen sich bei einer aufgelockerten Siedlungsstruktur Umweltbelastungen leichter ausgleichen als in großen Agglomerationen, wo sie entsprechend kumuliert auftreten. Vorteilhaft wäre es, wenn zwischen den Bereichen intensiverer oder ökologisch belastender Nutzung (etwa bestimmten Gewerbegebieten) Zonen ökologisch unbedenklicher Nutzungen (etwa Mischwald) freigehalten werden, ökologische Folgewirkungen spezifischer Nutzungen sind im allgemeinen umso weniger problematisch, je größer der räumliche Abstand zwischen den Verursachern und den Betroffenen und je größer der Raum zum Ausgleich dieser ökologischen Belastungen ist. Gleichzeitig eröffnen von Bebauung freigehaltene Flächen zwischen den verschiedenen Nutzungsarten vielfältige Möglichkeiten zur Befriedigung der in der Zieldiskussion erörterten ergänzenden Ansprüche. Integriert man die vier Aspekte der Lebensraumnutzung unter der Berücksichtigung ihrer vielfältigen räumlichen Verteilungsmöglichkeiten, deutet sich ein Muster der Flächennutzung an, das mit herkömmlichen Vorstellungen von Stadt und Land wenig gemein hat. Eine nur begrenzt verdichtete und zugleich aufgelockerte Siedlungsstruktur wird sichtbar, die eine außerordentlich große Vielfalt sich ergänzender Raumnutzungen auf vergleichsweise kleiner Fläche anbietet. Zahlreiche Möglichkeiten der Kombination der angesprochenen Raumnutzungsaspekte eröffnen sich, die nicht als typisch „städtisch" oder „ländlich" anzusehen wären, sondern sowohl ursprünglich stärker „städtische" oder „ländliche" Nutzungselemente einschließen und einander ergänzend verbinden (s. Abb. 7 und 8). 2.4.1.2 Flächenbilanz und Nutzungsmosaik Bei den Überlegungen zur Konzeption des Stadt-Land-Verbundes könnten Zweifel auftauchen, ob denn in den relativ dicht besiedelten Industrieländern überhaupt genügend Fläche für die beabsichtigte feingliedrige Zuordnung
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der unterschiedlichen Flächennutzungen zur Verfügung stünde. Bevor das flächenbezogene Leitbild konzeptionell und kartographisch weiter verdeutlicht wird, soll daher nachfolgend aufgezeigt werden, welche Flächenzuweisungen für die verschiedenen Hauptnutzungsarten u. E. zweckmäßig wären, um den empfohlenen Stadt-Land-Verbund zu verwirklichen. Dabei handelt es sich zunächst spekulativ um Maximalannahmen, mit deren Hilfe geprüft werden soll, ob überhaupt insgesamt genügend Fläche vorhanden sei. Flächenbilanz Bei dieser fiktiven Flächenbilanz wird für verschiedene Nutzungen ein weit höherer Flächenanspruch, als gegenwärtig realisiert, unterstellt. Es muß betont werden, daß es sich dabei um Annahmen handelt, die sich nicht mit dem gegenwärtigen Flächenverbrauch dieser Nutzungen decken, jedoch hinsichtlich des Leitbildes des Stadt-Land-Verbundes als vertretbar erscheinen. Es sind also durchaus auch andere Flächenzuweisungen vorstellbar. Auch wäre es abwegig, anzunehmen, daß die vorgeschlagene Aufschlüsselung der Flächen sich in allen Teilräumen, etwa der Bundesrepublik, verwirklichen ließe. Die unterschiedlichen räumlichen Voraussetzungen würden ohnehin beträchtliche Abweichungen erzwingen; das Modell des StadtLand-Verbundes müßte ohnehin von Region zu Region auf unterschiedliche Weise verwirklicht werden. Die vorgestellten Flächenzuweisungen stellen also lediglich leitbildorientierte Durchschnittsdaten für eine Möglichkeit, den gebündelt aufgelockerten Stadt-Land-Verbund zu verwirklichen, dar. In einem zweiten Schritt wird dann zu prüfen sein, ob solche leitbildorientierten Flächenansprüche der nachfolgend aufgeführten 6 Hauptnutzungsarten angesichts des vorgegebenen Flächen- und Menschenpotentials in der Bundesrepublik überhaupt befriedigt werden können und ob eine großzügigere raumbezogene Lebensweise, wie sie das Leitbild vorsieht, überhaupt möglich ist. Wohnfläche
Für jede Familie (hier vier Personen) werden etwa 2000 qm vorgesehen; das würde den Bau von Ein- oder Zweifamilienhäusern bei ausreichend großen Gärten, für Freizeit oder Versorgung mit Gartenbauprodukten, erlauben. Für die etwa 20-30% der Bevölkerung, die „freiwillig", also trotz entsprechenden alternativen Angebots, in verdichteter Bebauung leben möchten und daher zunächst weniger Fläche benötigen, stünde das noch verbleibende, nicht beanspruchte Wohnflächenpotential für ländliche Zweitwohnsitze, Freizeitparzellen etc. zur Verfügung. Wie auch immer die Nutzung für Wohnzwecke konkret gestaltet wird - sei es durch das Einfamilienhaus mit
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großem Grundstück oder durch die Hochhauswohnung oder durch doppelte Wohnsitze - die durchschnittliche Bereitstellung von 2000 qm pro Familie eröffnet einen beträchtlichen „Spielraum" für wunschgemäßes Wohnen. Um die Flexibilität dieser Flächennutzung zu erhöhen, erscheint es sinnvoll, die dafür vorzusehenden Areale umfangreicher auszuweisen als sie unter der obigen Prämisse beansprucht werden. Weitere 1000 qm und damit in der Summe 3000 qm verfügbare Wohnfläche erhöhen die erwünschte Angebotsvielfalt sowie den standörtlichen Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum und lösen zudem eine willkommene, den Wohnlandpreis senkende Tendenz aus. Soweit noch nicht beansprucht, wird diese potentielle Wohnfläche (Vorsorgefläche) etwa agrarisch oder auch gar nicht genutzt. Arbeitsstätten- und Versorgungsfläche (i. w. S.) Hierbei wird insgesamt zunächst so viel Fläche vorgesehen, daß sich für jede Familie (hier vier Personen) ca. 800 qm ergeben. Auf dem so verfügbaren Flächenpotential sind sowohl die Industrieanlagen als auch alle Versorgungseinrichtungen i. w. S. (vom Einzelhandelszentrum bis zur Schule, den Wasserwerken, den Mülldeponien, den Verwaltungsbauten etc.) unterzubringen. Damit stünde ein gegenüber dem jetzigen Stand weit mehr als verdoppeltes Flächenareal zur Verfügung. Eine Durchsicht der städtebaulichen Literatur zeigt, daß im Durchschnitt etwa 250 qm an Arbeits-, Gemeinbedarfs- und Versorgungsfläche angesetzt werden; unser Ansatz bedeutet also eine Verdreifachung dieser städtebaulichen Richtzahl. Ungeachtet dessen erhöhen wir das Flächenpotential nochmals um die Hälfte des obigen Ansatzes, um zu erreichen, daß durch einen latenten Flächenüberschuß und ein preisgünstiges vielfältiges Angebot die erwünschte Flexibilität und Variabilität der Nutzung sichergestellt ist. Unsere Flächenausweisung dürfte, wenn wir insgesamt eine potentielle Arbeitsstätten- und Versorgungsfläche von 1200 qm pro Familie (300 qm pro Einwohner) vorsehen, hinreichend großzügig und vorsorgend sein. Verkehrsfläche Die angestrebte aufgelockerte Siedlungsstruktur würde eine Ergänzung und teilweise Ausweitung des Verkehrsnetzes und insbesondere des Straßennetzes erforderlich machen. Zwar ist in der Bundesrepublik die Rächenerschließung durch Straßen bereits recht gut; verdoppeln wir aber den bisher für die Verkehrserschließung beanspruchten Flächenanteil auf 1500 qm pro Familie, so decken wir die diesbezüglichen Ansprüche hinreichend ab. Besondere Flächen (städtebauliche Freiflächen) Hierunter werden die Flächen für öffentliche Park- und Gartenanlagen, Friedhöfe und Sportgelände, aber auch Flugplätze, militärisches Übungsgelände etc. und vor allem auch die gesamten Gewässerflächen erfaßt. Für
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dieses Bündel unterschiedlicher Raumnutzungen sollte trotz der beabsichtigten aufgelockerten Wohnweise mehr als eine Verdoppelung des gegenwärtigen bundesdurchschnittlichen Flächenanteils möglich sein, so daß ein durchschnittliches Flächenpotential von 1000 qm pro Familie unterstellt wird; was ζ. B. angesichts des Freizeitwertes der Gewässerflächen als durchaus gerechtfertigt erscheint. Wie groß der so eröffnete Spielraum wäre, zeigt sich, wenn man bedenkt, daß in der städtebaulichen Literatur für die städtisch besiedelte Fläche ein Freiflächenanteil von unter 50 qm pro Einwohner (200 qm pro Familie) angesetzt wird. Agrarfläche Hier gehen wir von 5000 qm pro Familie aus. Diese Fläche, die angesichts der bereits erfolgten und absehbaren Produktivitätssteigerungen der Agrarproduktion für eine weitestgehende Selbstversorgung ausreichen würde, ergäbe in ihrer Summe etwa diejenige landwirtschaftliche Nutzfläche, die nach dem zu erwartenden Schrumpfungsprozeß (s. Kap. 2.2.4) weiterhin in der Bundesrepublik bewirtschaftet würde. Selbst wenn die einzelne Familie unter Anwendung moderner Verfahren die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln anstreben würde, erwiese sich ein solches „Familienareal" als ausreichend, besonders wenn noch Teile der ja recht großzügig bemessenen Wohnfläche (bzw. des Gartens) einbezogen würden. Lassen wir offen, ob eine solche Selbstbewirtschaftung sinnvoll wäre; auf jeden Fall dürfte sich die insgesamt vorgesehene Agrarfläche als ausreichend erweisen. Waldfläche Der Anteil der von Wald und Holzungen bestandenen Fläche wird mit ca. 4500 qm pro Familie als etwa gleichbleibend unterstellt. Trotz der vorgeschlagenen aufgelockerten Besiedlung droht also keineswegs eine „Entwaldung". Allerdings mag sich, auch unter Beachtung des ökologischen und Freizeit-Aspekts, eine begrenzte räumliche Standortverschiebung ergeben. Auch dürfte manche „Waldregion" stärker als bisher für Wohnzwecke erschlossen werden. Gleichzeitig wird sich die Neuanlage gliedernder und schützender Waldzonen in den Siedlungsräumen empfehlen. Des Bürgers Möglichkeit, sich im Wald, auf Wiesen oder zwischen Feldern und Gehölz, also in „offener Landschaft" zu bewegen, muß nicht eingeschränkt, sondern kann ausgeweitet werden. Addiert man die „Flächenzuweisung" der verschiedenen Nutzungskategorien, so ergibt sich für jede Familie ein durchschnittlicher Flächenanteil von etwa 17 000 qm. Dieser Wert erscheint auf den ersten Blick als so hoch, daß man meinen möchte, es sei in den dicht besiedelten Industrieländern unmöglich, für die Menschen soviel „Raum" vorzusehen. Aber dieser Eindruck
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trügt. Denn die Summe all dieser den Bewohnern zugedachten Flächen ergibt in etwa die Fläche der Bundesrepublik. Selbst die relativ hohe Besiedlungsdichte dieses Industrielandes erlaubt also eine großzügigere Raumbeanspruchung für viele Lebensbereiche als bisher praktiziert wurde. Wir stehen nicht unter dem Diktat allgemeiner Flächenknappheit, sondern lediglich unter den Zwängen einer fragwürdigen Siedlungsstruktur, die eine Konsequenz unserer kultur- bzw. gesellschaftsspezifischen Entscheidungen sind, nicht aber einer zwangsläufigen lebensräumlichen Beengung. Unsere bisherigen raumbezogenen Leitvorstellungen, unsere Verteilungsmuster der Flächennutzung sind fragwürdig und schöpfen die Möglichkeiten, die das räumliche Potential eröffnet, noch nicht systematisch aus. Eine allmähliche Umorientierung der Flächennutzung in der angedeuteten und aufgeschlüsselten Weise ist daher durchaus zu erwägen, zumal die dafür erforderliche Fläche vorhanden ist. Mit einer kräftigen Bevölkerungszunahme, die unsere Vorstellungen modifizieren müßte, ist vorerst nicht zu rechnen. Unter Zugrundelegung der obigen Flächenzuweisung ergäbe sich für die Bundesrepublik die folgende prozentuale Aufteilung der Flächennutzung (die Abweichung gegenüber der momentanen Situation zeigt die zweite Spalte):
Flächennutzung nach Hauptnutzungsarten Flächenkategorie
Wohnfläche Arbeitsstätten- und Versorgungsfläche (i.w.S.) Verkehrsfläche Besondere Flächen Agrarfläche Waldfläche (einschl. Ödland etc.) Gesamtfläche
Prozent der Gesamtfläche* vorgeschlagen gegenwärtig 18 7 9 6 29 31 100
4,5 4,5 4,5 3 56 32 100
* Vgl. auch realitätsnah modifizierte Aufteilung in der weiter hinten folgenden Tab. Flächennutzungsanteile beim Stadt-Land-Verbund
Eine solche prozentuale Flächenaufteilung besagt natürlich nichts über die tatsächlichen Möglichkeiten der Raumnutzung. Diese werden entscheidend von der räumlichen Mischung der Nutzungsarten und von ihrer wechselseitigen Erreichbarkeit bzw. vom Muster der Flächennutzung beeinflußt. Daher soll nachfolgend das für die Konzeption des Stadt-Land-Verbundes typische Mosaik der Flächennutzung erörtert werden. Allerdings wird die vorgeschlagene prozentuale Aufteilung der Flächennutzung einschließlich des damit
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zugeteilten Flächenanspruchs zugrundegelegt. Dies wird übertragen auf einen fiktiven Raum mit der durchschnittlichen Besiedlungsdichte der Bundesrepublik (ca. 250 Ew./km2) und einer Bevölkerungszahl von ca. 1 Mill. Menschen. Anhand einer solchen eingebildeten bundesdurchschnittlichen Raumzelle, und damit zumindest an die Wirklichkeit angenähert, soll das flächenbezogene Leitbild des Stadt-Land-Verbundes verdeutlicht werden. Nutzungsmosaik (siehe auch Zeichnung in der Kartentasche sowie Abb. 8 und 9) Ein Mosaik kann sich aus großen oder kleinen Steinchen zusammensetzen. Ähnlich können in der Flächennutzung jeweils große oder kleine Flächen unterschiedlicher Nutzung vorherrschen; auf gleichem Areal wäre dann das Muster der Nutzung grobkörniger oder feiner strukturiert. Will man Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten unter möglichst geringem Verkehrsaufwand, wäre eine feingliedrige Mischung zu bevorzugen. Dieser aber werden dort Grenzen gesetzt, wo die Funktion einzelner Flächen zufolge mangelnder Größe beeinträchtigt wird. In einem Mosaik kann sich aber auch die Vielzahl der bunten Steinchen in kompakten Figuren eng zusammendrängen oder aufgelockert über die Fläche verteilen. Ähnlich kann eine Siedlungsstruktur stark verdichtet sein und eine Vielzahl von Nutzungen, also etwa Gewerbebetriebe, Versorgungseinrichtungen und Wohnungen, auf engem Raum konzentrieren oder aufgelokkert dezentral in größerem Raum streuen. Zu große Verdichtung erhöht die wechselseitige Beeinträchtigung, zu große Streuung erhöht den Verkehrsaufwand und erschwert die Herausbildung eines vielfältigen „Urbanen" Angebotes. Der Meinungsstreit, ob nun die Auflockerung und „Durchgrünung" oder die Verdichtung und „Urbanisierung" unsere überkommenen Stadtund Siedlungsstrukturen zu retten vermögen, ist daher unbefriedigend. Statt dessen erweist sich ein Nutzungsmosaik als günstig, das unterschiedliche Nutzungen feingliedrig und leicht zugängig, aber störungsfrei miteinander verfingert und dadurch Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten eröffnet, ein Nutzungsmosaik, das begrenzt verdichtet ist, um spezifisches Angebot zu konzentrieren und das aufgelockert ist, um großzügigere raumbezogene Lebensformen (ζ. B. des Wohnens, des Naturbezugs etc.) zu ermöglichen. Einseitige Nutzungen auf großen Flächen sowie starke punktuelle Verdichtung zu vieler Nutzungen erscheinen als problematisch; dagegen wird ein feingliedriges Mosaik, das gleichzeitig aufgelockert und - wo sinnvoll - begrenzt verdichtet unterschiedliche Nutzungsformen kombiniert, empfohlen. Nun kann man ein solches feingliedriges, städtische und ländliche Elemen-
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te verbindendes Mosaik natürlich in verschiedenen Größenordnungen bzw. auf verschiedenen Ebenen verwirklichen. Man kann ζ. B. städtischen Wohnhäusern, die sich entlang einer dicht bebauten Straße reihen, große Innenhöfe oder bis zur nächsten Häuserzeile reichende Gärten zuordnen und so durch Bepflanzung und gärtnerische Nutzung auf kleinräumlicher Ebene „ländliche" Elemente mit den Stadthäusern verbinden. Auf diese Weise bewahrten viele mittelalterliche und neuzeitliche Städte ihren Bewohnern wichtige Ausgleichsräume; nicht weit vom Haus hatte man das Angebot des städtischen Marktes, hinter dem Haus fand man das private grüne Refugium und manche Ergänzung für den Küchenzettel. Die dichter werdende Bebauung der Städte zerstörte diesen kleinräumlichen Verbund weitestgehend; Grünanlagen zwischen den Mietblocks vermögen ihn kaum zu ersetzen. Man kann aber auch gewissermaßen in nächst höherer Größenordnung städtische und ländliche Elemente so verbinden, daß nahe der Wohngebiete sich „offenes" Land befindet und so Gärten, Ackerland oder Waldstreifen die Wohnbereiche gliedern. Auch die unterschiedlich großen Zentren der Versorgung, also Verbrauchermärkte, die Anlagen des kulturellen und geistigen Lebens etc. liegen nahe oder inmitten grüner Bereiche. Seen und Teiche reichen bis an die Wohngebiete heran oder schieben sich zwischen größere städtische Bauten. Auch die Industriebetriebe überziehen nicht geschlossen große Areale, bilden keine Industrieviertel, sondern gruppieren oder reihen sich in durchgrünten Zonen. Ein Sportzentrum etwa geht langsam in ein Waldgebiet über, eine Konzerthalle öffnet sich zum See, den Segler nutzen, der aber auch der Fischzucht dient; am anderen Ufer erheben sich einige Terrassenhäuser, von denen aus man hinüberblickt zu Wochenendhäusern, zu Wiesen, auf denen das Heu gewendet wird. Ein solches Mosaik verbindet und ergänzt gewissermaßen auf mittlerer Ebene Städtisches und Ländliches. Man könnte aber genauso, in gewissermaßen regionaler Dimension, den Stadtregionen Erholungsräume zuweisen, könnte breite Schnellstraßen bauen, die den an Wochenenden hin- und zurückströmenden Verkehr vermitteln, so wie etwa die Bewohner der Rhein-Main-Ballung in die Randhöhen des Taunus fluten. Großen dicht bebauten Stadtgebieten stehen dann draußen Seen und Wälder zur Erholung gegenüber, oder man wohnt außerhalb in neuen Komplexen, in „Entlastungsorten", nicht weit von Agrar- oder Waldflächen, fährt aber dann häufig und aus vielerlei Gründen konzentrisch ins großstädtische Zentrum. Man kann also städtisch und ländlich genutzte Flächen auch auf großräumiger Ebene einander zuordnen und miteinander verbinden. Auch das ist notwendig und häufig ist es ein von der Regionalund Städteplanung verfolgtes Ziel, den dicht besiedelten Regionen wenigstens diese regionale, wenn auch verkehrsaufwendige, lebensräumliche Ergänzung zu ermöglichen.
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Das nachfolgend beschriebene Nutzungsmosaik des Stadt-Land-Verbundes bezieht sich in erster Linie auf die genannte mittlere Ebene, ohne Verbundphänomene in anderer Dimension zu mißachten (Abb. 8). Entscheid e t ist, daß der Stadt-Land-Verbund mittlerer Ebene diejenige „Körnung" bzw. Dimensionierung in der Flächenzuordnung verwirklicht, die bestmögliche wechselseitige Ergänzung schafft, wechselseitige Beeinträchtigung aber vermeidet, das läßt sich jedoch angesichts der Vielfalt nur annähernd quantifizieren (siehe Zuordnungs- und Dimensionierungskriterien in Tab. Flächennutzungsanteile . ..). Die Wohnbereiche, vorwiegend aufgelockert, bodennah bebaut (zu etwa 70%) aber bisweilen auch verdichtet (zu etwa 30%), konzentrieren sich nicht an wenigen ausgewählten Schwerpunkten oder innerhalb einer Agglomeration, sondern verteilen sich begrenzt gebündelt über die Region. Ein möglichst großer Prozentsatz der Gesamtfläche (fast 20%) steht für unterschiedlichstes Wohnen, den zentralen räumlichen Lebensaspekt, zur Verfügung; hier findet sich genügend Eigenraum, Distanzraum, Schutzraum (s. o.) mit seinen Möglichkeiten für die Entfaltung, die Gestaltung und den Rückzug, für Ruhe und Aktivität. Für doppelte Wohnsitze (Sommer-Winter; „Stadt"„Land", für Freizeitparzellen etc.) ist ausreichend Raum vorgesehen. Auch mangelt es zufolge der Gärten, des nahen Waldes, der Felder und der Freizeitflächen (s. Abb. 8) nicht an Möglichkeiten zum Kontakt mit der Natur. Wo es vertretbar ist und die Erschließungskosten übernommen werden, sollte durchaus auch Streusiedlung möglich sein, nicht nur für Landwirte, sondern auch für Bewohner mit solcherart spezifischen Wohnwünschen. Entsprechend der vorherrschend gebündelten, aber doch über die Region verteilten Wohnbebauung verteilen sich auch die vielfältigen Einrichtungen der materiellen Versorgung und des kulturellen und sozialen Lebens relativ breit gestreut im Raum; sie finden ihren Standort nicht innerhalb einer festgefügten Hierarchie „zentraler Orte", sondern jeweils dort, wo sie für die entsprechende Bezugsbevölkerung günstig zu erreichen sind (zur Fragwürdigkeit der zentralörtlichen Hierarchie siehe Kap. 2.4.1.4). Das kann durchaus dazu führen, daß sich Einrichtungen, die sich auf die gleiche Bevölkerung beziehen, entsprechend zentral gelegen konzentrieren. Aber dabei kommt es zu keiner feststehenden zentralörtlichen Hierarchie. Auch können keine abgestuften Normgrößen für die Siedlungseinheiten festgelegt werden, denn die verschiedenen, das reine Wohnen ergänzenden Einrichtungen der materiellen, sozialen und geistigen Versorgung bedürfen, um effizient geführt zu werden, oft recht unterschiedlich großer und bisweilen auch geänderter Bezugsbevölkerung. Das schließt jedoch nicht aus, daß sich die Wohngebiete
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zu günstiger Größenordnung gruppieren, ohne dabei unbedingt ein gemeinsames Areal geschlossen zu überziehen. So erweisen sich gegenwärtig Einzugsbereiche von ca. 3000-5000 Menschen für mehrere grundlegende und möglichst wohnungsnahe Dienstleistungen als vorteilhaft, lassen aber
I landwirtschaftlich
y*
I genutzte Fläche
£
I Holzung (einschl. Ödland)
s Schnellstraßen
unterschiedlicher Art
* kreuzungsfreie - Hauptstraßen
f. versorgende u. d i e n s t l e i s t e n d e —Ergänzungsfl. Arbeitsstätten u. Einrichtungen unterschiedlicher Art Vorbehalts«.
iL
überregionale
a P a r k - u n d Grünanlagen
-Fläche
l
überregionales Bahnnetz
1 Fläche für W a l d u.
ι Ii
^ H Fläche 1 '· produzierende A r b e i t s s t ä t t e n 1 > unterschiedlicher Art i Vorbehaltsfl.J (Industriegelände)
Abb. 8:
Fläche f. ergänzendes Freizeitwohnen
/1 Mill. Einwohner bei 250 E w . / k m
2
I
Raumbezogenes Leitbild „Stadt-Land-Verbund"
Fläche f. aufgelockerte bodennahe Wohnweise Fläche f. begrenzt verdichtete mehrstöckige W o h n b e b a u u n g
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zwangsläufig viele Versorgungsbedürfnisse offen; zudem können veränderte Ansprüche und Gewohnheiten diese Größenordnung rasch uninteressant werden lassen. Je nach der gewünschten Versorgungsstufe kann man also recht unterschiedlich große Siedlungseinheiten als vorteilhaft und wünschenswert ansehen. Allerdings zeichnet sich gegenwärtig eine Größenordnung von 25 000-30 000 Ew. ab, die eine erste Komplettierung einer Grundausstattung mit dienstleistenden Einrichtungen erlauben würde, die den derzeitigen Ansprüchen in etwa gerecht wird und in den verschiedenen Lebensbereichen vielfältige Entfaltungschancen eröffnet. Im Bereich einer solchen Bezugsbevölkerung fände sich dann etwa die gymnasiale Ausbildungsstufe ebenso wie ein Arzt- und Gesundheitszentrum, ein Sportzentrum und Hallenbad, ein Verbrauchermarkt und Einkaufszentrum etc. Auch erweist sich diese Größenordnung für viele Aspekte des kommunalen Lebens und für die Herausbildung eines Zugehörigkeitsgefühles als relativ günstig, wie auch als Ansatzpunkt für Gewerbebetriebe etc. Ein Raumgebilde deutet sich an, das sich zufolge der in dieser Größenordnung möglichen vielfältigen und sich ergänzenden Wechselwirkungen als sinnvolle siedlungsstrukturelle Einheit, als Grundversorgungsbereich, als Funktionsbereich empfiehlt495. Keineswegs müssen sich aber die Wohngebiete innerhalb eines solchen funktionalen Verflechtungsbereichs an einem Schwerpunkt konzentrieren. Die Wohnbereiche können sich durchaus räumlich verteilen und sich mit dem „offenen" Land verfingern; es dürfte sich jedoch als vorteilhaft erweisen, wenn jeweils etwa 30 000 Ew. so siedeln, daß räumliche Zugehörigkeit und gute verkehrsmäßige Verknüpfung gegeben sind. Ein gemeinsamer zentraler Bereich mit dort gehäuften Einrichtungen mag einige Kontaktvorteile erbringen, aber die einzelnen Einrichtungen können sich auch innerhalb dieser größeren Siedlungszelle auf unterschiedliche funktionsgerechte Standorte verteilen; das Einzelhandelszentrum muß nicht neben dem Gymnasium stehen. Auch werden sich in dichter besiedelten Räumen die Einzugsgebiete solcher Einrichtungen überschneiden oder zu höheren Ausstattungsstufen integrieren. Aber selbst bei größeren Bevölkerungsverdichtungen dürfte sich die genannte Größenordnung als funktionsfähig erweisen und eine sinnvolle Zelle für die Auflockerung und Gliederung großflächig verdichteter Regionen darstellen. Es sei jedoch betont, daß die empfohlene lockere Gruppierung zu derartigen Funktionsbereichen keinesfalls anders dimensionierte Zuordnungen ausschließt und auch der allgemein empfohlenen gebündelten Streuung der Siedlungsbereiche keineswegs widerspricht. Es soll lediglich sichergestellt werden, daß die Menschen von ihren Wohngebieten aus in der Lage sind, möglichst leicht, also unter geringem Verkehrsaufwand, die grundlegenden
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Dienstleistungen, fundamentale Einrichtungen des Bildungs- und Gesundheitswesens, der sozialen Betreuung, des Handels und des kulturellen und politischen Lebens, des Sports etc., wie auch ein erstes wohnungsnahes Arbeitsplatzangebot in Anspruch zu nehmen. Das erzwingt keineswegs die punktuelle Konzentration der Bevölkerung. Zudem befinden sich ja ohnehin zahlreiche heute beanspruchte Einrichtungen gewissermaßen außerhalb dieses Bevölkerungskreises von ca. 30 000 Ew., und es kann je nach persönlicher Bewertung auch sinnvoll sein, den Wohnplatz in der Nähe zu solchen übergreifenden bzw. „höheren" Einrichtungen zu suchen. Meist wird es sich jedoch empfehlen, in geringer Distanz zur am häufigsten beanspruchten Grundversorgung zu wohnen und einen etwas höheren Verkehrsaufwand zum Besuch seltener frequentierter Einrichtungen oder der entsprechenden Zentren in Kauf zu nehmen. Grundsätzlich kann die Vielfalt sich ergänzender Einrichtungen und Flächennutzungen umso größer sein, je größer die Bezugsbevölkerung ist, der sie zugeordnet sind, vorausgesetzt, es steht jeweils genügend Fläche zur Verfügung. Allein deswegen ist Verbund und günstige Erreichbarkeit im Rahmen einer größeren Region, die möglichst bis zu 1 Mill. Ew. umfaßt, zu organisieren; der empfohlene Grundversorgungsbereich kann lediglich hilfreich zur Abdeckung einer unteren Versorgungsstufe sein; die durch ihn ermöglichten minimalen „städtischen" Elemente reichen bei weitem nicht aus, den angestrebten Stadt-Land-Verbund zu verwirklichen. Bisweilen sammeln sich mehrere untere wie höhere Einrichtungen und Stätten, die der Kontaktnahme, der mitmenschlichen Aktivität, der Geselligkeit, dem Beisammensein wie auch der gemeinsamen Arbeit und der Versorgung dienen, an verkehrsgünstigen Standorten, ohne daß sich in unmittelbarer Nähe die gesamte zu versorgende Bevölkerung konzentrieren muß. Die Bevölkerung verteilt sich in einem größeren Raum, frequentiert aber im Bedarfsfall diesen Sammelpunkt eines u. U. gehobeneren Angebotes ebenso wie die ihr näher gelegenen Einrichtungen der Grundversorgung. Es ist aber auch möglich und vertretbar, daß an einem solchen Punkt gesteigerten Angebotes eine konzentrierte „städtisch" verdichtete Wohnbebauung entsteht. Jedoch sollten sich diese verdichteten „zentralen" Wohnbereiche schon nach kurzer Distanz in Bänder und Zonen aufgelockerter Wohnbebauung auflösen; so bleibt der Durchmesser solcher verdichteter Baugebiete meist unter 1,5 km; locker bebautes oder „offenes" Land, Parkanlagen oder Forstflächen sind stets nahe (siehe Abb. 8). Zudem stehen, vor allem den verdichtet Wohnenden, in relativ geringer Entfernung beträchtliche Flächen für ergänzendes aufgelockertes Freizeitwohnen unterschiedlichster Form zur Verfügung. Im Rahmen des empfohlenen Stadt-Land-Verbundes werden sich also
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auch „städtische" Kristallisationspunkte mit einer Bündelung hochwertigen Angebotes herausbilden, durchaus umgeben von städtisch verdichteter Wohnbebauung, aber diese verliert sich rasch im Umland. Je nach den regionalen Voraussetzungen ist es dabei bisweilen auch vertretbar, daß mit kompakten Baukörpern zellenhaft verdichtete Bebauung entsteht, in der mehrere Tausend Menschen leben und Dienstleistungen für die weit größere Bevölkerung des Umlandes bereitgestellt werden. Solche ggf. auch über mehrere Plattformen geschichtete städtische Gebilde dürfen jedoch keine Größenordnung annehmen, durch die der Zugang zu den Ausgleichsräumen, zum naturnahen Bewegungs- und Erlebensraum erschwert oder durch zu große Menschenmassen hinfällig wird. So sollte man nach ca. 10 Minuten „im Freien" sein können, mehr als 3-4 qkm kompakt zu überbauen und mehr als ca. 50 000 Ew. darauf zu konzentrieren, erscheint problematisch. Das schließt nicht aus, daß sich ggf. mehrere solcher größerer Zellen, gemischt mit kleineren und jeweils voneinander hinreichend räumlich getrennt, innerhalb eines größeren Siedlungsraumes locker gruppieren496. Dabei wäre es keineswegs unbedingt erforderlich, gewaltige Hochhausbauten zu errichten; bei einer flachen Diagonalbebauung können ζ. B. mit Reihenhäusern auf einer Fläche von 1 qkm bereits fast 10 000 Ew. siedeln. Aber auch bei etwas stärker aufgelockerter bodennaher Bebauung lassen sich durch zellenhafte bzw. bandartige Zuordnung innerhalb einer insgesamt aufgelockerten Siedlungsstruktur Besiedlungsdichten erzielen, die hinsichtlich der infrastrukturellen und dienstleistenden Versorgung als vorteilhaft und kostengünstig anzusehen sind. Im Rahmen des Leitbildes eines ausgewogenen Stadt-Land-Verbundes ist also unter bestimmten gebietlichen Bedingungen auch verdichtete Besiedlung in kompakten Bauzellen unterschiedlicher Größe zulässig, niemals aber als durch die Planung erzwungener Regelfall, sondern lediglich als Angebot. Im allgemeinen jedoch sind hochgradig kompakte und vielstöckige Stadtgebilde auf engstem Raum und der damit verbundene Dichtestreß zu vermeiden. Strikt abzulehnen sind jene Kolossalbauten höchster Bewohnerverdichtung, wie sie etwa F . L. WRIGHT mit seinem 1600 m hohen Turm, B. FULLER mit gewaltigen Wohnpyramiden oder P. SOLERI mit seinen, einer Arche ähnelnden multifunktionalen Gebilden präsentieren; sie überfordern den Menschen und mißachten die Vielfalt seiner lebensräumlichen Belange. Statt dessen sollen die im Modell des Stadt-Land-Verbundes vertretbaren Zellen einer verdichteten Bebauung überwiegend so angelegt sein, daß zwischen den verschiedenen Baukomplexen noch immer gliedernde Grünanlagen bleiben und daß typisch „städtische" Bauten, wie Verwaltungszentren, Finanzzentren oder Einkaufsstätten des höchsten Bedarfes, Kultur- und Bildungsstätten etc., nicht in einem einzigen Riesenbau gemischt mit Wohn-
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komplexen komprimiert werden. Auch sollen schon in geringer Entfernung von der stärker verdichteten Wohnbebauung aufgelockert bebaute, durchgrünte Wohnbereiche beginnen. Zahlreiche für die gesamte Bevölkerung relevante Einrichtungen, wie etwa ein größeres Theater-, Konzert- und Kulturzentrum oder eine große vielfältige Sportanlage, ein Vergnügungszentrum etc., müssen keinesfalls inmitten einer verdichtet bewohnten „kompakten" Stadtzone liegen, müssen nicht aufs engste von einer möglichst großen Bevölkerungszahl umklammert sein, sondern können an einem für die gesamte, gestreut-gebündelt siedelnde Bevölkerung gut erreichbaren Punkt lokalisiert sein. Durchaus werden sich also Brennpunkte des öffentlichen Lebens, Bereiche, an denen Gelegenheit zu vielfältigen Kontakten besteht, herausbilden. Zu vermeiden dagegen ist die Entstehung geschlossen und dicht besiedelter, weit ausgreifender Stadtareale, ebenso wie die von vielen Architekten und Städtebauern so empfohlene Errichtung hochgradig verdichteter riesiger kompakter Stadtgebilde; beide sind keinesfalls zwingend erforderlich, sondern stellen vielmehr Spielarten der Gigantomanie dar. Das bedeutet nicht, daß das „Großstädtische", die Bündelung gehobener Kommunikation und Versorgungsleistungen verschwindet; auch eine polyzentrische Siedlungsstruktur vermag „großstädtisches" Angebot zu erhalten, es verschwindet aber die unsere meisten Großstädte charakterisierende flächenhafte, verdichtete und oft wirre Überbauung; diese wird aufgelockert und großzügig, aber funktionsgerecht gegliedert. Auch die gewerblichen Arbeitsstätten und vor allem die Industriebetriebe konzentrieren sich im Rahmen des Stadt-Land-Verbundes nicht in einem einzigen Schwerpunktbereich. Die infrastrukturellen Voraussetzungen sind im Rahmen eines entwickelten Stadt-Land-Verbundes durchaus einer gewissen Streuung der Betriebe günstig. Natürlich werden sich dabei standortgünstigere Gebietsteile innerhalb der Region herausbilden und zu einer begrenzten Bündelung anregen; eine monozentrische Konzentration dagegen ist, da dem Leitbild des Stadt-Land-Verbundes widersprechend, zu vermeiden. Dies ist aufgrund der heutigen standörtlichen Tendenzen, der erhöhten Standortflexibilität vieler Branchen eine durchaus gerechtfertigte und entwicklungskonforme Forderung, die mit der anhaltenden Verlegung vieler Betriebe aus den Verdichtungsgebieten und Großstädten an weniger stark beanspruchte Standorte ihre Bestätigung findet.497 Eine polyzentrische, aufgelockerte Regionalstruktur mit mehreren kleinund mittelstädtischen Zentren sowie großstädtischem Angebot an verkehrsgünstigen Standorten und entsprechend räumlich verteilten Gewerbegebieten bietet durchaus günstige Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung498.
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Wo jedoch aus betriebswirtschaftlichen Gründen Verbund erwünscht ist (wie ζ. B. bei der chemischen Industrie), widerspricht es nicht dem Leitbild, Gewerbeflächen bandartig, gegliedert durch Grünzonen, anzuordnen. Überwiegend jedoch verteilen sich die Industrieflächen über die Region, je nach standörtlichen Anforderungen gestreut oder in bestimmten Gebietsteilen begrenzt konzentriert. Soweit dadurch keine Störungen auftreten, sind auch Standorte in unmittelbarer Nähe zu den Wohnbereichen vertretbar, wenn dadurch ζ. B. günstige Arbeitsmöglichkeiten für Frauen angeboten werden können. So wird mit dem aufgelockert gegliederten und begrenzt konzentrierten Stadt-Land-Verbund eine mosaikartige Kombination unterschiedlicher Flächennutzungen empfohlen, wobei große monofunktional genutzte Flächen nach Möglichkeit zu vermeiden sind. Ebenso aber ist eine mehr oder minder chaotische Mischung unterschiedlicher „städtischer" oder „ländlicher" Flächennutzungen zu verhindern. Vielmehr ist jede Nutzung in der zu ihrer vollen Funktionsfähigkeit notwendigen Größe zu bemessen und an günstigem Standort zu lokalisieren. Wohnbereiche ζ. B. müssen so großflächig und mit so großen Abstandszonen ausgewiesen werden, daß sie vor störenden Einflüssen anderer Nutzungen bewahrt bleiben; gliedernde Agrarflächen müssen so dimensioniert sein, daß eine wirtschaftliche Bearbeitung möglich ist; Dienstleistungszentren müssen sich dort befinden, wo sie für die Bezugsbevölkerung bestmöglich erreichbar sind. Gewerbeflächen sollen dort liegen, wo besonders günstige standörtliche Bedingungen bestehen. Ausreichende Flächen für Freizeitaktivitäten sind je nach Art der Beanspruchung nahe bei den Wohngebieten oder in landschaftlich bevorzugter Lage, auch entfernter von diesen vorzusehen, auf jeden Fall aber so, daß sie den Benutzern mit geringstmöglichem Aufwand zugänglich sind. Das alles erscheint sehr anspruchsvoll, ist aber durchaus erreichbar, wenn zu starke und großflächige Verdichtung vermieden wird und eine Mindestbesiedlungsdichte gesichert ist. Durchaus kann dann ein differenziertes Mosaik sich auf relativ kleiner Fläche ergänzender Flächennutzung geschaffen werden; es können Systeme wechselseitig ergänzender Nutzungen städtisch-ländlichen Charakters innerhalb einer Reichweite, die übermäßigen Verkehrsaufwand vermeidet, herausgebildet werden. Entscheidend ist, daß eine wohldimensionierte Durchmischung städtischer und ländlicher Strukturen entsteht (siehe Abb. 8); das darf nicht mit „Zersiedlung" verwechselt werden, denn diese ist Chaos mangels einer koordinierenden Leitbildidee. Stadt-Land-Verbund bedeutet daher auch keinesfalls, daß die für sehr spezifische Landnutzungen erforderlichen Flächen nicht oder nur unter Flächennutzungskonflikten bereitgestellt werden können, wie häufig in zer-
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siedelten Räumen. Durchaus können ζ. B. innerhalb einer städtisch-ländlichen Siedlungsstruktur auch Naturschutzgebiete erhalten, Landschaftsschutzgebiete, agrarische Vorrangräume etc. gesichert werden; das schließt jedoch nicht aus, daß sie ergänzend und zunehmend, ζ. B. für ländliches Freizeitleben beansprucht werden. Auch einzelne Siedlungsbereiche mit großstädtischer Ausstattung in kompakter Bebauung sind möglich (s. o.), aber sie ufern eben nicht grenzenlos ins Umland aus, sondern konzentrieren ihr spezifisches Angebot an verkehrsgünstigem Standort für eine größere in der Region lebende Bevölkerung, die über Schnellstraßen und lockere Siedlungsbänder entsprechend angebunden ist. Andererseits verteilen sich auch traditionell großstädtische Einrichtungen, wie Zoologische Gärten oder Museen, große Bibliotheken, Forschungsstätten, große Sportzentren etc., durchaus auf verschiedene, jeweils verkehrsgünstige Standorte in der Region. Zwischen den Wohnbereichen und -bändern finden sich betriebswirtschaftlich hinreichend große Agrar-, Gartenbau- oder Forstflächen. Es ist klar, daß ein solcher aufgelockert gegliederter Stadt-Land-Verbund einer guten flächenhaften Verkehrserschließung bedarf. Eine hohe distanzielle Beweglichkeit der Bewohner durch PKW, Busse etc. sowie ein differenziertes Straßennetz, das in der Bundesrepublik aufgrund der überkommenen Siedlungsstruktur ohnehin bereits weitestgehend vorhanden ist, wird also unterstellt (siehe Abb. 8). Es wäre nun falsch, bezüglich der flächenmäßigen Zuordnung und Abmessung der einzelnen Nutzungen stereotype metrische Empfehlungen, Abstände, Mindestgrößen etc. vorzugeben und so das anzustrebende Stadt-LandMosaik quantitativ festzuschreiben. Stets werden die besonderen regionalen Voraussetzungen Abwandlungen erzwingen. Eine solcherart leitbildorientierte Regionalgestaltung kann ja nicht durch das „Abhaken" irgendwelcher raumordnerischer Durchführungsbestimmungen verwirklicht werden, sondern verläuft, eingebettet in das Verfahren der wechselseitigen Bezugnahme (siehe vierter Teil, Kap. 2), durchaus als regionalspezifischer und schöpferischer Prozeß, der in der Verwirklichung des Stadt-Land-Verbundes eines gestalterischen Spielraumes bedarf. Dessen ungeachtet sollen einige quantitative Angaben zum Nutzungsmosaik gegeben werden, die gewissermaßen als Zuordnungskriterien der Flächennutzung eine grobe Orientierungshilfe für die räumliche Strukturierung des aufgelockert-gebündelten Stadt-LandVerbundes bieten (vgl. Abb. 8). 1 ) Verkehr - unter der Bedingung einer fortgeschrittenen Individualmotorisierung (500-600 KFZ pro 1000 Ew.) und ergänzender öffentlicher Verkehrsbedienung (Schnellbusse im Nahverkehr; Bahn im Fernverkehr):
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Der Raum wird von einem Grundnetz kreuzungsfreier Hauptstraßen und überregionaler Schnellstraßen relativ gleichmäßig erschlossen; die Trassen sind nicht auf ein großes Zentrum orientiert, sondern schaffen mehrere verkehrsgünstige Bereiche. Die Siedlungsbereiche sind maximal 5 km vom Zugang zu diesem Schnellstraßensystem entfernt und werden durch Erschließungsstraßen zeitgünstig daran angebunden. Die Schnellstraßen (wie auch Bahntrassen) sind je nach Situation durch 250-500 m breite Forst- oder Agrarflächen (Flugplätze durch 8 km) von den Wohnbereichen getrennt. Da sich die Wohnbereiche trotz vorherrschend bodennaher Wohnbebauung doch zu Komplexen von 3000 und weit mehr Einwohnern mehr oder minder aufgelockert arrangieren, kann eine öffentliche Verkehrsbedienung durch Busse angeboten werden. Die maximale Laufdistanz zu den Haltepunkten beträgt dabei 15 Minuten, liegt meist aber wesentlich darunter. Anschlußpunkte des überregionalen Fernverkehrs sind maximal 30 PKWMinuten, 60 Busminuten, meist aber weit weniger entfernt. Gewerbe- und vor allem Industriebetriebe haben überwiegend unmittelbaren Anschluß an leistungsfähige Verkehrstrassen (Straße, Bahn, Wasserweg). Innerhalb des Stadt-Land-Verbundes sind die unterschiedlichsten und auch seltenste Einrichtungen und Ziele (städtischer oder ländlicher Art) mit dem PKW innerhalb max. 35 Min., mit öffentlichem Verkehrsmittel innerhalb 70 Fahrminuten, meist aber in wesentlich kürzerer Zeit zu erreichen. 2) Wohnen - unter der Bedingung vorherrschend bodennaher Bebauung (ca. 70% Eigenheimbebauung) und gestreut-gebündelter Besiedlung: Verdichtete Wohnbebauung findet sich vor allem nahe besonders verkehrsgünstiger oder landschaftlich reizvoller Bereiche. Der Zugang zur naturnahen „offenen" Fläche (Wald, Agrarfläche etc.) soll stets noch unterhalb einer Distanz von 1 km möglich sein. Innerhalb einer Entfernung von 35 PKWMinuten sollen ausreichend Möglichkeiten des ergänzenden Freizeitwohnens angeboten werden. Bodennahe, mehr oder minder aufgelockerte Wohnbebauung verteilt sich begrenzt gebündelt über die gesamte Region. Die Bündelungen können 5000 bis über 30 000 Ew. innerhalb eines relativ lockeren Siedlungsbereiches erfassen oder sich gar zu Bändern und Siedlungszonen weit größerer Bevölkerungszahl gruppieren, jedoch soll dabei das naturnahe „offene" Land stets nahe sein. Die Bereiche und Bänder bodennaher Wohnweise überschreiten daher nur in wenigen Ausnahmefällen eine Breite von max. 2 km.
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3) Versorgung - unter der Bedingung einer gemäß der Bezugsbevölkerung streuenden Allokation, ohne Bindung an eine starre zentralörtliche Hierarchie: Die tägliche Bedarfsdeckung der Haushalte soll innerhalb einer Entfernung von max. 1,5 km möglich sein. Innerhalb einer Entfernung von ma^. 5 km, meist aber in weit geringerer Distanz, finden sich alle jene Einrichtungen unterschiedlicher Dienstleistungsbereiche, die zu ihrer Funktionsfähigkeit eine Bevölkerung von ca. 30 000 Ew. beanspruchen und die wesentliche Bereiche des privaten und öffentlichen Dienstleistungsangebotes abdecken. Darüber hinausgehende „höhere" Ansprüche können an den für die jeweilige Bezugsbevölkerung verkehrsgünstigen Standorten befriedigt werden. Auch typisch „großstädtisches Angebot" ist niemals weiter als max. 35 km entfernt (s. o.). In diesbezüglich zumutbarer Entfernung finden sich also die Einrichtungen sog. Oberzentren - ungeachtet dessen, ob punktuell konzentriert oder stärker gestreut, ungeachtet dessen, ob von 100 000 Menschen oder mehr unmittelbar anschließend umwohnt oder ob lediglich an verkehrsgünstigem Standort bei geringer Zahl direkter Anwohner lokalisiert. Die Versorgung der Haushalte mit Energie, Wasser, Kommunikationsträgern etc. wie auch die Entsorgung bereitet aufgrund der begrenzten Bündelung der Siedlungsbereiche und damit der Nachfrage keine besonderen Probleme. 4) Einkommensbildung - unter der Bedingung einer vielfältigen Arbeitsstättenstruktur: Die versorgenden und dienstleistenden Arbeitsstätten befinden sich an den für die jeweilige Bezugsbevölkerung günstig erreichbaren Standorten. Da die Bevölkerung relativ stark verteilt im Raum lebt, bildet sich kein dominierendes Großzentrum; dagegen finden sich spezifische Dienstleistungszentren mit entsprechend spezifischen Arbeitsstätten (ζ. B. Kliniken; Universität; Verwaltungszentren etc.) an den jeweils günstigen Standorten. Die produzierenden Arbeitsstätten bündeln sich begrenzt in besonders verkehrsgünstigen Gebietsteilen, bzw. entlang entsprechender Achsen, verteilen sich aber auch relativ stark gestreut im Raum. Zwar entstehen keine großen Areale industrieller Agglomeration, durch Wald- und Grünbereiche gegliedert, können aber durchaus einzelne Gewerbegelände von bis zu ca. 8 qkm Größe ausgewiesen werden. Emissionsfreie Betriebe können sich unmittelbar räumlich an Wohngebiete anlehnen, bei störenden Nebeneffekten sind dagegen oft große Abstände einzuhalten (s. o.).
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Innerhalb eines Radius von 10 km findet sich im allgemeinen bereits ein Arbeitsmarkt von nahezu 100 000 Arbeitsplätzen, innerhalb eines Radius von ca. 35 km von bereits annähernd 400 000, so daß trotz relativ stark gestreuter Allokation und Siedlungsweise in vertretbarer Entfernung zahlreiche und vielfältigste Arbeitsplätze erreichbar sind. 5) ökologisch sinnvolle Freihaltung: Landwirtschafts- und Forstflächen haben im Rahmen des Stadt-Land-Verbundes eine besondere, die Siedlungsstruktur gliedernde und auflockernde Funktion. Sie reichen unmittelbar an die Wohngebiete heran, umfassen diese geradezu, gewährleisten aber so den Kontakt zu naturnahen Nutzungen bzw. „offenem" Land. Gleichzeitig sollen so Formen der Freizeit- bzw. Nebenerwerbslandbebauung erleichtert werden. Die Flächen werden so dimensioniert, daß sie den betriebswirtschaftlichen und ökologischen Belangen weitestgehend gerecht werden. Wald- und Forststreifen haben daher stets eine Tiefe von mehreren hundert Metern und weiten sich oft zu mehreren Quadratkilometer großen Arealen aus, ohne jedoch ganze Gebietsteile geschlossen zu überziehen, da dies ihre Ausgleichsfunktion und Zugängigkeit im Rahmen des Stadt-Land-Verbundes erschweren würde. Das schließt nicht aus, daß die verschiedenen Waldareale bandartig miteinander verknüpft werden und sich analog einem Teppichmuster im Raum verteilen. Auch die verschiedenen Agrarflächen sind in ähnlicher Weise miteinander verbunden. So vermag sich inmitten städtisch-ländlichem Raum, gewissermaßen zwischen anderen Nutzungen, der Agrarwirtschaftsraum zu erhalten, einschließlich der daran gebundenen spezifischen Infrastruktur. Entsprechend finden sich in diesen Agrarbereichen oder an deren Rand unterschiedliche agrarische Zentren mit Reparatur- und Versorgungsdiensten, mit Einrichtungen der Lagerhaltung und Vermarktung, mit ergänzenden Gewerbebetrieben etc. Die Agrarbetriebe streuen im Raum oder häufen sich zu kleinen Gruppen, aber ebenso können Landwirte am Rand der normalen Wohnbereiche leben und spezifische Betriebskomponenten in den unmittelbar anschließenden Agrarraum aussiedeln. Besonderer Aufmerksamkeit bedürfen die Berührungsflächen von Agrarwirtschaft und Wohnen, die Verwendung von Insektiziden, das „Spritzen" in der Landwirtschaft kann eine Belästigung darstellen. Die in die Wohnbereiche hineingreifenden agrarischen Finger sind also möglichst störungsarm etwa durch Grünland, Viehkoppeln (Rinder) etc. zu nutzen. Isolierte Agrarinseln werden im Rahmen des Stadt-Land-Mosaikes weitestgehend vermieden, entstehen sie doch, müssen sie mehrere Quadratkilo-
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meter groß sein, um mehrere kooperierende Betriebe tragen zu können. Große monokulturelle Areale sollten nach Möglichkeit vermieden werden, um die ökologische und soziale Ausgleichsfunktion nicht zu beeinträchtigen. Abgesehen von den Parks und Grünanlagen nahe den verdichteten Wohngebieten verteilen sich im Raum zahlreiche und große Bereiche für ergänzendes Freizeitwohnen, für Freizeitparzellen etc. Landwirtschaftliche Grenzertragsgebiete, wohngebietsnahe Zonen und landschaftlich reizvolle bzw. klimatisch günstige Gebiete empfehlen sich hierfür besonders. Ferner ist es wichtig, eine viel größere Zahl an Wasserflächen, als bisher im Durchschnitt verfügbar, zu schaffen. Dafür sprechen nicht nur wasserwirtschaftliche Gründe, sondern vor allem der so gesteigerte Freizeitwert sowie auch klimatische Nebeneffekte. Die verstärkte Durchsetzung des Siedlungsraumes mit Wasserflächen und daran gebundenen Freizeitarealen ist daher durchaus ein Charakteristikum eines besseren Stadt-Land-Verbundes. Eine entsprechend koordinierte abflußregulierende Stauung sowie Kiesabbaggerung wird sich hierbei in vielen Gebieten diesbezüglich als sehr hilfreich erweisen. Über die gegebenen Andeutungen zum Flächennutzungsmosaik hinaus verdient noch ein Gesichtspunkt besondere Beachtung; zur Sicherung einer Flexibilität der Flächennutzung sollen bei den Wohnflächen wie auch den Flächen für dienstleistende und produzierende Arbeitsstätten größere und mehr Areale, als zum Zeitpunkt der Festlegung benötigt, ausgewiesen werden, um durch ein latentes Überangebot nicht nur die entsprechenden Bodenpreise zu senken, sondern vielfältigere Ausweichmöglichkeiten und Spielraum für zukünftige Entwicklungen zu schaffen; teure Vorinvestitionen können dabei durchaus vermieden werden. So läßt sich auch bei notwendig werdenden kleinräumlichen Umwidmungen der bisherigen Flächennutzung leichter Ersatzfläche bzw. ausgleichende Fläche finden und in Anspruch nehmen. Bei hinreichender Vielfalt und möglichst großem Angebot unterschiedlich funktionaler Flächen wird die Variationsmöglichkeit innerhalb des Flächennutzungssystemes (ζ. B. hinsichtlich der Zuordnung und Widmung seiner Teilflächen) erhöht. Durch anscheinend zu reichliche Flächenausweisung wächst die Offenheit eines Raumnutzungsgefüges gegenüber Veränderungen und neuen Anpassungen. Der aufgelockerte Stadt-Land-Verbund erlaubt eine solche Vorsorge weit eher als stärker verdichtete und wenig feingegliederte Siedlungsstrukturen und würde einer Variation der Flächennutzung, wie sie mit dem Planungsverfahren der ständigen wechselseitigen Bezugnahme möglicherweise (vierter Teil) notwendig wird, vergleichsweise gut gerecht werden.
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Die wesentliche Intention des Stadt-Land-Verbundes ist es jedoch, die verschiedenen Zellen und Bereiche unterschiedlicher Flächennutzung so aneinanderzufiigen, daß ein Angebot sich ergänzender Vielfalt bei bestmöglichem Zugang entsteht, daß eine multifunktionale Nutzung des Lebensraumes möglich wird, weniger mit Hilfe kompakt geschichteter, hochgradig verdichteter Baustrukturen, sondern vielmehr durch eine entsprechende horizontale Komposition, durch ein ausgewogenes Nebeneinander der verschiedenen Flächennutzungen. Bisweilen werden sich dabei je nach den gebietlichen Voraussetzungen auch Mehrfachnutzungen und gewisse Überschneidungen nicht umgehen lassen. Auf jeden Fall aber sind disharmonische und sich wechselseitig beeinträchtigende Nutzungen weitestgehend zu vermeiden. Abwandlung entsprechend der Besiedlungsdichte Natürlich läßt sich die empfohlene Städtisches und Ländliches verbindende, aufgelockert-gebiindelte Siedlungsstruktur nicht oder nur eingeschränkt verwirklichen, wenn die Besiedlungsdichte eines Raumes zu gering ist. Es muß also eine Mindestbevölkerungsdichte sichergestellt sein, denn sonst droht sich der Aufwand zur Beanspruchung unterschiedlichster Einrichtungen unzumutbar zu erhöhen. Streuung der Wohnplätze bei geringster Siedlungsdichte würde vielfältige Kontaktmöglichkeiten vorenthalten oder erschweren, wäre in der Tat problematisch und würde dem Menschen nicht gerecht werden. Ein feingliedriges Mosaik städtischer und ländlicher Elemente kann dann nicht mehr verwirklicht werden, die Distanzen würden zu groß, und um überhaupt städtisches Angebot aufrechtzuerhalten, müßte dies punktuell konzentriert werden und stünde dann als Gegenpol dem Land gegenüber, wäre nicht mehr vielfältig räumlich mit ihm verzahnt. Ist andererseits dagegen die Besiedlungsdichte zu hoch, dann müssen die unterschiedlichen Nutzungen zu,stark aneinanderrücken, fangen an sich zu beeinträchtigen, die „Zersiedlung" beginnt, der aufgelockert-gebündelte Verbund wird verhindert. So ist etwa die Stadtregion Los Angeles (Metropolitan Area) mit ca. 5500 Ew./km2 bereits zu dicht besiedelt. Eine weitere flächenhafte Ausweitung wäre daher kaum zu vermeiden, falls eine StadtLand-Verbund-Region entstehen soll. Für die Agglomeration von Paris ζ. B., mit einer Bevölkerungsdichte von ca. 24 000 Ew./km2 im Departement Paris, wäre eine solche Umgestaltung noch viel schwerer zu verwirklichen. Andererseits vermögen zu dünn besiedelte Räume, wie etwa viele ländliche Gebiete in den USA und der EG, nur unter Schwierigkeiten einen befriedigenden Stadt-Land-Verbund aufzubauen. Bei einer Bevölkerungsdichte von
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etwa 250 Ew./km 2 dagegen, wie im Durchschnitt der Bundesrepublik Deutschland, läßt sich das empfohlene Modell allerdings bereits verwirklichen (siehe Abb. 8). Geht man von einer durchschnittlichen Bevölkerungsdichte von ca. 250 Ew./km2 aus, dann siedeln im Umkreis zumutbarer Entfernungen so viele Menschen, daß alle denkbaren Kontakte wahrgenommen und Einrichtungen beansprucht werden können. Bei dieser Besiedlungsdichte würde man innerhalb eines Radius von ca. 8 km ca. 50 000, von ca. 18 km ca. 250 000, von ca. 36 km bereits 1 Million Menschen (wie in Abb. 8 unterstellt) und die zur Versorgung dieser Menschen notwendigen Einrichtungen vorfinden. Was also, welche Institution, welches Angebot, wäre bei gutem Verkehrsnetz unterhalb einer Fahrzeit (PKW) von ca. einer halben bis einer dreiviertel Stunde nicht erreichbar? Innerhalb einer solchen Entfernung würden in dieser oder jener Richtung Standorte (ζ. B. Universität, Theater, Ausstellungen etc.), die bis zu einer Million Menschen versorgen, berührt. Auch sollte so den Menschen ein ausreichend differenzierter und großer Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, der eine vergleichsweise sichere wirtschaftliche Entwicklung des Raumes ermöglicht und unterschiedlichste Arbeitsplätze bereitstellt. Bereits eine Besiedlungsdichte von 250 Ew./km2 böte also in der Nähe bzw. in zumutbarer Entfernung alles, was vermeintlich nur Großstädtern zuteil werden kann, böte aber viel mehr noch, nämlich alles, was den Großstädtern an „Ländlichem" vorenthalten wird. Hat sich eine solche aufgelockerte und durchgrünte Siedlungsstruktur entwickelt, dann findet auch der verdichtet wohnende Rest von 20-30% der Bevölkerung in nächster Nähe, was ihm das überbaute Großstadtareal weitestgehend verweigern würde: ausreichend Bewegungsraum inmitten belebter Natur. Es läßt sich also der Stadt-Land-Verbund schon bei bundesdurchschnittlicher Dichte verwirklichen, ebenso aber bei höheren Dichtewerten, etwa bei ca. 330 Ew./km2, wie im Durchschnitt der Niederlande und Belgiens oder bei ca. 650 Ew./km 2 im relativ stark verstädterten Raum des Regionalverbandes Mittlerer Neckar. So ist das empfohlene Leitbild vor allem für Räume mit einer durchschnittlichen Besiedlungsdichte von etwa 250 bis unter 1000 Ew./km2 relevant und dürfte dort langfristig vergleichsweise leicht zu realisieren sein, vorausgesetzt diese durchschnittliche Bevölkerungsdichte bezieht sich nicht auf einen völlig monozentrischen und damit höchst ungleichmäßig besiedelten Raum, sondern auf ein Gebiet mit bereits stärker verteilten Siedlungszellen und Zentren. Die Bundesrepublik Deutschland bietet mit ihrer von zahllosen Klein- und Mittelstädten durchsetzten Siedlungsstruktur und ihren ja meist noch relativ kleinen Verdichtungsgebieten insgesamt recht gute Voraussetzungen. Das
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bereits vorhandene, dichte flächenerschließende Wegenetz kommt einer entsprechenden Umformung ebenso entgegen wie die relativ gute infrastrukturelle Grundausstattung unseres Siedlungsraumes; gleichzeitig begünstigen die Standorttendenzen in der Wirtschaft, die Wohnwünsche der Menschen etc. die Herausbildung solcher städtisch-ländlicher Siedlungsstrukturen. Natürlich muß das vorgeschlagene Leitbild bei unterschiedlichen räumlichen Voraussetzungen und unterschiedlichen Besiedlungsdichten modifiziert werden. Dem vorgestellten Modell liegen ja außerordentlich großzügig bemessene Flächenzuweisungen (ζ. B. für das Wohnen, die Arbeitsstätten, die Versorgungsflächen) zugrunde, die durchaus beträchtlich variiert werden können, ohne das Konzept des Stadt-Land-Verbundes zu zerstören. Nachfolgend soll daher kurz eine etwas veränderte Aufschlüsselung der Flächennutzungskategorien vorgestellt werden, bei der trotz erhöhter Besiedlungsdichte (jetzt 400 Ew./km2 gegenüber 250 Ew./km2) die für den Stadt-Land-Verbund charakteristischen Kriterien der räumlichen Zuordnung nach wie vor eingehalten werden können (vgl. Tab.: Flächennutzungsanteile . . . ; Abb. 9). Außerdem wird insofern eine Annäherung an die Wirklichkeit gesucht, als der fiktive Bezugsraum für dieses Modell des Stadt-Land-Verbundes (1 Mill. Ew. bei einer Bevölkerungsdichte von 400 Ew./km2) in etwa die gleiche naturräumliche Vielfalt und Differenzierung wie das Gebiet der BR Deutschland aufweist, wobei allerdings die naturräumlichen Hauptkategorien in der Modellregion hinsichtlich ihrer Größe und Erstreckung gewissermaßen komprimiert werden. Durch eine solche Strukturierung des fiktiven Raumes der Stadt-LandVerbund-Region (Abb. 9) werden gebiets- bzw. naturraumspezifische Modifizierungen des Stadt-Land-Verbundes möglich, und zugleich lassen sich typische Ergänzungsmöglichkeiten zwischen Teilräumen unterschiedlichen naturräumlichen Potentials bzw. unterschiedlicher gebietlicher Eignung berücksichtigen und darstellen, also ζ. B. Mittelgebirgsräume mit höheren Waldanteilen und übergebietlichen Freizeit- und Erholungsparks oder auch mit Truppenübungsgelände einerseits und benachbartes Tiefland mit höherem Anteil ebener und verkehrsgünstiger Industriefläche oder lagegünstigem Agrar- bzw. Gartenbauland andererseits (siehe Abb. 9). Die Unterscheidung der Flächennutzungskategorien ist jetzt etwas differenzierter. Bei der Wohnflächenausweisung werden ζ. B. unterschiedliche Wohnformen unterschieden: aufgelockert (ζ. B. Einfamilienhaus - stadtnah oder ländlich), angenähert (ζ. B. Reihenhaus - randstädtisch oder städtisch), verdichtet (ζ. B. Wohnhochhaus, Stadthaus - städtisch).
Flächenbezogenes Leitbild »STADT-LAND-VERBUND« WOHNFLÄCHEN W¿ Urbane Schwerpunkte • I H
verdichtet kompakt aufgelockert WOHNERGÄNZUNGSFLÄCHEN Gärten Freizeitparzellen Freizeitwohnsitze PRODUKTIONSFLÄCHEN
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DIENSTLEISTUNGSFLÄCHEN GRÜNFLÄCHEN
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Erholungs-und Freizeitanlagen
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weitere öffentl. Grünflächen Freizeitparks
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WASSERFLÄCHEN
m
WALDFLÄCHEN
m
AGRARFLÄCHEN
Ο
FLÄCHEN DER LANDESVERTEIDIGUNG VERKEHRSFLÄCHEN
—
Bundesautobahnen
— — —
Schnellstraßen Schienenwege Wasserstraßen
—
Schiffahrtskanäle
E 3 Großflughafen 6 5 Landeplätze NATURRÄUMLICHE STRUKTUREN (gem. d. jeweil. Anteil
am
Bundesdurchschnitt)
1 Tiefland und Küstenzone 2 Becken und Senken 3 Verebnungen und Platten !:• 4Ì Hügelland ki^Sü Mittelgebirge ( N u t z u n g s m o s a i k bei 1 Mill. Ew. auf 2 5 0 0 K m " bzw. bei 4 0 0 Ew. pro m 2 ) Original d. M a g n ô t w a n d m o s a i k s G r ö ß e 2 τ • 2m im Z e n t r u m für regionale Entwu k l u n g s f o r s c h u n g der J l lebig-Universität Gießen
Abb. 9
Stadt - Land - Verbund
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chen) leitet sich vor allem aus der Forderung ab, für das Wohnen des Menschen, für sein ursprüngliches Zu-Hause-Sein in der Welt, für die bezüglich des Befindens maßgeblichste Nutzung des Lebensraumes endlich nicht mehr unter Einschränkung und Knappheit stehen zu müssen, zumal das insgesamt vorhandene räumliche Potential dies durchaus gestattet, vorausgesetzt, das Verteilungsmuster der Besiedlung wird entsprechend geändert. Vor allem in der Ausweitung der verschiedenen Kombinationen, Stadt und Land „wohnend" zu nutzen, eröffnet sich ein Weg zu einer wohltuenden Lebensraumnutzung, die zudem mit der Vielfalt der möglichen Formen dem potentiellen Bewertungswandel der Menschen gerecht zu werden vermag. Die Möglichkeiten für eine differenzierte individuelle Nutzung von Parzellen und Flächen, sei es durch ausgeweitete bodennahe Bebauung, durch private Gärten, durch großflächige öffentliche Anlagen, durch Freizeitwohnsitze oder -parzellen, werden bewußt gesteigert, um so, ergänzt durch gemeinschaftlichen Kontakt, die Selbstentfaltung des einzelnen zu erleichtern. Die Erprobung im Modell (Abb. 9) zeigt, daß die Raumnutzung durchaus gemäß der dargestellten Flächenanteile erfolgen kann, ohne einzelne Flächenfunktionen und Nutzungen zu verhindern oder unvertretbar einzuengen. Ein nach den Flächenanteilen und räumlichen Zuordnungen, wie sie das Leitbild des Stadt-Land-Verbundes empfiehlt, strukturierter Lebensraum (siehe Tab. und Abb. 9), würde sich nicht nur als funktionsfähig erweisen, sondern den Menschen eine wohltuendere und anregendere Lebensraumnutzung als im allgemeinen bisher möglich, eröffnen. Für die heute in den Verdichtungsgebieten Lebenden ist die wünschenswerte Vielfalt der Flächennutzung nur noch unter großem Verkehrsaufwand und unter Beeinträchtigung zu verwirklichen, denn zu groß ist die räumliche Erstreckung relativ homogen „städtisch" bebauter Räume, zu weit ist der Weg, zu stark das Verkehrsgedränge, um aus der Verdichtung heraus den ländlichen Raum zu erreichen und zu nutzen. Eine allmähliche Ausdünnung zu stark verdichteter Großstadträume und die leitbildorientierte Verbindung und Durchdringung mit stärker „ländlich" wirkenden Bereichen liegt nahe. Nun könnte man einwenden, daß die empfohlene Ausweitung der Wohnund Wohnergänzungsflächen etc., wie überhaupt die Realisierung des StadtLand-Verbundes, vor allem auf Kosten der Agrarfläche sowie der Waldfläche, die ja entsprechend reduziert werden, erfolgen soll, und dies würde letztlich die Versorgung mit Nahrungsmitteln gefährden. Dazu soll hier nur angemerkt werden, daß wir im Bereich der Nahrungsmittelgewinnung mit hoher Wahrscheinlichkeit nach wie vor, wie schon in den vergangenen Jahrzehnten, vor beträchtlichen Produktivitätssteigerungen stehen, durch die zunehmend Flächen freigesetzt werden können. Daß im Rahmen dieses Prozesses immer mehr Energie zugeführt werden muß, setzt ihn nicht
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Leitbilder Prüfung des StadtLand-Verbundes am Modell
Aufnahme d. Verf.
zwangsläufig außer Kraft, handelt es sich doch um einen Bereich vergleichsweise effektiver Energieverwendung. Zudem versprechen neue Formen der Gewinnung von Biomasse (etwa Meeresalgenproduktion) eine zusätzliche Bereitstellung von Energie (Methangewinnung etc.). Auch bleibt zu bedenken, daß große Teile der dem Wohnen zugewiesenen Flächen, falls dies vom einzelnen oder aufgrund veränderter Bedingungen gewünscht wird, leicht auch der Nahrungsmittelproduktion zugeführt werden können (privater Gartenbau etc.) und so einen entsprechend entlastenden Effekt hätten. Auch ist es hilfreich sich zu vergegenwärtigen, daß im vorgeschlagenen Modell (Tab.) doch noch immer ca. 60% der Fläche durch Agrarland und Wald eingenommen werden, womit der Anteil „offenen" Landes (Agrarund Waldflächen) noch immer dem der Niederlande, mit einzelnen, ja recht großen Agrarräumen, entspricht. Auf weitere Ausführungen soll hier verzichtet werden. Erprobungen, Differenzierungen und Prüfungen des Stadt-Land-Verbundes am Modell werden zur Zeit vorgenommen. Auch darf die begründete Vermutung geäußert werden, daß sich eine gemäß dem Leitbild gestaltete Siedlungsstruktur und Lebensraumgestaltung als vergleichsweise kostengünstig erweist und sich auch diesbezüglich empfiehlt. Allerdings ist davor zu warnen, das Konzept des Stadt-Land-Verbundes als geeignet zur Umformung aller bestehenden Siedlungsstrukturen anzusehen. Für die Gestaltung vieler Siedlungsräume vermag das skizzierte Leitbild bestenfalls nur Anregungen zu geben. Der Großraum London, die Agglomeration Paris, das Rhein-Ruhr-Gebiet etc. können nur schwer und unvollkommen zum Stadt-Land-Gebilde umgeformt werden. Das aufgezeigte Leitbild
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bezieht sich vor allem auf weniger stark und weniger durchgängig verstädterte Räume. Ungeachtet dessen sollte aber auch bei den großstädtischen Regionen und Agglomerationen eine allmähliche Wandlung der Raumstrukturen in der angedeuteten Richtung bewußt gefördert und eingeleitet werden, um den Menschen eine größere Vielfalt der Raumnutzungsmöglichkeiten zu eröffnen, die sie mit wachsendem Wohlstand stärker beanspruchen als zu einer Zeit, da diese hochgradig und dicht verstädterten Regionen entstanden. Wichtig ist, daß sich unsere lebensräumlichen Bedingungen so verbessern und wandeln, daß sie der aufgezeigten lebensräumlichen Ethik wie auch dem ständigen und individuellen Prozeß der Bewertung räumlicher Faktoren gerecht zu werden vermögen und ein entsprechend vielfältiges lebensräumliches Angebot eröffnet wird. Bei diesem allmählichen Wandlungsprozeß dürfte die Beachtung einer, wenn auch zwangsläufig unscharfen Regel hilfreich sein: zu stark verdichtete Siedlungsstrukturen sind, soweit wie möglich aufzulokkern, aber nicht so weit, daß sie die Vorteile „städtischer" Vielfalt vorenthalten; zu stark gestreute Besiedlung ist soweit wie notwendig zu konzentrieren, aber nicht so weit, daß die Vorteile „ländlichen" Wohnens verlorengehen. So wäre etwa eine Agglomeration so lange aufzulockern, bis eine vielfältige störungsfreie Ergänzung und unterschiedliche Lebensraumnutzung möglich wird, ein dünnbesiedelter Raum mit Streusiedlung wäre solange aufzusiedein, bis sich an begrenzt gebündelten Siedlungsbereichen diejenigen Angebote lokalisieren lassen, die ergänzend erwünscht sind. Es muß nicht ausführlich erörtert werden, warum dies nicht überall möglich und sinnvoll sein wird. Dennoch aber dürfte eine so orientierte allmähliche Neuordnung unserer Siedlungsstruktur zahlreiche lebensräumliche Probleme lösen helfen, nicht zuletzt, weil zahlreiche Flächennutzungskonflikte durch begrenzte Auflockerung entspannt werden können. Fläche ist genügend vorhanden, eine neue geordnete Aufsiedlung unseres Landes würde vielen Menschen neue lebensräumliche Möglichkeiten eröffnen, die durch die überkommenen großen Industriestädte und -regionen mit ihrer starken standörtlichen Fixierung und ihrer Überbeanspruchung des lebensräumlichen Potentials weitestgehend verweigert wurden. Dabei wird das Leitbild des Stadt-Land-Verbundes für die verschiedenen Regionen, je nach den geographischen Voraussetzungen und den bisherigen siedlungsstrukturellen Gegebenheiten innerhalb einer beträchtlichen Bandbreite zu modifizieren sein. In einer Region wird der Anteil der verdichtet in mehrstöckiger Bebauung Wohnenden höher sein und ebenso die Zahl der ausgleichenden Zweitwohnsitze, Wochenendhäuser, Freizeitparzellen, als in einer anderen, die stärker durch bodennahe Wohnweise gekennzeichnet ist; eine Region wird stärker durch industrielle Ar-
Leitbilder
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Leitbilder
beitsplätze gekennzeichnet sein, eine andere stärker durch Fremdenverkehr. Ungeachtet solcher unterschiedlicher gebietlicher Eignungen vermag geschickter Verbund einander ergänzender städtischer und ländlicher Flächennutzungen die Attraktivität eines Lebensraumes zu erhöhen. Nachfolgend soll die angedeutete Konzeption durch den Verweis auf eine in der Stadtplanung heute sehr verbreitete Argumentation, die zu abweichenden oder gar entgegengesetzten Leitbildern der Siedlungsstruktur führt, verdeutlicht werden.
2.4.1.3 „Kompakt" contra „aufgelockert" Die Misere der großen Städte wird oft vor allem auf zwei Phänomene zurückgeführt, auf den mit dem Wohlstand wachsenden Raumbedarf in den verschiedenen Lebensbereichen und auf die mit der Massenmotorisierung gesteigerte Mobilität der Menschen. Mit gesteigerten Wohnansprüchen erhöht sich der Wohnflächenbedarf, die Bereitschaft, Störungen der Wohnsphäre zu tolerieren, sinkt. Gerade aber in den Großstädten und ihren Zentren wird durch konkurrierende Flächenansprüche der Verwaltung, des Handels und zahlreicher Dienstleistungen, aber auch durch flächenverbrauchende Verkehrstrassen eine Ausweitung der Wohnflächen drastisch verteuert; zudem wachsen die Belästigungen, vor allem durch den Verkehr, durch Emissionen etc. Folgerichtig weicht, auf der Suche nach großzügiger Wohnweise, wer kann, in die Vorstadtgebiete aus. Den innerstädtischen Wohngebieten droht der Verfall; an den Außenrändern dagegen kommt es zur vielbeklagten „Zersiedlung", verstärkt durch neue flächenhafte, meist unifunktionale Zentren (Einkaufszentren, Bürozentren, Bildungszentren, Altenzentren etc.) sowie durch Gewerbeansiedlung. Stadtkerne verlieren Einwohner, weit ausgreifende vorstädtische Siedlungen verwachsen miteinander zu unvorteilhaft urbanisierten Gebieten, die zufolge ihrer flächenhaften Ausdehnung den Zugang zur „Landschaft", zur „Natur" erschweren. Ein umfassendes Schnellstraßennetz, unentbehrlich für den Zugang zu den räumlich stark gestreuten differenzierten Einrichtungen, durchzieht diesen Siedlungsbrei und über allem liegt der Smog windarmer Tage. Alte und Kinder ohne eigene Fahrzeuge sind benachteiligt, der Fahraufwand der anderen ist groß und teuer. Zum kulturellen Angebot der Innenstadt ist es zu weit, man bleibt zu Hause und beschränkt sich auf die Pflege des eigenen Gartens; den allerdings hat man. In der Summe aber entsteht, was V. GRUEN (1973, S. 113) die „Antistadt" nennt, durch die „Urbanität", verstanden als Gelegenheit zur direkten menschlichen Beziehung, zum freien Austausch von Ideen und Gütern, zur Freiheit durch vielfältige Auswahlmöglichkeiten weitestge-
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hend zerstört würde; es ginge verlustig, was über so viele Jahrhunderte die Entfaltung der Kultur und Zivilisation begünstigt hat. Und. so beklagt V. GRUEN (1973, S. 344), daß sich ein neuer Bevölkerungstyp herausbilden würde, der weder städtisch noch ländlich sei, der als „Regionalist" weder „die Vorzüge eines naturverbundenen Daseins noch die eines städtischen Lebens" genießt, der vielmehr in einem „Niemandsland" lebt, „das weder die Vorteile des offenen Landes noch die der Städte bietet, jedoch die Nachteile und Probleme beider vereint". Was also läge näher, als die Verschwendung von Verkehrsraum, Fahrzeit und Geld durch den PKW einzudämmen und eine Renaissance der öffentlichen Verkehrsmittel einzuleiten und ergänzend die funktionale Auflösung der Stadt, die starke Streuung unterschiedlicher Raumnutzungen abzubauen und statt dessen räumlich kompakte, multifunktionale Zentren zu schaffen, Zentren Urbanen Lebens, die mit Hilfe vielstöckiger Verdichtung die zahlreichen Nutzungsansprüche der Menschen in Mehrzwecknutzung befriedigen. Die verschiedenen Funktionen einschließlich des Wohnens werden räumlich vereinigt, denn angeblich zeigen sich die „Vorteile des technologischen Fortschrittes" erst dann, „wenn wir bereit sind zusammenzurücken" (IVOR D E WOLFE, 1 9 7 1 ) . Wer nicht im multifunktionalen Zentrum wohnt, verstreut sich nicht flächenverbrauchend über das Umland, sondern lebt in räumlich konzentrierten Siedlungen entlang der Trassen und Haltepunkte leistungsfähiger öffentlicher Verkehrsmittel, denn ohne räumliche Konzentration der Besiedlung kann die Bedienung mit öffentlichen Schnellverkehrssystemen nicht gewährleistet werden. Folgerichtig beklagt man, daß in der Praxis vielfach noch immer nicht die notwendigen Schlußfolgerungen gezogen würden und noch immer wesentliche bauliche Tätigkeiten „abseits der vorhandenen oder geplanten Verkehrsachsen" zugelassen würden und die Fülle der Maßnahmen „zur Reduzierung des privaten Verkehrs noch immer nicht ausgeschöpft" würden (so M. LANGKAU-HERRMANN, H . TANK, 1 9 7 4 , S. 116, innerhalb der Schriftenreihe des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau). So steht letztlich das Leitbild vor Augen, die Menschen wieder verstärkt verdichtet siedeln zu lassen, die „städtischen Strukturen kompakter zu gestalten" (V. GRUEN, 1973, S. 327), obgleich die Menschen noch immer vor dieser Verdichtung ausweichen. Dabei ist für solche urbanisierten kompakten Bereiche an Dichtewerte von ca. 20 000 Einwohner/km2 gedacht. Zwischen den unterschiedlich dimensionierten kompakten Stadtzellen einer größeren Stadtregion (von ζ. B. etwa 2 Mill. Einwohnern) bliebe Raum für Wald- und Wiesengürtel und für technologische Produktionsstätten; im Durchschnitt der gesamten Stadtregion würde sich aber noch immer (siehe V. GRUEN, 1973, S. 263) eine Bevölkerungsdichte von 5700 Ew./km2
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Leitbilder Konzeption neuer urbaner Strukturen für Los Angeles (Stadtplanungsamt Los Angeles) kompakte Zentren innerhalb eines verstädterten Groß-
Verlag Fritz Molden, Wien; aus V. Groen, Das Überleben der Stadt, Wien 1973
ergeben (dicht bebaute Industriestädte in der Bundesrepublik, wie Gelsenkirchen, Oberhausen, Essen, Bochum oder Düsseldorf, pendeln dagegen lediglich um 3000 Ew./km 2 ). Dank einer zellenhaft starken Verdichtung wäre der Zugang zu ausgleichenden Erholungsflächen bei relativ geringem Verkehrsaufwand gewährleistet. Das städtische Angebot, städtische Auswahlmöglichkeiten wären in unmittelbarer Nähe vorhanden. Ähnliche Modellvorstellungen schweben z. B . auch H . HOFFMANN (1972, S. 378 f) vor, wenn er für eine zukünftige städtische und ländliche Umwelt „urbane" Regionen empfiehlt, in denen sich zahlreiche „kompakt" bebaute
Schnitt durch einen der geplanten Zentrumskerne im Großraum Los Angeles Verlag Fritz Molden, Wien; aus V. Groen, Das Überleben der Stadt, Wien 1973
489 Schichtenstädte mit 20 000 bis 250 000 Ew. befinden, die „durch Integration mehrerer Schichten und lückenlose Nutzung stark konzentriert" sind und entsprechend wenig Fläche verbrauchen; ergänzend bietet „die agrarisch genutzte Umwelt in der Art eines totalen Parks Kontraste und Möglichkeiten kurzfristiger und längerer Regeneration". L E CORBUSIER ( 1 9 7 0 , 1 9 7 4 ) dürfte einer der bekanntesten und wirksamsten Verfechter kompakter Wohnbebauung, hoch aufragender großer Wohnkomplexe sein. Für ihn bringt die „Eroberung der Höhe" die Lösung wesentlicher städtebaulicher Probleme. CORBUSIER argumentiert etwa wie folgt: Um die körperliche und geistige Gesundheit des Menschen, um seine Lebensfreude zu fördern, muß er in guter reiner Luft, sonnig, in genügender Stille, unter günstigem Licht und nahe dem Grünen wohnen; aber er bedarf darüber hinaus zwangsläufig auch zahlreicher ergänzender materieller und geistiger Dienstleistungen, die ihm durch Einrichtungen außerhalb der Wohnung bereitgestellt werden und die gewissermaßen die „Erweiterung der Wohnung" darstellen. Die Nähe oder Ferne dieser Einrichtungen entscheidet wesentlich über Annehmlichkeit oder Beschwernis des Wohnens; eine ausufernde Vorortbebauung mit Einfamilienhäusern wäre diesbezüglich als fragwürdig anzusehen. Ordnet man die Wohnzellen der Menschen nun aber vertikal an und bezieht in diese hohen Wohnkomplexe all die Einrichtungen der „erweiterten Wohnung", die Lebensmittelversorgung, den Gesundheitsdienst, den Kindergarten, die Turnhalle und das Hallenbad etc. oder auch den Hoteldienst für Hausarbeit und Küche ein, dann kann man wieder zu Fuß bzw. per Aufzug, auf jeden Fall aber bequem, die wichtigsten Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Zwischen den Hochhäusern aber verbleibt genügend Gelände für Sportanlagen, Grünflächen, Freizeiteinrichtungen oder auch private Gemüsegärten, natürlich automatisch berieselt. Es entsteht eine Gartenlandschaft, aus der je nach Himmelsrichtung und Klima in bestimmten Abständen große Baukörper, Scheibenhochhäuser oder rechtwinklig vor- und zurückspringende Hochhausbänder aufragen. Hier nun, in dieser „vertikalen Gartenstadt" würde sowohl Licht und Sonne, die Nähe zur Natur, wie auch zu den Dienstleistungseinrichtungen gefunden. Mehr noch wird aber auch das Verkehrsproblem gelöst, denn mit der Wahl zwischen der ausgedehnten oder der empfohlenen dichten Stadt wird auch die Entscheidung zwischen zwei Verkehrskonzeptionen zu treffen sein, entweder „in der Stadt inmitten von Parkanlagen zu Fuß gehen oder täglich eine, zwei oder mehr Stunden in Fernverkehrsmitteln zu verbringen" ( L E CORBUSIER, 1 9 7 4 , S. 93). CORBUSIERS Modell verspricht kurze Wege, geringe Distanzen. So schlüssig all diese verschiedenen aufgeführten Empfehlungen, kompakte Baukörper, kompakte Stadtstrukturen zu errichten, auch auf den ersten
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Leitbilder
Blick erscheinen mögen, es bleiben Zweifel, ob damit die vielfältigen lebensräumlichen Belange des Menschen u. a. auch die der Kinder befriedigt werden können und ob nicht die Dichtebelastung zu hoch sein wird (siehe die noch folgende Erörterung). Gewiß ist die Argumentation, daß das Wohnen in den Einfamilienhäusern weitausgreifender Vorstadtregionen negative städtebauliche Auswirkungen hat und den Bewohnern auch Nachteile bringt, daß dagegen das Leben in einer innerstädtischen Wohnung bzw. in kompakten Stadtstrukturen zahlreiche Vorteile gewährt, keineswegs völlig abwegig. V. GRUEN (1973, S. 274 f), selbst zwischen verschiedenen Wohnformen wechselnd, vermag dies plastisch zu verdeutlichen: „Ich wohne in Los Angeles und benütze außerdem eine Wohnung im Stadtkern von Wien, ferner ein kleines Appartement-Büro in einem zentralen Teil von Paris. Zeitweise habe ich auch in meiner Wohnung in Greenwich Village in Manhattan und in einem Vorort von Detroit gelebt. In jedem Fall konnte ich meinen Wohnort frei wählen. Ich fand es unmöglich, im Zentrum von Los Angeles zu wohnen, und bin dort ein typischer Vorortbewohner. In Wien, Paris oder New York aber war es mir unvorstellbar, nicht im Stadtzentrum zu leben. In Los Angeles gehöre ich, wie ich gestehen muß, zu den Landverschwendern. Mein Haus und Garten stehen auf über dreitausend Quadratmeter Grund. Bei ungefähr gleicher Wohnfläche, allerdings ohne Garten und Schwimmbecken, beanspruche ich in Wien eine Landfläche von 32 Quadratmetern (da das Haus, in dem die Wohnung liegt, sechsgeschossig ist). Um die große Landfläche zu rechtfertigen, die ich in Los Angeles okkupiere, müßte ich, da ich dort hundertmal mehr Bodenfläche beanspruche als in Wien, drüben auch hundertmal glücklicher sein. Tatsächlich aber haben die unterschiedlichen Landflächen nichts mit einem unterschiedlichen Maß an Lebenserfüllung zu tun, sondern zeugen vielmehr für ein völlig anderen Lebensstil. In Los Angeles genieße ich meinen Swimming-pool, und meine Frau pflegt mit Liebe ihren schönen Garten. Wir fahren beide einen Wagen, den sie täglich stundenlang für ihre Einkäufe benötigt und den ich brauche, um ins Büro zu kommen oder Klienten zu besuchen. In Los Angeles zögern wir, unser geschütztes Heim zu verlassen, um Freunde zu besuchen oder an kulturellen Veranstaltungen und Unterhaltungen teilzunehmen, weil Ausgehen jedesmal eine beachtliche Investition an Zeit und Nervenkraft erfordert. Die Freude am Garten ist durch den Smog und die unaufhörlich vorbeirasenden Automobile und über uns fliegenden Jets getrübt. In Wien vermisse ich den Garten, habe aber von meinem Fenster aus eine prachtvolle Aussicht auf einen öffentlichen Park mit Springbrunnen und genieße in der Tat mehr Ruhe und Stille als auf meinem großen Grundstück in Los Angeles. Ich kann mein Büro in zwölf Minuten zu Fuß erreichen oder in drei Minuten mit dem Auto, ich kann auch eine Straßenbahn nehmen, was etwa sechs Minuten (ohne die lästige Wartezeit) erfordert. Wir gehen oft aus, weil wir Konzerthallen, die Oper, eine Anzahl von Theatern, viele Restaurants, Kaffeehäuser und Geschäfte leicht zu Fuß erreichen können. Freunde zu sehen erfordert keine vorherigen langfristigen Verabredungen wie in Los Angeles; man trifft sich meist sogar zufällig auf der Straße oder in einem Cafe. Beide Wohnorte haben zweifellos ihre Vorteile. Es hängt vom persönlichen Geschmack und persönlicher Vorliebe, von Stimmung und Alter ab, welche man höher einschätzen will. Ich persönlich ziehe eher die urbane Atmosphäre vor, die ich in Wien und Paris genieße und die ich auch in Manhattan fand. Ganz abgesehen von allem aber, genießen die Bewohner einer kompakten Stadt einen wesentlichen Vorteil. Die Wiener können zum Beispiel in dreißig Minuten mit der Straßenbahif, der Bahn, dem Autobus oder Privatauto noch fast unversehrte Landschaft
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erreichen und nützen diese Möglichkeit auch voll aus. Abgesehen von individuellem Geschmack hinsichtlich urbaner oder suburbaner Lebensformen jedoch, bleibt die entscheidende Tatsache bestehen, daß wir nur durch kompakte Urbanität die Voraussetzungen schaffen können, um das Dilemma der globalen „Raumzwickmühle" zu lösen."
Der Schlußfolgerung kann nicht zugestimmt werden (siehe weiter hinten). Aber ganz richtig betont V. GRUEN, daß es eine Frage des „persönlichen Geschmacks" ist, welche Wohn- und Lebensform bevorzugt wird. Das heißt aber auch, es muß ein entsprechend vielfältiges Angebot zur Auswahl stehen, eine Dominanz kompakter Siedlungszellen jedoch müßte zwangsläufig dieses Angebot beträchtlich einschränken. Wohnwünsche Nun deuten zahlreiche in den letzten Jahren durchgeführte empirische Untersuchungen bezüglich der Wohnwünsche darauf hin, daß gegenwärtig in der Bundesrepublik ca. 70-80% der Bewohner die Wohnweise im Einfamilienhaus mit Garten gegenüber anderen Wohnformen vorziehen würden, auch läßt sich eine Vorliebe für mittlere und kleinere Städte502 mit ihren noch kaum eingeschränkten Möglichkeiten der Eigenheimbebauung beobachten; bodennahe Wohnweise möglichst im eigenen Haus wird bevorzugt, wobei allerdings die Nähe zu Dienstleistungseinrichtungen erwünscht ist. Eine Gallup-Umfrage in den USA zeigte, daß 56% der Amerikaner, wenn sie die Wahl hätten, am liebsten gänzlich auf dem Lande leben möchten, während weitere 25% ein Leben in den Vororten wählen würden; dagegen sprachen sich nur 18% für ein Leben in der Stadt aus (vgl. G. R. TAYLOR, 1975). Solche Ergebnisse können natürlich nicht ohne weiteres auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland übertragen werden, zumal sich mit den Alternativen, in der Stadt, der Vorstadt oder auf dem Lande zu wohnen, in den verschiedenen Ländern doch oft recht verschiedene Nebenbedingungen verbinden. Fragt man ζ. B. nur nach der bevorzugten Wohn- bzw. Hausform oder nur nach der bevorzugten Raumkategorie, dann ist die Gefahr groß, daß diese Typen abstrahiert bzw. gelöst von den in der Regel damit verbundenen Begleiterscheinungen gesehen werden und damit eine zu einfache Entscheidung gefällt wird, die dann im konkreten Fall in Beachtung der tatsächlichen Nebenbedingungen u. U. weit weniger eindeutig ausfiele. Angesichts der in der Bundesrepublik vorhandenen Siedlungsstruktur, der Baukosten, des Bauflächenangebotes etc. ist ja die Verwirklichung der unterschiedlichen Wohnweisen oft mit recht charakteristischen Abhängigkeiten bzw. Vor- und Nachteilen verbunden. Zufolge der Bodenpreise läßt sich heute im allgemeinen ein Einfamilienhaus umso kostengünstiger errichten, je größer die Entfernung zur Großstadt bzw. zum Zentrum der Verdichtungsgebiete ist. Der Wunsch, im Einfami-
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lienhaus zu wohnen, ist also für viele Menschen nur noch um den Preis einer zumindest relativen Abgelegenheit zu realisieren. Nahe der städtischen Zentren muß daher oft eine flächensparende Bauweise ζ. B. durch Reihenhäuser, Gartenhofhäuser etc. bevorzugt werden. Zugleich eröffnen sich allerdings - durch die Stadtsanierung - auch neue Wohnmöglichkeiten innerhalb vieler Städte und vor allem der Kleinstädte mit schönem Stadtbild. Will man dagegen nahe der großstädtischen Zentren wohnen, wird man sich wohl in der Regel für das städtische vielstöckige Mehrfamilienhaus oder das Wohnhochhaus entscheiden müssen. Man kann zwar davon ausgehen, daß sich die Menschen der mit den jeweiligen Wohnweisen verbundenen Begleiterscheinungen im allgemeinen in etwa bewußt sind, fragt man jedoch lediglich, welche Hausform bevorzugt wird, dann ist noch immer das Risiko relativ groß, daß die mit der jeweiligen Vorliebe verbundenen spezifischen Nachteile übersehen werden. Es ist daher reizvoll, die Menschen bei der Frage nach der bevorzugten Wohnform zugleich mit den typischerweise auftretenden Nebenbedingungen zu konfrontieren, um damit ein überlegteres Urteil auszulösen. Die allgemeine Vorliebe für das Eigenheim ist bekannt. Weniger bekannt ist es und zugleich interessant zu erfahren, wie diejenigen, die z. Zt. in Mehrfamilienhäusern wohnen, also selbst noch kein Eigenheim haben, sich entscheiden würden, wenn sie zwischen alternativen Wohnformen jeweils charakteristischer auch negativer Nebenbedingungen wählen könnten. So kann man ζ. B. das so beliebte Einfamilienhaus an die negative Bedingung koppeln, daß die Fahrzeit zur nächsten Kleinstadt 20 bis 30 Minuten beträgt. Vom Verfasser wurde eine entsprechende Befragung bei Bewohnern 3-4-stöckiger Mehrfamilienhäuser in verdichtet bebauten Wohngebieten nahe dem Zentrum einer kleinen Großstadt durchgeführt. Selbstverständlich mußten sehr stark vereinfachte Typen von Wohnweise und dazugehöriger räumlicher Lage bzw. Nebenbedingung ausgewählt werden, die aber dennoch angesichts der vorhandenen Siedlungsstruktur vergleichsweise charakteristische Kombinationen darstellen. Diesen alternativen Wohnsituationen (Abb. 10) sollte dann, je nach dem Grad der Vorliebe, eine entsprechende numerische Rangfolge (von 1-5) gegeben werden. Folgende Frage wurde gestellt: Ich würde gern von ihnen erfahren, wie Sie am liebsten wohnen möchten. Ich gebe Ihnen nachfolgend 5 Möglichkeiten zur Wahl, die ich Ihnen der Reihe nach vorlese. Zudem sehen Sie diese 5 Möglichkeiten durch Zeichnungen verdeutlicht auf dem Ihnen vorliegenden Blatt. A. Einfamilienhaus mit Garten, in einem Dorf, inmitten einer reizvollen Umgebung. Die Fahrzeit beträgt 20 bis 30 Minuten zur nächsten Kleinstadt.
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Einfamilienhaus mit Garten, in einem Dorf, inmitten einer reizvollen Umgebung. Die Fahrzeit beträgt 2 0 bis 3 0 Minuten zur nächsten Kleinstadt.
In einem ruhigen, modernisierten Haus, inmitten einer hübschen Kleinstadt; außerdem könnten S i e a m Rande der Stadt ei men Garten benutzen.
Reihenhaus mit kleinem Garten inmitten eines ruhigen Wohngebietes. Z u m Zentrum der mittelgroßen Sladt hätten S i e eine Fahrzeit v o n 1 0 Min. oder einen Fußweg von 2 5 Minuten.
Ausreichend große W o h n u n g in einem 3-stöckigen Mehrfamilienhaus, das inmitten eines städtischen Wohnviertels mit Grünanlagen liegt. Außerdem hätten S i e die Möglichkeit, einen Kleingarten zu benutzen. Nach 1 5 Minuten Fußweg wären S i e bereits in der belebten Innenstadt.
Ausreichend große W o h n u n g in einem großstädtischen Hochhaus, das in unmittelbarer N ä h e zu einem schönen Stadtpark wie auch zum belebten Zentrum liegt.
Abb. 10: Alternative Wohnmöglichkeiten
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Β. In einem ruhigen, modernisierten Haus, inmitten einer hübschen Kleinstadt; außerdem könnten Sie am Rande der Stadt einen Garten benutzen. C. Reihenhaus mit kleinem Garten inmitten eines ruhigen Wohngebietes. Zum Zentrum der mittelgroßen Stadt hätten Sie eine Fahrzeit von 10 Minuten oder einen Fußweg von 25 Minuten. D. Ausreichend große Wohnung in einem 3-stöckigen Mehrfamilienhaus, das inmitten eines städtischen Wohnviertels mit Grünanlagen liegt. Außerdem hätten Sie die Möglichkeit, einen Kleingarten zu benutzen. Nach 15 Minuten Fußweg wären Sie bereits in der belebten Innenstadt. E. Ausreichend große Wohnung in einem großstädtischen Hochhaus, das in unmittelbarer Nähe zu einem schönen Stadtpark wie auch zum belebten Zentrum hegt. Geben Sie der Wohnweise, die Ihnen am besten gefällt, die Nummer 1, die Ihnen am zweitbesten gefällt die Nummer 2, usw. Nummer 5 erhält also die Wohnweise, die Ihnen am wenigsten zusagt. Lassen Sie bei der Beurteilung ihre derzeitige finanzielle Situation außer Acht. Bei all den verschiedenen Wohnweisen sollten Sie voraussetzen, daß Sie in zumutbarer Entfernung einen passenden Arbeitsplatz finden.
Es zeigte sich, daß 43% der Befragten der Wohnform (A), dem ländlichen Einfamilienhaus, in 20-30 Fahrtminuten von der nächsten Kleinstadt entfernt, den ersten Rang zusprachen; 30% gaben dem stadtnahen Reihenhaus (C) und 13% dem städtischen Mehrfamilienhaus (D) sowie 12% dem modernisierten Haus inmitten der Kleinstadt (B) den Vorzug. Dem großstädtischen Hochhaus (E) dagegen erkannten nur 3% der befragten Mietshausbewohner den 1. Rang zu und 90% sprachen dieser Wohnform den vierten oder fünften, also die beiden schlechtesten Ränge zu. Nur ca. 13% der Befragten gaben demnach der Wohnform, in der sie selbst leben, also dem städtischen 3—4-stöckigen Mehrfamilienhaus, den Vorrang503. Bedenkt man nun, daß der größte Teil der Befragten, wie vorherige Fragen zeigten, an sich mit ihrer momentanen Wohnsituation wie auch dem Wohnumfeld nicht unzufrieden war, also die Bevorzugung des ländlich gelegenen Einfamilienhauses oder des städtischen Reihenhauses nicht aus momentaner Wohnungsnot oder im Bewußtsein schlechter Wohnverhältnisse erfolgte, dann läßt sich vermuten, daß es sich hierbei um relativ sachliche Einschätzungen und überlegte Vorlieben handelt. Da die Befragten erfahrungsgemäß der eigenen Wohnform, soweit sie mit ihr nicht unzufrieden
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sind, eine vergleichsweise günstigere Einstufung zu teil werden lassen, wie dies u. a. die parallelen Befragungen in stadtnahen Reihenhäusern und städtischen Hochhäusern bestätigten, dürfte bei den Mietshausbewohnern die Vorliebe für alternative Wohnformen sogar noch ausgeprägter sein, falls diese tatsächlich zur Auswahl stünden. Auf jeden Fall wird deutlich, daß die meisten Bewohner städtischer Mehrfamilienhäuser, wenn sie die bevorzugten Alternativen verwirklichen könnten, ihre derzeitige Wohnform aufgeben würden; denn diese entspricht nicht ihren Wunschvorstellungen. Dabei ist es interessant, zu beobachten, daß diese Einstellungen nahezu unabhängig von der Einkommenshöhe, der Familiensituation und dem Alter gelten. Die städtischen und großstädtischen Wohngebiete mit mehrstöckiger Bebauung sind also, trotz der geringen Entfernung vom Stadtzentrum, durchgänig vergleichsweise unbeliebt. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn zugleich Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld geäußert wird, also ausreichende Grünanlagen etc. vorhanden sind. Es bleiben daher Zweifel, ob durch Sanierung, vermehrte Grünanlagen, Verkehrsberuhigung sowie weitere Wohnumfeldverbesserung die Attraktivität solcher dicht bebauter Wohngebiete in den größeren Städten und zentrumsnahen Bereichen der Verdichtungsgebiete gesteigert werden kann. Es bleiben auch Zweifel, ob so die Abwanderung, solange sich die bevorzugten Alternativen noch verwirklichen lassen, gestoppt werden kann. Auch wenn man etwa statt der mehrstöckigen Mietshäuser der Vergangenheit nun moderne, großstädtische Wohnhäuser errichten würde, wäre dies nicht zu erreichen. Eher das Gegenteil ist zu vermuten, denn solche Hochhäuser werden anscheinend selbst dann, wenn sie in unmittelbarer Nähe zu einem gepflegten Stadtpark wie auch zum Zentrum liegen (E) noch viel weniger geschätzt. Wie eine weitere Befragung zeigte, geben sogar die Bewohner der Hochhäuser dieser Wohnform nur zu 3% den 1. Rang, aber immerhin zu 63% die beiden schlechtesten (4. und 5.) Ränge und stufen ansonsten das stadtnahe Reihenhaus (zu 35 %) und unmittelbar nachfolgend das ländlich-abgelegene Einfamilienhaus (zu 30%) als vorrangig ein. Es wird also nach der gegenwärtigen Bewertung der Bewohner anscheinend sowohl das städtische, mehrstöckige Haus, wie auch die „kompakte", zentrumsnahe Wohnhochhausbebauung keineswegs als die eigentlich erwünschte Wohnform angesehen, sondern wohl mehr als ein notwendiges Arrangement mit den Tatsachen, da andere Wohnweisen eben nicht oder noch nicht realisiert werden können. Das schließt allerdings nicht aus, daß für einen speziellen Interessentenkreis das städtische Wohnhochhaus zumindest eine relative Vorzüglichkeit besitzt; denn immerhin stufen 33% der befragten Hochhausbewohner diese Wohnform unter dem zweiten und dritten Rang (von 5) ein. Die gleiche Befragung in einem stadtnahen Reihenhausgebiet zeigte dage-
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gen, daß der eigenen Wohnweise von 64% der 1. Rang zuerkannt wurde bzw. von 93% die beiden ersten Ränge. Bedenkt man, daß die Vorliebe der Bewohner mehrstöckig bebauter Großstadtviertel in weit höherem Maße dem ländlichen Einfamilienhaus oder auch dem stadtnahen Reihenhaus sowie dem Haus inmitten einer Kleinstadt als der eigenen Wohnform und dem städtischen Hochhaus gelten dürfte, dann kann die Intensität, mit der viele Stadtplaner und Raumordner kompakt und verdichtet bebaute „urbane" Siedlungen empfehlen, nur verwundern; die Sehnsucht der Bewohner nach solcher Art Urbanität scheint nicht groß zu sein. Dagegen zeigten die Befragungen, daß eine bodennahe Bebauung mit Reihenhäusern, die zumindest kleine Gärten haben, den Wünschen eines großen Teils der Mehrfamilienhausbewohner durchaus entgegenkommt. Mit dieser Bebauung ließe sich, solange die Städte bzw. Verdichtungsgebiete nicht zu groß werden, eine relative Nähe zur Stadt bzw. zum Zentrum, zur „Urbanität" erhalten und dennoch wunschgemäßes Wohnen verwirklichen. Ungeachtet der Wertschätzung stadtnaher Reihenhäuser lassen die durchgeführten Befragungen doch auch vermuten, daß sehr viele Menschen, falls sie einen entsprechenden Arbeitsplatz fänden, am liebsten im ländlich-kleinstädtischen Raum wohnen würden, was durchaus auch einer in den USA zu beobachtenden Tendenz (s. o.) entspräche. Die gegenwärtig hohe Einstufung bodennaher Wohnbebauung, sowohl in stadtnahen Reihenhäusern wie auch räumlich großzügiger im ländlich-abgelegenen Einfamilienhaus, legt es nahe, kompakte Wohnbebauung innerhalb polyzentrischer oder monozentrischer Agglomeration zugunsten einer vielfältigen und überwiegend bodennahen Bebauung im Rahmen des aufgezeigten Stadt-LandVerbundes aufzugeben. Empirisch ermittelte Bewertungen der vorgestellten Art mögen gewissen Schwankungen unterliegen; so ermittelte z. B. H. ZIMMERMANN im Jahre 1971 noch eine relativ starke Neigung zwar nicht in der Großstadt aber doch in kleineren Orten oder Städten in deren Nähe zu leben. Die Konstanz von Befragungsergebnissen kann also nicht unterstellt werden. So mag auch eines Tages eine Reduzierung der „städtischen" Belästigungen den Anteil der gern in kompakt bebauten Stadtgebieten Wohnenden wieder erhöhen, aber der Auszug aus den großen Städten scheint doch vor allem auf der recht eindeutigen Geringschätzung verdichteter Wohnweise in Mietshäusern zu beruhen und kann nicht nur als kurzfristiges Fluchtphänomen eingestuft werden, sondern darf als Ausdruck doch vergleichsweise eindeutiger lebensräumlicher Bewertungen und Prioritäten der Menschen verstanden werden, die unter den Bedingungen des Wohlstands und der Handlungsfähigkeit zur Realisierung drängen. Dem Entschluß, die dicht bebauten Stadtviertel zu verlassen, gehen im allgemeinen recht gründliche Überlegungen voraus. Die
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Menschen entscheiden sich nicht spontan oder nur der Mode folgend, sondern gemäß ihren Bewertungen, und diese lassen trotz aller Nachteile das Wohnen außerhalb, im eigenen Haus und Garten in der Summe attraktiver erscheinen. Daher gehört schon eine beträchtliche planende Ignoranz dazu, die aufgelockerte, bodennahe Wohnbebauung zu erschweren oder gar zu verhindern und die Menschen mangels alternativem Angebot in die verdichteten und vielstöckigen Wohngebiete nahe der Verkehrstrassen und Haltepunkte öffentlicher Verkehrsmittel geradezu hineinzuzwingen. Dann ziehen die Menschen zwar aus der verdichteten Stadt heraus, aber nur, um in die verdichteten vorstädtischen Wohnkomplexe, die nahe zahlreicher deutscher Großstädte errichtet wurden, wieder einzuziehen. Noch liegt der Anteil der Bewohner von Einfamilien- oder Zweifamilienhäusern in der Bundesrepublik mit ca. 40% weit hinter dem anderer fortgeschrittener Länder zurück (in den USA ca. 70%); die Bevorzugung kompakter Wohnbebauung und Wohnweise würde an den Wünschen eines noch immer recht großen Bevölkerungsteils vorbeigehen. Der Verweis auf angeblich mangelnde Fläche kann bestenfalls in wenigen Teilräumen akzeptiert werden (s. o.). Bleibendes Risiko Auch wenn man solche „kompakte städtische Strukturen" unter großem Aufwand so gestalten wollte, daß die wechselseitige Beeinträchtigung der verschiedenen darin ablaufenden Funktionen möglichst niedrig bliebe, würde zwangsläufig das „Zusammenrücken" der Menschen nicht nur Kontaktvorteile, sondern auch vielfältige wechselseitige Beeinträchtigungen zur Folge haben. Gerade weil der Wohlstand die Palette der menschlichen Aktivitäten verbreitert und damit auch die „Umweltwirkung" vieler Menschen intensiviert hat, gerade weil das Sich-Ausleben vielfach die wechselseitige Belästigung erhöht, vom „Röhren" des Motorradauspuffs bis zum plärrenden Kassettenrekorder, wird nicht das Zusammenrücken wichtiger, sondern das schützende Abstandgewinnen. Der finanzielle Aufwand für eine stark verdichtete und dennoch störungsfreie Stadtstruktur wäre außerordentlich hoch, und selbst dann bliebe in solchen kompakten Gebilden für Erwachsene wie Kinder das Risiko, durch ständige Reizüberflutung Schaden zu nehmen. Übermäßige Stimulierung führt leicht zum schädigenden Distreß ( H . SELYE, 1974, S. 64). Auch konnte bereits mehrfach die negative psychologische Auswirkung des Lebens in stark verdichteten Wohnsiedlungen beobachtet und bestätigt werden (vgl. u. a. A. A. MOLES, 1972; O. R. GALLE et al., 1973; Β. FROMMES, 1973); die angestrebte „urbane" Kontaktfreude verwandelt sich nur zu oft ins Gegenteil; „geistige Obdachlosigkeit" (vgl.
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E. KUHN, 1972, S. 268) breitet sich aus; Einsamkeit schleicht sich ein; die Kommunikation nimmt ab und damit verbunden sinkt die wechselseitige soziale Aufmerksamkeit und Verantwortlichkeit, wodurch wiederum die Kriminalität einen fruchtbaren Boden findet. Diese wird zudem durch die zahlreichen Winkel, Gänge, etc. in kompakten Großbauten begünstigt. Jugendliche entziehen sich frühzeitig der Aufsicht und leben sich hektisch und oberflächlich im Gewirr kompakter Baustrukturen aus. Kindern fehlt ausreichende Möglichkeit, ihren Bewegungs- und Spieldrang im Freien, im Kontakt mit der belebten Natur auszuleben. Ihre Krankheitsanfälligkeit wächst, zunehmend mit der Höhe der bewohnten Etage (vgl. D. M. FANNING, 1967). Zusätzlich führt eine nicht zuletzt durch Dichte, durch Multifunktionalität übermäßig stimulierende Umwelt häufig zu Entwicklungsstörungen ( v g l . u . a . J . F . WOHLWILL, 1 9 6 6 ) .
Bei Kindern aus zu stark verdichteten Stadtgebieten läßt sich ein erhöhter Anteil von Schlafstörungen, Phänomenen vegetativer Dystönie und verringerter Konzentrationsfähigkeit beobachten (vgl. G. A. V O N HARNACK, 1958). Die Verweigerung eines ungestörten und ausreichend großen Bewegungsraumes erschwert ein weitausgreifendes Umherschweifen und viele Formen des bewegungsbetonten Spielens, vor allem aber den aktiven territorialen Explorierdrang; das beeinträchtigt in entscheidenden Lebensjahren die psychische und körperliche Entwicklung genauso wie die gleichzeitig zu starke Sinnesreizung des großstädtischen Erlebensraumes (vgl. E. KUHN, 1972, S. 271). Mütter kleiner Kinder dagegen unterliegen zusätzlicher Belastung und Unruhe, weil in Hochhäusern und großen Wohnblöcken die Beaufsichtigung der Spielenden erschwert ist. Die kleinen Kinder wiederum bedürfen der Nähe und Erreichbarkeit eines Elternteils, wenn sie die Umgebung erkunden und spielerisch herumlaufen, springen, klettern wollen. Nahezu regelmäßig kehrt das Kind zum Vater oder der Mutter zurück, um sich deren Anwesenheit zu versichern und damit eine beruhigende Voraussetzung für sein erneutes Erkundungsverhalten und Spielen zu gewinnen. Ist der relativ enge räumliche Kontakt mit den Eltern gestört, dann erstirbt jedes Spiel und die Angst dominiert (vgl. B. HASSENSTEIN, 1 9 7 3 , S. 5 6 ) . Die Hochhaussiedlung mit ihrer großen Distanz zwischen Wohnung und Boden bzw. Spielplätzen, Sandkästen etc. erweist sich auch diesbezüglich dem Reihenhaus oder Einfamilienhaus mit seiner direkten Verbindung zwischen Garten und Wohnraum bzw. Küche als unterlegen. Auch für alte Menschen mit ihrer gesteigerten Lärmempfindlichkeit, mit ihrer wachsenden Hilflosigkeit gegenüber mehr oder minder kriminellen Verhaltensweisen enthalten kompakte Baustrukturen meist mehr Nachteile als Vorteile (vgl. u. a. D. BRANDT, et al., 1 9 7 3 ) . Zugleich wird die von älteren Menschen gewünschte
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Nähe zur Natur, zum „Grünen", zu Parkanlagen, Schrebergärten, Wald und Feld (vgl. E. KUHN, 1972, S. 282) weitestgehend vorenthalten. Nicht zuletzt sprechen gesundheitliche Aspekte gegen eine zu starke Zusammendrängung der Menschen. Neben der erhöhten Infektionsgefahr macht sich vor allem die mit vielen menschlichen Verhaltensweisen verbundene Luftverunreinigung gefährdend bemerkbar (vgl. u. a. T . C . MEDICI, 1976); eine aufgelockerte Siedlungsweise wäre dagegen ζ. B. unserer zunehmend gefährdeten Lungengesundheit förderlich. Auch bedroht die mit der gedrängten Lebensweise verbundene Belastung der Dichtetoleranz, der Dichtestreß, das Zusammenleben. Auf eine weitere Darlegung der Nachteile zu stark verdichteter kompakter Siedlungsstrukturen darf hier verzichtet werden. Diesbezüglich liegt bereits eine ständig zunehmende Literatur vor. Exodus und neuer Lebensstil Ohne Kenntnis dieser oder jener Veröffentlichungen über die Nachteile und Gefährdung zu stark verdichteter Wohnweise haben in den entwickelten westlichen Ländern mit wachsendem Wohlstand immer mehr Menschen aufgrund eigener subjektiver Bewertung die verdichtet bebauten Großstädte verlassen. In den USA bereits seit den fünfziger Jahren, nachfolgend in England, den Niederlanden etc. und etwas verspätet in der Bundesrepublik, setzte der Exodus aus den großen Städten ein. Weit ausgreifende Einfamilienhausgebiete entstanden zunächst am Rand der Städte, schoben sich aber bald immer weiter ins Umland hinaus. Große suburbane Räume, durch die mehrere Großstädte zu großen Agglomerationen bzw. polyzentrischen Verdichtungsgebieten verwuchsen, bildeten sich heraus. Parallel mit dieser Dezentralisation der Wohngebiete siedelten sich auch vor allem die produzierenden Firmen im suburbanen Raum an. In den USA griff dieser Prozeß bald, etwa seit dem Beginn der 70er Jahre, über den suburbanen Raum hinaus, weit in die nonmetropolitanen Gebiete und damit in den kleinstädtisch ländlichen Raum hinein. Außerhalb des verstädterten Raumes, außerhalb des suburbanen randstädtischen Bereiches bilden sich an bereits vorhandenen Siedlungen aber auch im offenen Land neue Siedlungsschwerpunkte. Hatten die Zentralstädte (central cities) der großen metropolitanen Regionen in den USA zwischen 1970 und 1975 noch einen Abwanderungsverlust in die suburbane randstädtische Zone (suburbs) von fast 6 Mill. Ew., so zogen bereits 1,1 Mill. Menschen, die suburbanen Bereiche überspringend, und zugleich 1/2 Million Menschen aus diesen suburbanen Räumen hinaus in die kaum verstädterten nonmetropolitanen Gebiete. So verzeichnen zunehmend mit den letzten Jahren große Teile des
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stärker ländlich geprägten Ravîmes beträchtlichen Zuwachs an Einwohnern und Arbeitsstätten, auch weit entfernt von den Agglomerationen, wobei zugleich auch immer mehr Dienstleistungsbetriebe und Verwaltungen der privaten Wirtschaft den städtischen Raum verlassen. Während dieser nonmetropolitane, ländliche Raum zwischen 1960 und 1970 noch einen Abwanderungsverlust von ca. 3 Mill. Menschen aufwies, hatte er zwischen 1970 und 1975 einen Zuwachsüberschuß von 1,8 Mill. Menschen504. Gestützt durch das flächenerschließende Verkehrsnetz der Highways und übrigen Autostraßen setzte also eine stärkere Besiedlung des ländlichen Raumes ein, oft in Anlehnung an bestehende Siedlungen, oft aber auch mit streuender Tendenz. So zeichnet sich bezüglich der Raumstruktur eine zunehmende Dezentralisation ab. Die Agglomerationen scheinen einem Prozeß der Deglomerationen bzw. Dekonzentrationen und Ausdünnung zu unterliegen. Das schließt nicht aus, daß es zugleich im weniger verstädterten, noch stärker ländlichen Raum auch zu einer begrenzten Bündelung der Besiedlung an neuen und alten lagegünstigen Standortbereichen kommt. Der aufgezeigte Prozeß ist in den USA aufgrund der erreichten Vollmotorisierung, der standörtlichen Dynamik der privaten Wirtschaft etc. besonders weit fortgeschritten, läßt sich aber ebenso in England beobachten (in beiden Ländern verstärkt durch Abwanderung großer Teile der Rentnerbevölkerung in ländliche, südlichere sowie küstennahe Bereiche) und ist auch in der Bundesrepublik Deutschland wirksam. Während ζ. B. zwischen 1961 und 1970 die Verdichtungsräume (MKRO) um 6,6% der Bevölkerung zunahmen, wuchs die Bevölkerungszahl im ländlich-städtischen Raum zwischen diesen Verdichtungsgebieten um 10%. In den nachfolgenden Jahren verzeichnete dann zunehmend auch der kleinstädtisch-ländliche Raum weit außerhalb der Verdichtungsgebiete Zuwanderungen. Diese Entwicklung ist trotz Modifizierung und leichter Verzögerung dem Dezentralisationsprozeß in den USA durchaus ähnlich. Allerdings läßt sich auch ein weiteres und anscheinend gegenläufiges Phänomen - vor allem in den USA - beobachten, auch wenn es sich noch nicht in den Statistiken niederschlägt. Zum einen wandern vor allem jüngere Familien, indem sie die von den Städten gegebenen finanziellen Anreize ausnutzen, in die oft verfallenen oder verslumten, älteren Reihenhausgebiete der Städte zurück und leiten so eine Erneuerung dieser Stadtgebiete ein, zum anderen werden meist nahe der City große Baukomplexe errichtet, die gewissermaßen als „Stadt in verstädtertem Großraum" sowohl Wohnungen wie Arbeitsstätten und Dienstleistungseinrichtungen auf engstem Raum zusammenfassen und jene Vorstellungen von der verkehrsminimierten, kompakten Stadtgestalt hoher Urbanität (s. ο. V. GRUEN) und hochkomplexer Architektur zu verwirklichen scheinen (ζ. B. Galeria-Komplex, Rice-Center,
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501 „Citicorp Center" in New York - vielfältigste Einrichtungen unter einem Dach
Aufnahme d. Verf.
„Renaissance Center", kompakte multifunktionale Stadtstruktur in Detroit - Skizze des Gesamtprojektes
aus A. Hekscher, Open Space, New York 1977
Teilschnitt durch das Houston Center der Texas Eastern Transmission Corporation
Verlag Fritz Molden, Wien; aus V. Gruen, Das Uberleben der Stadt, Wien 1973
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Leitbilder Kompakte Innenstadtbebauung in Montreal - Schnitt durch Place Bonaventure
Verlag Fritz Molden Wien; aus V. Gruen, Das Überleben der Stadt, Wien 1973
Greenway-Plaza in Houston/Tex., Midtown Plaza in Rochester, Place Bernaventure in Montreal, Renaissance-Center in Detroit etc.) und die ebenfalls zu einer Renaissance des verdichteten städtischen Wohnens beitragen könnten. Nun dürfte es sich hierbei in erster Linie um eine Reaktion auf die Nachteile der zu weiträumigen Erstreckung des suburbanen Raumes handeln. Werden die Fahrzeiten zu den Arbeitsstätten (vor allem des Dienstleistungsbereiches) in der City zu groß und belastend, dann wächst die Bereitschaft, um des Vorzuges größerer Nähe die Nachteile stärkerer Verdichtung in Kauf zu nehmen. Da zudem der Bau eines eigenen Hauses am Rande oder außerhalb der Stadt zunehmend teurer geworden ist und für viele junge Leute schwerer als vor Jahren zu realisieren wäre, da darüber hinaus die Multifunktionales „Rathaus-Center" in Ludwigshafen
Götz u. Partner, Werbeagentur, München
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Washington: Neue Reihenhausbebauung nahe dem Zentrum
Aufnahme d. Verf.
Generation der im suburban-zersiedelten Raum Aufgewachsenen auch dessen Nachteile aus eigener Erfahrung kennt und zugleich eine Tendenz zu kleineren Familien und zur späteren Heirat wirksam ist, wächst die Zahl derer, die bereit sind, „städtisches" stärker verdichtetes Wohnen zu erNew York: renovierte alte Reihenhäuser nahe dem Central Park
Aufnahme d. Verf.
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Baltimore: Projekte zur Belebung der Innenstadt - neue Shopping Mall direkt am Hafen, Apartementhäuser, kulturelle Einrichtungen, Sport- und Freizeitanlagen, Büros The Rouse Company, Columbia/Maryland
Baltimore: Projekt der Shopping Mall The Rouse Company, Columbia/Maiyland
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Sacramento/Calif.: Projekt zur Revitalisierung der Innenstadt nahe des Capitols - neues innerstädtisches Wohnen, Hinkaufen, Erholung und Freizeit in gemischt genutzten Vierteln, die auch neue Büros und Garagen aufnehmen (mixed use within blocks) Department of General Service, State of California; aus Capitol Area Plan
proben. Zugleich forciert die Stadtplanung innenstadtbelebende Projekte und fördert die Erneuerung citynaher Wohngebiete. Allerdings wäre es leichtfertig, daraus abzuleiten, daß nun eine allgemeine Reurbanisation und Rückwanderung in die verdichtet bebauten Städte bevorstehe. Der Auszug aus den Großstädten war und ist ja nicht nur ein Einzug in das Haus „im Grünen", sondern ist zugleich auch mit einem Wandel des raumbezogenen Lebensstils verbunden, der sich vor allem in den USA gewissermaßen als „suburban way of life" besonders deutlich herausgebildet hat. Man bedarf des großstädtischen Zentrums sowohl hinsichtlich der merkantilen Interessen, des Einkaufs, der Unterhaltung und Geselligkeit wie auch der Teilnahme am kulturellen und geistigen Leben weit weniger als vor der Zeit der allgemeinen Individualmotorisierung. Statt dessen kann man in den Shopping Villages, den Shopping Mails des suburbanen bis ländlichstädtischen Raumes ebenso gut einkaufen wie im Kaufhaus des Zentrums; das gesellige Leben vermag sich auch im Country Club, im Golfclub zu entwickeln; die weiterführenden Schulen, die Bibliotheken müssen nicht im Zentrum einer alten Stadt hegen, sie müssen lediglich leicht erreichbar sein, und dies ist durch die gute Verkehrserschließung des suburbanen Raumes durchaus gewährleistet, umso mehr, wenn sich ergänzende Einrichtungen an gemeinsamem Standort bündeln. Und außerdem schließt das Wohnen im
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suburbanen Raum nicht aus, daß man auch das Museum im alten Zentrum genauso oft oder selten wie zuvor besucht. Sicherlich ist es für bestimmte Bevölkerungsteile möglich und sinnvoll, einen anderen, konsequenter Urbanen Lebensstil zu entwickeln bzw. zu erneuern. Aber auch dieser bedürfte der lebensräumlichen Vielfalt und dürfte nur ungern auf bestimmte Vorzüge des ländlichen Raumes verzichten wollen. Wer wieder stärker verdichtet-städtisch wohnt, wird zunehmend Bedürfnis nach einem Wochenendhaus oder nach anderen Möglichkeiten des „grünen" Freizeitwohnens entwickeln, so wie ja auch heute der Drang der ζ. B. in Paris oder Stockholm oder in den dicht bebauten Städten Oberitaliens, der Bundesrepublik etc. Wohnenden nach dem ländlichen Campingplatz oder Zweitwohnsitz etc. groß ist, so wie heute schon im neuen kompakten Wohnkomplex in Los Angeles lebende kinderlose Ehepaare zur Freizeit ins Wochenendhaus in die Mojahve-Wüste fahren505, so wie schon vor Jahrhunderten die vermögenden Bürger der eng bebauten italienischen Städte versuchten, das geschäftige und urbane Leben im städtischen Palazzo ausgleichend mit dem Leben in der suburbanen oder ländlichen Villa zu verbinden. Es scheint aber auch ein stärker ländlicher Lebensstil in Verbindung mit den modernen Versorgungsmöglichkeiten auf große Bevölkerungsteile eine beträchtliche und vermutlich zunehmende Anziehungskraft auszuüben. Es gibt viele und gegenüber früher zahlreichere Möglichkeiten, einen ausgewogenen raumbezogenen Lebensstil zu verwirklichen, der sowohl städtische wie ländliche Elemente kombiniert - vorausgesetzt, schlechte Planung verhindert dies nicht. Größte Zweifel bleiben, ob das Leben in kompakten Baukomplexen und Stadtgebilden diesbezüglich als eine besonders vorteilhafte Kombination anzusehen ist. Sie dürfte nur für bestimmte Bevölkerungs- und Altersgruppen von besonderem Reiz sein. Sicherlich jedoch werden die großen industriezeitlichen Städte mit ihren großen und oft häßlichen dichtbebauten Wohngebieten in Europa wie in Amerika auch in Zukunft den Bedürfnissen des größten Teils der Bewohner nicht gerecht werden und in ihrer überkommenen Form nicht von Dauer sein. Und ebenso wie es fraglich ist, ob die amerikanischen Innenstädte die alte Bedeutung der downtown erhalten oder wiedergewinnen können - today it is clear that suburbs are a way of life and that downtown will never be quite the same - 506 , so dürfte auch Westeuropas großen Städten und Zentren noch ein weiterer Wandel bevorstehen. Ist zwar ein vorstädtischer bzw. randstädtisch-ländlicher Lebensstil noch nicht in ähnlich charakteristischer Weise wie in den USA und ähnlich massenhaft entwickelt, so unterliegen doch auch die traditionellen Innenstädte in den hochentwickelten Ländern Westeuropas
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Wochenendhäuser inmitten der Mojave Wüste Kaliforniens
Aufnahme d. Verf.
einem allmählichen Funktionswandel und sind nicht mehr in ähnlich dominanter Weise wie früher die alleinigen Zentren und Standorte des geistigen, kulturellen und merkantilen Lebens. Auch in Europa ist vielfach eine Tendenz zur Dezentralisation vieler zuvor ausschließlich großstädtischer Zentrumsfunktionen sichtbar. Auch ist es sehr wahrscheinlich, daß, falls der Wohlstand bleibt und die Baukosten nicht davoneilen, vor allem in Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland mit noch vergleichsweise geringer Eigenheimquote nach wie vor große Teile der noch in Mietwohnungen verdichtet bebauter Städte Lebenden nach bodennaher Wohnweise, nach eigenem Grundstück, nach Verringerung „urbaner"
Freizeitwohnen in der Mojave Wüste als Ergänzung zum Leben in der City von Los Angeles
Aufnahme d. Verf.
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Belästigung streben werden, solange sie nicht durch einengende Raumplanung daran gehindert werden. Man kann getrost davon ausgehen, daß sich die Probleme unserer Siedlungsstruktur, will man nicht wesentliche menschliche Bedürfnisse mißachten, nicht durch eine allgemeine Umstrukturierung zu kompakten Siedlungsgebilden kompakter Bebauung lösen lassen, dies umso weniger, da so ζ. B. auch die Verkehrsprobleme nicht verschwinden würden (s. Kap. 2 . 2 . 5 ) . Auch ist es unwahrscheinlich, daß eine zeitweilige Benzinverknappung oder eine Verteuerung die Vorliebe für das Individualverkehrsmittel merklich abbauen wird; die Bemühungen werden sich vielmehr auf die Herstellung entsprechend günstigerer Antriebssysteme konzentrieren. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß das Automobil (o. ä.) am Energiemangel stirbt, so wie es höchst unwahrscheinlich ist, daß die Energiesituation zur allgemeinen Siedlungskonzentration zwingen wird (vgl. auch Kap. 2 . 2 . 6 ) . Mangelnde Urbanität? Eine Siedlungsstruktur, die gemäß dem Leitbild des Stadt-Land-Verbundes gestaltet wäre, verspricht in ihrer klein- und großräumlichen Vielfalt sehr verschiedenen raumbezogenen Lebensstilen gerecht zu werden, dem stärker Urbanen, dem suburbanen wie dem ländlichen, in den unterschiedlichsten Kombinationen. So muß auch einer oft vorgebrachten Behauptung, wonach ohne städtebauliche Verdichtung, ohne Siedlungskonzentration bzw. kompakte Bebauung keine Urbanität entstehen kann (s. o.), widersprochen werden. Es ist keineswegs so, daß mit Auflockerung und nur begrenzter Bündelung, wie sie das Leitbild des Stadt-Land-Verbundes empfiehlt, die sog. Urbanität erstirbt. Im Gegenteil, in einem solchen städtisch-ländlichen vielfältigen Lebensraum können sich mehr Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung, zur Auswahl aus unterschiedlichem lebensräumlichen Angebot, zur alters- und personenspezifisch zuträglichen Lebensweise finden als inmitten eines hochgradig kompakten Stadtgebildes. Gerade innerhalb vorstädtisch anmutender suburbaner Siedlungsbereiche vermag sich mehr Weltoffenheit und mehr kosmopolitische Gesinnung sowie ein differenzierteres soziales Leben zu entfalten, als in vielen verdichtet besiedelten Großstadtvierteln (vgl. R. E. PÄHL, 1 9 6 6 ) . Gerade ein „kleinstädtisch" erscheinendes Milieu dürfte der geistigen und körperlichen Entwicklung und der Heranbildung hoher Leistungsfähigkeit und -bereitschaft förderlicher sein507 als eine überstimulierende, ablenkende Großstadtatmosphäre. Räumlich wie sozial besser überschaubare Strukturen sind zahlreichen Kontakten, aber auch der politischen Mitwirkung, einer örtlichen
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Verantwortlichkeit und der zwischenmenschlichen Hilfe durchaus förderlich. Indem die begrenzte Dichtetoleranz des Menschen beachtet wird, vermögen sich soziale Aktivitäten zu entfalten, die unter Dichtestreß unterdrückt bzw. durch Flucht in die Anonymität oder Aggression verdrängt werden. Auch das geistige, wissenschaftliche und kulturelle Leben kann sich innerhalb eines Stadt-Land-Verbundes mit seinen zahlreichen untereinander gut verbundenen Siedlungszellen, die zudem an günstigem Standort über gemeinsame Zentren verfügen, gut entfalten. Die großen kulturellen Leistungen, etwa der Renaissance, wurden in Städten vollbracht, die selten mehr als 10 bis 50 000 Ew. hatten und die zudem in der Regel eng mit ihrem ländlichen Umland verflochten waren. Zur Entfaltung geistiger, künstlerischer, sozialer oder politischer Tätigkeit müssen nicht in unmittelbarster Nähe 100 000 Menschen hausen; wichtig ist, Interessenten bleiben einander erreichbar, nicht aber unbedingt im gleichen Bau. Zudem überbrücken neue Kommunikationstechniken ohnehin zunehmend die räumlichen Distanzen. Wenn Urbanität, wie dies V. GRUEN betont, vor allem durch die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten gekennzeichnet sein soll, durch die freie Wahl der Wohnweise, des Arbeitsplatzes, der Warenversorgung wie des Gedankenaustausches, durch die Wahlmöglichkeit zwischen Geselligkeit und Zurückgezogenheit, städtischer Attraktion und Nähe zur Natur, dann bleiben Zweifel, ob gerade dies im Rahmen kompakter Stadtstrukturen zu verwirklichen ist. Gewiß eine solche Urbanität ist auch kaum zu realisieren, wenn die Menschen weit draußen in den Vorstädten wohnen und der Aufwand an Zeit und Nerven, um das Angebot des großstädtischen Zentrums wahrzunehmen, so groß wird, daß man im allgemeinen darauf verzichtet. In der Tat behindert die weiträumige Ausbreitung eines ungeordneten Siedlungsbreies die Verwirklichung eines Urbanen Lebensstiles, da die Distanzen zur Beanspruchung lebensräumlicher Vielfalt unzumutbar hoch werden. Die Konzentration der Menschen in kompakten Stadtgebilden mag zwar die Distanzen zur Inanspruchnahme von Vielfalt verringern, schränkt diese aber bereits wieder ein, denn nun wird etwa naturnahe Zurückgezogenheit, Ungestörtheit auf eigenem „Territorium" etc. erschwert. Gelingt es dagegen, städtische und ländliche Vorzüge bzw. die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten durch ein feingliedriges Mosaik unterschiedlicher Flächennutzungen bereitzustellen, das sowohl Brennpunkte des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens, wie auch wohltuende Wohnbebauung und Naturnähe etc. enthält und belastende Fahrzeiten vermeidet, dann kann sich Urbanität (im obigen Sinne) auch im Rahmen einer Siedlungsstruktur, wie sie mit dem Leitbild eines aufgelockert-gebündelten Stadt-Land-Verbundes empfohlen wird, verwirklichen - und sicherlich besser als in zu dicht besiedelten und „versiedelten" Agglomerationen oder punktuell kompakten Stadtgebilden.
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Dann kann sich eine ähnlich günstige Verbindung zwischen städtischen und ländlichen Lebensaspekten, ähnliche Urbanität herausbilden wie etwa in den Stadtstaaten der italienischen Renaissance, in denen die „regio" als stadt-land-verbindendes Gesamtkunstwerk des Lebensraumes einen höchst anregenden und förderlichen städtisch-ländlichen Lebensstil ermöglichte. Dann kann ein so verstandener „Regionalist", der urbane und rurale Komponenten mischt, zum Sinnbild eines sich entfaltenden, zwischen Vielfalt auswählenden, weltoffenen Menschentyps werden. CORBUSŒRS Versuch einer Symbiose Nun hat L E CORBUSIER ( 1 9 7 4 , S. 1 1 2 , 1 2 2 f) über das Konzept der „vertikalen Gartenstädte" hinaus (s. o.) das Modell einer regionalen Siedlungsstruktur vorgeschlagen, in dem bewußt der Kontakt zwischen Stadt und Land gesucht wird (Abb. 11). Wichtiger Bestandteil sind die sogenannten „Linearstädte". Entlang eines Verkehrsverbandes, das Wasserweg, Eisenbahn und Straße einschließt, reihen sich, umgeben von Vegetation, „grüne Werkstätten und Fabriken". Jenseits dieser Zone und der erschließenden Hauptstraße beginnt die „Schutzzone" mit den Wohnungen und Gemeinschaftseinrichtungen; diese werden kompakt angeordnet, dem Modell der „vertikalen Gartenstadt" folgend, arrangieren sich aber bisweilen auch in bodennaher und aufgelokkerter Bebauung gemäß der „horizontalen Gartenstadt". Es schließen sich verschiedene Einrichtungen des „erweiterten Wohnens" wie Sportplätze, Schulen, Klubs etc. an. Halb ländliche Wohnungen leiten zum Agrarraum über. Frei von Störungen durch Gewerbe und Verkehr steht ein vielfältiges Angebot unterschiedlicher Wohnformen zur Verfügung. Der räumliche Übergang zum Agrarraum ermöglicht den „heilsamen regelmäßigen Kontakt mit der Erde, den Gang zu Fuß zu den Bauern". „Wesentliche Ziele scheinen erreicht, klare Gliederung, Abschaffung des Pendlerverkehrs, Naturnähe und „harmonischer Kontakt mit dem bäuerlichen Leben." Diese Bänder der linearen Industriestadt durchziehen das Land, bisweilen durch Freizonen unterbrochen, treffen sich in ihren Schnittpunkten mit den „radialkonzentrischen Städten", die als Handelsstädte, als Städte der Verwaltung, Geisteskultur, der Finanzen, des Austausches, die Zentren der Region oder des Landes bilden. Diese „radialkonzentrischen Städte" nun sind durchaus verdichtet und kompakt bebaut und umfassen 20 000 bis 1 Mill. Einwohner. In ihrer Mitte erheben sich in gewaltigen Gebäuden Geschäfts-, Verwaltungs- und Handelszentren; aber auch große Wohnbauten konzentrieren sich hier sowie Einrichtungen des Geistes- und Kulturlebens. Während die radialkonzentrischen Städte die „Konzentrations- und
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„Linearstadt": 1. Kanal oder Fluß 2. Eisenbahn 3. Straße 4. Werkstätten, Fabriken 5. Schutzzone: A Wohnungen in horizontaler Gartenstadt Β Wohnungen mit Gemeinschaftsdienst in vertikaler Gartenstadt C halb ländliche Wohnungen D verschiedene Erweiterungen der Wohnung: Schulen, Jugend-Werkstätten, Klubs, Sportplätze etc.
Das System der „linearen Industriestädte" umschließt Dreiecke des bäuerlichen Lebens; an den Kreuzungspunkten der Linearstädte bilden sich als Agglomerationskerne „radikalkonzentrische Städte" mit 10 000 bis zu 1 Mill. Ew.
Die „radikalkonzentrische Stadt" ist von einer Freizone (JP) für die Erholung sowie für vereinzelte Bauwerke des wissenschaftlichen und kulturellen Lebens umgeben (FI); der Stadtkern ist das Zentrum des geistigen Lebens und der gehobenen Versorgung. Abb. 11: LE CORBUSIER'S Modell einer regionalen Siedlungsstruktur
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Verteilungsorte" des Landes sind, werden die davon ausstrahlenden „linearen Industriestädte" als die „einzig erträglichen Satellitenstädte" aus der konzentrischen bzw. punktuell-kompakten Grundstruktur der Besiedlung entlassen und vermitteln mit ihrer kontinuierlichen linearen Erstreckung den Kontakt zu den Agrarräumen, in denen sich dann die Bauernhöfe, Dörfer und Landwirtschaftszentren als drittes Hauptelement dieser Siedlungsstruktur verteilen. L E CORBUSIER strebt mit der hier skizzierten Konzeption die Harmonisierung unserer räumlichen Lebensbedingungen an, eine Siedlungsstruktur, die Kontakt zwischen Natur und Mensch schaffend, der „Lebensfreude" förderlich sein soll. L E CORBUSIERS beachtenswertes und anregendes Modell geht über das Konzept der „horizontalen Gartenstadt" mit ihren riesigen Wohnkomplexen hinaus und eröffnet zweifellos, allein im Hinblick auf die Wohnweise, vielfältigere lebensräumliche Möglichkeiten. Aber dennoch vermag es nicht voll zu überzeugen. Die Siedlungsstruktur ist konzentrisch ausgerichtet, die Menschen konzentrieren sich hinsichtlich ihrer gehobenen Versorgung und zahlreicher Beziehungen auf jeweils dominierende Zentren. Eine solche zentralörtlich und oft monozentrisch ausgerichtete Siedlungsstruktur schafft aber, verstärkt durch den Verkehrsstrom, entlang der Achsen der Linearstädte, genau jene konzentrische Verkehrsorientierung, die in ihren Schnittpunkten und den großen Zentren die hinlänglich bekannten Verkehrsprobleme entstehen läßt. Würde man ausgleichend versuchen, den Verkehr mit Individualverkehrsmitteln zu beschränken, dann könnten wiederum die Linearstädte nicht mehr oder nur erschwert jene verbindende Kontaktfunktion zu den Agrarräumen übernehmen. Es kann dagegen unterstellt werden, daß die Versorgung einer hochmotorisierten Wohlstandsgesellschaft durchaus mit Hilfe einer gestreuten Allokation versorgender Einrichtungen und eines nicht konzentrisch gebündelten Verkehrsnetzes möglich ist (siehe auch nachfolgendes Kap. 2.4.1.4). Weiterhin fällt auf, daß in CORBUSIERS Modell sich relativ große und zusammenhängende Flächen unterschiedlicher Nutzung gegenüberstehen. Von den radialkonzentrischen Schwerpunkten der Siedlungsstruktur aus wird mit zunehmender Größe der Zugang etwa zu den Agrarräumen immer schwerer, zumal wenn er, wie betont, über die Linearstädte verlaufen soll. Es wird in CORBUSIERS Konzeption das feingliedrige Mosaik der Flächennutzung mit seinen durch ein flächenerschließendes Wegenetz gesteigerten Zugangsmöglichkeiten mit seiner gesteigerten lebensräumlichen Vielfalt vermißt. Das Konzept der „linearen Stadt" enthält zwar diesbezüglich einige Ansätze, aber indem es nur Teil einer konzentrisch orientierten Siedlungsstruktur ist, kann insgesamt nicht jenes vielfältige und feinkörnige städtisch-ländliche Gefüge entstehen, das das Leitbild des aufgelockert gebündelten „Stadt-
Veränderungen großstädtischer Raumstruktur •\ Λ η i η J H . · · A) Großstadtraum vor der Motorisierung
C) Großstadtraum nach der Motorisierung ( P K W - L K W )
Gewässer \ P I
I offener Raum Park
H l Kleingärten f ü l l Freizeitwohnen
I
ß
Abb.
) Großstadtraum w ä h r e n d der Motorisierung (PKW)
D) Koordinierte Großstadtregion
I aufgelockertes Wohnen
m j angenähertes Wohnen I verdichtetes Wohnen Zentrum-Dienstleistungsmit Wohnfunktion
ι Dienstleistung, ' Verwaltung i Produktion • g l i Straßen -=~= Bahnlinien
Stadt - Land - Verbund
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Land-Verbundes" kennzeichnet; statt einer wohlabgestimmten Durchmischung bleibt relativ großflächiges Nebeneinander; statt räumlich verteiltem Verkehrsfluß bleiben konzentrisch verknotete Verkehrsströme. Sowohl als auch Nun ist eine konträre Erörterung von kompakter und aufgelockerter Bebauung mit ihrer wechselseitigen Zurückweisung an und für sich gar nicht notwendig. Denn beide Formen der Raumnutzung mit ihren jeweils spezifischen Vor- und Nachteilen ergänzen sich, falls man sie geschickt miteinander kombiniert, in vortrefflicher Weise. Voraussetzung ist natürlich, daß die jeweiligen Vorzüge voll verfügbar gemacht werden. Ja, mit einer ausgewogenen und richtig dimensionierten Mischung unterschiedlicher Bebauungsweisen und -dichten läßt sich eine Siedlungsstruktur herbeiführen, die gegenüber einseitig gestalteten bzw. genutzten Strukturen eine weit höhere Attraktivität und Funktionsfähigkeit zeigt, und die zugleich eine Reduzierung der traditionellen Großstadtprobleme verspricht. Dies sei unter Verweis auf die charakteristischen allmählichen Veränderungen der großstädtischen Raumstruktur, wie sie die beigegebene Abb. 12 zeigt, verdeutlicht: Die Großstadt des frühen Industriezeitalters (A) ist zunächst gekennzeichnet durch vergleichsweise kompakte Bebauung, durch vergleichsweise hohe Wohndichten. Die Produktionsflächen befinden sich vorwiegend an den Eisenbahntrassen, man wohnt, vor allem in den Arbeiterquartieren, vergleichsweise hoch verdichtet und unattraktiv. Durch Errichtung von Kleingärten wird versucht, diese Situation etwas zu verbessern. Der Verkehr innerhalb dieser vergleichsweise kompakten Großstadt wird vor allem durch unterschiedliche Bahnen relativ ökonomisch, für die Benutzer aber wenig komfortabel, bewältigt. Das weite Umland ist noch nahezu durchgängig agrarisch bestimmt. Wer in die Erholungsräume des Umlandes möchte, muß dies vor allem mit Hilfe der Eisenbahn oder Straßenbahn tun. Die Wohlhabenden wohnen vielfach noch im oder nahe dem Zentrum in bevorzugter Wohnlage, etwa am Rande der städtischen Parks in entsprechend komfortablen städtischen Häusern. Mit dem PKW setzt ein Umbruch dieser großstädtischen Siedlungsstruktur ein (B). Die Stadt weitet sich nicht nur unmittelbar an ihren Rändern mit Einfamilienhausgebieten aus, sondern auch im nahen und weiteren Umland wachsen die früheren Agrargemeinden zu mehr oder minder großen Wohngemeinden heran. Da die städtischen Arbeitsplätze aber noch weitestgehend an den alten Standorten entlang der Bahnen oder neben kanalisierten Flüssen (Häfen) verbleiben sowie im Zentrum der Stadt, setzt aus den randlichen und äußeren Wohngebieten der hinlänglich bekannte Verkehrsstrom ein, der mit
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Leitbilder
zunehmender Annäherung an die „Drehscheibe" der Innenstadt zu kollabieren droht. Viele wohnen zwar nun draußen in ihren eigenen Häusern in etwa wunschgemäß, müssen aber große Entfernungen und lange Fahrtzeiten auf sich nehmen, sowohl um zur Arbeit wie auch zu den höheren Versorgungseinrichtungen zu gelangen. Allmählich aber verlagern sich nicht nur die Wohnplätze aus der Stadt heraus, sondern zunehmend auch die Produktionsstätten und zahlreiche dienstleistende Arbeitsstätten (Einkaufsmärkte etc.). Der LKW befreite immer mehr Unternehmen von der standörtlichen Bindung an die Eisenbahntrassen (C). In vielen Städten wird diese Entwicklung begünstigt durch die Anlage großer, die Stadt umgehender Autobahntangenten oder -ringe. Dadurch entstehen weit außerhalb der Stadt Ansiedlungsvorteile, die den Prozeß der Auslagerung verstärken. Zugleich wird ein positiver Effekt hinsichtlich einer stärkeren Streuung des Verkehrs wirksam. Von außerhalb ist es nun nicht mehr so weit bis zu den Arbeitsstätten, vor allem des produzierenden Gewerbes. Bewohner, die nach wie vor verdichtet oder angenähert im unmittelbaren Großstadtbereich wohnen, benötigen auch nur relativ kurze Wege, um zu den Arbeitsstätten zu gelangen. Nach wie vor aber strömen noch immer zahlreiche Menschen zur Arbeit oder zur Versorgung in die mit der Ausweitung des Dienstleistungsbereichs funktionsfähig gebliebene City. In der Summe entsteht also keineswegs weniger Verkehr, aber er verteilt sich besser und konzentriert sich nicht in dem Maße auf den Mittelpunkt der Stadt. Noch immer aber ist eine solche Stadtstruktur unbefriedigend. Sie bedarf der koordinierten Weiterentwicklung. Es gilt, den unmittelbaren Stadtraum und die zentrumsnahen Bereiche wohnattraktiv zu machen, um eine zu starke und ruinöse Abwanderung in das weite Umland zu mindern. Dies ist allerdings nur möglich durch eine konsequente Umgestaltung der traditionell vergleichsweise verdichtet bebauten Großstadt (D). Durch eine systematische Durchgrünung, durch eine starke Gliederung mit von außen in die Stadt hineinfingernden Grünzügen, die sich dann vielfältig verästeln sowie durch weitere stadtgestaltende Maßnahmen ist es möglich, das Wohnen nahe oder in der Innenstadt für bestimmte Bevölkerungsteile attraktiv werden zu lassen. Vor allem für die Menschen, die in den expandierenden Dienstleistungseinrichtungen der City arbeiten, gewinnt attraktives Wohnen nahe dieses Zentrums an Bedeutung. Das systematische Außrechen der traditionellen Großstadt, das Durchsetzen mit offenem Raum bedarf allerdings einer weiteren Ergänzung. Den nunmehr in der Stadt Wohnenden muß Gelegenheit gegeben werden, in zumutbarer Entfernung und möglichst nahe der Stadt ausgleichende Formen des Freizeitwohnens zu finden. Gelingt ein solcher Stadt-Land-Verbund, dann
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ist es für viele Menschen uninteressant, aus der Stadt heraus ins Umland zu ziehen und den weiten Weg zur Arbeitsstätte auf sich zu nehmen. Die Stadt wird zwar auch dann nahe dem Zentrum und in anschließenden Wohnquartieren nicht jene Bevölkerungsmassen der früheren Entwicklungsphase (A) versammeln, sie wird bezüglich der Bevölkerungszahl „verdünnt", bezüglich großflächiger Überbauung maßvoll „aufgelöst" sein, aber sie wird leben. In den äußeren Randzonen bzw. im Umland der Großstädte ist es notwendig, die dort teils chaotisch gewachsenen Siedlungen zu sinnvollen Größenordnungen zu kombinieren bzw. miteinander entsprechend zu verbinden. Die Zentren solcher Siedlungsbereiche, die zumindest etwa 8000 Einwohner aber auch beliebig mehr umfassen sollten, nehmen dann, zunehmend mit der Größe, Versorgungsfunktionen für die hier wohnenden Menschen wahr; der Zwang, das große Zentrum oder weiter entfernte Subzentren aufzusuchen, nimmt ab. Außerdem lassen sich in den besonders expandierenden Siedlungsgruppen auch zahlreiche Arbeitsstätten des sich ausweitenden Dienstleistungsbereiches unterbringen. Alles in allem führt dies zu einer weiteren Verringerung des Verkehrs. Es entsteht eine Siedlungsstruktur, die sowohl den unterschiedlichen Wohnwünschen der Menschen vergleichsweise gut gerecht werden kann, wie auch den Verkehrsaufwand reduziert, die vor allem aber insgesamt einen wohltuenden und konkurrenzfähigen Lebensraum entstehen läßt. Im Rahmen einer solchen verdünnten städtischen Siedlungsstruktur sind nun auch die agrarischen Räume bzw. die bewaldeten Gebiete aufgrund der zahlreichen Berührungsflächen mit den sich ausweitenden Siedlungen besser verbunden. Durch planerische Maßnahmen können zudem jeweils in zumutbarer Entfernung befindliche Wasserflächen (u. a. durch Auskiesung) geschaffen werden sowie auch differenzierte Möglichkeiten des Freizeitwohnens. Ein derartiger Lebensraum beherbergt also sowohl typisch städtische bzw. großstädtische Einrichtungen mit ihrer spezifischen Attraktivität, er bietet unterschiedlichste Wohnmöglichkeiten an, gewährt aufgrund der „Verfingerung" mit dem offenen Raum wohnungsnahe Erholungsfläche in ausreichendem Maße. Zusammenfassend kann vermutet werden, daß eine solche großstädtisch-ländliche Siedlungsstruktur dem Menschen in hohem Maße gerecht wird. Damit wird auch deutlich, daß kompakte und aufgelockerte Bebauung in ein Verhältnis wechselseitiger Ergänzung gebracht werden können, denn nahe und in der Innenstadt ist es sinnvoll verdichtet, also in kompakter Bebauung, zu wohnen; mit zunehmender Entfernung empfiehlt sich angenäherte Bebauung (etwa in Reihenhäusern, Atriumhäusern etc.), wobei dann noch immer das Zentrum zu Fuß oder per Fahrrad etc. leicht erreichbar bleibt. Weiter draußen, mit zunehmender Entfernung, liegt aufgelockertes
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Wohnen nahe. Dort allerdings wo sich die Siedlungsbereiche zu kleineren Zentren bzw. Subzentren bündeln, wird sich ebenso angenäherte oder gar verdichtete Bebauung wieder als vorteilhaft erweisen (siehe C und D). Es ist leicht einzusehen, daß sich eine in dieser Weise koordinierte Siedlungsstruktur nicht auf eine, gewissermaßen monozentrische Stadtregion beschränken muß, sondern daß sich vor allem auch die überkommenen Agglomerationen und Siedlungsräume mit mehreren benachbarten größeren Städten in der aufgezeigten Weise umformen lassen (konkretere Angaben finden sich im „Städtebaulichen Rahmenplan" des Verfassers für die Städteregion Gießen-Wetzlar, 1980). Ohnehin wirken wesentliche Tendenzen in Richtung einer solchen Umgestaltung, sie bedürfen allerdings der Koordination durch eine entsprechende leitbildorientierte Planung, um nicht ein unbefriedigendes Durcheinander unterschiedlichster Siedlungselemente entstehen zu lassen. Wichtig bleibt allerdings, daß die Agglomerationen insgesamt nicht zu groß sind oder sich zumindest zu mehreren kleinen begrenzten Verdichtungen auflösen lassen. 2.4.1.4 Verkehr und gebiindelt-gestreute Versorgung Allem Anschein nach beanspruchen die Menschen bei steigendem Wohlstand in vielen Seinsbereichen, sei es für das private Wohnen, für die Arbeitsprozesse im industriellen und dienstleistenden Bereich, für Konsum und Freizeitgestaltung immer mehr Raum. Angesichts solcher vielfältig wachsenden Flächenansprüche breiten sich die Siedlungsbereiche und die Agglomerationen immer weiter aus; wer unbeeinträchtigt im eigenen Haus wohnen will, muß immer weiter hinaus, entsprechend nimmt der Verkehrsaufwand zu. Immer größere Flächen müssen für ein dichtes Schnellstraßennetz bereitgestellt werden. Als Folgewirkung der bestehenden „Raumzwickmühle" (V. GRUEN) führt die Ausuferung der Stadt zu ihrem Niedergang oder gar Zusammenbruch; die zahlreichen und wachsenden Raumansprüche behindern sich gegenseitig, die wechselseitige Ergänzung zwischen unterschiedlichen Funktionen wird erschwert, das „urbane" Leben droht abzusterben. Dieses Dilemma aber, betont V. GRUEN (1973, S. 276) könne man nur durch „kompakte Urbanität" bewältigen, und das bedeutet, hochgradig verdichtete, multifunktionale Brennpunkte der „Urbanität" auf kleinstmöglicher Landfläche zu schaffen, die durch öffentliche Verkehrsmittel leicht erreichbar sind. Jedoch ist die Behauptung, daß die Probleme unserer städtischen Siedlungsstruktur nur durch die Errichtung kompakter multifunktionaler Stadtgebilde, auf die öffentliche Verkehrssysteme gebündelt zuführen, zu lösen sind, keineswegs zwingend. Zunächst ist die Annahme sehr unwahrscheinlich, daß sich die Menschen
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unter Wohlstandsbedingungen und ohne Zwang in der Benutzung des PKWs wesentlich einschränken werden. Dieses Verkehrsmittel kommt, indem es individuelle Beweglichkeit und Transportraum unter gleichzeitiger Erhaltung der Individualsphäre gewährt, den menschlichen Wünschen weitestgehend entgegen und bleibt, wenn nachteilige Begleiterscheinungen (wie Luftverunreinigung, Unfallrisiko, Energieverbrauch etc.) mit dem technologischen Fortschritt reduziert werden, dem öffentlichen Massenverkehrsmittel in vielerlei Hinsicht überlegen. Zwar dürften sich auch in Zukunft bei größeren Distanzen verbesserte öffentliche Verkehrssysteme behaupten, sie werden aber umso konkurrenzfähiger sein, je mehr der typischen Vorzüge des Individualverkehrsmittels sie ohne deren Nachteile bieten können. Ob sich kostspielige Kabinenbahnsysteme durchzusetzen vermögen, ist zumindest zweifelhaft. Auch würde, wenn die Menschen in kompakten vielstöckigen Baukomplexen leben müßten, der PKW (o. ä.) ohnehin weiterhin benutzt, um in die ausgleichenden Erholungs- und Freizeiträume zu gelangen. So gibt es letztlich kein Zurück hinter die „Erfindung" eines leistungsfähigen Individualverkehrsmittels; vielmehr wird dies immer weiter zu verbessern sein. Seitdem der Mensch über den PKW verfügt, wird es immer schwerer, ihn in kompakten Stadtstrukturen zusammenzudrängen. Das ist allerdings, wenn man alternative Siedlungsstrukturmodelle vor Augen hat, auch keineswegs notwendig. Auch die Annahme, daß der Verkehrsaufwand bei einer solchen kompakten Siedlungsweise geringer würde, daß die Verkehrsprobleme leichter zu lösen wären, überzeugt nicht. Ist die Siedlungsweise auf große multifunktionale Zentren ausgerichtet, entstehen entsprechend zentrenorientierte Verkehrsströme. Diese benötigen zur Aufnahme des dann stark gebündelten Verkehrs oft gewaltige und teure Verkehrsbauten (Stadtautobahnen, aufwendige Schnellbahnen, große Kreuzungssysteme etc.). Streut dagegen der Verkehr, weil nicht alle ins gleiche multifunktionale Großzentrum fahren oder aus ihm heraus ins Umland, können die Trassen, obwohl sie dann zahlreich sind, insgesamt dennoch weniger aufwendig gestaltet werden, da sie jeweils nicht so stark frequentiert werden. Und ohnehin müßte ja ein Grundnetz flächenerschließender Straßen auch bei einer auf Verdichtungsschwerpunkte orientierten Siedlungsstruktur vorhanden sein, da anderenfalls die ergänzenden Funktionen des Umlandes nicht wahrgenommen werden könnten. Bei höchster Besiedlungsdichte und starker punktueller Konzentration vermag das öffentliche Massenverkehrssystem den Verkehr wahrscheinlich weniger aufwendig zu bewältigen. Bei begrenzter, allerdings nicht zu geringer Besiedlungsdichte (s. u.) jedoch läßt sich der Verkehr auf einem flächen-
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erschließenden Straßennetz ohne Ausrichtung auf ein dominierendes multifunktionales Zentrum, sondern in Streuung auf entsprechend verteilte Einrichtungen und Arbeitsstätten mit Hilfe des Individualverkehrsmittels und ergänzend des Busses relativ problemlos abwickeln. Eine stärkere Streuung und Dezentralisation der Siedlungselemente würde eine Verteilung des Verkehrs zur Folge haben. Die Belastungsspitzen würden weniger dramatisch verlaufen, die Fahrzeuge und Insassen würden weniger stark an dominierenden Verkehrsknoten und auf monozentrisch orientierten Trassen konzentriert werden. Man könnte nun einwenden, daß die vorgeschlagene Streuung mit nur begrenzter räumlicher Bündelung der Wohnbereiche, Einrichtungen und Arbeitsstätten die Versorgung der Menschen erschweren würde, da sie gewissermaßen räumlich „zerrissen" erfolgen müßte und einen unnötig streuenden und damit aufwendigeren Verkehr erzwänge. Doch muß das unter der Voraussetzung einer bestimmten Mindestbesiedlungsdichte (ca. 250 Ew./km 2 ) keineswegs so sein. Man sollte sich des folgenden sehr einfachen, aber wichtigen Sachverhalts bewußt werden: Gehen wir davon aus, daß ein Raum relativ homogen besiedelt ist, also sich die Wohnstätten der Menschen annähernd gleich, gemäß einer durchschnittlichen Besiedlungsdichte, im Raum verteilen. Gehen wir weiter davon aus, daß dieser gleichmäßig besiedelte Raum durch ein relativ engmaschiges Verkehrsnetz gut erschlossen wird, so daß eine allgemein gute Erreichbarkeit der verschiedensten denkbaren Standorte innerhalb dieses Raumes unterstellt werden kann. Würde dieser Raum nun ergänzend zu den gleichverteilten Wohnstätten mit unterschiedlichsten standortgebundenen Einrichtungen und Anlagen ausgestattet, die alle gemäß ihrer Funktion eine bestimmte, aber durchaus unterschiedliche Bezugsbevölkerung (sei es als Käufer, als Arbeitskräfte, als Besucher, als Mitwirkende) benötigen, dann würde sich umso weniger eine Konzentration solcher Einrichtungen an bestimmten Standorten herausbilden, je stärker die Größenordnungen der jeweils sinnvollen Bezugsbevölkerung streuen (Abb. 13). Konzentration am gleichen Standort - immer unter der Bedingung einer gleichverteilten Bevölkerung und eines flächenerschließenden Verkehrsnetzes - wäre nur für diejenigen Einrichtungen sinnvoll, die auf die gleiche Bevölkerungszahl bezogen sind. Die Größe der angemessenen bzw. notwendigen Bezugsbevölkerung für die verschiedenen Einrichtungen ist aber außerordentlich unterschiedlich, auch verändert sie sich; zudem treten ständig neue Dienste und Einrichtungen hinzu, alte scheiden aus. Auch läßt sich kaum voraussagen, welche Einrichtungen mit welcher Bezugsbevölkerung bald stärker, bald schwächer, gar nicht mehr oder neu nachgefragt werden. Bevor es ζ. B. große Verbraucher-
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märkte gab, konnte man noch nicht wissen, wie groß deren Bezugsbevölkerung war und folglich auch nicht, wo, an welchem Standort sie vorsorglich zu planen und welche Ergänzungen (ζ. B. Autowaschstraße) dort zu lokalisieren seien. So befindet sich auch die Struktur der versorgenden Einrichtungen und Arbeitsstätten in einem ständigen Wandel, so daß sich keine beständige und zwangsläufige Kategorisierung unterschiedlicher Ausstattungsstufen ergibt. Wir müssen also von einem variablen Kontinuum nach Art und Größe der Einrichtung variierender Bezugsbevölkerungen ausgehen. Dementsprechend würden sich ohne Zwang durch Bauleitplanung und GenehmigungsEinrichtungen unterschiedlich großer Bezugsbevölkerung
S t r e u u n g unter der Bedingung eines gemeinsames Ausgangspunktes ( /
) und einer gemeinsamen Achse ( —*· ) kaum Bildung »zentraler Orte«
O O
O o
beliebige, lediglich an der Bezugsbevölkerung orientierte S t r e u u n g
Abb. 13:
Standörtliche Verteilung ,»zentraler" Einrichtungen mit unterschiedlich großer Bezugsbevölkerung (unter der Bedingung allg. Verkehrserschließung und homogener Bevölkerungsverteilung)
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verfahren die verschiedenen Einrichtungen an sehr verschiedenen Standorten niederlassen. Ein entscheidendes Kriterium wird immer wieder die Erreichbarkeit dieser Standorte für die umwohnende Bezugsbevölkerung sein; dagegen benötigt ein Verbrauchermarkt nicht unbedingt die Nachbarschaft des Kirchturms oder des Zahnarztes. Folglich ist es auch nicht notwendig, unterschiedlich oft und unabhängig voneinander beanspruchte Einrichtungen zu irgendwelchen x-beliebigen „Ausstattungsstufen" zu aggregieren, örtlich zu „klumpen" und so entsprechend gestufte „zentrale Orte" zu verfestigen. Die sog. Zentrale-Orte-Theorie hat nur unter der Bedingung einer schwach entwickelten Fähigkeit zur Überwindung räumlicher Distanzen ihren Sinn und ihre Berechtigung; sie entstand aus der Beobachtung einer unter ganz anderen Bedingungen gewachsenen Siedlungsstruktur. Heute, angesichts gewandelter Bedingungen, droht sie, aufgrund ihres dominanten Einflusses in der Planungswirklichkeit, geradezu eine Belastung und Quelle irrtümlicher landesplanerischer Entscheidung zu werden. In Orientierung an dieser Theorie werden zahlreiche standörtliche Entscheidungen getroffen oder erzwungen (ζ. B. durch Verordnungen, die die Einrichtung von Verbrauchermärkten einengen), die der gesteigerten distanziellen Beweglichkeit der Menschen einerseits und einer lagegünstigen Allokation der Einrichtungen andererseits nicht gerecht werden. Zentrale Orte beanspruchen ein Standortvorrecht, für das vielfach die Notwendigkeit fehlt. Flächenhaft gleichverteilte Bevölkerung würde, bei flächenhafter Verkehrserschließung, eine Tendenz zur Allokation an den von der jeweiligen Benutzerbevölkerung bestmöglich erreichbaren Standorten zur Folge haben. Nun haben zwar manche Einrichtungen eine ähnlich große Bezugsbevölkerung oder ergänzen sich, könnten daher den gleichen Standort wählen, auch bleiben gewisse Agglomerationsvorteile wirksam, so daß es zu einer begrenzten Bündelung käme, nicht aber zur Konzentration an „zentralen Orten", die gemäß einer Hierarchie nach 3, 5 oder χ Stufen gestaffelt sind; letztlich würde eine Tendenz zur gebündelten Streuung analog der Bevölkerungsverteilung wirksam, wobei sich im Laufe der Zeit, mit dem Wandel der Versorgungsweise, wie überhaupt des raumbezogenen Lebensstils, neue Allokationen mehr oder minder gebündelter Einrichtungen herausbilden dürften. Nun bliebe noch immer der Einwand, durch eine solche, wenn auch geklumpte Streuung sog. zentralörtlicher Einrichtungen und der Arbeitsstätten entstünde ein unnötig umfangreicher und in vielfältige Richtung ausgreifender, verworrener Verkehr, da man ja die jeweiligen und oft standörtlich gestreuten Spezialstandorte aufsuchen müßte und kein an zentralen Orten konzentriertes Angebot vorhanden wäre, durch das Fahrten eingespart wer-
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den können. Müßte nicht ohne eine standörtliche Konzentration der zahlreichen Einrichtungen zwangsläufig ein Verkehrswirrwarr entstehen? Das muß keinesfalls so sein, denn Verkehrsersparnis tritt ja nur ein, wenn man mehrere Einrichtungen zugleich, d. h. unter dem gleichen Fahrziel aufsuchen will. Aber das ist in der Wirklichkeit nur selten der Fall. Wer abends ins Theater fährt, will ja nicht gleichzeitig die Fabrik aufsuchen, folglich muß er auch nicht an ihr vorbeifahren. Wer eine Diskothek besucht, möchte nicht gleichzeitig zur Schule, folglich müssen beide nicht unbedingt in derselben Richtung liegen. Wer die wöchentliche oder monatliche Einkaufsfahrt vorhat, beabsichtigt ja nicht gleichzeitig, ein Fußballspiel anzusehen oder ein Arztzentrum aufzusuchen. Und auch die Kunsthalle kann woanders als das große Kaufhaus lokalisiert sein, also etwa an einem Park mit See und Uferrestaurant, denn man wird beides nicht im unmittelbaren Verbund aufsuchen wollen. Demnach ist es nur sinnvoll, daß diejenigen Einrichtungen standörtlich gebündelt werden, die man ohnehin gemeinsam bzw. im gleichen Zeitraum beanspruchen würde, die sich also ergänzen, sinnvoll kombinieren lassen. So wäre ein Arztzentrum sinnvoll mit der Apotheke, dem Masseur, dem Orthopäden, Optiker etc. zu koppeln, ein Einzelhandelszentrum mit der Niederlassung eines Finanzinstitutes, mit einer Gaststätte, mit dienstleistendem Handwerk etc. Aber wieso muß die zentralörtliche Datenverarbeitungsanlage einer regionalen Verwaltung innerhalb eines gemeinsamen, multifunktionalen großen Zentrums, neben einem überregionalen Museum oder der Konzerthalle stehen? Warum sollte ein Bürozentrum neben der Universität oder dem städtischen Krankenhaus und diese wieder neben einem Großkaufhaus lokalisiert sein? Verkehrschaos entsteht vielmehr dann, wenn Verkehrsteilnehmer, die um unterschiedlicher Zwecke willen fahren, genötigt werden, zur gleichen Zeit die gleichen Straßen zu nutzen und gleiche Zielräume anzustreben, weil sich in diesen alles konzentriert. Besonders problematisch ist es, wenn trotz unterschiedlichem Verkehrszweck die Verkehrsteilnehmer durch ein monozentral orientiertes Verkehrsnetz in dasselbe Zentrum drängen, das dann zwangsläufig zum Verkehrsknoten werden muß. Auf den vermeintlichen Vorteil eines monozentrisch orientierten, stark gebündelten Verkehrs, der etwa die Fahrt mit der U-Bahn erlaubt, würde man abends im langen Kleid und im Duft des Parfums meist wohl ohnehin gerne verzichten und statt aus dem Schacht der Schnellbahnstation lieber aus dem eigenen Wagen ins Vestibül eilen. Auch wird zum Bedauern mancher Stadtväter die schnelle U-Bahn-Verbindung in die Innenstadt nicht genutzt, um diese „urban" zu beleben, sondern so rasch wie möglich eilt man aus den Bürozentren hinaus in die wohnlichen Gebiete, schnell hat sich die Stadt geleert. Eine geballt „kompakte" Siedlungsweise erscheint auch bezüglich der
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Lösung der Verkehrsprobleme keinesfalls als zwingend, zumal wenn man berücksichtigt, daß eine stärker aufgelockerte und nur begrenzt band- oder punktartig konzentrierte Besiedlung ebenfalls eine noch immer recht gute und meist weniger aufwendige öffentliche Verkehrsbedienung (etwa durch gut abgestimmte Buslinien) erlaubt. Eine sinnvolle Streuung der vielfältigen Einrichtungen, wie sie bei einer aufgelockerten, mehr oder minder gleichmäßig gestreuten Besiedlung ohnehin entstünde, würde weniger Verkehrsprobleme schaffen und sogar dazu beitragen, die bestehenden zu lösen. Zudem ist es sehr wahrscheinlich, daß die Verkehrsinvestitionen der öffentlichen Hand bei aufgelockerter Siedlungsstruktur sogar geringer gehalten werden können. Zwar erhöht sich die Länge des zu erhaltenden Straßennetzes - in einem so dicht erschlossenen Land wie der Bundesrepublik allerdings nicht zu stark - aber der überproportional hohe Aufwand für die Verkehrsflächen in den großen Verdichtungsgebieten (Stadtautobahnen mit ihren hohen Begleitkosten, U-Bahnen mit ihren hohen Betriebskosten) kann vermieden werden; gleichzeitig würde die Auslastung des flächenerschließenden Verkehrsnetzes verbessert. Da bei aufgelockerter, gestreuter Besiedlung auch die Verkehrsströme streuen, lassen sich viele teure Großbauten des Verkehrs, wie sie durch punktuelle oder zonale Konzentration des Verkehrs erzwungen wurden, vermeiden. Notwendig sind jedoch die Erhaltung und der Ausbau eines überregionalen Schnellstraßennetzes und eines regionalen Haupt- und Erschließungsstraßennetzes, da sie gewissermaßen das Grundgerüst eines funktionsfähigen Stadt-Land-Verbundes darstellen. Die beschriebene gestreute Allokation der Einrichtungen und Arbeitsstätten würde nicht ausschließen, daß sich an verkehrsgünstigen Standorten gewisse Häufungen bilden, denn selbst bei einer guten Flächenerschließung heben sich natürlich noch immer verkehrsgünstige Punkte und Zonen heraus. Aber keineswegs müssen dort umfassende große Zentren entstehen, denn bei einer allgemeinen und dichten Verkehrserschließung ist die Möglichkeit, den jeweils entfernungsgünstigsten Standort aufzusuchen, sehr groß, und das würde „streuend" wirken. Der Verkehrsaufwand wird in der Summe nicht größer, wenn man mehrfach in unterschiedlicher Richtung zu gestreuten Einrichtungen fährt, als ebenso oft in immer wieder gleicher Richtung zu konzentrierten, aber zu unterschiedlichem Zeitpunkt beanspruchten Einrichtungen. Keinesfalls lassen sich die sog. Raumzwickmühle und das gegenwärtige Verkehrsdilemma nur durch kompakte Stadtstrukturen bewältigen. Wird ein Raum gewissermaßen „aufgelockert gebündelt" besiedelt, werden also nur maßvoll verdichtete, flächenmäßig nicht allzu weit ausgreifende Siedlungen gruppiert, daß jeweils zwischen ihnen „offenes Land", Agrar- oder Waldflä-
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che verbleibt, durchzogen von einem differenzierten Wegenetz geringer „Maschenweite", an dessen Knoten sich jeweils sinnvolle „zentrale" Einrichtungen befinden oder sich zu unterschiedlich großen Komplexen sich ergänzender Ausstattung bündeln, so wird es möglich, bei relativ geringem Verkehrsaufwand wunschgemäß zu wohnen und dennoch „städtisches" Angebot wahrzunehmen. 2.4.1.5 Kosten Hinsichtlich der empfohlenen aufgelockerten Stadt-Land-verbindenden Siedlungsstruktur ist eine weitere Überlegung zu berücksichtigen, obgleich es gegenwärtig noch nicht möglich ist, sie quantitativ vollständig zu belegen. Ist eine Siedlungsstruktur sehr stark aufgelockert, sind die jeweiligen Siedlungszellen sehr klein und weit voneinander entfernt, dann muß der Aufwand zur Erschließung, zur Versorgung mit unterschiedlichen Leistungen und Gütern relativ groß sein, größer als bei einer weniger gestreuten, weniger dezentralisierten Siedlungsstruktur. Eine weniger gestreute, stärker zentralisierte Siedlungsstruktur wäre also hinsichtlich ihrer infrastrukturellen' Erschließung kostengünstiger. Das heißt allerdings nicht, daß der Erschließungsaufwand und die Kosten der Versorgung pro Bewohner immer weiter absinken, je stärker verdichtet eine Siedlungsstruktur ist. Ab einem gewissen Grad der Zusammendrängung und Flächenknappheit steigen diese Erschließungs- bzw. Versorgungs- und Verbindungskosten überproportional an508. Mit zunehmender Größe und Intensität der Verdichtung wird dann das infrastrukturelle Gerüst immer teurer; es muß etwa immer mehr Wasser aus immer größerer Entfernung mit immer aufwendigeren Anlagen in die zahllosen Etagen gebracht werden, so wie andererseits auch bei ausgesprochener Streubesiedlung die Versorgung mit Leitungswasser bzw. anderer Infrastruktur immer teurer würde. Überstarke Verdichtung ist also ebenso überproportional kostspielig wie zu starke allgemeine Dezentralisation. Es ist nun schwer, diesen Zusammenhang zusammenfassend und exakt für die Gesamtheit der Infrastrukturbereiche zu belegen; auch befindet sich die Kostenstruktur in Abhängigkeit von der technologischen Entwicklung in ständiger Veränderung. Für bestimmte einzelne Bereiche gilt daher die genannte Beziehung kaum oder nur zeitweilig. In der Summe aber dürfte die Aussage zutreffen (vgl. u. a. F. GERCKE, 1976, S. 219 f), so wie eben auch der Bau von Wohnungen nicht immer weiter immer billiger wird, wenn man nur immer mehr Stockwerke übereinander türmt. So dürfte sich etwa folgende Kostenkurve für die Bereitstellung einer differenzierten Infrastruktur (i. w. S.) ergeben.
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Leitbilder Summarische Kosten einer diff. Infrastruktur
Zunehmend verdichtete Besiedlung
Zunehmend aufgelockerte Besiedlung
Abb. 14: Kostenkurve der Infrastruktur
Zwischen extremer Verdichtung einerseits und starker Auflockerung andererseits ergibt sich eine gewissermaßen nur begrenzt verdichtete, aufgelokkerte Siedlungsstruktur, die sich bezüglich der Kosten des infrastrukturellen Gerüstes bzw. der Versorgung mit infrastrukturabhängigen Leistungen als besonders kostengünstig erweist und die zudem dem lebensräumlichen Wohlbefinden der Menschen (s. o.) entgegenkäme. Es ist sehr schwer festzulegen, bei genau welcher durchschnittlichen Bevölkerungsdichte und bei genau welchem Grad der begrenzten punktuellen und bandförmigen Konzentration der Siedlungszellen sich diese kostengünstige Situation ergibt. Eine exakte Optimierung ist hierbei, da stets auch bewertungsabhängig, ohnehin nicht möglich. Aber dessen ungeachtet kann dieser kostengünstigere Bereich durch eine entsprechende allmähliche Umformung der Siedlungsstruktur zumindest gesucht und wenigstens annähernd erreicht werden, gewissermaßen gestützt auf ein pragmatisches und gebietsspezifisches Vorgehen, Es ist zu vermuten, daß eine begrenzt gebündelt-aufgelockerte Siedlungsweise bei einer durchschnittlichen Besiedlungsdichte von noch unter 1000 Ew./km2, wie sie im aufgezeigten Leitbild vorgeschlagen wird, sich diesem günstigen Kostenbereich nähert. Das flächenbezogene Leitbild des Stadt-Land-Verbundes will daher auch als Modell für eine kostengünstigere Lebensraumgestaltung, als sie Superverdichtung und allgemeine Streuung und Dezentralisation erlauben würden, verstanden werden, gewissermaßen als mittlerer Weg zwischen ungünstigen Extremen. 2.4.2 Zusammenfassende Charakterisierung Man sollte sich über die folgenden relativ einfachen Zusammenhänge im klaren sein.
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Der Raumbedarf für zahlreiche traditionell städtische Aktivitätsbereiche wie den Handel, das Finanzgewerbe, die Verwaltung und private Dienste, den Freizeitbetrieb etc., aber auch für die gewerbliche Produktion hat sich in den vergangenen Jahrzehnten beträchtlich erhöht. Also wachsen in unseren Städten die Bürohauskomplexe, die Großkaufhäuser, die Sport- und Versammlungsarenen; und geradezu zwangsläufig kommt das innerstädtische Wohnen in die „Klemme". Da auch der Wohnraumbedarf steigt, zieht man zunehmend hinaus, baut neu, muß aber dessen ungeachtet nach wie vor häufig das Zentrum mit seinem konzentrierten Angebot und den Arbeitsstätten aufsuchen, und damit entstehen die sattsam bekannten Verkehrsprobleme. Nun hat es wenig Sinn, über die Krise unserer Städte und über Wohnraumzerstörung etc. zu lamentieren, denn dies geschieht lediglich in der Erfüllung uralter, ausgesprochen städtischer Funktionen des Kontaktes, des Austausches, der Konzentration von Entscheidung. Wird dabei das Wohnen räumlich abgedrängt, dann mag das ein Verlust an städtischem Leben sein, aber er entsteht, weil die Stadt versucht, ihre alten typisch städtischen Aufgaben trotz gewachsenem Raumanspruch und gewandelten Verkehrsbedingungen wahrzunehmen. Will man die vielfältige Funktion der Innenstädte heute noch erhalten, muß man zulassen, daß die entsprechenden Einrichtungen eine zeitgemäße Dimension annehmen und entsprechend Raum beanspruchen. Will man gleichzeitig, daß die Menschen dort auch wohnen, um die so gepriesene Urbanität des innerstädtischen Lebens zu sichern, dann bleibt nichts anderes übrig, als in die Höhe zu gehen und multifunktionale Großkomplexe mit Wohnhochbauten, großen Bürotürmen etc. - das ganze vielfach unterhöhlt - zu schaffen. Das ist jedoch problematisch, denn trotz bester Architektur wird eine solche Verdichtung gesteigerte Belastungen für die Menschen zur Folge haben; nicht ohne Grund weichen ja schon seit Jahrzehnten die Menschen der zu großen städtischen Verdichtung aus. Um jedoch jene „urbane" Atmosphäre früherer Städte zu erzeugen, bedürfte es auch innerhalb der Stadt größerer Refugien und ruhiger Zellen, sei es in großen Innenhöfen, Hausgärten, verträumten Nebengassen, auf kleineren Plätzen etc. Die Dimension eines multifunktionalen, baulich kompakten Gebildes mit großstädtischem Angebot, einschließlich der hier konzentrierten Menschen und der erforderlichen Verdichtung, würde die Erhaltung solcher geradezu „ländlichen" Komponenten weitestgehend verbieten, trotz der von den Architekten eingeplanten Grünarrangements, Springbrunnen etc. Will man dagegen die Menschen räumlich großzügig und bodennah wohnen lassen, muß man das Umland der Zentren aufsiedeln und entsprechend zentrierten Verkehr in Kauf nehmen.
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Leitbilder
Man kann aber auch eine Auslagerung der traditionell innerstädtischen Aktivitätsbereiche an jeweils verkehrsgünstige Standorte in Annäherung an die Wohngebiete zulassen und vermeidet so, wenn man unterschiedlich spezialisierte Zentren akzeptiert, die konzentrischen, oft kollabierenden Verkehrsströme. Man braucht dann nicht in die Höhe zu gehen, sondern befriedigt den gestiegenen Raumanspruch der städtischen Funktionen, des Wohnens und der Produktion durch großzügigere Inanspruchnahme und Erschließung der Fläche. Dabei kann durch eine entsprechend aufgelockerte Flächennutzung die wechselseitige Beeinträchtigung der Funktionen vermieden werden, es bedarf aber gleichzeitig eines gut ausgebauten flächenerschließenden Verkehrs. Dann aber, so klagen viele Stadtplaner, entstünde ein „regionalistischer", nun nicht mehr „urbaner" Menschentypus, und das könne man nicht wollen, also wird die multifunktionale Verdichtung oder die nostalgische Rückkehr in die neu angepinselten und sanierten großstädtischen Straßenzeilen der Gründerjähre empfohlen. Diese Empfehlung wiederum kommt nicht an der Tatsache vorbei, daß sich der Raumanspruch der sog. zentralen Einrichtungen, der Produktion, des Wohnens, der Freizeitaktivitäten etc. ausweitet und daß sich diese Aktivitäten auf konstant bleibender Bodenfläche zunehmend bedrängen und dies umso mehr, je höher die Bevölkerungsdichte ist. Wenn man allerdings keine hochgradig gesteigerte Verdichtung in multifunktionalen Großgebilden wünscht, und dagegen spricht vieles, bleibt nur der Ausweg, die Besiedlung soweit zu lockern und das Wohnen, die Arbeitsstätten, die Versorgungseinrichtungen, die Erholungsbereiche räumlich so zu verteilen, daß dem jeweiligen gestiegenen Raumanspruch entsprochen werden kann; dabei sind die verschiedenen Nutzungen aber räumlich nur soweit zu streuen, daß sie noch immer gut erreichbar bleiben; gleichzeitig sind sie so zu bündeln, daß sie sich bestmöglich und konfliktfrei ergänzen. Zu hohe Besiedlungsdichte wie auch zu geringe behindern jedoch eine solche räumliche Struktur (s. o.). Aber es ist durchaus möglich, unsere städtischen Siedlungsstrukturen im Gegensatz zu den Extremen der starken Verdichtung in multifunktionalen, kompakten Gebilden und der breiartigen, flächenhaften Ausweitung der Stadtregionen zu einer neuen Raumstruktur umzugestalten, die dem gestiegenen Flächenanspruch im Rahmen aufgelokkerter und sich ergänzend bündelnder Nutzungen gerecht wird. Entscheidendes Kriterium ist dabei die durchschnittliche Besiedlungsdichte; das Dilemma der Stadt bleibt bestehen, wenn Bevölkerungsdichten von mehreren Tausend Ew./km 2 auf großen Flächen erhalten werden sollen. Angesichts des allgemein ausgeweiteten Raumanspruchs ist zu hohe Dichte auf zu großem Areal die eigentliche Ursache der großstädtischen Misere; verringerte Dichte auf ausgeweitetem Areal in aufgelockert-gebündelter Siedlungsstruktur und
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feingliedrigem Nutzungsmosaik (s. o.) eröffnet dagegen neue Chancen für einen neuen wohltuenden und dennoch funktionsgerechten Lebensraum. Wer größtmögliche „urbane" Vielfalt auf engem Räume sucht, der muß die große vertikale Superverdichtung wollen. Wer sich aber nun dem damit verbundenen Dichtestreß, der Einengung des Bewegungsraumes, des Gestaltungsraumes oder dem Mangel an Kontakt zur belebten Natur entziehen möchte und etwa bodennahes Wohnen bevorzugt und in vergleichsweise kleinen, aber wohltuenden Siedlungsbereichen lebt, der findet über seinen Nahbereich hinaus die gewünschte Vielfalt und die Befriedigung eines gesteigerten Anspruchsniveaus nur innerhalb eines regionalen Verbundes, der auf größerem Raum für eine größere Bevölkerung ein koordiniertes Angebot bereithält. Darüber hinaus gewährt ihm sein unmittelbarer Siedlungsbereich mit seiner begrenzten Bevölkerungszahl, aber auch mit der dort ermöglichten Grundversorgung (s. o. - Funktionsbereich) einen noch überschaubaren lebensräumlichen Rahmen für vielfältige Identifikation und damit verbundene soziale und kulturelle Aktivitäten. So eröffnet das vorgestellte Leitbild des Stadt-Land-Verbundes mit seiner differenzierten, polyzentrischen, aufgelockert-gebündelten Siedlungsstruktur einen Ausweg aus dem Dilemma gegenwärtiger Raumnutzung. Jedoch sind folgende Gesichtspunkte, die zugleich das Leitbild zusammenfassend charakterisieren, zu beachten: 1. Die gesamte Fläche eines Landes wird in die Überlegungen zur Umgestaltung der Lebensraumstruktur einbezogen; „Stadt" und „Land" umfassende größere Regionen - nicht nur Stadtregionen - sind die Gestaltungseinheiten. Die Region ist so groß, daß sie Teilräume unterschiedlichster Eignung und Voraussetzungen, die sich wechselseitig zu ergänzen vermögen, erfaßt und so eine Vielfalt differenzierter „städtischer" und „ländlicher" Elemente vereint. Es ist günstig, wenn diese Region zugleich zur politischen Gebietseinheit wird, zumindest aber bedarf sie eines Planungsverbandes (o. ä.). Stadt und Land sollen sich zur lebensräumlichen Einheit, zum Gesamtwerk der vielfältigen Ausgleichsregion verbinden. Folglich gewinnt eine möglichst vollkommene Verkehrserschließung der Fläche besondere Bedeutung. Ein dichtes und differenziertes Straßennetz ist das tragende Gerüst, die Voraussetzung für die volle und vielseitige Beanspruchung des Raumes. Das Individualverkehrsmittel wird bewußt akzeptiert, die dadurch geschaffenen Möglichkeiten werden bewußt konzeptionell ausgeschöpft, ungeachtet der Notwendigkeit eines ergänzenden öffentlichen Verkehrs. 2. Die verschiedenen Nutzungskategorien werden in einem feingliedrigen Mosaik so kombiniert, daß wechselseitige Inanspruchnahme und Ergän-
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zung bestmöglich erfolgen, jedoch die zur vollen Funktionsfähigkeit der jeweiligen Nutzung erforderliche Flächengröße gewährleistet ist. Polyzentrisch dezentralisierte bzw. begrenzt gebiindelt-aufgelockerte Siedlungsstrukturen werden empfohlen; monozentrisch konzentrierte bzw. großflächig verdichtete dagegen abgelehnt. Eine Gruppierung der einzelnen Siedlungszellen zu Bereichen mit ca. 30 000 Ew. erweist sich allerdings als vorteilhaft, ohne größere oder auch kleinere Zuordnungen auszuschließen. Unter der einschränkenden Bedingung, eine durchschnittliche Mindestbesiedlungsdichte zu erhalten (ca. 250 Ew./km2) und eine Maximaldichte (1000 Ew./km2) nicht zu überschreiten, gilt Auflockerung, Streuung und nur begrenzte Bündelung als Leitvorstellung, mit dem Ziel, eine wohlgeordnete Durchmischung sich störungsfrei ergänzender lebensräumlicher Vielfalt entstehen zu lassen. Ungeachtet dessen kann aber auch sehr speziellen Nutzungsformen die jeweils erforderliche und ggf. auch weiträumige Fläche zugewiesen werden (Naturschutzgebiete, Truppenübungsgelände, Naturparks etc.); jedoch soll eine über die funktionsnotwendige Dimensionierung hinausreichende monofunktionale Nutzung weiträumiger Areale vermieden werden. Stets sollen ausgleichend ergänzende Nutzungen so nah wie möglich und gut erreichbar sein, stets soll man ζ. B. leicht aus den Wohngebieten ins „offene" Land wie auch zu den versorgenden Einrichtungen gelangen können. Ein feingliedriges Nutzungsmosaik, koordiniert im Rahmen vielfältiger Funktionsbereiche bzw. sinnvoller räumlicher Zuordnungen, wird angestrebt. 3. Das Konzept der zentralörtlichen Hierarchie dagegen und damit die örtlich geballte und nach festgelegten Stufen gestaffelte Konzentration von Einrichtungen und Arbeitsstätten an „zentralen Orten" wird aufgegeben; ebenso die Vorstellung, um diese Zentren verdichtete Besiedlung zu konzentrieren. Die verschiedenen Einrichtungen finden - durchaus zu Gruppen eines sich ergänzenden bzw. gleichzeitig aufgesuchten Angebotes gebündelt - dort ihren Standort, wo sie für die jeweilige Bezugsbevölkerung günstig zu erreichen sind und nicht unbedingt in den durch ein Zentrale-Orte-Programm festgeschriebenen Zentren einer alten Siedlungsstruktur, die sich ohnehin im Umbruch befindet. Die Lokalisation und Kombination „zentraler" Einrichtungen sollte möglichst flexibel erfolgen, denn die Ansprüche der Menschen an Art, Größe und Zusammenstellung solcher Einrichtungen unterliegen, so wie auch die technischen Voraussetzungen und unsere Bewertungen, durchaus dem Wandel, und das kann Standortveränderung erforderlich machen. Das heißt aber nun keineswegs, daß die traditionellen städtischen Zentren
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der überkommenen Städte zu vernachlässigen oder gar aufzugeben seien, dies umso weniger, je wertvoller ihre Bausubstanz, je bemerkenswerter ihre städtebaulichen und stadtgeschichtlichen Traditionen sind. Die alten Städte sind mehr als bauliche Hinterlassenschaft, sie sind gebaute Symbole unserer Herkunft, sie sind die jedermann sichtbaren Fäden zur Vergangenheit, sie sind eine Chance unter dem Ansturm des Neuen, Bewährtes, Schönes zu behalten. Aber die überkommenen großen Städte und Agglomerationen sind in großen Teilen auch das Erbe einer unbefriedigenden Vergangenheit, sind eher abschreckendes Mahnmal als erhaltenswertes Beispiel. Viele großflächige und monoton überbaute Wohngebiete verdienen nicht, unter Aufwand erhalten, sondern vielmehr abgerissen zu werden. Nostalgie muß Grenzen haben. Die großen Städte bedürfen nicht nur des Schutzes, sondern in weiten Teilen der Auflösung oder Verdünnung. Da ist es besser, langfristig statt der Sanierung vielstöckiger Mietshausareale, deren Tage sowieso gezählt sein dürften, gründlich umzugestalten, abzubrechen und etwa inmitten des so gewonnenen Freiraumes, umgeben von neuem Grün, neue kleinere Siedlungen, „urban villages" auf altem Stadtgebiet, nahe dem Zentrum zu errichten. Stadtbereiche, ζ. B. alte Zentren, die dagegen erhaltenswert sind, lassen sich durchaus durch sanierende oder neue Wohnbebauung (Stadthäuser etc.) beleben, denn hier ist „erhaltende Erneuerung" angebracht. Auch einzelne neue und große, kompakte und multifunktionale Baukomplexe sind vertretbar. Besondere Einrichtungen des kulturellen, geistigen wie auch des wirtschaftlichen Lebens etc. mögen auch weiterhin ihren Standort in den alten groß-, mittel- oder kleinstädtischen Zentren behalten, obzwar sie dies nicht müssen. Die Konzerthalle einer Region darf aber auch, wenn sie nur gut erreichbar ist, außerhalb der Stadt, etwa an einem See liegen; da muß gegenüber kein großes Bankgebäude sein, und es müssen nicht in unmittelbarer Nähe, gewissermaßen zu Fuß erreichbar, mehrere hunderttausend Menschen in kompakten Wohngebilden leben. Ein internationales Bankenviertel kann ζ. B. nahe eines internationalen Flughafens lokalisiert sein, es bedarf nicht des Museums daneben oder des Rathauses dahinter. 4. Die hochgradige Verdichtung zu multifunktionalen Stadtkomplexen und großflächigen Agglomerationen wird abgelehnt. Vor allem dem „Wohnen" als der wesentlichen Seinsweise des Menschen im Raum wird bewußt ein umfangreicher Flächenanspruch eingeräumt. Hier darf zu allerletzt, wie gegenwärtig meist noch, „gespart" werden, denn es betrifft die Menschen und vor allem die Kinder zwangsläufig und unmittelbar. Bodennahe aufgelockerte und maßvoll angenäherte Wohnweise soll erleichtert werden, ohne verdichtete Wohnweise zu erschweren oder gar zu verhindern.
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Werden ζ. Β. in erhaltenswerten Stadtgebieten sog. Stadthäuser als Einfamilienhäuser errichtet, die auf geringer Grundfläche dennoch ein familiengerechtes Wohnen erlauben sollen, dann muß zumindest die Architektur sicherstellen, daß trotz relativ hoher Wohndichte ausreichend großer und vor Einblick und Störung geschützter Eigenraum wie auch Kontakt zur Natur - und sei es auf der Terrasse oder im Atrium - gewährt wird. Ergänzend sollten diese Familien die Möglichkeit zu individueller Freiraumnutzung im ländlichen Umland haben. Problematisch wäre es dagegen zu hoffen, mit dem Modell des Stadthauses die Großstädte in ihrer gegenwärtigen Bevölkerungsdichte und Größe erhalten zu können. Will derartige städtische Wohnbebauung nicht Dichtestreß provozieren, wird sie auf die hohe Wohndichte der überkommenen städtischen Mietshausviertel verzichten müssen. Bei gleicher Bevölkerungszahl müßte dann das Stadthaus die überbaute Wohn- bzw. Stadtfläche ausweiten. Statt dessen aber empfiehlt es sich, die großen Städte stärker zu durchgrünen und mit Freiraum zu durchziehen. Das Stadthaus als Ein- oder Zweifamilienhaus taugt also wenig, wenn es als Vehikel zur Erhaltung der überkommenen Großstadtgebiete in ihrer bisherigen Größe und Dichte herhalten soll; dessen ungeachtet vermag es sich durchaus bei der Erhaltung alter Zentren, für die Wohnbebauung in den Urbanen Schwerpunkten und in dichter besiedelten Teilen der begrenzt gebündelten Siedlungsstrukturen im Rahmen des Stadt-Land-Verbundes zu bewähren. Ein weit verbreitetes Angebot unterschiedlicher Wohnmöglichkeiten, die der seelischen und körperlichen Gesundheit, der Aktivierung und Entfaltung des Menschen förderlich sind, soll eröffnet werden; dies ist vor allem auch eine Frage großzügiger Flächenausweisung und damit der Flächennutzungsplanung. Die bei vielen Planern anhaltende Bevorzugung stark verdichteten Wohnens und die öffentliche Förderung entsprechender Projekte sowie die umsichgreifende Neigung, viele überholte Baustrukturen (ζ. B. abgewohnte verdichtete Wohnquartiere der Gründerzeit) unter Nutzung steuerlicher Vergünstigungen kostspielig zu erneuern, wird als eine kulturspezifische Fehlorientierung angesehen und aufgegeben. Gewandelte Bedingungen erlauben bei geschickter Flächennutzungsplanung einen räumlich aufgelockerten Lebensstil, der zahlreichen individuellen und familiären Belangen besser gerecht wird, und der keineswegs kulturellen oder zivilisatorischen Rückschritt bewirkt. Die vielbeklagte Zersiedlung kann dabei durchaus vermieden werden; sie ist weniger die Folge flächenverbrauchender Bebauung, als vielmehr das Ergebnis mangelnder Koordination der Flächennutzung und zu hoher durchschnittlicher Besiedlungsdichte.
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5. Von besonderer Bedeutung ist der gute Verbund zwischen herkömmlich als „städtisch" oder „ländlich" angesehenen Nutzungsmöglichkeiten. Dies geschieht nicht nur mit Hilfe eines feingliedrigen Mosaiks, bei dem etwa Waldflächen nahe der Wohngebiete beginnen oder „städtische" Kulturzentren von Seen und Grünanlagen umgeben sind, sondern auch durch Erleichterung eines sowohl städtischen wie ländlichen Lebensstiles, indem etwa der Bewohner eines zentral gelegenen Hochhauses in zumutbarer Entfernung sein ländliches Wochenendhaus hat, eine im Reihenhaus wohnende kinderreiche Familie ihre große Freizeitparzelle findet, auf der gespielt, gegrillt, ein Zelt aufgebaut werden kann, der Campingwagen oder ein Gartenhäuschen steht, wo aber ggf. auch Gemüse angebaut wird. Das alles kann so angelegt sein, daß das landschaftliche Erscheinungsbild nicht negativ beeinträchtigt wird. Vor allem dort, wo nicht mehr genutzte landwirtschaftliche Flächen (Sozialbrache) vorhanden sind, sollten Wege, diese besser für die Freizeit nutzbar zu machen, gefunden werden. Gerade damit würde ein besserer Stadt-Land-Verbund augenfällig sichtbar. So dürfte die stärkere Bereitstellung von Wochenend-, Freizeitgrundstücken o. ä. meist nützlicher sein, als wenn mit Hilfe öffentlicher Bezuschussung unbedingt eine agrarische oder paralandwirtschaftliche Flächennutzung aufrechterhalten werden soll. In Ausschöpfung unterschiedlichster rechtlicher und organisatorischer Möglichkeiten (Pacht, Miete, Kauf, Landpool der öffentlichen Hand etc.) kann dabei grundsätzlich für sehr verschiedene soziale Schichten naturnah aktive Erholung durch Nutzung ehemaligen Brachlandes ermöglicht werden. Es ist völlig unnötig, derartige ausgleichende Landnutzung durch Städter als von vornherein auf höhere Einkommensschichten begrenzt anzusehen und damit, in egalitärer Absicht, abzulehnen. Statt dessen sollte ein Angebot unterschiedlichster Formen solcher Freiraumnutzungen mit sowohl billigster wie auch kostspieliger Erschließung und Bebauung bzw. Nutzung eröffnet werden, um so Familien aller sozialer Schichten ausreichend großes Individual- und Gruppenterritorium, mehr Bewegungsraum, Distanzraum, mehr Naturkontakt etc. zu bieten. Daß ein solcher Wunsch nach vergrößertem Freizeitterritorium besteht, ist hinreichend empirisch bestätigt, z. B. zeigten in städtischen Wohnhochhäusern (der Stadt Gießen) lebende Familien zu ca. 70% gesteigertes Interesse an derartigen Ausgleichsmöglichkeiten. Umgekehrt kann es für den etwas abgelegener ländlich Wohnenden reizvoll sein, ein zusätzliches städtisches Appartement zu besitzen und sei es, um so den Kindern den Zugang zu Ausbildungsstätten zu erleichtern und sich selbst den Besuch kultureller Veranstaltungen, oder um im Alter wieder ein zentraler gelegenes Wohngebiet mit konzentriertem Dienstleistungsangebot aufzusuchen.
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So sollte der von Planern oft genug kritisierte Trend zur Zweitwohnung bzw. zum ländlichen Zweitwohnsitz positiver beurteilt und durch entsprechend differenzierte Flächenausweisung so gefördert werden, daß sich unterschiedlichste Sozialschichten beteiligen können. Wenn man auf der einen Seite wünscht, daß Bevölkerungsteile in den als erhaltenswert angesehenen Bereichen der überkommenen Städte durchaus auch verdichtet wohnen, dann muß man auf der anderen Seite auch ausgleichende Möglichkeiten individuellen Freizeitwohnens im stärker ländlichen Raum ermöglichen, um den Lebensansprüchen in einer Wohlstandsgesellschaft gerecht zu werden. Der Versuch zu solcherart lebensräumlicher Symbiose bzw. Stadt-Land-Verbund darf auf altes Erfahrungsgut der Menschen verweisen. Vielfach in der Kulturgeschichte sowohl in der Antike wie auch etwa im Italien der Renaissance, in den Niederlanden und im England des 16. bis 18. Jahrhunderts sowie weit verbreitet im 20. Jahrhundert ist es Bevölkerungsteilen gelungen, durch die Verfügung über sowohl städtische wie auch ländliche Wohnungen einen höchst anregenden und wohltuenden raumbezogenen Lebensstil zu verwirklichen, der den „gesamten" Raum nutzt und gleichermaßen zur Entfaltung des Menschen wie auch zur gedeihlichen Entwicklung des Lebensraumes beiträgt. Die Zwänge der Produktion und die Umstrukturierung der Raumnutzung und Siedlungsstrukturen haben viele dieser bewährten Ausgleichsmodelle zerstört und scheinen sie noch heute zu verwehren; die neuen Verkehrs- und Kommunikationsmöglichkeiten eröffnen sie jedoch neu. 6. Da alle Strukturmodelle, selbst bei gegenwärtig überzeugender Konzeption, nicht vom Wandel sozialräumlicher Phänomene ausgenommen sind und künftige sozialräumliche Entwicklungen sich nie verläßlich voraussagen lassen (denn sie sind vielfältig bedingt, und die Bedingungen verändern sich bekanntlich), müssen Wandelbarkeit, Flexibilität, hohe Anpassungsfähigkeit „eingebaut" sein. Das ist kaum durch geometrisch festgelegte, ζ. B. zentralörtliche Raumstrukturen oder durch Verdichtung und Anhäufung großer Baumassen, sondern vielmehr durch gute Erschließung des gesamten Flächenpotentials und eine vorsorglich umfangreichere Ausweisung derjenigen Flächenareale, die dynamische Nutzungen tragen, zu erreichen. Umwidmungen der Flächennutzung und Anpassung an gewandelte Anforderungen werden dann erleichtert. Eine aufgelockerte und nur begrenzt gebündelte Besiedlung, wie beim Stadt-Land-Verbund vorgeschlagen, bei der auch zahlreiche kleinere und größere „Zwischenräume" noch vergleichsweise geringer Beanspruchung vorhanden sind, die dennoch zugleich durch ein flächenerschließendes Verkehrsnetz gut mit dem übrigen Raum verbunden werden, dürfte sich bezüg-
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lieh der Variation des Nutzungsmusters flexibler erweisen als etwa das bauliche Durcheinander vieler Agglomerationen. Wichtig ist aber auch, daß regional eine Mindestbesiedlungsdichte von ca. 250 Ew./km2 nicht unterschritten, eine Maximaldichte von etwa 1000 Ew./km2 im Durchschnitt einer solchen Stadt-Land-Verbund-Region nicht überschritten wird, was nicht ausschließt, daß teilräumlich höhere oder niedrigere Werte vertretbar sind. 2.4.3 Ein romantischer und utopischer Ansatz? Es könnte der Einwand erhoben werden, derart anscheinend vereinfachende Vorstellungen eines Stadt-Land-Verbundes seien mehr Ausdruck einer Sehnsucht, die Probleme unserer Siedlungsstruktur über die Idylle einer Stadt-Land-Harmonie zu lösen, ohne damit jedoch realitätsnah zu sein. In der Tat entzündet sich ja gerade die Phantasie früher und gegenwärtiger Utopisten an der Vision gemischt agrarisch-industrieller Siedlungseinheiten, in denen die Vorzüge von Stadt und Land ohne deren Nachteile miteinander verbunden werden sollen. Besteht nicht zudem die Versuchung, im Gefolge einer zunehmenden Stadtkritik und latenten Zivilisationsmüdigkeit - in einem erneuten Ruf „zurück zur Natur" - nun im ländlichen Raum die Rettung vor den Mängeln der Gegenwart zu sehen? Die Belastung der Umwelt und die „Unwirtlichkeit" vieler Städte kann jedoch nicht allein durch ein neues Konzept der inneren Kolonisation, also durch verstärkte Aufsiedlung weniger belasteter Räume (wie etwa T. ROMAHN, 1974, S. 33 empfiehlt) behoben werden, will man nicht neue Nachteile und Probleme aufbauen. Die dringend notwendige Entlastung der großen Städte und Agglomerationen entläßt nicht aus der Notwendigkeit, sie fortzuentwickeln und umzugestalten. Es geht ja nicht darum, die Städte abzuschaffen, sondern sie auf ein erträgliches Maß umzuformen. Eng damit zusammenhängend sind die Möglichkeiten, weniger belastete Räume bei der Erneuerung unserer Siedlungsstruktur verstärkt zu nutzen. Und zu diesem Zweck bedarf es einer koordinierenden und zugleich wertorientierten Leitvorstellung. Wir müssen uns klar darüber sein, daß durch die Industrialisierung eine Konzentration von Menschenmassen in wenigen ausgewählten, oft ökologisch sogar benachteiligten Zonen gefördert oder erzwungen wurde. Es besteht aber keine Notwendigkeit, dieses Erbe in ständiger Anpassungsplanung immer weiter fortzuschleppen und sich so der Möglichkeit veränderter Raumnutzung zu begeben. Zunehmend können Siedlungsstrukturen erwogen werden, die frei von der ehedem sehr starren Standortgebundenheit der industriellen Produktion und Versorgung, eine stärker am Wohlbefinden der Menschen orientierte Raumnutzung eröffnen. Das ist keine Romantik, sondern ein Appell an die dringend benötigte Phantasie und den Gestaltungswil-
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len einer aus vielen Zwängen des Industriezeitalters entwachsenden Gesellschaft. Dagegen erscheint der heute vielfach empfohlene Versuch, dem folgerichtigen Ausweichen der Menschen aus zu stark verdichteten Wohngebieten durch neue Verdichtungen in kompakten, multifunktionalen, „Urbanen" Großkomplexen entgegenzuwirken als unbefriedigend und zu stark vereinfachend. Zweifellos wäre der Auszug aus den inneren Bereichen unserer Großstadtregionen schon viel zügiger vonstatten gegangen, wenn es für die normale Arbeitnehmerfamilie leichter wäre, ein eigenes Haus zu bauen oder zu erwerben; noch ist die finanzielle Schwelle zu hoch, höher als etwa in den USA. Daher entstehen dort die innerstädtischen Wüstungsgebiete (wie etwa in Chikago) und erst mit zaghaften Anfängen in der BR Deutschland. Hier sind die Großstädte bis jetzt vor allem deswegen leidlich intakt geblieben und ermuntern zu fragwürdigen infrastrukturellen Investitionen, weil das private Bauen und die Eigenheimparzelle zu teuer sind und ein Großteil der Bevölkerung in der Großstadt bleiben muß - nicht zuletzt dank problematischer Landes-, Regional- und Flächennutzungsplanung. Langfristig gesehen, dürfte jedoch die verdichtet, flächenhaft überbaute Großstadtregion keine Chance mehr haben. Sie ist durch gewandelte Bedingungen „überholt"; mit ihren zahlreichen Nutzungskonflikten wird sie zunehmend entbehrlich. Daher sollte der Abwanderungsprozeß aufgenommen und im Rahmen eines angemessenen Leitbildes koordiniert werden, statt ihn im ausufernden vorstädtischen Siedlungsbrei versickern zu lassen oder ihm - ähnlich hilflos und unbefriedigend - mit städtischen Sanierungsmaßnahmen und neuer städtischer Verdichtung entgegenzuwirken, deren langfristiger Erfolg ebenso gefährdet ist, falls nicht durch die empfohlene Regionalgestaltung ergänzend „ländliche" Elemente (ζ. B. Wochenendhäuser) und räumlich großzügigere Nutzungen ermöglicht werden. Die Massierung der Menschen in ausufernden Großstadtregionen, Stadtkomplexen und verdichteten Satelliten sollte mehr und mehr als zivilisatorische Fehlleistung begriffen werden. Ihr liegt der weitestgehende Verzicht auf die wertorientierte schöpferische Gestaltung einer wohltuenden Siedlungsstruktur zugrunde. Es besteht keine zwingende Notwendigkeit, die Menschen auf eng begrenzter Fläche zusammenzudrängen, während gleichzeitig große Areale aus der agrarischen Produktion ausscheiden und nicht mehr genutzt werden. Mit dem raumbezogenen Leitbild einer Stadt-Land- Verbund-Region steht uns jedoch nicht das Ende der Stadt vor Augen, sondern es wird nur die Konsequenz aus der gesteigerten distanziellen Beweglichkeit und Kommunikationsmöglichkeit gezogen. Die frühere Stadt war dicht besiedelt, weil in ihr
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alles „erlaufen" werden mußte; heute kann die Stadt bzw. die Stadt-LandRegion aufgelockert sein, weil in ihr alles individuell „erfahren" werden kann. Je schneller wir uns als einzelne bewegen, um so lockerer können wir siedeln und dennoch das gleiche „städtische" Angebot wahrnehmen, wenn auch weniger stark standörtlich konzentriert, sondern räumlich stärker gestreut. Die Stadt verschwindet nicht; was an ihr baulich oder funktionell wertvoll ist, bleibt erhalten, wird geschützt und ggf. in neues „Grün" eingebettet. Aber die Stadt lockert sich auf, „verfingert" sich mit Ländlichem. Dagegen verschwindet, was die Stadt so fragwürdig gemacht hat: die hochgradige und belastende Zusammendrängung der Menschen in dicht bebauten städtischen Wohnquartieren. Die positiven städtischen Elemente und das städtische Angebot bleiben erhalten; neue, bislang eher ländliche Elemente treten hinzu. Der Umbruch der Siedlungsstruktur wird die Stadt nicht auslöschen, sondern wird Stadt und Land ergänzend einander verbinden, sie ineinander aufgehen lassen. Das Land wird auch zur „Stadt", und Stadt wird auch zum „Land". Es wird auch weiterhin an bestimmten Standorten großstädtisches Angebot, groß- und weltstädtische Einrichtungen geben, aber ohne unmittelbar umlagernde „Mantelbevölkerung" von einer oder mehreren Millionen Menschen; spezifische Zentren werden von aufgelockert bebautem Land umgeben sein. Die mit dem Leitbild des aufgelockerten-begrenzt gebündelten StadtLand-Verbundes empfohlene Umformung der Raumstruktur wird durchaus der Wirklichkeit gerecht, denn: 1. Selbst in den dicht besiedelten Industriestaaten ist genügend Fläche vorhanden, um eine aufgelockerte Siedlungsstruktur und vor allem räumlich großzügigere Wohnmöglichkeiten zu verwirklichen (s. Kap. 2.2.4). 2. Die entwickelte Verkehrs- und Kommunikationstechnik erlaubt zunehmend zahllose, ursprünglich auf die verdichtete Stadt beschränkte Kontakte auch bei stärker aufgelockerter Siedlungsstruktur (s. Kap. 2.2.2). Die Energiesituation erzwingt keineswegs eine allgemeine Konzentration der Besiedlung (s. Kap. 2.2.6). 3. Eine Tendenz zur stärkeren räumlichen Streuung bzw. Dezentralisation ist bei lediglich begrenzter standörtlicher Konzentration sowohl bei außerlandwirtschaftlichen Arbeitsstätten, speziell der Industrie, wie auch den verschiedensten Dienstleistungseinrichtungen wirksam (s. Kap. 2.4.1.1). 4. Im Rahmen des empfohlenen Stadt-Land-Verbundes ist daher sowohl die Nähe bzw. zumutbare Erreichbarkeit eines differenzierten Arbeitsplatzangebotes wie auch unterschiedlichster, auch hochwertigster Dienstleistungen gegeben. Die Versorgung der Bevölkerung ist trotz aufgelockert-gebündelter Siedlungsstruktur in größter Angebotsbreite (etwa im Einzelhandel, Bildungs- und Kultureinrichtungen etc.) möglich. Dank standörtli-
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cher Vielfalt und guter infrastruktureller Erschließung kann eine vielfältige und entwicklungsgünstige Wirtschaftsstruktur, die zudem disparitätsmindernd wirkt, aufgebaut werden. 5. Der anhaltende Wunsch nach räumlich großzügigeren und bodennahen Wohnmöglichkeiten begünstigt nach wie vor die Abwanderung aus den dicht bebauten Großstadtbereichen in die weniger verdichteten Gebiete am äußeren Rande oder weit außerhalb der Agglomerationen. Damit hält die Tendenz zur Dezentralisation der Raum- und Siedlungsstruktur nach wie vor an. Leider werden die damit verbundenen Binnenwanderungen noch nicht durch ein Leitbild der regionalen Lebensraumgestaltung und eine entsprechende regionale Flächennutzungsplanung, die die negativen Aspekte dieser Veränderungen, ζ. B. die breiartige Besiedlung in den suburbanen Räumen, verhindern und dagegen die Vorzüge einer kleinräumlichen städtisch-ländlichen Ergänzung eröffnen, koordiniert und gelenkt. 6. Die überkommene Siedlungsstruktur, ζ. B. in der Bundesrepublik Deutschland mit ihren zahlreichen klein- und mittelstädtischen Ansatzpunkten und den bereits gewachsenen Zonen und Achsen gebündelt-aufgelockerter Besiedlung, begünstigt die leitbildgerechte Umformung. 7. Bestehende Städte und städtebaulich wertvolle und erhaltenswerte Bereiche und Bauten können ohne weiteres in das Konzept des Stadt-LandVerbundes einbezogen werden und vermögen durchaus als Kristallisations- und Brennpunkte des öffentlichen Lebens zur Steigerung der angestrebten lebensräumlichen Vielfalt beizutragen. Keineswegs ist jedoch die gesamte überkommene städtebauliche Substanz erhaltenswert, der Abbruch vieler Quartiere und Baukörper schafft geradezu die Voraussetzungen für die empfohlene Auflockerung. 8. Die Landwirtschaft setzt zunehmend Flächen, vor allem geringer Ertragskraft in landschaftlich oft reizvoller Lage, frei und vergrößert damit das potentielle Flächenangebot für „ländliche" Zweitwohnsitze (o. ä.) und eine Stadt-Land-verbindende Lebens- bzw. Wohnweise. So zeigt sich insgesamt, daß das Konzept des Stadt-Land-Verbundes keineswegs als utopisch, sondern wichtigen lebensräumlichen Veränderungen gerecht werdend, als entwicklungskonform und realitätsnah anzusehen ist und aus den gegebenen Voraussetzungen heraus, entsprechend großräumige Planungsverbände und abgestimmte Flächennutzungsplanung vorausgesetzt, tatsächlich verwirklicht werden könnte. Aber mehr noch, nicht nur der Bezug zur Wirklichkeit ist gegeben, sondern eine leitbildgemäße Regionalgestaltung wäre an Wertvorstellungen, an einer lebensräumlichen Ethik orientiert (Kap. 1.2), womit der Sinnbezug des planerischen Handelns gewährleistet würde:
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Die Gestaltung unseres Lebensraumes steht letztlich unter dem sinngebenden Ziel, dem Glücklichsein der Menschen, der Freude am Leben, dem Wohlbefinden und der Gesunderhaltung zu dienen; und es besteht kein Zweifel, daß die Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum, daß die Beschaffenheit unserer Umwelt wesentlich über unser Befinden entscheidet, folglich kann durch die Formung unserer lebensräumlichen Bedingungen und die dadurch erzwungene oder ermöglichte Lebensweise durchaus das Glücklichsein gefördert, behindert oder gar zerstört werden. Die zahllosen Elemente unseres Lebensraumes wirken als unterschiedlich stimulierende Umweltreize auf den Menschen; ein gewisses Maß solcher Umweltreize, solcher Anregung ist für das Wohlbefinden des Menschen unentbehrlich. Jedoch erhöht übermäßige Stimulation, wie auch fehlende, den Streß, der dann leicht zum schädigenden Distreß werden kann. So ist normalerweise weder eine zu stark anregende Umwelt, Reizüberflutung, Hektik noch eine abstumpfende Umwelt, Monotonie, Einsamkeit, Langeweile dem Menschen auf die Dauer zuträglich, weder Mangel noch Übermaß an Belastung. Die richtige Mischung muß der einzelne jeweils selbst ermitteln, er muß, um nicht unter Distreß zu leiden, auswählen und ausprobieren, mit welcher lebensräumlichen Kombination er sich am wohlsten fühlt; und genau diese hochgradige Wahlmöglichkeit versucht der vielfältige Stadt-Land-Verbund bereitzustellen. Treffend schreibt H. SELYE (1974, S. 127): „Der beste Weg, schädlichen Streß zu vermeiden, besteht darin, sich eine Umwelt zu suchen, die dem am nächsten kommt, was wir unserer Veranlagung nach am meisten bevorzugen, und eine Tätigkeit zu finden, die wir gern ausüben und schätzen." Auch wird unsere Lebensfreude, unser Glücklichsein wesentlich davon beeinflußt, ob wir die gemäß unserer Bewertung selbstgewählten Ziele allmählich erreichen, unsere Neigungen und Bedürfnisse allmählich befriedigen und unseren genetischen Verhaltenstendenzen entsprechen können. Viele dieser Wünsche und Bedürfnisse beziehen sich durchaus auf die Gestaltung und Bedingungen des engeren und weiteren Lebensraumes. Größtmögliche Vielfalt des Angebotes ist daher außerordentlich wichtig. Den obersten Leitvorstellungen gemäß bemüht sich das Modell des StadtLand-Verbundes, Vielfalt der Raumnutzungsmöglichkeiten zu eröffnen, u. a. durch ein kleinräumliches Mosaik sich potentiell ergänzender Nutzungen, um Gelegenheit zur Erreichung raumbezogener Ziele, vom Freizeitwohnsitz, einer wohnungsnahen Wiese, dem leicht erreichbaren Konzertsaal bis zum Hobbyraum im eigenen Haus oder zum gut erreichbaren Arbeitsplatz, zu geben. Durch lebensräumliche Vielfalt soll der Handlungsspielraum der Menschen erhöht werden, soll für die verschiedenen Aktivitäten jeweils geeigneter Raum vorhanden sein. Bewußt wird daher das gesamte Land,
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nicht nur die Stadtregion oder nur das dünnbesiedelte Land, in eine StadtLand-verbindende Umgestaltung einbezogen, damit es an Raum nicht fehle. Durch die Bereitstellung entsprechender Flächen ζ. B. für räumlich befriedigende bodennahe Wohnformen soll dem Menschen mehr Raum verfügbar werden, in dem er selbstentscheidend gestalten, sich selbsterfüllend aktiv betätigen und bewegen kann, in dem er vor Störungen geschützt ist und in dem seine begrenzte Dichtetoleranz nicht überfordert wird (siehe Auflistung wertorientierter Leitvorstellungen in Kap. 1.2). Durch die feingliederige Verfingerung mit „offenem" Land, durch Einbeziehung von Gärten, Freizeitparzellen etc. kann der erwünschte Kontakt zur belebten und unbelebten „Natur" erleichtert werden. Durch begrenzte Bündelung und gute Verkehrserschließung wird dem Verlangen nach sozialer Interaktion und Kooperation, nach zwischenmenschlichem Kontakt entsprochen. Die Zuordnung zu nicht zu kleinen und nicht zu großen Siedlungsbereichen (ζ. B. Funktionsbereichen) begünstigt die Entstehung eines Zugehörigkeitsgefühls und die Integration in die sozial-räumliche Umwelt, die Bereitschaft zur verantwortlichen Mitwirkung. Die Vielfalt des lebensräumlichen Angebotes innerhalb eines feingliedrigen Stadt-Land-Mosaiks erleichtert es dem Bewohner, die seiner synergetischen Bewertung entsprechende Nutzungskombination, die ihm gemäße bzw. erwünschte raumbezogene Lebensweise zu verwirklichen. Auch dürfte es leichter möglich sein, Gesundheitsschädigung und Störung des sozialen Lebens, soweit sie durch Anpassung an problematische Raumnutzung ausgelöst werden, zu vermeiden und die Belastungsgrenzen nicht zu überschreiten, statt dessen aber raumbezogene Lebensformen zu verwirklichen, die dem Wohlbefinden förderlich sind, die der Verhaltensgenetik und der physiologischen und körperlich-seelischen Begrenztheit des Menschen gerecht werden. Nicht zuletzt aber kann es gelingen, die Raumnutzung in den verschiedenen Lebensbereichen innerhalb eines funktionsfähigen Systems räumlich so einander zuzuordnen und miteinander zu verbinden, daß sich private Gestaltung, Einkommensbildung, materielle Bedarfsdeckung wie auch die geistige, kulturelle, soziale Versorgung und die öffentliche Mitwirkung auf hohem Niveau und einander fördernd verwirklichen lassen. Ohne zu erörtern, bis zu welchem Grade der empfohlene Stadt-Land-Verbund die zugrundegelegten weitorientierten Leitvorstellungen (Kap. 1.2) zu realisieren vermag, darf doch behauptet werden, daß das vorgelegte flächenbezogene Leitbild den lebensräumlichen Belangen der Menschen besser als zahlreiche andere Modelle gerecht zu werden verspricht und zudem eine sowohl unter wirtschaftlichen wie sozialen, psychologischen und gesundheitlichen Gesichtspunkten akzeptable Regionalgestaltung begünstigt. So will der Vorschlag eines ausgewogenen Stadt-Land-Verbundes mit
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seiner bewußten Steigerung lebensräumlicher Wahlmöglichkeiten auch verstanden sein als Versuch, eine dem Glücklichsein, dem Wohlbefinden dienende Ubereinstimmung zwischen Mensch und Lebensraum und eine so verstandene Harmonie zu fördern; das ist weniger romantisch, als vielmehr höchst wünschenswert. Eine ganz andere Frage ist es, ob die bisherige planerische Praxis mit ihrer durch Landesentwicklungspläne und Raumordnungsprogramme gestützten Zentrale-Orte-Manie mit gesetzlichen Festlegungen wie dem § 35 des BBauG, der die Herausbildung eines feingliedrigen Mosaiks städtischer und ländlicher Nutzungen erschwert, oder mit der finanziellen bzw. steuerlichen Begünstigung der Erneuerung an sich überholter Baustrukturen der empfohlenen Umformung der Siedlungsstruktur förderlich ist. Auch bedarf es einer weit stärkeren Mobilisierung des Bodens für die verschiedensten Nutzungen, als es im Rahmen der bisherigen Planungspraxis üblich ist. Das ist aber weniger eine Frage des Bodenrechts als vielmehr der Schaffung eines Überangebotes unterschiedlich zu nutzender Flächen durch großzügigere Ausweisungen im Rahmen der Flächennutzungsplanung. Vor allem durch eine solche Mobilisierung der Flächen vermögen die weniger dicht besiedelten Räume, ganz im Sinne des Stadt-Land-Verbundes, ihre Attraktivität zu steigern und Aktivitäten aus den Verdichtungsgebieten mit der dort beengten Flächennutzung abzuziehen. Die Flächennutzungsplanung und die Regionalplanung werden so zu entscheidenden Instrumenten, einen ohnehin ablaufenden siedlungsstrukturellen Veränderungsprozeß leitbildgerecht und gemäß den zugrundeliegenden Wertvorstellungen zu koordinieren. So läßt sich verhindern, daß der Mensch überrascht wird von den im Raum ablaufenden Entwicklungen und desorientiert und erschreckt „Zersiedlung", „Umweltzerstörung", „Unwirtlichkeit" ruft, während er in der Praxis weiterhin in notdürftiger Anpassungsplanung der Entwicklung hinterherläuft. Und es wird stattdessen möglich, den Lebensraum aktiv so zu gestalten, wie er sinnbezogen wert ist, angestrebt zu werden. 2.4.3.1 Das Experiment von COLUMBIA Nun soll mit den obigen Ausführungen nicht der Eindruck erweckt werden, als habe es in der planerischen Praxis bisher keine nennenswerten Versuche gegeben, städtische und ländliche Vorzüge miteinander zu verknüpfen. Zweifellos waren im Städtebau der letzten Jahre beachtliche Bemühungen erkennbar, neue Städte aufgelockert und mit Grünzügen durchsetzt anzulegen und dennoch städtische Ausstattung zu bieten.
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Leitbilder
Der wohl bemerkenswerteste Versuch ist die seit 1966 begonnene Errichtung der neuen Stadt COLUMBIA (Abb.), zwischen Baltimore und Washington in den USA gelegen. Die von der Rouse Company, dem Träger des Projekts und von M. HOPPENFIELD et al. entwickelte Grundkonzeption dieser neuen Stadt ist klar und einfach. Um ein Hauptzentrum (down town) legt sich ein Ring von sieben „Dörfern", die nicht nur untereinander, sondern auch vom gemeinsamen Zentrum durch große gliedernde Grünbereiche getrennt und abgeschirmt sind, zugleich aber über ein dichtes Straßennetz miteinander auf's engste verbunden bleiben. Diese Villages, die jeweils 10 0 0 0 - 1 5 000 Einwohner umfassen sollen, gliedern sich ihrerseits wieder in 3 - 4 kleinere Siedlungsbereiche (neighbourhoods), die jeweils 2000-5000 Einwohner einschließen. Und während sich in unmittelbarer Nähe der Wohnbereiche, in sogenannten Nachbarschaftszentren, inmitten von Grünanlagen (neighbourhood park) Spielplätze, kleine Geschäfte des kurzfristigen Bedarfs, neighbourhood swimming pools, Kindergärten, die Grundschulen, Versammlungsräume etc. konzentrieren, befinden sich diejenigen Einrichtungen, die für mehrere Nachbarschaften bzw. für die gesamte Villagebevölkerung vorgesehen sind (also weiterführende Schulen, Zentren des religiösen Lebens, Supermarkt und spezialisierte Geschäfte, kommunale und private Dienstleistungseinrichtungen, von der Bibliothek bis zum Schönheitssalon, aber auch Hallenbad und PKW-Service, Ausstellungsräume, soziale Dienste etc.) im gemeinsamen Village-Center. Auch dieses ist eingebettet in Grünanlagen. Und natürlich sind ausreichend Parkplätze für PKWs vorhanden. Im Hauptzentrum (down town) der Stadt COLUMBIA sind dann jene Einrichtungen lokalisiert, die der gesamten Bevölkerung (1978- 54 000 Einwohner; geplant ca. 100 000 Einwohner) dienen. Ein großes Einkaufszentrum (The Mall) vereint unter seinem Dach nicht nur 112 größere und kleinere Einzelhandelsfachgeschäfte, sondern ebenso Restaurants, Snack Bars, Café, weitere Dienstleistungseinrichtungen sowie einen Theaterraum etc. und ergänzt so das Angebot in den Dorf- und Nachbarschaftszentren; darüberhinaus regt es zugleich mit seinen Brunnen und Wasserspielen, Bäumen und Sitzgruppen bis spät in die Nacht hinein zum Bummeln und Verweilen an, stets vor Regen und Kälte durch ein Glasdach geschützt. Nahe dem Einkaufszentrum liegt ein kleiner See, dessen Uferböschung parkartig gestaltet, mit Promenade, Springbrunnen und schöner Plastik, mit Pavillon und Bootsanlegesteg zum sommerlichen Aufenthalt einlädt. Zugleich gruppieren sich entlang des Sees Verwaltungsgebäude, Büros, verschiedene kulturelle Einrichtungen, vom Lehrerzentrum, von Ausstellungsräumen, Kinos, bis zur Abendschule; gepflegte Restaurants, Informationszentrum, Hotel ergänzen die Ausstattung. In relativ geringer Entfernung,
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I unverplante Flächen Grünflächen (»open space«) I Gewerbegebiete Wohngebiete a durchgrüntes Hauptzentrum Village Zentrum Nachbarschaftszentrum ΞΞΞΞΞ überregionale Schnellstraßen m u z z Parkways 1 m
Landstraßen
' —
Eisenbahn Gewässer
0
1
Abb. 15:
2
3 km
Generalisiertes Schema von COLUMBI A/Maryland
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Leitbilder
D i a g r a m of the town.
D i a g r a m of a village.
D i a g r a m of a n e i g h b o u r h o o d .
PFNtirr UWAIW.
Abb.
16:
Ideenskizze der inneren Struktur COLUMBIAS von M.
HOPPENFIELD
getrennt durch „Symphony Woods", den 16 ha großen Park des Zentrums, in dem sich zugleich eine Freilichtbühne, ein kleines Theater sowie ein Tennis-Club befinden, hegen ein Medizinisches Zentrum, das Hospital, Gebäude für höhere Schulen und Universitätscolleges und weitere Verwaltungskomplexe etc. Obwohl alles leicht erreichbar ist und doch relativ nahe beieinander hegt, so wirkt doch down town nicht wie eine Versammlung von Betonbauten, sondern eher wie ein großer Garten, so wie es überhaupt für diese Stadt charakteristisch ist, daß sie von Grün durchzogen, gewissermaßen inmitten naturnaher Vegetation hegt. Drei Seen befinden sich in der Stadt, von Wegen, teilweise aber auch von Häusern umgeben; zahlreiche Bachläufe mit breiten Wiesenauen oder von Busch- und Baumgruppen gesäumt, durchziehen die Stadt. Fast 40% der Gesamtfläche sind „open space", Wiesen-Wald- und Wasserfläche; auf ca. 8 km2 addiert sich die Fläche der parks, playgrounds und natural open space areas, die zugleich durch ein dichtes Netz von Rad- und
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Columbia: Wohnen im Grünen Aufnahme d. Verf.
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Leitbilder Columbia: großzügiges Wohnen auf offenen Grundstücken
Aufnahme d. Verf.
Wanderwegen erschlossen werden. Der Columbia Association, einer „nonprofit-corporation", die aus kleinen Beiträgen der Bürger (75 cents pro 100 Dollar real estate tax im Jahr) finanziert wird, ist es gelungen, die Stadt mit einer Fülle von Freizeit- und Erholungseinrichtungen, vom Kinderzoo bis zu zahlreichen Tennisplätzen, einem Reitsportzentrum, unterschiedlichsten Sportanlagen und selbstverständlich Golfplätzen auszustatten. So entsteht eine Stadt, in der es selbstverständlich ist, zu reiten, zu segeln oder zu angeln,
Columbia: Wohnen in Reihenhäusern und Mehrfamilienhäusern am künstlich geschaffenen See Aufnahme d. Verf.
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Columbia: Städtische Schule nahe einer Farm
Aufnahme d. Verf.
Golf zu spielen oder durch Wald und Wiesen zu laufen und am Abend ein Symphoniekonzert (National Symphony of Washington D.C.) zu hören oder über die städtische Mall zu schlendern. Hier verbinden sich problemlos die angenehmen Komponenten des Urbanen und ländlichen Lebens. Nahe einiger Villages befinden sich noch landwirtschaftliche Besitzungen, so daß auch diesbezüglich der Kontakt zum ländüchen Leben bzw. zur Landwirtschaft nicht vollkommen verlorengegangen ist. Knapp die Hälfte des Stadtareals wird von Wohngebieten eingenommen, man wohnt überwiegend in freistehenden Einfamilienhäusern oder Reihenhäusern, aber etwa zu 30% auch in Appartement- bzw. Mehrfamilienhäusern; entsprechend ist auch die Sozial- und Altersstruktur differenziert und breit gestreut. Die Integration älterer Menschen scheint relativ gut zu gelingen, meist befinden sich gerade die Appartementhäuser mit hohem Anteil älterer alleinstehender Bürger nahe der sozialen, kommunikativen sowie versorgenden Einrichtungen der Village-Centers bzw. Nachbarschaftszentren. Damit diese Stadt keine Schlafstadt bzw. Trabantenstadt der nahegelegenen Großstadträume von Washington und Baltimore wird, hat man sich bemüht, zahlreiche Industrie- und Dienstleistungsbetriebe anzusiedeln, so daß bereits jetzt weit über 20 000 Arbeitsplätze vorhanden sind. Große Areale mit modernen emissionsarmen Industriebetrieben befinden sich etwas abgesetzt am Rande der Stadt, durch einen erschließenden Verkehrsring mit dieser auf kurzem Wege verbunden. Nun könnte man vermuten, daß in einer solchen aufgelockerten, flächenhaften Stadtstruktur besondere Verkehrsprobleme entstehen. Das ist aber gerade aufgrund der Siedlungsstruktur nicht der Fall. Sehr viele notwendige
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Leitbilder Columbia: Wohngebiete gruppieren sich zu Nachbarschaften mit dazugehörigem Nachbarschaftszentrum (links unten)
Aufnahme d. Verf.
Wege zur Versorgung, zum Schulbesuch etc. können innerhalb der Nachbarschaften zu Fuß bewältigt werden, ein entsprechendes unfallsicheres Fußwegenetz ist vorhanden, ergänzend sind die verschiedenen Nachbarschaften unabhängig von den Straßen durch ein dichtes Rad- und Fußwegenetz verbunden, so daß es leicht ist, ohne das Auto zu benutzen, zu den zahlreichen Einrichtungen des Village-Centers zu gelangen. Darüber hinaus verbinden Minibusse Nachbarschaften, „Dörfer", Hauptzentrum und Arbeitsstätten. Ein leistungsfähiges Straßennetz sorgt für stauungsfreien schnellen Individualverkehr zwischen den Stadtgebieten, mehrere nahe Anschlüsse an überregionale Schnellstraßen verbinden mit den benachbarten Großstadt-
Columbia: Nachbarschaft mit dazugehöriger Schule (im Hintergrund)
Aufnahme d. Verf.
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547 Columbia: Gliederade Grünzüge mit verbindenden Radwegen
räumen und der nahen Kreisstadt (Ellicott City), während ein abgestuftes System von Parkways, Village- und Nachbarschaftsstraßen unterschiedlicher aber rigoroser Geschwindigkeitsbegrenzung (ζ. B. durch Schwellen) einen störungsarmen Anschluß der einzelnen Siedlungen und Wohngebiete erlaubt. Vielleicht wird mit veränderter Energiesituation ein projektiertes System von automatisch verkehrenden Gondeln mit individueller Wahl des Zieles verwirklicht werden. Vielleicht bewältigen aber auch in Zukunft weniger Benzin verbrauchende PKWs den Verkehr so wie bisher vergleichsweise problemlos. Mit COLUMBIA wurde ein beachtenswerter Versuch unternommen, städtisches Leben ohne starke Verdichtung, sondern in aufgelockerter, naturnaher Bebauung mit ländlichen Möglichkeiten der Raumnutzung zu verbinden, entsprechend gingen Stadtplanung und Landschaftsgestaltung allmählich ineinander über, und es entstand eine Stadt im Garten und Ländliches inmitten der Stadt; ein Siedlungsbrei wurde vermieden, man siedelt aufgelockert und zugleich begrenzt gebündelt. Natürlich ist auch diese Stadt nicht frei von Fehlplanungen und Risiken. So liegen ζ. B. einige verdichtete Wohnbereiche zu nahe einer überregionalen Schnellstraße, die die Stadt quert, auch dürften verschiedene Appartementhäuser zu groß und anonymitätsfördernd sein. Vielleicht werden sich eines Tages einige Läden in den Nachbarschaftszentren, weil an eine vorgegebene Bevölkerungszahl gebunden, unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten als nicht mehr tragfähig erweisen; die vorgegebene Abstufung nach 3 hierarchisch gestuften Zentren wird sich möglicherweise nicht immer bewähren. Diese Abstufung stellt gewissermaßen ein Korsett der Versorgung dar, das
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Leitbilder
sich einmal als nicht flexibel genug erweisen könnte. Einrichtungen, die nicht in das Schema der 3 Versorgungsstufen passen bzw. eine davon abweichende Bezugsbevölkerung benötigen, müssen dann eigentlich an neuen Standorten, die für diese Bevölkerung jeweils günstig liegen, lokalisiert werden. Ohnehin ist natürlich eine solche klar differenzierte Siedlungsstruktur in der Gefahr, etwas zu schematisch und etwas steril zu wirken. Aber bei geschickter Anpassung an neu auftretende Standortwünsche, und mit der weiteren Entwicklung der Stadt wahrscheinlich von ganz allein, kann dieser Eindruck, daß alles fast zu perfekt geordnet sei, abgebaut werden. Irgendein Kiosk an irgendeiner vorher nicht geplanten aber günstigen Stelle, an der sich dieser oder jener auch außerhalb des Schemas treffen, bekäme der Stadt vielleicht ganz gut. Desweiteren ist nicht ganz auszuschließen, daß in bestimmte Freiräume, die privater Grundbesitz sind, in Zukunft doch auch noch die Wohnbebauung eindringt, wie sich das bereits 1978 an einem Beispiel abzeichnete, so daß das großzügig gliedernde Open-space-Konzept beeinträchtigt werden könnte und dann doch „urban sprawl" den Reiz der neuen Stadt verringert. Aber das muß nicht sein. Bisher nach allem Anschein gedeiht die Stadt sowohl wirtschaftlich wie auch bezüglich des kulturellen und sozialen Lebens; die praktizierten Modelle ζ. B . des Schulwesens, der Gesundheitsfürsorge, der sozialen Betreuung gelten landesweit als beispielgebend. Auch das kommunalpolitische Leben, das bisher situationsbedingt unter starker Einflußnahme der Rouse Company stand, - keineswegs zum Nachteil der Stadt - wird zunehmend differenzierter. Alles in allem ein bemerkenswertes Projekt! Es ist interessant zu beobachten, wie sich hier ein raumbezogener Lebensstil der Menschen herausbildet, der städtische Verhaltensweisen und Ansprüche mit Aktivitäten, die nur der freie Raum ermöglicht, verbindet. Auch scheint hier, wie V. PACKARD (1973, S. 336) formuliert, ein Versuch zu gelingen, „die Vorteile des Lebens in der kleinen Stadt mit dem zu vereinbaren, was die Großstadt an Positivem, Erregendem zu bieten hat." So wird allmählich auch in der Praxis deutlich, wie fragwürdig die Behauptung etwa der vielgelesenen J A N E JAKOBS ist, daß wirkliches urbanes Leben nur in der kompakt bebauten Stadt möglich sei. Zwar kann man bei weiteren Projekten versuchen, städtische und ländliche Möglichkeiten der Raumnutzung noch vielfältiger und anregender miteinander zu verbinden und ζ. B. bestimmte störungsfreie landwirtschaftliche Nutzungen und Betriebe bis in die Nähe der Wohngebiete zu ziehen oder auch bereits vorhandene ländliche Siedlungen in eine aufgelockerte städtische Struktur einzubeziehen und diese so auch baulich zu beleben. Vielleicht auch gelingt es, typische Einrichtungen großstädtischer Zentren, etwa hervorragende Museen, in den Bereich solcher aufgelockerter Städte zu
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ziehen und so die hochurbane Komponente zu stärken. Fänden ζ. B. die Bewohner von Miets- und Appartementhäusern solcher aufgelockerter Städte in der Nähe Flächen für eigene Gärten oder befände sich ein Naturschutzgebiet besonders reizvoller Flora und Fauna innerhalb der aufgelokkerten Stadt, so könnte auch das das Wohlbefinden im Lebensraum weiter steigern helfen. Doch solcherart Modifizierungen mindern nicht den Wert des alles in allem bemerkenswerten Experiments von COLUMBIA. Noch vor diesem Projekt gab es zahlreiche andere Versuche, die aufgelokkerte, durchgrünte und dennoch funktionsfähige Stadt zu verwirklichen, ζ. B. in England mit zahlreichen New Town's, in Finnland mit der Gartenstadt TAPIOLA, nahe Helsinki. In TAPIOLA, unmittelbar am Meer gelegen, z. B. wurden sogar fast 55% des Areals für Grünflächen vorgesehen, andererseits dominiert die mehrstöckige Wohnbebauung; nur ca. 15% der Wohnungen befinden sich bodennah in Einfamilien- und Reihenhäusern. Bei den englischen New Town's, so etwa dem seit 1964 wachsenden WASHINGTON nahe Newcastle setzte sich der Gedanke, die Stadt in Siedlungszellen zu gliedern, durch. So addiert sich WASHINGTON (Abb. 17) aus 18 „villages" zu je etwa 4500 Personen, die ihrerseits wieder in „places" zu 700-2000 Personen und in „groups" zu etwa 100 Einwohnern gegliedert werden und so gewissermaßen die verschiedenen Ebenen eines „Orts- oder Zugehörigkeitsgefühls" begründen sollen, unterstützt durch entsprechende gemeinsame Einrichtungen. Diese Einheiten sind auch räumlich voneinander abgesetzt, Grünbereiche gliedern das Stadtgebiet; ein See wird aufgestaut, weiträumige Parkflächen entstehen. Stolz vermeldet das Entwicklungsamt, daß über 2 Mill. Bäume und Sträucher gepflanzt wurden und mehr als 30 t Osterglocken und Krokuszwiebeln den Frühling leuchten lassen. Auch dominiert bodennahe Wohnbebauung, es ermangelt also nicht der Naturnähe, aber zudem sind gleichzeitig ausreichend industrielle und dienstleistende Arbeitsplätze vorhanden; WASHINGTON also ist keine grüne Schlafstadt, auch wenn sie gegliedert wird durch große grüne, offene Areale (Abb. 18). Auch entstehen an vielen, vor allem landschaftlich reizvollen, klimatisch wohltuenden Standorten, etwa des Südens der USA, neue Siedlungen, oft mit hohem Anteil aus dem Erwerbsleben ausgeschiedener Personen, in denen sich städtische Unterhaltungs- und Versorgungsmöglichkeiten mit den Vorzügen ländlicher bzw. räumlich großzügiger Wohn- und Freizeitmöglichkeiten kombinieren lassen. Es ist durchaus beeindruckend, wenn etwa die neue kleine Stadt SEDONA (ca. 6000 Einwohner) in faszinierender Landschaft in Arizona gelegen, in einer Saison z. B. zahlreiche Konzerte berühmter Orchester und Solisten anbietet, die auf diesem Niveau in vielen amerikanischen und europäischen
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Leitbilder
Unverplante Flächen Gewerbegebiete Dienstleistung, Verwaltung Wohngebiete Stadtzentrum, Village Zentren J Schulgelände Grünflächen Gewässer : Schnellstraßen Straßen 1
Eisenbahn Stadtgrenze
Quelle: Unterlagen der Washington Development Corporation
Abb. 17: Generalisiertes Schema von WASHINGTON NEW TOWN/England (beabsichtigtes Flächennutzungsmuster nach vollendetem Ausbau)
Großstädten kaum zu hören sind. Zwar wird dies begünstigt durch einen hohen Anteil wohlsituierter und kultivierter Pensionäre, aber das ist, wie andere Beispiele zeigen, keinesfalls eine notwendige Vorbedingung. Aus mehreren kleineren Städten der Umgebung fährt dann ein oft sachkundiges,
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¡Unverplante Flächen' I überbaute Wohn· ! Gewerbe- oder |*Dienstleistungs 1 fläche Π weitestgehend i l offener, durch-' jj grünter Raum Gewässer ===== Schnellstraßen Straßen t=—α» Eisenbahn Stadtgrenze
sii&Htxitmi / " «mm//
·.' WU.D*ÖWU y /
Quelle: Unterlagen der Washington Development (Korporation
Abb. 18: Hoher Anteil offenen durchgrünten Raumes in WASHINGTON NEW TOWN England
interessiertes Publikum zu den künstlerischen Ereignissen der Region. Auch ist es keineswegs beschwerlicher, nach dem Konzert mit dem eigenen Wagen geruhsam auf nicht verstopften Straßen in die benachbarte kleine Stadt zurückzufahren, als etwa vom New Yorker Lincoln-Center mit der U-Bahn in das städtische Wohngebiet zurückzukehren, nicht frei von der Angst, belästigt zu werden - nach spätestens 1 Stunde ist man ebenso zu Hause. Benzin allerdings benötigt man. Gleichwie, es ist leicht einsehbar, daß der raumbezogene Lebensstil, den ein ländlich-städtischer Raum eröffnet, eine reizvolle Alternative sein kann, nicht nur für ältere Menschen, wie dies die zunehmenden Ansiedlungen von Unternehmen belegen. Doch es muß betont werden, daß all diese Ansätze und auch der Versuch von COLUMBIA noch nicht voll abzudecken vermögen, was mit dem Modell des Stadt-Land-
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Leitbilder
Ansichten von S e d o n a , einer neuen Siedlung in A r i z o n a - L e b e n inmitten schönster L a n d schaft bei wohltuendem Klima
S e d o n a : Shopping Village im neospanischen Stil mit vielen schattigen I n n e n h ö f e n und Wasserspielen Aufnahmen d. Verf.
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Verbundes beabsichtigt ist. Auch für COLUMBIA bleiben Zweifel, ob innerhalb einer so relativ dicht besiedelten Großregion wie Washington-Baltimore jene ausgewogene Ergänzung des städtischen Raumes mit dem noch ländlichen bzw. landwirtschaftlich geprägten Raum und mit bewaldeten Gebieten gelingen kann und sich entsprechende lebensräumliche Nutzungskombinationen entwickeln, ohne belastenden Fahrzeitaufwand zu erzwingen; es bleiben Zweifel, ob hier eine ganze Region zum Stadt-Land-Verbund werden kann und nicht nur eine Stadt ländliche Elemente gewinnt. Gewiß, es ist sinnvoll, Städte zu durchgrünen; aber Stadt-Land-Verbund ist mehr, nämlich die Eröffnung einer weit größeren lebensräumlichen Vielfalt. Die Sträucher einer öffentlichen Grünanlage ersetzen eben nicht die eigene große Freizeitparzelle; das Ausruhen auf der Parkbank ersetzt nicht den Lauf im nahen Wald, und für viele ist die Gewohnheit, ländlich oder mit großem Garten zu wohnen, wichtiger als allernächste Nähe zum Einkaufszentrum oder zur Stadtverwaltung. Sicherlich ist es sinnvoll, städtische Siedlungszellen, wie an den Beispielen aufgezeigt, durchgrünt zu gestalten; dies entspricht auch der Intention des Stadt-Land-Verbundes. Doch es geht um mehr, um die Einbeziehung solcher städtischer Gebilde in die gesamte Region. Auch eröffnet die durchschnittliche Besiedlungsdichte dieser neuen Städte noch keineswegs die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten eines feingliedrigen Stadt-Land-Verbundes; 5000 Ew./km 2 in TAPIOLA, 4000 Ew./km 2 in WASHINGTON engen den individuellen Bewegungs-, Betätigungs- und Gestaltungsraum noch immer beträchtlich ein, zunehmend mit dem steigenden Anteil vielstöckiger Bebauung. COLUMBIA mit ca. 1800 Ew./km 2 weist jedoch allmählich in die empfohlene Richtung. Höchst problematisch dagegen sind jene städtebaulichen Beiträge, die in systemkritischer Attitüde bedauern, daß die Urbanität der Städte zerstört würde, daß die Straßen als Träger des Urbanen Lebens durch die „Gartenstadtideologie" ausgerottet worden seien (A. MITSCHERLICH, 1971, S. 11) und die nun einer neuen baulichen Verdichtung das Wort reden, die Menschen in vielstöckigen Bauten um den „Treffpunkt Fußgängerachse" gruppiert wissen wollen. Denn die Begegnung der Menschen vor allem gelte es ja zu ermöglichen. Als Folge einer solcherart reduzierten Betrachtungsweise drängen sich dann etwa in EMMERTSGRUND bei Heidelberg in einer Dichte von 18 000 Ew./km 2 die Menschen und leben zu 95 % in vielstöckiger Bebauung in zu kleinen Wohnungen, nunmehr überfordert durch zuviel Begegnung, aber dringend bedürftig der lebensräumlichen Ergänzung. Oder es türmen sich die Wohnungen im städtebaulichen Renommierprojekt auf Roosevelt-Island vor Manhattan und statt der beabsichtigten neuen Urbanität und zwischenmenschlichen Kommunikation drängt die wechselseitige Beeinträchtigung
Leitbilder Emmertsgrund bei Heidelberg
in Bremen
auf Roosevelt-Island in New York
A u f n a h m e n d. V e r f .
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die Menschen zur Abriegelung, zum Rückzug in's Private. Stadt-Land-Verbund will so ziemlich das Gegenteil, wohltuende lebensräumliche Verhältnisse, die sich der einzelne gemäß seiner Präferenzen, Bewertungen und Möglichkeiten selbst mischt, nicht die vom momentanen urbanistisch-kritischen Zeitgeist produzierte „urbane" Kasematte.
2.4.3.2 Varesotto Unabhängig von den Versuchen einer gezielt gestaltenden Planung haben sich in einigen Räumen Siedlungsstrukturen gewissermaßen von selbst herausgebildet, die wesentliche Charakteristika des Stadt-Land-Verbundes aufweisen. Diesbezüglich besonders interessant ist die italienische Provinz Varese, die sich vom Lago Maggiore bis in die lombardische Ebene hinein erstreckt. Ohne dominierendes großstädtisches Zentrum hat sich hier in einem noch immer ländlich-kleinstädtisch anmutenden Raum eines der höchst industrialisierten Gebiete Italiens wie auch Europas herausgebildet. Vor allem nach 1945 entwickelten sich aus vorherigen Ansätzen zahlreiche kleinere und mittlere Industriebetriebe. Mit durchschnittlich 190 Arbeitsplätzen in der Industrie pro km2 (1973; italienischer Durchschnitt 22) wird eine Industriedichte erreicht, die außerhalb der unmittelbaren Großstadträume kein anderes Gebiet Italiens aufweist. Zwar verzeichnet die Provinz Mailand eine Industriedichte von 341 Arbeitsplätzen/km2 und in der Bundesrepublik Deutschland erreicht etwa der hochindustrialisierte Regierungsbezirk Düsseldorf, der große Teile des Ruhrgebietes einschließt, 210 Industriearbeitsplätze/km2 oder die Stadt Hamburg 320/km2, aber viele andere hochindustrialisierte Gebiete in Europa besitzen trotz eines stärker von der Industrie geprägten Erscheinungsbildes eine deutlich geringere Industriedichte als das noch immer wie ein Garten anzusehende Varesotto, das „Kleinod der Voralpen". Man bedenke, daß etwa das stark verstädterte und industrialisierte Gebiet von Süd-Holland (Großraum Rotterdam-Den Haag) eine durchschnittliche Industriedichte von ca. 100 Beschäftigten/km2 hat oder, daß der Regierungsbezirk Köln lediglich 90, in Italien die Großstadtprovinz Neapel 150 Industriebeschäftigte/km2 verzeichnen509. Wie aber kann ein Gebiet, das zugleich, sieht man von einigen Großstadtprovinzen ab, die am dichtesten besiedelte Provinz Italiens ist (605 Ew./km2; italienischer Durchschnitt 182 Ew./km2), dennoch ein so anmutiges, nahezu ländliches Erscheinungsbild behalten? Es ist das besondere Mosaik der Flächennutzung, das nicht große, dicht bebaute Stadtareale mit monotonen Wohn- und Industriegebieten einem zersiedelten Umland und einem abgele-
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Leitbilder
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