Grenzen des Ich: Die Verfassung des Subjekts in Goethes Romanen und Erzählungen 9783110201710, 9783110188615

This study treats a central complex of issues which have hitherto received little attention from Goethe scholars, namely

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German Pages 305 [306] Year 2006

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Inhalt
Einleitung
I. „Unzählige Combination und Modification“ Goethes Erzählsystem und die Aporien der Textidentität
II. „Meine dargestellten Frauencharactere“ Der homo fictus als Träger von Subjektprädikaten
III. „Durch eigene Zuthat anzueignen“ Goethes subjektphilosophischer Horizont
IV. „Wenn wir uns selbst fehlen“ Aporien des Subjekts
V. „Dem Märchen ähnlich“ Mythopoetik und Desubjektivierung
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Grenzen des Ich: Die Verfassung des Subjekts in Goethes Romanen und Erzählungen
 9783110201710, 9783110188615

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Stefan Keppler Grenzen des Ich

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

38 (272)

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

Grenzen des Ich Die Verfassung des Subjekts in Goethes Romanen und Erzählungen

von

Stefan Keppler

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN-13: 978-3-11-018861-5 ISBN-10: 3-11-018861-9 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2004/2005 von der Philosophischen Fakultät II der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg als Dissertation angenommen. Für den Druck habe ich sie geringfügig überarbeitet und gekürzt. Unter den hier nicht mehr berücksichtigten Neuerscheinungen zum Thema sei nur die Habilitationsschrift von Dirk Kemper: „ineffabile“. Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne. München 2004, genannt: Ihre wertvollen Ergebnisse auszuwerten, bedarf es einer breiten künftigen Forschungsdiskussion. Mir bleibt Dank zu sagen für die anspruchsvolle Betreuung der vorliegenden Arbeit durch meinen langjährigen akademischen Lehrer Prof. Dr. Helmut Pfotenhauer sowie für die wichtigen Impulse durch Prof. Dr. Peter-André Alt, dem ich auch für das produktive Arbeitsklima an seinem Lehrstuhl verpflichtet bin. Wiederholte wertvolle Belehrung verdanke ich im übrigen Prof. Dr. Horst Brunner und Prof. Dr. Wolfgang Riedel. Dankenswerte Mithilfe in Form von Lektüren, Korrekturen und weiterführenden Gesprächen haben Dr. Christiane Leiteritz, Dr. Holger Bösmann, Dr. Thomas Franke, Daniela Kolla und Volker Möllenberg geleistet. Das Goethe-Nationalmuseum der Klassik Stiftung Weimar hat mich mit gewohntem Engagement bei der Benutzung von Goethes Bibliothek unterstützt. Aus der Förderung durch die Studienstiftung des deutschen Volkes ist das interdisziplinäre Forum „Ich-Konzepte und (Auto-)Biographie“ hervorzuheben. Berlin, im Januar 2006

Stefan Keppler

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Untersuchungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arbeitsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Subjektivität, Individualität, Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Charakterologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erzählordnungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 9 16 16 23 30

I. „Unzählige Combination und Modification“ Goethes Erzählsystem und die Aporien der Textidentität . . . 34 1. Analogien und genetische Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Analogiegeneratoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Poetologie der Grenzüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Spiegelungen und Verwandtschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34 48 48 55

II. „Meine dargestellten Frauencharactere“ Der homo fictus als Träger von Subjektprädikaten . . . . . . . . . . 65 1. Figurenpoetik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der figurenpoetologische Debattenrahmen. . . . . . . . . . . . . . . b) Elementare Strukturverhältnisse des homo fictus . . . . . . . . . 2. „Geliebte Töchter“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur literarischen Insinuierungsgeschichte zweierlei Geschlechter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Gedanke an Kunst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65 65 77 81 81 87

III. „Durch eigene Zuthat anzueignen“ Goethes subjektphilosophischer Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. Goethes Lektüren und Anmerkungen zur Konzeptgeschichte des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Zwischen Positionen und Irritationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 b) Renaissance-Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 c) Rationalistische Ich-Begründungen (Descartes, Spinoza, Leibniz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 d) Aufstieg und Fall des empiristischen Ich (Locke, Hume) . . . . 112

VIII

Inhalt

e) Transzendentale und idealistische Subjekttheorie (Kant, Fichte, Hegel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 f) Goethe-Reflexe in der Subjektkritik Schopenhauers . . . . . . . . 126 2. Geschlechtsspezifik der Subjekttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 a) Der „Unterschied der Geschlechter“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 b) Popularphilosophische Standpunkte (Brandes, Meiners) . . . . 131 c) An den Rändern der großen Systeme (Kant, Hegel) . . . . . . . . 138

IV. „Wenn wir uns selbst fehlen“ Aporien des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 1. Referenzpunkte in Goethes literarischem Umfeld . . . . . . . . . . . 142 a) Impulse durch Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Repulsion und Attraktion: Goethe und Lichtenberg. . . . . . . . 144 c) Wiederholte Spiegelungen: Goethe und Jean Paul. . . . . . . . . . 147 2. Quellen des Selbstverlusts I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 a) Ständisch-familiale und liebesdiskursive Exklusionen . . . . . . 153 b) Metaphysische Ursprungslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 c) Fehlbeträge des Seelenhaushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 d) Insuffizienz der Körpererfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3. Quellen des Selbstverlusts II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 a) Künstliche Werkzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 b) Die „patriarchalische Idee“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 c) Vernunft- und Gedächtnisdefizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 d) Schwierige Körper. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 e) Homo duplex. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

V. „Dem Märchen ähnlich“ Mythopoetik und Desubjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 1. „Wundergeschöpfe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 a) Goethe und die Mythologiediskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 b) Goethes Mittelalter und der Melusinenmythos . . . . . . . . . . . 205 2. Jenseits von Subjekt und Objekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 a) „überirrdischer Sinn“ und Hinüberfließen in die Natur . . . . . 219 b) Vampirismus und Öffnungserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 c) Schwangerschaft und Dividualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 d) „Principium identitatis“: Tod und Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

IX

„Je veux montrer à mes semblables un homme dans toute la vérité de la nature; et cet homme, ce sera moi.“1 „Jeder prüfe sich und er wird finden, daß dies viel schwerer sei als man denken möchte“ (10,755).2 „Nowhere to be found. Nowhere to be sought. The unthinkable last of all. Unnamable. Last person. I.“3

1 Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions. In: Ders.: Les Confessions. Autres textes autobiographiques. Hg. v. Bernard Gegnebin u. Marcel Raymond. Paris 1959 (= Bibliothèque de la Pléiade 11), S. 5-656, hier S. 5. 2 Johann Wolfgang Goethe: Wanderjahre. Zitate aus Goethes Werken folgen soweit nicht anders angegeben der Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Dieter Borchmeyer u. a. Frankfurt/M. 1985ff. (künftig FA). Die Band- und Seitenzahlen des Erzählwerks werden im Haupttext angegeben (Bd. 8, S. 10-267: Werther, S. 269-555: Wahlverwandtschaften, S. 557-633: Kleine Prosa; Bd. 9, S. 9-354: Sendung, S. 355-992: Lehrjahre, S. 993-1114: Unterhaltungen; Bd. 10: Wanderjahre). 3 Samuel Beckett: Company. London 1980, S. 32.

Einleitung 1. Untersuchungsperspektiven Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchungen ist die komplexe Konstellation dreier Goethe-Forschungsdesiderate, die sich an die Stichworte von (a) Subjektidentität, (b) Figurenpoetik und (c) Textidentität knüpfen. a) Als Hauptskopus ist eine Standortbestimmung Goethes im intrikaten Fragefeld des Subjekts und der Referenz des Ersten Personalpronomens angestrebt. Zur Diskussion stehen Aisthesis und Noesis, Wahrnehmbarkeit und Denkbarkeit des Phänomens und Begriffes ‚Ich‘ in den dafür privilegierten Narrationsmedien: den Romanen und „kleinen Erzählungen“1. Im Erzähluniversum zwischen Werther und Wanderjahren werden – so die Generalthese – die Konsequenzen ausgelotet, welche die moderne „Neubestimmung des Menschen als selbstreferentiell organisierte Negativität“2, die „Umdeutung des transparenten Subjekts in ein Selbstverhältnis ohne auslotbaren Grund“3 für die Individualitätssemantik und das identitätslogische Denken mit sich bringen, also jener ontologischen Basisannahmen eines unteilbaren Personenkerns und Zusammenhangs aller unserer Vorstellungen und Körperbestandteile, die den im 18. Jahrhundert entwickelten Theorien der Selbst- und Fremdbeobachtung regelmäßig zugrunde liegen. Entgegen der gewohnten Lesarten sind hierbei Goethes veritable Zweifel am Ich und dessen „tüchtigen Individuen“4, d. h. 1 An Schiller, 27. November 1794 (Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Hg. v. Manfred Beetz. München 1990 [= Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder u. Edith Zehm, Bd. 8] [künftig MA], S. 39). Dazu Helmut Pfotenhauer: Bild versus Geschichte. Zur Funktion des novellistischen Augenblicks in Goethes Romanen. In: Ders.: Sprachbilder. Untersuchungen zur Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert. Würzburg 2000, S. 45-66, bes. S. 45f. 2 Niklas Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt/M. 1993 (zuerst 1980), S. 162-234, bes. S. 176f. Vgl. ders.: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen. In: Der Mensch – das Medium der Gesellschaft? Hg. v. Peter Fuchs u. Andreas Göbel. Frankfurt/M. 1994, S. 40-56. Dazu transparent Hans-Georg Pott: Das ‚Subjekt‘ bei Niklas Luhmann. In: Von Rousseau zum Hypertext. Subjektivität in Theorie und Literatur der Moderne. Hg. v. Paul Geyer u. Claudia Jünke. Würzburg 2001, S. 65-75; ferner Norbert Meuter: Narrative Identität. Das Problem der personalen Identität im Anschluß an Ernst Tugendhat, Niklas Luhmann und Paul Ricœur. Stuttgart 1995, bes. S. 43ff., wo im übrigen auch gezeigt wird, daß systemtheoretische und hermeneutische Ansätze vielfach zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind. 3 Manfred Frank: „Ein Grundelement der historischen Analyse: die Diskontinuität“. Die Epochewende von 1775 in Foucaults „Archäologie“. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hg. v. Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck. München 1987 (= Poetik und Hermeneutik 12), S. 97-130, hier S. 122. 4 An Carl Friedrich von Reinhard, 7. Oktober 1810 (WA IV 21,395).

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Einleitung

sein Verdacht einer fundamentalen Diskrepanz zwischen dem Ich und den ihm zugeschriebenen Prädikaten herauszustellen – der erkenntnislogisch grundlegendste Fall einer prinzipiellen Nicht-Übereinstimmung unserer Vorstellungen mit den Gegenständen derselben. Die Schwierigkeiten der Beobachtung seiner selbst und anderer (1795), die der Jenaer Privatdozent Carl Friedrich Forberg im Erscheinungsjahr der Lehrjahre entwickelte,5 liegen demnach weder in den erkenntnistheoretischen Limitierungen, die Kant namhaft gemacht hatte, noch in der psychologischen Disposition einer moralisch-schamhaften Selbstverstelltheit begründet, die Forberg anführt, sondern in einer Deckungslücke des annoncierten Selbst. Die nur „verworrene Erkenntnis einer Einzelperson“6 stellt dann die einzig adäquate Erkenntnis dar. Wir haben es dabei mit dem Reversbild jener ostentativen Selbst-Sicherheit und jenes Gestus bannender Abwehr aller personalen Desintegration zu tun, der Goethes epistolarisch-diaristisches und autobiographisches Schreiben, einige wenige schwache Augenblicke abgerechnet, heroisch dominiert. Nach dieser Flanke rückt Goethe somit näher, als gewöhnlich angenommen, an die Form der Skepsis heran, die in einsamer Konsequenz David Hume vertrat. Die empiristische Aufwertung der menschlichen Sinnlichkeit, ein Grundzug der Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus und ein besonderes Anliegen Goethes, trieb darin die Ohnmacht des Intellekts hervor, damit aber einer Selbstverbürgungsinstanz, für welche die schwer zu ordnende Welt der Sinnesempfindungen nicht leicht Ersatz schuf, und zwar umso weniger, als das Bewußtsein nachhaltiger Beweismängel nicht allein die Annahme endlicher Geister, sondern auch die geschlossener Körper erfaßte.7 Eine Skepsis, die entgegen der Warnung ihres goethezeitlichen Geschichtsschreibers, des Göttinger Professors Carl Friedrich Stäudlin, selbst noch die subjektive Gewißheit aufgibt, weil sie nämlich das Subjekt aufgibt, vermag in die Vorhalle eines Pessimismus zu führen, der den Einzelnen jeder außer5 Vgl. Carl Friedrich Forberg: Schwierigkeiten der Beobachtung seiner selbst und anderer. In: Journal für Menschenkenntniß, Menschenerziehung und Staatenwohl 1 (1795), S. 1-38. Dazu die instruktive Studie von Matthias John u. Temilo von Zantwijk: Zur Methodologie der Erfahrungsseelenlehre. In: Georg Eckhardt, Matthias John, Temilo van Zantwijk u. Paul Ziche: Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Ansätze einer Entwicklung zur Wissenschaft. Köln u. a. 2001, S. 189-224. 6 John u. Zantwijk: Zur Methodologie der Erfahrungsseelenlehre, S. 204. 7 Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. 2. Aufl. Hamburg 2002 (zuerst 1981), S. 124-147, Richard H. Popkin: Scepticism in the Enlightenment. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 26 (1963), S. 1321-1335, sowie ders.: Scepticism and Optimism in the Late 18th Century. In: Aufklärung und Skepsis. Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Günter Gawlick zum 65. Geburtstag. In Verbindung mit Hans-Ulrich Hoche u. Werner Strube hg. v. Lothar Kreimendahl. Stuttgart 1995, S. 173-184, hier bes. S. 175. Für die Rezeptionsseite vgl. Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart u. a. 1987, S. 107-112.

Untersuchungsperspektiven

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ästhetischen Bestimmung beraubt sieht.8 Die Idee des Subjekts vermag an diesem entzauberten Ort nicht länger die Kohärenz- und Sinnstiftung zu leisten, mit deren Versprechen sie angetreten ist. Durch Goethes Prosaerzählen (weniger durch die problemgeschichtlich ganz anders gelagerten Versuche einer Erneuerung der Versepik) zieht sich ein wiederkehrendes, weil offenbar unerledigtes Problemmuster,9 das sich auf diesem Diskursareal abbilden läßt. Die regelrechte Ich-Implosion seines ersten erzählten Protagonisten, der eben nicht nur die Modellierung, sondern auch die Zersetzung des Subjekts vor Augen führt,10 bildet den Ursprung einer Versuchsreihe, in der Goethe die Leiden am Vakuum der substanzlosen Subjektivität geschlechtsverschoben und ins Extrem getrieben anhand von Werthers Erbinnen – Mignon, Ottilie und Makarie – ergründet. Werther und der Figurentypus der von Goethe so genannten „geliebten Töchter“11 zeigen sich in ungewöhnlicher Verdichtung von egoverunsichernden Phänomenen betroffen. Sie stehen gleichsam unter dem Einfluß eines subjekttheoretischen Unterdrucks, der sie nacheinander in das Narrativ einer „Krankheit zum Tode“ (8,99) zieht. In der Konstante des Subjektproblems versammeln sich die vielfältigen, oftmals beschriebenen Auffälligkeiten dieser Gestalten: ihre Intimität mit der Natur, ihre Artikulationskrisen, ihr gefährlich ausgedehntes Unbewußtes, ihre Sympathie mit dem Tod etc. Kunst und Natur sollen nach den gleichen Gesetzen verfahren, und das Gesetz der Natur erblickt Goethe im Modell des (Geno-) Typus oder Urbildes, das sich qua Metamorphose, dem Beschreibungsansatz für die Vorstellung einer Gestaltdynamik, in immer nur transitorischen Phänotypen realisiert.12 Der Auf- und Ab8 Vgl. Carl Friedrich Stäudlin: Geschichte und Geist des Skepticismus. Leipzig 1794, bes. S. 96f. Zur Verlängerung des Skeptizismus in den Pessimismus Popkin: Scepticism and Optimism, S. 182. 9 Das Phänomen wiederkehrender Problemmuster in Goethes Erzählen hat bereits Eberhard Lämmert (Goethes empirischer Beitrag zur Romantheorie. In: Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Stuttgart 1985, S. 9-36, hier S. 32) konstatiert. Ein Schlüsselprinzip dieser Wiederkehr erhellt Hendrik Birus: ‚Im Gegenwärtigen Vergangnes‘. Die Wiederbegegnung des alten mit dem jungen Goethe. In: Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft. Hg. v. Waltraud Wiethölter. Tübingen u. a. 2001, S. 9-23. 10 Vgl. Hans Robert Jauß: Rousseaus ‚Nouvelle Héloïse‘ und Goethes ‚Werther‘ im Horizontwandel zwischen französischer Aufklärung und deutschem Idealismus. In: Ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt/M. 1982, S. 585-653, bes. S. 627ff. (die Desillusionierung von Werthers Selbstgefühl als Goethes Antwort auf Rousseau), sowie Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. 2 Bde. Darmstadt 1985, Bd. 1, S. 322-336. 11 Dichtung und Wahrheit (FA I 14,542). Einen verwandten Figurentypus hat Lämmert (Goethes empirischer Beitrag zur Romantheorie, S. 23) beschrieben: die Personen, die Goethe in seinen Romanen zu Tode bringt (Werther, Mariane und Aurelie, Mignon und der Harfner, Ottilie und Eduard) und die darüber hinaus noch mehr „Gemeinsamkeiten [haben], die nicht zu übersehen sind“. 12 Am gründlichsten dazu Dorothea Kuhn: Typus und Metamorphose. Goethe-Studien. Hg. v. Renate Grumach. Marbach 1988, bes. S. 188-202 („Goethes Morphologie“); Olaf Breidbach: Das Organische in Hegels Denken. Studie zur Naturphilosophie und Biologie um 1800. Würzburg 1982, S. 65-70 („Der Typusbegriff Goethes“); sowie ders.: Transformation statt Reihung – Naturdetail und

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Einleitung

tritt solcher von derselben „wesentlichen Form“13 abgeleiteten Phänotypen bildet die Kette zwischen Werther (dem Prototyp) sowie Mignon, Ottilie und Makarie, deren Serialität nicht akzidentiell, sondern substantiell ist. Ihre „Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der andern“, so daß ihr „Chor auf ein geheimes Gesetz [deutet]“, dem wir uns annähern, indem wir „die Erscheinungen vorwärts und rückwärts gegen einander […] halten“.14 Es gilt für sie Goethes Beobachtung an der Natur, daß sie „ewig neue Gestalten [schafft]; […] Alles ist neu, und doch immer das Alte. […] Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben, und macht sich nichts aus den Individuen“.15 Sie werden, wie es in den Wahlverwandtschaften über Ottilie heißt, „von der Natur erst […] hervorgerufen, durch ihre gleichgültige Hand schnell wieder ausgetilgt“ (8,526). Von allen Kunstregistern Goethes scheint seine Erzählkunst am wenigsten geneigt, die moralischen Kräfte zu mobilisieren, die solch luxurierender Proteik entgegenwirken. Vielmehr läßt sie sich am nachhaltigsten von der Erfahrung und Lehre dieser Natur beeindrucken, in der die verschiedenen „Organismen […] als Variationen eines Grundreaktionsgefüges [erscheinen]“16. Diese Voraussetzungen protegieren die Folgethese, daß Goethes Erzählen in bestimmten hervorgehobenen Figuren und Konfigurationen des literarischen Imaginationsraums Züge des modernen Subjekts konturiert. Dessen Frühform sei hier als ‚aufbrechendes Selbst‘ bezeichnet, um die Ambivalenz des Modernisierungsprozesses, seine schmerzhafte Verlustgeschichte wie auch seinen Verheißungshorizont anzudeuten, der den Verzicht auf eine integrierte Persönlichkeit durchaus auch als Entlastung von den Zumutungen personaler Konsistenz in Aussicht stellt.17 Initial in Werther und radikal in seinen ‚geliebten Töchtern‘ hat Goethe mit der denkökonomischen Einheit der Identität ein zentrales Dispositiv der gegebenen Wissensordnung (des „Gewebe des Wissens“18, wie er selbst sagt) außer Kurs gesetzt. Die

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Naturganzes in Goethes Metamorphosenlehre. In: Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Hg. v. Olaf Breidbach u. Paul Ziche. Weimar 2001, S. 46-64., bes. S. 52. Ferner auch Josef König: Das Urphänomen bei Goethe. In: Ders.: Der Begriff der Intuition. Halle 1926, S. 120-213. An Charlotte von Stein, 5. Juli 1786 (WA IV 7,242). Dazu Andreas Bruno Wachsmuth: Geeinte Zwienatur. Aufsätze zu Goethes naturwissenschaftlichem Denken. Berlin u. a. 1966, S. 75f. Die Metamorphose der Pflanzen (FA I 1,639 u. II 24,150f.). (FA I 25,11). Breidbach: Transformation, S. 61. So jetzt auch die mit wichtigen Fortschritten aufwartende Untersuchung von Fritz Breithaupt: Goethe and the Ego. In: Goethe Yearbook 11 (2002), S. 77-109, hier S. 78: „The new Goethean self can harbor more than one voice, can be split in itself, and is a stage of contrary tendencies.“ Subjektentgrenzung nicht nur negativ als „Zerfalls- und Ausfallserscheinung“ zu interpretieren, sondern „eher als literarischer Ausdruck des Bewußtseins dezentrierter Subjektivität“ ist auch das Anliegen der wichtigen Habilitationsschrift von Gabriele Schwab: Entgrenzungen und Entgrenzungsmythen. Zur Subjektivität im modernen Roman. Stuttgart 1987, Zitat S. 13. Farbenlehre (FA I 23/1,613).

Untersuchungsperspektiven

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Frage an den angeklagten Menschen des 18. Jahrhunderts lautet nicht allein, „mit welchem Recht bist du so, wie du bist, und nicht vielmehr anders“19, sondern tiefgreifender, mit welchem Recht man überhaupt bestimmen zu können glaubt, wie man sei und wie man nicht sei. Goethe schöpft bei diesen ästhetischen Subjektverhandlungen aus seiner kontinuierlichen, in ihrer Tragweite bei weitem unterschätzten Rezeption subjektphilosophischer Paradigmenwechsel, die nicht zuletzt als Bestimmungsfaktoren für die Wandlungsvorgänge in seinem Erzählwerk von besonderem Interesse sind. Kants transzendentales Subjekt, Fichtes kosmogonisches Ich und Hegels Subjektivitätskritik markieren nur die auffälligsten Orientierungspunkte eines intrikaten, nachfolgend (im III. Kapitel) aufzuhellenden Verhältnisses zwischen Goethes literarischer Produktion und seinem subjekttheoretischen Wissensumfeld. Dabei drängt sich der Eindruck auf, daß Goethes Behandlung von erzählter Individualität in manchem auf die Subjektkritik der nächsten Jahrhundertwende vorausdeutet, deren Ton Friedrich Nietzsche vorgibt. Die fortwährenden Wandlungen des Lebens erlauben demzufolge nicht, „von ‚Individuum‘ usw. zu reden“. Die „falsche Versubstanzialisierung des Ich“, eine perspektivische Illusion, sei in eine jüdisch-christliche „Geschichte der Vermoralisierung“ verstrickt.20 Goethes Protestantismusund mehr noch seine Pietismuskritik nahmen bereits eine ähnliche Richtung: Die Ansprüche an jenes Selbstsein, das individuelle Zurechenbarkeit, Verantwortung und Schuldfähigkeit fundiert, wiegen als ein moralisches Joch. Hinter dem Selbsterkenntnisauftrag verbirgt sich eine lebensfeindliche Strategie, die für den Gläubigen, der sich nicht vertreten lassen kann, umso gefährlicher sein muß: „Ein Teufelsding wenn man alles in sich selbst sezen muß“.21 – Mit solchen Seitenblicken auf die longue durée unseres Themas 19 Odo Marquard: Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. In: Ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, S. 39-66, hier S. 50. 20 Friedrich Nietzsche: . In: Ders.: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. Darmstadt 1997, Bd. 3, S. 415-925, hier S. 457 u. 612. Dialektischer darin noch die Geburt der Tragödie: Die apollinische Kraft ist „auf Wiederherstellung des“ durch die dionysische Kraft „fast zersprengten Individuums gerichtet“ (ders.: Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus. In: Ebd., Bd. 1, S. 7-134, hier S. 117). Vgl. die auf die Subjektkritik des späten Nietzsche konzentrierte Untersuchung von Uwe Japp: Nietzsches Kritik der Modernität. In: Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne. Hg. v. Ulrich Fülleborn u. Manfred Engel. München 1988, S. 233243, bes. S. 237f.; sowie das mit Nietzsche beschäftigte Kapitel bei Dietmar Kamper: Zur Geschichte der Einbildungskraft. München 1981, S. 53-66 („Der Einzelne nach dem Ende des Individuums“). Zur Krise der Ich-Thematisierung um 1900 von philosophiegeschichtlicher Seite grundsätzlich auch K. Ludwig Pfeiffer: Ich-Diskurse, Ich-Schicksale: Zur Geschichte einer kategorialen Verwischung. In: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Hg. v. Manfred Pfister. Passau 1989, S. 13-21. 21 An Johann Christian Kestner, 25. Februar 1773 (WA IV 2,65). Vgl. die materialreiche, in ihren Wertungen freilich problematische Arbeit von Peter Meinhold: Goethe zur Geschichte des Christentums. Freiburg/Br. u. a. 1958, bes. S. 23f. u. 223f.; sowie Enno Rudolph: Individualität.

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Einleitung

soll nicht die müßige Behauptung erhoben werden, Goethes literarische Praxis antizipiere moderne philosophische Theorie. Hingegen ist der Nachweis zu führen, daß Goethes Erzählen sub specie individuationis in eine historische Entwicklungslinie verflochten ist, die von Michel de Montaigne über David Hume zu Arthur Schopenhauer und Nietzsche führt. Goethes Erzählprojekte leisten sich ästhetische Immanenz auch darin, daß sie nicht etwa eine revidierte Vorstellung psychischer Gesundheit, beispielsweise in der Darreichungsform von Bildung oder Entsagung in Aussicht stellen. Die als eine narrative Option betriebene Desintegration des Subjekts erscheint weniger unter moralischen als unter ästhetischen Aspekten. Ihr inhärieren nicht die Prädikate ‚wahr‘ und ‚falsch‘, sondern ‚schön‘ und ‚häßlich‘.22 Es ist deshalb nicht etwa so, als ob Goethe das Basiskonzept des Subjekts nur aus dessen zwischenzeitlichen Versteinerungen herausschlagen würde, um es mit einem veränderten Situationskontext erneut zu vermitteln. Die Parameter der Autonomieästhetik schließen letzthin mit ein, daß das Erzählen, in Übereinstimmung mit der von ihm vorangetriebenen Entkonturierung des Ich, mit jeglichem Rest äußerlicher Zweckmäßigkeit auch noch die leserpsychologische Funktion des Identitätsangebots zu verabschieden sucht. b) Die damit skizzierte subjekttheoretische Aufgabenstellung setzt die Sondierung eines figurenpoetologischen Fragefeldes voraus. Adressiert ist das literaturhistoriographisch merkwürdig unterbelichtete Problem, wie ein Individualitätskonstrukt in der medialen Welt der Literatur zu denken sei und was die Tatsache seiner spezifischen semiotischen Verfaßtheit für seine Leistungsfähigkeit als Träger von Subjektvorstellungen bedeutet. Es geht mithin (im II. Kapitel) um den darstellungsästhetischen Implikationszusammenhang von Figurenzeichnung und Individualitätsproblem. Literarische Figuren treten aus dem Gewebe der ästhetischen Zeichen gewöhnlich als relativ feste und beständige Zeichenkomplexe hervor, indem sie durch ausreichende Grade der Zeichendichte, Zeichenordnung und Verabfolgung den Anschein eines Kontinuums, einer kompakten und diskreten Einheit erwecken. An Schlüsselfiguren wie Mignon, Ottilie und Makarie erprobt Goethe indes anderes und wandelt damit das Fraglose in das Fragliche. Im Prozeß ihrer narrativen Entwicklung und charakterologischen Kausalreihenbildung wie auch in einzelnen Zuständen weist ihre Struktur eklatante, der psychologischen Plausibilität entzogene Sprünge und Brüche auf. Der Zusammenhang der sie konstituierenden Zeichen, der direkten und indirekten CharakterisieIn: Goethe-Handbuch. Bd. 4/1. Hg. v. Hans Dietrich Dahnke u. Regine Otto. Stuttgart u. a. 1998, S. 524–531, hier S. 528. Dazu ferner Hans Erhard Gerber: Nietzsche und Goethe. Studien zu einem Vergleich. Nendeln 1970 (zuerst 1954), S. 88-91 („Die Berufung auf Goethes Nichtchristlichkeit“). 22 Vgl. Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne. 2 Bde. Opladen 1993, Bd. 1, S. 11-15 („Ästhetische Grundfragen“).

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rungsmomente, kann sich bei näherer Betrachtung – nach diachronen wie nach synchronen „Kohärenzmustern“23 – als beeinträchtigt oder gar gestört erweisen. Es gehört freilich zum guten Ton der Goetheliteratur, die ‚unverwechselbare Individualität‘ seiner Gestalten zu beteuern (obschon auch das, was man den ‚Blässe‘-Verdacht nennen könnte, seine Tradition besitzt, vgl. unten). Doch gibt es nichts, was uns berechtigen würde, das Faktum der in dieser ‚Personendarstellung‘ wirksamen integrierenden Kräfte dem Faktum der zentrifugalen Kräfte gegenüber zum Maßgeblichen zu erklären. Goethes ‚geliebte Töchter‘ werden sich in einer Weise als individualpsychologisch skandalös herausstellen, daß sie sich nicht einmal mehr den Mitteln der zeitgenössischen Assoziationspsychologie erschließen,24 sondern allein noch (wie im V. Kapitel zu zeigen) nach den Maßgaben mythopoetischer Narrative, die mit dem Kriterienkatalog der Personalität weit ungezwungener schalten und solchermaßen dazu geschaffen sind, das Subjekt als Substanzbegriff zu zerspielen.25 Zwar geschieht solcher Ich-Abbau im Schutz- und Experimentierraum der Fiktion, jedoch nicht ohne bewußtseinsgeschichtlichen Index auf Erfahrungen und Denkweisen, die jenseits der Subjekt-Objekt-Ordnung angesiedelt sind. Die Auflösung personaler Kontinuen steht im Kontext eines insbesondere von Herder initiierten und vom jungen Goethe zunächst aufgegriffenen Aktionsprogramms, das Literatur auf eine individualistische Persönlichkeitstheorie verpflichtet, die mit dem Anspruch eines hohen Wahrheitsgehalts ausgestattet ist. Die Subjektdiffusion, der am Versuchsobjekt des homo fictus statt gegeben wird, beherbergt in dieser Hinsicht eine Idee des Anders-Sein-Könnens, die das subjektzentrierte Wirklichkeitsmodell und die mit ihm verbundenen, auf individuelle Einheiten justierten Wahrnehmungsgewohnheiten verunsichert und in Frage stellt. Es gilt die generelle Annahme Umberto Ecos: „Der eigentliche Inhalt des Kunstwerks wird somit seine Art, die Welt zu sehen […], ausgedrückt in einem Gestaltungsmodus“.26 Sie ist dahingehend zu spezifizieren, daß der Gestaltungsmodus des literarischen Textes in der Anzeige seiner eigenen Scheinhaftigkeit besteht und er in diesem Zusammenhang über eine spezifische Kompetenz verfügt, die Scheinhaftigkeit bestimmter nicht-literarischer Artefakte, derer er sich annimmt, hervorzutreiben. Sehr klar sprach der eingangs angeführte Forberg aus, daß „die erdichteten Menschen […] unsere Aufmerksamkeit auf 23 Dazu weiterführend Fotis Jannidis: ‚Individuum est ineffabile‘ – Zur Veränderung der Individualitätssemantik im 18. Jahrhundert und ihrer Auswirkung auf die Figurenkonzeption im Roman. In: Aufklärung 9 (1996), S. 77-110, hier S. 78. 24 Diese erlaubte, an den Kontinuitätsanforderungen des Subjekts gemessen, bereits grenzwertig aufgelockerte Verknüpfungsmodalitäten in der Figurenkonzeption; vgl. ebd., S. 101-110. 25 Zum „mythischen Aktanten-Modell“ in diesem Sinn Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Übers. v. Jens Ihwe. Braunschweig 1971, S. 165. 26 Umberto Eco: Form als Engagement. In: Ders.: Das offene Kunstwerk. Frankfurt/M. 1977, S. 237-292, hier S. 271.

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dasjenige […] richten, was wir an wirklichen Menschen beobachten sollen“, daß aber das „Gewöhnliche“ der „idealischen Welt“ das „Ungewöhnliche“ der „wirklichen“ sei.27 Die literarische Erfahrung (so muß man über Forberg hinausgehen) bequemt sich nicht der Wirklichkeitserfahrung an, sondern deautomatisiert dieselbe. c) Die Aporien der Subjektidentität, d. h. das Eindringen von Kontingenz in die Struktur des Individualitätsgedankens mit der Folge, daß „die Empfindung, welche ich von meinem Ich habe,“ nicht mehr „jederzeit nur Eine, einfache und untheilbare Empfindung ist“,28 werden (wie im I. Kapitel darzulegen) im Medium von Aporien der Textidentität kommuniziert. „Text und Subjekt sind nicht zu trennen“, bedingen im Gegenteil wechselseitig ihr „dynamisches Fließen“.29 Ebenso wie Goethes Erzählen in bestimmten bevorzugten Figuren Zweifel an der Tragfähigkeit personaler Einheiten streut, bricht es in der Tiefenstruktur die Einheit der Texte auf, deren Oberflächenstruktur doch auf strikte kompositorische Kontingenzvermeidung angelegt ist. Goethe hat den „Überblick“ und „Seitenblick“ „über und auf verwandte Gegenstände“ als „höchst nützlich“ empfohlen.30 Auf die Lektüre der Romane und ‚kleinen Erzählungen‘ angewandt, sind diese Blickrichtungen geeignet, einigermaßen Ungewohntes zutage zu fördern: Vor uns liegt ein Erzählsystem, in dem die scheinbaren Textsolitäre konfigurativ aufeinander bezogen sind und die lebhaftesten Interaktionsverhältnisse anknüpfen – auf Kosten ihrer Geschlossenheit zwar, aber zugunsten gesteigerter semantischer und semiotischer Beziehungsmöglichkeiten. Es geht dabei nicht um ein bloßes Gedankenexperiment, in dem ein gegebenes Textcorpus als System nur definitorisch, ohne fundamentum in re, betrachtet würde, sondern um ein effektives Filigranwerk, das sich in teils kalkulierten, teils selbsttätigen Analogien, Verwandtschaften und Spiegelungen realisiert – einem unabschließbaren, komplexen Spiel von zusammenhängenden Elementen, dessen Regelerschließung unser Verständnis dafür, wie dieses Erzählen vor sich geht, weiterzubringen vermag. Die innere Beziehung zwischen den Aporien der Subjektidentität und denen der Textidentität, zwischen personaler und textueller Multiplizität, läßt sich näherhin als Beziehung zwischen Figuration und Konfiguration beschreiben. Sie besteht nicht allein in einem Adäquationsverhältnis zwischen 27 Forberg: Schwierigkeiten der Beobachtung seiner selbst und anderer, S. 28f. 28 Charles Bonnet: Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen. Übers. und mit Anmerkungen hg. v. Johann Caspar Lavater. 2 Bde. Zürich 1769f., Bd. 1, S. 10. 29 So Schwab: Entgrenzungen und Entgrenzungsmythen, S. 16. 30 Einleitung . In: [Johann Wolfgang Goethe] Kupferstich-Anzeigen für die ‚Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘ u. a. In: Klassik und Klassizismus. Hg. v. Helmut Pfotenhauer u. Peter Sprengel unter Mitarbeit v. Sabine Schneider u. Harald Tausch. Frankfurt/M. 1995 (= Bibliothek der Kunstliteratur. Hg. v. Gottfried Boehm u. Norbert Miller, Bd. 3), S. 109-354, hier S. 135.

Arbeitsgrundlagen

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Problemgehalt und poetischer Gestaltungsweise, vielmehr geschehen die inaugurierten Verschaltungen zwischen den Einzeltexten gerade auch durch die Figuren als den primären Medien des Subjektproblems. „Sie werden mitunter alte Bekannte […] in einer neuen Gestalt wieder antreffen“ (9,1016), so bereiten die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten den Leser auf diese Wiedergängerpoetik vor. Vergleichbares gilt insbesondere für Werther, Mignon, Ottilie und Makarie, die sich über Textgrenzen hinweg gleichsam die Hand reichen, indem sie eine Schnittmenge semantischer und semiotischer Elemente teilen. Sie erschließen sich in wichtigen Teilen, nochmals mit Goethes naturwissenschaftlicher Terminologie gesprochen, als „Modifikationen einer einzigen Erfahrung“31. Ihre reflexreichen Erscheinungen sind vorzüglich dazu angetan, die in einer Individualitätskultur gepflegten wahrnehmungsund denkökonomischen Erwartungen von Singularität, Selbstgleichheit und Autonomie zu konsternieren. Der hierbei wirksame Wiederholungszwang bringt sich als die charakteristische Struktur des mythischen Erzählens sowie des Handelns und Leidens mythischer Figuren in Erinnerung.

2. Arbeitsgrundlagen Methodischer Grundsatz des Folgenden ist eine historisch rekonstruierende, quellenphilologisch abgesicherte und bewußtseinsgeschichtlich fundierte Narratologie. Der historisch-quellenphilologische Zugang legt den Akzent auf die wesentlich intertextuelle Konstitution von Goethes Erzählen, wobei „Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert“, daß „B zwar nicht von A spricht, aber in dieser Form ohne A gar nicht existieren könnte“.32 Damit ist Goethes Selbstbeschreibung Rechnung getragen, die sich im Fall so manchen Textrecyclings bemerkenswert wörtlich bewährt: „Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig.“33 Diese Intertextualität ist der Ort einer „dynamischen pluralen Sinnkonstitution“34. Unter dem Begriff der Bewußtseinsgeschichte seien ideen- und mentalitätsgeschichtliche Perspektiven versammelt, in denen das Projekt einer stabilen Subjektposition sowie der gegenläufige Impetus ihrer Untergrabung epochale Leitfossile darstellen. Narratologie schließlich 31 Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt (FA I 25,33). 32 Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/M. 1993, S. 15. 33 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (1836/1848). Hg. v. Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters. Frankfurt/M. 1999 (= FA II, 12), S. 158 (12. Mai 1825). 34 Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt/M. 1990, S. 51-199 („Intertextualität und Dialogizität“), hier S. 63. Zur Möglichkeit einer intertextuellen Goethe-Lektüre vgl. exemplarisch Uwe Japp: Über Interpretation und Intertextualität. Mit Rücksicht auf ‚Faust‘ II,2 („Klassische Walpurgisnacht“). In: DVjs 74 (2000), S. 395-412.

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soll eine textnahe Erzählanalyse heißen, die mit elementaren, dabei aber komplexen Kategorien wie Figur(ation) und Konfiguration operiert. Ein Schriftsteller vom universalen Zuschnitt Goethes, der auf dem „Meere des Wissens“ „nach allen Gegenden […] mit Leichtigkeit“ hinzusegeln beanspruchte,35 verkörpert in seiner Person die in einem einfachen Text-Kontext-Modell schlichtweg unauflösbaren Austauschprozesse zwischen unterschiedlichen Wissensinstitutionen. Dabei rühren die Einströmungen in Goethes Erzählen vornehmlich von drei Bezugsfeldern: dem naturwissenschaftlichen Bezugsfeld der Vergleichungs- und Verwandtschaftslehre (vor allem für die einzeltextübergreifende Systembildung) sowie der Anatomie und Osteologie (namentlich für die Figurenpoetik), sodann dem ideengeschichtlichen des philosophischen Diskurses und schließlich dem mentalitätsgeschichtlichen der weitgefächerten empirischen Erfahrungswelt Goethes (für die Facetten des Subjektproblems).36 Sie werden in ein Kanalsystem der ästhetischen Organisation eingerückt, dessen Verkehrsmöglichkeiten die der Bezugsfelder auf spezifische Weise übersteigt. Naturwissenschaft und geistig-soziale Erfahrungswirklichkeit Goethes verhalten sich in vielem kongruent. Was das prekäre Verhältnis zwischen theoriegeschichtlichen Referenzen und Empirie betrifft, so gilt, daß der Individualitätsethiker Goethe, voll Mißtrauen gegen abstrakten Deduktionismus, empfindliche Apprehensionen insbesondere gegen formal- und antiindividuelle Positionen ausagiert (vgl. III. Kapitel), sich aber in der poetischen Praxis von einer „eindringende[n] Welt“37 irritieren läßt, die für ihn überhaupt die schwerwiegendsten Indizien gegen das Subjektkonzept zu transportieren scheint (vgl. IV. Kapitel). Im Brief an Schiller vom 16. Mai 1795 beklagt er sich: „Im Moniteur steht, daß Deutschland hauptsächlich wegen der Philosophie berühmt sei, und daß ein Mr. Kant und sein Schüler Mr. Fichte den Deutschen eigentlich die Lichter aufsteckten.“38 In Goethes Pikiertheit schwingt der Anspruch mit, selber die helleren Lichter aufzustecken und der Kunst, sofern sie mit den Naturgesetzen zusammengeht, einen privilegierten Platz als kulturellem Erkenntnismedium reservieren zu können: mit Hilfe einer sinnlichen Vorstellungsart und 35 An Friedrich Heinrich Jacobi, 23. November 1801 (WA IV 15, 280). 36 Erfahrung verstanden nicht im biographistischen Sinn, sondern als das Medium zwischen historischen Prozessen und der literarischen Auseinandersetzung mit ihnen; vgl. Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1987, S. 12; sowie das unvermindert wichtige Buch von Ian Watt: The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding. London 1987 (zuerst 1957), bes. S. 174-207 („Private experience and the novel“). 37 Einwirkung der neueren Philosophie (FA I 24,442). Dazu Dorothea Kuhn: Zur Morphologie. Von 1816 bis 1824. Ergänzungen und Erläuterungen. Weimar 1995 (= Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Begr. v. K. Lothar Wolf u. Wilhelm Troll. Hg. v. Dorothea Kuhn u. Wolf von Engelhardt. II. Abteilung, Bd. 10, Teil A), S. 776-780. 38 An Schiller, 16. Mai 1795 (MA 8/1,78f.).

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Wahrnehmungskultur, die sich der „Hydra der Empirie“39 stellt. In Rede steht dabei eine Art von Erkenntnis und ‚Zeigungskraft‘, der nicht darum zu tun ist, „andere zu belehren“, sondern „sich […] mitzuteilen“,40 die sich von den methodischen Selbstbeschränkungen des gelehrten Wissens befreit, um mit einem widersprüchlichen Gegenstand widersprüchlich umzugehen. Adressiert ist daher mit Goethes eigenen präzisen Worten die Annahme, „daß es der Dichtkunst vielleicht allein gelingen könne, solche Geheimnisse gewissermaßen auszudrücken, die in Prosa gewöhnlich absurd erscheinen, weil sie sich nur in Widersprüchen ausdrücken lassen, welche dem Menschenverstand nicht einwollen“.41 Diesem Selbstverständnis folgend hätten wir anzuerkennen, daß Literatur – sei es auf nicht-propositionale Weise oder durch implizite Propositionen – Wissensmengen artikuliert, die andernfalls verborgen blieben.42 Goethes Wissenschaftskritik, welche die Philosophie mit einschließt, verteidigt nicht das Irrationale und Fiktive des Diskurstyps Literatur, sondern stellt das Irrationale und Fiktive, d. h. die epistemologische Deckungslücke von Diskursen heraus, die bestimmte Erfahrungen, Redegegenstände und Schlußfolgerungen ausschließen, weil sie sich in einem gegebenen Wissenssystem nicht ohne Paradoxien ausdrücken lassen – wie das Ergebnis, daß ‚A‘ nicht immer gleich ‚A‘ ist. Im Kielwasser von Jacob Burckhardt hat man sich auf den meisten kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldern zu behaupten gewöhnt, die genuin europäische Entdeckung des Individuums und die Herausbildung des Ichs des Menschen habe im Zeitalter der Renaissance stattgefunden, das darin an die Antike anschließe. Derart gestärktem Selbstbewußtsein soll einer neuen Weltoffenheit und einem neuen Einverständnis mit dem (je eigenen) Leben 39 An Schiller, 17. August 1797 (MA 8/1,393). Zum Vorrangstreit vgl. auch Rüdiger Bubner: Hegel und Goethe. Heidelberg 1978, S. 15. 40 Einleitung . ([Johann Wolfgang Goethe] Kupferstich-Anzeigen für die ‚Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘ u. a., S. 133). Zur Erkenntnis der Dichtung vgl. Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742). Nachdruck hg. v. Lutz Geldsetzer, Düsseldorf 1969, Vorrede b3: In den poetischen Büchern herrscht „eine besondere Art zu gedencken [...], so daß sie eine besondere Vernunfft-Lehre in sich zu halten scheinen“. Dazu Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Hg. v. Jean Bollack u. Helen Stierlin. Frankfurt/M. 1975, S. 35. 41 An Riemer, 28. Oktober 1821 (WA IV 35,158). Grundsätzlich dazu Karl Richter, Jörg Schönert u. Michael Titzmann: Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770-1930. Hg. v. dens. Stuttgart 1997, S. 9-36. 42 Anregend dazu die Kontroverse zwischen Gottfried Gabriel (Literarische Formen und nicht-propositionale Erkenntnis in der Philosophie. In: Literarische Formen der Philosophie. Hg. v. Gottfried Gabriel u. Christiane Schildknecht. Stuttgart 1990, S. S. 1-25) und Harald Fricke (Kann man poetisch philosophieren? Literaturtheoretische Thesen zum Verhältnis von Dichtung und Reflexion am Beispiel philosophischer Aphoristiker. In: Ebd., S. 26-39.). Gabriel fordert eine Erkenntnistheorie, die Wissenschaft und Literatur gleichermaßen einbezieht. Fricke bestreitet dagegen, daß es nicht-propositionale Erkenntnis überhaupt geben könne, Propositionen als Wissensaussagen verstanden, die „sprachlich normgerecht formuliert[ ]“ (S. 38) ausfallen und also von Literatur, deren Literarizität sich durch Normabweichung konstituiert, nicht geleistet werden können.

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entsprochen haben. Mit dankenswerter Deutlichkeit hat diese Position, die über Burckhardt letztlich auf die Selbstdeutung des Klassizismus zurückgeht, Ulrich Fülleborn in seiner Einleitung zu einem der einschlägigsten Sammelbände zum Thema gefaßt: „Das Ich […] ist eben eine neuzeitliche Schöpfung. Und genau das kann durch die tautologische Bezeichnung [‚das neuzeitliche Ich‘] bewußtgemacht werden.“43 Auf derselben Linie exponiert Elisabeth von Thadden den ‚Subjekt‘-Artikel des Goethe-Handbuchs (1998): „Seit dem 16. Jahrhundert entsteht die Bedeutung von Subjekt als der selbstdenkenden, mit Bewußtsein und Vorstellungen ausgestatteten Instanz.“44 Als Hauptstationen eines an die Herausbildung des Bürgertums gebundenen Individualisierungsprozesses werden Reformation, Aufklärung und Französische Revolution genannt, der Fluchtpunkt somit ins Ende des 18. Jahrhunderts gesetzt. „Die jeweilige Besonderheit und Unersetzlichkeit des Einzelnen als Person“ werde jetzt „erkannt und anerkannt“,45 so die Stimme von Ralph-Rainer Wuthenow. Die wichtige Korrektur daran, daß Individualität nicht entdeckt (‚erkannt‘), sondern erfunden werde, greift aber noch zu kurz. Denn sie beläßt es dabei, unter der Voraussetzung epochaler Geschichtszäsuren namentlich der Neugermanistik und insbesondere der Dixhuitièmistik zu attestieren, ausgerechnet mit ihrem Beobachtungszeitraum beginne auch – als Bestandteil eines umfassenderen epistemologischen Ab- und Aufbruchs – die Karriere einer zuvor unerhörten Individualitätssemantik. Die unvoreingenommene Beschäftigung mit früheren Quellen, mit denen sich in dieser Hinsicht vor allem die Frage verknüpft, ob das Individuum Resultat oder Emigrant der Religion ist, gereicht hierin leicht zur Verunsicherung.46 Neu an der Neuzeit mag auf diesem Feld allenfalls das erkenntnistheoretische Subjekt sein, welches der Welt den Menschen statt Gott zugrundelegt (subiectum: das Zugrundegelegte), schwerlich aber das 43 Ulrich Fülleborn: Einleitung. In: Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne. Hg. v. Ulrich Fülleborn u. Manfred Engel. München 1988, S. 9-27, hier S. 9. 44 Elisabeth von Thadden: Subjekt/Objekt. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4/2. Hg. v. Hans Dietrich Dahnke u. Regine Otto. Stuttgart u. a. 1998, S. 1028-1030, hier S. 1028. 45 Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert. München 1974, S. 21. 46 Aufschlußreich hierfür insbesondere Odo Marquard: Das Individuum: Resultat oder Emigrant der Religion? In: Individualität. Hg. v. Manfred Frank u. Anselm Haverkamp. München 1988 (= Poetik und Hermeneutik 13), S. 161-163, Alois Hahn: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Frankfurt/M. 2000, S. 198ff.; sowie Karl-Heinz Ohlig: Christentum – Kirche – Individuum. In: Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Richard van Dülmen. Köln 2001, S. 11-40. Diesbezügliche Wahrnehmungslücken sind allerdings kennzeichnend für Foucaults Epistemgeschichte: Zwischen der Antike von Sexualität und Wahrheit und der Neuzeit in der Ordnung der Dinge scheinen ‚dark ages‘ zu liegen. Bezeichnend dafür der Beginn von Wahnsinn und Gesellschaft (Übers. v. Ulrich Köppen. 12. Aufl. Frankfurt/M. 1996 [zuerst 1969], S. 19): „Am Ende des Mittelalters“.

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psychologische und das ethische Subjekt.47 Die Kriterien des Selbstdenkens und der Selbsttätigkeit erfüllt bereits der Personenbegriff des scholastischen Aristotelismus, demzufolge „der Mensch durch den freien Willen sich selbst zum Handeln bewegt“48. Realistischer ist deshalb und aus anderen Gründen wahrscheinlich die Annahme, daß der Ich-Gedanke in der abendländischen Ideengeschichte unter veränderten Umständen und wechselnden Nomenklaturen mehrfach aktualisiert und wieder archiviert wird, also weniger als eine Konstante, aber mehr als nur ein Zwischenspiel der historischen Aufklärung darstellt. Seine Erscheinung würde damit einem Bewegungsgesetz der „Geschichte des Wissens“ folgen, das Goethe selber aufgestellt hat und Simultanität mit Sukzession verschränkt: „Die Gedanken kommen wieder, […] die Zustände gehen unwiederbringlich vorüber“.49 Insofern hätten alle diejenigen gleich recht und unrecht, welche die Entdeckung des Individuums auf die „griechische Aufklärung“50, auf die Klosterreformzeit des 12. Jahrhunderts51, die Renaissance52 oder die Aufklärung des 18. Jahrhunderts53 47 Zur Unterscheidung dieser Subjektbegriffe vgl. Helmut Holzhey: Die Konkurrenz der Subjekte im Ausgang von Descartes’ cogito. In: Descartes. 1596 · 1996. Hg. v. Emil Angehrn u. Bernard Baertschi. Bern u. a. 1996, S. 251-269, hier S. 252f. 48 [Thomas von Aquin]: Die Philosophie des Thomas von Aquin. In Auszügen aus seinen Schriften hg. u. mit erklärenden Anmerkungen versehen v. Eugen Rolfes. Mit einer Einleitung u. Bibliographie v. Karl Bormann. Hamburg 1977, S. 93. 49 Maximen und Reflexionen (FA I 13,32). Dazu Reinhart Koselleck: Goethes unzeitgemäße Geschichte. In: GJb 1993, S. 27-39; sowie Uwe Pörksen: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff aufgrund seiner sprachlichen Darstellung geologischer Ideen und ihrer Visualisierung. In: Goethe und die Verzeitlichung der Natur. Hg. v. Peter Matussek. München 1998, S. 101-127. 50 Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt/M. 1988, S. 216. 51 Colin Morris: The Discovery of the Individual 1050-1200. London 1972, bes. S. 64-95 (“The search for the Self ”). Vgl. auch Aaron J. Gurjevitsch: Das Individuum im europäischen Mittelalter. München 1994, bes. S. 9-31 („Das Individuum ist unfaßbar“) u. S. 290-307 („Der Historiker auf der Suche nach der Persönlichkeit“). Hans-Georg Soeffner: „Typus und Individualität“ oder „Typen der Individualität“? – Entdeckungsreisen in das Land, in dem man zuhause ist. In: Typus und Individualität im Mittelalter. Hg. v. Horst Wenzel. München 1983, S. 11-44; sowie Georges Duby: Situationen der Einsamkeit: 11. bis 13. Jahrhundert. In: Geschichte des privaten Lebens. Hg. v. Philippe Ariès u. Georges Duby. Bd. 2: Vom Feudalzeitalter zur Renaissance. Hg. v. Georges Duby. Übers. v. Holger Fliessbach. Frankfurt/M. 1990, S. 471-495: Lebensformen und Schriftzeugnisse des 12. Jahrhunderts „bekunden auf eine frappierende Weise die Autonomie des Einzelnen“ (S. 477) und die „Aufmerksamkeit für den Wert des Individuums“ (S. 476). 52 Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman (1932). Mit einer Einleitung v. Heinz Schlaffer. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1994 (zuerst 1976), bes. S. 14ff. 53 Zuletzt sehr dezidiert Jürgen Kost: Wilhelm von Humboldt. Weimarer Klassik. Bürgerliches Bewußtsein. Kulturelle Entwürfe in Deutschland um 1800. Würzburg 2004, bes. S. 37-45: Der „mittelalterliche Mensch“ könne insbesondere wegen fehlender Differenz von Privatheit und Öffentlichkeit „nicht eigentlich als Individuum“ angesprochen werden (S. 39). In der Renaissance bleibe Selbstthematisierung „häufig im Repetieren traditioneller, beispielsweise moralischer Topoi stecken“ (S. 37). Den „Gebrauch von Modellen“ hat man auch dem Aufschreibesystem des 12. Jahrhundert als individualitätsmindernd angerechnet: so Frank Bezner: ‚Ich‘ als Kalkül. Abelards ‚Historia calamitatum‘ diesseits des Autobiographischen. In: Abaelards ‚Historia calamitatum‘. Text – Übersetzung – literaturwissenschaftliche Modellanalysen. Hg. v. Dag Nikolaus Hasse.

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datieren. Uns der Alterität jener Kultursysteme bewußt zu sein, kann nicht bedeuten, einem Epochenzentrismus das Wort zu reden, der exklusiv dem modernen Menschen Individualität zubilligt. Die Bahn des Subjekts führt schlechterdings nicht von einer ephemeren zu einer festen Fügung (evolutionär), sondern ist eine exzentrische Bahn, die einmal näher, einmal ferner am Subjektgedanken vorbeiführt (als Revolution im älteren, astronomischen Wortsinn), und zwar in dem reziprokproportionalen Maße, in dem sie an das mythische Denken, das jenseits des identitätslogischen Denkens steht, heran- oder von ihm wegführt. Goethe scheint der wachsenden Einsicht in die Unhaltbarkeit des Ich, wo er sie nicht a limine abwies, bald unfreiwillig, bald widerwillig, selten aber gezielt stattgegeben zu haben. Seine Janushaftigkeit auf subjekttheoretischem Gebiet rührt teils von Differenzen zwischen vorwiegend pragmatischen und vorwiegend ästhetischen Schreibmodi, teils von Verschiebungen zwischen intendierter und symptomatischer Bedeutung, die dem diskursiven Eigensinn der Dichtung geschuldet sind und deren Diagnose bezeichnenderweise Ottilie in den Mund gelegt wird: „[Am] Künstler kann man auf das deutlichste gewahr werden, daß der Mensch sich das am wenigsten zuzueignen vermag, was ihm ganz eigens angehört. Seine Werke verlassen ihn, so wie die Vögel das Nest, worin sie ausgebrütet worden“ (8,409). Tiefer noch reicht aber ein für die Geisteshaltung der Skepsis signifikanter Riß zwischen Goethes verborgenem und seinem öffentlichem Denken,54 der sich wesentlich in der Diskrepanz zwischen einem Ethos der Individualität und dem Eros der Selbstentäußerung ausprägt: der schönen Harmonie und der interessanten Disharmonie des Individuums. An dem einen Pol stehen idealtypisch – in weitläufiger Kontinuität zu den Selbstbewahrungsansichten Alberts, der Turmgesellschaft, der Baronesse von C. und Mittlers – die Lehren der Pädagogischen Provinz, die das Ich als zu hütendes Pragma einer moralischen Aufstiegsbewegung denken: Aus den „drei Ehrfurchten“ entspringe „die oberste Ehrfurcht, die Ehrfurcht vor sich selbst […], so daß der Mensch zum Höchsten gelangt was er zu erreichen fähig ist“ (10,93f.). An dem anderen Pol steht die auf Mignon, Ottilie und Makarie gekommene Erbschaft, die der unhintergehbare Erkenntnisstand des Werther abgibt: „Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles“ (8,108), denn „die Freude an sich selbst“ ist „eben Berlin u. a. 2002, S. 140-177, hier S. 169. Daß Individualitätsexposition über Modelle läuft und schwerlich als creatio ex nihilo funktioniert, darf jedoch auch für das 18. Jahrhundert festgestellt werden: vgl. Oskar Walzel: Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe. Darmstadt 1968 (zuerst Leipzig 1910), zu Goethe bes. 56ff.; sowie Eberhard Lämmert: Die Entfesselung des Prometheus. Selbstbehauptung und Kritik der Künstlerautonomie von Goethe bis Gide. Paderborn 1985, bes. S. 7ff. 54 Zur skepsistypischen Spaltung zwischen „dem praktisch gläubigen und dem theoretisch skeptischen Teil des Ich“ vgl. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 143.

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so zerbrechlich […], als […] schön und kostbar“ (8,138). Ein entscheidendes Moment dieser erzählerischen Beweglichkeit Goethes besteht darin, in die (esoterischen) Nachtseiten der menschlichen Verfassung vorzustoßen, ohne die Familiarität mit der (exoterischen) Oberfläche der Realität zu verlieren: von „ungeheuren Fällen“ zu handeln, „als wenn von nichts die Rede wäre“ (8,364).55 Unter dem Deckmantel klassischer Dämpfung und Balance lauert die Erfahrung des Dunklen, Ungeheuren und Extremen: ans Phantastische streifende anthropologische Grenzwerte, die mit mythopoetischen Figurenkonstruktionen ausgemessen werden. Was es außerdem so schwierig macht, sich Goethes narrativer Kunstform begrifflich zu bemächtigen, ist, daß Goethes luzides Interesse in der Sache nicht mit einem gleichwie gerichteten Engagement zusammenfällt. Von „Absichten und Zwecke[n]“ spricht er als von etwas Kleinem.56 Man wird hier leicht die nie recht widerrufenen Beobachtungen Schillers bestätigt finden: „Es fehlt ihm ganz an der herzlichen Art, sich zu irgendetwas zu bekennen“, und: „er ist an nichts zu fassen“.57 Goethe negiert Normen, ohne andere zu setzen, die als Alternativen zu den kritikbedürftigen taugen würden. Er repariert nicht die Sinnsysteme, deren Funktionsstörungen er registriert, und noch weniger betrachtet er das Subjektproblem als ‚Denkaufgabe‘, die darin bestünde, nach neuen Modellen der Selbsterkenntnis des Subjekts zu suchen. Goethes Erzählen, indem es „nichts Letztes will“ (10,571), ist nicht als die ästhetische Form eingerichtet, welche die Widersprüche des Subjektgedankens vermitteln und versöhnen, die bewußtseinsphilosophischen Aporien namentlich der Systeme Kants und Fichtes auflösen würde. Es realisiert vielmehr eine notorisch ergebnislose Sprechhaltung, die den Eindruck erweckt, mehr auf Verunsicherung als auf Verständigung abzuzielen. Deshalb erschöpft sich Goethes Erzählprosa auch nicht in der Illustration bewußtseinsgeschichtlicher Inhalte. Der Stoff, aus dem das Subjekt ist, treibt eine Bedeutungsmaschinerie an, deren selbstreferentielle Kreisbewegungen das eigentlich Interessante sind. Der hohe Selbstbezüglichkeitsgrad von Goethes ästhetischer Praxis begibt sich der Verpflichtung auf verbindliche Sinngebungen. Kunst erfüllt hier nicht mehr den Zweck eines Identitätsgenerators und sorgt nicht mehr für die dafür erforderliche Stimmigkeit der Charaktere. 55 Auf dieses von Heinz Schlaffer (Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen. In: GJb 1978, S. 212226) zur Berühmtheit gebrachte Kategorienpaar wird insbesondere noch hinsichtlich seiner Quellen zurückzukommen sein (vgl. III.2.b). 56 (FA I 24,211). 57 Schiller an Christian Gottfried Körner, 1. November 1790 u. 2. Februar 1789 (Friedrich Schiller: Nationalausgabe. Begr. v. Julius Petersen. Hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach v. Norbert Oellers. Weimar 1943ff. (künftig NA), Bd. 26, S. 55 u. Bd. 25, S. 193). Theodor W. Adorno (Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie [1967]. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt/M. 1981, S. 495-514, hier S. 504) hat treffend von Goethes „désinvolture“ gesprochen.

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Die Zeichen, aus denen die Figuren bestehen, erweisen sich hinsichtlich eines personalen Kerns als referenzlos. Eine menschliche Erscheinung, welche die Kriterien des Subjekts nicht erfüllt, entzieht sich dem – paradigmatisch von der Turmgesellschaft anhand Mignons unternommenen – Versuch, sie psychologisch zu „erklären“ (9,902). Das ästhetische Zerspielen bestimmter Figuren als plausible Subjekte und damit als Träger positiver Bedeutungen ist letzthin aber auch eine Aussage über subjekttheoretische Ideengehalte. Referentieller Ideengehalt und selbstbezügliche Zeichenbewegung, also Semantik und Semiotik als die zwei Seiten der ästhetischen Operation, verhalten sich dann so zueinander, daß – gemäß der von Niklas Luhmann zu neuen Ehren gebrachten logischen Figur des ‚reentry‘ (der Wiedereinführung des Unterschieds in das Unterschiedene) – auf der semiotischen Seite die Differenz zwischen referentieller und performativer Funktion wiederkehrt. Damit bleibt zwischen dem kulturellen Wissen dieser Texte und ihrer Zeicheninsistenz die Spannung bestehen, die den ästhetischen Prozeß als den diese Pole vermittelnden Beziehungssinn unterhält.

3. Forschungspositionen a) Subjektivität, Individualität, Identität Wenn es richtig ist, daß die Ungewißheiten über sich selbst das moderne Individuum charakterisieren,58 so hat man Goethe fast ausnahmslos auf die individualitätsbewahrende Position desjenigen festlegen wollen, der zuerst einen besonders radikalen und in dieser Radikalität unhaltbaren Subjektentwurf vorlegte (Werther-Paradigma),59 um das Individuum anschließend mit den Ansprüchen der Gesellschaft harmonisierend zu vermitteln und dadurch neu zu legitimieren: in der „Übereinstimmung von Selbst und Welt“60, d. h. im Grunde durch eine Ponderation von Inklusions- und Ex58 Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstaben im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud. In: Ders.: Schriften. Bd. 2. Olten u. a. 1973, S. 15-60, S. 42. 59 Vgl. Jürgen Förster: Literatur und Subjektivität. Goethes ‚Werther‘ unter Aspekten der Subjektivitätsdiskussion in der Germanistik. In: DD 16 (1985), S. 297-312 (gänzliche Freisetzung der Subjektivität durch den einseitigen Briefroman), sowie Matthias Luserke-Jaqui: Der junge Goethe. „Ich weis nicht warum ich Narr soviel schreibe“. Göttingen 1999, S. 128: „So paradox es klingt, die Geburtsstunde moderner Individualität beginnt literarisch mit deren Verlust.“ 60 Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche (1941). In: Ders.: Sämtliche Schriften. Bd. 4. Stuttgart 1988, S. 1-490, hier S. 17. Zur Goethe-Deutung in Löwiths berühmtem Buch jetzt auch Michael Jaeger: Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne. Würzburg 2004, S. 516ff. Die verschiedenen Facetten der Problemstellung ‚Harmonisierung von Selbstverwirklichung und sozialer Ordnung‘ mit sozialgeschichtlichem Akzent ausgeleuchtet bei Monika BornWagendorf: Identitätsprobleme des bürgerlichen Subjekts in der Frühphase der bürgerlichen Gesellschaft. Untersuchungen zu ‚Anton Reiser‘ und ‚Wilhelm Meister‘. Pfaffenweiler 1989; gründlicher und

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klusionsidentität (Wilhelm Meister-Paradigma). Die These einer systematischen, mit dem Erzählwerk alliierten Subjektkritik des Dichters wurde in der Goethe-Forschung noch nicht im Zusammenhang und mit den notwendigen Überprüfungen verteidigt. Daß Karl Eibl den Faust-Text inzwischen als „Formulierungsraum der Aporien moderner Individualität“61 gelesen hat, mag das auffälligste Signal zu einer diesbezüglichen Trendwende sein. Der verdienstvolle und avanciert ausgefüllte Themenschwerpunkt „Goethe and the Ego“ des Goethe Yearbook von 2002 zeigt bereits manche diesbezügliche Spuren.62 Freilich ist diese Subversion unter dem übermächtigen Eindruck eines Zeitalters, das wie kein anderes die forschende Beschäftigung mit der eigenen Person und den Primat persönlicher Erfahrung in den Mittelpunkt des Literatursystems rückte, nicht sofort sichtbar, sondern eingewoben in ein Netzwerk verwirrender Bezüge. „Zweifel an der Einheitlichkeit des individuellen Subjekts“, so die für den Diskussionsstand nicht unrepräsentative These Peter V. Zimas, die seinem Buch über Das literarische Subjekt zugrunde liegt, hat man denn auch (mit Ausnahmen in der Schwarzen Romantik) weithin erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesichtet, während „Romantiker wie Novalis […] in der individuellen Innerlichkeit noch eine Zufluchtsstätte subjektiver Freiheit und Kreativität erblicken“ können sollten.63 Erschwerend kommt die in den letzten Jahren schon mehrfach beklagte, unverändert desolate Forschungslage für die Geschichte des Indiumfassender bei Bernhard Spies: Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick. Die Entwicklung bürgerlicher Subjektivität im Roman des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, zu Wilhelm Meister S. 206ff. Diese Ausrichtung verbindet sich mit der Entscheidung für einen ethischen Subjektbegriff; vgl. ebd., S. 11ff. 61 Karl Eibl: Das monumentale Ich – Wege zu Goethes ‚Faust‘. Frankfurt/M. u. a. 2000, S. 11. Tragend ist die Beobachtung von Auswechselbarkeit, Stellvertretung und Aufgabe des Singularitätsprinzips auch in der ökonomietheoretisch fundierten Arbeit von Franziska Schößler: Goethes ‚Lehr-‘ und ‚Wanderjahre‘: Eine Kulturgeschichte der Moderne. Tübingen u. a. 2002, bes. S. 132-182 („Die Aufhebung des Subjekts“). Zum Individualroman als „Leidensgeschichte der gewonnenen Identität“ Chang-Bae Jeon: Gestörte Identitätsbildung. Studien zur Gestaltung des Romanhelden und seiner Biographie in der deutschen Literatur des späteren 18. Jahrhunderts. Berlin 1993, bes. S. 193ff. Am klarsichtigsten zu den Dilemmata des im Roman verteidigten Individualitätsgedankens immer noch Peter J. Brenner: Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung. Tübingen 1981, bes. S. 71-142 („Die problematische Konstitution des Subjekts“). 62 Hervorzuheben sind insbesondere Breithaupt: Goethe and the Ego; Edgar Landgraf: Self-Forming Selves: Autonomy and Artistic Creativity in Goethe and Moritz. Ebd., S. 159-176; sowie Martha B. Helfer: Wilhelm Meister’s Women. Ebd., S. 229-254. 63 Peter V. Zima: Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Tübingen u. a. 2001, S. 1f. Ähnlich zur Abgrenzung von ‚Frühmoderne‘ (um 1900) und Goethezeit Michael Titzmann: Das Konzept der „Person“ und ihrer „Identität“ in der deutschen Literatur um 1900. In: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Hg. v. Manfred Pfister. Passau 1989, S. 36-52, bes. S. 48. Zur historischen Komplizierung des Ich-Problems auch Horst Thomé: Autonomes Ich und „Inneres Ausland“. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914). Tübingen 1993.

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vidualitätsproblems hinzu,64 dessen philosophische und ästhetisch-poetologische Komplexität allerdings auch beträchtlich ist. Ein weiteres Grundmerkmal der Forschungssituation ist das weitgehend unvermittelte Nebeneinander von Goethe als ‚Dichter‘ und Goethe als ‚Denker‘.65 Theoriegeschichtlich orientiert und weitgehend auf die pragmatische Kommunikation des Weimarers beschränkt sind – nach der klassischen Vorlage des „Individualismus“Kapitels in Georg Simmels Goethe-Buch – die Arbeiten von Ralf Konersmann und Enno Rudolph. Simmel ordnet seinen Olympier für dessen gesamte Schaffenszeit bruchlos in eine Ideenwelt ein, in welcher der Gedanke der Individualität des Menschen dominiert: das „Gesammeltsein in dem selbständigen Punkt des Ich“66. Goethe steht demnach für eine Auffassung vom Individuum „als des qualitativ Einzigen, das niemandem ‚ähnlich ist‘“,67 ein. Niemals sei er „an der Einheit des einzelnen Menschen irre geworden“.68 Die Kardinalfrage der Lebensanschauung, nämlich ob „das Individuum ein letzter Quellpunkt des Weltgeschehens“ sei oder „ein Durchgangspunkt für Mächte und Strömungen überindividueller Provenienz“, habe Goethe im ersten Sinn entschieden.69 Jedes soziologischen, theologischen oder psychologischen Anhalts unbedürftig, leite er die Kräfte des Ich „aus dem rätselhaften Punkt unbedingter Spontaneität“ her.70 Deshalb auch besäßen Goethes literarische Figuren „volle klassische Rundung“71. Die Textbelege, die Simmel dafür anführt, fallen namentlich auf epischem Gebiet spärlich aus. Er wünscht sich Goethe entschieden als einen sieghaften Heros des Selbst und schwebt zu diesem Zweck emphatisch über dem Boden der Texttatsachen. Dabei steht schon die initiale Reklamation von Goethes „Leidenschaft für das unbedingt Eigene“72, die hart formulierte Originalitätsthese, im Widerspruch zu Goethes Eingeständnis der wesentlich intertextuellen Konstitution seiner poetischen Produktion. – Konersmanns Überlegungen, welche die subjekttheoretischen 64 Vgl. Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik. Stuttgart 1993, S. 86-88 („Skizze zu einer Modellgeschichte des Subjektivitätskonzepts in Aufklärung und Goethezeit“), sowie Fotis Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. Eine Komponenten- und Funktionsanalyse des Begriffs ‚Bildung‘ am Beispiel von Goethes ‚Dichtung und Wahrheit‘. Tübingen 1996, S. 44f. 65 Eine nennenswerte Ausnahme macht hier die Arbeit von Marianne Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang. Studien zu Goethes ‚Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***‘, ‚Götz von Berlichingen‘, und ‚Clavigo‘. Tübingen 1995, bes. S. 68-106: In die Textlektüren einbezogen wird hier Goethes Verhältnis zu Hermetik, Pantheismus, Leibnizianismus und zum Rationalismus Wolffscher Prägung. 66 Georg Simmel: Goethe (1912). In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 15. Frankfurt/M. 2003, S. 7-270, S. 151-178 („Individualität“), hier S. 151. 67 Ebd., S. 170. 68 Ebd., S. 172. 69 Ebd., S. 154. 70 Ebd., S. 158. 71 Ebd., S. 167. 72 Ebd., S. 152.

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Einlassungen Goethes überwiegend aus dessen naturwissenschaftlichen Schriften ziehen, nehmen ihren Ausgang vom berühmten, seiner geistesgeschichtlichen Herkunft nach noch immer ungeklärten Ineffabilitätssatz – „Individuum est ineffabile“ – in Goethes Brief an Lavater vom 20. September 178073 („Mich selbst, mein Ich kann ich mir nicht vorstellen“, diktierte acht Jahre zuvor Ernst Platner74). Die begriffliche Unfaßbarkeit des Individuums führe auf die Goethes Schreibprozeß lebenslang antreibende „Frage nach der Möglichkeit, Subjektivität literarisch darzustellen und, wie vorläufig auch immer, darin Klarheit über sie zu gewinnen“.75 Bis zuletzt aber habe Goethe das „Leitbild unversehrter Subjektivität“ aus der Bedrängnis heraus und im Bewußtsein der Krise entworfen.76 – Rudolph schließlich, ebenfalls vor allem philosophiehistorisch interessiert, glaubt an Goethes Schriften „eine durchaus homogene Konzeption seines Verständnisses von Individualität“ ablesen zu können.77 Das Ich stellt sich demzufolge (in Übereinstimmung mit der Subjekt-Objekt-Differenz) als eine Position des Widerstandes gegen Natur und Geschichte dar. Es steht in einer permanenten Vernichtungsgefahr und deshalb in einem Selbsterhaltungskampf: „es ist am Ende doch nur immer das Individuum, das einer breiteren Natur und breiteren Überlieferung Brust und Stirn bieten soll“.78 Die Idee der Individualität gipfle im Begriff der Persönlichkeit, zu dem die Kriterien der Selbstherrschaft und der moralischen Integrität erforderlich sind. Ihre angemessene Darstellungsform fänden die Gedanken des Individuums und der Persönlichkeit in der Kunst. Rudolphs aufschlußreiche Theorierekonstruktion überzeugt indes bedeutend weniger in der abschließenden Anwendung auf die Romane (Werther und Lehrjahre). Offenbar enthält das erzählerische Werk im Unterschied beispielsweise zur in diesem Feld häufiger zitierten Farbenlehre oder zum Briefwerk aufgrund seines ästhetischen Aussagemodus ein Spektrum subjekttheoretischer Themen, das sich ungleich breiter, facettierter und gebrochener ausnimmt. Die eigens mit dem Subjektproblem beschäftigten Deutungen erzählender Goethe-Texte – am Kontinuum der Goethe-Philologie gemessen ein eher junges Arbeitsgebiet – wurzeln an den fruchtbarsten Trieben in Ansätzen der literarischen Anthropologie. Ihre relative Konjunktur hängt sichtlich mit

73 WA IV 4,300. 74 Ernst Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Leipzig 1772. Nachdruck mit einem Nachwort von Alexander Košenina, Hildesheim 1998, S. 14. 75 Ralf Konersmann: Goethes „Subjektivität”. In: GRM 38 (1988), S. 106-119, hier S. 106. 76 Vgl. Ralf Konersmann: Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts. Frankfurt/M. 1991, bes. S. 217ff., Zitat S. 228. 77 Rudolph: Individualität, S. 524. Vgl. ders.: Persönlichkeit. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4/1. Hg. v. Hans Dietrich Dahnke u. Regine Otto. Stuttgart u. a. 1998, Bd. 4/2, S. 843-844, u. Odyssee des Individuums. Zur Geschichte eines vergessenen Problems. Stuttgart 1991, bes. S. 10f. u. S. 51ff. 78 Farbenlehre (FA I 23/1,615).

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einem epistemologischen Vertrauensverlust gegenüber dem Bildungsbegriff zusammen: Den Bildungsroman wollte man als Identitätsroman lesen, das Bildungsproblem als Individualitätsproblem formulieren.79 Die Bildungskrisen der Unterhaltungen wurden als Subjektkrisen an den Tag gelegt,80 vermeintlichen Bildungserfolgen der Wanderjahre ein Individualitätskonzept der Vermittlung von Einzelnem und Ganzen, Individuum und Allgemeinem unterlegt.81 – Einen Meilenstein an den Forschungswegen bezeichnet HansJürgen Schings’ von der „bewußtseinsgeschichtlichen Lage“ der Goethezeit geleitete Untersuchung zur Entstehungsgeschichte moderner, als autonom bestimmter Subjektivität im Bildungsroman.82 Goethe gelinge in den Lehrjahren die „heiter-kühle[ ] Antwort auf die moralische, literarische, philosophische Hypochondrie“, die „klassische[ ] Replik auf die Melancholie der modernen Subjektivität“83. Für die Gestaltung Wilhelms bedeutet dies, daß ihm der „Zustand der geistigen Gesundheit“84 zuteil wird – dank der „produktiven Kraft des Subjekts“, das als „angeborene Mitgift“ in Erscheinung trete.85 Im Hintergrund solcher Heilung sieht Schings den Kern der Goetheschen Erkenntnislehre wirksam: Der epische Beweis der wechselseitigen „Erschlossenheit […] von Subjekt und Welt“ setzt demnach die cartesianisch aufgerichtete und transzendentalphilosophisch fortgeschriebene Entzweiung zwischen Subjekt und Objekt außer Kraft.86 – In der deutschsprachigen Goethe-Forschung kaum gebührend beachtet wurde die scharfsinnige Studie Clark S. Muenzers über Figures of Identity und den enigmatischen Status des Selbst in Goethes Romanen. Ebenso unaufdringlich wie undogmatisch namentlich von Derrida gelenkt, sucht Muenzer eine thematische Kontinuität zwischen Werther und Wanderjahren, die er – beschränkt freilich auf die männlichen Protagonisten – in Konstruktionsprozessen des Selbst als wesentlich imaginärer Tätigkeit jenseits eines substantiellen Personenkerns verortet.87 „This enigmatic center 79 Vgl. Kost: Wilhelm von Humboldt, S. 140-149 („Bildung“ – Selbstverwirklichung der Individualität als letztes Ziel des Menschen“), u. Norbert Ratz: Der Identitätsroman. Eine Strukturanalyse. Tübingen 1988, S. 8ff. u. 63ff.; sowie Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. 80 Vgl. Carl Niekerk: Bildungskrisen. Die Frage nach dem Subjekt in Goethes ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘. Tübingen 1995, sowie ders.: „Individuum est ineffabile“: Bildung, der Physiognomikstreit und die Frage nach dem Subjekt in Goethes ‚Wilhelm-Meister‘-Projekt. In: Coll. Germ. 28 (1995), S. 1-33. 81 Ausführlich dazu zuletzt Claudia Schwamborn: Individualität in Goethes Roman ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘. Paderborn 1997. 82 Hans-Jürgen Schings: Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman. In: Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1984, S. 42-68, Zitat S. 43. 83 Ebd., S. 52. 84 Ebd., S. 55. 85 Ebd., S. 65f. 86 Ebd., S. 67f. 87 Vgl. Clark S. Muenzer: Figures of Identity. Goethe’s Novels and the Enigmatic Self. University Park u. a. 1984, S. 3f., 160 u. 166.

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within the individual […] propels Goethe’s successive protagonists, from Werther to Eduard“.88 Auf die wünschenswerte ideengeschichtliche Validierung dessen wird bei den weitgehend textimmanenten ‚close readings‘ allerdings verzichtet. – Sehr bemerkenswert sind auch die mit dem Subjektproblem beschäftigten Untersuchungen Carl Niekerks über die Unterhaltungen und das Wilhelm-Meister-Projekt. Eng an Foucault angelehnt, setzt Niekerk voraus, daß sich um 1800 ein fundamental neues Wissen vom Subjekt aufgrund des Neudenkens des Körpers etabliere. Es werde nicht länger „von seinem Außen her [konstruiert], sondern mit einem grundverschiedenen, nicht-reduzierbaren Innen“89. Eine allmähliche Wandlung in Goethes Denken über Individualität, die sich an seinem Frontenwechsel im Physiognomikstreit ablesen lasse, führe ihn von einer „sensualistischen Auffassung des Subjekts“ zum „Erkenntnismodell des inneren Menschen“, dessen kategorische Widersprüchlichkeit mit dem Begriff des Dämonischen in Verbindung stehe.90 Der Werther-Roman, vor dem Bruch Goethes mit Lavater angesiedelt, läßt sich mit dieser Interpretation freilich nur schwer in Einklang bringen. Wenn man außerdem den Subjektstatus (wie für die meisten diesbezüglichen Fragestellungen ratsam) an das Kriterium der Individualität knüpft, verbietet sich in der Regel die Argumentation mit Quellenbelegen, die von der ‚menschlichen Natur‘ und ‚dem Menschen‘ im Sinne des Gattungswesens sprechen. Eine Erkundung des Subjektproblems in Goethes Erzählen kann sich ferner, wenn sie breit angelegt sein soll, nicht auf den Körper-, Sexualitäts- und Physiognomiediskurs beschränken, der vielmehr nur eine unter diversen Quellen des Selbst begründet. – Wilhelm Voßkamp faßt die Interpretation der Theatralischen Sendung, der Lehrjahre und der Unterhaltungen unter dem gemeinsamen Dach der in diesem Textspektrum thematisierten Möglichkeiten und Probleme neuzeitlicher Subjektivität zusammen. Es handle sich um die Dokumente einer gesteigerten Individualität, die im Zeichen der Moderne selbstreflexiv werde. Die von Goethe dabei avisierte „Selbstvervollkommnung des Subjekts“91 im Medium von individueller (Lehrjahre) und geselliger Bildung (Unterhaltungen) sei als unabschließbare Aufgabe gedacht. Goethes Erzählen erteile mithin eine „adäquate literarische Antwort auf die durch Zersplitterung und Selbstentfremdung charakterisierte Moderne“.92 – Die Frage nach dem 88 Ebd., S. 132. 89 Niekerk: „Individuum est ineffabile“, S. 3. Vgl. ders.: Bildungskrisen, bes. S. 1-16 („Einleitung: Über Bildung, das Subjekt, die Moderne, Diskurse und novellistische Fragmente, über das Konzept einer literarischen Klassik“) u. S. 17-40 („Lavater, Lichtenberg und Goethe: Der Physiognomikstreit als Ausdruck eines sich ändernden Denkens über Subjektivität am Ende des achtzehnten Jahrhunderts“). 90 Niekerk: „Individuum est ineffabile“, S. 6. 91 Wilhelm Voßkamp u. Herbert Jaumann: Kommentar. In: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hg. v. dens. Frankfurt/M. 1992 (= FA I 9), S. 1121-1612, S. 1123. 92 Ebd., S. 1126.

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Ich, die zunehmend zu einer nach der Sexualität werde, sah am profiliertesten Gerhard Neumann in Goethes Romanen gestellt. Als Hauptaugenmerk Goethes weist er das „Konzept eines Subjekts“ aus, dessen „Karriere in der Gesellschaft sich auf Liebe und Kunst, auf Passion und Bildung“ zu gründen sucht (Werther),93 dann den Versuch der „Selbstzeugung des Subjekts aus der Phantasie“94, nämlich der Welt des Schauspiels (Lehrjahre), schließlich die „Selbstwerdung“ des Helden durch die „Erfahrung der Beziehung zwischen Mann und Frau“ und die „Erfahrung der Familienbeziehung“95, mithin „die Gewinnung von Identität durch Wanderschaft, Vaterschaft, Liebe und Kompetenz des Zeichengebrauchs“96 (Lehr- und Wanderjahre). Was eine in diesen Parametern mehr oder weniger gelingende Subjektkonstitution im Umkehrschluß für diejenigen Figuren bedeutet, die wie Mignon, Ottilie und Makarie von Wanderschaft, Vaterschaft, Liebe und Zeichenkompetenz ausgeschlossen sind,97 bleibt ebenso auszuloten wie das Problem, warum Goethe nach Neumanns Beobachtung „seltsam ausweichende Antworten auf die Frage“ gibt, „in welcher Weise sich das neuzeitliche Subjekt durch die Liebeserfahrung zu definieren vermöchte“.98

93 Gerhard Neumann: „Heut ist mein Geburtstag“. Liebe und Identität in Goethes ‚Werther‘. In: Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft. Hg. v. Waltraud Wiethölter. Tübingen u. a. 2001, S. 117-143, hier S. 135. 94 Gerhard Neumann: Der Wanderer und der Verschollene. Zum Problem der Identität in Goethes ‚Wilhelm Meister‘ und Kafkas ‚Amerika‘-Roman. In: Paths and Labyrinths. Hg. v. Joseph P. Stern. London 1985, S. 43-65, hier S. 48. Vgl. ders.: „Ich bin gebildet genug, um zu lieben und zu trauern“. Die Erziehung zur Liebe in Goethes ‚Wilhelm Meister‘. In: Liebesroman – Liebe im Roman. Hg. v. Titus Heydenreich u. Egert Pöhlmann. Erlangen 1987, S. 41-82, bes. S. 78, sowie Henriette Herwig: Das ewig Männliche zieht uns hinab. ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘. Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. Tübingen u. a. 1997, S. 4. 95 Neumann: Die Erziehung zur Liebe, S. 54. 96 Gerhard Neumann u. Hans-Georg Dewitz: Kommentar. In: Johann Wolfgang Goethe. Wilhelm Meisters Wanderjahre. Frankfurt/M. 1989 (= FA I 10), S. 775-1340, hier S. 1025. 97 Die geschlechtertheoretische Kritik hat sich dieser Differenzen teilweise bereits angenommen. Hervorzuheben sind Elisabeth Bronfen: Nachwort. In: Die schöne Seele. Erzähltexte von Goethe, Kleist, E. T. A. Hoffmann und anderen. München 1992, S. 372-416: Der Frau werde im aufklärerischen Prozeß der Neukonstruktion von Weiblichkeit kein Selbst zugesprochen, das unabhängig wäre von der Funktion, die sie für den Mann erfüllt; Sylvia Schmitz-Burgard: Das Schreiben des anderen Geschlechts: Richardson, Rousseau, Goethe. Würzburg 2000: Goethe stelle dem „androzentrische[n] Mach(t)werk[ ]“ des Subjektgedankens ein „sujets-en-procès“ entgegen (S. 173ff.) (vgl. Julia Kristeva: Le sujet en procès: Le langage poétique. In: L’Identité. Paris 1977, S. 223-256); psychoanalytisch orientiert Béatrice Dumiche: Weibliche Selbstverwirklichung im Jugendwerk Goethes. Würzburg 2001. 98 Neumann: Erziehung zur Liebe, S. 79.

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b) Charakterologie Obschon man den Erscheinungen Werthers und Wilhelms, Mignons, Natalies und Ottilies als vorrangigen organisatorischen Zentren des Erzählens zahllose Aufsätze und ganze Bücher gewidmet hat, entbehrt die Goethe-Philologie doch nahezu jeglicher Grundsatzreflexion auf den ästhetischen Status dieser Figuren als Figuren: auf ihre Anthropogenese in der Bewegung des Erzählens, ihre inneren Elemente und logische Struktur. Die Anerkennung des homo fictus als verschiedentlich totgesagter, letztlich aber unentbehrlicher interpretatorischer Schlüsselgröße verdankt sich spontaner Plausibilität, die einmal – wozu jetzt auch die Habilitationsschrift von Fotis Jannidis Anlaß und Instrumentarium bietet – hinterfragt und fundiert werden muß.99 Wie denkt man den papiernen Homunkulus und seine Faltpläne, wenn man von „narrativer Personendarstellung“ und ihrem „mentalitätsgeschichtlichen Wandel“ spricht?100 Wie geht literarische Anthropologie, das Interesse am „Körper im Text“,101 mit den Personen dieser Körper um? Wie läßt sich angesichts literarischer Figuren von Identität, Nicht-Identität und ihren zahlreichen Nuancen sprechen?102 Inwiefern können sie Träger von Subjektvorstellungen und Austragungsort von deren Krisen sein? Oft genug wartet die Goethe-Erzählforschung mit Einsprengseln einer Art impliziter Charakterologie auf – angeregt wiederum nicht zuletzt durch Simmel, der Goethes, des „großen Menschenschilderer[s]“ Leistung rühmte, „den Mikrokosmos eines Kunstwerkes aus Gestalten erwachsen 99 Der Terminus ‚homo fictus‘ nach Edward Morgan Forster: Aspects of the Novel. 5. Aufl. London 1960 (zuerst 1927), S. 43-79 („People“), hier S. 54; dazu die Definition, S. 44: „The novelist [...] makes up a number of word-masses […], gives them names and sex, assigns them plausible gestures, and causes them to speak by the use of inverted commas, and perhaps to behave consistently”, „their nature is conditioned by what he [the author] guesses about other people, and about himself ”. – Fiktionslogisch zur Frage, „worüber wir eigentlich reden, wenn wir uns auf literarische Figuren beziehen” Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart 1991, S. 133-146 („Sind literarische Figuren fiktive Gegenstände?“). Zur ästhetisch-theoretischen Unentbehrlichkeit der Charaktere als „Relevanzfiguren” Hans Robert Jauß: Ästhetische Identifikation – Versuch über den literarischen Helden. In: Ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt/M. 1982, S. 244-292, bes. S. 245. Im übrigen Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin 2004; vgl. ders.: ‚Individuum est ineffabile‘; sowie mit Spezialisierung auf eine weibliche Gestalt Johanna Bossinade: Das Beispiel Antigone. Textsemiotische Untersuchungen zur Präsentation der Frauenfigur. Von Sophokles bis Ingeborg Bachmann. Köln u. a. 1990. 100 Verena Ehrich-Haefeli: Individualität als narrative Leistung. Zum Wandel der Personendarstellung in Romanen um 1770. In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Hg. v. Reto Luzius Fetz u. Roland Hagenbüchle. Berlin u. a. 1998, Bd. 2, S. 811-843. 101 Irmgard Egger: Diätetik und Askese. Zur Dialektik der Aufklärung in Goethes Romanen. München 2001, S. 131. 102 Vgl. Seymour Chatman: Reading Narrative Fiction. New York 1993, S. 58: „For they possess traits, distinguishing qualities that give them some kind of identity and personality”.

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zu lassen“.103 Ein einflußreiches Diktum der Werkimmanenz lautete in diesem Sinn: „In den Lehrjahren sind nicht die Lehren das Letzte, sondern die Gestalten.“104 Die Hauptgestalten der Wahlverwandtschaften sollten „zugleich Kriterien des Ideengehalts wie Kriterien der spezifischen literarischen Methode“105 verschlüsseln. Scharfsichtig beobachtete dagegen Eberhard Lämmert das wichtige Moment der immer nur teilweisen Figurenausleuchtung in Goethes Romanpoetik. Sorgsame Leser, so Lämmert, seien immer wieder in Verlegenheit geraten, ein rundes Charakterbild der erdichteten Menschen zu gewinnen, und nicht selten wurde Goethe deshalb eine gewisse Blässe oder auch verhaltene Allgemeinheit in der Personendarstellung vorgehalten.106 Die ästhetische Anämie von Goethes Erzählcharakteren stellt sich dem wissenschaftsgeschichtlichen Blick in der Tat als ein Forschungstopos dar, am prononciertesten von Terence James Reed ausgeführt, der den Figuren der Lehrjahre einen „uniformen, undifferenzierten Stil“ attestiert: eine Gestaltung, die mehr das Typische als das „individuell Wahre“ in Szene setze und „das Gleichgewicht“ zu sehr in Richtung auf die Abstraktionen verschiebe.107 Dieser Mangel an farbiger Charakteristik soll es sogar verbieten, Goethe den Rang eines herausragenden Prosaautors zuzusprechen. Gegen die Gefahr genau solcher Schlußfolgerungen glaubte Lämmert, „die Würde einer unverwechselbaren Personalität“ der Figuren beweisen zu müssen.108 So etwas wie eine Superposition in der Diskussion um Goethes Erzählgestalten nimmt das Experimentierfeld seiner Weiblichkeitsimaginationen ein. Denn obgleich noch kein Exeget über die Ausprägungen des Männlichen in Goethes Werk geradezu „beunruhigt“ war, wohl auch noch niemand glaubte, den „Gesamtumfang“ der Männlichkeit ebenda bestimmen zu müssen, so gilt doch beides seit den frühesten wissenschaftlichen Annäherungen für das 103 Simmel: Goethe, S. 166f. 104 Erich Trunz: Nachwort. In: Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Hg. v. dems. München 1988 (= Hamburger Ausgabe. Hg. v. dems., Bd. 7), S. 689-711, hier S. 692; gleichlautend noch Helmut Ammerlahn: „Poesy – Poetry – Poetology“: Wilhelm „Meister“, Hamlet und die mittleren Metamorphosen Mignons. In: Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretationen und Rezeption. Hg. v. Gerhart Hoffmeister. New York u. a. 1993, S. 1-25, hier S. 15. 105 Hans Jürgen Geerdts: Goethes Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘. Die Hauptgestalten und die Nebenfiguren in ihrer Grundkonzeption. In: Goethes Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘. Hg. v. Ewald Rösch. Darmstadt 1975 (WdF 113), S. 272-306, hier S. 272. Vgl. auch Erika Nolan: Das wahre Kind der Natur? Zur Gestalt der Ottilie in Goethes Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘. In: JbFDH 1982, S. 82-96, S. 82. Eine akribische Zusammenfassung der älteren Forschung bietet Aivars Petritis: Die Gestaltung der Personen in Goethes ‚Wilhelm Meisters Lehrjahren‘ und ‚Wilhelm Meisters Wanderjahren‘. Köln 1967, S. 4-80. 106 Vgl. Lämmert: Goethes empirischer Beitrag zur Romantheorie, S. 17. 107 Terence James Reed: Die klassische Mitte. Goethe und Weimar 1775-1832. Stuttgart 1982, S. 117119 u. 124. 108 Lämmert: Goethes empirischer Beitrag zur Romantheorie, S. 18 u. 21.

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Weibliche.109 Die Erforschung „meine[r] dargestellten Frauencharactere“110, wie sich Goethe selber ausgedrückt haben soll, fängt germanistische Wissenschaftsgeschichte wie in einem Brennspiegel ein und offenbart sich wesentlich als beständiger Versuch der Situierung von existentiellen und ästhetischen Idealen, so daß sich insoweit von einem eingespielten Verkörperungsparadigma sprechen läßt. In dieser Sichtweise personifizieren die Figuren jeweils ein Allgemeines: von feststehenden ‚höchsten Werten‘ bis hin zum Programm semantischer Unfeststellbarkeit oder ‚mouvance‘.111 Gerade Mignon, Ottilie und Makarie haben noch jede literaturwissenschaftliche Generation zu den dezidiertesten, ja affektioniertesten Stellungnahmen bewogen. In ihnen kommen die jeweiligen methodischen Ansätze und Anliegen auf den Punkt. Goethes Frauengestalten, so der Titel des umfänglichen, 1865 und 1868 in zwei Bänden erschienenen Gründungswerks von Adolf Stahr,112 rechnen sowohl zum frühesten als auch elaboriertesten Kernbestand der GoetheForschung. Anknüpfungspunkt ist eine lebhafte Debatte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die ihren Ausgang von der poetologisch akzentuierten Mignon-Kontroverse zwischen Schiller und Novalis nahm. Für die bald darauf einsetzenden Trivialisierungstendenzen, welche die Folgezeit bestimmten, tragen Friedrich Wilhelm Riemers Mitteilungen über Goethe (1841) einen nicht geringen Teil der Verantwortung. Seine wiederholten Verehrungsbezeugungen für die „liebenswürdige[n], wünschenswerthe[n] Wesen“113 hat freilich Vorläufer in Teilen der romantischen Goethe-Rezeption, so in Bettine Brentanos exaltierter identifikatorischer Aneignung Mignons und Ottilies,114 in der ein zukunftsträchtiger Duktus persönlicher Anmutung und leidenschaftlicher Parteinahme eingeübt wurde. Stahrs Erfolgsbuch leitete die unmittelbare Rezeption in die literaturhistorische Forschung über und setzte dabei einige zukunftsträchtige Maßstäbe, so die Betonung des Werts, den „der Dichter selbst auf diese Schöpfungen seines Genius gelegt hat“, und der Gedanke, daß sie in „des Dichters innerstes Wesen“ reichen.115 Ihren gemeinsamen Nenner glaubte Stahr darin eruieren zu können, daß sie für 109 So bei Horst Fuhrmann: Der schwankende Paris. „Bild“ und „Gestalt“ der Frau im Werk Goethes. In: JbFDH 1989, S. 37-126, S. 38. Vgl. kritisch dazu, mit Erarbeitung eines differenzierten Katalogs der Regelmäßigkeiten in Goethes Figurenzeichnung Hans-Peter Schwander: Alles um Liebe? Zur Position Goethes im modernen Liebesdiskurs. Opladen 1997, S. 185-205 („Frauencharakter“). 110 Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 292 (22. Oktober 1828). 111 So in der Spanne zwischen Helmut Ammerlahn: Aufbau und Krise der Sinn-Gestalt. Tasso und die Prinzessin im Kontext der Goetheschen Werke. New York u. a. 1990, S. 36, und Schmitz-Burgard: Das Schreiben des anderen Geschlechts, S. 171ff. 112 Acht Auflagen bis 1890! Das Anschlußprojekt von Louis Lewes (Goethes Frauengestalten. Stuttgart 1894) blieb dahinter nach Umfang wie Wirkung zurück. 113 Zit. n. Adolf Stahr: Goethes Frauengestalten. 2. Bde. 8. Aufl. Berlin 1891, S. V. Vgl. Friedrich Wilhelm Riemer: Mitteilungen über Goethe. Hg. v. Arthur Pollmer. Leipzig 1921, S. 48, 183, 237f. u. 313f. 114 Vgl. dazu Konstanze Bäumer: Bettine, Psyche, Mignon – Bettina von Arnim und Goethe. Stuttgart 1986, S. 118ff. 115 Stahr: Goethes Frauengestalten, S. III u. 14.

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das Werk, in dem sie auftreten, die maßgebliche Inspirationsquelle bilden. Dazu fügte er eine quasireligiöse Tingierung, die nur die celeste, nicht aber zugleich die tellurische Seite dieser Musen unterstreicht und sie – ohne Sinn für den naheliegenden Abgrund – zu Marmoridolen im erhabenen Tempel der Schönheit und Wahrheit erklärt.116 Die hinter solcher Emphase regierende Auffassung von der Harmonie und Positivität des Goetheschen Klassizismus (im weiteren Sinn einer lebenslangen, schon in der Leipziger Zeit geprägten Grundhaltung) erkennt zwar in den Fragen des Subjekts bereits ein dringliches Thema, sieht das „eigentliche Selbst“117 indes nur gefährdet, um es sogleich zu retten. Da „Wirklichkeit und Idealität“ in diesen Gestalten „auf das Schönste vermählt“118 sein sollen, werden sie von Stahr über das im Text Gegebene hinaus lebhaft ausgemalt und zur tieferen psychologischen Anteilnahme präpariert. Einige zentrale Annahmen Stahrs nahm Hermann August Korff trotz gewisser Umakzentuierungen in die geistesgeschichtliche Goethe-Forschung hinüber. Die weiblichen „Dichtungsgestalten“, in denen Goethes Poesie stets am dichtesten sei, sollen Zeugnis von der Souveränität seines Genius ablegen. In Mignon, Ottilie und Makarie, Signaturen des reinsten Idealismus, sei der tiefste Geist des jeweiligen Werkes symbolisch dargestellt.119 Mignon, eines jener weiblichen Naturgeschöpfe Goethes, das in tiefer unzerstörbarer Harmonie mit der Welt lebe, repräsentiere die letztlich unbefriedigende „Schönheitsidee“.120 Ottilies Vernichtung, als solche eingestanden, sei als Erwachen zu ihrem „Selbst“, dem „wahre[n] Gesetz ihres Wesens“ zu lesen.121 Makarie schließlich erschien Korff im Licht von Goethes Hegelund Fichterezeption als individuierte Idee des Ganzen und als menschgewordene Weltvernunft.122 – Breiten Raum widmete der Figurenanalyse auch die Goethe-Erzählforschung der Werkimmanenz, insbesondere Ernst Beutlers und Gerhard Storz’: dadurch begründet, daß Goethes Kunst der narrativen Sinnbildlichkeit unlöslich an die literarischen Gestalten gebunden sei, und wiederum mit dem Akzent auf „eigentümlich weibliche[n] Erscheinungsformen“123 in Goethes Romanen. Wie Mignon und Aurelie seien sie „Maßstab […] für die innere und äußere Fülle“124 der Texte und befriedigten alle Forderungen an poetische Menschendarstellung. Als Verwirklichung des 116 117 118 119 120 121 122 123 124

Ebd., S. 1. Ebd., S. 17. Ebd, S. 20. Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. 4 Bde. Leipzig 1966 (zuerst 1923-53), Bd. 2, S. 340, u. Bd. 4, S. 652. Ebd., Bd. 2, S. 336ff. Ebd., S. 362f. Ebd., Bd. 4, S. 652f. Gerhard Storz: Aurelie. In: Ders.: Goethe-Vigilien. Oder Versuche in der Kunst, Dichtung zu verstehen. Stuttgart 1953, S. 126-135, hier S. 127. Ebd., S. 126.

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Prinzips der „Stellvertretung des Ganzen im Teil“125 bilden sie demnach symbolische Verdichtungsräume der Narration. Bis dahin laborierte die Interpretationsgeschichte an der Spannung, die weltanschauliche Repräsentativität und ästhetische Objektivität zugleich mit der „ausgeprägte[n] Individualität“126 der Figuren zu behaupten. Beschwor Korff solche Frauengestalten wie Ottilie und Makarie noch als Exponenten eines „sittlichen Selbst“127, mithin als die ungetrübtesten ethischen Subjekte, kam erstmals mit Karl Schlechtas grundstürzender Umwertung des MeisterKomplexes das Phänomen personaler Desintegrationen in den Blick. Die psychohygienische Gesundheitskultur der Turmgesellschaft und des Auswandererbundes fordert das Opfer derjenigen, die unter dem Gesetz verschiedener, subjektökonomisch unerlaubter Extremwerte wie körperlichem Verfall und Verflechtungen mit der Natur stehen. In Makarie gelangt diese Nicht-Identität auf einen Grad, der sie zu einem Feld der subjektpoetischen Instabilität macht: „Figuren, deren Kontur und Ton wir fest glaubten“ (gemeint sind vor allem Wilhelm, Philine und Lydie), „verschwimmen und verfärben sich“ bei der Begegnung mit ihr.128 – Von der bewundernswerten Kompromißlosigkeit Schlechtas spannt sich ein Bogen zu dekonstruktivistisch-diskursanalytischen Arbeiten wie Jochen Hörischs Ottilie-Studien und Michael Wetzels MignonOpus, das in manchem Hörischs Lehrjahre-Analyse und den Umrissen einer „anderen Goethezeit“ verpflichtet ist.129 Goethes außerordentliche Verrätselung der beiden Charaktere gereicht in diesem Rahmen zum Anknüpfungspunkt für eine an Jacques Lacan geschulte Kritik der Identitätsphilosophie und für Analysen der Ichverstörung und Psychotisierung. An Mignon, die analog zu Ottilie einen Prozeß der „Exkommunikation“ aus der Zeichenordnung durchlaufe, vollziehe sich ein Stellvertretungsopfer für das Gelingen von Wilhelms Individuation.130 Ottilie, Hüterin eines antihermeneutischen „Schweigemysteriums“, suche auf ihren Status als aussagendes und ausgesagtes Subjekt zu verzichten.131 Zur Körper- und Mediengeschichte hin 125 Gerhard Storz: Mignons Bestattung. In: Ders.: Goethe-Vigilien. Oder Versuche in der Kunst, Dichtung zu verstehen. Stuttgart 1953, S. 136-148, hier S. 136. 126 Ebd. 127 Korff: Geist der Goethezeit, Bd. 4, S. 653. 128 Karl Schlechta: Goethes ‚Wilhelm Meister‘. Frankfurt/M. 1953, S. 96. 129 Michael Wetzel: Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit. München 1999. Für die Querelen um die damit aufgerufene poststrukturalistische Ich-Kritik, deren Thesen über den Tod des Subjekts in der Tat nicht neu waren, sei hier nur auf die kritische Abrechnung von Manfred Frank (Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Frankfurt/M. 1986) verwiesen. Frank selber versucht einen Standpunk irreduzibler individueller Bewußtseinsreste festzuhalten, der sich nicht den Schwierigkeiten der klassischen Paradigmen der Subjektphilosophie aussetzen soll (vgl. S. 17). 130 Wetzel: Mignon, S. 57. 131 Jochen Hörisch: „Die Himmelfahrt der bösen Lust“ in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. Versuch über Ottiliens Anorexie. In: Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hg. v. Norbert W. Bolz. Hildesheim 1981, S. 308-321; überarbeitet als

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öffnet sich Wetzels Mignon-Analyse, die Goethes Figur als prototypische Realisierung des Metatexts „Kindsbraut“ nimmt und als Schnittfläche unterschiedlichster Wissenskreise auszeichnet: Naturphilosophie und Pädagogik (insbesondere Pubertätstheorien), Mythologie und Pathologie, Pflanzen- und Schmetterlingskunde. Zumal ihre äußere Erscheinung folge einer Bildästhetik, die Kindermaler wie Jean Baptiste Greuze und deren Interpreten, darunter Denis Diderot, geprägt haben. Das Phantasma der Kindfrau unterwerfe die monströsen Wahnbilder des Weiblichen einem „Miniaturisierungsprozeß“132, der die verstörende Tatsache, daß es sich auf Unterscheidungslogiken basierenden Ordnungsprozessen (‚Kind‘ – ‚Erwachsene‘ etc.) entzieht, goutierbar macht. – Skeptisch gegen die Pathologieversessenheit solcher Nachzeichnungen äußerte sich Hans-Jürgen Schings insbesondere in zwei Aufsätzen, welche die Gestalt Natalies autopsierten.133 Den verbreiteten Befund ihrer ‚Blässe‘ zurückweisend, bestimmte er sie als Trägerin vor allem seelenkundlich-schwärmeranalytischer Bedeutungen: Sie binde Wilhelms produktive Einbildungskraft und seine unwillkürlichen Gedankenverknüpfungen, vermittle ihn an eine spinozistische Ethik des memento vivere und sei zuletzt selber, „ihrer Identität vollendeten Ausdruck“134 gebend, das Heilmittel gegen seine Hypochondrie und Melancholie; dies alles im Widerspiel zur Ottilie der Wahlverwandtschaften, die weder als Heilungsinstanz noch als Geheilte erscheint, sondern als unter dem Ansturm niederer Seelenkräfte verlorene magnetische Somnambule.135 Schings’ Interpretation verpflichtet, leuchtete Monika Fick das „dunkle Rätsel Mignon“136 aus: als „Verkörperungsfigur“ von Wilhelms jugendlichem Lebensgeist und als Genius der Poesie, der Wilhelms humorale Stockungen mehrfach therapeutisch zu lösen vermag, vor dessen „Existie-

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„Die Himmelfahrt der Bösen Lust“ – Ottiliens Anorexie, Ottiliens Entsagung. In: Ders.: Die andere Goethezeit – Poetische Mobilmachung des Subjekts um 1800. München 1992, S. 149-160, hier S. 150f. u. 159. Wetzel: Mignon, S. 14. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Wilhelm Meisters schöne Amazone. In: SchJb 29 (1985), S. 141-206, sowie Natalie und die Lehre des †††. In: JbWGV 89/91 (1985/87), S. 37-88. Schings: Wilhelm Meisters schöne Amazone, S. 205. Einen wichtigen Referenzpunkt dieses Heilungsoptimismus bildet die Arbeit von Ivar Sagmo: Bildungsroman und Geschichtsphilosophie. Eine Studie zu Goethes Roman ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. Bonn 1982: Natalie sei „als ein entwicklungsgeschichtliches Produkt“ der „Endpunkt der sich steigernden Reihe von Frauengestalten“ in den Lehrjahren. Während Mignon und Aurelie im Stadium der „Weltlosigkeit des Geistes“ stünden, werde in ihr das „Telos der Menschheitsgeschichte“ postuliert: die „Überwindung der Dichotomie von Welt und Geist“ (S. 233f.). Sagmo verpflichtet ist auch Ingrid Ladendorf (Zwischen Tradition und Revolution. Die Frauengestalten in ‚Wilhelm Meisters Lehrjahren‘ und ihr Verhältnis zu deutschen Originalromanen des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1990): Die „unübersehbare Konnotation mit dem Fortschritt erhebt die Frauen zum Symbol für Goethes Lieblingsvorstellung, der Evolution“ (S. 155). Vgl. Hans-Jürgen Schings: Willkür und Notwendigkeit – Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ als Kritik an der Romantik. In: Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft 1989, S. 165-181. Schings: Natalie und die Lehre des †††, S. 37.

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ren im Paradoxen“ (womit auch die Widersprüche der Charakterzeichnung gemeint sind) er jedoch letztlich bewahrt werden muß.137 Außer den poststrukturalistischen Deutungen schlossen besonders häufig diejenigen feministisch-geschlechtertheoretischen Arbeiten an Schlechtas ‚Dekonstruktionen‘ an, die Goethe als den Hauptverantwortlichen eines oppressiven bürgerlichen Frauenbildes ins Visier nahmen: In diesem Forschungsareal galten Goethes Weiblichkeitsfiktionen teils als „das Material, in dem die […] Unterdrückungsverhältnisse der Frau in ästhetischer Form dargestellt werden“138, teils hat man die „sterile Idealisierung von Weiblichkeit im Patriarchat“ und die damit verbundene „Ablehnung und Ausgrenzung ihres Selbst“ (einschließlich der Vereinnahmung des Weiblichen durch männliche Interpreten) moniert.139 Im Dienst der Einklagung eines weiblichen Subjekts stand die Beobachtung, Goethes Weiblichkeitsideal erfülle sich in dienstbarer Selbstaufgabe der Frau: Im Figurenmodell Ottilies vollziehe sich die „freiwillige Negation seiner selbst“.140 Optimistischere Auslegungen wollten Goethe „durchaus für einen feministischen Autor“ halten,141 dessen Frauenfiguren die „Führungsrolle“ für eine „humane Zukunft“ zukomme.142 Namentlich Mignon, Ottilie und Makarie codieren in dieser Sicht Verunsicherungs- und Veränderungspotentiale, welche die herrschende Geschlechterordnung (allein schon das Zwei-Geschlechter-Modell), die Vaterwelt der Bildung und damit gesellschaftlich konventionalisierte Identitätsangebote zu provozieren geneigt sind.

137 Vgl. Monika Fick: Das Scheitern des Genius. Mignon und die Symbolik der Liebesgeschichten in ‚Wilhelm Meisters Lehrjahren‘. Würzburg 1987, Zitate S. 83 u. 90. Vgl. die Vorarbeit Mignon - Psychologie und Morphologie der Geniusallegorie in ‚Wilhelm Meisters Lehrjahren‘. In: Sprachkunst 13 (1982), S. 3-49. 138 Anneliese Dick: Weiblichkeit als natürliche Dienstbarkeit. Eine Studie zum klassischen Frauenbild in Goethes ‚Wilhelm Meister‘. Bern 1986, S. 10. 139 Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Die ‚Bekenntnisse einer schönen Seele‘. Zur Ausgrenzung und Vereinnahmung des Weiblichen in der patriarchalen Utopie von ‚Wilhelm Meisters Lehrjahren‘. In: Verantwortung und Utopie. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1988, S. 70-86, Zitate S. 74, 83 u. 85. 140 Dick: Weiblichkeit als natürliche Dienstbarkeit, S. 126. Über Ottilie als einen Fall von Anorexia nervosa, in dem es in Wirklichkeit um verweigerte Identität gehe, vgl. auch Anna Richards: Starving for Identity. Wasting Women in German Literature 1775-1820. In: GLL 50 (1997), S. 417-428. 141 So Schmitz-Burgard: Das Schreiben des anderen Geschlechts, S. 179. Programmatisch gibt sich hier auch die Einleitung: „zur Debatte steht hier, ob und inwieweit das Schreiben des anderen Geschlechts und die Ideen in den Romanen Richardsons, Rousseaus und Goethes entgegen vorherrschenden Leseweisen zu gegenwärtigen Versuchen seitens FeministInnen beigetragen haben, Gleichberechtigung als ‚Gleichheit ohne Angleichung‘ zu verstehen und anzustreben“ (S. 10). – Prominent bereits auch von Katharina Mommsen (Goethe as Precursor of Women’s Emancipation. In: Goethe Proceedings. Hg. v. Clifford A. Bernd. Columbia 1984, S. 51-65) vertreten. 142 So Ladendorf: Zwischen Tradition und Revolution, S. 154f. Vgl. auch die ausgewogene Interpretation von Jill Anne Kowalik: Feminine Identity Formation in ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. In: MLQ 53 (1992), S. 149-172.

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c) Erzählordnungen Goethes Erzählwerk, über den Zeitraum eines halben Jahrhunderts entstanden, zeichnet sich durch eine stupende Variabilität aus, als seien die Texte mindestens von einer „Doppelperson“143 verfaßt. Hatten sich mehrere ältere Forschungsformationen angesichts dieser Vielgestalt zu Kartierungsversuchen veranlaßt gesehen, die insbesondere an den Polen von narzißtischer Thanatologie (Werther, Wahlverwandtschaften) und sozialintegrativer Lebensethik (Wilhelm Meister, Unterhaltungen) ausgerichtet waren, erfolgte die fortgesetzte innere Differenzierung der Goethe-Erzählforschung um den Preis, das möglicherweise Zusammenhängende und Verbindende der Texte – das von Goethe anderweitig so bewunderte Phänomen der „geeinte[n] Zwienatur“ (7/1,459) im Verhältnis von Einzelnem und Ganzen144 – aus den Augen zu verlieren. Auf solche Dialektik des Fortschritts reagierte eine Anzahl von zum größeren Teil hochkarätigen Forschungsbeiträgen, die Goethes Erzählen in eine umfassendere Ordnung zu bringen suchten. Wegen seines zeitweilig paradigmatischen Charakters ist hier zuerst an den formgeschichtlichen Ansatz von Paul Böckmann zu erinnern, der Goethes Romane (und a limine nur die Romane) in einem präzisen Verständniszusammenhang sah. Ihre teleologische Konsequenz bestünde am Leitfaden des Bildungsproblems darin, daß „auf dem Weg vom Werther zu den Wanderjahren die Frage nach der Bestimmung des Menschen in immer weitere Horizonte rückt“.145 Der Behauptung formaler Integrität, die den Solitärstatus der einzelnen Texte nur relativiert, um auf höherer Ebene eine umso machtvollere Einheit wieder einzuführen, entspricht Böckmanns Okkupation für einen starken Subjektbegriff: „das Bewußtsein, einer Bestimmung zu folgen“, vermittle Goethes exemplarischen Menschen eine gestaltende Kraft, die sie „über den Wechsel der Gefühlszustände hinweg auf den Zusammenhang“ ihrer „individuellen Existenz“ verweise.146 Ebenfalls in solch harmonieverpflichtetem Modell der Steigerung bewegt sich Eric Blackalls immer noch wichtige Monographie über Goethe and the Novel. Als das gemeinsame Anliegen der Romane wie jetzt auch der Novelle Novelle wird hier die Suche nach befriedigenden Lebensordnungen identifiziert.147 Die Protagonisten scheitern oder reüssieren demzufolge in Strategien versichernder Selbstverortung. Makarie 143 Wachsmuth: Geeinte Zwienatur, S. 65. Vgl. Hans Rudolf Vaget: Goethe the Novelist. On the Coherence of His Fiction. In: Goethe’s Narrative Fiction. Hg. v. William J. Lillyman. Berlin u. a. 1983, S. 1-20, hier S. 2. 144 Vgl. Wachsmuth: Geeinte Zwienatur, S. 26-56. 145 Paul Böckmann: Formensprache und Formenwandel in Goethes Romanen. In: Literary History and Literary Criticism. Hg. v. Leon Edel. New York 1965, S. 111-123, hier S. 122. 146 Ebd., S. 118. 147 „They are concerned with a wider conception of order, of which social order is a part, but only a part“ (Eric A. Blackall: Goethe and the Novel. Ithaca 1976, bes. S. 14f.).

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repräsentiere den höchsten, kosmischen Ordnungssinn, der seine Vorläufer (unter anderem genieästhetischer, künstlerischer und liebessemantischer Art) überschreite und in sich aufhebe. Festzuhalten ist an diesem Ansatz vor allem, daß er zurecht die unhaltbare Gegenstandsbeschränkung auf Goethes Romane aufgibt, die sich niemals konsequent aufrecht erhalten ließ und zwangsläufig, meist jedoch unkontrolliert zum weiteren Horizont von Goethes Erzählprosa hin überschritten wurde. Hinter diesen Stand fällt (bei allen Verdiensten) das große sozialhistorisch fundierte Kompendium Stefan Blessins zurück: Die Romane Goethes bzw. dessen Überarbeitung Goethes Romane. Eine seiner anregendsten und engagiertesten Thesen besagt, daß die betreffenden Texte – der progressivste Teil von Goethes Schaffen – als das breitgefächerte Panorama einer Achsen- und Übergangszeit das größte zusammenhängende Werk der deutschen Literatur darstellt: eine vielgliedrige, durchkomponierte Einheit. „Im Verhältnis zum ‚Faust‘ […] sind die Romane ein jungfräuliches Massiv, selten in voller Höhe erklommen und als zusammenhängender Gebirgszug kaum erschlossen“.148 Die Begründung bewegt sich freilich in den Grenzen des zugrundeliegenden Paradigmas. Die Romane sollen Etappen der bürgerlichen Geschichte abbilden, den Übergang von noch ganz an die Person gebundene Beziehungen zu den mittelbaren Verhältnissen einer in wachsendem Maß arbeitsteiligen Gesellschaft.149 Daß damit weitzielende Fragen hinter ihrer eigenen Ambition zurückbleibende Antworten finden, trifft ebenso auf die Studie Hans Rudolf Vagets, Goethe the Novelist. On the Coherence of His Fiction, zu. „There are reasons to believe that Goethe’s novels, their great disparity notwithstanding, actually deal in various forms with the same subject matter. What are his basic themes? Why did he return to them again and again?”150 Der Hauptgesichtspunkt von Vagets bedeutender Untersuchung zum Dilettantismusproblem bei Goethe151 muß nun nochmals das Stichwort liefern, ohne daß das Konzept diese Überdehnung aushielte. – Über die Perspektiveinschränkung auf den motivisch-thematischen Zusammenhang von Goethes Romanen gingen die im einzelnen sehr unterschiedlichen, aber durchtragend poetologisch und semiologisch interessierten Studien von Heinz Schlaffer, Jochen Hörisch und Helmut Pfotenhauer hinaus. Bestimmend und verbindend für Goethes epische Großform sei, so Schlaffer in seinem zum Forschungsklassiker avancierten Aufsatz über Esoterik und Exoterik, der Gegensatz von offenem und

148 Vgl. Stefan Blessin: Goethes Romane. Aufbruch in die Moderne. Paderborn 1996, S. 383. 149 Ebd., S. 396. 150 Vaget: Goethe the Novelist, S. 7. Ausgangspunkt dieser Fragen ist die von Vaget konstatierte mangelnde weltliterarische Würdigung von Goethes Romanen. Ihre Kohärenz herauszustellen, sei Bedingung ihrer diesbezüglichen Aufwertung. 151 Hans Rudolf Vaget: Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe. München 1971.

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verstecktem Sinn.152 Im Inneren der Texte, das namentlich mythologischer Art ist, artikuliere sich gegen den Anschein der blendenden Vorbauten eine dezidierte Kritik des aufklärerischen Selbstbewußtseins. Goethe erhebt, mit anderen Worten, versteckte Einwände gegen die idealistischen Standards, die er selber zu vertreten scheint und zu denen die Unantastbarkeit des Individualitätsgedanken zählt. Hörisch verknüpfte das Gestaltungsverfahren der doppelten, esoterisch-exoterischen Optik mit einer Untersuchung des Rätselmotivs in Goethes Romanen, die zwischen den Einzeltexten Brücken schlug. Dabei stelle sich eine tragende Koalition zwischen Goethes Vorliebe für Kryptogramme, die Hörisch zufolge die Struktur des Lebens symbolisieren sollen, und der Präsentation weiblicher Charaktere, voran Mignon, Ottilie und Makarie, heraus.153 Pfotenhauer schließlich autopsierte, Novelle und Roman vermittelnd, die Funktion des novellistischen Augenblicks in Goethes Romanen. Die Kohärenz von Goethes Erzählen erscheint hier nicht mehr allein unter einer Form von Konstanz, sondern ebenso in seiner Komplementarität,154 exemplarisch anhand der novellenaffinen Engführung von Bild und Einbildung im Konkurrenzverhältnis zu den Bildungsanläufen, die den weiteren Raum des Romans verlangen. In dieser Absicht durch Goethes Erzählwerk vorgenommene Längsschnitte, insbesondere entlang der Tableau-vivant-Motivik, legten vornehmlich im Umkreis Mignons und Ottilies die wiederholte Interventionen der Erstarrung in Projekte der Entwicklung frei. Neben den anspruchsvollen Programmen, an Goethes Erzählproduktion etwas Aufeinander-Bezügliches und Unabgeschlossen-Fortlaufendes zu erweisen, traten Studien mit geringerer Reichweite auf den Plan, die gewisse Reprisen und Doublierungen zwischen den Texten registrierten. So hat man in Sperata, Mignons Mutter, in fast jeder Beziehung eine frühere Fassung Ottilies erkannt155 sowie aus Responsionen zwischen ihnen, der 152 Schlaffer: Exoterik und Esoterik, S. 214f. 153 Vgl. Jochen Hörisch: „Das Leben war ihnen ein Rätsel“. Das Rätselmotiv in Goethes Romanen. In: Euph. 78 (1984), S. 111-126. „‚Hier ist das Rätsel‘ – mit diesen Worten stellt Philine in Wilhelm Meisters Lehrjahren nicht etwa ein Sprachgebilde vor, sondern zieht Mignon zur Türe von Wilhelms Wohnung herein“ (S. 119). Von dort erstrecke sich das Begriffsareal von Rätsel, Verwirrung und Auflösung über Ottilie, deren Schweigen sich nicht ‚auflösen wollte‘, bis zu Makarie als der ‚unsichtbar gewordenen Ursibylle‘. Vgl. die überarbeitete Fassung: „Das Leben war ihnen ein Rätsel“. – Offenbare Geheimnisse und verborgene Rätsel in Goethes Romanen. In: Ders.: Die andere Goethezeit – Poetische Mobilmachung des Subjekts um 1800. München 1992, S. 172-188. 154 Vgl. Pfotenhauer: Bild versus Geschichte, S. 45f.: „Hier soll gezeigt werden, daß alle diese Erzählkomplexe und Erzählweisen [...] einander ergänzend und gegenübertretend aufeinander bezogen sind – so, daß sie nicht so sehr im Verhältnis von Fortschritt oder Überbietung zueinander stehen, sondern vor allem in dem der Konfiguration“. 155 Vgl. Humphry Trevelyan: Ottilie und Sperata. In: GJb 1949, S. 78-80. Leider fallen die Folgerungen sehr ins Konventionelle zurück: „Auch hier wollte Goethe eine Frau darstellen, die der unbedingten Hingabe an die Leidenschaft und zugleich der völligsten Unterwerfung des eigenen Willen unter die Forderungen des Sittlichen fähig ist“ (ebd., S. 80).

Forschungspositionen

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‚schönen Seele‘ und Makarie (etwas larmoyant, aber nicht unrichtig) das Modell von Goethes „leidenden Frauen“ rekonstruiert.156 Ferner wurden Analogien zwischen Mignon und der Neuen Melusine eruiert, um die beiden Gestalten als kulturelle Präsentationsformen des Weiblichen in Anlehnung an mythologische Präfigurationen zu lesen.157 Mignon, Ottilie und Makarie, so zeigte sich an anderer Stelle, teilen als „Goethe’s speechless women“ das Motiv der Aphasie, so daß sie in einer ‚transzendentalen Position‘ an den Grenzen der Sprache stünden.158 Darin setzten sich ältere Bemühungen um diese Figurentrias fort, ihr das Verbindende einer „cognitio intuitiva“ zuzuschreiben.159 Ebenfalls in unermüdlichem Interesse an Goethes Weiblichkeitsimaginationen suchte Helmut Ammerlahn, methodisch im Sinn einer verfeinerten Parallelstellentechnik, nach dichterischen Gestalten, die einander gleichen und deren Deutung man mit Hilfe solcher Gleichungen oder „Symbolkonfiguration“ näherkommen können soll.160 Als durchaus unratsam erweist sich hierbei die vollständige Vernachlässigung aller Gattungsgrenzen: Indem die Analyse über das eigengesetzliche Areal des Erzählwerks allzu sehr ins Weite hinaus greift, besitzt der kleinste gemeinsame Nenner zwischen den weiblichen Gestalten, den vermeintlichen Wertträgern, wenig Aufschlußkraft mehr. Daß sich Goethes Verständnis der Figurenarchitektur im Licht seiner Symbolauffassung erschließt, muß bezweifelt werden. Außerdem setzt das Vorhaben, mit Hilfe der Konfigurationsanalyse „sogenannte ‚Widersprüche‘ der Goetheschen Charaktergestaltung beheben“161 zu wollen, subjekt- und erzählpoetische Stimmigkeitsvorstellungen voraus, die – wie sich noch zeigen wird – außerordentlich anfechtbar sind.

156 Vgl. Robert R. Heitner: Goethe’s Ailing Women. In: MLN 95 (1980), S. 497-515. 157 Vgl. Konstanze Bäumer: Wiederholte Spiegelungen. Goethes ‚Mignon‘ und die ‚Neue Melusine‘. In: Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretationen und Rezeption. Hg. v. Gerhart Hoffmeister. New York u. a. 1993, S. 113-134. 158 Ulrike Rainer: A Question of Silence: Goethe’s Speechless Women. In: Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretationen und Rezeption. Hg. v. Gerhart Hoffmeister. New York u. a. 1993, S. 101-112, hier S. 102f., 104f. u. 108. 159 Bemerkenswert hierzu Julius Schiff: Mignon, Ottilie, Makarie im Lichte der Goetheschen Naturphilosophie. In: GJb 1922, S. 133-147. 160 Ammerlahn: Aufbau und Krise der Sinn-Gestalt, S. 33 u. 36. Ähnlich Hans Eichner: Greatness, Saintliness, Usefulness: Character Configurations in Goethe’s Œuvre. In: Goethe’s Narrative Fiction. Hg. v. William J. Lillyman. Berlin u. a. 1983, S. 38-54: Eichner stellt als Lücke in der umfangreichen Goethe-Literatur die Diskussion von Verbindungen zwischen den individuellen Werken fest, ein „crossing over“ (S. 44), dem er an Goethes „saintly women“, den Idealen „reiner Menschlichkeit“ (S. 49), vorarbeitet. Zum Konfigurationsbegriff bereits Gerhard Neumann: Konfiguration. Studien zu Goethes ‚Torquato Tasso‘. München 1965, S. 64-66 („Konfiguration. Gruppe und Kaleidoskop“). 161 Ammerlahn: Aufbau und Krise der Sinn-Gestalt, S. 12f.

I. „Unzählige Combination und Modification“ Goethes Erzählsystem und die Aporien der Textidentität 1. Analogien und genetische Entwicklungen Goethes immanente Subjektkritik, seine poetische Artikulation der Zweifel am principium individuationis, findet – so die Leitthese des Folgenden – adäquat durch eine Erzählpoetik hindurch Ausdruck, welche die Grenzen zwischen den einzelnen Texten zu perforieren und Textgrenzen überschreitende Zusammenhänge herzustellen geneigt ist; wohlgemerkt ohne daß dabei ein neues Kontinuum, eine Einheit auf höherer Ebene, entstünde. Das „stückweise“ Erzählen, mit dem Goethe selber seine narrative Technik beschreibt,1 transportiert ein Ich, das sich – wie initialer- und paradigmatischerweise Werther – als „zerstükt“ (8,30) erlebt. Im Modus eines ornamental durchbrechenden und verflechtenden Erzählens stellt sich – wenn anders die Einheit einer Person als die Einheit einer erzählten oder erzählbaren Geschichte aufzufassen ist2 – gleichsam eine durchbrochene Personalität her, die das emphatische Individualitätsethos des Zeitalters im Grunde denunziert. Die hier avisierten Überbrückungen entstehen durch kalkulierte Ideen- und Motivverknüpfungen im Rahmen einer sozusagen werkimmanenten Intertextualitätsstrategie Goethes, d. h. durch die Konstitution von Isotopien oder Problemkonstanten, deren interne Homogenität die Homogenität der einzelnen Erzählprojekte aufbricht.3 Wenn man mit Wolfgang Iser Intertextualität als Selektionsakt auffaßt, der statt ins außersprachlich Reale in andere Texte eingreift, und davon den Kombinationsakt abhebt, durch den das Selegierte verknüpft wird,4 so wäre das Bauprinzip des Goetheschen Erzählsystems als ein Mittleres zu betrachten und zutreffend als Konfigurationsakt zu bezeichnen. Zugleich sind die Isotopien (wie der Leibdiskurs oder der Melusinenkomplex, vgl. unten IV u. V) auch thematisch von wesentlich subjekttheoretischer Relevanz. Die solchermaßen als ein Grundzug von Goethes Erzählen gegebene Iterativität einiger bestimmter idées fixes ist schwerlich den Grenzen seines Repertoires, umso weniger dem Zufall geschuldet. Vielmehr schlägt sich in ihr das Phänomen der Verschränkung und Korrelierung von Goethes Romanen und ihrer kleineren Begleiter zu einem 1 Vgl. Lämmert: Goethes empirischer Beitrag zur Romantheorie, S. 30. 2 So im Anschluß an Ricœur Meuter: Narrative Identität, S. 10. 3 Zum Isotopiebegriff vgl. Greimas: Strukturale Semantik, bes. S. 60-92 („Die Isotopie der Rede“). 4 Vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M. 1991, S. 388-390.

Analogien und genetische Entwicklungen

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Erzählsystem nieder – System verstanden als ein semiotisch konstruiertes semantisches Universum mit festen Beziehungen (Isotopien) zwischen seinen konstituierenden Elementen unter dem ständigen Zufluß neuer Informationen (beispielsweise den Reflexen subjektphilosophischer Entwicklungen, vgl. unten III).5 Unter den konstituierenden Elementen ragen diejenigen literarischen Figuren heraus, die wie Mignon, Ottilie und Makarie mit ihrem Ursprung in Werther als geheimnisträchtige Revenants agieren und nur wie in einem Spiegelkabinett zu haben sind. Die Beschreibung dieses Erzählsystems, seiner Genese und Funktionsweise, sowie die Analyse von Goethes Figurenpoetik (vgl. unten II) und seiner narrativen Subjektverhandlungen bedingen einander. Das Aufspüren von Ähnlichkeiten und Sympathien, das Vergleichen und Ins-Verhältnis-Setzen, kurz: die Denkbewegungen der Analogie, gehören zu Goethes originären Erkenntnisverfahren.6 Er hält sie für so bedeutend, daß er ihr eine eigene Art der Einbildungskraft beimißt: Die Imagination „ist zuerst nachbildend, die Gegenstände nur wiederholend. Sodann ist sie productiv, indem sie das Angefaßte belebt, entwickelt, erweitert, verwandelt. Ferner können wir noch eine umsichtige Einbildungskraft annehmen, die sich bey’m Vortrag umherschaut, Gleiches und Ähnliches erfaßt, um das Ausgesprochene zu bewähren. Hier zeigt sich nun das Wünschenswerthe der Analogie, die den Geist auf viele bezügliche Puncte versetzt, damit seine Thätigkeit alles das Zusammengehörige, das Zusammenstimmende wieder vereinige“.7 Diese „Geistesoperation[ ]“8 empfiehlt sich zugleich als Leseanleitung für die Erzählprojekte und als tragendes Prinzip ihrer Deutung. So lesen und kommentieren die Wanderjahre das Gesetz ihres Erzählens selber mit der Bemerkung: „Analogie hat den Vorteil, daß sie nicht abschließt und eigentlich nichts Letztes will; dagegen die Induktion verderblich ist, die einen vorgesetzten Zweck im Auge trägt und, auf denselben losarbeitend, Falsches und Wahres mit sich fortreißt“ (10,571). Das Verfahren der Analogie wird als ein Drittes zwischen Induktion und Deduktion entworfen. Und es ist keineswegs erst ein Proprium des späten Goethe, sondern findet sich bereits seit 1794 – koevolutionär zu entscheidenden erzählpoetologischen Reflexionen Goethes – in den umfangreichen, zu Lebzeiten unveröffentlichten Aufzeichnungen entwickelt.9 Auf die literaturwissenschaftliche Methodik gewendet, erteilt das Analogieverfahren selbstverständlich nicht die Lizenz, jegliche Gattungs- und Phasenunterschiede zur Hypostasierung einer großartigen, 5 6 7 8 9

Vgl. Greimas: Strukturale Semantik, S. 84. Vgl. Émile Callot: La philosophie biologique de Goethe. Paris 1971, S. 46. An Carl Ludwig von Knebel, 21. Februar 1821 (WA IV 34,137). Ebd. Vgl. FA I 24,176-214.

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in der Integrität von Goethes Person verbürgten Werk- oder auch nur Erzählwerktotalität aufzuheben. Es gilt vielmehr die Balance zu halten, zu der wiederum die Wanderjahre ermahnen: „Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles in’s Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überlebendig, das andere Mal als getötet“ (10,575). Das Erkenntnisverfahren der Analogie hat Goethe an dasjenige der Genealogie gekoppelt: „Die Fähigkeit ähnliche Verhältniße zu entdecken, wenn sie auch noch soweit auseinander liegen, und die Genesen der Dinge aufzuspüren hilft mir“, so Goethe, „auserordentlich“.10 Analogien rühren offenbar nicht unwesentlich von entstehungsgeschichtlichen Nachbarschaften her. Folglich vermag die genealogische Analyse der Analyse der Analogien zuzuspielen. Im Brief an Carl Friedrich Zelter vom 4. August 1803 fordert Goethe Verständnis für „meine genetische[n] Entwicklungen“: „Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen.“11 Diese Aufforderung verlangt danach, an den philologischen Leser adressiert zu werden. Sie verweist dann auf die Notwendigkeit, die verschlungenen Entstehungsgeschichten von Goethes Erzählprojekten auf eine Weise zu rekonstruieren, die nicht auf die Feststellung äußerer Daten vor aller Textdeutung zielt,12 sondern auf analogiebegründende und somit verschlingungsträchtige Koevolutionen. Die zumeist weiten Publikationsabstände zwischen Goethes Erzählprojekten – von 1774 auf 1795/96, 1809, 1821 und 1829 – legen eine Separierung nahe, die durch die genetische Betrachtung alles andere als bestätigt wird. Tatsächlich entstehen die Romane und ‚kleinen Erzählungen‘ teils im selben Kontext, teils gehen sie auseinander hervor, teils sind sie durch eine unterschwellige Arbeitskontinuität verbunden. Ungewöhnlich oft erscheinen Vor- und Zwischenstufen, erste und zweite Textteile, findet eine erste Fassung ihre Variation in einer zweiten. Die Goethekritik, schon die zeitgenössische, hat dahinter handfeste literaturpolitische Dominanz- und ökonomische 10 An Herder, 29. Dezember 1786 (WA IV 8,108). 11 An Zelter, 4. August 1803 (WA IV 16,265f.). 12 Dafür [Johann Wolfgang Goethe]: Goethe über seine Dichtungen. Hg. v. Hans Gerhard Gräf. Erster Teil: Die epischen Dichtungen. 2 Bde. Frankfurt/M. 1902, Nachdruck Darmstadt 1967f., bes. Bd. 1, S. 211-240 (Novelle), ebd., S. 316-361 (Unterhaltungen), ebd., S. 362-488 (Wahlverwandtschaften), Bd. 2, S. 493-695 (Werther), ebd., S. 696-1071 (Wilhelm Meister) sowie die Entstehungsberichte in der Frankfurter Ausgabe, bes. 8/909-925 (Werther); 9, 1133-1141 (Sendung); 9, 1247-1273 (Lehrjahre); 9, 1505-1513 (Unterhaltungen); 8/973-978 (Wahlverwandtschaften); 10/777-794 (Wanderjahre). Entstehungsgeschichtliche Forschung mit textdeutendem Anspruch leistet vorbildlich Wolfgang Bunzel: Entstehungs- und Druckgeschichte. Paralipomena. In: Johann Wolfgang Goethe. Wilhelm Meisters Wanderjahre. Frankfurt/M. 1989 (FA I 10), S. 777-851; vgl. ders.: „Das ist eine heillose Manier, dieses Fragmente-Auftischen“. Die Vorabdrucke einzelner Abschnitte aus Goethes ‚Wanderjahren‘ in Cottas ‚Taschenbuch für Damen‘. In: JbFDH 1992, S. 36-68.

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Gewinnabsichten gewittert.13 Charakteristisch zweideutig nimmt sich etwa Goethes Wunsch an Schiller aus, das Märchen der Unterhaltungen zu zwei Teilen in aufeinanderfolgenden Heften der Horen zu drucken, „weil eben bei so einer Produktion eine Hauptsache ist, die Neugierde zu erregen. Es wird zwar immer auch am Ende noch Rätsel genug bleiben“.14 Gewiß könnte solches und ähnliches Gebaren als Spekulation auf den Publikumseffekt gedeutet werden. Statt indes auf außerästhetische, feldsoziologische Ursachen zu rekurrieren, wäre vorderhand einmal zu überprüfen, ob Goethe, indem er Textfelder mutwillig dividiert, multipliziert und filiiert, nicht gezielt Flächen der prismatischen Spiegelung errichtet, Beziehungsnetze spannt und für Verwandtschaften sorgt. Im Hoheitsgebiet des Erzählens scheinen für Goethe keine endgültigen, sondern nur vorläufige Textstadien zu existieren: Projekte, deren Offenheit und Prozeßorientierung aus der Unabschließbarkeit von Deutungsprozessen resultiert. Wenn Goethe solche Proliferation des Erzählens nicht etwa in Handlungsdynamiken verankert, sondern wiederholt daraufhin zuspitzt, „die Figuren […] noch einmal auftreten zu lassen“,15 verweist er damit auf deren Konstruktion als Gegenstand des Deutungsprozesses: auf die Unabschließbarkeit ihrer Identität. In ihr liegt der Impetus zum unendlichen Text, der in der Unform des Romans (die eigentlich dessen Siegeszug begründet) sowie in den eingeübten Wiederholungs- und Variationsstrukturen von Novelle, Märchen und moralischer Erzählung seine adäquaten Medien findet. Die von Goethe zu Druck gebrachten Erzählkomplexe bilden im Strom der Fortschreibungen und Neuschreibungen, der Modifikationen und Revisionen nur begrenzt stabile Gravitationsräume von Motiven, Themen und Verfahren: nur relativ beständige Zusammenhänge, die gerade solange notwendig und abgeschlossen scheinen, als wir nicht auf ihre Anschlußstellen und Verstrebungen, ihre Verbindungen und Beziehungen achten, die sich maßgeblich in den figürlichen Wiedergängern realisieren. Die Einzeltexte neigen folglich nicht ausschließlich zur Totalität, sondern in unterschätztem Maß und in verkannter Weise auch zur Korrelativität. Sie erweisen sich unter einem bestimmten Blickwinkel – nicht anders als die Subjektprojekte, die sie präsentieren – als zur praktischen Orientierung bestimmte, denkökonomische Einheiten, deren Grenzen höchst durchlässig sind. Bereits die texthistorischen Geschicke des Werther liefern wichtige Belege für diese These. Nachdem Goethe den Roman binnen weniger Wochen des Frühjahres 1774 niedergeschrieben hatte, vernichtete er, wie es zu seiner Gewohnheit werden sollte, alle Vorarbeiten (mit Ausnahme eines Entwurfs 13 Zur Verlagsgeschichte von Goethes Werken vgl. Ernst Beutler: Der Ruhm. In: Ders.: Essays um Goethe. 7., vermehrte Aufl. Zürich 1980, S. 598-614; sowie Siegfried Unseld: Goethe und seine Verleger. Frankfurt/M. u. a. 1991, bes. S. 321ff. 14 An Schiller, 3. September 1795 (MA 8/1,105). Charakteristischerweise hat sich Schiller bekanntlich über Goethes Willen hinweg gesetzt. 15 An Schiller, 12. Juli 1796 (MA 8/1,217).

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des Schlusses). Das Kunstwerk hat in seiner Vollendung, d. h. im Schein seiner Notwendigkeit in die Welt zu treten, ohne die in seiner Entstehung sichtbaren Schlacken und Kontingenzen: Es soll uns „durch vollkommene Uebereinstimmung aller Theile […] überzeug[en], daß es nicht anders hätte seyn können“16. Umso stärkere Gründe mußten Goethe bewogen haben, schon diesen ersten größeren Erzähltext mit der Umarbeitung des Karlsbader Sommers 1786 gewissermaßen zu doublieren.17 Daß es bei der zweiten Fassung außer um ideologische Mäßigung insbesondere um formale Glättungen gegangen sei, trifft nur eingeschränkt zu. Sorgt doch ein neu eingezogener Erzählstrang, nämlich die auf zwei Episoden verteilte Geschichte vom wahnsinnigen Bauernburschen (vgl. 8,161-165 u. 203-207), für zusätzliche Digressionen, Verschlingungen und Brechungen. Mit der Einschaltung dieser Novellette (und also nicht erst mit dem Einschluß der Bekenntnisse einer schönen Seele in die Lehrjahre18) hat man die Geburt eines Kompositionsprinzips vor Augen, das seine konsequenteste Ausfaltung in den Wanderjahren findet. Sein spezifischer Effekt besteht vor allem darin, über die Grenzen interner Erzählabteilungen hinweg kalkulierte Verwandtschafts- und Spiegelungsverhältnisse zu installieren. Solche Analogiebildung sorgt in der Folge dafür, personale Identitäten auf erzähllogisch-metaphorische Weise zu verwischen: Werther ‚ist‘ der Bauernbursche. Das Arrangement erschöpft sich indes nicht darin, daß nur dem neuen Text eine partielle „Spiegelgeschichte“19 verliehen würde. Die zweite Fassung bildet als Ganzes eine Spiegelgeschichte, eine Reflexionsgröße für die erste Fassung, von der Goethe unmöglich glauben konnte, daß sie sich aus der Welt schaffen ließe, sondern mit deren Wirkung er – wie auch die Entscheidung für die Erstfassung anläßlich der 1825 erschienenen Jubiläumsausgabe zeigt – weiterhin rechnete. Bedeutenden Erklärungswert für die Veränderungen zwischen Werther I und II besitzen die subjektpoetischen Akzentwechsel. Nach diversen, von Johann Christian Kestner auf den Punkt gebrachten Publikumseinwänden wegen einer unwahr „gemalte[n] Lotte“, dem „elende[n] Geschöpf von einem Albert“ und der Vollmensch-Attitüde des Protagonisten („was […] für ein Kerl“)20 laborierte Goethe an einer veränderten, vieldeutigeren Charakter16 Die Tochter der Luft (FA I 21, 270-273, hier S. 272). 17 Dazu immer noch Gertrud Riess: Die beiden Fassungen von Goethes ‚Die Leiden des jungen Werthers‘. Breslau 1924. 18 Vgl. Lämmert: Goethes empirischer Beitrag zur Romantheorie, S. 31: Mit dem „Einschluß der ‚Bekenntnisse einer schönen Seele‘ in die Lehrjahre hat Goethe um die Mitte seines Lebens seiner Romankunst diese neue Dimension erschlossen“, die auf den Weg zu den Wanderjahren führe. 19 Waltraud Wiethölter u. Christoph Brecht: Kommentar. In: Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, Die Wahlverwandtschaften, kleine Prosa, Epen. Frankfurt/M. 1994 (= FA I 8), S. 907-1241, hier S. 922. 20 Johann Christian Kestner, Anfang Oktober 1774 (Briefe an Goethe. Hg. v. Karl Robert Mandelkow. 2. Bde. 3. Aufl. München 1988, Bd. 1, S. 36f.).

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psychologie. Volkserzieherische oder private Rücksichten wird man dabei nicht hoch veranschlagen dürfen. Vielmehr gibt es Indizien dafür, daß sich in der Verrätselung der Charaktere – nur Tage vor Goethes Flucht aus Karlsbad und dem Beginn des italienischen Selbstfindungsprojekts („In Rom hab‘ ich mich selbst zuerst gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend mit mir selbst […] geworden“21) – wachsende Zweifel am Konzept des Subjekts und seiner Identität niederschlagen. Albert changiert zwischen Biedermann und aktivem Sterbehelfer, Lotte präsentiert sich vor allem durch die neu eingeführte erotische Episode mit ihrem Kanarienvogel (vgl. 8,167) als Zerrissene mit Anzeichen polygamer Begierden. Selbst die Herausgeberpersönlichkeit wird jetzt entkonturiert, indem ihr mehrfach auktoriales Wissen zufließt, über das sie als ein bestimmtes Individuum gar nicht verfügen dürfte. In dieser Praktik kündigt sich eine Position aus der Abhandlung Über epische und dramatische Dichtung an, wonach der Erzähler „von aller Persönlichkeit“ zu „abstrahir[en]“ sei.22 Die Verkomplizierung der Hauptfigur geschieht zudem vor Goethes rezeptionspsychologischem Erfahrungshintergrund, daß Literatur eine vitale Kraft als Identitätsgenerator für seine (bürgerlichen) Leser entfaltete. Goethe war von seiner Seite offensichtlich entschlossen, dieses Identifikationsangebot aufzukündigen, und sprach sich gegen „jenes frische unmittelbare Leben“23 der Erstfassung aus: gegen jene poetische Simulation authentischer Erfahrung, der Werther selber anhängt. Statt dessen sorgt er für Momente skeptischer Distanz gegenüber dem ‚Helden‘ und dessen zunehmend fadenscheiniger werdenden Konstruktion eines emphatischen Ichs. In der Entstehungsgeschichte des Meister-Komplexes setzt sich die eigentümliche Erscheinung durchgängiger Doppeltexte in Goethes Erzählproduktion sogleich fort. Werther I und II, die Sendung und die Lehrjahre sowie schließlich die ersten und zweiten Wanderjahre kommen in einem relationalen Gefüge zu stehen, in dem sich die simultane Einheit und Vielheit von Goethes Erzählen zum Ausdruck bringt (mit der Einschränkung, daß die Sendung nicht zur öffentlichen Wirkung bestimmt war). Die früheste Nachricht über das Unternehmen datiert vom 16. Februar 1777: „dicktiert an W. Meister“,24 heißt es dort bereits. Demnach ist die „frühe Konzeption“25, die Entwürfe und eigenhändigen Notizen, deutlich in die Vorjahre (vermutlich bis 1773) zu rücken,26 so daß eine Produktionskoalition zwischen dem Meister-Projekt und dem Werther wahrscheinlich wird. Im 14. Buch von Dichtung und Wahrheit verurteilt Goethe eine durch Jakob Michael Reinhold Lenz verkörperte 21 22 23 24 25 26

Italienische Reise (FA I 15/1,568). Über epische und dramatische Dichtung (FA I 22,297). An die Weygandische Buchhandlung, 3. Juli 1824 (WA IV 38,356). Tagebücher (WA III 1,34). Tag- und Jahreshefte 1796 (FA I 17,54). Vgl. Hellmuth Himmel: Die ‚Urmeister‘-Frage. In: JbWGV 77 (1973), S. 64-88, sowie Voßkamp u. Jaumann: Kommentar, S. 1134.

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„Zeitgesinnung, welche durch die Schilderung Werther’s abgeschlossen sein sollte“: gemeint ist ein „Abarbeiten in der Selbstbeobachtung“, wozu „die aufwachende empirische Psychologie [berechtigte]“, mit der Menschen wie Lenz „ihr Inneres untergruben“.27 Wilhelm nun sollte das Geschenk einer glücklicheren Natur, eines fester gegründeten ‚Inneren‘ bekommen. Indem seine Geschichte „das ganze Theaterwesen“28 vorzutragen hat, steht sie zwar zum den Werther durchziehenden Metaphernsystem des Puppentheaters in Beziehung, das gegen die Autonomie- und Authentizitätsidee des bürgerlichen Individuums, den Anspruch der Herrschaft über das Gegebene und sich selbst, vernehmliche Zweifel streut (vgl. 8,24, 58, 134, 192). Jedoch scheint diesem Motivkreis nun ein positiver Sinn abgerungen: Vom Puppentheater zieht es Wilhelm zur Schauspielerbühne, auf der ihm aus der Tatsache des Inszenierungscharakters von Identität vorderhand keine Leiden erwachsen, sondern eine reizvoll spielerische Selbsterweiterung zuteil wird. Unübersehbar steht diese Freiheit unter den Glücksvoraussetzungen eines jungen, wohlhabenden Mannes, dem Souveränität über Wahl und Ausgestaltung seiner Rollen verliehen ist. Indes hat der poetische Demiurg Goethe auch in dieser Schöpfung den Leiden des jungen Werther, nämlich den Übeln der Selbst-Behauptung, ihren Platz eingeräumt. Das in Wilhelm Verdrängte kehrt wieder, indem es sich ein nahegelegenes Ersatzobjekt sucht: Mignon, die sich zum Bühnen- und Schaustellerwesen gezwungen sieht und Werthers melancholische ‚Krankheit zum Tode‘ ausbrütet. Zeitgleich mit der Überarbeitung des Werther im Sommer 1786 brach Goethe die Arbeit an der Sendung ab. Die aporetischere Konstruktion des Werther-Charakters mußte Folgeprobleme für die Subjektkonstitution Wilhelms nach sich ziehen, der nun das Theater hinter sich lassen und verbindlichere Wege gehen sollte. Als Goethe zu Beginn der neunziger Jahre den Meister-Komplex unter dem Titel der Lehrjahre wieder aufnahm, gehörte zu seinen ersten Schritten die Einschaltung des sich programmatisch gebenden ‚Bildungsbriefes‘ (vgl. 8,657-661), der das Vokabular der Subjektidentität in bedenklicher Vollständigkeit beschwört: „mein eigenes Inneres“, „[ich] selbst, ganz wie ich da bin“, „Persönlichkeit“, „[meine] Art zu sein“, „immer eben derselbe bleib[en]“, aber auch „Wesen“ und „Harmonie“. Den endgültigen Absprung vom Theaterroman leistete dann, nicht ohne eine gewisse Gewaltsamkeit, die Einschaltung des selbständigen Erzählstücks der Bekenntnisse einer schönen Seele. Dessen Genese ist bezeichnend für eine bestimmte Arbeitsweise Goethes, bei der sich durch Parallelproduktionen schöpferische Assoziationen und wechselseitige Beziehungen einstellen. Am 18. März 1795 erging die Nachricht an Schiller: „Vorige Woche bin ich von einem sonderbaren Instinkte befallen worden, der glücklicherweise noch fortdauert. Ich bekam 27 Dichtung und Wahrheit (FA I 14, 652). 28 An Johann Heinrich Merck, 5. August 1778 (WA IV 3, 238).

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Lust das religiose Buch meines Romans auszuarbeiten […]. Durch dieses Buch das ich vor Palmarum zu endigen denke bin ich ganz unvermuthet in meiner Arbeit sehr gefördert, indem es vor und rückwärts weist und indem es begrenzt zugleich leitet und führt. Der Prokurator ist auch geschrieben und darf nur durchgesehen werden.“29 Die Stelle belegt die Koevolution der Bekenntnisse mit der Prokurator-Geschichte der Unterhaltungen, jener Erzählung von der zwischen Selbstaufgabe und Selbstfindung changierenden religiösen Erweckung einer jungen Frau. Beide Narrationen stehen unter dem Gesetz spiritueller Henosis: Das menschliche Selbst, von der Vielheit der sinnlichen Welt und der Legion der inneren Begierden durchdrungen, soll qua Orientierung auf einen intelligiblen Einheitspol wieder geeint werden.30 In der pietistischen Autobiographie wie in dem conte moral geschieht solches durch Fasten und Beten als den Operationen der körperlichen und geistigen Komplexitätsreduktion im Dienst solcher Einung. Die Prokurator-Geschichte entstammt dem Reservoir „kleine[r] Erzählungen“31, dem Goethe seit 1794 mehrfach Erwähnung tat und aus dem sich zunächst die Unterhaltungen speisten, dann die Wahlverwandtschaften abzweigten und deren Reste sich letzthin im Kaleidoskop der Wanderjahre sammelten.32 Bis in diese letzten Ausläufer hinein verstummt nicht der anfänglich zum Klingen gebrachte Problemkörper, den der Abbé, der Haupterzähler der Unterhaltungen, bestimmt: „Menschen im Widerspruch mit sich selbst“ (9,1015), in Krisen der identitätsnotwendigen Selbstübereinstimmung. Am langwierigsten, von den frühen 70er bis zu den späten 20er Jahren, trug Goethe folgerichtig an der sinnfälligsten Ausprägung personalen Zwiespalts: an der zwitterhaften Gestalt der Melusine, der deshalb ein eigener Abschnitt (V.1.b) zu widmen sein wird. In der Entstehungsgeschichte der Lehrjahre kommen erstmals auch zwei weitere zukunftsträchtige Eigenarten von Goethes epischer Produktion zu Gesicht. Zum einen die Einschaltung von Aphorismen, denn die Keime zu den Aphorismenranken der Wahlverwandtschaften und der Wanderjahre finden sich nirgends anders als im „Lehrbrief“ (vgl. 9,874f.). Dies begreift man aus Goethes nicht realisierten Plänen für eine ausgedehntere Spruchfolge an späterer Stelle im Roman: „Ich hatte den Lehrbrief im siebenten Buch abgebrochen, in dem man bis jetzt nur wenige Denksprüche über Kunst und 29 An Schiller, 18. März 1795 (MA 8/1,70). 30 Zum Henosismotiv vgl. Wolfgang Riedel: Deus seu Natura. Wissensgeschichtliche Motive einer religionsgeschichtlichen Wende – im Hinblick auf Hölderlin. In: Philosophie der natürlichen Mitwelt. Grundlagen, Probleme, Perspektiven. Festschrift für Klaus Michael Meyer-Abich. Hg. v. Hans Werner Ingensiep u. Anne Eusterschulte. Würzburg 2002, S. 317-337. 31 Unter anderem an Schiller, 27. November 1794 (MA 8/1,39); an Christiane, 10. August 1807 (WA IV 19,385); Tagebücher, 23. Januar 1829 (WA III 12, 11). 32 Zu den ältesten Projekten zählen inbesondere die Melusinengeschichte (vgl. V.1.b) und die Pilgernde Törin; vgl. Norbert Oellers: Goethes Novelle ‚Die pilgernde Thörinn‘ und ihre französische Quelle. In: GJb 1985, S. 88-104.

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Kunstsinn liest. Die zweite Hälfte sollte bedeutende Worte über Leben und Lebenssinn enthalten.“33 Die andere Eigenart von Goethes Erzählen, die ebenfalls in den Lehrjahren neu auftritt, betrifft einen Aspekt der Materialität der Kommunikation: Goethe entschloß sich, die fertiggestellten Teile des Manuskripts jeweils in Druck zu geben, noch ehe er sich über deren Fortsetzung ganz im klaren war.34 Diese Verfahrensweise indiziert eine prinzipielle Unsicherheit darüber, wo der Schreibfluß ans Ende kommen soll und wie die Zäsur aussehen kann, die den einen vom anderen Text endgültig abnabelt, kurzum: wie dem Impetus zum unendlichen Text ein Schluß abzuringen sei. Die durchgehend prekären Ergebnisse sind der gewaltsam glückliche (für mehrere Figuren freilich auch tödliche) Märchen- und Komödienschluß der Lehrjahre35, das wundersame, viel umrätselte Schlußkapitel der Wahlverwandtschaften und endlich die eingestandene Unabschließbarkeit der Wanderjahre („Ist fortzusetzen“ [10,774]). Noch am 12. Juli 1796 notierte Goethe, es werde „die Hauptfrage sein: wo sich die Lehrjahre schließen die eigentlich gegeben werden sollen und in wie fern man Absicht hat künftig die Figuren etwa noch einmal auftreten zu lassen. […] Was rückwärts notwendig ist muß getan werden, so wie man vorwärts deuten muß, aber es müssen Verzahnungen stehen bleiben, die, so gut wie der Plan selbst, auf eine weitere Fortsetzung deuten“.36 Die Unabschließbarkeit solchen Erzählens stellt sich demnach über seine gewünscht intrikate Vor- und Rückbezüglichkeit her. Hierbei steht nun auch nicht mehr nur die interne Verschaltung der Lehr jahre zur Diskussion, sondern mehr noch die Konstitution eines Textgrenzen überschreitenden Verweisungssystems – hinsichtlich einer Fortsetzung, aber ebenso nach ‚rückwärts‘. Es lassen sich nun Indizien dafür anführen, daß dies nicht allein auf die vorangegangenen Bücher der Lehrjahre gemünzt ist, sondern in gewisser Hinsicht auch auf die zwischen Januar und Oktober 1795 erschienenen Stücke der Unterhaltungen. Die Lehrjahre kamen, wie man nicht vergessen darf, in einem fast zweijährigen Prozeß von Januar 1795 bis Oktober 1796 an den Tag. Erst angesichts des Endprodukts in vier Bänden zu je zwei Büchern faßte Schiller einen Begriff von der Größe der darin wirksamen Zentrifugalkräfte: „die erstaunliche und unerhörte Mannichfaltigkeit, die darin im eigentlichsten Sinne, versteckt ist, überwältigt mich. Ich gestehe daß ich bis jetzt zwar die Stetigkeit, aber noch 33 An Schiller, 9. Juli 1796 (MA 8/1,209). 34 Die Absicht, das Manuskript „dem Drucke nach und nach zu übergeben“, bekundet Goethe zuerst in den Tag- und Jahresheften 1796 (FA I 17,54); vgl. bezüglich der Wahlverwandtschaften an Christiane, 1. August 1809 (WA IV 21,17): „Wir haben den Druck des Romans angefangen ohne zu wissen, wie wir damit zu Ende kommen wollen.“ 35 Vgl. Hans S. Reiss: Lustspielhaftes in ‚Wilhelm Meisters Lehrjahren‘. In: Goethezeit. Studien zur Erkenntnis und Rezeption Goethes und seiner Zeitgenossen. Hg. v. Gerhart Hoffmeister. Bern 1981, S. 129-144, bes. S. 139f. 36 An Schiller, 12. Juli 1796 (MA 8/1,217).

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nicht die Einheit recht gefaßt habe“.37 Goethe legte seinerseits gesteigerten Wert auf „eine Art von problematischer Composition“38, die wesentlich im Modulcharakter der Lehrjahre verankert ist. Die einzelnen Bücher tendieren zu thematischer Verselbständigung und architektonischer Abschließung. Sie verhandeln zum größeren Teil eigene novellengleiche Narrationen und führen sie zu abschließenden Höhepunkten, die stets mehr Fragen provozieren, als sie beantworten, so der ‚Roman‘ mit Mariane (1. Buch), die Schaustellergeschichte bis zu Mignons Krampfanfall (2. Buch), die Schloßgeschichte mit der Schlußszene des schmerzhaften Kusses (3. Buch) oder die Leidensgeschichte Aurelies (5. Buch). Die Lehrjahre sind ein dezidiert offenes, in ihren Bestandteilen bewegliches System (und auf Goethes Erzählwerk hin betrachtet ein Subsystem), das als solches kein festes Zentrum besitzt: „Man sucht“, so Goethe, „einen Mittelpunkt, und das ist schwer und nicht einmal gut.“39 Denn er hat das Erzählganze des Romans dividiert, um dessen Kombinations- und Anschlußmöglichkeiten zu multiplizieren. Darin besteht das Rechenkunststück einer der „inkalkulabelsten Produktionen“40 der deutschen Literaturgeschichte. Ernstzunehmenden Absichtserklärungen vom August 1794 zufolge, hätte Goethe die Lehrjahre-Bücher gerne einzeln in die Horen eingerückt, wenn Schillers Einladung zur Mitarbeit nicht erst nach Abschluß des Verlagsvertrags mit Unger erfolgt wäre.41 An die Stelle des Mariane-‚Romans‘, der Schloßgeschichte etc. ließ Goethe nach Art eines Äquivalenz- und Substitutionsverhältnisses die epischen Kleinformen der Unterhaltungen treten. Dabei pflegen die Tonartwechsel des Romans – vom Erotisch-Abenteuerlichen über die sittliche Konsolidierung zur (Teil-) Lösung im Licht der wunderbaren ‚quest‘ (vgl. 9,992) – vernehmliche Korrespondenzen zu der in den Ausgewandertengeschichten gegebenen Abfolge aus erotischen Novellen, moralischen Erzählungen und dem Märchen. So verfaßte Goethe mit den Unterhaltungen nicht oder nicht allein eine skeptische Replik auf das Humanitätsethos von Schillers Ästhetischen Briefen,42 sondern einen durchaus ironischen Kommentar zu dem Idealismus seines eigenen Romans. Das Aufeinanderbezügliche von Lehrjahren und Unterhaltungen erhärtet auch durch die Tatsache, daß es das Reservoir der ‚kleinen Erzählungen‘ war, aus dem 37 38 39 40 41

Schiller an Goethe, 2. Juli 1796 (MA 8/1,186). An Schiller, 27. August 1794 (MA 8/1,17). Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 141 (18. Januar 1825). Ebd. Vgl. Schiller an Goethe, 23. August 1794 (MA 8/1,16), und Goethes Antwort vom 27. August (MA 8/1,17). 42 Vgl. Ulrich Gaier: Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung. Goethes Rahmen der ‚Unterhaltungen‘ als satirische Antithese zu Schillers ‚Ästhetischen Briefen‘. In: Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins. Hg. v. Helmut Bachmaier. Stuttgart 1987, S. 207-272.

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heraus Goethe den Meister-Komplex fortspann. Die Wanderjahre konvergieren nämlich mit dem Projekt eines zweiten Teils der Unterhaltungen, den Goethe im Brief an Schiller vom 3. Februar 1798 im Auge hatte: „Übrigens habe ich etwa ein halb Dutzend Märchen und Geschichten im Sinne, die ich, als den zweiten Teil der Unterhaltung meiner Ausgewanderten, bearbeiten, dem Ganzen noch auf ein gewisses Fleck helfen und es alsdann in der Folge meiner Schriften herausgeben werde.“43 Die genannte Anzahl ‚kleiner Erzählungen‘, zumal im Verband mit einem Märchen, kehrt allein in den Wanderjahren wieder, deren früheste Paralipomena bis in die späten 90er Jahre reichen.44 Der Altersroman muß also zugleich als Fortsetzung der Lehrjahre und der Unterhaltungen begriffen werden. Auf dem Weg von den Lehrjahren und Unterhaltungen zu den Wanderjahren zweigte aus dem Konglomerat von Erzählmaterialien ein Novellenplan ab, der in diesem System kommunizierender Röhren die Vorstufe der Wahlverwandtschaften bildete.45 Da Goethe bei der Beseitigung der Entstehungsspuren einmal mehr außerordentlich gründlich vorging, beruht der Eindruck ihrer kurzen Entstehungszeit höchstwahrscheinlich auf einer Täuschung. Die erste Erwähnung unter dem späteren Titel datiert vom 11. April 1808: „An den kleinen Erzählungen schematisirt, besonders den Wahlverwandtschaften und dem Mann von 50 Jahren. Mittags allein. Abends Hofrath Meyer. St. Joseph der zweyte vorgelesen. Über die kleinen Erzählungen überhaupt gesprochen“.46 Die hieraus ersichtliche Entstehungskoalition der Wahlverwandtschaften mit den ‚kleinen Erzählungen‘ protegierte einmal mehr die Entfaltung diffiziler Spiegelungen und Verwandtschaften. So bildet die zentrale Episode von Ottilies Inszenierung als zweiter Maria (vgl. 8,438-441) das genaue Komplement zu Sankt Joseph dem Zweiten, der Eingangsnovelle der Wanderjahre. Die Magnetismus-Episode (vgl. 8,479-482) kehrt mit wörtlichen Responsionen im Umkreis Jarno/Montans wieder (vgl. 8,728). Am frappierendsten aber ist, daß sich das tragende Erzählgerüst der Wahlverwandtschaften exakt spiegelbildlich zu dem von Nicht zu weit, der letzten Novellenintarsie der Wanderjahre, verhält: hier ein scheinbar glückliches Ehepaar und zwei Neuankömmlinge, deren Verbindung ins Auge gefaßt wird, dann die Liaison über Kreuz und die Zerrüttung der Ehe; dort ein scheinbar heillos entzweites Ehepaar und zwei Neuankömmlinge, eine Liaison zwischen der Ehefrau und dem hinzugetretenen Mann, dann die Verbindung der Neuankömmlinge und die Wiederherstellung des Eheverhältnisses. Ironisch genug, verleiht Goethe der Ehefrau in Nicht zu weit den Namen Albertine. Albert hieß freilich bereits 43 An Schiller, 3. Februar 1798 (MA 8/1,515). 44 Vgl. Bunzel: Entstehungs- und Druckgeschichte, S. 839. 45 Dazu Hans M. Wolff: Goethes Novelle ‚Die Wahlverwandtschaften‘. Ein Rekonstruktionsversuch. Bern 1955. 46 Tagebücher (WA III 3,327-328).

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eine Ehehälfte im Werther. Auch auf solch onomastische Weise (konsequenter noch mit der Genealogie des Otto-Namens, vgl. unten) sorgte Goethe also für feine Kommunikationskanäle zwischen den verschiedenen Sektoren seines Erzähluniversums. Unmittelbar nach Abschluß der Wahlverwandtschaften äußerte sich Goethe selbstgewiß über die Fortschritte eines Werks unter dem Titel der Wanderjahre, das zur Ostermesse 1810 vorliegen sollte.47 Daß dieser Zeitplan gründlich scheiterte, ist nur mit einer grundsätzlichen Neukonzeptionierung zu erklären, die wiederum auf das ungeheure Kalkül der folgenden Arbeitsstufen schließen läßt. 1821 erschienen die ersten Wanderjahre, die bis zur Zweitfassung von 1829 die nun schon vertraute Doppeloperation von Division und Multiplikation durchliefen. In Goethes Worten lautete die Aufgabe, „das Werklein von Grund aus aufzulösen und wieder neu aufzubauen, so daß nun in einem ganz Anderen dasselbe wieder erscheinen wird“.48 ‚In einem ganz Anderen dasselbe‘: Dies ist die genaueste Definition der Metamorphose. Das forschungsübliche Defizitmodell der ersten Wanderjahre beschreibt vorzugsweise, was ihnen, am Maßstab der Überarbeitung gemessen, abgeht, im Stoffumfang vor allem die Felix-Hersilie- und die Leonardo-Nachodine-Handlung sowie das Auswanderermotiv, ferner das sogenannte Knabenerlebnis. Folglich wäre der Text als durch die zweite Version vollständig ersetzt und ihre Publikation mithin als verfrüht zu werten. Im Horizont von Goethes Erzählstrategien muß man dagegen zu dem Ergebnis kommen, daß mit dem Doppeltext der Wanderjahre I und II die letzten Reflektoren eines erzählerischen Spiegelkabinetts installiert werden. Einige wesentliche Wandlungsvorgänge zwischen den beiden Wanderjahren erhellen wiederum im Licht figurenpoetologischer und subjekttheoretischer Gewichtsverlagerungen. In der ersten Fassung autopsiert Wilhelm seine ‚blasse‘ Natalie mit bewaffnetem Auge über einen alpinen Abgrund hinweg: Die Konturen der Geliebten und Gattin zu sichten – des Subjekts, das man neben sich selbst am besten kennen sollte – gelingt gerade noch vermittels eines Fernrohrs (vgl. 10,162-164). Restlos aber verschwimmt die Natalie-Figur nach Erscheinungsbild und Charaktereigenschaften in der zweiten Fassung, die – obwohl von weit größerem Umfang – fast nichts mehr von ihr ver47 Vgl. Victor Lange: Zur Entstehungsgeschichte von Goethes ‚Wanderjahren‘. In: GLL 23 (1969/70), S. 47-54, sowie Ehrhard Bahr: The Novel as Archive. The Genesis, Reception, and Criticism of Goethe’s ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘. Columbia 1998, S. 1-13 („The Genesis of the ‚Wanderjahre‘ and its Context”). 48 Anzeige von Goethes Sämmtlichen Werken (FA I 22,759). Dazu Hans S. Reiss: ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘. Der Weg von der ersten zur zweiten Fassung. In: DVjs 39 (1965), S. 34-57. Die Mehrzahl der in den Wanderjahren intarsierten Geschichten erschien außerdem zuvor in selbständiger Form: 1808 Die pilgernde Törin, 1809 Sankt Joseph der Zweite, 1815 Das nußbraune Mädchen, 1816/18 Die neue Melusine und 1817 Der Mann von funfzig Jahren. Dabei ist für Goethes Rezeptionssteuerung und wahrscheinliche Sinngebungsabsichten durchaus aufschlußreich, daß alle diese Texte denselben Publikationsort aufweisen: Cottas Taschenbuch für Damen (vgl. V.1.b)

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lauten läßt. Durch Hinzufügung des Knabenerlebnisses (die Erzählung von der Jugendfreundschaft mit einem homoerotisch attraktiven Fischerknaben, vgl. 10,542-552) bekommt Wilhelm de facto eine neue Vergangenheit zugewiesen, deren Schlüsselerlebnis nicht mehr das Theater, sondern der Tod ist. Derart umstandslose biographische Neubesetzung nimmt auf die „Konsistenz“ (9,238) des Charakters, um die es einmal zu tun war, schlechterdings keine Rücksicht mehr und kommt einer nachträglichen Änderung von dessen Spielregeln gleich. Eine ähnliche Neufassung erfährt Philine, die übergangslos von der freizügigen Aktrice und Gelegenheitsprostituierten, die sie in den Lehrjahren vorstellte, zur körperverhüllenden Schneidermamsell und vielfachen Mutter umgebrochen wird. Zum Ende hin tauchen die zweiten Wanderjahre in eine merkwürdig unwirkliche Atmosphäre ein, in der sich die personalen Konturen allzumal ins Geisterhafte auflösen. Die Empfindung Lucidors, des Protagonisten der Novelleneinlage Wer ist der Verräter?, ist diesbezüglich als exemplarische Selbstreflexion des Romans zu verstehen: Ihm „war’s auf einmal zu Mute, als wenn er in tiefe Nebel hinein sähe, alle die angemeldeten bekannten und unbekannten Gestalten erschienen ihm gespenstig“ (10,368). Mit gleicher Schärfe hat diese Unschärfe einschließlich ihrer mythischen und Revenantqualitäten nur noch Nietzsche gesehen, wo er über den späten Goethe urteilt: „Nicht Individuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken; […] Lokalfarben zum fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht; […] keine neuen Stoffe und Charaktere, sondern die alten, längst gewohnten in immerfort währender Neubeseelung und Umbildung“.49 Der zunehmenden Unberechenbarkeit der Charaktere entspricht die 1829 erreichte Komposition der Wanderjahre, die keinen konstanten Strukturprinzipien mehr folgt, ihre Spielregeln vielmehr während des Spiels ändert. Die erste Einlage (Sankt Joseph der Zweite) wird zwar unvermittelt eingeführt, jedoch nachträglich – als Bericht Wilhelms an Natalie – im Rahmen befestigt. Das folgende Stück (Die pilgernde Törin) gibt sich dagegen schon zu Eingang als Übersetzung der Rahmenfigur Hersilie zu erkennen. Anderes wie Nicht zu weit taucht auf, ohne daß die Einrückung überhaupt in der Rahmenhandlung motiviert wäre. Auf die Spitze treibt Goethe derlei Vexationen mit der seit den 1790er Jahren zur Formation der ‚kleinen Erzählungen‘ gehörenden Novelle, die den Arbeitstitel der Jagd trug.50 Als Verfasser einer Dichtung gleichen Themas erscheint der „Mann von funfzig Jahren“ (vgl. 10,459). 49 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (1878). In: Ders.: Werke. Hg. v. Karl Schlechta. 3 Bde. Darmstadt 1997 (zuerst München 1954), Bd. 1, S. 4351008, hier S. 581. 50 Materialreich dazu Heinrich Düntzer: Das epische Gedicht ‚Die Jagd‘ und die ‚Novelle‘. In: Archiv 4 (1848), S. 1-44. Vgl. Richard Thieberger: Die Fürstin als Heldin in Goethes ‚Novelle‘. In: Ders.: Gedanken über Dichter und Dichtungen. Bern 1982, S. 35-53, sowie Gerhard Schulz: Johann Wolfgang Goethe. ‚Novelle‘. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, Bd. 1, S. 381-415.

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Was läge näher, als in diesem Zusammenhang die Jagdnovelle zu plazieren? Goethe schlägt den Nagel ein, verzichtet aber ironischerweise darauf, ihn zu nutzen. Die Geschichte erschien im Vorjahr 1828 unter dem Titel der Novelle im Druck. Man muß und soll offenbar den Eindruck gewinnen, daß die getrennte oder gesammelte Publikation der Erzählprojekte für die Frage ihrer kommunikativen Beziehungen eine nachgeordnete Rolle spielt. – Eben dieser Umstand machte Johann Peter Eckermann mit den Wanderjahren zu schaffen: zunächst in der Ausführung von Goethes nicht immer präzisen Aufträgen, später bei der Arbeit am Nachlaß und der Quartausgabe der Poetischen und prosaischen Werke. Erst die Weimarer Ausgabe enthüllte (bei allen editorischen Ungenauigkeiten), daß nicht weniger als rund fünfzig Paralipomena, Schemata und detaillierte Einzelentwürfe, zu den Wanderjahren existieren.51 Sie bilden die Referenz jenes Archivs, in dem der Erzähler des Romans mit gelassener Freiheit zu navigieren vorgibt. Er offeriert das eine Papier, deutet auf das Vorhandensein eines optionalen zweiten hin und verspricht bei sich bietender Gelegenheit ein drittes vorzubringen (vgl. 10,128, 145, 381f. u. ö.). Dabei handelt es sich um nichts weniger als um das Ergebnis altersbedingter Gestaltungsschwäche oder um ein trockenes Editionsproblem, auch nicht um die sich erübrigenden Zeugnisse eines erledigten Umarbeitungsprozesses. Im Grunde steht man vor der unerhörten Tatsache, daß dieser Erzählkomplex nicht mehr angemessen sequentiell darstellbar ist. Er bildet ein metatextuelles Netzwerk von Texten, voll von ausgewiesenen oder verschwiegenen Verzweigungen und Verweisen, ohne informationelles Ende – mit dem Wort, dessen häufige Überstrapazierung nicht von seinem Gebrauchswert ablenken darf: einen Hypertext als überwölbenden Kommunikationszusammenhang,52 komplementär zum intensiven Dialog von Goethes Schreiben mit zahlreichen unterfütternden Hypotexten. Die teils fingierten, teils effektiven Alternativen zu einem einzigen, nur linearen Erzählverlauf erzeugen eine Simultanpräsentation von Textmengen, setzen auf eine syntagmatische eine paradigmatische Achse. Diese Dynamisierung wird dadurch vollendet, daß Goethes Hypertext im genauen Sinn ein „Text der Fortschreibung“53 ist. Die Komplexität dieses Gebildes ist nichts anderes als eine Metapher der darin 51 WA I 25/2,207-288. Vgl. Bunzel: Entstehungs- und Druckgeschichte, bes. S. 795ff. Die häufigen editorischen Angaben in den Wanderjahren sind demnach nicht allein Bestandteil des Werks, sondern auch Äußerungen über das Werk; vgl. dagegen Volker Neuhaus: Die Archivfiktion in ‚Wilhelm Meisters Wanderjahren‘. In: Euph. 62 (1968), S. 13-27, hier S. 17. 52 Dazu Stephan Porombka: Hypertext. Zur Kritik eines digitalen Mythos. München 2001, bes. S. 97136 („Digitale Mythographie. Hypertext und das Problem der Komplexität“). 53 Ebd., S. 107. Von einer Unendlichkeit des Denkens, die Goethe mit der Form der Wanderjahre projizieren wollte, spricht Lange: Zur Entstehungsgeschichte von Goethes ‚Wanderjahren‘, S. 53. Vgl. Wolfram Malte Fues: ‚Wanderjahre‘ im Hypertext. In: Klassik und Anti-Klassik. Goethe und seine Epoche. Hg. v. Ortrud Gutjahr u. Harro Segeberg. Würzburg 2001, S. 137-156; dazu auch Jürgen Daiber: Literatur und Nicht-Linearität: Ein Widerspruch in sich? In: Jahrbuch für Computerphilologie 1999, S. 21-39.

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behandelten Moderne. Eckermann, um eine konventionelle Lesefassung bemüht, befragte Goethe nach seinen Wünschen für die endgültige Zusammenstellung der Wanderjahre; ohne Erfolg, wie er notierte: „Goethe lachte“.54 Mit dem Anspruch, die künftige Philologie für sich in Dienst zu nehmen, hinterließ er einen Netztext, der von vornherein auf die Paralleldruck- und Apparattechniken einer historisch-kritischen Ausgabe angelegt ist und sich erst in dieser erfüllt.

2. Analogiegeneratoren a) Poetologie der Grenzüberschreitung Die These der spiegelweisen Relationalität von Goethes Erzählprojekten erfordert den Nachweis, inwieweit die Erzähltheorie des Dichters, die es berüchtigtermaßen nur in den vieldeutigsten Bruchstücken gibt, dem entgegenkommen könnte. Namentlich von einer Poetik der ‚kleinen Erzählungen‘ finden sich nur allergeringste Spuren, vorweg die narratologischen Rechtfertigungen des erzählenden Alten der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten sowie die trefflich zur Publikumsverwirrung geeigneten Selbstzeugnisse über das Märchen Märchen und die Novelle Novelle.55 Nicht viel besser stellt sich die Quellenlage zur epischen Großform dar, weshalb zuerst Eberhard Lämmert vorgezogen hatte, von „Goethes empirische[m] Beitrag zur Romantheorie“ zu sprechen statt wie noch Joachim Müller ungeschützt von „Goethes Romantheorie“.56 Als einschlägig gilt hier neben dem zwischen 1795 und 1796 geführten Teil des brieflichen Werkstattgesprächs mit Schiller sowie der Abhandlung Über epische und dramatische Dichtung (Resultat des Briefwechsels 54 Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 486 (15. Mai 1831). Nach Lämmerts Auffassung (Goethes empirischer Beitrag zur Romantheorie, S. 26) wäre auf die Komposition der Wanderjahre wenig zu geben: Goethe habe „seinem Adlatus Eckermann [...] alle Freiheiten [eingeräumt] [...], mit herbeigerafften Sprüchen und Versatzstücken aus dem vorhandenen Manuskriptenschatz den sonst zu schmal geratenen dritten Band zu füllen“. Trifftig dagegen und für Goethes Verantwortung für die endgültige Disposition der Materialien bereits Lange: Zur Entstehungsgeschichte von Goethes ‚Wanderjahren‘, S. 52. 55 Vgl. Günter Damann: Goethes ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘ als Essay über die Gattung der Prosaerzählung im 18. Jahrhundert. In: Der deutsche Roman der Spätaufklärung. Funktion und Wirklichkeit. Hg. v. Harro Zimmermann. Heidelberg 1990, S. 1-24; Roland Duhamel: Goethes ‚Novelle‘ und seine Novellentheorie. In: Germanistische Mitteilungen 30 (1989), S. 81-83; sowie Katharina Mommsen: Märchen. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4/2. Hg. v. Hans Dietrich Dahnke u. Regine Otto. Stuttgart u. a. 1998, S. 677–679. 56 Vgl. Lämmert: Goethes empirischer Beitrag zur Romantheorie, sowie Joachim Müller: Goethes Romantheorie. In: Deutsche Romantheorien. Hg. v. Reinhold Grimm. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1974 (zuerst 1968), S. 61-104. Dazu ferner Blackall: Goethe and the Novel, bes. S. 76-110, sowie Bruno Hillebrand: Theorie des Romans. Erzählstrategien der Neuzeit. Frankfurt/M. 1996 (zuerst München 1972), bes. S. 125-191.

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von 1797) insbesondere das berühmte Gespräch über Roman und Drama im fünften Buch der Lehrjahre. Die Annäherung an einen Neuansatz im Feld von Goethes Erzählpoetologie sei im folgenden durch eine doppelte Bewegung unternommen: Erstens soll vom oft angestellten Vergleich zwischen Roman und Drama auf das bislang unterbelichtete Verhältnis zwischen Roman- und Novellenbestimmung umorientiert werden, zweitens sind hier konsequente Rückschlüsse von Goethes Wertschätzung für Tausendundeine Nacht und das Erzählen Diderots auf seinen eigenen erzähltheoretischen Standpunkt vorzunehmen. Am 23. Dezember 1797 äußerte sich Goethe im Brief an Schiller mit nicht zu unterschlagender Zwiespältigkeit über die wünschenswerte, aber geradezu Magie erfordernde Totalität des Kunstwerks und dessen entgegengesetzten, unwillkürlichen und naturhaften Impetus zum Verschwimmen und Verschlingen. Unter klassizistischen Schutzzeichen gegen derlei Grenzverwischungen Anlauf nehmend, endet der Gedankengang in einem Bild des Ausgeliefertseins: „Diese[n] eigentlich kindischen, barbarischen, abgeschmackte[n] Tendenzen sollte nun der Künstler aus allen Kräften widerstehn, Kunstwerk von Kunstwerk durch undurchdringliche Zauberkreise sondern, jedes bei seiner Eigenschaft und seinen Eigenheiten erhalten, so wie es die Alten getan haben, und dadurch eben solche Künstler wurden und waren; aber wer kann sein Schiff von den Wellen sondern auf denen es schwimmt?“57 Von den Wellen der Frühromantik dürfte sich Goethe hier noch nicht erfaßt sehen, vielmehr von denen Sternes und Diderots. 1805 nahm er Diderots Gattungssynkretismus (die Gattungsmischung im Fatalist, den unklaren Status des Neveu) indirekt in Schutz, indem er an der französisch-klassizistischen Akademietradition monierte: „Man behandelte die verschiedenen Dichtungsarten wie verschiedene Societäten, in denen auch ein besonderes Betragen schicklich ist.“58 Ohne den Anker Schillers, in dessen Todesjahr das geschrieben ist, nahm Goethes Schiff offenbar endgültig auf die ästhetischen Zwitterwesen der Wahlverwandtschaften und der Wanderjahre Kurs. Tendenzen zur Überschreitung der Zauberkreise wohnten den beschworenen Dichtungsarten und dem Werkbegriff freilich bereits im Zeitraum ihrer Konzeptualisierung zwischen 1794 und 1797 inne. Dies äußert sich nicht zuletzt in einigen bemerkenswerten Interferenzen von Goethes Reflexionen über den Roman einerseits und die ‚kleinen Erzählungen‘ andererseits. Die Romanbestimmung des poetologischen Lehrjahre-Gesprächs (vgl. 9,675-678) fällt bekanntlich, was nicht nur an der Ausnahmestellung des Vergleichsgegenstandes Hamlet liegen dürfte, äußerst fragil aus. Sie verfängt weder in Anwendung auf die genannten repräsentativen Exemplare der Gattung – „Pamela, der Landpriester von Wakefield, Tom Jones“ (9,675) – noch als der große klassi57 An Schiller, 23. Dezember 1797 (MA 8/1,470f.). 58 Rameau’s Neffe (FA I 11,765).

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zistische Gegenentwurf. In einer bestimmten Beleuchtung erweisen sich die gattungstheoretischen Unschärfen jedoch als so wohlkalkuliert, daß die Passage mehr den Versuch der Gattungstrennung als den Dilettantismus der Hauptdiskutanten Wilhelm und Serlo desavouiert. Als heimliches Neben-, wenn nicht Hauptprodukt der Diskussion stellen sich zumal Affinitäten zwischen Roman und ‚kleinen Erzählungen‘ ein. Wenn als Kriterium des Romangenres zuerst festgehalten wird, daß die auftretenden Personen nicht selber sprächen, sondern „gewöhnlich von ihnen erzählt“ (9,675) werde, trifft dieses Kriterium ohnehin auch auf die epischen Kleinformen zu. Des weiteren schildere der Roman „vorzüglich Gesinnungen und Begebenheiten“ (9,675): den inneren Menschen mit seinen Willensstrebungen und Vorstellungen sowie dasjenige, was ihm zustößt, im Unterschied zu dem, was aktiv betrieben wird. Präzise Begriffsresponsionen im ungefähr gleichzeitig entstandenen Erzählprogramm der Unterhaltungen knüpfen dieselben Kriterien an Novelle und moralische Erzählung: Geschichten „von wenig Personen und Begebenheiten“ mit „soviel Gesinnung als nötig“ (9,1038) seien zu erzählen.59 Das Romangeschehen, so lautet ein weiterer Diskussionspunkt, stehe unter dem Gesetz des „Zufall[s]“ (9,676), womit freilich ein Schlüsselbegriff novellistischen Erzählens fällt. Entsprechend heißt es von den Geschichten des Alten, in ihnen spiele „der Zufall“, nämlich „mit der menschlichen Schwäche und Unzulänglichkeit“ (9,1015).60 Im Verhältnis zwischen den Modellierungen des Romans und der ‚kleinen Erzählungen‘ zeichnen sich folglich Korrespondenzen ab, welche die vordergründigen Barrieren zwischen Lehrjahren und Unterhaltungen zu überbrücken geeignet sind. Es handelt sich um dieselben Schnittstellen, durch die auch kleine Erzählungen in Gestalt von Intarsien an den Roman anschlußfähig werden. Das heißt nichts anderes, als daß das gattungspoetologische Gespräch des fünften Lehrjahre-Buchs durch die verhüllten Anteile seiner erzähltheoretischen Dimension die Einschaltung der Bekenntnisse des sechsten Buches und der Sperata-Novelle des achten Buches (vgl. 9,960-975) vorbereitet. Die Rede von einem „polaren Verhältnis beider Gattungen“61, Novelle und Roman, wird der Möglichkeit dieser Verschlingungen und Anschlüsse sichtlich nicht gerecht. 59 Zum Begriff der Begebenheit auch Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 221 (29. Januar 1827), sowie zu dessen Beziehungsreichtum John M. Ellis: How Seriously Should We Take Goethe’s Definition of the Novelle? In: GYb 3 (1986), S. 121-123. 60 Zu Seelenzwiespalt und (erotischer) Heteronomie in der Novellengattung vgl. Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle. Stuttgart 1993, bes. S. 68ff. Zu Goethes „Kampf gegen die Leidenschaft“ in seinen Novellen, womit die Abgrenzung zu seinen Romanen weiter erschwert wird, ebd., S. 273f. 61 Andreas Käuser: Das Wissen der Anthropologie: Goethes Novellen. In: GJb 1990, S. 158-168, hier S. 162. Käuser weist die zentrale Rolle von Sinnlichkeit und Körperlichkeit in Goethes Novellen nach. Daß sie damit im Gegensatz zu Goethes Romanen stehen, die von innerer Reflexion bestimmt seien, wird unzureichend unter Bezugnahme auf die „Formmittel des Romans des 18. Jahrhunderts“ (S. 164) vorgeschlagen. Gerade die Anthropologie hat man auch als De-

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Weitere Verdachtsmomente für verborgene zentrifugale Tendenzen in Goethes Erzählen, die – im Widerspiel zu zentripetalen, die relative Stabilität jedes einzelnen Textes begünstigenden Kräften – die Ausbildung eines übergreifenden Erzählsystems unterstützen, lassen sich bei Goethe als Leser und Kritiker auffinden. Für seine Affinitäten zu einer Poetologie der Grenzüberschreitung spricht vorderhand die jahrzehntelange, in Briefen, den Divan-Noten und in Über Kunst und Altertum dokumentierte Bewunderung des ornamentalen Erzählens der Mille et une nuits (französisch zuerst 1704-1707). Im Brief an Schiller vom 2. Dezember 1794 bekundet Goethe seine Absicht, in den Unterhaltungen „wie die Erzählerin in der Tausend und Einen Nacht zu verfahren“62. Hier waren die Techniken sowohl der zyklischen Rahmenerzählung als auch des verschlungenen, durchbrochenen, mit Ähnlichkeiten, Kombinationen und Modifikationen spielenden Erzählens zu studieren.63 Darüber hinaus bot die orientalische Geschichtensammlung das Modell einer narrativen Form, in der die Gattungstrennung zwischen Novelle, moralischer Erzählung und Märchen nicht einmal im Ansatz greift – vor allem deshalb nicht, weil das Märchenhafte über alle Strukturen obwaltet. Die Atmosphäre des Traum- und Zauberhaften – „rätselhaft aber klar, […] phantastisch ohne Carricatur“64 – legt sich dabei insbesondere auf das Figurenkonzept, das beispielsweise die anstandslose Verwandlung von Menschen in Tiere und die Behandlung von Tieren als Personen gestattet. Da diese Geschichten eingerichtet sind, den Menschen „aus sich selbst hinaus[zu]führen“ (10,358)65, ergreift der Reiz der Entgrenzung und Auflösung unmittelbar auch den Subjektentwurf. Die „öffnende Macht des Orients“66, ein wichtiges Motiv des Orientalismus in der europäischen Literatur, durchkreuzt demnach das Ideal der in sich selber abgeschlossenen Persönlichkeit.

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finiens von Goethes Romanen in Anschlag gebracht: vgl. Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: IASL Sonderheft 6 (1994), S. 93-157, bes. S. 134f. An Schiller, 2. Dezember 1794 (MA 8/1,42). Vgl. Katharina Mommsen: Goethe und 1001 Nacht. Frankfurt/M. 1981 (zuerst Berlin 1960), bes. S. 57-68 („Formaler Einfluß von 1001 Nacht“). Tausend und eine Nacht (FA I 22, 503). Zur Rolle der Karrikatur vgl. IV.1.b). Vgl. die Abteilung Besserem Verständniß im West-oestlichen Divan: „Ihr [der Märchen aus Tausenduneiner Nacht] eigentlicher Charakter ist, daß sie keinen sittlichen Zweck haben und daher den Menschen nicht auf sich selbst zurück, sondern außer sich hinaus ins unbedingte Freie führen“ (FA I 3/1,160). Fritz Strich: Goethe und die Weltliteratur. 2. Aufl. Bern 1957, S. 162. Zum Subjektgedanken als vermeintlich exklusivem Bestandteil der ‚Kultur des Abendlandes‘ Dieter Sturma: Philosophie der Person. Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität. Paderborn 1997, S. 38 u. 45ff. Zur Orientphantasie als „salutary dérangement“ europäischer Leitideen vgl. Edward W. Said: Orientalism. Reprint with a new afterword. London 1995, S. 150, zur anti-individualistischen Wahrnehmung des Orients ebd., S. 154ff. Für die Einführung der Said-Debatte in die GoetheForschung Hendrik Birus: Goethes imaginativer Orientalismus. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1992, S. 107-128. Vgl. ferner Katharina Mommsen: Goethe und die arabische Welt. Frankfurt/M. 1988, bes. S. 239ff.

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Neben den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht hat sich Goethe für weniges auf dem Feld der Erzählliteratur vorbehaltloser begeistert und wirkungsvoller eingesetzt als für die Schriften Diderots.67 Hatte er der noch recht konventionell erzählten Klostergeschichte der Religieuse nur verhaltenes Interesse entegegengebracht, nahm er den Dialogroman Jacques le fataliste, als dessen Manuskript zwischen 1780 und 1782 in Weimar kursierte, geradezu euphorisch auf. Was sollte Goethe an diesem Werk, und zwar über die Bedingungen der Sturm-und-Drang-Zeit hinaus, so sehr geschätzt haben? Und mit welchen Konsequenzen für die eigene dichterische Arbeit?68 „Ich war“, so melden die Tag- und Jahreshefte für 1804, „von jeher, zwar nicht für Diderots Gesinnungen und Denkweise, aber für seine Art der Darstellung als Autor ganz besonders eingenommen“69. An der Darstellungsweise von Jacques le fataliste fällt freilich zunächst die große Zahl von Erzählintarsien unterschiedlichster Gattungsprovenienz auf – Goethe spricht von „Einschiebeschüsseln“70 –, die nicht weniger als drei Viertel des Buches einnehmen. Diderot wob ein Erzählgeflecht, in dem sich Personal und Handlung der diversen Einlagen sowohl untereinander als auch mit dem Rahmen überschneiden, in dem über Darbietung und Zurückhaltung von Texten reflektiert wird und sich letztlich jede Geschichte ihrer Abschließung verweigert. Dem Grenzsprengenden dieser Präsentation entspricht die ‚bizarrerie‘ der Situationen und die ‚bizarre personnage‘: unerklärbare, absurde Verhaltensweisen von Menschen, die sich selbst nicht mehr gleichen, übermächtige, kontingente Geschehnisstrukturen, welche die Akteure nach unteren und oberen Seelenkräften spalten und sie unter das Gesetz der Heteronomie stellen.71 (In seinem Essai sur la Peinture 67 „Unter all seinen Zeitgenossen zeigte Goethe das tiefste und vorurteilsfreieste Verständnis für Diderots Größe“ (Herbert Dieckmann: Goethe und Diderot. In: DVjs 10 [1932], S. 478-503, hier S. 480). Zur nachfolgend zu erhärtenden Vermutung, daß Goethe von Diderots Erzähltechnik gelernt hat, auch bereits Blackall: Goethe and the Novel, S. 90. 68 Nach Olaf Hildebrand (Im „Irrgarten“ der Paradoxien. Goethe, Diderot und ‚Le Neveu de Rameau‘. In: GJb 2001, S. 91-107, hier S. 92) soll diese Begegnung noch ohne Folgen geblieben sein. Konrad Rahe („Als noch Venus’ heitrer Tempel stand“. Heidnische Antike und christliches Abendland in Goethes Ballade ‚Die Braut von Corinth‘. In: Antike und Abendland 45 [1999], S. 129-164, hier S. 130ff.) liest dagegen Diderots Roman La Religieuse als Subtext der Braut. Eine ästhetische Allianz Goethes mit Diderot setzt Günter Oesterle (Goethe und Diderot: Camouflage und Zynismus. ‚Rameaus Neffe‘ als deutsch-französischer Schlüsseltext. In: Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe. Hg. v. Alexander von Bormann. Würzburg 1998, S. 117-135, hier S. 119ff.) für die Zeit nach 1799 an. 69 FA I 17,135. 70 An Merck, 7. April 1780 (WA IV 4,203). 71 Vgl. Rainer Warning: Illusion und Wirklichkeit in ‚Tristram Shandy‘ und ‚Jacques le Fataliste‘. München 1965, S. 95-119 („Die bizarre Wirklichkeit in den eingelegten Geschichten“); Roland Galle: Diderot – oder die Dialogisierung der Aufklärung. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus von See. Bd 13: Europäische Aufklärung III. Hg. v. Jürgen von Stackelberg. Wiesbaden 1980, S. 209-248, bes. S. 233ff.; sowie besonders Claudia Albert: „Nichts gleicht ihm weniger als er selbst“ – Aufspaltung und Multiplikation der Identitäten in Diderots Dialog ‚Rameaus Neffe‘. In: Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Hg. v. Ingrid Fichtner. Bern u. a. 1999, S. 15-29.

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von 1765 hat sich Diderot mit der ähnlich gelagerten Schwierigkeit gequält, wie man beim dauernden Wechsel im Menschen denselben porträtieren, d. h. malen oder plastisch abbilden könne, da sich bereits innerhalb weniger Sitzungen sein Charakter und Antlitz merklich verwandelt.72) Mit diesen Experimenten, darf man vermuten, bekam Goethe einige narratologische Probleme auf, die ihn nachhaltig beschäftigten. Auf den ersten Blick muß es merkwürdig scheinen, daß er diese „Art der Darstellung“ bereits in einem Zeitraum goutierte, in dem er seine Distanz zu Sterne und Jean Paul noch keineswegs aufgegeben hat. Wie sich 1805 in den Anmerkungen zur Übersetzung des Neveu de Rameau zeigt, rechnet Goethe dem Franzosen an, was er den beiden anderen Klassikern des digressiven Erzählens nicht konzedieren mochte: daß der bewegliche „Teil“, das scheinbar „heterogen[e] […] Ingrediens“ der komplexen Gesamtanlage „Halt und Würde gibt“, daß sich das Disparate und Kontrapunktische zu einer Konfiguration verbindet, indem die „von Anfang angelegten Fäden [vortrefflich] ineinandergeschlungen sind“.73 Hinsichtlich der Wanderjahre sprach Goethe ganz ähnlich von einem „Geschlinge“ der Erzählfäden.74 Und wenn ihm der Neveu den „anschaulichen Begriff von einer höchst problematischen Produktion“75 gab, so liegt das nicht fern von der Einschätzung der Lehrjahre als einer der „inkalkulabelsten Produktionen“76. Das etablierte und in vielerlei Hinsicht selbstverständlich auch bewährte Modell vom ‚Roman der Klassik‘ sieht dessen Erzählelemente sich „zu einem sinnhaltigen Ganzen zusammenschließen“77, in Übereinstimmung mit der Rekonstruktion des klassischen Kunstwerks als „vollkommen in sich 72 Denis Diderot: Essai sur la Peinture (1765). In: Ders.: Œuvres. Hg. v. André Billy. Paris 1951 (= Bibliothèque de la Pléiade, Bd. 25), S. 1113-1170, hier S. 1124f. u. ö. Vgl. Denis Diderot: Diderots Versuch über die Malerei. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Goethe. In: Johann Wolfgang Goethe. Bezüge nach Außen. Übersetzungen II. Bearbeitungen. Hg. v. Hans-Georg Dewitz. Frankfurt/M. 1999 (= FA I 12), S. 423-471, hier S. 456. Dazu auch Edith Zehm: „das Werk zu übersetzen und immer mit seinem Texte zu controvertieren“: Goethes Übersetzungs- und Kommentierungstechnik im kritischen Dialog mit Diderots ‚Essais sur la Peinture‘. In: Edition und Übersetzung. Zur wissenschaftlichen Dokumentation des interkulturellen Texttransfers. Hg. v. Bodo Plachta u. Winfried Woesler. Tübingen 2002, S. 105-117. 73 FA I 11,788. Dazu Dieckmann: Goethe und Diderot, S. 491f. 74 An Zelter, 5. Juni 1829 (WA IV 45,285). 75 FA I 11,798. 76 Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 141 (18. Januar 1825). Davon, daß Goethe die „paradoxale Struktur“ des Neveu nicht wahrgenommen habe und ihn lediglich als historisch-biographischen Schlüsselroman verstand (so Hildebrand: Im „Irrgarten“ der Paradoxien, S. 104), kann wohl kaum die Rede sein. 77 Engel: Der Roman der Goethezeit, S. 229-320 („Goethe, ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ [1795/96]; Ein symbolischer Bildungsroman“), hier S. 317f. Repräsentativ für den Einheitsbefund der ästhetischen Organisation der Lehrjahre unter Berufung auf „correspondences and foreshadowing“, „mirroring of the characters and contrasting figures“ Ernst Behler: ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ and the Poetic Unity of the Novel in Early German Romanticism. In: Goethe’s Narrative Fiction. Hg. v. William J. Lillyman. Berlin u. a. 1983, S. 110-127.

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geschlossene ‚kleine Kunstwelt‘“78, als „konsistentes Ganzes“79. Der kausale Nexus des Aufklärungsromans werde, so die nähere Beschreibung durch Manfred Engel, gelockert und durch einen symbolischen Nexus im Dienst ästhetischer Totalität ergänzt. Von dieser Position aus lag es stets auch nahe, solch magisch zwingender Formharmonie symbolische Versöhnungsleistungen hinsichtlich verschiedener Aporien und Widersprüche, darunter denen des Subjekts, zuzuschreiben: Sinn- und Wertstrukturen würden ästhetisch reetabliert und plausibilisiert.80 Die Indizien für eine von Goethe heimlich protegierte Poetologie der Grenzüberschreitung, die sich in Analogien und Wiederholungen, Spiegelungen und Verwandtschaften realisiert, deuten freilich noch auf etwas anderes. Der Anschein ästhetischer Notwendigkeit und Kontingenzaufhebung beruht demnach nicht weniger auf den Täuschungen einer glänzenden Exoterik als die schon lange suspekt gewordene Bildungsprogrammatik. Den Lehrjahren (als Goethes klassischstem Roman) eine Geschlossenheit und Stringenz zuzuschreiben, die nichts Äußerliches und Abundantes mehr kenne, heißt im Grunde, die Sprache der Bildungsprätention in die Formensprache des Erzählens retten zu wollen. Goethes Erzählen stellt die Erscheinung eines ‚für sich bestehenden Ganzen‘ jedoch nur in Aussicht, um sie subtil zerfließen zu lassen: in einer werkinternen wie -externen Intertextualität und Dialogizität, welche die Literaturkonzepte von Abgeschlossenheit und struktureller Totalität in Frage stellt.81 In solcher Architektur werden auch die Aporien des Subjekts nicht aufgehoben, sondern zum Vorteil einer fortgesetzten Dynamik und Unabschließbarkeit des Erzählens ausgehalten. Indem Goethe sozusagen die Innenorientierung der einzelnen Texte durch multiple Außenbezüge kontert, wird jene Unvordenklichkeit textsprengender Spiegelungen und Verwandtschaften entfesselt, die in der geschlossenen Form gerade bewältigt schien. Wie zu beweisen sein wird, setzt Goethe gegen das abgerundete Erzählen konsistenter Subjekte das unabgeschlossene Erzählen aporetischer Subjekte.

78 Engel: Der Roman der Goethezeit, S. 78. 79 Spies: Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick, S. 234. Goethe sei überzeugt gewesen, mit den Lehrjahren ein solches zuwege gebracht zu haben. 80 Vgl. ebd., S. 318. 81 Vgl. Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 56.

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b) Spiegelungen und Verwandtschaften „Ja, sehe ich denn irgend etwas anderes als diese Gestalten, die durch eine bewundernswerte Zauberei einander wie hundertfältige Spiegel ihr ganzes Leben […] tausendfach multipliziert zuwerfen?“82 So konstatiert Joseph von Hammer-Purgstall bei Betrachtung des Werks Balzacs in Hugo von Hofmannsthals erfundenem Gespräch Über Charaktere im Roman und im Drama, angesiedelt im Jahr 1842. Das Denkbild, das damit auf die Beschreibung literarischer Figuren angewendet wird, ist kein anderes als das der ‚wiederholten Spiegelungen‘. Daß die Goethe-Verehrung und -Forschung dieser Ikone der Koinzidenz von Kunst- und Naturgesetz jahrzehntelang, mit einer Klimax in den 1950er und 60er Jahren, überschwengliche Verehrung entgegenbrachte, mag die inzwischen geübte relative Abstinenz erklären.83 Mustergültig hatte Liselotte Dieckmann das Prinzip der ‚wiederholten Spiegelungen‘ als ausschlaggebende Verfahrensweise von Goethes Romanen herausgestellt. Gemeint ist „the technique of putting identical or quasi-identical events early and late in the book“, vermittels „double occurrences“, „repitition of objects“ und mise-en-abîme-Strukturen.84 Dieckmann knüpft Semantiken der Selbstbefragung und der Selbsterkenntnis (z. B. „Wilhelm learns to know himself“85) daran, läßt sich ungewöhnlicherweise aber auch kurz (anläßlich der Lehrjahre) auf die Beobachtung ein, daß die Identität von Charakteren durch derlei Spiegelspiel verwischt wird: durch die nie recht motivierte Gestaltähnlichkeit von Wilhelm und Laertes, die identischen Handschriften der Gräfin und Natalies, Lotharios Verwechslung einer früheren Geliebten mit deren Tochter und ähnliches mehr.86 Freilich löst sich die Studie weder vom Totalitätspostulat des Einzeltextes noch also von den Beschränkungen der Solitärforschung. Eben darin besteht aber – so die hier zu verfolgende These – das herausragende Potential der ‚wiederholten Spiegelungen‘ sowie auch der Goetheschen Verwandtschaftslehre, die manches des von Dieck82 Hugo von Hofmannsthal: Über Charaktere im Roman und im Drama. Gespräch zwischen Balzac und Hammer-Purgstall in einem Döblinger Garten im Jahre 1842. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Bd. 7. Frankfurt a.M. 1979, S. 481-494, bes. S. 482. 83 Zusammenfassend zur älteren Forschungsdiskussion Rita Terras: Goethe’s Use of the Mirror Image. In: Monatshefte 67 (1975), S. 387-402. Aus jüngerer Zeit sind inbesondere zu nennen Günter Saße: „Der Abschied aus diesem Paradies“. Die Überwindung der Sehnsucht durch die Kunst in der Lago Maggiore-Episode in Goethes ‚Wanderjahren‘. In: SchJb 42 (1998), S. 95-119, hier S. 115119 (‚wiederholte Spiegelungen‘ als Form der Tilgung von Unmittelbarkeit); Herwig: ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘, S. 371-394 („Makarie: Versöhnung von Naturphilosophie und Naturwissenschaft“); sowie von philosophischer Seite das Goethe-Kapitel in Konersmann: Lebendige Spiegel, S. 177-235. 84 Liselotte Dieckmann: Repeated Mirror Reflections: The Technique of Goethe’s Novels. In: Studies in Romanticism 1 (1961), S. 154-174, hier S. 172 u. 159. 85 Ebd., S. 161. 86 Ebd., S. 162f.

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mann Avisierten bedeutend genauer als das optische Modell erfaßt. Die hierzu notwendige Übertragung naturwissenschaftlicher auf literarische Praktiken stellt sich in beiden Fällen als legitim, weil als Rückübertragung dar. Goethe beobachtete die Natur unter der Maßgabe primärer ästhetischer Bedürfnisse und daraus abgeleiteter Kriterien.87 Man möge nicht vergessen, so schreibt er, „daß die Wissenschaft sich aus der Poesie entwickelt habe“ und daß „beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten“.88 Dabei kommt ein Zwei-Kulturen-Antagonismus umso weniger zu tragen, als es Goethe auch in seinen naturwissenschaftlichen Bestrebungen bei aller Affinität zum Gesetzmäßigen niemals um die Auffindung meßbarer Gesetzlichkeit ging. Vielmehr bewahrt er den Beobachtungsgegenständen ihre diskursive Undurchdringlichkeit. Bereits während seiner frühesten optischen Arbeiten, den Prisma-Versuchen von 1791, bemerkte er, daß man an dem Beobachteten „eine gewisse Ordnung wahr[nimmt], ohne sie genau bestimmen zu können“.89 Dieser epistemologische Relativismus erinnert freilich auch an die begrenzte Schärfe, die sich bei der Protokollierung von Gesetzmäßigem in Goethes Erzählen allenfalls erreichen läßt. Leitend für die Bestimmung der Wiederholten Spiegelungen, „eines allgemein physischen, im besondern aber aus der Entoptik hergenommenen Symbols“, muß Goethes so betitelter (von Dieckmann aus den Augen verlorener) Aufsatz von 1823 sein, der vieldeutige Nachricht von der langdauernden Wiederholungs- und Brechungsdynamik des Sesenheim-Motivs gibt. „Ein jugendlich seliges Wahnleben spiegelt sich unbewußt-eindrücklich in dem Jüngling ab. […] Das lange Zeit fortgehegte, auch wohl erneuerte Bild wogt […] viele Jahre im Innern. […] wird endlich in lebhafter Erinnerung nach außen ausgesprochen und abermals abgespiegelt“.90 Goethe verlängert die empirisch-psychologische Diagnose einer frühen, initialen Prägung, die durch einen bestimmten Motivkomplex (Sesenheim) erfolgt, um die erinnerungstheoretische Beobachtung von dessen modifizierender Prolongation und kombinierender Reaktualisierung. Die Operationen des Forthegens, Erneuerns und Erinnerns generieren ein Bezugssystem über mehrere einzelne Stationen „in der Geschichte der Künste“91 hinweg. Dabei „verbleichen“ 87 „Der vergleichende Naturforscher und der gestaltende Dichter sind also Manifestationen desselben poetischen Bildungstriebes“ (Hans-Georg Gadamer: Goethe und die Philosophie. Leipzig 1947, S. 14). Dazu Wachsmuth: Geeinte Zwienatur, S. 267-289 („Natur und Kunst“), Callot: La philosophie biologique de Goethe, S. 175-184 („Conclusion – Philosophie de la nature et de l’art“), sowie Dorothea-Michaela Noé-Rumberg: Naturgesetze als Dichtungsprinzipien. Goethes verborgene Poetik im Spiegel seiner Dichtungen. Freiburg/Br. 1993, zu den ästhetischen Ausprägungen der Metamorphose, des Urphänomens und der wiederholten Spiegelungen hier S. 96ff., S. 184ff. u. 196ff. 88 Metamorphose der Pflanzen. Schicksal der Druckschrift (FA I 24,420). 89 Beiträge zur Optik. Erstes Stück (FA I 23/2,27). 90 FA I 17,370f. 91 Ebd., S. 371

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die „Erscheinungen“ „von Spiegel zu Spiegel nicht etwa“, sondern „[entzünden] sich erst recht“92 – Worte, bei denen man auch an die Intensitätssteigerung denken könnte, mit der die Figurenpoetik, die hinter der Reihe Mignon, Ottilie und Makarie waltet, immer phantastischere Züge zuläßt: vom Psychologisch-Merkwürdigen zum Parapsychologisch-Übernatürlichen. Die „Zweyte Gegenwart“ steigert das Vergegenwärtigte „zu einem höheren Leben“ empor.93 Es geht im Spiegelungen-Aufsatz (von den biographischen Referenzen einmal abgesehen) unausgesprochen um ein Textensemble, das die Sesenheimer Gedichte, Dichtung und Wahrheit (die Sesenheim-Episode) sowie den Aufsatz selber umfaßt. Damit liegt in ihm gewissermaßen eine auf das eigene Werk gewendete Theorie der generativen Textkonstitution Goethes vor. Die Möglichkeit solcher Wechselverhältnisse ist also nicht auf eine einzige literarische Gattung beschränkt. „Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direct mittheilen läßt“, schrieb Goethe 1827 in der Epoche der Wanderjahre, „habe ich seit langem [!] das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.“94 Daß solchem Textgrenzen überwindenden Funkenflug indes besondere Relevanz im Feld der Erzählprojekte zukommt, weist die dem Spiegelungsgedanken äquivalente Selbstdeutung des Erzählmentors der Unterhaltungen auf: Die verschiedenen Narrationen seien als „Parallelgeschichten“ aufzufassen, „[e]ine deutet auf die andere hin und erklärt ihren Sinn besser als viele trockene Worte“ (9,1058). Bei späterer Gelegenheit sprach Goethe von der Technik, „eine Erzählung durch die anderen hervor[zu]rufen“95. Der Dichter stellt einen Zusammenhang von Wiederholung und Darstellung her, dem in jüngerer Zeit Eckhard Lobsien eine bestechende theoretische Form verliehen hat. „In der Wiederholung stellt sich der poetische Text selber dar als etwas, das in Akten der Vergegenwärtigung immer neu zu sichern ist, damit so etwas wie eine Darstellung entfaltet werden kann.“96 Dabei definiert sich die literarische Wiederholung über eine „Ähnlichkeitsassoziation“, in der wir „ein Textelement A als A° eines früheren A identifizieren“.97 Sie bestreitet 92 93 94 95

Ebd. Ebd. An Carl Jakob Ludwig Iken, 27. September 1827 (WA IV 43,83). Mit Friedrich Wilhelm Riemer, April 1807 ([Johann Wolfgang Goethe]: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann. Erg. u. hg. v. Wolfgang Herwig. 4 Bde. Zürich 1965ff., Bd. 2, S. 209). 96 Eckhard Lobsien: Darstellung und Wiederholung: Zur Phänomenologie poetischer Repräsentation (‚Paradise Lost‘). In: Was heißt „Darstellen“? Hg. v. Christiaan L. Hart Nibbrig. Frankfurt/M. 1994, S. 119-138, hier S. 123. Vgl. Eckhard Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung. Phänomenologie poetischer Sprache. München 1995. 97 Lobsien: Darstellung und Wiederholung, S. 132. Zur rekurrenten Selbigkeit eines Differenten als episches Organisationsprinzip auch Waltraud Wiethölter: „Ursprünglicher Gedanken Refrain – Wieder-

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dem Wiederholten dessen Individualität, „denn da A auch als A° erscheint, sehen sich beide auf ein sie übergreifendes Konzept verwiesen“,98 das Goethe als Typus, Urphänomen oder wesentliche Form gefaßt hat. Des weiteren verweist die Wiederholung auf „die Unzulänglichkeit einer zeitlich-linearen Folge“99 für die Darstellung komplexer Sachverhalte. Sie enthält in dieser Funktion bereits den Impetus für die manifeste Linearitätsüberschreitung der Wanderjahre. Was das Spiegelungen-Modell jedoch schon wegen des Skizzencharakters, in dem Goethe es belassen hat, schwerlich leisten kann, ist eine begriffliche Präzisierung und Konkretisierung der Operationen, die mit Forthegen und Erneuern, zweiter Gegenwart und Steigerung nur erst angedeutet sind. Wie lassen sich die Formen und Modalitäten beschreiben, in denen die Konfigurationsakte von Goethes Erzählsystem genau performieren? Wie arbeitet das Gedächtnis, das Goethes Erzählen offenbar in bezug auf sich selbst pflegt, und in welchem Verhältnis kommen dann die „mancherlei Bilder“, die auf diese Weise „wieder hervorgerufen“ werden,100 zueinander zu stehen? Eine für die weitere Textdeutung vorerst ausreichende Antwort vermag diese Fragestellung in den Maßstäben von Goethes zweitem physischen Symbol zu finden: der Verwandtschaft als einem Gedanken, der seinen Ausgang von der neuplatonisch-alchimistischen Korrespondenzenlehre im Weltbild des jungen Goethe nahm, um nach und nach eine relativ breite naturwissenschaftliche Ausarbeitung zu finden.101 Im Kern handelt es sich darum – sei es mittels der Chemie hinsichtlich der kleinsten Materieteilchen, sei es mittels der Biologie hinsichtlich organisierter Körper102 –, die „nahe Verwandtschaft entfernt scheinender Dinge zu fassen“.103 Für die grundsätzliche narratologische Konvertierbarkeit des dadurch gezogenen Gedankenkreises bietet zweifellos die experimentelle Reinheit der Wahlverwandtschaften den Präzedenzfall.

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holung“. Zum Phänomen frühromantischer Zyklik. In: DVjs 75 (2001), S. 587-656, zu den Lehrjahren hier, und zwar ausdrücklich unter dem Blickwinkel ihrer Figurengestaltung, S. 594ff. u. 618f.; sowie Sabine Haupt: „Es kehret alles wieder“. Zur Poetik literarischer Wiederholungen in der deutschen Romantik und Restaurationszeit: Tieck, Hoffmann, Eichendorff. Würzburg 2002, zu Goethe S. 104ff. Zur ‚Wiederkehr des Gleichen‘ als Narrationsstrategie bereits Helmut Pfotenhauer: Aspekte der Modernität bei Novalis. Überlegungen zu Erzählformen des 19. Jahrhunderts, ausgehend von Hardenbergs ‚Heinrich von Ofterdingen‘. In: Zur Modernität der Romantik. Hg. v. Dieter Bänsch. Stuttgart 1977, S. 111-142. Ebd., S. 134. Ebd., S. 135. Dichtung und Wahrheit (FA I 14,688). Vgl. Georg Schwedt: Goethe als Chemiker. Berlin u. a. 1998, bes. S. 9-22 („Alchemistische Experimente im Elternhaus“). Zur Arbeitsteilung zwischen chemischen und medizinisch-biologischen Disziplinen bei Goethe vgl. (FA I 24,362-364). Dazu Kuhn: Typus und Metamorphose, S. 106-119 („Goethe und die Chemie“). Einleitung ([Johann Wolfgang Goethe] Kupferstich-Anzeigen für die ‚Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘ u. a., S. 135).

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Chemisch-biologische Anziehungs- und Korrespondenzregeln bilden hier erzählerische Organisationsprinzipien ab.104 Wenn man diesen Roman, wie in der Forschung unbestritten, als experimentelle Anordnung zu verstehen hat, greift aber, genau betrachtet, Goethes methodische Forderung nach der „Vermannigfaltigung eines jeden einzelnen Versuchs“: nach einer Serie, um „alle Seiten und Modifikationen einer einzigen Erfahrung“105 auszuleuchten. Ein Leitfaden der Wahlverwandtschaften ist es denn auch, der die Verwandtschaftslehre mit der Konfiguration zwischen den Erzähltexten in Beziehung setzt. Es handelt sich um die neokabbalistische „Zeichensprache“ (8,306) des OTTO-Palindroms, das, wie man weiß, sowohl den gemeinsamen Nenner aller beteiligten Figuren (von Ottilie über Eduard, ehemals Otto, den Hauptmann gleichen Namens bis hin zu Charlotte) bildet, als auch die Anziehungsregeln zwischen ihnen codiert, indem sich die Nachbarn A und B bzw. C und D der chemischen Gleichnisrede (vgl. 8,301-306) ebenso trennen und verbinden wie O und T bzw. T und O, worauf sich die thanatologische Kombination TOOT einstellt. Otto als italienisch für die Ziffer Acht strukturiert die Gliederung des Geschehens nach den von Heinz Schlaffer unübertroffen beschriebenen „mathematische[n] Relationen“: die wiederholte Vierzahl, die zwei mal acht-zehn Kapitel des Romans, die Prophezeiungs-Bewahrheitungs-Verhältnisse und Kontrastierungen zwischen den vierten und achten Kapiteln, die Geburt des kurzlebigen Kindes Otto im achten Kapitel des zweiten Teils.106 Diese Verwandtschaftsmathematik hängt insofern mit der Konfiguriertheit der Erzählprojekte zusammen, als ihr Zahlenspiel bemerkenswerterweise weder erst eine Erfindung der Wahlverwandtschaften noch auf diese beschränkt ist: Dafür stehen in einer regelrechten Deklinationsreihe die Namen Lottes/Charlottes (vgl. 8,38) im Werther, Ottilies in der Ferdinand-Geschichte der Unterhaltungen sowie Lotharios in den Lehr- und Wanderjahren. Bereits im Werther steht die Ziffer im Zeichen der (hier durch eine Tanzfigur symbolisierten) letztlich tödlichen Trennung: „Wer ist Albert, sagte ich zu Lotte, wenn’s nicht Vermessenheit ist zu fragen. Sie war im Begriffe zu antworten, als wir uns scheiden mußten die große 104 Vgl. beispielsweise Elisabeth von Thadden: Erzählen als Naturverhältnis – ‚Die Wahlverwandtschaften‘. Zum Problem der Darstellbarkeit von Natur und Gesellschaft seit Goethes Plan eines ‚Roman über das Weltall‘. München 1993, bes. S. 84f. u. S. 117ff. 105 Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt (FA I 25,33). 106 Vgl. Heinz Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. In: Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hg. v. Norbert W. Bolz. Hildesheim 1981, S. 211-229, hier S. 216f. Wohlfeil die an abseitigen Beispielen geübte Kritik von Thomas Zabka: „Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben“. Zur Überinterpretation von Buchstaben und Satzzeichen in der neueren Goethephilologie. In: Goethe nach 1999. Positionen und Perspektiven. Hg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Göttingen 2001, S. 9-21. Zur Bedeutung von Einzelbuchstaben bei Goethe vgl. vielmehr auch Matthias Luserke-Jaqui: Über Literatur und Literaturwissenschaft. Anagrammatische Lektüren. Tübingen u. a. 2003, S. 135-144 („Über Goethes ‚Werther‘ oder Anagrammatik und Editionsphilologie“).

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Achte zu machen“ (8,48). Das achte Kapitel des achten Lehrjahre-Buchs bildet den Schauplatz von Mignons Bestattung. Die in den Wahlverwandtschaften akute nekronyme Bedeutung des OTTO/TOOT-Palindroms ist demnach verschiedenen neuralgischen Punkten eines ganzen Netzwerks mitgegeben. – Das solchermaßen transportierte Todesgedenken, die spinozistische Ethik des memento vivere untergrabend, hat seinen häufigsten Gegenstand im Ertrinken: Durch Goethes Erzählen erstreckt sich eine Isotopie der weiblichen Wasserleiche, die bereits im Werther (vgl. 8,98) initiiert wird. In den Wahlverwandtschaften droht Ottilie ihr „Vergehen“ im See zu büßen (8,501). Die Anatomiethematik der Wanderjahre entzündet sich am Fall eines ertrunkenen Mädchens (vgl. 10,602), und selbst der Schluß des Altersromans bezieht sich mit der Rettung des ertrinkenden Felix (wie wir noch sehen werden, vgl. unten V.2.e) ex negativo auf dieselbe Obsession. Das klassische Paradigma der weiblichen Wasserleiche bietet freilich Shakespeares „Ophelie“ (9,610). Ihr ist in den Lehrjahren ein beziehungsreiches Gespräch zwischen Wilhelm und Aurelie gewidmet, das auf den Tod der Schauspielerin vorausdeutet. Ersetzt man nach Art der von Goethe so geschätzten Kryptogramme die beiden ‚t‘ in ‚Ottilie‘ durch den achten und sechzehnten (also zweiten achten) Buchstaben des Alphabets, erhält man immerhin ‚Ophilie‘. – Auch auf solch verschlungenen Wegen bewährt sich Goethe als der „ethisch-ästhetische Mathematiker“, als den ihn Albrecht Schöne bezeichnet hat.107 Die Feststellung des Konfigurationsverhältnisses von Goethes Erzählprojekten läßt sich hinsichtlich der Figuren, die ein entscheidendes Element in dieser Netzwerkbildung darstellen, nach drei Kategorien differenzieren: nach ihrer inneren Zusammensetzung, ihrer Abwandlung und ihrem Bezug aufeinander; in der Begrifflichkeit von Goethes ästhetisch-naturwissenschaftlicher Denkform: nach ihrer Kombination, Modifikation und Kommunikation. Diese Auffächerung findet sich im Kontext der Italienreise anläßlich wiederholter experimentalchemischer Überlegungen, „Crystallisationsbeobachtungen“, die aber „so wohl hier als bey der Vegetation“ statthaben.108 Auf das OTTO-Schema übertragen, dürfte man feststellen, daß es erstens aus Buchstaben kombiniert ist, zweitens in den Namensformen wie Lotte etc. modifiziert wird und drittens seine verschiedenen Realisierungen miteinander kommunizieren. Ihrer abgeschlossenen dreigliedrigen Form nach eignet der von Goethe festgestellten Gesetzmäßigkeit eine Luzidität, die klassizistischen Ansprüchen Genüge leistet. Ihrem Gehalt nach läßt sie sich aber auf die „Unendlichkeit“ und das „[U]nzuberechnende“ der von ihr beschriebenen „Kräfte“ ein: auf eine Unabschließbarkeit und Inkalkulabilität, die Goethe 107 Albrecht Schöne: Johann Wolfgang Goethe. Faust. Kommentare. 4. Aufl. Frankfurt/M. 1999 (zuerst 1994) (= FA I 7/2), S. 62. 108 An Philipp Seidel, 29. Dezember 1787 (WA IV 8,319f.); dazu Schwedt: Goethe als Chemiker, S. 57-73.

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sichtlich nicht ganz geheuer war.109 Von der Öffnung und Zerdehnung, welche die Gestalten dabei erfahren können, weicht Goethe im selben Kontext auf einen Gegenstand aus, der der Figur klare Kontur und feste Fügung verspricht: „Ich bin jetzt mit der Form des menschlichen Körpers beschäftigt, davon man ausser Rom nur einen unvollkommnen Begriff haben kann.“110 Die marmornen Gestalten der bildenden Kunst scheinen sicherere Integrität zu versprechen (vgl. unten II.1). Der Kombinationsaspekt deckt das Areal derjenigen ästhetischen Entscheidungen ab, die das figurenkonstitutive Repertoire von Baubestandteilen und Konstruktionsregeln betreffen. Als Gesamtheit der Auswahlmöglichkeiten fungiert hierbei die Größe, die Goethe seit 1790 unter dem Namen des Typus beschäftigte: in den Notizen zur (1794) als „der innere Kern“ bestimmt, „welcher durch die Determination des äußeren Elementes sich verschieden bildet“, sodann als das einer Phänomenreihe zugrundeliegende „einzige Muster“ im „geheimnisreichern Bau der Bildung“,111 mithin als „Leitfaden“ durch das „Labyrinth“ unvordenklicher Wandlungen.112 Die hintergründige Wirksamkeit eines Typus anzunehmen, hilft namentlich darin weiter, die Verwandtschaft zwischen den Gestalten Mignons, Ottilies und Makaries zu erklären. Sie sind in der Erfahrung gewahr werdende Fälle einer Deklinationsreihe, deren Stammform durch ‚stufenweises Hinaufsteigen‘113 zu eruieren ist. Als eine Art Leitentwurf, der über den Einzeltexten steht, realisiert sich der Typus allein in Phänotypen, die – durch die jeweiligen Umstände modifiziert – in einer konkreten Erzählumgebung auftreten (entsprechend der Formulierung vom ‚verschieden bildenden‘ ‚äußeren Element‘). Auf diese Weise eröffnet sich der Natur und der Kunst „eine unzählige Combination und Modification […], ohne daß ihre Grundpfeiler erschüttert“ würden.114 Einen Typus zu postulieren, rührt von der Ahnung eines Gesetzes, das sich nur in Ausnahmen kundgibt. Er stellt mit anderen Worten ein unerreichbares Zentrum dar, das sich ausschließlich in dezentralen Positionen manifestiert.115 Das Individuelle – und hier ist man 109 110 111 112

Mit David Veit, 11. August 1795 (Goethes Gespräche 1,176). An Philipp Seidel, 29. Dezember 1787 (WA IV 8,320). FA I 24,212f. Ebd., S. 234. Dazu Hans Joachim Becker u. Eckhard Lieb: Goethes Biologie. Bedingung und Freiheit durch Kompensation. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 86/87/88 1982/1983/1984, S. 67-112, bes. S. 75ff. 113 Vgl. Farbenlehre (FA I 23/1,81). 114 An Philipp Seidel, 29. Dezember 1787 (WA IV 8,321). 115 Die hier an Goethes Denken gewonnenen Kategorien lassen sich unschwer an Unterscheidungen der strukturalistischen Narratologie anschließen. Akteure (als Elemente der parole) sind dort Realisierungen von Aktanten (als Elementen der langue). Dasselbe Aktans kann durch verschiedene Akteure dargestellt werden. Es ist die kontingente Manifestation einer notwendigen Struktur. Daß das Erzählen fortgesetzt werden muß‚ beruht dann auf der ‚Alexikalität‘ oder Uneinholbarkeit des Aktans. Vgl. Tzvetan Todorov: Die strukturelle Analyse der Erzählung. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Hg. v.

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gar nicht mehr so weit von einem Grundgedanken der Schopenhauerschen Willensmetaphysik entfernt (vgl. unten III.1.f) – gehört der Erscheinung an: „Außen mag’s in Glätte, mag in Farben gehen,/ Es ist ihm schon voran gewaltet“, formulierte Goethe bezüglich des einzelnen „Gebilde[s]“ (2,515) in dem nach 1815 entstandenen Gedicht Typus. In der Sammlung der Gedichte von 1827 erscheint es in der Rubrik „Kunst“! Das vorstrukturierende Walten einer hinter der Szene angesiedelten Generalinstanz setzt die Singularität der Einzelerscheinungen zugunsten ihres Aufeinander-Bezüglichen aufs Spiel. Goethe begegnet der identitätstheoretischen Beunruhigung, die darin liegt, mit einem der Begründung enthobenen Postulat, einem Machtwort zugleich an den diesbezüglichen Brief- und Gesprächspartner Philipp Seidel: Denn „wenn gleich alle Wesen mit einander in Communication stehen“, so sei doch die „Art zu seyn der Dinge“, ihr Sosein oder ihre Identität, „auf eine unglaubliche und geheimnißvolle Weise bestimmt und umschrieben“.116 In der Novelle Novelle, am zeitlichen Endpunkt seines Erzählens, hat Goethe eine eindringliche Allegorie des hier beschriebenen Kombinationsverfahrens versteckt: Als „ganz besonders“ merkwürdig am Gesang des göttlichen Kindes wird hervorgehoben, daß es „die Zeilen der Strophe nunmehr zu anderer Ordnung durcheinanderschob, und dadurch wo nicht einen neuen Sinn hervorbrachte, doch das Gefühl in und durch sich selbst aufregend erhöhte“ (8,551). Daraus geht zum einen hervor, wie sehr es der dabei annoncierten Kombinatorik nicht allein um die Ausleuchtung einer Semantik zu tun ist, sondern auch und gerade um eine Steigerung auf der sinnlichen Reizpalette. Zum anderen zeigt sich damit, daß aus der Kombinierbarkeit der Baubestandteile das Auftreten von Modifikationen folgt – als Ergebnis einer Beweglichkeit oder „Versatilität“117, deren vitalste und konsequenteste Erscheinung die Metamorphose darstellt. Im Unterschied zum Aspekt der Kombination bezieht sich der der Modifikation nicht unmittelbar auf den Typus, sondern auf das Verhältnis der Phänotypen, und zwar derselben Versuchsreihe. In den Schriften zur Idee des ‚osteologischen Typus‘, so bereits im Ersten Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie (1795), bestimmt Goethe die „Modifikabilität“ als die durch die „Menge der Teile“ gegebene Möglichkeit der „Veränderung der Gestalt ins Jens Ihwe. Bd. 3. Frankfurt/M. 1972, S. 265-275; Algirdas Julien Greimas: Die Struktur der Erzählaktanten. Versuch eines generativen Ansatzes. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Hg. v. Jens Ihwe. Bd. 3. Frankfurt/M. 1972, S. 218-238, ders.: Strukturale Semantik, bes. S. 157-177 („Überlegungen zu den aktantiellen Modellen“); sowie Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. 4. Aufl. München 1993 (zuerst 1972), S. 357368 („Figur und Charakter“). 116 An Philipp Seidel, 29. Dezember 1787 (WA IV 8,320). 117 Allgemeine Einleitung in die vergleichende Anatomie (FA I 24,233). Dazu Valerio Verra: Die Vergleichungsmethode bei Herder und Goethe. In: Bausteine zu einem neuen Goethe. Hg. v. Paolo Chiarini. Frankfurt/M. 1987, S. 55-65, hier S. 61.

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Unendliche“118. Unter experimentalchemischen Rücksichten faßt er sie als Resultat von „Beymischung[en]“, welche „die Gestalt der anschießenden Körper [verändern]“.119 Zu diesen Veränderungsoperationen rechnen unter anderem Zusammenziehen und Ausdehnen, Verbinden und Sondern, Erweichen und Verhärten, Mitteilen und Entziehen. Schließlich stehen die vom selben Typus abgeleiteten Phänotypen im Verhältnis einer Kommunikation, die verschiedene Richtungen nimmt. Hierher gehört zuerst die Antizipation: ein wesentlicher Begriff für Goethes künstlerische und naturwissenschaftliche Methode, der bereits in den Tag- und Jahresheften für die 1780er Jahre und noch in den Altersgesprächen eine Rolle spielt.120 Gemeint ist damit zunächst ein Bedürfnis des Dichters, die Welt von allem Anfang an in sich zu tragen, was ihm die Wirklichkeit verweigert, aber die Kunst erlaubt. Aus rhetorischer Tradition in das metamorphotische Denken gewendet, erfaßt der Terminus sodann die Anlage späterer Stadien organischer Entwicklung in früheren, so daß jede Gestalt die Zeichen ihres Ursprungs an sich trägt.121 Poetologisch beschreibt Goethe damit schließlich Motive, die auf „dasjenige, was nach der Epoche des Gedichts geschehen wird“, vorausgreifen.122 Im berühmten Brief an Frau von Stein vom 24. Juni 1783 betrachtet er die Protagonistin des Werther in diesem Sinn als „die Lotte, die auf dich vorgespukt“123. Die Spukmetapher erfaßt aber auch einen Aspekt der unregelmäßigen Verwandtschaft zwischen Goethes ‚geliebten Töchtern‘: jene Wiederkehr des Gleichen und Ähnlichen in ihnen, die an den Wiedergang Verstorbener und an Seelenwanderung gemahnt (Phänomene im übrigen, die in der identitätstheoretischen Diskussion zwischen Locke und Leibniz als Problemfälle personaler Identität herangezogen werden124). – Der Kommunikationsrichtung der Antizipation antwortet die der Reminiszenz, durch die das „Gesehene an[fängt] sich zu ordnen“125. Antizipierende Vorbedeutungen und Weissagungen erhalten ihr Gegengewicht also durch zurückgreifende Motive desjenigen, „was vor der Epoche des Gedichts geschehen ist“126. – Aus Antizipation und Reminiszenz resultiert ein drittes, da sich „ihrer Natur nach inner118 Allgemeine Einleitung in die vergleichende Anatomie (FA I 24,233). 119 Ebd. 120 Vgl. Tag- und Jahreshefte: Bis 1780 u. 1787 bis 1788 (FA I 17,13f. u. 16), Die Metamorphose der Pflanzen (FA I 24,145ff.), sowie Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 97f. (26. Februar 1824). 121 Vgl. Die Metamorphose der Pflanzen (FA I 24,145ff.). 122 Über epische und dramatische Dichtung (FA I 22,296). 123 WA IV 6,176. 124 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1704). Übers., mit Einleitung u. Anmerkungen hg. v. Ernst Cassirer. 3. Aufl. Hamburg 1996 (zuerst 1915), S. 219, in bezug auf John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand (1689). 2 Bde. 4. Aufl. Hamburg 2000 (zuerst 1911/13), S. 410-438. 125 An Philipp Seidel, 13. Januar 1787 (WA IV 8,125). 126 Über epische und dramatische Dichtung (FA I 22,296).

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lich gleiche Teile […] parallelisieren“.127 Vorgezeichnete und wiederholte Elemente treten in Parallelposition, indem sie sich wechselseitig beleuchten und erklären. Den Konfigurationen nachzuspüren, die sich aus diesem kommunikativen Geflecht ergeben, verschiebt unsere Aufmerksamkeit letztlich von der Sukzession zur Simultanität des Erzählens, damit aber auch von der syntagmatischen Horizontale der Geschichte der Charaktere zu deren Verwandtschaftsverhältnis auf einer paradigmatischen Vertikalachse. Ein Blick zurück: Im Vorangehenden wurde die Generalthese eines in Goethes Romanen und ‚kleinen Erzählungen‘ vorliegenden Erzählsystems, einer Textgrenzen überschreitenden Organisiertheit der Narration, anhand von Goethes Figurenkonzept präzisiert. Dabei versteht sich von selbst, daß die Bildung konziser begrifflicher Operatoren die enorme Beweglichkeit dieses Erzählens niemals einzuholen vermag. Noch einmal mit dem ästhetischen Naturwissenschaftler Goethe gesprochen: Unsere „Vorstellungsarten sind roh und grob gegen die Zartheit des unergründlichen Gegenstandes“128, und zwar notwendigerweise. Der Gewinn unserer Überlegungen sollte darin bestehen, die folgenden, synoptisch angelegten Lektüren narratologisch fundiert zu haben – mit Hilfe einer zweckmäßigen, aus Goethes eigenem Denken geschöpften Terminologie, die so manche Ansprüche der modernen Erzähltheorie erfüllt, ohne von dieser geborgt zu sein.

127 Versuch aus der vergleichenden Knochenlehre. Nachträge (FA I 24,493). 128 (FA I 24,361). Die „Bestimmtheit der theoretischen Exposition“ kann deshalb in unserem Gegenstandsbereich schwerlich der „Komplexität des realen Sachverhalts“ Rechnung tragen (Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie, S. 170f.).

II. „Meine dargestellten Frauencharactere“ Der homo fictus als Träger von Subjektprädikaten 1. Figurenpoetik a) Der figurenpoetologische Debattenrahmen Bei aller in der Goethe-Erzählforschung gepflegten Selbstverständlichkeit, zumindest die Hauptvertreter des erzählten Personals gleichsam für ideengeschichtliche, wissenssoziologische, poetologische und anderweitige Kristallisationskerne zu nehmen (vgl. Einleitung, 3.b), wurde kaum jemals expliziert, wie man sich die Eigenart des damit vorgenommenen Beobachtungsgegenstandes, nämlich die von Gerhart von Graevenitz für den Meister einmal angedachte „Entstehung epischer ‚Personen‘“1 sowie die narrative Figurenkonzeption, historisch und systematisch vorzustellen habe. Das erzählgesetzliche Grundelement, das der fiktionale Mensch zweifelsohne darstellt, scheint spezifische mediale Leistungen zu erbringen, die sich den gängigen Erklärungsmustern der Personifikation und Symbolisation nur unzulänglich erschließen. Der Forschungsfehlbetrag fällt umso gravierender aus, als Goethe und seine Gewährsleute selber die Poetik des Papiermenschen vielschichtig interessant diskutierten: Die erzähltheoretischen Debatten des 18. Jahrhunderts zeigen sich von der poetischen Simulation des Menschen, „Haupthelden“ und „Trabanten“ (9,20), hochgradig okkupiert – sei es als literarische Beschreibung realer Menschen oder als Verlebendigung imaginärer Figuren.2 Die Konventionen, nach denen sie entworfen wurden, befanden sich seit der Umstellung von einer benennenden auf eine malende Idee der Poesie in einem Umbruch, der die kürzlich noch bestimmende Rhetoriktradition der descriptio de capite ad pedem bzw. descriptio vestis et corporis ebenso antiquierte wie die Allgemeingültigkeit eines Tugenden- bzw. Lasterkataloges und die Personencharakterisierung nach der zähllogisch erschöpfbaren Temperamententafel. So kam es Johann Jacob Bodmer für die Wertschätzung der Poetischen Gemälde der Dichter (1741) darauf an, daß wir die „neuen Geschöpfe gleichsam sehen, hören, und 1 Gerhart von Graevenitz: Die Setzung des Subjekts. Untersuchungen zur Romantheorie. Tübingen 1973, S. 36-38. 2 Vgl. Warning: Illusion und Wirklichkeit in ‚Tristram Shandy‘ und ‚Jacques le Fataliste‘, S. 118f., sowie zum Ausdruck von Charakteren als wichtigstem Geschäft der Poesie Holger Jergius: Versuch über den Charakter. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der Poetik des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 6 (1971), S. 7-45. Zur tragenden Rolle der Figurenkonzeption im die Lehrjahre betreffenden Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller vgl. Lämmert: Goethes empirischer Beitrag zur Romantheorie, S. 19f.

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empfinden“3. Wenige Jahre später klagte Alexander Gottlieb Baumgarten die Stimmigkeit der erfundenen Charaktere als Erfordernis der ästhetischen Wahrheit ein. Sein Auftrag an die Dichter lautet – mit Empfehlung Theophrasts und des „Theophrastus Gallicus“, d. h. La Bruyères als Verfasser der Charactères (1688) – auf „bestimmte Persönlichkeit“ und „sittliche[n] Charakter“.4 Das Ziel „wünschenswerte[r] Überzeugungskraft“ gestatte „keine innern Gegensätzlichkeiten, […] kein[en] Mangel an Zusammenhang“.5 Zuwiderhandlungen führten zur Geburt von Chimären.6 In den Horizont dieser Vorgaben, die im Einklang mit dem Täuschungsmodell der Aufklärungssemiotik und ihrer Auslöschung des Zeichen-Seins stehen,7 rückt die „Hauptabsicht“ von Christoph Martin Wielands Agathon (1766), die ausweislich des Vorberichts des Romans darin besteht, dem Leser das „Bild eines wirklichen Menschen“ vor Augen zu stellen, ihn „mit einem Charakter, welcher gekannt zu werden würdig wäre, in einem manchfaltigen Licht, und von allen seinen Seiten bekannt zu machen“.8 Die Figur (als der umfassendere, voraussetzungslosere Begriff) soll demnach Charakter werden. Christian Friedrich von Blanckenburg präzisiert dies 1774 mit der Forderung, daß „wir nicht ein Skelet vom Charakter vor uns haben“ sollen, sondern „die völlige, runde Gestalt derselben“, die „uns Rechenschaft von ihrem ganzen Thun und Lassen“ gibt.9 Die Skelett-Metaphorik, die von einiger Tragweite ist, schreibt sich maßgeblich von den literaturkritischen Schriften des jungen Herder her, der nicht nur die Künstelei der „Charaktere und Porträte“ in der französischen Literatur moniert, sondern auch diejenigen deutschen Skribenten schmält, die einem charakterlichen „Skelett ein paar solcher Französischen Bilderchen [anheften]“10. Statt 3 Johann Jacob Bodmer: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter (1741). Nachdruck Frankfurt/M. 1971, S. 14. Brenner (Die Krise der Selbstbehauptung, S. 73) faßt diese Veränderungen als Entwicklung von ‚Typen‘ zu ‚Charakteren‘ im Zeichen einer Annäherung an das „reale[ ] Individuum[ ]“ (S. 86) zusammen. 4 Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der ‚Aesthetica‘ (1750/58). Lat./Dt. Übers. u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983, § 433f. 5 Ebd., § 572 u. 577. 6 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts (1735). Übers. u. mit einer Einleitung hg. v. Heinz Paetzold. Hamburg 1983, § 51, sowie ders.: Metaphysica (1739). 7. Aufl. Halle 1779, Nachdruck Hildesheim 1963, § 589-591. 7 Vgl. David E. Wellbery: Lessing’s Laokoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge u. a. 1984, bes. S. 191-227 („Poetry as natural sign“). 8 Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. In: Ders.: Ausgewählte Werke in drei Bänden. Hg. v. Friedrich Beißner. Darmstadt 1964, Bd. 2, S. 5-578, hier S. 7-9. Dazu Brenner: Die Krise der Selbstbehauptung, S. 87ff. 9 Christian Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman (1774). Nachdruck mit einem Nachwort v. Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, S. 208. Vgl. zum Individualisierungsanspruch der pragmatischen Erzähltheorie auch Hilmar Kallweit: Szenerien der Individualisierung (Goethe, Bentham). In: Individualität. Hg. v. Manfred Frank u. Anselm Haverkamp. München 1988 (= Poetik und Hermeneutik 13), S. 384-420, bes. S. 387-390.

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der Schematisierung vollkommener Charaktere (Exemplarität) steht mit Blanckenburg eine kausalanalytisch filigrane Figurenzeichnung (Singularität) auf der Tagesordnung, welche die Figuren „als lebend“11 erscheinen läßt. Einhauchen soll dieses Leben eine Erzählstrategie, in der die erdichteten Menschen „individualisiret“ werden; wiederum (wie bereits von Bodmer vorgesehen) mit dem imaginationspsychologischen Effekt, daß wir „bey dieser Behandlung, die Personen anschauend [sehen]“.12 Unter denselben mortalen Ängsten wie das metaphorologische Paradigma des Skelettes steht mithin Blanckenburgs Warnung vor einem Erzählen, das die Figuren unter das Gesetz des „Maschienenmäßig[en]“ stellt: „der Mensch soll nie Maschiene seyn“.13 Konsultiert man die Romankritiken der Frankfurter Gelehrten Anzeigen aus dem Zeitraum, als Goethe zur Kerngruppe des Unternehmens gehörte, sieht man auch hier den Gedanken der anschaulichen, gewissermaßen lebensspendenden Behandlung der Figuren regieren. Beispielsweise rühmt der Verfasser der Rezension des Fräuleins von Sternheim, gegen seine Kritikerkollegen gewandt, die große innere Wahrheit der Weiblichkeitsdarstellung mit den Worten: „Die Herren irren sich, wenn sie glauben, sie beurtheilen ein Buch – es ist eine Menschenseele.“14 Eine spätere Stellungnahme Goethes hebt sich davon schon ab, indem angesichts der nun gefühlten Ungreifbarkeit des Inneren ein Ausweichmanöver zu dessen empirischer Manifestation hin unternommen wird, die uns freilich nur in der Erscheinung gegeben ist: „Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.“15 Soweit sehen sich die ästhetischen Repräsentationsansprüche bereits vom ‚Charakter‘ auf das ‚Bild des Charakters‘ verwiesen. Über diese Medialisierung noch hinaus reichen drei miteinander verwandte Isotopien in Goethes Erzählwerk, in deren Spur nichts anderes als die letztendliche Vergeblichkeit der Versuche ausphantasiert wird, den papiernen Homunkulus narrativ zu verlebendigen. Es handelt sich um die im folgenden zu sondierenden Motivkonfigurationen der Gliederpuppe, des Schauspielertheaters und der Bilder. Für sie alle gilt, daß Goethe seine Figuren mit den Abbildungen von Figuren begleitet und 10 Johann Gottfried Herder: Ueber Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmaal [!], an seinem Grabe errichtet (1768). In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1877-1913, Nachdruck 2. Aufl. Hildesheim u. a. 1978 (zuerst 1967f.), Bd. 2, S. 249-294, hier S. 259; vgl. auch die Rede vom „Gerippe“ einer Menschendarstellung (S. 263). 11 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 209. 12 Ebd., S. 210 u. 309. 13 Ebd., S. 260. 14 Geschichte des Fräuleins von Sternheim (WA I 37,231). Goethe ließ die Rezension in den 33. Band der Ausgabe letzter Hand einrücken, doch glauben spätere Editoren seit der Weimarer Ausgabe zu wissen, daß Goethe die Verfasserschaft abzusprechen sei; vgl. WA I 38,322f. 15 Vorwort zur Farbenlehre (FA I 23/1,12).

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damit die intrikate Genese und Faktur seiner erdichteten Menschen in die Handlung selber verlegt. Der Textwelt ist die Herstellung und Lenkung ihrer eigenen Bewohner inkorporiert: ein sehr spezieller Akt ästhetischer Selbstreflexion. Goethes erzählerische Praxis erfüllt sich nicht in der Beschwörung menschlicher Seelennatur, in der Charakterisierung durch detaillierte Physiognomie, individuelle Sprachgebung und Bekleidung (schon Werthers Gelb/Blau ist abstrakt genug), sondern darin, die hohe Künstlichkeit, mithin die Gemachtheit seiner Spieler auszustellen: ihr Automatenhaftes anstelle ihrer Menschlichkeit. „Ich werde gespielt wie eine Marionette, und fasse manchmal meinen Nachbar an der hölzernen Hand und schaudere zurük“ (8,134). Werther, der sich, von seiner Liebe durchdrungen, zeitweise als seelisch-organische Einheit erleben durfte, entdeckt solchermaßen seine Aggregation aus nur lose verbundenen Teilen, verknüpft mit der Erfahrung, keineswegs Herr seiner selbst zu sein, sondern unter der Gewalt der Heteronomie zu stehen. Wilhelm modelliert für seine Puppenbühne Gliedermenschen (vgl. 9,370f.), in deren Nachfolge er auf der Schauspielerbühne eintreten wird. In den Wanderjahren setzt er die Übung des Menschenbauens auf höherer Ebene fort, indem er die Kunst erlernt, einen (toten) Frauenleib durch eine (ebenso tote) anatomische Plastik zu ersetzen (vgl. 10,599ff.).16 Eine Zwischenstation dieser Motiventfaltung stellt die Laienanatomie der Sperata dar: Um ihr verlorenes Kind wiederherzustellen, sammelt Mignons Mutter die unterschiedlichsten Skeletteile, die sie mit Fäden und Bändern zu einem solch „zwitterhafte[n] Geschöpf“ (9,553) verbindet, wie es Mignon – nicht nur geschlechteranthropologisch, sondern auch ikonologisch – als Figur ist.17 Die poetologische Prägung des Skelett-Themas aus dem Diskussionsrahmen zwischen Bodmer und Blanckenburg ist hier sicher mitzulesen. Goethe betätigt sich nicht als Zauberer der Charakterillusion, sondern als Anatom künstlicher Anthropogenesen – im ganzen nicht weit entfernt von seinem Rat an bildende Künstler: „Der Mensch ist der höchste, ja der eigentliche Gegenstand“; man muß aber der „Gestalt […] Inneres entblößen, ihre Teile 16 Vgl. auch einen von Goethes letzten Schriftsätzen: den Bericht über Plastische Anatomie (FA I 24,843-850). Dazu prägnant Dorothea Kuhn: Zur Morphologie. Von 1825 bis 1832. Ergänzungen und Erläuterungen. Weimar 2004 (= Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Begr. v. K. Lothar Wolf u. Wilhelm Troll. Hg. v. Dorothea Kuhn u. Wolf von Engelhardt. II. Abteilung, Bd. 10, Teil B/2), S. 1036-1045. Grundsätzlich zu Goethes Anatomiestudien Frank Nager: Der heilkundige Dichter. Goethe und die Medizin. Düsseldorf u. a. 1999, S. 179ff. 17 Auf Wilhelms Puppentheater lenkt zurück, daß Mignon mehrfach im Licht einer Marionette und sogar Automate erscheint: „Die Kinder, die, in dem großen Sessel sitzend nur wie Pulcinellpuppen aus dem Kasten über den Tisch hervorragten, fingen an, auf diese Weise ein Stück aufzuführen. Mignon machte den schnarrenden Ton sehr artig nach, und sie stießen zuletzt die Köpfe dergestalt zusammen und auf die Tischkante, wie es eigentlich nur Holzpuppen aushalten können“ (9,695).

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sondern, die Verbindungen derselben bemerken“.18 Zu diesen generellen Empfehlungen der Anatomie kommt der Ruf nach einer „vergleichende[n] Anatomie“, die „nah oder fern verwandte Naturen“ betrachtet, „um ihre Eigenschaften in einem idealen Bilde zu erblicken“.19 Insbesondere der Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre und die Allgemeine Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie – Texte des Naturwissenschaftlers Goethe, den freilich zutiefst ästhetische Bedürfnisse lenken – dürfen unter diesen Maßgaben als Chiffren einer Figurenpoetik gelesen werden, die mit den Analogiegeneratoren von Spiegelung und Verwandtschaft operiert. Dies umso mehr, als ihre Entstehung in der Zeit zwischen Spätsommer 1794 und Januar 1795 mit der Ausarbeitung der Lehrjahre gleichläuft.20 Mit der kleinen Topik der skelettischen Gliederpuppen korrespondiert die Isotopie des Schauspielertheaters. Als Ausgangspunkt können hier Wilhelms hartnäckige Versuche über die Hamlet-Gestalt (vgl. 9,605ff.) dienen, die dem Muster einer zeitgenössischen Beschreibungskonvention, nämlich dem auf Konsistenz und Individualisierung angelegten Charaktergemälde folgen, wie es z. B. im Agathon-Kapitel „Character des Dion“21 grundgelegt ist. Wiederum nimmt Goethe einen Zug der romanpoetologischen Debatte über die Personendarstellung mit in die Lehrjahre hinein: als besprochener Gegenstand eines Erzählens, dessen eigene Poetik darüber hinausgeht. Auf „Schilderung wahrer Charaktere“ (9,441) hat es Wilhelm abgesehen: auf die Ausräumung von Leerstellen, Widersprüchen, Brüchen und Verwerfungen, die Shakespeares Hamlet eingestandenermaßen aufbietet. Zur lückenlosen psychologischen Identifikation und Aneignung präpariert sich auch Wilhelms Seelenfreundin Aurelie ihre Figuren (Orsina, Miss Sara und Ophelie). Indes spricht Wilhelm als Dilettant, und Aurelie chargiert als Todgeweihte. War schon die Gliederpuppenmotivik dazu angetan, Kriterien des Individuums – Lebendigkeit und Autonomie („die menschlichste aller Bestimmungen: daß jedermann über sich selber 18 Einleitung ([Johann Wolfgang Goethe] Kupferstich-Anzeigen für die ‚Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘ u. a., S. 135). Vgl. das Plädoyer in der Italienischen Reise: „Ich bin nun recht im Studio der Menschengestalt, welche das nun plus ultra alles menschlichen Wissens und Tuns ist. Meine fleißige Vorbereitung im Studio der ganzen Natur, besonders die Osteologie, hilft mir starke Schritte machen“ (FA I 15/1,511f.). 19 Einleitung ([Johann Wolfgang Goethe] Kupferstich-Anzeigen für die ‚Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘ u. a., S. 135). 20 Vgl. FA I 24,176-214 u. 227-262. Dazu Dorothea Kuhn: Zur Morphologie. Von den Anfängen bis 1795. Ergänzungen und Erläuterungen. Weimar 1977 (= Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Begr. v. K. Lothar Wolf u. Wilhelm Troll. Hg. v. Dorothea Kuhn u. Wolf von Engelhardt. II. Abteilung, Bd. 9, Teil A), S. 580-584 u. S. 593-601. 21 Vgl. Wieland: Geschichte des Agathon, S. 31-33, S. 52-56, S. 318-324. Weitergeführt beispielsweise in der „Charakteristik der kleinen Wilhelmine“ bei Friedrich Schlegel: Lucinde (1799). In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner. Bd. 5. Hg. u. eingeleitet v. Hans Eichner. München u. a. 1962, S. 192, hier S. 13-16).

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vollkommen selber bestimmt“22) – demonstrativ unerfüllt zu lassen, so auch das Bühnenthema. Wilhelm zufolge soll die Schauspielerexistenz die Frage „was bist du“ (9,658) beantworten. Das Problem, für das ihm das Theater als Lösung erscheint, ist folglich das der Identität. In solcher Sicht bringen die Inszenierungen auf der Schaubühne etwas zur Erscheinung, das anders offenbar nicht gegenständlich zu werden vermag: das ausgebildete Selbst. Darin taucht jedoch ein unvermeidlicher Hinterhalt auf, denn die Bretter, die die Welt bedeuten, unterstützen eine Verfügbarkeit beliebiger Selbste, welche gerade die Unverfügbarkeit eines authentischen Selbst fühlbar macht. Sie setzen den von Wolfgang Iser beschriebenen fiktionslogischen Satz in Geltung, daß sich der Schauspieler in der Rolle irrealisiert, und sorgen so dafür, das individuelle Sich-nicht-haben-Können als solches zu haben.23 Tatsächlich geizt Goethe nicht mit Hinweisen auf die Egoverunsicherung, die das Theater entbindet. Die Schauspieler stehen in Gefahr, – im Anklang an die Marionetten-Metaphorik – als bloße „Automaten“ (9,713) zu agieren. Eine Kunst, welche die „Charaktere verschiedener Personen nachzuahmen“ (9,149) und das „ganze Selbst […] hin[zu]geben“ (9,574) verlangt, muß eine Herausforderung an den Subjektgedanken enthalten. Sie führt nicht etwa als Vehikel der Selbstfindung zu einer „heilsamen Einheit“ (9,652) mit sich, sondern erneuert letztlich Wilhelms „Empfindung seines Nichts“ (9,321). Bei einer höchst bezeichnenden Verwicklung, die sich bereits in seinem Kindertheater ereignete, „[kam] ich“, so Wilhelm, „in meiner eignen Rede endlich als dritte Person [vor]“ (9,380). Indem Serlo über der Bühnenbearbeitung eines Stückes erklärt, „mehrere Personen in Eine zu drängen“ (9,662), kennzeichnet er den Schauspieler, der diese Multiplizität auszutragen hat, als Symbol der nicht-identischen Konstitution des Menschen. Wilhelms Abschied von der Schaubühne tut dem keinen Abbruch, vielmehr erhält die fiktional entworfene Realität nun selber bühnenhafte Züge. „Sie sind […] prädestiniert, überall Schauspieler und Theater zu finden“ (9,804). Mit diesen Wilhelm gewidmeten Worten Jarnos macht Goethe seine Figuren restlos als Spieler transparent. Subjektstandpunkte erweisen sich als Rollen und insofern als disponibel und austauschbar. Wie sollte der auf seine Virtualität zurückgeworfene homo fictus, wie gewünscht und versprochen, „ein unvergleichlicher Mensch“ (9,529) sein können? Hierbei handelt es sich nicht um ein Problemmuster, das sich mit den Lehrjahren erledigt hätte. Denn in den Wahlverwandtschaften setzt sich das Bühnenthema in den tableaux vivants fort. Und noch der Figurenprä22 Odo Marquard: Zur Funktion der Mythologiephilosophie bei Schelling. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. v. Manfred Fuhrmann. München 1971 (= Poetik und Hermeneutik 4), S. 257-263, hier S. 261. 23 Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 504-515 („Inszenierung als anthropologische Kategorie“), sowie den Bezug auf Jean-Paul Sartre: Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft. Übers. v. Hans Schöneberg. Hamburg 1971, S. 292-299 („Das Kunstwerk“), bes. S. 295f.

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sentation der Wanderjahre liegt wie als Folgerung aus den Lehrjahren der Satz zugrunde: „Unser ganzes Wesen und Sein ist Ausstellung“ (10,153). Das dritte bevorzugte Mittel Goethes, seine Figuren als Figuren zu reflektieren und damit ihre hohe Artifizialität ins Bewußtsein zu heben, ist ihre Erstarrung zu Bildern – ein Vorgang, der fast ausschließlich Frauengestalten betrifft: von den Lotte-Bildern Werthers bis zu den Mignon-Zeichnungen der Wanderjahre, kulminierend aber in der ästhetischen Zurichtung Ottilies. Die Technik, mediale Frauen nochmals als Bilder zu reproduzieren, ergeht sich in einer Potenzierung von Signifikanten, deren Repräsentationsleistung damit zunehmend in Frage steht. An solchen Umschlagspunkten, an denen der Papiermensch Farbe und Form, Kolorit und Disegno annehmen soll, handelt Goethes Erzählen nicht zum wenigsten von der medialen Kondition literarischer im Unterschied zu bildkünstlerischen Homunkuli, d. h. von den besonderen Bedingungen poetischer Darstellung, die sich auf Worte als abstrakte Zeichen mit einer Tendenz zum Allgemeinen verwiesen sieht.24 Am eindrücklichsten geschieht der fingierte Medienwechsel und folglich die Konfrontation der Medien im Motivnetz der Petrifikation, zu dessen Höhepunkten Natalies Überblendung mit „marmorne[n] Statuen und Büsten“ (9,513) und mehr noch Ottilies Marmorisierung und Vergoldung in der untergehenden Sonne (vgl. 8,495) zählen (dazu später mehr). Während die Bildhauerkunst die „menschliche[n] Formen“ „so sinnlich bedeutend […], als möglich ist“, präsentiert,25 sind die literarischen Figuren konstitutiv vom Zerflattern bedroht, insofern „das Koexistierende des Körpers mit dem Konsekutiven der Rede dabei in Kollision kömmt“26. Die Darbietung des homo fictus erfolgt in Teile zergliedert, deren „Wiederzusammensetzung in das Ganze“ – wie im Fall von Speratas symbolischem Mignon-Skelett – „ungemein schwer, und nicht selten unmöglich“ ist.27 Solcher Vergleich der Künste treibt den Umstand hervor, daß der literarischen Figur semiotische Spezifika eignen, die sie für ihre Dispersion als imaginiertes Individuum besonders anfällig machen. Die nach der Seite der Sinnlichkeit hin eingeschränkte Signifikationsfähigkeit der Sprache befähigt sie im Gegenzug zu einer spezifischen Nichterfüllung des Anspruchs, Individuelles zu transpor24 Dazu hervorragend Sabine M. Schneider: Die schwierige Sprache des Schönen. Moritz’ und Schillers Semiotik der Sinnlichkeit. Würzburg 1998, bes. S. 50ff. 25 An Johann Heinrich Meyer, 27. April 1789 (WA IV 9,110). Vgl. auch die Bemerkung in den Wanderjahren: „Die Bildhauerkunst muß sich daher noch eine stoffartiges Interesse suchen, und das findet sie in den Bildnissen bedeutender Menschen” (10,565). 26 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke. Hg. v. Peter-André Alt. München 1995, Bd. 2, S. 7-166, hier S. 100. Zur Differenz zwischen den Charakteren der bildenden Kunst und der Literatur vgl. auch Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein (1796). In: Ders.: Werke. Hg. v. Norbert Miller. Bd. 4. München 1963, S. 7-259, hier S. 24. 27 Lessing: Laokoon, S. 100.

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tieren. Hier greift die von Iser in Erinnerung gerufene, zu unrecht immer noch vernachlässigte Medientheorie Theodor A. Meyers, die sich ganz im beschriebenen Sinn gegen einen verbreiteten philologischen Selbstbetrug wendet: „Ich kann mir nicht einbilden, wie […] Goethes Philine aussehen soll[ ], und will ich mir die Sinnenbilder […] erzwingen“, stellen sich nur „in äußerste Unbestimmtheit zerfließende“ Umrisse ein.28 Das gleichsam zerdehnte Wesen, die lockerere innere Fügung des erzählten Menschen stellt darin zugleich die Fragilität jedes an ihn herangetragenen Subjektkonzepts heraus. Mit anderen Worten: Die nach ihren einzelnen Bestandteilen im Erzählfluß verstreute Figur erweist sich für die Aporien des Identitätskonzepts eigentümlich disponiert. Die von Goethe mit den beschriebenen Mitteln verfolgte Erzählstrategie besteht letztlich darin, seine Gestalten – seit dem symbolischen Moment, in dem Werther an Lottes „Schattenriß“ Gefallen fand (vgl. 8,82)29 – einem eigentümlichen Abstrahierungsprozeß zu unterwerfen, der mit Vorliebe an dem Schwebepunkt einhält, an dem ein Doppeltes von Festem und Unverfügbarem erreicht ist. Dies, das Vorenthalten der letzten (von Blanckenburg so genannten) „Creditive“30, beschreibt präziser als das Stichwort der Blässe, das forschungsgeschichtliche Karriere gemacht hat (vgl. Einleitung, 3.b), deren Durchscheinendes und Schattenhaftes. Für die Lehrjahre hat das am schärfsten der Briefpartner Schiller beobachtet: Den von Wilhelm von Humboldt formulierten Einwand der „Gestaltlosigkeit“ Wilhelms wendete er dahin, daß die Figur „weder mit einer entschiednen Individualität noch mit einer durchgeführten Idealität“ ausgestattet sei, „sondern mit einem Mitteldinge zwischen beiden“.31 Mignon betreffend, drückte er seine Verwunderung darüber aus, daß sie nach ihrem Tod im weiteren Verlauf des Romans als „das lebendige Wesen, die Person so schnell vergessen“ werden könne.32 Mit der späteren Rede von der „Reduktion empirischer Formen auf ästhetische“33 analysierte er ein künstlerisches Verschwinden bzw. Überbieten jenes Individuellen, das sich in den Grenzen des Lebendigen bewegt. Das Übergängliche zwischen Gegebensein und Sich-Entziehen der Gestalten, wodurch sie – Goethes Kunstideal entsprechend – „natürlich zugleich und 28 Theodor A. Meyer: Das Stilgesetz der Poesie (1901). Mit einem Vorwort von Wolfgang Iser. Frankfurt/M. 1990, S. 86. 29 Dazu aufschlußreich Thomas Peter Saine: The Portrayal of Lotte in the Two Versions of Goethe’s Werther. In: JEGPh 53 (1981), S. 54-77. Noch Wilhelm ist angesichts von Natalies „beschatteten Zügen“ „nur beschäftigt [...], sich zu versichern, daß sie es sei“ (9,892). Die „Bilder Mignons und Nataliens schwebten wie Schatten vor seiner Einbildungskraft“ (9,925). Vgl. ferner Gerhard Neumann: Charlotte von Stein. Ein Leben als Schattenriß. In: Festschrift für Horst Gronemeyer zum 60. Geburtstag. Hg. v. Harald Weigel. Herzberg 1993, S. 421-459. 30 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 264. 31 Schiller an Goethe, 28. November 1796 (MA 8/1,279). 32 Schiller an Goethe, 2. Juli 1796 (MA 8/1,190). 33 Schiller an Goethe, 14. September 1797 (MA 8/1,418).

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übernatürlich erschein[en]“34, hat er bereits Wilhelm aussprechen lassen, indem dieser über die Figurenpoetik Shakespeares festhält: „Seine Menschen scheinen natürliche Menschen zu sein, und sie sind es doch nicht. Diese geheimnisvollsten und zusammengesetztesten Geschöpfe der Natur handeln vor uns in seinen Stücken, als wenn sie Uhren wären, deren Zifferblatt und Gehäuse man von Kristall gebildet hätte“ (9,552). Ironischerweise treffen diese Ausführungen nur zu genau auf ihn selber und seine Mitspieler zu. Das Uhrenbild verweist auf das Metaphernsystem der Automate zurück; Figuren wie hinter Glas zu setzen, deutet auf das Schneewittchen-Schicksal Ottilies voraus (vgl. unten). „[W]ir sind viel künstlicher als Sie denken“ (9,913), sagt Natalie über sich und Wilhelm und weiß nicht, wie recht sie hat. Sie fällt mit dieser Fehlleistung aus der Rolle dessen, was sie zu sein behauptet: ein lebendiges Individuum. Versucht man diese Beobachtungen in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten zu verorten, so sieht man sich in der Geschichte und Ordnung der Erzählkunst, die Goethe dieser Textfolge eingeschrieben hat, an das Ende, d. h. an das Märchen verwiesen. Dessen Figuren sind keinerlei individualpsychologischer Plausibilität verpflichtet, vielmehr erscheinen sie so wandelbar wie die Schatten einer Geisterwelt. Wie wichtig Goethe die Figurenpoetik (nicht nur) hier war, stellt der Selbstkommentar in den Xenien unter Beweis: „Mehr als zwanzig Personen sind in dem Märchen geschäftig,/ ‚Nun und was machen sie denn alle?‘ Das Märchen, mein Freund“ (1,539). Solch lakonische Antwort erteilt der Frage nach dem Grund und der Folgerichtigkeit personaler Handlungen, mithin den in der aufklärerischen Erzähltheorie standardisierten Ansprüchen an Kausalität und Motivation eine klare Absage. Die Figuren handeln nicht als Individuen; sie konstituieren nicht sich selbst, sondern den Text. In den Wanderjahren überführte Goethe das in den Unterhaltungen gegebene literaturgeschichtliche Nacheinander subjektverpflichteter und subjekttranszendierender Figurenbehandlung in ein Nebeneinander. Für manche Figuren kommt nochmals die Technik des moralischen Charaktergemäldes zum Einsatz, in lehrbuchmäßiger Ausprägung vor allem bei der de capite ad pedem geschilderten pilgernden Törin, der Protagonistin der zweiten Erzähleinlage des Romans (vgl. 10,311). Goethe übersetzte die Novelle, die noch alle Züge der malenden Beschreibungskonvention trägt,35 aus der zuerst 1786 erschienenen französischen Vorlage. Die Plastizität einer Gestalt wie der Törin – die deshalb aber noch lange kein stabiles Individuum dar34 Einleitung ([Johann Wolfgang Goethe] Kupferstich-Anzeigen für die ‚Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘ u. a., S. 134). 35 Die Törin sei die einzige plastische Gestalt der Wanderjahre meint deshalb Thomas Degering: Das Elend der Entsagung. Goethes ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘. Bonn 1982, S. 391. Zu den Eigentums-Anteilen Goethes an der Novelle vgl. Oellers: Goethes Novelle ‚Die pilgernde Thörinn‘, bes. S. 93ff.

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stellt, vielmehr die „Anzeichen eines Kopfes“ trägt, „der sich nicht immer gleich war“ (10,317) – unterstreicht die transitorische Eigenart der meisten anderen Figuren. Die ‚schöne Witwe‘ aus dem Mann von funfzig Jahren ist denn auch wörtlich „so unbeschreiblich als unbegreiflich“ (10,449). Die Wiedergänger aus den Lehrjahren wie Wilhelm und Philine verlieren ihre relative frühere Präsenz und sinnliche Bestimmtheit, um in eine merkwürdige Gesichtslosigkeit zu verschwimmen. Goethe schuf in den Wanderjahren eine Welt von sonderbarer Unwirklichkeit: aus Gestalten, deren Indifferenz bis in einen Sprachstil hineinreicht, der nichts individuell Charakteristisches mehr hat. Mit Figuren, die ihre Illusionsmächtigkeit in solchem Grade abgelegt haben, ist schwerlich mitzufühlen.36 Goethe arbeitete damit an einer kalkulierten Empathieverweigerung. Er drängt uns mit zahlreichen Allegorien der künstlichen Konstitution des homo fictus sowie einer permanent ungerührten Fernsicht, welche die Präsentation von Selbstbewußtsein37 weitgehend aufgegeben hat, auf die Diskursebene des Erzählens, statt die Grundstimmung zu erzeugen, wir seien gewissermaßen unter die Gestalten gemischt. Aus Sätzen werden hier nicht eigentlich Charaktere oder Personen, vielmehr Figuren, die ihre Artifizialität nicht vergessen zu machen suchen, sondern nachgerade zelebrieren. Sie verlieren an Subjektivität zugunsten einer abbreviatorischen Requisitenhaftigkeit im Bühnenraum einer kühlen Kunstwelt. Wenn sich diese Stilzüge auch erst im Altersroman vollständig ausprägen, ist ihre Anlage in Goethes Erzählsystem, wie gezeigt, durchaus älteren Datums. Konnte zu Beginn dieses Abschnitts Goethes Erzählpraxis von der deutschsprachigen Theoriediskussion zwischen Bodmer und Blanckenburg abgegrenzt werden, so läßt sich abschließend jetzt auch die Frage beantworten, wie sie sich von der großen europäischen Alternative zum pragmatischen Erzählen unterscheidet, die mit dem Namen Laurence Sternes verbunden ist. Blanckenburg setzte zum Zweck der Individualisierung der Figuren auf Genauigkeit, Vollständigkeit und Wahrscheinlichkeit narrativer Charakterdarstellung. Die Auffassung des Subjekts, die dem zugrunde liegt, ist die 36 Vgl. Graevenitz (Setzung des Subjekts, S. 67) über die Wanderjahre: „Halten wir fest, daß Zeitkausalitäten in ihrer Illusionsfunktion zerstörbar sind. Das bedeutet, daß alle epischen Personenillusionen, die ihren ‚Existenzinhalt‘ in solchen Motivierungen haben, mit diesen hinfällig werden können.“ Zu manchem „befremdenden Zug“ in der Figurendarstellung bereits Heidi Gidion: Zur Darstellungsweise von Goethes ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘. Göttingen 1969, S. 100-103, hier S. 101. Nicht adäquat ist hier somit die illusionistischen Figurenpoetik, wie sie Herbert Grabes (Wie aus Sätzen Personen werden ... Über die Erforschung literarischer Figuren. In: Poetica 10 [1978], S. 405-428) mit leserpsychologischen Argumenten, insbesondere hinsichtlich der Einschreibung impliziter Persönlichkeitstheorien des Lesers in die Leerstellen des Textes, beschrieben hat. 37 Dazu das narratologisch fundierte Standardwerk von Dorrit C. Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton 1978. Zum Problem der Innenweltdarstellung mit Resümees der älteren Forschung (bes. Stanzel) Claudia Stehle: Individualität und Romanform. Theoretische Überlegungen mit Beispielen aus dem 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. Bern 1982, bes. S. 50ff.

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eines Zu-Entdeckenden und Zu-Beschreibenden. Der Engländer dagegen verhandelt das Subjekt als etwas grundlegend Erfindungs- und Inszenierungsbedürftiges.38 Die Individualisierung der erzählten Figuren geschieht hierbei durch Verleihung ausgesprochener Sonderbarkeiten (‚hobbyhorses‘) im Medium eines nicht minder sonderbaren Erzählstils. Die Umstellung von Entdeckung auf Erfindung des Individuums – eine Reaktion eher auf die seinerzeit aktuelle Subjektkritik David Humes als auf die schon ältere Identitätsphilosophie John Lockes (vgl. unten III.1.d) – verortet den eigentlichen harten Kern des Subjektgedankens in der Tatsache inszenatorischer Selbstpraktiken. Demnach rechnet das Ich zu den „concord-fictions“39, den kulturell für wahr genommenen Fingierungen, die sich durch die pragmatische Zweckbindung auszeichnen, Ungewisses imaginativ zu besetzen. Sie stiften konventionelle Verbindungen zwischen dem Gegebenen (den Selbstpraktiken) und dem Entzogenen (dem Selbst). Avant la lettre kannte Goethe diese real funktionierende Fiktion, wie aus dem Gespräch über Roman und Drama in den Lehrjahren hervorgeht, unter dem Begriff der „erlogene[n] Wahrheit“ (9,677), der nichts geringeres als die Tatsache des wachsenden Anteils des Virtuellen in der Moderne beschreibt. Das so gedachte Ich ist keine Substanz40, sondern eine Performanz41; damit auch nichts Festes, sondern etwas Prozedurales, das in Akten existiert. Wenn die Ich-Erfahrung damit aber nicht auf dem Realen, sondern auf dem Fiktiven basiert, muß sie auch der Unvordenklichkeit, Instabilität und Flüchtigkeit des Imaginären anheimgegeben sein. Goethe konterkariert und überbietet die Sternesche Innovation der narrativen Subjektinszenierung auf mindestens dreierlei Weise. Erstens durch den Nachweis ihrer mitunter mangelnden Überzeugungskraft und hohen Störanfälligkeit: Es kann den Inszenierungen des Ich an Überzeugungskraft fehlen, sie können zur Farce geraten und sich als Theater im schlechtesten Sinn dekuvrieren. Goethe realisiert dies, indem er die Subjektinszenierung des Erzählers durch Selbst- und Fremdinszenierungen der Figuren ersetzt. Bereits Werthers Ich-Prätentionen sind als solche hochgradig durchschaubar; beschämend geradezu, wo er sich bei einem Gericht „Zukkererbsen“ dem Gelage der „Freyer der Penelope“ nahe fühlt. „Züge patriarchalischen Lebens“ glaubt er, „Gott sey Dank“, „ohne Affektation in meine Lebensart 38 Vgl. Wolfgang Iser: Laurence Sternes ‚Tristram Shandy‘. Inszenierte Subjektivität. München 1987. 39 Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 158-166. Aus der Iser-Schule hierzu Schwab: Entgrenzungen und Entgrenzungsmythen, bes. S. 28. 40 Entgegen der schulphilosophischen Bestimmung: „persona est substantia singularis“ von Christian Wolff: Psychologia Rationalis (1734). Édition critique avec introduction, notes et index par Jean École. Hildesheim u. a. 1972, § 741. 41 Vgl. Wolfgang Iser: Das Individuum zwischen Evidenzerfahrung und Uneinholbarkeit. In: Individualität. Hg. v. Manfred Frank u. Anselm Haverkamp. München 1988 (= Poetik und Hermeneutik 13), S. 95-98.

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verweben“ (8,58) zu können. Tatsächlich liegt die ‚Affektation‘ offen zu Tage. Wenige Zeilen später zeichnet er einen stadtbekannten Arzt als klappernde „Dratpuppe“ (ebd.): ein Vorwurf, der nur zu deutlich – wie er im Bild seiner selbst als Marionette ja noch erkennen wird – auf ihn selber zurückfällt. Wilhelm, der sich auf und vor der Schaubühne in Heldenrollen verwirklichen zu können glaubt, ist, wie ihm Jarno und Serlo bescheinigen, der Dilettant der ungenügenden Illusion, der mit „hohlen Nüssen um hohle Nüsse“ (9,535) spielt. Die eitlen Selbstinszenierungen Lucianes und problematischen Fremdinszenierungen Ottilies in den tableaux vivants der Wahlverwandtschaften sind nicht nur als solche durchschaubar gemacht, es hängen ihnen auch diskreditierende narzißtische und voyeuristische Gewaltstrukturen an, in denen lebende Bilder tote Individuen produzieren. Zweitens hegt Goethe – anders oder doch in höherem Maße als Sterne – eine Vorliebe dafür, die Inszenierungen seiner Figuren von der Erzähl- auf die Handlungsebene zu verlagern: vor allem eben durch die Thematisierung des Figurenbauens, -spielens und -malens. Solches Zum-Gegenstand-Machen entspricht Goethes ästhetischer Grundüberzeugung vom Objektivstil, dessen Geburt bereits im Werther in der emotionalen Disziplin des Herausgeberberichts zu beobachten ist.42 Die empathieverweigernde Form der Objektivität kann nun nicht folgenlos bleiben für den Inhalt personaler Individualität:43 Das principium individuationis wird hier vielmehr durch ein principium stilisationis überlagert. In dem Aufsatz Lorenz Sterne (1827) kommentiert Goethe das Verfahren des englischen Romanciers dahingehend, daß es „Eigenheiten“ seien, die „das Individuum constituier[en]“.44 Nun fehlt es Goethes erzählten Figuren, insbesondere seinen ‚Töchtern‘ (vgl. unten), zwar nicht an Eigenheiten und regelrechten Idiosynkrasien, doch durchkreuzt deren stilisierte, vornehmlich mythologisch-ikonographisch geprägte Natur wiederholt die Kriterien eines individualistischen Subjektbegriffs. Dies umfaßt sowohl physiologische Unterbestimmtheiten als auch psychologische Inkonsequenzen, während sich Sternes Spieler gerade durch die spleenige Konsequenz ihres Verhaltens auszeichnen.45 42 Einen Mangel an Objektivität hält Goethe dem Engländer bereits 1789 vor: vgl. Tag- und Jahreshefte 1789 (FA I 17,17). Dazu Heinz Hamm: Der Theoretiker Goethe. Grundpositionen seiner Weltanschauung, Philosophie und Kunsttheorie. Kronberg/Ts. 1976, S. 181-196 („Ausmerzung der ‚Prätention‘ des Ich“), sowie die überzeugende Untersuchung von Norbert Christian Wolf: Ästhetische Objektivität. Goethes und Flauberts Konzept des Stils. In: Poetica 34 (2002), S. 125-169, bes. S. 126-137. 43 Vgl. die präzise Problemformulierung Jean Pauls (Vorschule der Ästhetik [1804]. In: Ders.: Werke. Hg. v. Norbert Miller. Bd. 5. München 1963, S. 7-514, hier S. 217): „Die Darstellung eines sittlichen Ideals wird so schwer als dessen Erschaffung, weil mit der Idealität die Allgemeinheit und folglich die Schwierigkeit zunimmt, dieses Allgemeinere durch individuelle Formen auszusprechen.“ 44 Lorenz Sterne (FA I 22,338f.). 45 Zu dieser Kennzeichnung Warning: Illusion und Wirklichkeit in ‚Tristram Shandy‘ und ‚Jacques le Fataliste‘, S. 115.

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Eine weitere Relativierung der Individuationsabsicht von Goethes Figurenpoetik liegt drittens in der irritierenden Tatsache beschlossen, daß mehrere identische Eigenheiten von verschiedenen Figuren in Goethes Erzähluniversum geteilt werden, was namentlich bei Werther, Mignon, Ottilie und Makarie der Fall ist. Dies zu erklären, bedarf es aber eines Blicks auf einige fundamentale Baugesetze von Goethes erdichteten Menschen. b) Elementare Strukturverhältnisse des homo fictus Jean Paul hat dem Problem der literarischen Figur, da „[n]ichts […] in der Dichtkunst seltner und schwerer als wahre Charaktere“46 sei, ein ganzes, sechs Paragraphen umfassendes „Programm“ seiner Vorschule gewidmet. Bemerkenswert ist das nachgerade Strukturalistisch-Systematische seines Vorgehens, in dem er an „den poetischen Charakteren […] vier Seiten […] prüf[t], ihre Entstehung, ihre Materie, ihre Form und ihre technische Darstellung“.47 Im Verlauf dieses Programms erlaubt er sich eine treffende Spitze gegen den ‚Klassizisten‘ und Romancier Goethe, den er gegen den Autor des Götz, des Dramas des großen Naturcharakters, ausspielt: „Goethe der Mann könnte jetzo die Wahrheit der Charaktere auf dem anatomischen Theater beweisen, welche der anschauende Jüngling auf das dramatische lebendig treten hieß“.48 Wie gesehen, stimmt dies genauer, als Jean Paul zu diesem Zeitpunkt wissen konnte, mit der Skelett-Isotopie von Goethes Erzählen überein. „Anatomie dringt“, so Goethe, „auf die Kenntnis der innern Struktur“49. Auf die mediale Kondition des homo fictus bezogen – was schon deshalb legitim ist, weil Goethe das Knochengerüst ausdrücklich als „einen Text“50 behandelt –, dürfte zu den Grundzügen dieser Struktur festgehalten werden, daß sie ein im Erzählverlauf errichtetes Gerüst aus Bedeutungs- und Formbestandteilen darstellt. Figuren gehören somit zu den „Gegenständen“, die in einer Gesamtanlage „viele kleine subordinierte Gegenstände enthalten“51. Folglich lassen sich an ihnen Einheiten niedrigerer Ordnung freilegen, deren Anord46 47 48 49 50

Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 207. Ebd., S. 210. Ebd. (FA I 24,365). „Zugleich behandle ich die Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles menschliche anhängen läßt“, so an Johann Kaspar Lavater, 14. November 1781 (WA IV 5,217). Dazu Wachsmuth: Geeinte Zwienatur, S. 57-85 („Goethes naturwissenschaftliche Lehre von der Gestalt“), hier S. 74. 51 Einfache Nachahmung, Manier, Styl ([Johann Wolfgang Goethe] Kupferstich-Anzeigen für die ‚Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘ u. a., S. 118). Zum Prinzip der Subordination im Gegensatz zu dem der Koordination vgl. Ferdinand Weinhandl: Der Gestaltgedanke in Goethes Lebenswerk. In: JbWGV 65 (1961), S. 12-38, hier S. 36. Vgl. auch Andreas Anglet: Gestalt. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4/1. Hg. v. Hans Dietrich Dahnke u. Regine Otto. Stuttgart u. a. 1998, S. 381-383.

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nung über die wechselnde Manifestation der Akteure einige Auskunft zu geben vermag. In Goethes erzählerischer Praxis stellen sich diese Gerüste nicht selten wie in einem Anatomiesaal als stilisiert und schematisch dar: als abstrakte Puzzles, die sich einer formalen, nicht aber einer personalen Gnosis erschließen. Sie präsentieren sich in diesen Fällen mehr als Objekte denn als konkrete lebendige Subjekte. Eindrücklich und überzeugend sind sie als figürliche Artefakte, aber nicht als Subjektsimulationen. Der beständig durch sie hervorgerufene „Gedanke an Kunst“52 verhindert freilich keineswegs, daß die künstlichen die natürlichen Zeichen kommentieren, d. h. daß die Faktur der literarischen Figuren die psychologischen Konstanzannahmen der vom 18. Jahrhundert sonst so geschätzten Individualitätssemantik desavouiert. Nun sind, wie gesagt, die annoncierten Einheiten niedrigerer Ordnung nicht auf einzelne Figuren beschränkt, sondern überschreiten deren Grenzen. Maßgeblich von dieser ‚Iterativität‘ rühren die zwischen Goethes Erzähltexten bestehenden Analogiebeziehungen und Konfigurationsverhältnisse. Der Umstand, daß „Gestalten“, Goethes Morphologie zufolge, „aus sehr vielen Teilen zusammengesetzt“ sind, bestimmt ihre beträchtliche erscheinungsseitige Variabilität oder „Mannigfaltigkeit“.53 Daß es sich dabei zum Teil um identische Einheiten handelt, führt jedoch zu „gewisse[n] Übereinstimmung[en] teils im allgemeinen, teils im besonderen“ der Gestalten, die sich deshalb „bald in Gruppen bald in Reihen“ ordnen lassen.54 Hier liegt der Weg vorgezeichnet, „die ungeheure Masse zu übersehen“.55 Das oben erarbeitete Instrumentarium, mit dem sich Goethes Prosafiktionen als Erzählsystem beschreiben lassen, folgte Goethes ästhetisch lizenzierter Naturbeobachtung und fächerte den Begriff der Konfiguration in die Aspekte von Kombination, Modifikation und Kommunikation auf. Auf dieser Folie nehmen nun auch die erklärungsbedürftigen Verhältnisse von Goethes Revenants Gestalt an. In den Gerüsten einiger signifikanter, handlungslogisch an sich identischer Figuren herrschen nämlich, an individualitätssemantischen Personalitätserwartungen gemessen, relativ starke Modifikationen und relativ geringe Kommunikationen vor – daher ihr auf unterschiedliche Weise Changierendes, ihre Metamorphosen und Brüche in Erscheinung und Psychologie: Die Faktur Mignons spannt fortlaufend Bedeutungs- und Formbestandteile des Kindes und der Frau, des Genius und der Geliebten, des Lebens und des Todes zusammen; die Erscheinung Natalies kehrt nach längerer Absenz während des fünften und sechsten Buches des Romans im achten Buch tiefgreifend 52 53 54 55

Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt (FA I 18,211). (FA I 24,365). Ebd. Ebd. Dazu Olaf Breidbach: Transformation statt Reihung, S. 46: Der Ansatz der Morphologie „ist ein vergleichendes Beschreiben, eine Zuordnung von Einzeldingen zu Gestaltreihen. In der Zuordnung der Einzelformen in eine Serie zeigt sich, was in den Formen der Natur variiert wird“; diese „Zuordnung der Dinge erfährt sich über die Reihung von Ähnlichkeiten“.

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verändert wieder, um alle Angst- und Gewaltmomente verkürzt, aus dem Bild der Amazone in das der ‚schönen Seele‘ getreten; daß man Ottilie sowohl als unbewußte Heilige wie auch als berechnende Ehebrecherin lesen konnte,56 hat beides sein fundamentum in re; die Verwandlungen Philines und anderer Lehrjahre-Figuren zu den Wanderjahren hin (von der Gelegenheitsprostituierten zur Schneidermamsell etc.) wurden bereits betrachtet. Den symbolischen Inbegriff dieses Zwitterwesens bietet die wandelbare Gestalt der Melusine, welche die Reihe nicht nur (als vorletzte Einlage der Wanderjahre) nach hinten abschließt, sondern die Evolution des Goetheschen Erzählsystems von Beginn an begleitet (vgl. unten V.1.b). Parallel zu der verringerten inneren Kohäsion einzelner Figuren spinnen handlungslogisch distinkte Figuren in voneinander verschiedenen Erzähltexten Goethes vergleichsweise starke, durch die Stränge von Isotopien geführte Kommunikationen an, indem nämlich dieselben Charakterisierungsbestandteile (namentlich die Symptome der Subjektaporien und der mythopoetischen Desubjektivierung, vgl. unten IV. u. V. Kapitel) in neuen Kombinationen mit neu hinzukommenden anderen Elementen (etwa dem in der Reihe von Mignon über Ottilie zu Makarie stetig zunehmenden Alter) immer wieder verwendet werden. Der vieldeutige, wiederum die Figurenpoetik in den Mittelpunkt stellende Wunsch von Goethes Wanderjahre-Erzähler, es „möge deutlich werden, wie die Personen dieser abgesondert scheinenden Begebenheiten mit denjenigen die wir schon kennen und lieben auf ’s innigste zusammengeflochten worden“ (10,433), darf in diesem Sinn vielleicht nicht allein auf das Erzählgeflecht innerhalb des letzten Romans bezogen, sondern als architektonisches Prinzip von Goethes Erzählsystem als ganzem verstanden werden. Die mediale Eigenheit literarischer Figuren, daß ihre Bedeutungs- und Inszenierungsfacetten in der Zeichenverabfolgung notwendig auseinanderliegen und unter eine bald flüchtigere, bald festere denkökonomische Einheit erst subsummiert werden müssen,57 nutzte Goethe zur gezielten Desillusionierung von Erwartungen personaler Konsistenz und zur spannenden Strapazierung von Identitätsannahmen. Seine Figurenpoetik läßt – je weiter in der Evolution seines Erzählsystems desto radikaler – überlieferte Bausteine der Selbst-Gewißheit abbröckeln. Die inneren Geschichten Werthers und Wilhelms unterbreiten dem Leser gewiß noch recht konturierte Personalitäten. Insofern sind diese ‚männlichen‘ Protagonisten konservativer konzipiert 56 Zu dieser Spanne vgl. Dan Farrelly: Die Gestalt einer Heiligen. Zur Figur der Ottilie in Goethes Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘. In: ZfG N. F. 1 (1991), S. 364-378, sowie Erika Nolan: Das wahre Kind der Natur? Zur Gestalt der Ottilie in Goethes Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘. 57 Mit einem schönen Bild Jean Pauls (Vorschule der Ästhetik, S. 208): „Wie sagt der Stern eines einzigen heiligen Opfers und Blicks uns das ganze aufgehende Sternbild eines himmlischen Charakters an, umso mehr, da alle einzelne Taten nur weit auseinanderstehende ZeichenPunkte des Sternbilds geben?“

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als die zumeist ‚weiblichen‘ Figuren, deren Charakterisierungsmerkmale eine Synthetisierung beträchtlich erschweren, indem sie nicht oder nur bedingt zusammenstimmen und damit nicht allein den von der damals jüngsten Romanpoetik eingeforderten Kausalnexus zwischen innerem und äußerem Geschehen58 boykottieren, sondern auch die Markierungspunkte des inneren Geschehens kaum noch miteinander verbinden. So bewegt sich ihre Konstitution in eben den Sprüngen, Brüchen und Lücken, welche die pragmatische Erzähltheorie im Einverständnis mit dem Subjektethos des Zeitalters verbannt sehen wollte.59 Goethes Versuch mit dem Werther, „Ereignisse zu erklären und zu legitimieren“60 sowie (zumal durch den zuletzt freilich einkassierten Ich-Modus des Sprechens) den inneren Menschen zu geben,61 treiben im Gegenteil das Diskontinuierliche des Menschen, das Unstete seines Herzens (vgl. 8,16) hervor. Nach Werther und neben Wilhelm trägt Goethe die Irritationen des Nicht-Identischen, aus Antrieben, die wir noch kennenlernen werden, vornehmlich in seinen ‚Töchtern‘ aus. Wenn im Fall Natalies eine bisherige ‚Art zu sein‘62 vollständig invertiert wird (vom erotischen Skandalon der Amazone zur desexualisierten Frau, wie sie sein soll), wenn Ottilie und Eduard – jenseits des principium individuationis – „nicht zwei Menschen“, sondern „nur Ein Mensch“ (8,516) sind – ganz nach Serlos dramaturgischer Technik, „mehrere Personen in Eine zu drängen“ (9,662) –, wenn sich mithin Natalie und Ottilie als Projektionsflächen wechselnder, ikonographisch gespeister Phantasien darstellen (Amazone, Schöne Seele, Engel und Heilige …), werden die Inkommensurabilität und Unvordenklichkeit der Figuren vollständig und grundsätzlich. Wie die Skeletteile der vermeintlichen Mignon fügen sich diese variablen und widersprüchlichen Charakterfragmente zu keinem identischen Ganzen, so daß mitunter vorsichtiger statt von Figuren von figuralen Gebilden zu sprechen wäre, die sich unablässig in ihre Bestandteile aufzulösen drohen. In all diesen Prozeduren zerstört Goethe die kompakte und diskrete Einheit der erzählten Person, um ihren Konstitutionsprozeß ins Bewußtsein zu heben. Entgegen der Forderungen, die der Sammler in der Briefnovelle Der Sammler und die Seinigen an die Kunst stellt, steht „zuletzt nicht mehr das Geschöpf, sondern der Begriff des Geschöpfs“ vor uns – jenseits „jene[r] frühere[n] Neigung, die er zum Individuo gehegt“, mag dies auch gewiß „nicht befriedigend fürs Gemüt“ 58 59 60 61

Vgl. Blanckenburg: Versuch über den Roman, bes. S. 257-288. Ebd., S. 267. An Schiller, 9. Juli 1796 (MA 8/1,209). Dazu immer noch erhellend Peter Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts. Göttingen 1962, S. 141-176 („Darstellung des Inneren. Die Romantheorie Friedrich von Blanckenburgs“). Blanckenburg (Versuch über den Roman, S. 390) sieht in der „innre[n] Geschichte eines Charakters“, die der Roman zu geben habe, auch den „eigentliche[n] Unterschied zwischen Drama und Roman“. 62 Zu Goethes Wortfeld im Sinnbereich der Identität vgl. III.1.a).

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sein.63 Diese Art der Figurenbehandlung hat wesentlich mit Goethes Neigung zu tun, seine hervorgehobensten Frauengestalten aus den Verfahrensweisen seiner Mythopoetik hervorgehen zu lassen: Mythen, so empört sich der Göttinger Professor Christoph Meiners in seiner von Goethe mit kritischem Interesse gelesenen Religionsgeschichte der ältesten Völker, „werfen die Gesetze der physischen, und sittlichen Natur übern Haufen […] und vereinigen in einem Individuo Eigenschaften und Vorzüge, die […] nie coexistirt haben, und coexistiren konnten“.64

2. „Geliebte Töchter“ a) Zur literarischen Insinuierungsgeschichte zweierlei Geschlechter Das Problemfeld der Figurenpoetik wartet mit einem heiklen Dauerproblem auf: Denn was insinuiert eigentlich, daß wir nicht einerlei Geschlecht, sondern ‚Männer‘ und ‚Frauen‘ vor uns haben? Die Kunstgestalten sind in dem Sinn als distinkt zu betrachten, den Kant in den Beobachtungen des Schönen und Erhabenen anmahnt: „Denn es ist hier nicht genug, sich vorzustellen, daß man Menschen vor sich habe, man muß zugleich nicht aus der Acht lassen, daß diese Menschen nicht von einer Art sind“, sondern unterschieden „in dem Gegenverhältnis beider Geschlechter“.65 Die bloße Namensgebung und eine Handvoll stereotyper Oberflächenmerkmale sind als Träger der Geschlechtsfarbe freilich rasch aufgebraucht. Für die textuelle Tiefenstruktur stellt sich die Frage der Differenzqualität daher aufs Neue, wobei die Beweislast offenbar übergewichtig auf der Seite der Weiblichkeitskonzeption liegt. Das 18. Jahrhundert hatte ein feines Bewußtsein von dieser Schwierigkeit entwickelt. Ungefähr zur selben Zeit, als sich die vieldiskutierte Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – entlang der Leitdifferenzen von Individualität und Universalität, Autonomie und Sympathie – auf praktisch allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern etablierte,66 zog die Geschlechterdifferenz 63 FA I 18,710 u. 712. 64 Christoph Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker besonders der Egyptier. Göttingen 1775, S. 204. Besser und richtiger hat es auch Hans Blumenberg (Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. v. Manfred Fuhrmann. München 1971 [= Poetik und Hermeneutik 4], S. 11-66, hier S. 21) nicht ausgedrückt: „Die Stärke der mythologischen Tradition ist ihre substantielle Inkonstanz, ihr unbedenklicher Verzicht auf Konsequenz“. 65 Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764). In: Ders.: Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. 6. Aufl. Darmstadt 1998 (zuerst 1960), Bd. 1, S. 821-884, hier S. 851. 66 Dazu die grundlegende Untersuchung von Karin Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Hg. v. Werner Conze. Stuttgart 1976, S. 363-393, bes. S. 366f.

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auch in die Strategien der Figurenzeichnung ein. Diderot, dessen Erzähltechniken Goethe eingehend studiert hatte, zählte seit seinen psychographischen Bemühungen um die Religieuse zu den Pionieren auf diesem Gebiet. Mit der dabei allenthalben angestimmten Naturalmetaphorik – wie daß man für die Zeichnung von Frauengestalten die Feder in die Farben des Regenbogens tauchen müsse67 – verbinden sich nun signifikante Diskriminierungen hinsichtlich des den ‚Frauen‘ zugestandenen Individualitätsgrades. Auf den Punkt gebracht hat dies Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik (1804): Die „meisten sittlichen Ideale der Dichter [sind] Weiber […], weil sie, weniger individuell als die Männer, den Gang der Sonne mehr wie eine Sonnenuhr und Sonnenblume still bezeichnen, als wie eine Turmuhr und deren Türmer laut anschlagen“.68 Und an anderer Stelle (im Programm über Charaktere) heißt es mit letzter Unverblümtheit: „Das Weib wird nie so individuell als der Mann“.69 Welchen Kollegen er hier vielleicht ganz besonders im Auge hatte, verraten andere Kontexte. Die Gestalt Natalies im Siebenkäs (1796/97), vom Erzähler auch als „Werthers-Lotte“70 apostrophiert, antwortet in ihrer wächsernen Idealisierung und quasi-sakralen Auratisierung nicht eben undeutlich und alles andere als unkritisch auf ihre Namensschwester in den Lehrjahren. Indes verfügte Goethe, bei aller zeitgenössischen Unzufriedenheit, die namentlich gegen die Zeichnungen Lottes, Natalies und Ottilies laut wurden, seinerseits über einen beträchtlichen geschlechterpoetologischen Scharfblick. Einen ersten grundsätzlichen Beleg dafür bietet die Tatsache, daß Goethe – wie nachfolgend plausibilisiert werden soll – seinem Erzählsystem geradezu eine Geschichte der literarischen Weiblichkeitsfingierung eingeschrieben hat. Diese Geschichte beginnt mit einem bemerkenswerten, die Gegenwart herausfordernden Desiderat der antiken Literatur. „Wir sprachen“, berichtet Eckermann vom 5. Juli 1827, „über die ‚Beiden Foscari‘, wobei ich die Bemerkung machte, daß Byron ganz vortreffliche Frauen zeichne. ‚Seine Frauen‘, sagte Goethe, ‚sind gut. Es ist aber auch das einzige Gefäß, was uns Neueren noch geblieben ist, um unsere Idealität hineinzugießen. Mit den 67 Vgl. bes. Denis Diderot: Sur les femmes (1772). In: Ders.: Œuvres. Hg. v. André Billy. Paris 1951 (= Bibliothèque de la Pléiade 25), S. 949-958. Daß der Aufsatz in der Correspondance littéraire, philosophique et critique Friedrich Melchior von Grimms erschienen ist, sichert seine Bekannheit in Weimarer Kreisen. 68 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 217. Dazu Rita Wöbkemeier: Physiognomische Notlage und Metapher. Zur Konstruktion weiblicher Charaktere bei Jean Paul. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. v. Hans-Jürgen Schings. Stuttgart 1994, S. 676-696, sowie Elsbeth Dangel-Pelloquin: Eigensinnige Geschöpfe. Jean Pauls poetische Geschlechter-Werkstatt. Freiburg/Br. 1999. 69 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 223. 70 Jean Paul: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs (1796/97). In: Ders.: Werke. Hg. v. Norbert Miller. München 1963, Bd. 2, S. 11-565, hier S. 455.

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Männern ist nichts zu tun. Im Achill und Odysseus, dem Tapfersten und Klügsten, hat der Homer alles vorweggenommen.‘“71 Der Bezug auf Homer ist für die Verhandlungen einer erzähltheoretisch fundierten Figurenpoetik bereits deshalb von entscheidender Bedeutung, weil Blanckenburg für die Figuren, die er im Roman zu sehen wünschte, ausschließlich die ‚Charaktere‘ der alten Dichter benannte.72 Betrachtungen Über die weiblichen Charaktere in den griechischen Dichtern (1794) anzustellen, über die „Art wie Weiblichkeit und weibliche Charaktere“ bei den Alten „behandelt werden“, hat bereits der junge Friedrich Schlegel für Wert gehalten.73 Und auch er kam zu dem Ergebnis, daß Homer, der so reich an Ausdrücken für seine männlichen Gestalten sei, niemals in gleicher Weise seine ‚Frauen‘ konkretisiere. Sie erscheinen vielmehr wie Nausikaa „[o]hne an sich zu denken, und um sich zu wissen“, oder wie Penelope in „wenige[n] große[n] Umrisse[n]“74. Trotz oder besser wegen solcher „Monotonie“ scheinen Frauengestalten aber die Qualität eines Seismographen zu besitzen, da sie es sind, in denen sich, so Schlegel, Tendenzen der Zeitalter „vorzüglich frühe und heftig [äußern]“.75 Jean Paul muß die Breitenwirkung der Schlegelschen Charakter-Schrift im Sinn gehabt haben, wo er „[g]egen die gemeine Meinung […] die Griechen mehr in Darstellung weiblicher Charaktere über die Neuern setzen [möcht‘]“.76 Dies geschieht wiederum am Penelope-Beispiel. Und doch unterstützt er die These von der reduzierten Individualität auch wieder, wenn er den griechischen Bildhauern attestiert, sie hätten „den weiblichen Formen nur wenig Verschiedenheit gegeben“77. – Goethe stimmt in diese Diagnosen mit ein, ohne daraus jedoch einfach die Konsequenz zu ziehen, seinen Frauengestalten nun genauere Zeichnung und kräftigeres Kolorit zukommen zu lassen. Die durchtragende Stilmerkwürdigkeit des um 1800 gepflegten Literaturkanons, Weiblichkeitsimaginationen im immer gleichen Kreis einer begrenzten Zahl von Topoi und Idolen herumzuführen,78 wird von Goethe zuerst einmal nur benannt. Die deutlichsten diesbezüglichen Worte legt er 71 Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 250 (5. Juli 1827). 72 Vgl. Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 78. 73 Friedrich Schlegel: Über die weiblichen Charactere in den griechischen Dichtern (1794). In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner. Bd. 1. Hg. u. eingeleitet v. Ernst Behler. München u. a. 1979, S. 45-69, hier S. 52. An demselben Problemkomplex laborierte noch Heinrich Heine in dem 1838 erschienenen Stahlstichkommentar Shakespeares Mädchen und Frauen (In: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hg. v. Klaus Briegleb. München 1997 [zuerst 1976], Bd. 4, S. 171-293). 74 Schlegel: Über die weiblichen Charactere in den griechischen Dichtern, S. 57. 75 Ebd., S. 67. 76 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 222. 77 Ebd., S. 217. 78 Vgl. die Ergebnisse von Marion Beaujean: Das Bild des Frauenzimmers im Roman des 18. Jahrhunderts. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Hg. v. Günter Schulz. Bd. 3. Wolfenbüttel 1976, S. 9-28, S. 12f.: „Die Frau ist geradezu ein Topos ohne jede Individualität“; „als Person bleibt [sie] verborgen“.

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der Hersilie-Figur der Wanderjahre in den Mund, wenn sie an den Briefen und Geschichten Lenardos auszusetzen hat, die darin eine Rolle spielenden Frauen seien ihm „keine Personen, sondern Rubriken“: „Inen, Trinen […], Etten und Ilien“ (10,337f.). Im selben Ton emanzipatorischer Verärgerung schrieb Jahre zuvor Charlotte von Stein an Charlotte Schiller: „[U]nsere zu bearbeitenden Aufgaben […] sind weder der Stoff für einen Dichter noch des Geschichtsschreibers; auf ’s höchste können sie einmal so nebenher wie die Wäsche der Nausikaa und das Gewebe der Penelope angeführt werden“.79 Tatsächlich sind es die den Helden aufrichtende Jungfrau Nausikaa und die von Freiern umlagerte Gattin Penelope, die bereits bei der mythographischen Konstitution von Werthers Lotte zum Einsatz kommen (vgl. 8,58). Freilich nimmt Goethe derlei Machinationen nicht undistanziert vor, sondern weist sie unmißverständlich als Effekt von Werthers Homer-Lektüre aus. Sie durchziehen Goethes Erzählsystem bis hin zu den Wanderjahren, wo Lenardo über seine Begegnung mit der Weberin Nachodine verzeichnet: „[Ich] blickte ihr nach, als sie eben einiges anzuordnen durchs Zimmer ging; sie erschien mir wie Penelope unter den Mägden“ (10,700). Nicht weniger als auf die antiken Frauenikonen rekurriert Goethe auf diejenigen der Renaissance-Literatur. So steht Wilhelms Wahrnehmung der amazonischen Natalie und der koketten Philine zunächst ganz im Bann seiner Tasso-Lektüre: „[E]s waren […] Stellen, die ich auswendig wußte, deren Bilder mich umschwebten. Besonders fesselte mich Chlorinde mit ihrem ganzen Lassen. Die Mannweiblichkeit, die ruhige Fülle ihres Daseins taten mehr Wirkung auf den Geist, der sich zu entwickeln anfing, als die gemachten Reize Armidens, ob ich gleich ihren Garten nicht verachtete“ (9,378). An späterer Stelle, nachdem sich Wilhelm einläßlich über die Figur des Hamlet ergangen hat, fordert Aurelie ihn zur Charakterisierung der Ophelie-Gestalt auf. Shakespeare, so die knappe, Aurelie empfindlich treffende Antwort, zeichne seine ‚Frauen‘ „mit nur wenigen Meisterzügen“, so daß sich von ihnen „nicht viel sagen [läßt]“ (10,610). Ebenfalls aus Renaissance-Zusammenhängen, genauer aus der jungen Kultur des Prosaromans, speist sich der Komplex der Melusinenikonographie, der die Einbildungskraft von Goethes ‚Männern‘ von Werther (vgl. 8,16) bis zum Rotmantel, dem Erzähler des Melusine-Märchens der Wanderjahre, obsessiv gefangen hält. Ingeniös schließt Goethe damit die Frühgeschichte des neuzeitlichen Erzählens in den Roman der anbrechenden Moderne ein und zitiert die Frauengestalt als Agentin eines „mythischen Analogons“80. Auch dort, wo Goethes Erzählen zumindest punktuell auf barocke und frühaufklärerische Dichtung Bezug nimmt, geschieht dies ausschließlich 79 Charlotte von Stein an Charlotte Schiller, 9. April 1797 (zit. n. Helga Haberland u. Wolfgang Pehnt: Frauen der Goethezeit. In Briefen, Dokumenten und Bildern. Stuttgart 1960, S. 296f. 80 Lugowski: Die Form der Individualität im Roman, S. 13.

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aufgrund bestimmter Frauenfiguren und deren Bauplänen. Die Belege beschränken sich hier auf die Lehrjahre. Emphatisch identifiziert sich Natalies Tante, die ‚schöne Seele‘, mit der Titelheldin von Anton Ulrich von Braunschweigs Römischer Octavia. Die insistente Tugendrhetorik der späteren Stiftsdame, ihre Deklamationen über Beständigkeit und Seelenruhe sind demnach nicht allein pietistischem Geist geschuldet, sondern ebenso den Denkmustern einer heroisch-galanten Lesesozialisation. Freilich unterstehen die exemplarischen Heldinnen des höfischen Romans einem normativen Literaturkonzept, das noch alles andere als die individuelle Identitätsgewinnung seiner Leser im Auge hat. Die Strategien einer veralteten Figurenpoetik durchleuchtet Goethe auch dort, wo er den jungen Wilhelm ‚weibliche‘ Allegorien entwerfen läßt, die auf eindimensionale Kontraste hin angelegt sind. Die Länge der hier zu zitierenden Textpassage entspricht der in Versatzstücken schwelgenden, nichts als Abziehbilder produzierenden Schilderung malenden Stils, die gerade Gegenstand der Kritik ist: „Ich erinnere mich noch eines Gedichtes, das sich unter meinen Papieren finden muß, in welchem die Muse der tragischen Dichtkunst und eine andere Frauensgestalt, in der ich das Gewerbe personifiziert hatte, sich um meine werte Person recht wacker zanken. […] Wie ängstlich hatte ich die alte Hausmutter geschildert mit dem Rocken im Gürtel, mit Schlüsseln an der Seite, Brillen auf der Nase, immer fleißig, immer in Unruhe, zänkisch und haushältisch, kleinlich und beschwerlich! […] Wie anders trat jene dagegen auf! Welche Erscheinung ward sie dem bekümmerten Herzen! Herrlich gebildet, in ihrem Wesen und Betragen als eine Tochter der Freiheit anzusehen. Das Gefühl ihrer selbst gab ihr Würde und Stolz; ihre Kleider ziemten ihr, sie umhüllten jedes Glied, ohne es zu zwängen, und die reichlichen Falten des Stoffes wiederholten wie ein tausendfaches Echo die reizenden Bewegungen der Göttlichen. […] Auch war nichts vergessen, um meine Muse kenntlich zu machen“ (9,383). Ob Wilhelms spätere Musen, Mignon und Natalie, von der hier verspotteten projektionsfreudigen Überattribuierung durch die produktive Einbildungskraft des Dilettanten ganz frei sind, darf füglich bezweifelt werden. Tragen sie doch in seinen Augen die überindividuellen Signaturen der Sehnsuchts- und der Vollkommenheitsphantasie. – Eine weitere Frauengestalt, die dem Barockzeitalter nachempfundenen Literaturkonventionen folgt, imaginiert Wilhelm in der Titelfigur seines blutrünstigen Bibeldramas über die Königin Isebel, ein moralisch diskreditiertes Machtweib, dessen stereotypes Erscheinungsbild dem der tugendfesten Römerin Octavia komplementär entgegengesetzt ist (vgl. zur Symptomatik des Isebel-Dramas ausführlich unten IV.3.b). Daß Goethe zum Ende des literaturgeschichtlichen Durchgangs auch die Weiblichkeitsstereotypen des empfindsamen Romans in den Lehrjahren bedacht hat, wurde in der neueren Forschung nicht zu unrecht behauptet. Doch dürfte Goethes Hauptbezugspunkt für diese Auseinandersetzung

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schwerlich der deutsche Originalroman sein.81 Das Gespräch über Roman und Drama in den Lehrjahren sowie die literaturkritischen Aperçus der Wanderjahre lenken vielmehr auf die großen europäischen Muster, ausdrücklich auf die Reihe „Clarisse, Pamela, der Landpriester von Wakefield, Tom Jones“ (9,675). Prekärer ist freilich, daß derselbe Goethe, der den Nachholbedarf bzw. die Entwicklungschancen auf dem Gebiet der Poetik ‚weiblicher‘ Figuren konstatierte, sich in diesem Rahmen seinem eigenen Literaturgeschichte gewordenen Frühwerk stellen mußte. Gewiß ist Lotte nicht Goethes, sondern Werthers Klischee, doch verhinderte dies nicht, daß es Goethe später im Weg stand – zumal bei der dauerhaften, Goethe enervierenden Publikumsaffektion für die Tugendhafte (obwohl es auch an Klagen über Lottes ermüdende Eindimensionalität nicht fehlte).82 In den signifikanten Frauengestalten des späteren Werks führte Goethe subjektspezifische Problemgehalte Lottes und Werthers zusammen. Als Goethes literarische Produktivität in der Mitte der 1780er Jahre mit neuer Energie wieder einsetzt, folgen seine Weiblichkeitsimaginationen spürbar modifizierten, nämlich durchaus intrikateren Plänen. Der Probierstein für diesen Umbruch ist zum einen die Veränderung der Lotte-Figur selber (in der Werther-Fassung von 1786; vgl. oben I.1.), zum anderen eine zweite Figur der 70er Jahre, deren Überarbeitung ebenfalls von einer Komplexitätssteigerung der dahinter wirkenden Figurenpoetik zeugt. Ganz wie Werther seiner Lotte zurief: „Sie ist mein! du bist mein! ja Lotte auf ewig!“ (8,250) gestaltet sich das Schlußtableau der Stella in der Schauspiel-Fassung von 1776: „FERNANDO beide umarmend: Mein! Mein!/ STELLA seine Hand fassend, an ihm hangend: Ich bin dein!/ CEZILIE seine Hand fassend, an seinem Hals: Wir sind dein!“ (4,574). Das Unzulängliche dieser Lösung auf männlicher Verfügungsbasis, das Goethe nicht lange entging, bedarf wohl keiner Erläuterung. In der Tragödien-Fassung des Stücks von 1806 ließ er die Titelfigur zum furiosen Selbstmord schreiten. Ungewöhnlich für eine Frauengestalt, greift sie ausgerechnet zum Pistol: ein Selbstzitat Goethes, mit dem er Stella sich in die Aporien Werthers schießen läßt.

81 Vgl. Ladendorf: Zwischen Tradition und Revolution, deren These lautet, daß die Frauenfiguren der Lehrjahre durch Perspektiven- und Wesenswandel aus dem weiblichen Figurenrepertoire des deutschen Originalromans entwickelt seien. Philine schließe an die Pikara an, die Gräfin an die Heroine, Aurelie an die Empfindsame etc. 82 Vgl. Marie-Claire Hoock-Demarle: Die Frauen der Goethezeit. München 1990, S. 23: „Was die Frauen betrifft, so zögern sie im Laufe der Generationen nicht, Goethe den Mangel an Leidenschaft und die ein wenig ermüdende Tugendhaftigkeit der weiblichen Gestalt seines ersten Romans gründlich vorzuwerfen. Kurz, sie erkennen sich in Werther besser wieder als in Lotte“.

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b) Der Gedanke an Kunst Wie gesehen, zeigt sich Goethe der spezifischen Schwierigkeiten einer Poetik ‚weiblicher‘ Figuren außerordentlich bewußt, insofern er einige ihrer literaturgeschichtlichen Hauptstationen seinem Erzählsystem inkorporiert hat. Übrig bleibt, sich denjenigen Zeugnissen Goethes zuzuwenden, die seine eigene Fingierung des ‚anderen Geschlechts‘ betreffen. Wie die Mehrzahl seiner ohnehin spärlichen Selbstinterpretationen scheinen sie jedoch nicht so sehr der Enthüllung als der Verschleierung zu dienen. Bedeutungsvoll ist hier gerade das Unausdrückliche und Unprogrammatische. Damit unterscheidet sich Goethe von den meisten Spätaufklärern und Frühromantikern nicht eigentlich durch eine andere „Theorie der Weiblichkeit“83, sondern eher schon durch deren prinzipielle Unerreichbarkeit. – In Goethes Bekanntenkreis glaubte man freilich mehr und genaueres zu wissen. ‚Seine Frauen‘ zählten zu den beliebtesten und umstrittensten Konversationsthemen der Weimarer Salons. Ober- und Untergrenze des Meinungsspektrums sind rasch abgesteckt. Charlotte von Stein monierte, „seine Art mit unßerm Geschlecht umzugehn gefält mir nicht“;84 vorzüglich in den Lehrjahren seien „seine Frauen […] alle von unchristlichem Betragen, und wo er edle Gefühle in der Menschennatur dann und wann in Erfahrung gebracht, die hat er alle mit ein bißchen Kot beklebt, um ja in der menschlichen Natur nichts Himmlisches zu lassen“.85 Auf die andere Seite hatte sich für diesmal Charlotte von Schiller geschlagen: Es sei „bewunderungswürdig, daß Goethe die weibliche Natur so wahr schildere, daß er die kleinsten Züge schön aufgefaßt hat, obschon ihm selbst weder eine Leonore noch eine Natalie je im Leben begegnet sei“.86 Goethes eigene Verlautbarungen folgen, wie nicht anders zu erwarten, weder moralischen noch mimetischen Maßstäben. Sie gruppieren sich vielmehr um die beiden Leitsymbole der ‚Töchter‘ und der ‚silbernen Schalen‘. Erstere Wendung tritt in Goethes Selbstkommentaren, wenn auch erst in mittlerem Alter, mit besonderer Regelmäßigkeit auf. Die Ottilie der Wahlverwandtschaften galt ihm als „eine meiner zwar spätern, aber darum nicht minder geliebten Töchter“87. Im selben Bildkreis bleibt Ottilies Tagebuch, in dem das vollendete Werk als des Künstlers „ausgestattetes Kind“ (8,409) apostrophiert wird. Für die Wanderjahre kündigte Goethe an, Wilhelm werde darin „einigen schönen Kindern begegnen, die ich hie und da im Verborgnen erziehe“.88 83 Dick: Weiblichkeit als natürliche Dienstbarkeit, S. 1 u. ö. 84 Charlotte von Stein an Johann Georg Zimmermann, 6. März 1776 (zit. n. Haberland u. Pehnt: Frauen der Goethezeit, S. 288). Dazu Helmut Koopmann: Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe. München 2002, S. 79. 85 Zit. n. Dick: Weiblichkeit als natürliche Dienstbarkeit, S. 18. 86 Zit. n. Stahr, S. IV. 87 Dichtung und Wahrheit (FA I 14,542). 88 An Charlotte von Stein, 11. Mai 1810 (WA IV 21,290f.).

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Die Rede von den ‚geliebten Töchtern‘ und ‚schönen Kindern‘, mit der sich Goethe in ein intimes Vaterverhältnis zu seinen Frauengestalten setzt, steht auf dem Resonanzboden jenes locus classicus, der dem selbststilisierten Olympier unter den Dichtern gut zu Gesicht stand: der Geburt Athenes aus dem Kopf des Zeus. Indes fand Goethe an dieser Urszene einer Zeugung aus männlichem Geist kein eitles Genüge, stand ihr im Gegenteil durchaus auch skeptisch gegenüber. In seiner Rezension des anonym erschienenen Romans Bekenntnisse einer schönen Seele von ihr selbst erzählt (1806) urteilte er über die Titelfigur: „Denn es zeigt sich uns wirklich hier eine Männin, ein Mädchen wie es ein Mann gedacht hat. Und wie jene aus dem Haupte des Zeus entsprungene Athene, eine strenge Erzjungfrau war und blieb; so zeigt sich auch in dieser Hirngeburt eines verständigen Mannes ein strenges, obgleich nicht ungefälliges Wesen.“89 Goethe glaubte an den Erzählstrategien, mit denen diese ‚schöne Seele‘ – ein spinn off der Protagonistin des sechsten Lehrjahre-Buchs – präsentiert wird, nur allzu deutlich einen männlichen Verfasser erkennen zu können und wiederholt somit sein Urteil über eine Poetik ‚weiblicher‘ Figuren, die bis dato zu wünschen und zu hoffen übrig lasse. Bereits in den Lehrjahren selber hat er den Topos der Minervengeburt zum Gegenstand kritischer Reflexion gemacht. Wilhelms Einbildungskraft gestaltet die Natalie-Figur nicht allein zum Simulakrum Chlorindes, sondern ebenso zu dem der Göttin, die „ganz gerüstet aus dem Haupte des Jupiter entsprang“ (9,560). Daß er kurz zuvor auch im buchstäblichen Sinn als Regisseur einer theatralischen Minerva-Allegorie in Aktion trat (vgl. 9,525ff.), spiegelt noch einmal ein Zurichtungsverhältnis, in dem die Frauengestalt wiederum nicht zur Person gedeiht, sondern zur Rubrik gerät. Die neben dem ‚Töchter‘-Gedanken zweite Gruppe von Goethes Äußerungen über seine Frauengestalten nimmt sich auf den ersten Blick nicht weniger patriarchalisch und selbstgefällig aus, solange man nicht ihre Interaktion mit neuralgischen Referenzpunkten in den Erzähltexten beachtet. Im Mai 1809, Goethe hatte soeben die Überarbeitung der Wahlverwandtschaften begonnen, notierte Riemer: „Früh zu Goethe; Wahlverwandtschaften. Über Tisch von dem Roman, über die Weiber und sonstiges. Goethe bemerkte: ‚Weiber scheinen keiner Ideen fähig, – kommen mir sämmtlich vor wie die Franzosen, – nehmen überhaupt von den Männern mehr als daß sie geben‘, und äußerte sich ‚über das servire, was in ihrer Liebe liegt‘“.90 Diese Worte, um sie nicht simplifizierend als Beweismittel einer misogynen Geschlechterontologie zu verstehen, müssen vor dem Hintergrund eines Literaturgesprächs (Stichwort ‚Wahlverwandtschaften‘) gelesen werden. Ihre Geltung konzentriert sich demnach auf die Verfassung Ottilies: auf die eklatante Nicht-Identität einer Gestalt, die in ihrem Tagebuch ebenso das Echo der Gedanken anderer 89 FA I 19,283. 90 Mit Friedrich Wilhelm Riemer, 30. Mai 1809 (Goethes Gespräche 2,449).

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wie sie in der Geschlechterbeziehung das Echo Eduards ist.91 „Weil aber die meisten derselben“, nämlich der „Maximen und Sentenzen“ des Tagebuches, „wohl nicht durch ihre eigene Reflexion entstanden sein können; so ist es wahrscheinlich, daß man ihr irgend einen Heft mitgeteilt, aus dem sie sich was ihr gemütlich war, ausgeschrieben“ (8,418). Die echofreudige Hohlräumigkeit und Leere der Figur als Subjekt korrespondiert offensichtlich mit dem principium stilisationis von Goethes ästhetischer Objektivität. Kaum waren die Wahlverwandtschaften erschienen, hatte Riemer im November 1809 zu verzeichnen: „Merkwürdige Reflexion Goethes über sich selbst: Daß er das Ideelle unter einer weiblichen Form oder unter der Form des Weibes concipirt. Wie ein Mann sei, das wisse er ja nicht. Den Mann zu schildern sei ihm nur biographisch möglich, es müsse etwas Historisches zum Grunde liegen.“92 Eine Gestalt wie Ottilie, die nahezu keinen Gedanken faßt, der nicht intertextuell determiniert, nahezu keine Geste macht, die nicht ikonographisch präfiguriert wäre, stellt das transparenteste Medium einer überindividuellen Stilisierungsstrategie dar: ein Gefäß, das beliebig geformt und gefüllt werden kann. Der ‚Form des Weibes‘ liegt das Gegenteil des ‚Historischen‘ zugrunde: das Mythische, dessen Gesetze die Faktur Ottilies, aber auch Mignons und Makaries organisieren. Besonders eindringlich exemplifizierte Goethe das Gefäß-Prinzip in einem Gleichnis, das man wegen seines zunächst anstößigen Eindrucks nicht vorschnell von der Hand weisen darf. „Heute“, so Eckermann über den 22. Oktober 1828, „war bei Tische von den Frauen die Rede, und Goethe äußerte sich darüber sehr schön. ‚Die Frauen‘, sagte er, ‚sind silberne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen. Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir angeboren […].‘“93 Konzediert man nur, daß Goethe hier eben nicht reale, sondern fiktionale Frauen, nämlich, wie es wenige Zeilen später heißt, „meine dargestellten Frauencharactere“94 im Auge hat, relativieren sich die misogynen Obertöne der Aussage wieder, zumal sie schließlich ein Literaturkonzept zur Grundlage hat, das die Erscheinungswirklichkeit zugunsten der Eigensprachlichkeit des poetischen Diskurses annihiliert. Die Herkunft des Bildes aus den Sprüchen Salomos verbindet sich mit den weiteren mythologischen Assoziationen der Goldfrucht hinsichtlich der Hesperiden-Äpfel und der Paris-Wahl.95 Der 91 Zur Echomotivik der Wahlverwandtschaften Waltraud Wiethölter: Legenden. Zur Mythologie von Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. In: DVjs 56 (1982), S. 1-64, hier S. 8ff. Ferner dazu Michael von Albrecht: Goethes Rezeption der Antike dargestellt an seiner Beziehung zu Ovid. In: Ein unteilbares Ganzes. Goethe: Kunst und Wissenschaft. Hg. v. Günter Schnitzler u. Gottfried Schramm. Freiburg/Br. 1997, S. 39-62, hier S. 52. 92 Mit Friedrich Wilhelm Riemer, 24. November 1809 (Goethes Gespräche 2,485). 93 Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 292 (22. Oktober 1828). 94 Ebd. 95 Vgl. Helfer: Wilhelm Meister’s Women, S. 229 u. 249.

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damit abgesteckte Motivkreis verschaltet sich durch Goethes Erzählsystem hindurch zu einer neuerlichen Isotopie: Werther erhält einen Apfel als freilich trügerisches Zeichen erotischer Gewährung eingehändigt (vgl. 8,158); Mignon wird mit der Region der „Gold-Orangen“ (9,502) assoziiert; der Prokurator in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten will wissen, daß ein junges Weib „einem Garten voll schöner Früchte gleicht“ (9,1051); Ottilie zählt zu den „verschlossene[n] Früchte[n]“ (8,294); Felix schneidet sich in den Wanderjahren in den Daumen, nachdem ihm die verbotene Geliebte Hersilie einen Apfel zu schälen gab (vgl. 10,309). Im „Knabenmärchen“ vom Neuen Paris werden dem erzählten Ich zu Eingang drei Äpfel übergeben, die sich in Juno, Minerva und Venus verwandeln, worauf der künftige Dichter selbstbewußt ankündigt, diesen Inbildern des Mythischen ein neues Leben in der Gegenwart zu gewinnen.96 In diesem kleinen Spiegelkabinett der Modifikationen und Kombinationen findet sich schließlich auch der Schlüssel zu Goethes Gesprächsäußerung von 1828: Sie ist ein Selbstzitat aus den Lehrjahren, aus dem Mund des Theaterprofis Serlo, der gegen den lebensfrohen Dilettantismus Wilhelms die künstlerische Reduktion empirischer Formen empfiehlt. Wilhelm stimmt in dieser Diskussion um das Verständnis des literarischen Kunstwerks den Tenor einer Ästhetik des Lebendigen, Detaillierten und Individualisierten an: „es ist ein Stamm, Äste, Zweige, Blätter, Knospen, Blüten und Früchte“ (9,661). Serlo setzt dagegen, „man bringe nicht den ganzen Stamm auf den Tisch; der Künstler müsse goldene Äpfel in silbernen Schalen seinen Gästen reichen“ (ebd.). Die Auffassung, die Goethe hier niedergelegt und später wieder aufgegriffen hat, ist nicht leichthin als Zeugnis der künstlerischen Abgebrühtheit Serlos zu verwerfen. Die Metaphorik des Kunstwerks als in Schüsseln gereichtes Gericht war bereits aus Goethes eigenem Mund zu vernehmen: Diderot betätige sich im Fataliste als ein „Tafeldecker“, der uns eine erzählte Welt auf künstlichen „Einschiebeschüsseln“ kredenzt.97 Mit den Bildern des Metallurgischen und des zum zeitsistierenden Stilleben Arrangierten, denn nichts anderes steht hinter der Ikonographie der ‚goldenen Äpfel in silbernen Schalen‘, hält Goethe, wie in dem Aufsatz Frauenrollen auf dem römischen Theater (1788) annonciert, den „Begriff der Nachahmung“, den „Gedanke[n] an Kunst immer lebhaft“.98 Anstelle von lebendiger Natürlichkeit – niedergelegt in Werthers Wunsch, „die Gestalt einer Geliebten“, die „so voll, so warm“ in ihm „lebt“, dem „Papier“ einzuhauchen (8,14) – prononciert dieses Kunstprogramm den Reiz einer zugerichteten Artifizialität, die freilich nicht ohne die Gestehungskosten 96 Vgl. FA I 14,59f. Dazu Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987, S. 154f. Zur Tragweite des Parismotivs Fuhrmann: Der schwankende Paris. 97 An Johann Heinrich Merck, 7. April 1780 (WA IV 4,203). 98 Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt (FA I 18,211).

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einer gewissen inneren Gewaltsamkeit zu haben ist. Gleichwohl, Werthers Klage über den „kalte[n] todte[n] Buchstabe[n]“ (8,118) und Wilhelms Votum für das Kunstwerk als lebendigen Baum sind poetologisch unzulängliche Ansichten von Dilettanten, die in und von den Erzähltexten selber enttäuscht werden. Sie lösen das Kreationsparadigma Pygmalion, welches das 18. Jahrhundert regierte – also „im Leben ein zweytes Leben durch Poesie hervorzubringen“99 –, weitgehend durch das Paradigma Midas ab, das die Reduktion des Lebens als Wesensmerkmale jeglicher Kunst und Schöpfung akzeptiert. Hierzu stimmt nun wieder die metaphorologische Tradition der goldenen Äpfel, die nämlich einen Meilenstein in der Geschichte des Midas (in der Fassung von Ovids Metamorphosen) besitzt: In seinem „gleißenden Elend“ holt der König „goldene Ernte“ vom Apfelbaum, wie von den Töchtern des Abends, den Hesperiden, geschenkt.100 Seit Lottes Profil in den Scherenschnitt gebannt und unter Glas gesetzt wurde, neigen die exponiertesten von Goethes erzählten Frauen zu einer Erstarrung als Kunstwerk: einer ästhetischen Sklerose, die erstmals bei Mignon als einer Wachspuppe im Marmorsarg (vgl. 9,955ff.), Endpunkt eines lange vorher begonnenen regelrechten Bildwerdungsprozesses, zum Moribunden und Letalen ausschlägt. Makarie ist in ihrer heiligenmäßigen Aureole bereits im physiologischen Sinne gelähmt und wird auf einem rollenden Thron in die Kulisse eines Bildersaales geschoben (vgl. 10,379). Auf die Spitze einer einzigartigen Radikalität treibt Goethe diesen Ikonisierungsprozeß im Falle Ottilies.101 Die Bilder (der Nymphe Echo, der Heiligen Jungfrau, der Engel etc.), mit denen sie gleichsam überbelegt wird, sind Signifikanten, die auf alles Mögliche, nur nicht auf eine Vitalität des homo fictus als Simulation eines Individuums verweisen. „Bildnisse“, so stellt Charlotte mediologisch korrekt und ausgerechnet anhand von Sepulkralplastiken fest, „deuten auf etwas Entferntes“, weshalb sie „eine Art von Abneigung“ gegen sie hege 99 So von Goethe bei seiner Einschätzung Johann Christian Günthers auf den Punkt gebracht: Dichtung und Wahrheit (FA I 14,290). Vgl. Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ‚Darstellung‘ im 18. Jahrhundert. München 1998, bes. S. 42ff.; sowie Dangel-Pelloquin: Eigensinnige Geschöpfe, S. 16f. 100 Ovid: Metamorphosen. Hg. u. übers. v. Gerhard Fink. München 2004, S. 534-537 (XI, vv. 113ff.). Zu Goethes ständigem rezipierenden und produzierenden Umgang mit den „ovidischen Gestalten“ vgl. von Albrecht: Goethes Rezeption der Antike dargestellt an seiner Beziehung zu Ovid, bes. S. 43. 101 Zu Erstarrung, Erkaltung und Abtötung als Prävention vor der Gefahr, die vom weiblichen Körper ausgeht vgl. Christian Begemann: Der steinerne Leib der Frau. Ein Phantasma in der europäischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Aurora 59 (1999), S. 135-159, sowie Norbert Puszkar: Frauen und Bilder: Luciane und Ottilie. In: Neoph. 73 (1989), S. 397-410. Speziell zu den Wahlverwandtschaften jetzt auch Claudia Öhlschläger: „Kunstgriffe“ oder Poiesis der Mortifikation. Zur Aporie des ‚erfüllten‘ Augenblicks in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. In: Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. Hg. v. Gabriele Brandstetter. Freiburg/Br. 2003, S. 187-204.

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(8,399). Der Bebilderungs- erweist sich als Mortifizierungsvorgang, der sich mit Ottilies schöner Erstarrung im Marmorsarg endigt. Man würde seine Tragweite verkennen, hielte man dieses Ende nur für eine Warnung vor den Gefahren der unkontrollierten Einbildungskraft, mithin des dilettantischen Bildergebrauchs. Die Überwucherung des Lebens durch die Zeichen ist ein Resultat der Erzählkunst selber. Die letzte künstlerische Idealität setzt offenbar die Ausstreichung noch der letzten Erinnerung an eine vitale Realität voraus. Indem er mit dem Objekt Ottilie eine kostbare Materialisierung zu Ende bringt, erzählt der Erzähler vom Erzählen. Es ist die Atmosphäre des ganzen Romans, die sich in einem Tableau von bemerkenswerter Preziosität verdichtet: Die sinkende Sonne „vergoldete Wange und Schulter“ (8,491) Ottilies, ihre Brust „[glich] an Weiße und leider auch an Kälte dem Marmor“ (8,495). Zuletzt legt sich ein „Glasdeckel“ (8,523) über sie. Gegeben wird so die Allegorie eines Erzählens, das – in der heiter-kühlen Höhenwelt der Wanderjahre gipfelnd – sein Personal wie hinter Glas betrachten läßt.102 Die Kunst ist tödlich geworden, der Erzähler ein Midas. Damit hat Goethe dem literarhistorischen Wandel der Figurenkonzeption, der vorerst vom Typus zum Charakter verlief, eine neuartige Wendung zur in Schattenrissen, Gemälden, Skulpturen und Tableaux verdichteten Ikone hin mitgeteilt. Fiktive Menschen, die in diesem Künstlichkeitsgrad namentlich mit mythologischem Material unterfüttert sind, somit auf literarisch zweiter, wenn nicht dritter Stufe stehen, sollen nicht die Illusion erzeugen, mit sich identisch zu sein, sondern sind dazu eingerichtet, genau das zu zerstreuen. Sie spielen die Rolle einer Rolle, deren stummer Text lautet: ‚Ich bin nicht ich.‘ Goethes Erzählen steht offenbar in einer Fluchtlinie, die zu den figurenpoetologischen Explikationen der literarischen Moderne um 1900 führt. Hören wir dazu ein letztes Mal das Zeugnis von Hofmannsthals Gespräch Über Charaktere im Roman und im Drama: „Ich glaube vielleicht nicht, daß es Charaktere gibt“, sagt Balzac. Auf den Einwand des verwunderten HammerPurgstall, er habe doch Hunderte von „Menschen“ geschaffen, beschreibt der Romancier den Umstand der gezielten Irrealisierung des homo fictus: „Meine Menschen sind nichts als Lackmuspapier“, und: „der Künstler gleicht jenem Midas, unter dessen Händen alles zu Gold wurde“.103 Hofmannsthal bewährt seinen literaturhistorischen Scharfblick darin, daß das CharaktereGespräch zuletzt zum Versuch über Goethe wird. Der „Olympier“ von Weimar sei eine „Medusa“ gewesen: „er konnte das Herz eines Menschen zu Stein erstarren lassen“.104

102 Lämmert (Goethes empirischer Beitrag zur Romantheorie, S. 30) hat diesen Sachverhalt als die „vordringende Entpersönlichung der Goetheschen Erzählprosa“ beschrieben. 103 Hofmannsthal: Über Charaktere im Roman und im Drama, hier S. 485. 104 Ebd., S. 492f.

III. „Durch eigene Zuthat anzueignen“ Goethes subjektphilosophischer Horizont 1. Goethes Lektüren und Anmerkungen zur Konzeptgeschichte des Subjekts a) Zwischen Positionen und Irritationen Das anhängige Unternehmen, aus dem Haus der Goethe-Forschung ein Fenster auf das zerklüftete Problemgebiet des Ich-Gedankens und der Ich-Erfahrung zu öffnen, sieht sich theoretisch und historisch außerordentlich aufgeladenen Begriffen in einer hochgradig elaborierten, zum Teil spitzfindigen und gerne auch polemischen Debatte gegenüber, der man einen wohl in der Sache liegenden Hang zum Dunklen und Ungreifbaren attestiert hat.1 Die Beschaffenheit des Subjekts widersetzt sich erfolgreich jeder überzeugenden diskursiven Durchdringung. Infolgedessen präsentiert sich der Terminus ausgesprochen unscharf, indem er zusammen mit ‚Individuum‘ und ‚Person‘, ‚Identität‘ und ‚Selbst‘ einen gemeinsamen Vorstellungskomplex bildet. Charles Taylor beispielsweise, der sozialethisch fundierten Subjektapologie von Jürgen Habermas nahestehend, eröffnete seine monumentale 900seitige Untersuchung über Sources of the Self (1989) mit einer Bestimmung der „neuzeitlichen Identität“ als unseren „Vorstellungen von dem, was es heißt, ein handelndes menschliches Wesen, eine Person oder ein Selbst zu sein“,2 womit bereits ein Gutteil des im Sinnbezirk des Subjekts kreisenden Wortmaterials nahezu in Synonymbeziehung gesetzt wird. Bei näherer Betrachtung freilich muß nicht jedes Subjekt (das dem Denken und der Wahrnehmung Zugrundeliegende, also dasjenige, das 1 Vgl. Rainer Enskat: Ontologische Geheimnisse des Ich? Eine philosophische Untergrundgeschichte. In: Philosophie der Subjektivität und das Subjekt der Philosophie. Festschrift für Klaus Giel zum 70. Geburtstag. Hg. v. Renate Breuninger. Würzburg 1997, S. 66-81, hier S. 70. – Die Pole des Meinungsspektrums in der deutschsprachigen Diskussion lassen sich abstecken mit Hans Ebeling: Das Subjekt in der Moderne. Rekonstruktion der Philosophie im Zeitalter der Zerstörung. Reinbek/Hbg. 1993 (die idealistische Subjekttheorie als „die einzige Theorie, die dem Menschen als Menschen Stand gab, weil sie das Subjekt im Menschen etablierte, nämlich als den Ort der Selbstbestimmung aus Vernunft“ [S. 10].), und Kamper: Zur Geschichte der Einbildungskraft (das Subjekt als eine tyrannische Lüge, die uns zu Schuldigen stempelt [bes. S. 117ff.]). 2 Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt/M. 1994 (Orig. 1989 u. d. T. Sources of the Self. The Making of the Modern Identity), S. 15. Mit der Betonung des Handelns stellt der Kommunitarist Taylor das Subjekt freilich in den Horizont der praktischen Philosophie und avisiert die Überführung des Subjekts in die Intersubjektivität. Vgl. Rainer Döbert, Jürgen Habermas u. Gertrud Nunner-Winkler: Zur Einführung. In: Entwicklung des Ichs. Hg. von dens. Köln 1977, S. 9-30. Dagegen sowohl Ebeling: Das Subjekt in der Moderne, S. 86-148 („‚Kritische Theorie‘: Aufklärung und Verblendung“), als auch Kamper: Zur Geschichte der Einbildungskraft, S. 120ff.

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Gedanken und Perzeptionen überhaupt erst hat) notwendig auch Individuum sein (eine Einfachheit zu einem bestimmten Zeitpunkt). Und nicht jedes Individuum muß zwangsläufig diachrone und synchrone Identität besitzen (Selbstgleichheit zu verschiedenen Zeitpunkten und zwischen verschiedenen Seelen- und Körperregionen).3 Die Facettierung von erkenntnistheoretischem, psychologischem und handelndem Subjekt wurde bereits eingeführt.4 Weiterhin wären erstens formale und inhaltlich gefüllte Subjektbegriffe zu differenzieren, beispielsweise wo Luhmann nur das Kriterium der Einheit, Taylor aber das der Verantwortung ansetzt,5 sowie zweitens starke und schwache Subjektbegriffe, was insbesondere die Frage betrifft, ob wir das Subjekt lediglich als Träger von Vorstellungen bestimmen wollen oder ob zu einem Subjekt nicht auch Selbstbewußtsein als Bewußtsein von Bewußtsein gehört, d. h. ob das Ich, das sich mit dem Resultat von Erstbewußtsein auf die Welt bezieht, sich damit nicht auch auf sich selbst beziehen sollte und erst dadurch vom Träger zum Eigentümer von Vorstellungen wird.6 ‚Subjektivität‘ kann einerseits jenen durch Willkür ausgezeichneten Individualismus zum Inhalt haben, den Goethe 3 Vgl. David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand (1748). Übers. v. Raoul Richter. 11. Aufl. Hamburg 1984, S. 327f. – Zur terminologischen und historischen Klärung besonders hilfreich Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. 9. Aufl. Stuttgart 2000 (zuerst 1969), S. 7-31 („Identität als Problem und Untersuchungsgegenstand“); Emil Angehrn: Geschichte und Identität. Berlin u. a. 1985, S. 231ff. (logisch-begriffliche Differenzierung des Identitätsbegriffs); Christoph Riedel: Subjekt und Individuum. Zur Geschichte des philosophischen Ich-Begriffes. Darmstadt 1989, Martin Brasser: Einleitung. In: Person. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. dems. Stuttgart 1999, S. 9-28; Klaus Düsing: Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität. München 1997; ders.: Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis Hegel. Stuttgart 2002, bes. S. 21-32 („Skizze paradigmatischer Einsichten zur Subjektivitätstheorie in der klassischen deutschen Philosophie“). – Im Hinblick auf Goethe Thadden: Subjekt/Objekt. Eine detaillierte Forschungswiedergabe, ohne darüber jedoch zu einem eigenen Faden zu gelangen, bietet Jutta Eckle: „Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir“. Studien zu Johann Wolfgang von Goethes ‚Wilhelm Meisters theatralische Sendung‘ und Karl Philipp Moritz’ ‚Anton Reiser‘. Würzburg 2003, S. 127-141 („Zur Verwendung des zentralen Begriffs ‚Personale Identität‘“). 4 Vgl. nochmals Holzhey: Die Konkurrenz der Subjekte, hier S. 252f. Ferner dazu Wolfgang Röd: Empirisches Ich und Ich der Philosophen. In: Aktuelle Probleme der Subjektivität. Hg. v. Hans Lenk u. Hans Radermacher. Bern u. a. 1983, S. 91-110. Dagegen zum Ort einer Personalitätstheorie in der Verbindung von theoretischer und praktischer Philosophie Sturma: Philosophie der Person, S. 27 u. ö. 5 Vgl. Niklas Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt/M. 1993 (zuerst 1989), S. 149-259, bes. S. 194, vs. Taylor: Quellen des Selbst, S. 15 u. ö. Mit der ethischen Akzentuierung verbindet sich häufig der Begriff der Person: Subjekte als Personen sind „Bewohner des sozialen Raums“, „Kandidaten von Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit“ (Sturma: Philosophie der Person, S. 39). 6 Vgl. Konrad Cramer: Über Kants Satz: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können. In: Theorie der Subjektivität. Hg. v. dems. Frankfurt/M. 1987, S. 167-202, hier S. 169-171.

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mit ‚Manier‘ in Verbindung brachte,7 andererseits und grundlegender die Idee festhalten, daß das Individuum im Unterschied zur Natur (als Objekt) Subjekt sei, verstanden als das Körper und Seele vereinende Fundament aller Erfahrung und Erkenntnis sowie jeglicher eigenständigen Aktivität. Als weitere begriffsgeschichtliche Differenzierung ist schließlich an den Fall jener von Nietzsche ausformulierten Kritik des Individuums zu erinnern, die mit einer emphatischen Stellungnahme für den ‚Einzelnen‘ und dessen Freiheit von moralisch codierten Ansprüchen an eine personale Integrität einhergeht.8 In einem Teilhorizont dessen kommt letztlich auch, wie sich zeigen wird, Goethes Narrativ des ‚aufbrechenden Selbst‘ zu stehen, in dem – auf dem Experimentierfeld des homo fictus – die schmerzhaften Sicherheitsverluste, die die liminalen Verfassungen des Einzelnen bedeuten, zu Erfahrungsgewinnen von wesentlich ästhetischer Art ausschlagen. „Das Ich, als philosophierendes Subjekt, ist unstreitig nur vorstellend; das ich als Objekt des Philosophirens könnte wohl noch etwas mehr seyn“ – diese Unterscheidung Fichtes zwischen erkenntnistheoretischem Subjekt einerseits und empirischen Subjekten andererseits hat Goethe in seinem Exemplar der Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre gleich doppelt angestrichen.9 Der Ich-Begriff Kants – des „allzuscharfen Denkers“10 nach Goethes Meinung – ist dagegen nicht weniger als sechsfach ausgefaltet: ‚Ich‘ ist demzufolge ein Begriff von sich selbst als Substanz, sodann als Einfaches (Individuum), als Person (ein Ich, dessen Gesinnung mit dem Sittengesetz übereinstimmt), als vom Körper Verschiedenes, als freies Wesen, als Selbstbewußtsein;11 zusammenfaßbar als logisches Subjekt: „überhaupt dasjenige, dem gewisse Prädicate inhäriren“12. Die Trennschärfe dieser Zergliederung ist ebenso 7 Daran knüpft Fritz Breithaupt (Jenseits der Bilder. Goethes Politik der Wahrnehmung. Freiburg/Br. 2000, bes. S. 30-40) Goethes ‚Kritik des Subjekts‘ an: „Jedes Subjekt ist eine Gorgone, petrifiziert sich seine Wirklichkeit“ (S. 37), d. h. es schafft sich Bilder im Sinne von „Festschreibung[en] des Wirklichen“ (S. 9). Vgl. Herbert Kaiser: ‚Böses Wollen‘ – ‚schöne Tat‘. Johann Wolfgang von Goethe: ‚Novelle‘ (1828). In: Deutsche Novellen. Hg. v. Winfried Freund. München 1993, S. 85-94. 8 „Hat man begriffen, inwiefern ‚Individuum‘ ein Irrtum ist, [...] so hat das Einzelwesen eine ungeheure große Bedeutung“ (Nietzsche: , S. 558). 9 Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3051: Johann Gottlieb Fichte: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen über diese Wissenschaft. Weimar 1794, S. 28 (zusammengebunden mit Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer. Leipzig 1794). 10 An die Großherzogin Maria Paulowna, 3. Januar 1817 (WA IV 27,308). 11 Vgl. Dieter Henrich: Die Identität des Subjekts in der transzendentalen Deduktion. In: Kant. Analysen, Probleme, Kritik. Hg. v. Hariolf Oberer u. Gerhard Seel. Würzburg 1988, S. 39-70; Riedel: Subjekt und Individuum, S. 89-96 („Kant: Die synthetische Anschauung des Ich im Verstand“); sowie Tobias Rosefeldt: Das logische Ich. Kant über den Gehalt des Begriffes von sich selbst. Berlin u. a. 2000. 12 Carl Christian Erhard Schmid: Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften. 4. Aufl. Jena 1798 (zuerst 1788). Nachdruck hg., eingeleitet u. mit einem Personenregister versehen v. Norbert Hinske, 3. Aufl. Darmstadt 1998 (zuerst 1976), S. 496.

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beeindruckend wie sie freilich an der Frage verzweifeln läßt, wo auf diesem Gliederfeld noch das Ich liegt. Goethe akzeptierte Kants Philosophie als das dominante Sinnsystem der Epoche: „Kant […] ist der vorzüglichste, ohne allen Zweifel“.13 Indes weisen seine eigenen subjektrelevanten Äußerungen eine konsequente und symptomatische Verweigerung begrifflicher Spaltungen ihres Gegenstandes auf, die auch und gerade die präzisen Begriffsbestimmungen Kants mit der dem Theoretiker Goethe eigenen Souveränität und Zwanglosigkeit ignoriert und dadurch annihiliert. Der Gedanke von der (aktualisierten oder projektierten) einmaligen Einheit der Person als dem Minimalkriterium des Individualitätsbewußtseins14 ist in Goethes Erzählen überaus präsent. Ihm gelten beträchtliche Bedeutungsinvestitionen und eine Vielzahl komplexer Arrangements. Einen ersten Eindruck davon vermittelt das Spektrum der hierfür aufgebrachten Semantik: Da ist die Rede von einer „Deutlichkeit über sich selbst“ (8,287) und „Übereinstimmung mit sich selbst“ (9,72), von einem Zustand, in dem man „mit [sich] selbst verwebt“ (9,77), „mit sich selbst bekannt“ oder „mit sich selbst eins“ ist, wohl auch „sich selbst gleich“, nämlich hinsichtlich einer bestimmten „Art zu sein“ (8,273) im Unterschied zum schieren Sein. Weitere Schlüsselwörter lauten auf „innres Selbstgefühl“ (9,432) sowie auf „Gefühl“, „Genuß“, „Kenntnis“ und „Sicherheit“ „seiner selbst“ (8,12, 127; 9,385, 1002; 10,453 u. ö). Mit definitorischer Umständlichkeit spricht die ‚schöne Seele‘ vom „Glück, sich seines eigenen Selbsts, ohne fremde Formen in reinen Zusammenhang bewußt zu sein“ (9,759) unter fernerem Versprechen, „uns von der Einheit unsres Geistes überzeugen“ (9,781) zu dürfen. In den Wahlverwandtschaften scheint „Individualität und Charakter“ als dasjenige auf, was „nach vielen Jahren zu unserem Erstaunen unverändert, und nach äußern und innern unendlichen Anregungen unveränderlich“ (8,516) sei. – Weder Goethes Erzählsystem noch seine theoretischen Schriften, Briefe und Gespräche lassen die Ausdifferenzierung einer subjekttheoretischen Terminologie erkennen, auch nicht innerhalb eines begrenzten Sektors. Der Versuch, eine solche zu rekonstruieren, scheitert an der zu großen Zahl jeweils abweichender Belege. Vielmehr drehen sich Goethes Formulierungen regelmäßig um ein ‚selbst‘, d. h. um eine Figur des Rückbezugs auf einen behaupteten Ausgangspunkt. Dessen schonungsvolle Unterbestimmtheit aufzuheben, wird offenbar aus 13 Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 243 (11. April 1827). 14 Dazu prägnant Luhmann (Individuum, Individualität, Individualismus, S. 194): „Was immer das Individuum nun ist: in jedem Falle ist es eine Einheit“. Dieser Begriff von Einheit ist nicht mit dem tierischen Beisichsein ohne Selbstbewußtsein zu verwechseln, das man der weiblichen Konstitution gerade zugesprochen hat, sondern als die Integrität eines selbstbewußten Wesens: als die „Einheit, in der das Bewußtsein sich selber erkennen kann“; „Ich“ beurteilt in diesem Fall „Ich“ als „einen Gegenstand, der nicht von ihm unterschieden ist“ (vgl. Vittorio Hösle: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Hamburg 1998, S. 367f. u. 533). Vgl. dagegen Dangel-Pelloquin: Eigensinnige Geschöpfe, bes. S. 9-24.

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Gründen einer begriffspolitischen Strategie vermieden, die das gemeinte Basiskonzept schützend abzuschirmen gewillt ist. Entgegen der noch zu wenig angefochtenen Annahme von Goethes philosophiegeschichtlicher Unbedarftheit und jedenfalls Unbekümmertheit, seinem vermeintlichen ‚refraktären Indifferentismus‘,15 läßt sich nachfolgend zeigen, daß er die Mehrzahl der subjekttheoretischen Denkschritte dieses Zeitraums nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern direkt oder durch ihre Vergegenwärtigung als Hypotext auch kommentiert hat. Goethes Wilhelm-Figur, so die leitende These im folgenden, dient bedeutenden Teilen der hierbei in Rede stehenden Wissensgeschichte als Projektionsfläche mit allerdings höchst eigenwilliger Struktur und Färbung. Namentlich in den Meister-Komplex strömte demnach – in den von der Eigenlogik des Literatursystems gezogenen Kanälen – deutlich mehr theoretische Denkarbeit ein, als in der Goethe-Literatur gemeinhin angenommen.16 Er weist eine ‚Kontamination‘ mit Einzelelementen aus verschiedenen Referenztexten auf, die durch allermeist präzise Referenzsignale belegbar ist.17 Für ein literaturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse kann es dabei nota bene nicht um die objektiven Ansprüche der betreffenden Philosophiearchitekturen gehen, sondern allein um ihr Rezeptionsabbild und die damit verbundenen (im besten Fall produktiven) Mißverständnisse, Kombinationen und Konjekturen. Bezeichnend, was Schiller dahingehend beobachtete: „Er [Goethe] war gestern bei uns, und das Gespräch kam bald auf Kant. Intereßant ists, wie er alles in seine eigne Art und Manier kleidet und überraschend zurückgibt, was er las“.18 Goethe selber formulierte die präzise Unterscheidung, er artikuliere, „was in mir aufgeregt war, nicht aber was ich gelesen hatte“19 – aufgeregt nach Maßgabe einer Individualität oder „Entelechie, die nichts aufnimmt, ohne sich’s durch eigene Zutat anzueignen“.20 Die Konfrontation mit bestimmten Positionen und Zumutungen gelehrter Diskurse behelligte Goethe – dieser Außenseite seiner Selbstdarstellung zufolge – nicht etwa mit Verunsicherungen, sondern gereichte ihm zum demonstrativen, ja mitunter 15 Vgl. mit Bezug auf Walter Benjamin Konersmann: Goethes „Subjektivität”, S. 115. 16 Exemplarisch dafür Lämmert (Goethes empirischer Beitrag zur Romantheorie), der von einer „Abstinenz an theoretischer Denkarbeit“ (S. 12) und dem „Erzählen subjektiver Erfahrung“ (S. 16) in Goethes Romanen spricht. Vgl. dagegen Gadamer: Goethe und die Philosophie, S. 6: Es „gehört zu der eigentümlichen und fast bestürzenden Grenzenlosigkeit des Goetheschen Geistes, daß diese Negation der Philosophie noch nicht einmal als die Hälfte der Wahrheit gelten kann“. Dahingehend auch das Plädoyer von Géza von Molnár: Goethes Einsicht in die ‚Wissenschaftslehre‘. In: Athenäum 7 (1997), S. 167-192, hier S. 172. Molnár geht zurecht darin über Gadamer hinaus, daß er die Spuren philosophischer Lektüre und Auseinandersetzung Goethes beweiskräftig zu identifizieren und zu trennen können glaubt. 17 Zum Intertextualitätsmodus der Kontamination vgl. Lachmann: Literatur und Gedächtnis, S. 61. 18 Schiller an Christian Gottfried Körner, 1. November 1790 (NA 26,54f.). 19 Einwirkung der neueren Philosophie (FA I 24,444). 20 Über Kunst und Altertum. Einzelnes (FA I 22,186).

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selbstgefälligen Triumph des eigenen Ich: „Ich danke der kritischen und idealistischen Philosophie, daß sie mich auf mich selbst aufmerksam gemacht hat, das ist ein ungeheurer Gewinn“.21 Aus Ursache des damit beschriebenen hohen Transformationsgrades und potenziert durch den Umstand, daß Goethe in subjekttheoretischen Angelegenheiten keiner Leittheorie (nicht einmal Spinoza) folgte, sondern in einem komplexen Geflecht heterogener Denkansätze frei navigierte, stellen sich quellenphilologische Untersuchungen an seinem Erzählsystem als besonders schwierig dar. Und die Schwierigkeiten werden dadurch nicht geringer, daß Goethe kein eigentlicher poeta doctus war, der eine so systematische Ausbildung wie beispielsweise der junge Schiller erfahren hätte oder regelmäßig mit dem Bleistift lesen würde, dessen Striche seine Ausleger auf die rechte Spur lenken könnten. Er liest vielmehr mit jener „gründlichen Ungründlichkeit“22, die darauf vertraut, „immer das Glück [zu] haben, in Büchern die bedeutendsten Stellen aufzuschlagen“,23 und sichert sich solchermaßen die Freiheit der Imagination. Zweifellos hegte Goethe ein tiefsitzendes positives Vorurteil für Harmonie, Integrität und Einheit des Selbst als etwas Einzigartigem und Notwendigem – und zwar auf beiden Hauptachsen des Subjektproblems: (1.) hinsichtlich der Vermittlung von sinnlichen und geistigen Strebensrichtungen oder des „endlichen und unendlichen Faktor[s]“, in den sich das Ich „zerteilt“24, sowie (2.) hinsichtlich des Ausschlusses von Heteronomie zugunsten von Autonomie, da sich das Subjekt mit seinem Anspruch auf Selbstkontrolle im Gegensatz zum Objekt, d. h. zur Natur als „Reich der Notwendigkeit“25, befindet. Wenn Goethe – „ein Egoist in ungewöhnlichem Grade“26 nach Schiller – im Rahmen autobiographischer Ego-Verschriftlichung von „Selbstfindung“27 oder von der Aufgabe der 21 An Christoph Ludwig Friedrich Schultz, 18. September 1831 (WA IV 49,82); vgl. den Abdruck des Briefes in Über Kunst und Altertum unter dem Titel Über objectives und subjectives in der Kunst (FA I 22,570-572, hier S. 571). 22 Hans Blumenberg: Goethe zum Beispiel. In Verbindung mit Manfred Sommer hg. v. Hans Blumenberg-Archiv. Frankfurt/M. 1999, S. 198. 23 Mit Adele Schopenhauer, Ende 1818 (?) (Goethes Gespräche 3/1,100). 24 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 132. 25 Dichtung und Wahrheit (FA I 14,731). Textimmanent dazu Hans Dietrich Irmscher: Beobachtungen zum Problem der Selbstbestimmung im deutschen Bildungsroman am Beispiel von Goethes Roman ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. In: JbWGV 86/87/88 (1982/1983/1984), S. 135-172. Zur Subjektphilosophie als Theorie der Selbstbestimmung vgl. Ebeling: Das Subjekt in der Moderne, S. 9. Für ein Ich-Konzept jenseits der Subjekt-Objekt-Dualität vgl. Jean Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung (1936). In: Ders.: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1936. Hg. u. mit einem Nachwort vers. v. Bernd Schuppener. Übers. v. Uli Aumüller, Traugott König u. Bernd Schuppener. Reinbek/Hbg. 1982, S. 39-92. 26 Schiller an Christian Gottfried Körner, 2. Februar 1789 (NA 25,193). 27 Tagebuch der italienischen Reise (FA I 15/1,641), Italienische Reise (FA I 15/1,568). Vgl. Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. 2 Bde. Frankfurt/M. 1995 (zuerst Königstein/Ts. 1982), S. 438 u. 442.

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„lebendigen Darstellung des Individuums“28 spricht, vertritt er damit die Annahme eines in der menschlichen Bestimmung realiter existierenden Selbst und findet sich keineswegs bereit, ohne weiteres einzuräumen, dieses Selbst könnte statt einer Entdeckung im Leben lediglich eine Erfindung durch die und in der Kunst sein. Die berühmte Schilderung der günstigen Nativität am Beginn von Dichtung und Wahrheit gibt das Selbst als eine garantierte Wirklichkeit aus, die mehr präsentiert als fingiert werden muß. Das Ich ist nicht fiktiv, sondern ‚Wahrheit‘, wenn es auch nur fiktional (in ‚Dichtung‘) dargestellt werden kann. Derlei Ich-Beharrung begnügt sich auch nicht damit, Identität auf den dialektisch geschulten Gedanken einer stets im Werden begriffenen Einheit der Gegensätze zu gründen, sondern perhorresziert das dialektische Geschichtsdenken (vgl. unten III.1.e). Gegenüber biographischen Brüchen und Krisen, die mit faktischen Neukonstruktionen der eigenen Individualität einhergingen, neigte Goethe zu den beschönigenden Klitterungen einer disziplinierten Individualitätsethik. Weimar, Italien, das Bündnis mit Schiller tauchen, von der Idee der alterslosen Entelechie gestützt (vgl. unten III.1.c), in die Rhetorik einer Wiedergeburt unter immer neuen Konstellationen, die nur die ursprüngliche Nativität abbilden sollen.29 Nicht wenige der Zeitgenossen nahmen ihn darin dankbar als den Zeugen des großen Individuums, die personifizierte Idealität des bürgerlichen Subjektgedankens.30 Vor der Suche nach dem Selbst im nur Moralischen des eigenen Inneren, namentlich vor der skrupulösen Introspektion als dem pietistischen Erbanteil der literarischen Anthropologie, hat Goethe bekanntlich stets gewarnt. „[V]on jeher“ kam ihm „die große und so bedeutend klingende Aufgabe: ‚Erkenne dich selbst!‘“ verdächtig vor, „als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren 28 Dichtung und Wahrheit (Paralipomena) (FA I 14,934). Dazu Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert, S. 50-56 („Individualitätsdarstellung in ‚Dichtung und Wahrheit‘“); sowie Wolfram Malte Fues: Individuum und Geschichte. Beobachtungen an Goethes ‚Dichtung und Wahrheit‘. In: Physiognomie und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität. Festschrift für Karl Pestalozzi. Hg. v. Wolfram Groddeck u. Ulrich Stadler. Berlin 1994, S. 245-264. Zu Goethes Beharren „auf den Ansprüchen des Subjekts“ namentlich in seiner „lebenslangen Selbstbeschreibung“ auch Konersmann: Lebendige Spiegel, S. 44. 29 „Denn es geht, man darf wohl sagen, ein neues Leben an, wenn man das Ganze [Rom] mit Augen sieht“ (Italienische Reise [FA I 15/1,135; vgl. ebd. S. 478]); „Sie haben mir eine zweite Jugend verschafft und mich wieder zum Dichter gemacht, welches zu sein ich so gut als aufgehört hatte“ (An Schiller, 6. Januar 1798, MA 8/1,487); die Rede von der ‚zweiten Jugend‘ auch z. B. an Herder, 25. Januar 1787 (WA IV 8,155). Dazu Italo Michele Battafarano: Die im Chaos blühenden Zitronen. Identität und Alterität in Goethes ‚Italienischer Reise‘. Bern u. a. 1999, bes. S. 179-196; Gerald Glaubitz: Historische und politische Bildung auf Reisen. Goethes ‚Italienische Reise‘ als Identitätsbildungskonzept. In: Neue Sammlung 34 (1994), S. 315-325, zur ‚Selbstfindung‘ als Künstler bes. S. 320ff.; sowie Jaeger: Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne, S. 209-214 („Exerzitien der Selbst- und Welterkenntnis“). 30 Vgl. Ulrike Prokop: Die Illusion vom großen Paar. Bd. 1: Weibliche Lebensentwürfe im deutschen Bildungsbürgertum 1750-1770. Frankfurt/M. 1991, bes. S. 7f. u. 330ff.

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und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer innern falschen Beschaulichkeit verleiten wollten“.31 Auch daher rührt Goethes anhaltende Neigung für den psychologischen Ansatz Johann Christian Heinroths, der zu tadeln weiß, „daß man unser lebendiges inneres Selbst durch Zerstückelung aus seinen Fugen gerissen“32 habe. Zur Ergründung seiner eigenen Natur bedarf das Individuum einer anhaltenden Betrachtung der es umgebenden Natur. Selbstbewußtsein existiert für Goethe allein im Zusammenhang mit Gegenstandsbewußtsein. Die tätige Gewahrung der Welt (er-) füllt allererst auch das Subjekt: „Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.“33 Als Beispiel des Gegenteils und zugleich als eingestandenes alter ego stand ihm Karl Philipp Moritz vor Augen. In Rom, der Mitte der Welt, in der Goethe die eigene Mitte gefunden haben will, schreckte ihn dieser mit penetranten „Zweifel[n] an sich selbst“34 als einem Selbst. In seiner Sprachlehre bestimmte Moritz das Erste Personalpronomen als den „Zusammenhang aller unsrer Vorstellungen“35, um anschließend den Cartesianischen Minimalsatz „Ich denke“, der den ontologischen Status des (erkenntnistheoretischen) Subjekts sichern sollte, durch ein problematisches „mich dünkt“ zu ersetzen, denn: „wir fällen hier nicht eigentlich das Urtheil, sondern es ist beinahe, als ob es sich selber fällte“.36 Solche Kultur der Seelenzergliederung belegte Goethe, bei allen Sympathien für Moritz, mit dem Verdikt der Hypochondrie.37 „Erkenne dich selbst […]. Es ist keineswegs die Heautognosie unserer modernen Hypochondristen […] damit gemeint; sondern es heißt ganz einfach: Gib einigermaßen Acht auf 31 Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort (FA I 24,595). 32 Johann Christian Heinroth: Psychologie als Selbsterkenntnislehre. Leipzig 1827, S. 3. Zu Goethes singulärem Anteil an Heinroths Psychologie vgl. jetzt auch Matthias John: Goethes Beziehungen zu Anthropologie und empirischer Psychologie seiner Zeit. In: Goethe und die Weltkultur. Hg. v. Klaus Manger. Heidelberg 2003, S. 1-16. 33 Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort (FA I 24,595f.). 34 Italienische Reise (FA I 15/1,494). 35 Karl Philipp Moritz: Deutsche Sprachlehre für die Damen. In Briefen von Karl Philipp Moritz (1782). Nördlingen 1988 (= Die Schriften in dreißig Bänden. Hg. v. Petra u. Uwe Nettelbeck, Bd. 13), S. 202. 36 Ebd., S. 204f. Zur metonymischen Verschiebbarkeit der Ersten Person mit dem Resultat des Ich als einer „grammatischen Illusion“ mit „Fehlreferenz“ vgl. auch Elisabeth Anscombe: Die erste Person (1975). In: Analytische Theorien des Selbstbewußtseins. Hg. v. Manfred Frank. Frankfurt/M. 1994, S. 84-109, Zitat S. 96. Zur Unterscheidung von ‚Ich‘, ‚sich‘ und ‚selbst‘ als identifikatorischem, reflexivem und authentifizierendem Akt vgl. Enskat: Ontologische Geheimnisse des Ich?, S. 78. 37 Vgl. Schings: Zur Pathogenese des modernen Subjekts, S. 55 u. 61, der sich diese Wertung für die Textdeutung zu eigen macht. Anders Eckle: „Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir“, bes. S. 142ff.: Im Weg verschieden, im Ziel aber einig wiesen Goethe und Moritz Literatur und Theater als funktionierende Definitionsfelder von Identität aus. – Goethe verlängerte diese Kritik der Selbst-Beschäftigung auch auf die Schule Fichtes: „Diese Herrn ruminiren [wiederkäuen] ihr Ich. Das mag denn freylich ihnen und nicht andern genießbar seyn“ (an Wilhelm von Humboldt, 16. September 1799 [WA IV 14,179]).

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dich selbst“ (10,752). So autoritativ legt ein Aphorismus der Wanderjahre die antike Selbstdiätetik des gnothi seauton aus – mit unverkennbarer Verharmlosung, da doch aus den erzählenden Partien desselben Romans ein literarisches, d. h. für Aporien offenes Wissen davon spricht, daß sich die Frage nach dem Subjekt nicht ohne Vereinfachungen im Modus der Moderation und Beschwichtigung beantworten läßt. Nun ist es eine produktive, nämlich schriftstiftende Eigenheit und Stärke Goethes, vorgefaßte Positionen nicht durchgehend, jedenfalls nicht hinter den Kulissen seiner Selbstinszenierung, vor problembewußten Irritationen zu schonen. Vielmehr vermochte er zwischen Positionen und Irritationen zu oszillieren und somit Widersprüche auszuhalten statt sie aufzulösen. Goethe übte seine Selbstaufrichtung teils unter Aneignung, teils unter Anfechtung bestimmter Subjekttheoreme sowie unter dem Druck einer Empirie, einer „eindringenden Welt“38, die den Eindruck der Stabilität des Ich teils zwar bestätigt, teils aber entschieden denunziert. Mitunter ist er zu einer hintergründigen Insistenz auf der delikaten Tatsache imstande, daß Idee und Erfahrung des Selbst sich nicht analog verhalten. Dann geraten identitätsbedrohende Fakten ins Gesichtsfeld. Die praktische Annahme der Abgegrenztheit des Ich von der Natur erweist sich als unhaltbar oder als unbefriedigend, weil sie einem Bedürfnis nach Verströmung in die Welt hinderlich ist. Die innere Einheit der Person erscheint zuweilen fragwürdig angesichts der Vielzahl von Strebungen (als Maler, Dichter, Naturwissenschaftler, Politiker etc.), die der Begriff der Universalität nur notdürftig harmonisiert. Obschon auf Augenblicke manche Desillusion, die Goethe über das Konzept des Individuums empfindet, auch in Tagebüchern, Briefen und Gesprächen ihr Ventil findet, verschafft sie sich regelmäßigeren Ausdruck doch in den fiktionalen Weisen der Welterzeugung. Da als die Gattung, die das Individuum gibt, par excellence der Roman figuriert, drängt sich folgerichtig das Erzählen auch als der Raum auf, in dem das Ich zur Verhandlung gestellt und dem Satz der Identität (‚A=A‘39) als zweiwertigem Code, der „Figuren des Dritten“40 ausschließt, seine Plausibilität entzogen wird. Die Zweifel am Selbst müssen sich in der ästhetischen Gestaltung gebunden finden, um nicht die Ursache eines ängstigenden Terrors zu sein. Auf der Ebene dieses subjektkritischen Subtextes Goethes kehrt sich das Verhältnis von Aneignung und Anfechtung der Bezugstheoreme entsprechend um.

38 Einwirkung der neueren Philosophie (FA I 24,442). 39 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Über den Begriff der Wissenschaftslehre. Weimar 1794, S. 49: „Nemlich der Satz: A=A gilt ursprünglich nur vom Ich; er ist von dem Satze der Wissenschaftslehre: Ich bin Ich, abgezogen.“ Zu Goethes genauer Kenntnis dieser Schrift vgl. III.1.e). 40 Damit bezeichnet Breithaupt (Jenseits der Bilder, S. 16) Erscheinungen zwischen „Einzelnem und Allgemeinem“, „Tod und Leben“, „Mann und Frau“ – eine Topographie von Leitdifferenzen, auf deren Örter im Folgenden noch mehrfach zurückzukommen sein wird.

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b) Renaissance-Individualismus Wie sehr Goethes ostentative Vorliebe für die Renaissance in deren vielbeschworenem Individualismus gründet – komplementär zur Apprehension gegen ein Mittelalter, das er sich als schwarzes Loch der Individualität denkt (hiervon unten V.2) –, muß an dieser Stelle nicht noch einmal bewiesen werden.41 Die Epoche scheint den Willen zur Eigentümlichkeit hervorzutreiben und die Möglichkeitsbedingungen sicheren Selbstgenusses herzustellen. Sie leistet diesem Bild zufolge eine neuartige Betonung der ‚poietischen‘ Kräfte des Menschen: seines ethischen und künstlerischen Tatvermögens. Unter diesen Vorzeichen erst vermochte Goethe aus dem Selbstentwurf des künstlerischen Protosubjekts Cellini (ohne dessen Autobiographie ganz kritiklos gegenüberzustehen42) wichtige Anregungen für seine höchst persönliche Selbstaufrichtung in Dichtung und Wahrheit zu empfangen, zumal für die Führung des Beweises, „inwiefern es [sein Individuum] unter allen Umständen dasselbe geblieben“43. Die Aufmerksamkeit gilt also der großen, sich treu bleibenden Persönlichkeit. Die Exklamation in der Rede Zum Shakespears Tag (1771): „nichts so sehr Natur als Shakespeares Menschen“44, zielt in diesem Sinne auf (nun freilich schon nur noch fiktionale) authentische Subjekte, die sich als naturwüchsig und somit als sozial und psychologisch unhinterfragbar darstellen. „Ich! der ich mir Alles bin, da ich Alles nur durch mich kenne! so ruft jeder“,45 der sich durch Shakespeares Welt zu fühlen gelernt hat. Die (innere) Natur fungiert dabei nicht allein als wirkende Ursache des schieren Daseins, sondern garantiert zugleich auch ein substantielles Sosein. Andererseits wußte Goethe zu genau, daß fast gleichursprünglich mit der legendären Entdeckung des Individuums Michel de Montaigne, der Klassiker der modernen Skepsis, bereits dessen Aporien ausgelotet hatte.46 Die lebensbegleitend aufgezeichneten Essais (1552-88) beginnen immerhin noch in dem Glauben, eine tragfähige Verbindung des Lebenswandels mit einem unwandelbaren inneren Wesenskern abbilden zu können. Indes schreibt sich in diese Versuche eine zunehmende Unruhe angesichts der erfahrenen Flüchtigkeit und Ungewißheit des menschlichen Ich ein. Im Zuge einer Auf41 Dazu umfassend und scharfsinnig Angelica Jacobs: Goethe und die Renaissance. Studien zum Konnex von historischem Bewußtsein und ästhetischer Identitätskonstruktion. München 1997. 42 Vgl. Goethes Notat (FA I 21,395f.) sowie das Kapitel „Schilderung Cellini’s“ im Anhang von Leben des Benvenuto Cellini (FA I 11,9-526, hier S. 497-504). „Selbstgefälligkeit“ und „Manier“ (ebd., S. 498) wünscht Goethe zu unterbinden. Zu den Bezügen zwischen Dichtung und Wahrheit und Cellini vgl. Hans Mayer: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg. Frankfurt/M. 1973, S. 108ff. 43 FA I 14,13. 44 FA I 18,11. 45 FA I 18,9. 46 Vgl. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, bes. S. 137-146. Dazu ferner Taylor: Quellen des Selbst, S. 320ff.

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fassung des Lebens als körperlich-materiellem Strom entfernt Montaigne sich schließlich von dem Gedanken einer einmalig geschaffenen Seelensubstanz. „Wir, und unsere Urtheilskraft, und alle vergänglichen Dinge fliessen und rollen ohne Unterlaß fort“47 – so der Wortlaut der deutschen Übersetzung durch Johann Daniel Tietz von 1753/54, auf die sich Goethe bezogen haben dürfte, als er über die frühesten Gegenstände seines literaturgeschichtlichen Interesses festhielt: In „Jünglingsjahren“ erregte an erster Stelle unter den älteren französischen Autoren Montaigne „Anteil und Bewunderung“ in ihm.48 Goethe wußte wohl, warum er hier, im Sakralraum des emphatischen Ich von Dichtung und Wahrheit, über jegliche Konsequenzen aus dieser Lektüre schweigt. Führte doch Herder, Goethes Mentor zu der Zeit, den Franzosen als äußersten Beweis dafür an, wie „wir uns selbst nicht einmal von innen kennen“49. Montaigne ging es demzufolge um eine Selbstschilderung, die – mit Goethes autobiogaphischer Intention weitgehend unvereinbar50 – die offenen Umrisse einer wechselnden Ich-Realität unter der Bedingung der Unterbestimmtheit der menschlichen Natur nachzeichnet. Der Figur Wilhelm Meisters nun, die ihren Vornamen von demjenigen Shakespeares bezieht, sind aus der Epoche des Renaissance-Individualismus zwei gänzlich verschiedene, aber gleichermaßen subjektrelevante Folien unterlegt. In der Rittergestalt Tankreds aus Tassos Befreitem Jerusalem (1581) verdichten sich zunächst Wilhelms aristokratische Leitbilder.51 Dem Stil dieses Charakters folgt Goethes ‚Held‘ in ethischen Tathandlungen wie der noblen Befreiung Mignons aus der Sklaverei (9,456f.) und der großmütigen Übernahme der Folgenverantwortung nach dem Überfall auf die Schauspielergesellschaft (9,594ff.). Im Hintergrund dessen steht weniger eine bürgerliche Mitleidshaltung als die von Taylor als Ich-Generator beschriebene ritterliche Ehrenethik, die ihre Quelle in einem Gefühl der stolzen Selbstachtung und des persönlichen Ruhms hat.52 Sie verschafft Wilhelm ein gesteigertes Selbstgefühl, in dessen Aufschwung er „die ganze Kraft seiner Seele lebendig“ (9,594) erfährt. Goethe läßt diese Imitation der edlen Persönlichkeit aber in einem Kontext geschehen, der Wilhelms Bestrebungen gleichsam 47 Michel de Montaigne: Essais (1552-88). Übers. v. Johann Daniel Tietz. 3 Bde. Zürich 1992 (zuerst Leipzig 1753f.), Bd. 2, S. 379. 48 Dichtung und Wahrheit (FA I 14,523). 49 Herder: Ueber Thomas Abbts Schriften, S. 259. 50 Daß sich die Schreibpraxis von Dichtung und Wahrheit mit dem erklärten „Auftrag, Ganzheit und Einheit von Ich und Werk zu konstruieren“, freilich durchaus schwer tut, hat Gerhart von Graevenitz (Das Ich am Rande. Zur Topik der Selbstdarstellung bei Dürer, Montaigne und Goethe. Konstanz 1989, S. 25ff.) dargelegt. 51 Zur dichten Tasso-Intertextualität der Lehrjahre vgl. Schings: Wilhelm Meisters schöne Amazone, sowie besonders gründlich Günter Saße: Wilhelm Meister als Leser Tassos. In: Torquato Tasso in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur und Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Achim Aurnhammer. Berlin u. a. 1995, S. 370-381. 52 Vgl. Taylor: Quellen des Selbst, bes. S. 280ff.

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donquixotisiert. Der unbefiederte Kaufmannssohn „fuhr wie ein Blitz auf den Mann zu, und faßte ihn bei der Brust. Laß das Kind los! Schrie er wie ein Rasender, oder einer von uns bleibt hier auf der Stelle“ (9,456). So viel enthusiastische Verve weist sich mit Fingerzeig auf die Titelfigur des Rasenden Roland (1516) als ‚romantische‘ Reminiszenz aus. Mit Schwurgebärden besteht Wilhelm nach dem Überfall darauf, Dinge wiedergutzumachen – jeder soll „seinen Verlust doppelt und dreifach ersetzt [sehen]“ (9,596) –, die sichtlich außerhalb seines Autonomie- und Verantwortungsbereichs liegen. Er hält am Stil des sittlichen Charakters oder ethischen Subjekts einschließlich dessen Edelmut und Generosität noch in einer Situation fest, der Goethe die zureichenden Gründe und Möglichkeitsbedingungen dafür von vornherein entzogen hat. Wilhelms anderer Bezugspunkt in der Selbstkultur der Renaissance ist natürlich die Hamlet-Gestalt. Nach dem ersten Eintauchen in die Welt Shakespeares fühlt er sich passenderweise wie ‚neu geboren‘ und von rauschhafter Selbststeigerung erfaßt: „tausend Empfindungen und Fähigkeiten [wurden] in ihm rege, von denen er keinen Begriff und keine Ahnung gehabt hatte“ (9,545). Hamlet folgend, läuft Wilhelm jedoch geradewegs in die Fallen und Schlingen, die doppelten Böden und gedanklichen Zirkel der Subjekt-Idee. Der Dänenprinz liefert den Beweisfall für die radikale reflexive Disponibilität, die das neuzeitliche Subjekt von einem früheren, anderen Subjekt unterscheidet, das sich deshalb weniger erfährt, weil es seiner genügend versichert ist. Im bewußtseinsgeschichtlichen Augenblick seiner Problematisierung, als entscheidende Quellen des Selbst wie ständisch-familiale und liebesdiskursive Inklusionen oder metaphysische Rückversicherungen (vgl. unten IV.2) spärlicher zu fließen anfangen, beginnt sich das Individuum neuartig wahrzunehmen und zu denken. „[O]hne zu wissen was [er] tat“ (9,578) – kein guter Anfang für eine Ich-Findung, die schlecht ohne Selbstbewußtsein auskommt – hat Wilhelm die Rolle des Prinzen übernommen. Noch befindet er sich auf den Spuren der edlen Persönlichkeit: im Paradigmenrahmen Tankreds als des Subjekts der ehrencodierten Selbstachtung. Er konzentriert sich auf die Auftritte, „in denen Kraft der Seele, Erhebung des Geistes und Lebhaftigkeit freien Spielraum haben“ (ebd.), assonierend mit der Formulierung aus der Ehrenwort-Szene, er habe ‚die ganze Kraft seiner Seele lebendig gefühlt‘. Dann allerdings stößt Wilhelm in seinem „Vorbilde“ auf „das seltsame Labyrinth so mancher Launen und Sonderbarkeiten“ (ebd.). Bei dem Versuch, „nach und nach mit meinem Helden zu einer Person zu werden“ (9,579), setzte er eine zuverlässige Einheit des Charakters voraus, die sich bei näherer Betrachtung als ebenso unhaltbar herausstellt wie dessen sittliche Konsistenz: „ich verzweifelte fast, einen Ton zu finden, in welchem ich meine ganze Rolle mit allen Abweichungen und Schattierungen vortragen könnte“ (9,579). Um an seinen Einheitsansprüchen noch festhalten zu können, greift Wilhelm zum Mittel einer Klitterung, deren Bemühtheit und

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Unzulänglichkeit nur allzu offensichtlich ist: „In diesen Irrgängen bemühte ich mich lange vergebens, bis ich mich endlich auf einem ganz besondern Wege meinem Ziele zu nähern hoffte. Ich suchte jede Spur auf, die sich von dem Charakter Hamlets in früher Zeit vor dem Tode seines Vaters zeigte“ (9,579). Wilhelm beginnt nun schlechterdings außerhalb des ShakespeareTextes zu argumentieren, um die Geschlossenheit einer Hamlet-Gestalt zu postulieren, die wir niemals kennenlernten. Zuletzt geben die umstehenden Schauspieler Wilhelms Rekonstruktionsversuch lauten Beifall: „man glaubte [!] voraus zu sehen, daß sich nun die Handelsweise Hamlets gar gut werde erklären lassen“ (9,580). Die erzählerischen Signale stehen zu dieser Zufriedenheit von nur bedingt berufener Seite deutlich genug auf Distanz. c) Rationalistische Ich-Begründungen (Descartes, Spinoza, Leibniz) Wesentlich gegen die von Montaigne in Gang gesetzte Skepsis gegenüber sicherem (zumal deduktivem) Wahrheitsgewinn, gegenüber Stabilität des Ich und Integrität der Seele baute René Descartes die Architektur seines Subjekts in makelloser konzeptioneller Reinheit und überdies in theologischer Unbescholtenheit. Wie auf eindrückliche Weise unter anderem aus dem historischen Teil der Farbenlehre (1810) hervorgeht, der zugleich Goethes umfangreichster zusammenhängender Kommentar zur Philosophiegeschichte darstellt, war Goethe auf Renatus Cartesius nicht gut zu sprechen. Die offensichtlichsten Vorbehalte richteten sich gegen die ganze Denkskala des konsequenten Deduktionsverfahrens, der scharfen Substanzentrennung und des Primats des Intellekts gegenüber der Einbildungskraft und den Sinnen, eingeschlossen jeweils das darin proponierte Verhältnis zur äußeren und inneren Natur als Herrschaftsverhältnis.53 Indes zeigt sich diese Frontstellung auch noch in einem weiteren strategischen Punkt verankert. Der Rationalist zeichnet für den Begriff eines Ich verantwortlich, das als bloße Trägerstelle des Denkens nicht über den Index der Einzigartigkeit verfügt. „More geometrico“ läßt sich lediglich (wenn auch mit Gewißheit) ein Ich beweisen, das „bloßer mathematischer Punkt“ ist.54 Dieser Formulierung gilt eine der 53 Vgl. Farbenlehre (FA I 23/1,709-712). Dazu Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 174-190 („Grundlinien Cartesianischen Denkens“); Karl J. Fink: Goethe’s History of Science. Cambridge 1991, S. 115-126 („Goethe’s taxonomy of scientific discourse”), sowie Johannes Vandenrath: Descartes und Goethe. Zur Frage nach der Grundlegung deutschen und französischen Denkens. Schwerte 1981, bes. S. 8 u 18f.; vgl. ferner Alfred Schmidt: Humanismus als Naturbeherrschung. In: Das Naturbild des Menschen. Hg. v. Jörg Zimmermann. München 1982, S. 301-306. 54 Friedrich Heinrich Jacobi: David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch (1787). In: Ders.: Werke. Hg. v. F. Roth u. F. Köppen. 6 Bde. Berlin 1812-1825, Nachdruck Darmstadt 1976, Bd. 2, S. 3-310, hier S. 256. Zur Differenz von „Ich“ und Person („ich“) bei Descartes vgl. Andreas Kemmerling: Ideen des Ichs. Studien zu Descartes’ Philosophie. Frankfurt/M.

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wenigen Anstreichungen in Goethes Handexemplar von Friedrich Heinrich Jacobis David Hume über den Glauben (1787), wo nochmals die Position Descartes zusammengefaßt wird.55 Das Subjekt vermittelt sich weniger als ein erfahrbares Phänomen denn als ein denkbarer Begriff: ein Gedankending. Descartes beweist, mit anderen Worten, mit aller Klarheit und argumentativen Geschlossenheit, daß ‚das Ich‘ – geistig, unteilbar sowie klar und deutlich erkennbar – notwendig ist, aber nicht, wer ‚ich‘ bin. Über das subjekttheoretische Kernstück der Cartesischen Lehre dürfte Goethe schon aus einem der philosophiehistorischen Kompendien Johann Jacob Bruckers, gängigen Schul- und Studienlektüren, informiert gewesen sein: „Nec posse nos dubitare, quin simus, qui talia cogitamus: proinde hanc cognitionem: ego cogito, ergo sum, esse omnium primam et certissimam in philosophando.“56 Gegen Mathematik ohnehin voreingenommen, bezeichnete er die diesen Argumentationskern umgebenden „mathematischen […] Figuren“ als schlechthin „unbegreifliche Vorstellungsart“.57 Dazu kommt, daß die Konstruktion des Ego aus dem Cogito eine Ordnung des Seelenhaushalts voraussetzt, die aus Goethes Sicht ihre verhängnisvolle rationalistische Einseitigkeit bereits unter Beweis gestellt hat. Das Subjekt Descartes’ hat ausschließlich an der res cogitans teil, wonach die Wahrnehmung der persönlichen Identität vom Körper unabhängig sein müßte. Goethe streifte aber zu nah an eine mit dem Eigensinn des Physiologischen rechnenden Willensphilosophie (vgl. unten III.1.f), um zugeben zu können, „daß weder die Ausdehnung, noch 1996, bes. S. 100-123 („Die Ich-Idee“); zur relativen Eigenschaftslosigkeit des formal gefaßten Ich-Bewußtseins Riedel: Subjekt und Individuum, S. 62-67 („Ich als Selbstbewußtsein“); zu den Problemen des Cogito-Satzes Monika Hofmann-Riedinger: Das Rätsel des „Cogito ergo sum“. In: Descartes. 1596 · 1996. Hg. v. Emil Angehrn u. Bernard Baertschi. Bern u. a. 1996, S. 115-135, dar. 55 Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3076: Friedrich Heinrich Jacobi: Hume über den Glauben. Breslau 1787, S. 174. – Zu Goethes Bibliotheksressourcen grundsätzlich auch Georg Schwedt: Goethe und seine Bibliotheken. In: „Göthe ist schon mehrere Tage hier, warum weiß Gott und Göthe“. Vorträge zur Ausstellung „Der gute Kopf leuchtet überall hervor“ – Goethe, Göttingen und die Wissenschaft. Hg. v. Elmar Mittler. Göttingen 2000, S. 41-53. 56 Johann Jacob Brucker: Institutiones historiae philosophicae usui academicae iuventutis adornatae. 2. Aufl. Leipzig 1756 (zuerst 1747), S. 726-749 (über Cartesius), hier S. 742f. Vgl. Goethes Referenz in dem Aufsatz Einwirkung der neueren Philosophie: „Bruckers Geschichte der Philosophie liebte ich in meiner Jugend fleißig zu lesen“ (FA I 24,442). Ob man für eine quellenphilologisch basierte Goethe-Forschung – wie eingebürgert (vgl. Michael Franz: Die Verfügbarkeit der neuplatonischen Gedankenwelt für Goethe. In: Goethe und die Weltkultur. Hg. v. Klaus Manger. Heidelberg 2003, S. 89-100) – den Kleinen oder Großen Brucker heranziehen darf, beides vielbändige Monumentalwerke, das eine in Duodez-, das andere in Quartformat, scheint mir nicht gesichert. Vom „kleinen Brucker“ spricht Goethe nur als dem Referenzwerk eines „braven Stubennachbarn“ in Leipzig, der ihn in Philsophie unterrichtet hatte (vgl. FA I 14,243). In Goethes Bibliothek finden sich aber nur die Institutiones (Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3027); ebenso in der Bibliothek von Goethes Vater: vgl. Franz Götting: Die Bibliothek von Goethes Vater. In: Nassauische Annalen 64 (1953), S. 23-69, hier S. 40. 57 Mit Friedrich Wilhelm Riemer, 24. Juli 1809 (Goethes Gespräche 2,271). Vgl. auch Maximen und Reflexionen (FA I 13,234): „Cartesius schrieb sein Buch ‚De Methodo‘ einige Male um, und wie es jetzt liegt, kann es uns doch nichts helfen“.

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die Gestalt […], noch ähnliches, was man dem Körper zuschreibt, zu unserer Natur gehört, sondern nur das Denken“.58 – Wilhelm Meister ist mit einem Subjekt als logischem, ausdehnungslosem Punkt freilich nicht geholfen, vielmehr sucht er die Erfahrung seiner Subjektivität in einer unwiederholbaren und garantierten (‚daseienden‘) Einzigkeit: „mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden“ (9,657). Der Cartesische Ich-Beweis hat seine Überzeugungskraft für ihn somit auch verloren. Der Zweifel macht nicht mehr am Sein des denkenden Ich halt, sondern: Wilhelm kann „sich kaum des Zweifels erwehren […], ob er denn auch wirklich lebe und da sei“ (9,955). Die Stelle nimmt offensichtlich als präzise Antiphrasis auf die epochemachende Formulierung der Methode des Zweifels in den von Goethe erstmals 1791 konsultierten Principia Philosophiae (1644) Bezug.59 Bemerkenswert genug, fühlte sich Goethe trotz aller Vorbehalte gegen Descartes und den geometrischen Denkstil bekanntlich keinem Philosophen enger verbunden als einem, wie er selber sagt, „Schüler von Descartes“60, Spinoza. Vergleichsweise systematische Studien galten, seit Ende 1784 bereits, der Ethik (1677) in der Ausgabe der Opera posthuma. So kann Goethe in den Spinoza gewidmeten Partien von Dichtung und Wahrheit versichern, daß, „wenn die Rede wäre ein Buch anzugeben, das unter allen die ich kenne, am meisten mit der meinigen [Ansicht] übereinkommt, [ich] die Ethik nennen müsste“.61 Wiederum zeigt sich freilich, daß sich Goethe niemals zu etwas bekannte, ohne zugleich Reserven zu mobilisieren: „Denke man aber nicht daß ich seine Schriften hätte unterschreiben und mich dazu buchstäblich bekennen mögen“.62 Prägend für Goethes Auseinandersetzung mit Spinoza war die gut dokumentierte Entgegensetzung zu Friedrich Heinrich Jacobi, der – „in philosophischem Denken […] mir weit vorgeschritten“63 – hier wie auch später in der Debatte über David Hume (vgl. unten III.1.d) als großer Vereinfacher eines komplexen philosophischen Systems agierte. Goethe, dem Über die Lehre des Spinoza (1785) bereits im Manuskript vorlag, bekannte sich offen zu Jacobis Rolle als Anreger – nicht jedoch ohne in verletzender 58 René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie (1644). Übers. u. erläutert v. Artur Buchenau. 7. Aufl. Hamburg 1965, S. 8. Vgl. die darauf bezogene Ersetzung des bloßen Denkens des Ich durch die Erfahrungskategorie des Selbstgefühls bei Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise, S. 13-16 („Beweis von der Wirklichkeit der Seele aus dem Selbstgefühl“) u. S. 54-57 („Von dem eigenen Bewußtsein“). 59 Vgl. Elise von Keudell: Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. Weimar 1931, Nr. 27. 60 Dichtung und Wahrheit (FA I 14,730). Dazu Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturms und Drangs. Tübingen 1969, sowie Georg Jellinek: Die Beziehungen Goethes zu Spinoza. Hg. v. Klaus H. Fischer. Schutterwald 1996 (zuerst Wien 1878). 61 Vgl. FA I 14,728-732 u. 680f. 62 Ebd., S. 730. 63 So die höfliche Referenz in Dichtung und Wahrheit (FA I 14,682).

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Deutlichkeit artikulierte Vorbehalte gegen dessen aufdringliche Lehrhaftigkeit und missionarischen Theismus: das „metaphisische[ ] Unwesen über Spinoza“64, das dem jüdischen Philosophen statt Weltfrömmigkeit (Goethes Plädoyer) Atheismus attestierte. Beide soweit oft diskutierte Positionen im Spinoza-Streit unterscheiden sich nun auch nicht unbeträchtlich im Punkt der personalen Identität des Menschen. Jacobi glaubte unter Akzentuierung des rationalistischen Designs der Ethik referieren zu dürfen: „Das Daseyn vernünftiger Naturen wird, zum Unterschiede von allen anderen Naturen, ein persönliches Daseyn genannt. Dieses besteht in dem Bewußtsein, welches das besondere Wesen von seiner Identität hat, und ist die Folge eines höheren Grades des Bewußtseyns überhaupt […]. Der natürliche Trieb des vernünftigen Wesens […] geht also nothwendig auf die Erhöhung des Grades der Personalität.“65 Zum Zweck einer Interpretation Spinozas als Atheisten unterschlägt die Stelle das der mystischen Tradition verpflichtete Motiv von der Partial- und Totalaufhebung der endlichen Individualität in der Einheit mit ‚Gott oder der Natur‘.66 Eine Mystik ohne Transzendenz läuft indes allzu leicht auf Selbstverlust ohne Wiedergewinnung dieses Selbst auf der Ebene einer höheren Sinneinheit hinaus. Eine Ahnung davon mag Goethe vorgeschwebt haben, wo er im vierten und letzten Teil von Dichtung und Wahrheit, der die Risse und inneren Gefährdungen des emphatischen Ich-Entwurfs verschiedentlich zumindest subkutan einräumt, durch Spinoza zur Erkenntnis gelangt sein will, daß wir individuellen Ansprüchen und Ansprüchen auf Individualität „entsagen sollen“67. Das elementare Leben ist nicht auf die Ausbildung von Individualität angelegt, sondern verhält sich gleichgültig ihr gegenüber, wenn sie die Selbstbehauptung des Einzelwesens nicht überhaupt verstellt. Spinozas Rehabilitation der Sinnlichkeit, die ihn von Descartes grundlegend unterscheidet und für Goethe erst attraktiv machte, entfaltet in letzter Konsequenz einen fatalistischen Determinismus,68 der das Autonomiekriterium der Individualität schwerlich zu erfüllen geneigt ist: „So manches, was uns innerlich eigenst angehört sollen wir nicht nach außen hervorbilden, was wir von außen zu Ergänzung unsres Wesens bedürfen, wird uns entzogen, dagegen aber so vieles aufgedrungen, das uns so fremd 64 An Carl Ludwig von Knebel, 18. November 1785 (WA IV 7,126f.). Dazu Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 150-177 („Spinoza“). 65 Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelsohn (1785). In: Ders.: Werke. Hg. v. F. Roth u. F. Köppen. 6 Bde. Berlin 1812-1825, Nachdruck Darmstadt 1976, Bd. 4/1, S. 1-253, S. 19. Die Passage stammt aus den „Vorbereitenden Sätzen” der zweiten Ausgabe (1789). Nur diese Ausgabe befindet sich in Goethes Bibliothek (Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3077). Jacobi bezieht sich in diesem Abschnitt („Der Mensch hat keine Freiheit“) auf den vierten Teil der Ethik („Von der menschlichen Knechtschaft“). 66 Vgl. Riedel: Subjekt und Individuum, S. 82ff. 67 FA I 14,729. 68 Vgl. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 366f.

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als lästig ist. […] und ehe wir hierüber recht ins Klare sind finden wir uns genötigt unsere Persönlichkeit erst stückweis und dann völlig aufzugeben.“69 Die Passage zeigt die im Schatten liegende Kehrseite jener ästhetischen Idee der Entäußerung von allen subjektiven Prätentionen: das resignative Erbteil des Objektivismus, das wenig vom vielberufenen ‚memento vivere‘ der Goetheschen Spinoza-Rezeption spüren läßt. Die Diagnose liest sich zugleich wie ein Kommentar zur Entwicklung Wilhelm Meisters. Phantasien über individuelle Bildung, die mit inneren Anlagen (‚Daseiendem‘) als Konstanten rechnen und äußere Anstalten (die Geschlechterbeziehung, das Theater) als Erfüllungsinstanzen in Anspruch nehmen, werden etappenweise desillusioniert, um in die Forderung nach Entsagung zu münden. Die Baronesse der Unterhaltungen hielt Entsagung noch für eine spezifisch weibliche Begabung, zu denen Männer nicht die geringste Anlage hätten (vgl. 9,1006). Die Aufgabe, wenigstens bestimmten (erotischen) Wünschen „entsagen […] zu lernen“ (9,365), stellt sich Wilhelm bereits zu Anfang seiner Geschichte. Am Ende der Lehrjahre steht gar „jede Art von Entsagung“ (9,943) zur Diskussion. In den Wanderjahren schließlich ist die Anforderung, die „Persönlichkeit […] auf[zu]geben“ (10,601) und die „Beschränktheit meines bornierten Individuums“ zum „Urphänomen“ (10,579) hin zu hinterlaufen, nicht allein Thema unter den Figuren, sondern Praxis der Figurenpoetik (vgl. oben II.1). Für die These einiger Philosophiehistoriker, daß der Spinozismus des 18. Jahrhunderts durch die Rezeption der Ideen Gottfried Wilhelm Leibnizens überformt sei,70 spricht auch die Engführung der Ethik und der Monadologie in Goethes Philosophiesympathien. Die „Identität eines Individuums“, so der subjekttheoretische Schlüsselsatz der Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1704), werde durch „ein subsistierendes Lebensprinzip“, Monade genannt, begründet.71 Als prägende Quelle für Goethes Auffassung der Monadenlehre ist insbesondere wieder an die philosophiegeschichtlichen Studienbücher Johann Jacob Bruckers zu denken.72 Bruckers 69 FA I 14,729. Dieser Resignationsgedanke auch in der Studie nach Spinoza (FA I 25,14ff.). Daß man die Annahme einer individuellen Substanz aufgeben müsse: Benedictus de Spinoza: Ethica/Ethik (1677). In: Ders.: Opera/Werke. Lat./Dt. Hg. v. Konrad Blumenstock. Bd. 2. 4. Aufl. Darmstadt 1989 (zuerst 1967), S. 84-557, bes. S. 104ff., sowie Jacobi: Über die Lehre des Spinoza, S. 118. Zur Negation des Besonderen und des konkret-individuellen Menschseins bei Spinoza vgl. Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza, S. 44ff. Zur damit zusammenhängenden Willensunfreiheit vgl. Jacobi: Über die Lehre des Spinoza, bes. S. 59ff. 70 Vgl. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 629. 71 Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, S. 217. 72 Zum Verhältnis Goethes zu Leibniz vgl. grundsätzlich die in ihrer Breite unersetzte Arbeit von Dietrich Mahnke: Leibniz und Goethe. Die Harmonie ihrer Weltansichten. Erfurt 1924, zum „Gesetz der Individualität” hier bes. S. 14ff.; ferner dazu mit einer wenig einleuchtetenden Engführung von Monadologie und Mythos Helmut Rehder: Goethe and Leibniz: Myth in the Age of Reason. In: Myth and Reason. Hg. v. Walter D. Wetzels. Austin 1973, S. 15-39. Zu Leibnizens Einfluß auf Blanckenburg und die Figurenpoetik Jergius: Versuch über den Charakter, bes. S. 20ff.

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Institutiones bieten (wie noch Goethes Geschichte der Farbenlehre) zuvörderst Personengeschichte und darin Ruhmesgeschichte des menschlichen Geistes. Jeden Abschnitt leitet eine biographisch bestimmte Generalcharakteristik des Philosophen ein, die es dem Leser erlauben soll, sich die oft nur angedeuteten Einzelzüge der Theorieposition atmosphärisch auszumalen – ein der Assoziations- und Einbildungskraft geöffnetes Verfahren, das Goethes durch eigene Zutat vonstatten gehender Philosophieaneignung entgegenkommen mußte.73 Die Monade, faßt Brucker zusammen, sei eine einfache, unter äußeren Veränderungen konstante Substanz, die weder zerstört noch geschaffen würde und ein Wesen individuiere, d. h. von allen anderen unterscheide. Dies alles mit der Folge, daß es in der Natur nicht zwei Geschöpfe gebe, die einander ganz gleich seien; kurz: Die Monade verbürgt ein „principium identitatis“.74 Jacobi, der diesen Gedanken in der Spinoza-Schrift darlegte, spitzte ihn denn auch unmittelbar auf den Begriff der Ich-Identität zu: „Etwas muß unser Ich doch seyn […]. Dieses Etwas nun, das unmöglich etwas nicht reales ist, wird von Leibniz die substantielle Form des organischen Wesens; das vinculum Compositionis essentiale, oder die Monade genannt.“75 Der Monadenlehre kommt nun zentrale Bedeutung für Goethes Überlegungen zum Subjektkonzept zu, indem er mit ihr zu einer Metaphysik der Persönlichkeit gelangt. Eckermann referierte vom 3. März 1830: „‚Die Hartnäckigkeit des Individuums, und daß der Mensch abschüttelt, was ihm nicht gemäß ist,‘ sagte Goethe, ‚ist mir ein Beweis, daß so etwas existire.‘ […] ‚Leibniz,‘ fuhr er fort, ‚hat ähnliche Gedanken über solche selbstständige Wesen gehabt, und zwar, was wir mit dem Ausdruck Entelechie bezeichnen, nannte er Monaden.‘“76 Den harten Kern sozusagen des Individuums faßte Goethe als „Hauptmonas“: eine „unverwüstliche“77, d. h. ebenso unteilbare wie unsterbliche Einheit mit einem einwohnenden Richttrieb zur Selbst-Vervollkommnung; weitgehend identisch mit dem, was die Alten als „Daimon“ bezeichneten: die „nothwendige, bei der Geburt 73 Näher zu Bruckers Darstellungsweise bei Wilhelm Schmidt-Biggemann: Jacob Bruckers philosophiegeschichtliches Konzept. In: Jacob Brucker (1696-1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung. Hg. v. dems. u. Theo Stammen. Berlin 1998, S. 113-134. 74 Brucker: Institutiones, S. 749-764 (über Leibniz), hier S. 759. Dazu Riedel: Subjekt und Individuum, S. 68-71; Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität, S. 97-115 („Person und Monade“); sowie Josef Estermann: Individualität und Kontingenz. Studie zur Individualitätsproblematik bei Gottfried Wilhelm Leibniz. Bern u. a. 1990, bes. S. 104-168 („Der metaphysische Individualismus von Leibniz“). 75 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza, S. 265. 76 Eckermann: Gespäche mit Goethe, S. 389 (3. März 1830). 77 Mit Johann Daniel Falk, 25. Januar 1813 (Goethes Gespräche 2,772 u. ö.). Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie (1714). In: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Übers. v. Artur Buchenau, mit Einleitung u. Anmerkungen hg. v. Ernst Cassirer. Bd. 2. 3. Aufl. Hamburg 1996 (zuerst 1921), S. 603-621, hier S. 606. Vgl. die Wiedergabe von Jacobi: Über die Lehre des Spinoza, S. 76 u. 80). Dazu auch Albrecht Schöne: Johann Wolfgang Goethe. Faust. Kommentare. 4. Aufl. Frankfurt/M. 1999 (zuerst 1994) (= FA I 7/2), S. 800.

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unmittelbar ausgesprochene, begränzte Individualität der Person“78. Der Leib kommt dabei ins Spiel, um die freie Entelechie in lokalisierten Geist zu verwandeln. Gezielt offenbar vermeidet Goethe im Sinnbezirk des Subjekts (jedenfalls in seinem theoretischen Denken) den traditionellerweise für den Personalitätsgedanken einstehenden Begriff der Seele. Es entspricht „den Regeln der göttlichen Vorsehung“, so noch mit aller Entschiedenheit Leibniz, daß die „Seele […] die moralische Identität […] bewahrt, damit hieraus die Identität einer Person entsteht, die fähig ist, die Strafen und Belohnungen zu empfinden“.79 Die Persistenz des Individuums als vom Schöpfer garantierte Seele verbindet sich mit religiösen Voraussetzungen und Folgerungen, die Goethe schon wegen ihrer Ankoppelung an eine moralisch-normative Lohn- und Straflogik nicht mehr teilen mochte. Die Idee des Daimon bildet demgegenüber für das aus dem Himmel gefallene Subjekt eine naturgläubige Auffangposition vor dem Boden der Kontingenz. In der Freiheit der narrativen Fiktion lotete Goethe den Säkularisierungsprozeß indes noch weit tiefer aus (vgl. auch unten IV.2.b). Die Idee der Entelechie als substantieller innerer Form und Unsterblichem bindet (1.) die schlecht zu leugnende Tatsache der persönlichen Inkonstanz an ein immerhin konstantes (freilich unbekanntes) Steuerungszentrum der Veränderung zurück80 und ist (2.) ganz wesentlich gegen den Tod gedacht, in dessen Schatten sie weiterhin steht. Wilhelm Meister, der jenen „innere[n] Trieb“ (9,112) besitzt, in dem sich die Entelechie Ausdruck verschafft, erfährt eine diesbezügliche Desillusion. „Bisher hielt ich mich für“ (ebenfalls ein Attribut der Entelechie) „unzerstörbar“ (9,86). Doch das wenigstens bis zu einem bestimmten Punkt reichende Doppelspiel Marianes hat ihn eines anderen belehrt: Durch die Erfahrung seiner möglichen Austauschbarkeit „tödlich“ getroffen, „zerriß er sich selbst“ (9,66f.). – Leibniz zufolge braucht man die hier ins Auge gefaßte Auflösung der Monade schon deshalb nicht zu fürchten, weil sie „einfach“ beschaffen sei und nicht, wie 78 Urworte Orphisch (FA I 20,492). Zur Monadologie als Persönlichkeitstheorie vgl. Ulrich Schöndorfer: Die Monadenlehre Goethes. In: JbWGV 65 (1962), S. 38-45, sowie Lauri Seppänen: Goethe und seine ‚Entelecheia‘. In: Neuphilologische Mitteilungen 84 (1983), S. 126-131. 79 Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, S. 222. Zum Verhältnis von Identitätsund Seelendiskurs sowie theologischer und psychologischer Seele vgl. Günther Mensching: Vernunft und Selbstbehauptung. Zum Begriff der Seele in der europäischen Aufklärung. In: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Hg. v. Gerd Jüttemann, Michael Sonntag und Christoph Wulf. Weinheim 1991, S. 217-235, sowie Dieter Sturma: Logik der Subjektivität und Natur der Vernunft. Die Seelenkonzeption der klassischen deutschen Philosophie. In: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Hg. v. Gerd Jüttemann, Michael Sonntag und Christoph Wulf. Weinheim 1991, S. 236-257. 80 Vgl. die Folge von Verunsicherung und erneuter Versicherung in der Einleitung ([Johann Wolfgang Goethe] Kupferstich-Anzeigen für die ‚Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘ u. a., S. 133): „Ja, der Mensch ist sich, in seinen Anschauungen und Urteilen, nicht immer selbst gleich [...]. [...] wenn man nur auf seinem Wege gegen sich selbst und gegen andre wahr bleibt!“

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ein Aggregat, „zusammengesetzt“.81 Wilhelm aber erlebt sich, nicht zuletzt der Dilettantenkrankheit der Vielkräftigkeit geschuldet, als Komplex einander widersprechender Neigungen und Empfindungen: eine Mehrheit ohne Einheit zwischen verschiedenen Frauen (Mariane, Philine, Gräfin, Natalie), Talenten (Handel, Theater, Medizin) und Lebenswelten (Mignon/Harfner, Turmgesellschaft, Auswandererbund). Leibnizens Monade, „durch unaufhörliche Ausstrahlung der Gottheit von Augenblick zu Augenblick“ unterhalten, wandelt sich stufenlos gleitend nach innerer Gesetzmäßigkeit.82 Wilhelms Wandlungen vollziehen sich von „Zufall“ (9,373) zu „Zufall“ (9,381 u. ö.) in meistenteils scharfen Brüchen. Das am Ende stehende Resümee spricht uns nicht von Kontinuität: Wilhelm „überlief mit flüchtigem Blick seine Geschichte, und sah zuletzt mit Schaudern auf seinen gegenwärtigen Zustand, endlich sprang er auf“ (9,989), um sich wenige Seiten später bereits wieder im „Augenblicke des höchsten Glücks“ (9,992) zu befinden, der von der Auslöschung identitätsstörender Erinnerungen lebt: „Erinnern sie mich nicht […] an jene Zeiten!“ (ebd., zur Rolle der Erinnerung vgl. unten IV.3.c). d) Aufstieg und Fall des empiristischen Ich (Locke, Hume) Daß der habilitierte Philosophiehistoriker Wilhelm Gottlieb Tennemann, Schüler des Kant-Popularisierers Karl Leonhard Reinhold, zwischen 1793 und 1797 an der Universität Jena sowohl John Lockes als auch David Humes anthropologisch-bewußtseinsphilosophische Schlüsselwerke übersetzte,83 zeugt von einem neu auflebenden Interesse an zwei Autoren, welche die Verständnisvoraussetzungen für die Kantischen Kritiken bereithielten. Goethes Beziehung zum philosophischen Empirismus, in dessen Verständigungsrahmen jedenfalls Locke das Subjekt ungleich pragmatischer konzipierte als in ihren Denkzusammenhängen Descartes und Spinoza, gehört zu den eklatantesten Defiziten, welche die Goethe-Forschung heute noch aufweist. Der Engländer führte einen verlockenden Nachweis der Differenz von Identität und Differenz, Ich und Nicht-Ich, indem er weder von einem denknotwendigen Subjekt im luftleeren Theorieraum noch von einer universellen metaphysischen Ordnung mit Ich-Garantie ausging, sondern mit dem Individuum in seiner „Beziehung nach außen“84 rechnete. Von diesem praktischen Geist 81 Leibniz: Monadologie, S. 603. 82 Ebd., S. 611; vgl. S. 604f. 83 John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. 3 Bde. Jena 1795-97, sowie David Hume: Untersuchungen über den menschlichen Verstand. Jena 1793. 84 So beschreibt Leibniz (Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, S. 215) die Theorie Lockes. Von einem „wesentlich praktische[n] Moment“ in Lockes Personbegriff und dessen Verknüpfung mit der „Sorge um Glückseligkeit“ spricht Udo Thiel: Lockes Theorie der personalen Identität. Bonn 1983, S. 15.

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ist auch Lockes Erziehungslehre geprägt, die Goethes Vater alles andere als fremd war: Unter seinen wenigen pädagogischen Büchern besaß er eine im Geburtsjahr seines Sohnes erschienene französische Übersetzung des Werks.85 Zumindest die verschlagwortete Topik der Lockeschen Denkarchitektur mußte Goethe – außer durch die satirische Locke-Interpretation des Tristram Shandy86 – aus der Zusammenfassung Bruckers und der kritischen Überprüfung durch Kant vertraut sein.87 Bruckers Historia philosophica (zuerst 1723), das kleinere Nebenwerk zu den Institutiones, behandelt zwar vorwiegend antike Autoren, versammelt aber auch einige neuere Positionen zu einem Themenkomplex, dem einiges Gewicht für die Theorie des Subjekts beizumessen ist: die Kontroverse um die angeborenen Ideen. Insbesondere werden hier Leibnizens prästabilierten Monaden die „tabulae rasae Aristotelis et Lockii”88 gegenübergestellt. Das erste Kapitel des Lockeschen Essay Concerning Human Understanding (1689) faßte Brucker in dem Ergebnis zusammen: „non dari ideas innatas“.89 Über das zweite Kapitel ist dagegen zu erfahren, daß die „idea identitatis“90 schlichtweg aus der Erfahrung stamme. Lockes Abstreiten der angeborenen Ideen – und damit einer „Entwickelung aus sich selbst“ in „den Tiefen der menschlichen Natur“ (10,750), wie es Goethe in der Sensualismus-Maxime in Aus Makariens Archiv faßt – wäre von Beginn an geeignet gewesen, die Integrität des Subjekts von seiner bislang stabilen, mitgegebenen Grundlage her zu zersetzen, weil dieser Sensualismus auch in diesem Punkt keine garantierte Wirklichkeit mehr kennt, sondern Realität als „Resultat einer Realisierung“91 betrachtet. Und doch zählte Locke die ‚idea 85 John Locke: L’Education des enfants. 2. Bde. Lausanne 1749; vgl. Franz Götting: Die Bibliothek von Goethes Vater. In: Nassauische Annalen 64 (1953), S. 23-69, hier S. 41. 86 Vgl. Iser: Laurence Sternes ‚Tristram Shandy‘. Inszenierte Subjektivität, S. 23-49 („Das Lockesche System als Bezug für die Entdeckung der Subjektivität“). Sternes Entdeckung der Subjektivität schreibe sich von Lockes Lehre von der Ideenassoziation her. Was diese motiviert, habe sich Lockes Zugriff entzogen, werde aber von Sterne als das Subjekt aufgedeckt. 87 Vgl. F. Andrew Brown: German Interest in John Locke’s ‚Essay‘. 1688-1800. In: JEGPh 50 (1951), S. 466-482, bes. zur popularphilosophischen und Kantianischen Locke-Rezeption seit der ersten deutschen Vollübersetzung von 1757; sowie Klaus P. Fischer: John Locke in the German Enlightenment. An Interpretation. In: Journal of the History of Ideas 36 (1975), S. 431-446: Fischer attestiert, daß Locke in der deutschen Auflärung gut bekannt war und weithin gelesen wurde, spricht ihm aber relevante Wirkungen ab. Audrücklich für irrelevant hält er nach gängigem Vorurteil freilich auch den Popularphilosophen Christoph Meiners, der unter dem direkten Einfluß Lockes stand (vgl. S. 446). Über Locke-Einflüsse auf Goethe spekulierte beispielsweise Ernest Tuveson: Locke and the Dissolution of the Ego. In: Modern Philology 52 (1955), S. 159-174, hier S. 169. 88 [Johann Jacob Brucker]: Historia philosophica doctrinae de ideis qua tum veterum imprimis Greacorum tum recentiorum philosophorum placita enarrantur. Augsburg 1723, S. 269-282, hier S. 272. Vgl. auch die Ausführungen zu Locke bei Brucker: Institutiones, S. 803f. 89 Brucker: Historia philosophica, S. 273. 90 Ebd., S. 274. 91 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Nachahmung und Illusion. Hg. v. Hans Robert Jauß. 2. Aufl. München 1969, S. 9-27 (zuerst 1964) (= Poetik und Hermeneutik 1), S. 12; vgl. auch Riedel: Subjekt und Individuum, S. 72-78, hier S. 73.

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identitatis‘ zu den „realen Ideen“, die – im Unterschied zu den chimärischen – ihr Fundament in der Natur haben. Sein Werk versorgte so ein gutes Stück weit die pragmatischen Sekuritätsansprüche eines frühliberalen, von seinem allseitigen ‚self-interest‘ bewegten Bürgertums mit erwerbbaren Techniken der Selbstaneignung, zu denen vorrangig der Status der Person als Eigentümer seiner selbst ebenso wie anderer Güter,92 die empirische Erfahrbarkeit von Identität und Verschiedenheit sowie die Integrationsleistung des Gedächtnisses als merkantil verfaßte „Vorratskammer unserer Ideen“ gehören.93 Die Ich-Stabilität macht in diesen Funktionsbezügen einen fundamentalen Teil des „Interesse[s] am Glück“94 aus. Goethe hegte dem solchermaßen grundgelegten Besitzindividualismus gegenüber Vorbehalte, die in den Bauplan der Werner-Figur einfließen: „Das ist also mein lustiges Glaubensbekenntnis: seine Geschäfte verrichtet, Geld geschafft, sich mit den Seinigen lustig gemacht und um die übrige Welt sich nicht mehr bekümmert, als in so fern man sie nutzen kann“ (9,655). Wie wenig dieses Projekt einer handelsbürgerlichen Selbstproduktion, namentlich die Individualisierung durch Identifikation mit persönlichem wirtschaftlichen Erfolg, gelingt, bleibt nicht über Wilhelms und Werners Wiederbegegnung hinaus verborgen: „Es fehlte viel, daß Werner einen gleich vorteilhaften Eindruck auf Wilhelmen gemacht haben sollte. Der gute Mann schien eher zurück als vorwärts gegangen zu sein“ (9,877f.).95 Wie schon im Werther erweist sich die bürgerliche Arbeitswelt hier als eine totale Institution, die keine ganzen Menschen zu bilden erlaubt, sondern (wie in Gestalt von Ärzten und Gesandten) abgezehrte „Dratpuppen“ (8,58) und „Marionetten“ (8,134) selbstgeschaffener Zwänge hervorbringt. Die Eigentumstheorie des Sub92 Vgl. vor allem mit Bezug auf Lockes Two Treatises of Government Crawford B. Macpherson: Die politischen Theorien des Besitzindividualismus von Hobbes bis Locke. Frankfurt/M. 1967, S. 219ff.; sowie in Auseinandersetzung damit John Dunn: Individuality and Clientage in the Formation of Locke’s Social Imagination. In: John Locke. Symposium Wolfenbüttel 1979. Hg. v. Reinhard Brandt. Berlin u. a. 1981, S. 43-73, bes. S. 54ff. Zur Bedeutung des „economic individualism“ für den englischen Roman des 18. Jahrhunderts Watt: The Rise of the Novel, bes. S. 61ff. 93 Vgl. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, bes. S. 167-175 („Über die Erinnerung“) u. S. 410-438 („Über Identität und Verschiedenheit“; dieses Kapitel erst in der zweiten Auflage von 1694), Zitat S. 167; vgl. Brucker: Institutiones, S. 803. Dazu Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 95: „Locke bindet als Philosoph des modernen bürgerlichen Zeitalters den Begriff der Identität an die Lebensspanne des Individuums. An die Stelle genealogischer Identitäten von Familien, Institutionen, Dynastien oder Nationen tritt die individuelle Identität im ausschließlichen Horizont der persönlichen Lebensgeschichte“. 94 Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, S. 436. 95 Zu Goethes literarischer Verarbeitung ökonomietheoretischen Wissens mit Bezug vor allem auf Adam Smith vgl. Schößler: Goethes ‚Lehr-‘ und ‚Wanderjahre‘, S. 41ff. Zu Smiths Konzeptionalisierung des Wirtschaftssubjekts ferner auch Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert, S. 47. Zur Figurenpoetik diesbezüglich (unter historisch-materialistischen Vorzeichen) Heinrich Macher: Wilhelm und Werner. Zur Persönlichkeitskonzeption in Goethes ‚Wilhelm Meister‘. In: Ansichten der deutschen Klassik. Hg. v. Helmut Brandt u. Manfred Beyer. Berlin 1981, S. 209-232.

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jekts entbindet des weiteren für die Fälle derjenigen Einzelnen beträchtliche Schwierigkeiten, die nicht besitzen und unter Umständen sogar besessen werden. Wilhelm sieht sich von Werner „als eine Ware, als einen Gegenstand Deiner Spekulation“ (9,878) behandelt. Noch mehr ist dies die Situation so vieler ‚Frauen‘: Werther will es nicht ertragen, Lottes Bräutigam „im Besitz so vieler Vollkommenheit zu sehen. – Besitz!“ (8,85). Wilhelm kauft Mignon den Seiltänzern ab; ihre Selbstbestimmung lautet folgerichtig statt ‚Ich bin Ich‘ „Ich bin dein“, und Wilhelm – in bester Absicht, versteht sich – quittiert „Du bist mein!“ (9,498). Der Bräutigam Lucianes (Wahlverwandtschaften) empfand „eine heftige Neigung […] sie zu besitzen. Sein ansehnliches Vermögen gab ihm ein Recht, das Beste jeder Art sein eigen zu nennen, und es schien ihm nichts weiter abzugehen als eine vollkommene Frau, um die ihn die Welt so wie um das übrige zu beneiden hätte“ (8,411). Selbst und gerade Sankt Joseph der Zweite (Wanderjahre) vergleicht seine zukünftige Frau einer „kostbare[n] Ware“ (10,37). Lockes Identitätstheorie zeigt sich auch darin besitzfundiert, daß sie auf Selbstbewahrung und Fusionsvermeidung angelegt ist: „Da es aber ein Widerspruch ist, daß zwei […] eins sein sollten, so sind Identität und Verschiedenheit wohlbegründet und für den Verstand sehr nützliche Relationen und Vergleichungsweisen.“96 Die Anfechtung dieses Satzes könnte kaum präziser ausfallen als durch die Erotologie der Verausgabung und Selbstverschwendung, die Goethe in den Wahlverwandtschaften zuspitzt: „Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch“ (8,516). Lockes entschieden starker Begriff des Individuums verfiel, zwei Generation später, der schneidenden Ich-Kritik David Humes, der zwar ebenfalls von der sensualistischen Bindung unserer Erkenntnis und somit Selbst-Erkenntnis her argumentierte, dabei aber einerseits (dem Empirokritizismus Ernst Machs vorausgreifend, vgl. dazu weiter III.2.a) der Abbildungsfähigkeit der Perzeption mißtraut, andererseits sich an denjenigen identitätsnegierenden und identitätszerstreuenden Erfahrungen interessiert zeigt, die Locke zu zensieren neigte.97 Goethe bezog in der breiten öffentlichen Diskussion, die Humes Werk in den 1780er Jahren auslöste, niemals explizit Stellung, obschon ihm ihre Grundzüge in Friedrich Heinrich Jacobis David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus zur Kenntnis kamen.98 In Meiners’ Unterscheidung von Esoterik und Exoterik, auf die wir noch zu sprechen kommen, figurierte 96 Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, S. 412. 97 Vgl. Riedel: Subjekt und Individuum, S. 78-82, sowie Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 495-503. Zum Verhältnis von Locke und Hume in dieser Hinsicht auch Thiel: Lockes Theorie der personalen Identität, S. 10f. u. 192ff. 98 Vgl. das Exemplar in Goethes Bibliothek (Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3076). Zu den wenigen expliziten Berührungspunkten zwischen Goethe und Hume vgl. Gerhard Streminger: David Hume. Sein Leben und sein Werk. Paderborn u. a. 1994, S. 356 u. 627. Daß Goethe große Nähe zu Hume hinsichtlich der Lehre von der Einbildungskraft zeige, verteidigt Ho: Goethes Entwurf der Kantischen Philosophie, S. 218ff.

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Hume als Kronzeuge für die „zerstörende Paradoxomanie“99 des ersteren. Humes Stellungnahme zur Frage respektive Fraglichkeit der persönlichen Identität findet sich am prononciertesten in seinem Jugendwerk A Treatise of Human Nature (1739f.), das nach seiner Umarbeitung zu den Essays Concerning Human Understanding (1748, ab 1758 unter dem Titel An Enquiry Concerning Human Understanding) in der deutschen Aufklärung insgesamt nur schwach rezipiert wurde, darunter immerhin von einem wichtigen Multiplikator wie Ernst Platner.100 Als Goethe und Schiller 1796 das Xenion David Hume veröffentlichten, galt der Schotte bereits weithin als von Kant widerlegt und überholt. In den Systementwürfen Fichtes, Schellings und Hegels spielte er keine Rolle mehr.101 „Rede nicht mit dem Volk, der Kant hat sie alle verwirret,/ Mich frag, ich bin mir selbst auch in der Hölle noch gleich“ (1,606): Die Verse aus dem Xenienalmanach beziehen sich auf Humes intellektuelle Redlichkeit noch im Angesicht des Todes. Priester der anglikanischen High Church sollen versucht haben, den Sterbenden zum Widerruf seiner ‚natürlichen Religionsgeschichte‘ und der „Theorie der Sterblichkeit der Seele“, welche die Leugnung des subjektrelevanten Prinzips der Heilsindividualität (Bestrafung und Belohung nach „persönliche[m] Verdienst[ ]“) einschließt, zu bewegen.102 Daß man ‚sich selbst gleich bleiben‘ könne, wie es im Pentameter heißt, hätte Hume freilich kaum zugegeben. Sein subjekttheoretisches Skandalon lautet in Kürze: „Wir haben gar keine Vorstellung eines Ich, die jenen [Lockes] Erklärungen entspräche. Oder aus was für einem Eindruck könnte diese Vorstellung stammen? […] Wenn ich aber von einigen Metaphysikern, die sich eines solchen Ich zu erfreuen meinen, absehe, so kann ich wagen, von allen übrigen Menschen zu behaupten, daß sie nichts sind als ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind.“103 Zwischen den Perzeptionen bestehen assoziative Beziehungen (der Ähnlichkeit, des raumzeitlichen Zusammenhangs und der Ursächlichkeit), die mit Identität oder Selbigkeit als einer geistigen Substanz nur verwechselt werden. Das Ich bleibt etwas Unbekanntes und Geheimnisvolles, der Einbildungskraft und der (falschen) Erinnerung verdankt und hermeneutischen 99 Vgl. Christoph Meiners: Revision der Philosophie. Göttingen u. a. 1772, S. 127-129, Zitat S. 127; vgl. III.2.b). 100 Vgl. Gawlick u. Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung, S. 15f. u. 90f. 101 Ebd., S. 47f. u. 129. 102 Vgl. David Hume: Über die Unsterblichkeit der Seele (1755). In: Ders.: Die Naturgeschichte der Religion. Über Aberglaube und Schwärmerei. Über die Unsterblichkeit der Seele. Über Selbstmord. Übers. u. hg. v. Lothar Kreimendahl. Hamburg 1984, S. 79-87, Zitat S. 82. 103 Vgl. David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur (1739f.). Übers. v. Theodor Lipps, hg. v. Reinhard Brandt. 2 Bde. Hamburg 1989, Bd. 1, S. 325-341 („Von der persönlichen Identität“), hier S. 326f. Nicht annähernd so scharf, aber in den Konsequenzen deutlich genug auch in der Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 74-95 („Von der Vorstellung der notwendigen Verknüpfung“). Dazu Gawlick u. Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung, bes. S. 91-93.

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Delirien ausgesetzt: eine metaphysische Fiktion. „Und Ich, mein Alles, bin denn am Ende doch auch nur ein leeres Blendwerk“, „mit Hülfe der Einbildungskraft“ geboren, so referiert Jacobi Humes Ansicht104 – freilich nur, um sie schnellstmöglich zu widerlegen: Zum einen beschwört Jacobi die „Gültigkeit der sinnlichen Evidenz“, mit der uns das Ich gegeben sei;105 zum anderen will er die „Hand des Schöpfers“ erkennen, aus der „ich […] unmittelbar […] meine Seele“ empfange, einen stimmigen Vermögensverbund von Wille, Vernunft, Erinnerung und Einbildungskraft.106 Goethes Erzählen, wo es an der Neubestimmung des Menschen als selbstreferentiell organisierte Negativität laboriert, zeigt sich – sei es aus genetischen, sei es aus typologischen Gründen – für den tiefgreifenden ‚Skepticism‘, der sich mit Humes (wie schon mit Montaignes) Denken verbindet, um vieles aufgeschlossener oder, wenn man will, anfälliger. Vom Zweifel an der Substantialität des Ich und vom Verdacht seines Wahncharakters aus erhellt, warum es Wilhelm niemals gestattet ist, sich „ganz zu zeigen, wie ich bin“, warum seine SelbstFindung vielmehr ein infiniter Regreß bleibt: „Aber und abermal gehen mir die Augen über mich selbst auf, immer zu spät und immer umsonst“ (9,989). Die Erscheinung des Ich, die solchermaßen etappenweise greifbar scheint, erweist sich von Mal zu Mal als ‚leeres Blendwerk‘. Die radikalsten Gestaltungen von Nicht-Identität bleiben allerdings, wie wir in Teilen bereits gesehen haben und wie noch weiter auszuführen ist, an Goethes ‚Töchtern‘ haften. – Goethe verschweigt Hume, so dürfte man spekulieren, gewissermaßen aus Doppelgängerangst, da dessen Ergebnisse seinen eigenen Befürchtungen am weitesten entgegen kommen – ein wichtiges Beispiel für die ihm von Schiller attestierte „schöne Übereinstimmung Ihres philosophischen Instinktes mit den reinsten Resultaten der spekulierenden Vernunft“107. Die Mittel der narrativen Erkenntnis führen nicht zu deckungsgleicher, sondern – ein wichtiger Unterschied – nach Maßgabe ihrer informationellen Geschlossenheit zu ‚schöner Übereinstimmung‘. Der literarische Text bebildert nicht eine Theorie, sondern zeugt von einem ‚philosophischen Instinkt‘. Anders als Humes Schreibbewegung beruhigt sich diejenige Goethes nicht in finiten ‚Resultaten‘, sondern dem Infiniten als Resultat.

104 Jacobi: David Hume über den Glauben, S. 217 u. 173. 105 Ebd., S. 142f.; vgl. ebd. S. 255f.: „[...] zu dem Gefühl Ihres Daseins [wären] Sie gewiß nie gekommen [...], wenn Sie dasjenige, was Ihre Einheit ausmacht, nicht zuerst empfunden hätten. [...] Ihr Körper ist aus einer unendlichen Menge von Theilen zusammengesetzt. [...] Sie fühlen [die Menge der Teile] in einem einzigen, unveränderlichen, untheilbaren Punkt, den Sie Ihr Ich nennen“. 106 Ebd., S. 272f. Über Jacobis Stellung zu Hume vgl. Gawlick u. Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung, S. 87f. 107 Schiller an Goethe, 23. August 1794 (MA 8/1,15).

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e) Transzendentale und idealistische Subjekttheorie (Kant, Fichte, Hegel) Indirekt zwar, aber in scharfer Beleuchtung hat Goethe die Positionen Lockes und Humes durch die Brille desjenigen Denkers wahrgenommen, mit dem er sich nebst Spinoza – insbesondere seit den genauen Lektüren des Winters 1790/91 (also nicht erst, wie häufig zu lesen, durch die Kooperation mit Schiller induziert) – am intensivsten auseinandersetzte. Kant, um den es sich hierbei selbstverständlich handelt, diskutierte die Ansichten der beiden Engländer insbesondere in der Kritik der reinen Vernunft (1781) im Kapitel über die Fehlschlüsse oder „Paralogismen der reinen Vernunft“. Goethes Handexemplar des Buchs weist in diesen und anderen einschlägigen Passagen zahlreiche An- und Unterstreichungen auf, die von gesteigerter Aufmerksamkeit zeugen.108 Mit der Transzendentalisierung des Subjekts gelangte Kant zu einer Ich-Virtualisierung, die Humes Ergebnissen zunächst nicht unähnlich ist. Jedoch trennte sich Kant von der Humeschen Skepsis, um seine erkenntnislogischen Ziele im Auge zu behalten. Das Ich, so Kant, gelangt allein darin zur Erscheinung, daß es in der Form des Bewußtseins von ‚Ich denke‘ alle meine Vorstellungen begleiten können muß, andernfalls sie nicht ‚meine‘ Vorstellungen wären.109 Dergestalt geht aber das Selbstbewußtsein – statt wie Descartes zufolge von den Dingen unabhängig zu sein – im Dingbewußtsein auf, d. h. es verhilft sich nur im Gedanken an anderes zur Evidenz: nie als sich selbst, sondern immer schon im Modus der Veräußerung. Wir erkennen, so folgerte Kant, „unser eigenes Subjekt nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es an sich selbst ist“110. Vereinfacht führt das Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften (zuerst 1786) von Carl Christian Erhard Schmid dazu aus, das „transzendentale Subjekt“ definiere sich als „das vorstellende, denkende Wesen (Ich), in Beziehung auf die Gedanken desselben“. „Es heißt transcendental, d. h. ein unbekanntes, bloß gedach108 Auf dem Fundament von Goethes Benutzungsspuren in seinem Exemplar der Kritik der reinen Vernunft (3. Aufl. Riga 1790, vgl. Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3086) argumentiert die verdienstvolle Arbeit von Géza von Molnár: Goethes Kant-Studien. Weimar 1994, hier bes. S. 36-40 u. S. 65-68. Beschränkt auf Kants und Goethes Lehre von der Einbildungskraft ist die darin vorzügliche Arbeit von Shu Ching Ho: Goethes Entwurf der Kantischen Philosophie. In: Ein unteilbares Ganzes. Goethe: Kunst und Wissenschaft. Hg. v. Günter Schnitzler u. Gottfried Schramm. Freiburg/Br. 1997, S. 199-244. Eine Sammlung und Sichtung von Kants recht verstreuten Äußerungen zum Subjektthema bietet Rosefeldt: Das logische Ich. Vgl. bes. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781). Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. 6. Aufl. Darmstadt 1998 (zuerst 1960), Bd. 2, S. 136-138 („Von der ursprünglichsynthetischen Einheit der Apperzeption“) u. S. 371-374 („Kritik des dritten Paralogism der transzendentalen Psychologie“). 109 Über die zahlreichen Interpretationsmöglichkeiten dessen vgl. Cramer: Über Kants Satz: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können. 110 Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 152.

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tes Etwas“.111 Dieses Subjekt ist ebenso unfaßlich wie der Gedanke seiner Unsterblichkeit (vgl. unten V.2.e), eine erkenntniskonstitutive Form ohne letzte ontologische Grundlage. Dem ‚Ich denke‘ korrespondiert keinerlei raum-zeitliche Anschauung, wie sie Erfahrungserkenntnis doch voraussetzt. Herders und Jacobis Validierungsversuche des Ich erscheinen in dieser Sicht als schlechte metaphysische Schwärmerei. Tatsächlich las Goethe die erste Kritik entschieden unter subjekttheoretischen Auspizien: insofern er nämlich daran glaubte bemerken zu können, „daß die alte Hauptfrage sich erneuere, wie viel unser Selbst und wie viel die Außenwelt zu unserm geistigen Dasein beitrage“112. Die Botschaft vom Transzendentalismus des Ich, die auf Zeitgenossen wie Lichtenberg und Jean Paul mit der bekannten Irritationskraft wirkte, müßte, sollte man meinen, auch Goethe verunsichert haben: „Daß das Tiefste, Innerste und Bedeutsamste, nach dem man sich sehnen kann, nicht auch in der Wirklichkeit ergreifbar sein sollte, ist ihm schlechthin unerträglich“,113 charakterisierte Simmel Goethes Welthaltung. Nach außen – auf der Seite seiner Ethik der Individualität – übte Goethe demonstrative Gelassenheit: „Die Unterscheidung des Subjekts vom Objekt und ferner die Ansicht, daß jedes Geschöpf um sein selbst willen existiert […] dieses hatte Kant mit mir gemein, und ich freute mich, ihm hierin zu begegnen. Später schrieb ich die Lehre vom Versuch, welche als Kritik von Subjekt und Objekt und als Vermittelung von beiden anzusehen ist.“114 Nach diesem Zeugnis Eckermanns, das in Details freilich mit Reserven zu genießen ist, bettet Goethe Subjekt und Objekt zunächst aus dem Transzendentalismus der Erkenntnistheorie in die Metaphysik der Sitten um (Geschöpf als Selbstzweck). Sodann stellt er der Kantischen Trennung von Subjekt und Objekt deren Vermittlung gegenüber, die wesentlich sozusagen auf eine Subjektivierung des Objekts hinausläuft. Der hier angesprochene, 1823 publizierte, aber bereits 1792 entstandene Aufsatz über den Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt stellt sich in gewisser Hinsicht als Rettung eines erfahrbaren Ich vor den Zumutungen der Kantischen Abstraktion dar.115 „Die Identität der Person“, so Kant über 111 Schmid: Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften, S. 496f.; vgl. ebd., S. 497: Die „Substanzialität der Materie [...] beruht darauf, daß sie ein beharrliches Prädicat der empirischen Anschauungen, nehmlich Undurchdringlichkeit hat, welches bey der Vorstellung Ich keineswegs der Fall ist“. 112 Einwirkung der neueren Philosophie (FA I 24,443). 113 Georg Simmel: Kant und Goethe. Zur Geschichte der modernen Weltanschauung (1906). In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 10. Frankfurt/M. 1995, S. 119-166, hier S. 130. Zu Goethes ‚Realismus‘ und dessen Grenzen Terence James Reed: Goethe und Kant: Zeitgeist und eigener Geist. In: GJb 2001, S. 58-74, der Konvergenzen zwischen Goethe und Kant in den „Grundfragen der Zeit“ wurzeln sieht (S. 71). 114 Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 243 (11. April 1827). 115 Zu den Kant-Reminiszenen im Versuchs-Aufsatz vgl. Gabriele Rabel: Goethe und Kant. 2 Bde. Wien 1927, Bd. 1, S. 123-129. Zum Verhältnis von Subjekt und Objekt bei Goethe vgl. John

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den „Paralogism der Personalität“, „ist […] in meinem eigenen Bewußtsein unausbleiblich anzutreffen“, als „formale Bedingung meiner Gedanken und ihres Zusammenhanges“. Fehlt so schon eine substantielle Bedingung der personalen Identität, tritt sie für den „äußere[n] Beobachter“ vollends ins Unverbürgte.116 Das methodische Postulat des externen Standpunkts, von dem aus sich das Objekt mit Schärfe zerlegen und zertrennen läßt, ist mit der Mentalität des modernen Experiments verschränkt, der Goethe ebenso geharnischt gegenüberstand wie ihrem Ahnherrn Newton. Seine eigene Theorie des Experiments installiert statt dessen – dem popularphilosophischen Begriff des Interesses als wechselseitige Anziehungskraft verwandt117 – den teilnehmend-verstehenden Beobachter, der sich dem Phänomen anvertraut, ihm so das Geheimnis seiner Einheit entlockt und sich dabei zugleich selber als Subjekt konstituiert. Mit dem Versuch-Aufsatz, meinte Goethe, habe er „die Absicht verfolgt: auszusprechen, wie ich die Natur anschaue, zugleich aber gewissermaßen mich selbst, mein Inneres, meine Art zu sein, insofern es möglich wäre, zu offenbaren“.118 Die Person reüssiert als stabile und erkennbare Größe in der mit dem Beobachteten geteilten Erkenntnissituation, begibt sich also nicht seiner Einzelheit zugunsten eines austauschbaren Bewußtseins überhaupt. Demnach ist der Versuch immer auch im genitivus objectivus ein Versuch des Subjekts: eine Validierung seiner selbst. Das Beobachtete andererseits soll nicht erklärt, sondern verstanden, nicht zerlegt, sondern nachgebildet werden. Goethes Konzeption des Experiments scheint geradezu der Texthermeneutik verpflichtet zu sein. Das Verstehen eines Werkes ist „ein wahrhaftes Reproduciren oder Nachbilden des schon Gebildeten“119, lautet ein Schlüsselsatz der berühmten Auslegungskunst (1757) von Georg Friedrich Meier. Auf dem Experimentierfeld seines Erzählsystems ließ Goethe der Erfahrung der Unerfahrbarkeit des Ich ungleich größeren Spielraum. Zumin-

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Erpenbeck: „... die Gegenstände der Natur an sich selbst ...“. Subjekt und Objekt in Goethes naturwissenschaftlichem Denken. In: GJb 1988, S. 212-233, der darin ein gültiges Bild humanistischer Wissenschaft zu erkennen glaubt. Zu Goethes Konzeption der Naturerkenntnis im Hinblick auf das erkennende Subjekt vgl. Böhme: Natur und Subjekt, S. 148-178 („Lebendige Natur – Wissenschaftskritik, Naturforschung und allegorische Hermetik bei Goethe“), sowie Gernot Böhme: Natur hat weder Kern noch Schale. Goethes Methode der Naturbetrachtung. In: Goethe: Ungewohnte Ansichten. Hg. v. Karl Richter u. Gerhard Sauder. St. Ingbert 2001, S. 9-21, hier S. 17 zur Abgrenzung von Kants transzendentalem Subjekt, das „außerhalb der Natur“ stehe und „ganz abstrakt“ gedacht werde. Dazu ferner mit allerdings äußerst freier Behandlung der Quellen Tom Mellett: Goethean Science: Bringing Chaos to Order by Looking Phenomena Right in the I. In: Goethe, Chaos, and Complexity. Hg. v. Herbert Rowland. Amsterdam u. a. 2001, S. 69-77. Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 371f. Vgl. Doris Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1989, S. 172f. u. S. 194-200. Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort (FA I 25,595). Georg Friedrich Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (1757). Hg. v. Lutz Geldsetzer. Düsseldorf 1965, S. 187.

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dest in den Unterhaltungen setzte er das figurenpoetologische Erzählprinzip, nämlich die Erprobung von „Menschen im leichten Widerspruch mit sich selbst“ (9,1015), unmittelbar mit einem Kantianischen Topos in Beziehung. Der Rahmendialog setzt an der narrativen Beobachtung der menschlichen Doppelnatur zwischen Engel und Teufel an (vgl. 9,1027).120 Der Alte irritiert mit der Meinung, ich müsse „um moralisch zu handeln, gegen meine Neigung handeln“ (9,1057f.). Luise wehrt „diese Paradoxen“ (ebd.), welche die Paradoxien des Subjekts sind, mit großer Empfindlichkeit ab. Auch die Baronesse scheint von derlei unziemlichen Zumutungen vorderhand nichts wissen zu wollen und unterbricht: „Ich wollte, lieber Freund, Sie […] verglichen sich gelegentlich mit Luisen über die Theorie“ (ebd.).121 Die Geschichten des Alten weichen deshalb von der Anstoß erregenden Theoriediskussion auf das mit größeren Lizenzen begabte Erzählmedium aus, in dem an der diskursiv geäußerten Position der fundamentalen personalen Nicht-Identität letztlich unvermindert und, wenn man den figürlichen Metamorphosen-Reigen des Märchens betrachtet, sogar noch kompromißloser festgehalten wird: durch das Beispiel von Gestalten, die wie der Prinz „alles, ja mich selbst, verloren“ (9,1100) haben. Die zu Kant entgegengesetzte Richtung schlug Johann Gottlieb Fichte ein, wenn man ihn dahingehend verstehen darf, daß nicht das Ich in Gedanken von etwas zum Ausdruck kommt, sondern die Dinge durch das Ich zum Ausdruck kommen.122 Auch diese Version des Subjekts veranlaßte Goethe, nach anfänglicher Faszination und gar der Erwartung, „mich endlich mit den Philosophen [zu] versöhnen, die ich nie entbehren und mit denen ich mich niemals vereinigen konnte“123, zu symptomatischen Abwehrhandlungen. Die Schriften Fichtes, über die sich Goethe etwas näher informiert zeigt, sind die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre und vor allem die schmale 68seitige Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre, die Goethe mit zahlreichen Anund Unterstreichungen sowie mehreren Randnotizen versehen hat – darunter 120 Die Topik des Menschen zwischen Engel und Teufel, die Heinrich von Kleist in der Marquise von O... (In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Helmut Sembdner. 2 Bde. München 1987, Bd. 2, S. 104-143, hier S. 143) weiterführt, besitzt ihre Bezugspunkte unter anderem in Montaignes Essais (Bd. 3, S. 443). Vgl. auch Friedrich Schiller: Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) (NA 20,47); dazu Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ‚Philosophischen Briefe‘. Würzburg 1985, S. 111-121. 121 Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). In: Ders.: Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. 6. Aufl. Darmstadt 1998 (zuerst 1960), Bd. 4, S. 11-102, bes. S. 18-33; dazu Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3084. Spuren von Goethes Kant-Auseinandersetzung im Märchen der Unterhaltungen sieht Breithaupt: Jenseits der Bilder, bes. S. 97-130 („Hermeneutik der Verlebendigung. Goethes ‚Märchen‘ als Antwort auf Kants ‚Critik der Urtheilskraft‘“) 122 Vgl. Riedel: Subjekt und Individuum, S. 96-106, sowie Dieter Henrich: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen – Jena 1790-1794. Frankfurt/M. 2004. 123 An Fichte, 24. Juni 1794 (WA IV 10,167).

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nicht weniger als fünf Fragezeichen, die bereits einiges Konfliktpotential andeuten. Beide Bücher hat er noch im Erscheinungsjahr 1794 konsultiert, dem Jahr von Fichtes Amtsantritt an der Universität Jena (und der Endphase des Lehrjahre-Projekts).124 In einem erstem Schritt unternimmt es Fichte, „den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens“ aufzusuchen; er findet ihn in der Einheit des Bewußtseins, die Fichte „Ich“ nennt.125 Dieser Ich-Begriff bezeichnet nun nicht etwa ein Individuum oder empirisches Ich, sondern stellt einen denklogischen Ausgangspunkt dar, aus dem das Individuum erst deduziert wird. Diesbezüglichen Mißverständnissen, die in der Fichte-Rezeption verbreitet waren, sollte Goethe kaum aufgesessen sein, da sich eine seiner wenigen Doppelanstreichungen darauf bezieht. Eine zweite populäre Fehlinterpretation, die Goethe vielleicht weniger vermied, betrifft den Begriff des „Setzens“, der keineswegs ‚schaffen‘, sondern ‚bewußt sein‘ meint. Unter dieser Prämisse ist der Inhalt des ersten und zweiten „Hauptsatzes“ der Wissenschaftslehre zu verstehen: Das Ich setzt (1.) „ursprünglich schlechthin sein eignes Sein“ und daraufhin (2.) das „Nicht-Ich“126 – eine Gedankenkonstruktion, die es erlaubt, das ‚Ding an sich‘ durch seine Verwandtschaft mit dem Subjekt auch in dessen Erkenntnisbereich einzurücken. In Über den Begriff der Wissenschaftslehre entwickelte Fichte dazu: „man müßte durch weiteres Zurückschliessen auf einen dem ersten Grundsatze geradezu entgegengesetzten Grundsatz kommen; und wenn der erste z. B. hieße: Ich bin ich, so müßte der andere heissen: Ich bin nicht Nicht-Ich“. Goethe schrieb unter diesen letzten Satz, der am Ende der Seite steht: „Alles ist alles“127. Nachdem einige Jenaer Studenten – in der Aufregung des Atheismusstreits, der mit der Idee des ‚kosmogonischen Ich‘ unmittelbar zusammenhängt – an Fichtes Wohnung die Fensterscheiben eingeworfen hatten, schrieb Goethe am 10. April 1795 an Christian Gottlob Voigt: „Sie haben also das absolute Ich in großer Verlegenheit gesehen und freylich ist es von den Nicht Ichs, die man doch gesetzt hat, sehr unhöflich 124 Vgl. Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3051, sowie Goethes Brief an Fichte vom 24. Juni 1794 (WA IV 10,166f.). Dazu Ernst Bergmann: Fichte und Goethe. In: Kantstudien 20 (1915), S. 347-356, sowie Géza von Molnár: Goethes Einsicht in die ‚Wissenschaftslehre‘. In: Athenäum 7 (1997), S. 167-192. 125 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer (1794). Eingel. u. hg. v. Wilhelm Jacobs. 4. Aufl. Hamburg 1997 (zuerst 1970), S. 11 u. 30. 126 Ebd., S. 18. Vgl. die in Goethes Exemplar des Begriffs der Wissenschaftslehre (Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3051, S. 63f.) durchgehend mit Unterstreichungen versehene Schlüsselstelle: „Setzet, das Ich sei der höchste Begriff, und dem Ich werde ein Nicht-Ich entgegen gesetzt, so ist klar, daß der letztere nicht entgegengesetzt werden könne, ohne gesetzt, und zwar in dem höchsten Begriffenen, dem Ich gesetzt zu seyn. Also wäre das Ich in zweyerlei Rüksicht zu betrachten; als dasjenige, in welchem das Nicht-Ich gesetzt wird; und als dasjenige, welches dem Nicht-Ich entgegengesetzt, und mithin selbst im absoluten Ich gesetzt wäre.“ 127 Ebd., S. 38; vgl. die Fragezeichen S. 10, 12 u. 40.

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durch die Scheiben zu fliegen.“128 Die Problemstruktur, die Goethe hiermit verzeichnete, ähnelt der der Lockeschen Eigentumstheorie des Subjekts: wie es Einzelne gibt, die sich enteignet sind, so auch solche, die das Objekt von Setzungen sind. Noch in späteren Jahren war Goethe in seinen Verlautbarungen bemüht, die Wissenschaftslehre mit souveräner Sprachgebärde beiseite zu wischen: „Fichte faßte vorzugsweise das Subject auf: daher stammt sein Ich und Nicht-Ich, womit man in speculativer Hinsicht nicht viel anfangen kann.“129 Letzte Schärfe besitzt, wenn man Goethes große Empfindlichkeit gegen die Verzerrung der Menschengestalt bedenkt, das Urteil des „[F]ratzenhafte[n]“ Fichtes.130 So unempfindlich sich Goethe gegen Fichtes Ich-Philosophie jedenfalls im Areal der pragmatischen Kommunikation gibt, so sehr steht sie objektiv im Horizont eines Problems, das Goethe nachhaltig beschäftigte: Die „Icherei“131, die Jean Paul dem Fichteschen System attestierte (und als Egoismus auch Goethe vorwarf, vgl. unten IV.1.c), streift an das Abbild einer Sorge um sich, die – je gegenstandsloser sie sich weiß, desto mehr – zu Formen des Narzißmus aufläuft. Wenige Tage nach der ersten Begegnung mit Fichte schrieb Goethe am 23. Mai 1794 an Jacobi mit einer Ironie, die gegenüber dem inzwischen intellektuell und sozial einigermaßen marginalisierten Freund von verletzender Doppeldeutigkeit sein mußte: „Möchtest du liebes Nicht ich gelegentlich meinem Ich etwas von deinen Gedancken darüber [über die Wissenschaftslehre] mittheilen. Lebe wohl und grüße alle die guten und artigen Nicht ichs um dich her.“132 – In gutmütigerer Ausprägung findet sich die narzißtische Seelenlage in der Faktur Wilhelm Meisters, des Imaginators, der die Welt aus sich selber schafft, sie antizipiert. Der mit der Wilhelm-Figur verflochtene Motivkomplex der Kopfgeburt (vgl. oben II.2.b) ist nicht zuletzt als poetische Übersetzung und Kommentierung der Idee des weltgebärenden Ich zu verstehen. Bevor Wilhelm zuletzt die Objektivität der Welt, die „Dinge“ als Aufgabe entdeckt (vgl. 9,881), erfüllt er nur allzu genau den Tatbestand, den Schiller – eingeflochten in die Lehrjahre-Diskussion – Goethe im Brief vom 28. Oktober 1794 über die Fichtesche Philosophie mitteilt: Deren Fehler sei, „alle Realität […] nur in dem Ich“133 sein zu lassen. Es „scheint eine Vorempfindung der ganzen Welt in Ihnen zu liegen, […] von außen kommt nichts in Sie hinein“ (9,621), stellt Aurelie an Wilhelm fest.

128 An Christian Gottlob Voigt, 10. April 1795 (WA IV 10,250). 129 Mit Gustav Partey, 28. August 1827 (Goethes Gespräche 3/2,181). 130 An Christian Gottlob Voigt, 12. März 1800 (WA IV 15,39). Dies auch das Schlüsselwort in Goethes Auseinandersetzung mit Lichtenberg, vgl. Abschnitt IV.1.b. 131 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 135. 132 WA IV 10,162. 133 MA 8/1,36 .

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Die enttäuschend verlaufene Episode mit Fichte, dem „Osmannstädter Ich“134, dem er wegen möglicher Vorteile, die aus dem philosophischen Diskurs zu schlagen wären, einige Hoffnungen entgegenbracht hatte, vertiefte Goethes Mißtrauen gegen die Philosophie. Bei einem der letzten Denkentwürfe, mit dem Goethe nähere Fühlung aufnahm, handelt es sich um Georg Wilhelm Friedrich Hegels Phänomenologie des Geistes (1807).135 Die Teillektüre des Buchs, frisch aus der Druckerpresse, blieb freilich Goethes letzter ernsthafter Versuch, über die Barrieren der mehrfach gerügten dunklen Sprache hinweg einen Zugang auch zu den Schriften des Gesprächspartners zu finden, der Hegel während seiner Jenaer Privatdozentur von 1801 bis 1807 für Goethe auf durchaus anregende Weise war. Hatte Fichte das Subjekt absolut gesetzt, so hat es Hegel einer depotenzierenden Kritik unterzogen, insofern es sich – leer, einsam und spröde – in einer Individualität ergeht, die staats- und familienvergessen ist. Das Individuum als „wesentlich einzelnes“ erschien ihm „zufällig“; nur der Bürger, vom Gemeinwesen in seiner Einzelheit unterjocht, könne „substantiell“ werden.136 Hegel vertrat hierin den für die Ideen der Französischen Revolution eingenommenen Begriff eines Staatsbürgers und Staates, demgegenüber Subjektivität einen atomen Standpunkt darstellt (und in dem das Genie als außerordentliches Individuum par excellence ohnehin keine Rolle spielt137). Die geforderten staatlichen Gleichheitsgrundsätze fallen dabei in letzter Konsequenz antiindividualistisch aus. Für die Ehe gilt, daß der Einzelne in ihr nicht Person und nicht Subjekt, sondern Mitglied sei.138 134 Vgl. Bergmann: Fichte und Goethe, S. 352. 135 Vgl. an Carl Ludwig von Knebel, 14. März 1807 (WA IV 19,283): „Daß Hegel nach Bamberg gegangen, um den Druck seiner Werke zu sollicitiren, ist mir sehr lieb. Ich verlange endlich einmal eine Darstellung seiner Denkweise zu sehen. Es ist ein so trefflicher Kopf und es wird ihm so schwer, sich mitzutheilen!“ Vgl. Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3060. – Dazu Rüdiger Bubner: Hegel und Goethe. Heidelberg 1978, der im Unterschied zum älteren Forschungstenor eher die Konfliktlinien zwischen Goethe und Hegel unterstreicht. Überwiegend auf Gemeinsamkeiten stellt Hamm (Der Theoretiker Goethe, bes. S. 146-158) ab. Hinsichtlich der Modernediagnosen Goethes und Hegels Jaeger: Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne, bes. S. 516-519. 136 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807). Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. 3. Frankfurt/M. 1986, S. 332. Dazu Petra Braitling: Hegels Subjektivitätsbegriff. Eine Analyse mit Berücksichtigung intersubjektiver Aspekte. Würzburg 1991, sowie Hösle: Hegels System, bes. S. 38-47 („Die Grenzen des subjektiven Idealismus Fichtes“) u. S. 556-587 („Der Staat“). 137 Vgl. Bubner: Hegel und Goethe, S. 23. 138 Vgl. Joachim Ritter: Subjektivität und industrielle Gesellschaft. Zu Hegels Theorie der Subjektivität. In: Ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt/M. 1974, S. 11-35, sowie Hösle: Hegels System, bes. S. 365-388 („Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Anerkennung“) u. S. 530-537 („Die Familie“). Für die Zeitgenossen vgl. Sören Kierkegaard (Entweder – Oder. Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hg. v. Hermann Diem u. Walter Rest. München 1988, S. 65): Die romantisch-idealistisch Ästhetik „war eine Äußerung des zügellosen Subjekts in seiner ebenso zügellosen Inhaltslosigkeit. Diese Bestrebungen hat indessen wie so manche andere ihren Bezwinger in Hegel gefunden“.

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Derlei Anforderungen nehmen sich hinsichtlich der praktischen Maximen Goethes wie ein Sündenregister aus: Goethe war ein seine Unanpaßbarkeit zelebrierender Emigrant im eigenen Land, der die Ehe durchaus pragmatisch betrachtete und Gleichheitsgrundsätze nicht auf Ungleiche angewandt sehen wollte. „Weil er nur als Bürger wirklich und substantiell ist,“ meinte Hegel, „so ist der Einzelne, wie er nicht Bürger ist und der Familie angehört, nur der unwirkliche marklose Schatten“.139 In den zwei Jahre nach der Phänomenologie des Geistes erschienenen Wahlverwandtschaften hallt etwas von der Befürchtung der Richtigkeit dieses Satzes wider. Eduard, der als Bürger (vgl. 9,316f.) und Ehemann vollständig versagt hat, ruft Ottilie zu: „Sind wir nur Schatten, die einander gegenüberstehen?“ (8,511). Keine Antwort erfolgt. „Er eilte verzweifelnd zur Tür hinaus und schickte die Wirtin zu der Einsamen“ (ebd.). Beiläufig kam Goethe im November 1812, ohne daß er des Buches selbst habhaft geworden wäre, eine Passage aus der Vorrede von Hegels Logik (1812-16) vor Augen, die ihm ungeheuerlich schien. Die Fruchtzeit einer Pflanze erweise deren Blütezeit für „ein falsches Daseyn“; „aus falschen Prämissen“ käme demnach „erst die rechte wahre Conclusion“140 – solch dialektische Aufhebungsbewegung zerstört in Goethes Augen (der Dreifachsinn des ‚Aufhebens‘ entging ihm) die von der Entelechie garantierte Einheit des Einzelwesens durch dessen lebendige Entwicklung hindurch. Die „geprägte Form die lebend sich entwickelt“ (2,501) als Erfahrungstatsache zu nehmen, läßt sich – bei allen epigenetischen Unvordenklichkeiten – schwerlich mit der Annahme systematischer Antithesen und Synthesen vereinbaren. Ungewöhnlich für seine gewöhnlich geübte Contenance, geriet Goethe über die Hegelsche Dialektik bis zur Sprachlosigkeit aus der Fassung: „Wenn […] ein vorzüglicher Denker, der eine Idee penetrirt und recht wohl weiß, was sie an und für sich werth ist, und welchen höheren Werth sie erhält, wenn sie ein ungeheures Naturverfahren ausspricht, wenn der sich einen Spaß daraus macht, sie sophistisch zu verfratzen und sie durch künstlich sich einander selbst aufhebende Worte und Wendungen zu verneinen und zu vernichten, so weiß man nicht, was man sagen soll.“141

139 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 332. 140 An Thomas Johann Seebeck, 28. November 1812 (WA IV 23,180). Zu Hegels Logik und der Methode der bestimmten Negation, auf die Goethes Verärgerung zurückgeht, vgl. Hösle: Hegels System, S. 155-276. 141 An Thomas Johann Seebeck, 28. November 1812 (WA IV 23,180).

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f) Goethe-Reflexe in der Subjektkritik Schopenhauers Gegen Ende des Jahres 1818, sechs Jahre nach seiner letzten Hegel-Lektüre, bekam Goethe Gelegenheit, eine grundsätzlich andere Meinung über die „ewige Realität der Natur“142 kennenzulernen, die in seinen Maßstäben im wesentlichen die Garantie einer unzerstörbaren Individualnatur bezeichnet. Er las, wiederum nur auszugsweise, im soeben erschienenen ersten Band von Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung – mit mehr Interesse und weniger Ressentiments, wenn man den Berichten der Zeitgenossen Glauben schenken darf,143 als bei einem Buch zu erwarten wäre, das mit solchen Zumutungen aufwartete. Im übrigen aber hat Goethe über etwaige Affinitäten zu Schopenhauers Gedankengängen weitgehend geschwiegen. Mißhelligkeiten wegen Schopenhauers Farbstudien, die von Goethe angeregt waren, dessen Lehre aber weiterentwickeln sollten, beeinträchtigten das Verhältnis seit 1815. Die subjekttheoretischen Implikationen seiner Denkarchitektur legte Schopenhauer vor allem im Kapitel „Vom reinen Subjekt des Erkennens“ des 1844 erschienenen zweiten Bandes seines Hauptwerks dar. Als Subjekt bezeichnete er das an sich unsichtbare Prinzip der Individuation, dessen kurzzeitige, aber hartnäckige und starre Realisationen die Individuen sind. Der Wille ist es, der „das eigentliche Selbst ausmacht“ und aus dem auch „alles Leiden […] hervor[geht]“.144 Wenn das individuierte Ich aber das Medium für den Druck des Willens ist, wird die Erlösung von ihm (dem Ich) zur Aufgabe. Erst das Verschwinden des Bewußtseins vom eigenen Selbst, nämlich hinter dem Bewußtsein von Dingen – mit anderen Worten der Zustand der Objektivität –, hebt alle Möglichkeit des Leidens auf. Dieser Argumentationsverlauf steht nun mehr als in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts (zumal in den gelehrten Diskursen) zeitüblich im Banne Goethes, und nicht etwa durch dessen programmatische, sondern durch dessen poetische Schriften. Zweimal auf den wenigen Seiten berief sich Schopenhauer – zum Thema der Abstandnahme vom eigenen 142 Ebd. 143 Zur angeblich begeisterten Aufnahme des Buchs durch Goethe („nun lese er es von Anfang zu Ende“) vgl. den Bericht Adele Schopenhauers (Goethes Gespräche 3/1,100). Das Exemplar in Goethes Bibliothek (Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3125) weist indes praktisch keine Benutzerspuren auf. Zum Verhältnis Goethe – Schopenhauer mit Zusammenfassung der älteren Forschung Elsbeth Wolffheim: Des Lehrers Bürden. Zur Kontroverse zwischen Goethe und Schopenhauer. In: Johann Wolfgang von Goethe. Sonderband Text und Kritik. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1982, S. 267-287. 144 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (1819/1844). Sämtliche Werke. Hg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen. Bde. 1 u. 2. Darmstadt 1989, Bd. 2, S. 475; vgl. ebd. S. 29. Dazu Taylor: Quellen des Selbst, S. 766-776. Zum kontradiktorischen Verhältnis zwischen der zeitgenössischen Bildungsprogrammatik und Schopenhauers Entwurf eines starren, spröden und unverbesserlichen Ich vgl. Heinrich Döll: Goethe und Schopenhauer. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philosophie. Berlin 1903, bes. S. 66-69.

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Selbst – explizit auf sie.145 Symptomatischer sind jedoch zwei unausdrückliche Bezugspunkte. Schopenhauer nahm den „Instrumentenkasten des Chirurgus“ zum Beispiel für einen Gegenstand, der lebhafte Erinnerungen und schmerzliche Leidenschaften in uns hervorruft und uns solchermaßen lehrt, daß man besser „ohne allen persönlichen Anteil“146 existiert. Exzellenter Goethe-Kenner, der er war, wird er dies nicht ohne gezielte Reminiszenz an das entsprechende Leitmotiv des Wilhelm Meister getan haben: den chirurgischen Instrumentenkasten (vgl. 9,589, 805, 926 u. 10,744), der wiederholt Wilhelms leidenschaftliche Erinnerungen – „Flamme[n] durch sein ganzes Wesen“ (9, 805) – hervorruft und zuletzt doch ganz im Zeichen der Distanzierung vom Ich und der Bewunderung der Objektivität steht: „Wieviel Wohl und Wehe überdauert nicht ein solches lebloses Wesen! Bei wieviel Schmerzen war dies Band [des Instrumentenkastens] nicht schon gegenwärtig, und seine Fäden halten noch immer! Wie vieler Menschen letzten Augenblick hat es schon begleitet, und seine Farben sind noch nicht verblichen!“ (9,926). Das zweite Referenzsignal betrifft die vorzüglichste Methode, das Bewußtsein vom eigenen Selbst hinter dem Bewußtsein von Dingen zum Verschwinden zu bringen, nämlich die optisch organisierte Versenkung, d. h. die „starke Erregung der anschauenden Gehirntätigkeit ohne alle Erregung der Neigungen oder Affekte“147. Als möglichen Auslöser dieses liminalen Zustands nannte Schopenhauer den „Eindruck der Farben […] bei farbigen Fenstern“148. „Durch das einzige hohe Fenster fiel ein ernstes buntes Licht herein: denn es war von farbigen Gläsern anmutig zusammengesetzt. […] es schien ihr, indem sie auf und umherblickte, als wenn sie wäre und nicht wäre, als wenn sie sich empfände und nicht empfände, als wenn dies alles vor ihr, sie vor sich selbst verschwinden sollte, und nur als die Sonne das bisher sehr lebhaft beschienene Fenster verließ, erwachte Ottilie vor sich selbst“ (8,408). Bei dieser Passage handelt es sich um die Kapellenszene der Wahlverwandtschaften, in welcher der Protagonistin ein mystisch tingierter Selbstverlust geschieht. Obgleich die Homologien zwischen den beiden Texten auf der Hand liegen, weist die poetische Gestaltung eine komplexere Struktur auf, indem sie von Zwischenzuständen zwischen Sein und Nicht-Sein, Erkennen und Nicht-Erkennen spricht. Der eindeutigen Entscheidung für das NichtSein und die von Schopenhauer verlangte „erhöhte Klarheit und Deutlichkeit“, mit der die geschauten Dinge „vor uns stehen“ sollen,149 gibt Goethe 145 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, S. 480 (Motto zu Parabolisch) u. 483 (aus Trost in Tränen). 146 Ebd., S. 481. Zu Schopenhauers Bildlichkeit auch David E. Wellbery: Schopenhauers Bedeutung für die moderne Literatur. München 1998, bes. S. 9. 147 Ebd., S. 484. 148 Ebd., S. 484. 149 Ebd.

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nicht statt (worauf zurückzukommen ist, vgl. unten V.2.e). Gleichwohl stellt sich das „Phänomen Goethe“ angesichts solch genauer Intervention in die offizielle Geschichte der Subjektkritik keineswegs, wie Nietzsche wollte, als „Zwischenfall ohne Folgen“150 dar, sondern – von seiner dunklen Seite – als Wegbereiter des unrettbaren Ich.

2. Geschlechtsspezifik der Subjekttheorie a) Der „Unterschied der Geschlechter“ Im Horizont von Goethes Subjektpoetik öffnet sich über Schopenhauer eine Perspektive auf prominente Konstellationen des fin de siècle. Die literarische Nervenkunst um 1900 lotete wie keine andere diskursive Formation zuvor die Desintegrität des psychischen Systems aus (nicht zuletzt anhand der seismographischen Phantasmen der femme fragile und der femme fatale) und interagierte dabei mit einer Nervenwissenschaft, die aus dem Geist der Hysteriestudien geboren ist: Cum grano salis setzte die Psychoanalyse bei der Erklärung einer vermeintlichen Frauenkrankheit an und zog daraus zunehmend weiterreichende Schlüsse auf eine generell nicht-identische Konstitution des Einzelnen.151 Otto Weiningers bis zum Selbstmord verzweifelter Versuch eines subjekttheoretischen roll back, d. h. seine „Kritik an den Kritiker[n] des Ich-Begriffs: Hume, Lichtenberg, Mach“152, ging insofern folgerichtig mit der geschlechteranthropologischen Respezifizierung der personalen Zerfaserung einher. Logik und Ethik, die als Quellen des Ich – verstanden als „das punktuelle Zentrum, die Einheit der Apperzeption, die ‚Synthesis‘ alles Mannigfaltigen“153 – benannt werden, mangeln demnach nur dem Weib. Dessen vielmehr alogischer und amoralischer Geschlechtscharakter stehe „mit allen tiefsten Rätseln des 150 Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, hier S. 928. 151 Vgl. Esther Fischer-Homberger: Herr und Weib. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen ordnendem Geist und anderen Impulsen. In: Dies.: Krankheit Frau. Zur Geschichte der Einbildungen. Darmstadt 1984, S. 117f.; sowie Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt/M. 1988 (zuerst 1983), bes. S. 139ff. u. 269ff. Ferner dazu Titzmann: Das Konzept der „Person“ und ihrer „Identität“ in der deutschen Literatur um 1900; sowie (mit Vorbehalten) der Brückenschlag von Susan Winnett: Sich krank schreiben lassen: Dora und Ottilie in den Handlungen der Meister. In: Frauen – Weiblichkeit – Schrift. Hg. v. Renate Berger, Monika Hengsbach, Maria Kublitz, Inge Stephan u. Sigrid Weigel. Berlin 1985, S. 35-51. 152 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung (1903). München 1980, bes. S. 197-211. Vgl. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. 9. Aufl. Jena 1922 (Erstfassung 1886). Nachdruck mit einem Vorwort v. Gereon Wolters, Darmstadt 1991, bes. S. 1-30 („Antimetaphysische Vorbemerkungen“). Dazu Düsing: Subjektivität und Freiheit, S. 143ff. 153 Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 219.

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Daseins im Zusammenhange“154. Daß sich der bekennende Neukantianer Weininger hierin ganz auf den Vater der Transzendentalphilosophie bezieht (mit welcher Berechtigung sei vorerst dahingestellt) und zudem Goethe als Kronzeugen aufruft (was jedenfalls einseitig ist) legt Spuren ins 18. Jahrhundert zurück.155 Als die geschlechterhistorischen Hauptentwicklungslinien des Aufklärungsjahrhunderts, die der relativen Geschlechterpolarisierung der Goethezeit, dem prononcierten „Unterschied der Geschlechter“ (9,18)156 die Wiege bereiteten, sind (1.) der Umbruch von der ständeordinalen und funktional begründeten zur charakterologischen und wesensmäßigen Interpretation der sexuellen Differenz zu verzeichnen, mithin ihre Biologisierung zu einem Gattungsunterschied sowie (2.) die Wiederabsetzung der in der Frühaufklärung inthronisierten gelehrten Frau zugunsten der empfindsamen Frau. Das bieder-respektvolle Zusammenleben von Albertus und Concordia auf der Insel Felsenburg, das gleichberechtigte Räsonnement der Schwedischen Gräfin mit ihren verschiedenen, weil anstandslos auswechselbaren Ehgemahlen, gehörten rasch – auch und gerade im Punkt des Geschlechterverhältnisses – einer belächelten literaturgeschichtlichen Vergangenheit an. In dem Maße, in dem die Aufklärung bei ihrer Problemabarbeitung auf sich selber stößt, scheint auch der Verdichtungsgrad des Konzepts einer spezifischen Weiblichkeit zu steigen, die sich zur Wohnstätte eines anderen als der Vernunft anbietet. – „Warum soll das Weib nicht Ich aussprechen können? […] Warum sollen die Weiber keine Person sein?“,157 fragte Theodor Gottlieb Hippel in seinem Buch Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792) und war sich dabei vollauf der Antworten des zeitgenössischen Mehrheitsdiskurses bewußt, dessen aufklärerische Vorurteilskritik an der bürgerlichen Geschlechtsvormundschaft haltmachte: Die weibliche Konstitution zeichnet sich demzufolge insbesondere (am menschlich Möglichen gemessen) durch eine geringere Vernunft- und Gedächtniskapazität, einen höheren Grad von Naturanbindung sowie eine stärkere Affizierbarkeit aus – mit der Konsequenz, daß die „Identität des vernünftigen Daseyns“ dadurch „unterbrochen“ und „folglich die Personalität, welche allein im vernünftigen Daseyn gegründet ist, verletzt“ wird.158 Der 154 Weininger: Geschlecht und Charakter, S. VIII. 155 „Kantens Kritik der rationalen Psychologie“, die zu dem Ergebnis kommt, daß sich die „Existenz des Subjekts [...] nicht ableiten [läßt]“, bringt Weininger freilich in einige Argumentationsnöte. So stellt er „diese Untersuchung durchaus auf den Boden der Kantischen Moralphilosophie“ (ebd., S. VIII; vgl. auch S. 205ff.). 156 Vgl. dieselbe Begriffsfügung bei Kant: Über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 851, sowie Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 338. 157 Theodor Gottlieb Hippel: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792). Sämmtliche Werke. Bd. 6. Berlin 1828, S. 119. Dazu Heidi Ritter: Theodor Gottlieb von Hippels ‚Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber‘ (1792) im Kontext des zeitgenössischen Diskurses über die Geschlechterrollen. In: Außenseiter der Aufklärung. Hg. v. Günter Hartung. Frankfurt/M. 1995, S. 145-153. 158 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza, S. 20.

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mindere Status der Frau als Rechtssubjekt trug dieser Diagnose Rechnung. Insgesamt zeichnet sich in dieser bewußtseinsgeschichtlichen Formation eine Tendenz ab, auf den Dual von Männlichkeit und Weiblichkeit den Dual von Subjekt und Objekt zu legen.159 Die mit dieser Weiblichkeitsbestimmung verbundenen Ausschlußverfahren, die Barbara Duden in den Rahmen einer „Zurichtung der Frauen als einer Person ohne Ich“ gestellt hat,160 blieben den diesbezüglich aufmerksameren Zeitgenossen freilich nicht verborgen. Goethe ignorierte dergleichen nicht,161 sondern beweist bei genauerer Betrachtung ein scharfes Auge für die hier in Rede stehenden Problemlagen. Im Werther, um nur einige offensichtliche Diskursanschlüsse herauszugreifen, scheint es sich bei den Individualisierungsaporien zunächst noch um ein bloßes Signifikationsproblem nach Art des Individuum-est-ineffabile-Satzes zu handeln: „Das ist alles garstiges Gewäsche, was ich da von ihr [Lotte] sage, leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug ihres Selbst ausdrükken“ (8,36). Eulalie in den Guten Frauen moniert bereits umfassender, daß „uns die Natur, das Herkommen, die Gesetze eben so zu verkürzen scheinen, als die Männer begünstigt sind“ (8,630). Ein Damenzirkel der Lehrjahre läßt verlauten, „man sei ungerecht gegen unser Geschlecht […], die Männer wollten alle höhere Kultur für sich behalten, man wolle uns zu keinen Wissenschaften zulassen, man verlange, daß wir nur Tändelpuppen oder Haushälterinnen sein sollten“ (9,829). In den Wahlverwandtschaften ficht Charlotte den Standpunkt des Pensionatsgehilfen an, wonach die Frau nicht Subjekt, sondern Gattungswesen sein müßte: „denn“, so der bürgerliche Gelehrte, „von Jeder wird alles gefordert, was dem ganzen Geschlechte zu leisten obliegt“ (8,445).162 Hersilie in den Wanderjahren schließlich übt versierte Diskurskritik als das Selbstverständlichste von der Welt: „Wir Frauen sind in einem besondern Zustande. Die Maximen der Männer hören wir immerfort wiederholen, ja wir müssen sie in goldnen Buch159 Zur Topik vom „vegetabilen Wesen der Frau“, dem die „Subjekthaftigkeit der Erscheinung [fehlt]“ vgl. den provokanten Aufsatz von Gernot Böhme: Du trittst in Erscheinung. Zur Phänomenologie der Geschlechter. In: Körper-Inszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel. Hg. v. Erika Fischer-Lichte u. Anne Fleig. Tübingen 2000, S. 117-129, hier S. 124f. 160 Barbara Duden: Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Kursbuch 47 (1977), S. 125-140, hier S. 125 (im Hinblick auf Kant, Schiller und Fichte). Zusammenfassend zu den Konstituenten von Weiblichkeit in der Goethezeit Ute Frevert: Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Hg. v. Ute Frevert. Göttingen 1988, S. 17-49; sowie ferner Birgit Wägenbaur: Die Pathologie der Liebe. Literarische Weiblichkeitsentwürfe um 1800. Berlin 1996, bes. S. 22-35 („Die Weiblichkeit um 1800“). 161 Wie manches weniger günstige Urteil über Goethe voraussetzt; vgl. beispielsweise BeckerCantarino: Die ‚Bekenntnisse einer schönen Seele‘. 162 Die „Eigentümlichkeit“ der Weiber „[zerschmilzt] ins Geschlecht“, könnte man auch sagen (Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 217).

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staben über unsern Häupten sehen, und doch wüßten wir Mädchen im stillen das Umgekehrte zu sagen das auch gölte“ (10,326). Die programmatische Ebene der geschlechterdifferentiellen Auseinandersetzung muß bei diesem Explikationsgrad durchaus als „gewöhnliche“ (9,829) erscheinen. Daraus ist nun nicht zu schließen, Goethes Erzählsystem sei nach dieser Flanke hin desinteressiert; vielmehr zeichnet sich darin ab, was es als Gemeinplatz voraussetzt und an komplexer Darstellungsleistung gerade hinsichtlich des Subjektproblems zu überbieten imstande ist. b) Popularphilosophische Standpunkte (Brandes, Meiners) Unternimmt man nun den Versuch, Goethes Anteil an der geschlechtertheoretischen Wissensordnung seiner Zeit zu bestimmen,163 so fällt als erstes auf, daß ihm die mehr oder weniger progressiven und egalitären Positionen der Geschlechterdebatte, wie man sich schon ausgerechnet hat, tatsächlich fernlagen. Einschlägige Texte wie Jakob Mauvillons Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert (1791) und Hippels Bürgerliche Verbesserung (1792) haben ihn offenbar, soweit sich das nach der Überlieferung beurteilen läßt, nie zur Lektüre gereizt. Das ihm von Karoline von Woltmann gewidmete Exemplar ihrer Abhandlung Über Natur, Bestimmung, Tugend und Bildung der Frauen (1826) muß er unbesehen ins Regal gestellt haben.164 Vielmehr scheint sich Goethe vor allem mit denjenigen, sagen wir reformkonservativen Autoren auseinandergesetzt zu haben, die in aller Regel einen wertenden Geschlechterdualismus zum Nachteil der Frauennatur vertraten. In diesen Kreis rechnete vor anderen der Göttinger Philosoph Ernst Brandes (1757-1810), einer der prominentesten deutschen Weiblichkeitstheoretiker der Zeit (und Schwager des für den neuen Bildungsgedanken mitverantwortlichen Biologen Johann Friedrich 163 Für das naturphilosophische Feld bündig bereits von Margrit Wyder (Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen. Köln u. a. 1998, S. 289-307 [„Androzentrik und Stufenleiter“] geleistet. Eine Übersicht über die Diskussion zur Geschlechtercharakteristik mit knapper Einordnung Goethes bieten Helmut Fuhrmann: Der androgyne Mensch – „Bild“ und „Gestalt“ der Frau und des Mannes im Werk Goethes. Würzburg 1995, S. 76-81 („Der Widerstreit von komplementärer und egalitärer Geschlechtertheorie“); sowie Volker Hoffmann: Elisa und Robert oder das Weib und der Mann, wie sie sein sollten. Anmerkungen zur Geschlechtercharakteristik der Goethezeit. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Walter Müller-Seidel zum 65. Geburtstag. Hg. v. Karl Richter u. Jörg Schönert. Stuttgart 1983, S. 80-97, zu Goethe hier bes. S. 82f. („negative Bewertung der Frau“, „dichotomische Trennung der Geschlechtercharaktere“, „Verteidigung der Vorherrschaft des Mannes“). 164 Vgl. Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3154: Das Buch ist unaufgeschnitten. Nur kurz hat sich Goethe mit Woltmanns Spiegel der großen Welt [...] jungen Frauenzimmern gewidmet (1824) beschäftigt; vgl. die Anzeige in Über Kunst und Altertum (FA I 21,698).

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Blumenbach).165 Zwar scheint Goethe weder die Frühschrift Über die Weiber (1787) noch die Betrachtungen über das weibliche Geschlecht (1801) zur Kenntnis genommen zu haben. Doch füllt den Mittelteil der von Goethe kritisch rezipierten Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland (1808) ein Manifest, das Brandes’ Positionen pointiert zusammenfaßt. Charakteristischerweise wollte Goethe bei solcher „Reflexion“ allerdings „nicht […] wohl [werden]“, da „sich denn doch zuletzt“, was hier nicht geschieht, „alles Verdrießliche des Lebens und Daseyns freundlich auflösen müßte“.166 Diese skeptische Haltung gegenüber Brandes war bereits durch Goethes entschieden mißfällige Aufnahme des 1802 erschienenen Berichts Über den gegenwärtigen Zustand der Universität Göttingen vorgeprägt.167 Als tieferen Gegenstand seines Interesses machte Brandes, durch die popularphilosophische Reintegration von Ethik, Ästhetik und Anthropologie hindurch, die „Einsicht in die menschliche Natur“168 geltend. Mit solcher Wissensvollmacht ventilierte er in den Betrachtungen eine Zeitgeistkritik, die als Hauptwurzel aller öffentlichen und privaten Übel die „eingetretene Gattung der weiblichen Herrschaft“169 zu erkennen meint. Diese Einschätzung artikuliert sich als ‚Zeit-Kritik‘ auch in dem buchstäblichen Sinn, daß Brandes eine Beschleunigung der Wahrnehmungsweisen konstatierte und als besorgniserregend herausstellte: Einen „Trieb nach sinnlichen Genüssen des Augenblicks“ sah er in der Gesellschaft am Werk; der Unterricht suche die „größte Zahl von Anschauungen in dem kürzesten Zeitraume, gleichsam wie in einer magischen Laterne“ vorzuführen;170 „tausend bunte Bilderchen“ gaukelten an der Jugend vorüber, die daraufhin „erlernte Kunststücke zur Schau“ gebe. Derlei „Extension“ schade schon grundsätzlich der „Intension“ (d. h. der Intensität), insbesondere muß aber der von Natur enge Gesichtskreis des weiblichen Geschlechts durch die neue „Lebendigkeit des Blickes“ überfordert werden.171 Bei solcher Situationsanalyse überrascht es nicht, daß Brandes in seiner 1810 erschienenen Fortsetzung der Betrachtungen nichts anderes als die Luciane-Figur der Wahlverwandtschaften als poetisches Inbild seiner gelehrten Kritik erkennen und Goethe als Bundesgenossen reklamieren wollte.172 Die „Weiber“ stehen in 165 Vgl. die wichtigen Fachprosaforschungen von Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. Frankfurt/M. u. a. 1991, bes. S. 58-62. 166 An Carl Friedrich von Reinhard, 22. Januar 1811 (WA IV 22,23). 167 Vgl. an Schiller, 5. Juli 1802 (MA 8/1,911). 168 Ernst Brandes: Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts (1808). Nachdruck Kronberg/Ts. 1977, S. 135. 169 Ebd., S. 147. 170 Ebd., S. 130f. 171 Ebd., S. 135f. u. 146; vgl. S. 148: „Ein schwaches Maaß der Kräfte wird schwächer, indem es sich über mehrer Gegenstände verbreitet.“ 172 Vgl. Ernst Brandes: Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes auf die höheren Stände Deutschlandes als Fortsetzung der Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland (1810). Nachdruck Kronberg/Ts. 1977, S. 272.

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Brandes’ hierarchisch absteigender Gesellschaftsautopsie an letzter Stelle. In der „Natur der Sache“ liege es, daß das weibliche Geschlecht, „unerwachsene Kinder“, aus dem „öffentlichen Leben in der Staatswelt“ ausgeschlossen sind.173 Seine nur „relative Kraft der geistigen Organisation“ zeichne sich vornehmlich durch eine „reizbare kleinliche Phantasie“ aus.174 Jede Verkennung dieser Naturtatsachen muß Unnatur zeugen.175 Dazu übt die Schwäche der Weiber gleichsam vampirische Absorptionseffekte auf die Stärke der Männer aus: „Der häufige Genuß der gemischten Gesellschaften beyder Geschlechter wirkt an sich Kraft-raubend, Kraft-einschläfernd auf das unsrige.“176 – Fast alle hier genannten Vorstellungskomplexe, die von Brandes nicht originell, aber repräsentativ vertreten werden, liegen als Problemlagen auch Goethes Erzählsystem und seiner Konstruktion der Frauenfiguren zugrunde. Brandes spielt dabei weniger oder überhaupt nicht die Rolle des Initiators, sondern die des bewußtseinsgeschichtlichen Indikators. Stärker quellenphilologisch ist die mögliche Schlüsselrolle zu fassen, die in Goethes Wissenshorizont Brandes’ Lehrer und Freund Christoph Meiners (1747-1810) zukommt, seit 1772 Professor der Weltweisheit in Göttingen und wie Brandes zu unrecht ein unbeschriebenes Blatt in der Goethe-Forschung. Goethes punktuelle Beschäftigung mit dem vollgültigen Popularphilosophen177, der sich vorwiegend zu religions- und kulturgeschichtlichen sowie ethnologischen Themen äußerte – mit dem leitenden Interesse an der „Beobachtung und Kenntniß des Menschen“178, bei der dem weiblichen Geschlecht der „Status eines sensiblen Indikators“179 zukommt –, erstreckte sich über fast vierzig Jahre. 1775 sichtete Goethe den soeben erschienenen Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, besonders der Egyptier und ging mit ihm im Brief an Herder vom 1. April des Jahres ungewöhnlich hart ins Gericht.180 173 174 175 176 177

Ebd., S. 260. Ebd., S. 264f. So Brandes: Betrachtungen über den Zeitgeist, S. 140. Ebd., S. 144. Die Qualifizierung als „popularisierende[r] Schulphilosoph[ ]“ (Walter Ch. Zimmerli: Arbeitsteilige Philosophie? Gedanken zur Teil-Rehabilitierung der Popularphilosophie. In: Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises. Hg. v. Hermann Lübbe. Berlin u. a. 1978, S. 181-212, hier S. 205) wird Meiners’ methodischer und thematischer Bandbreite jedenfalls nicht gerecht. 178 Christoph Meiners: Allgemeine kritische Geschichte der ältern und neuern Ethik oder Lebenswissenschaft. 2 Bde. Göttingen 1800f. Bd. 1, S. 1. 179 Elisabeth Zeidler-Johnson: Die Aufteilung der Menschheitsgeschichte. Christoph Meiners und die Geschichte des anderen Geschlechts als Gegenstand der Geschichtsschreibung in der Spätaufklärung. In: Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der historischen Frauenforschung. Hg. v. Ursula A. J. Becher u. Jörn Rüsen. Frankfurt/M. 1988, S. 189-216, hier S. 201. 180 „Sieh da die Welt so voll Scheiskerle ist, sollten wir doch miteinander tissiren und scheisen. Warum ist das alleweil schreibe? Da krieg ich nach Tisch ein Büchlein zur Hand, Hrn. Prof. Meiners Versuch - Egyptier - He! - sagt ich, und blättre, wo kommt da Bruder Herder vor? [...]. - finde Dich nun freylich nit, weder in guten noch bösen“ (WA IV 2,252). Gedacht ist wohl vor allem an Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts; vgl. V.1.

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Namentlich erregte er sich über die detailliert dargelegten „Leichenzeremonien der Egypter“, die degoutante „Einbalsamierung der Körper“,181 die er später freilich der Turmgesellschaft für die „Exequien Mignons“ (9,955) unterschieben sollte. Von Vorbehalten gegen Meiners zeugt auch das mit den Initialen Ms betitelte Xenion, das den Verfasser von über 30 Büchern der Vielschreiberei bezichtigte: „Weil du doch alles beschriebst, so beschreib uns zu gutem Beschluß/ Auch die Maschine noch, Freund, die dich so fertig bedient“ (1,546). Der Göttinger Sommer 1801 brachte im Verhältnis zwischen Goethe und Meiners eine Art von Wende. Es kam mit dem „Mann von Alter, Verdiensten und Ruf“182 zu mehreren persönlichen Begegnungen, die Goethe im Tagebuch festhielt und, entscheidender, noch Jahre später in den Tag- und Jahresheften hervorhob.183 Gleichzeitig erwarb er in einer Buchhandlung Meiners’ druckfrischen Grundriß der Ethik oder Lebens-Wissenschaft,184 der eine von den Theorien des „moral sentiment“ durchtränkte, aus Rationalismus und Empirismus gemischte „Menschenkunde“ präsentiert.185 Deren wichtigste Prämisse lautet, man müsse „zu der Lehrart der Alten und der größten englischen Moralisten zurückkehren, und die unter uns Deutschen herrschend gewordene Methode aufgeben […], nach welcher die ganze Ethik in eine unaufhörlich gebietende, oder verbietende Pflichten-Lehre verwandelt worden ist“.186 Die Wendung gegen die erfahrungsfernen Abstraktionen Kants, der hier natürlich gemeint ist, nimmt im weiteren die Züge einer scharfen Polemik an: „Ich hege allerdings von meiner Streitschrift die gute Meinung, daß sie manche der unbefangenen Gemühter vor den Blendwerken der Kantischen Moral bewahren, und manche noch nicht ganz, oder nicht lange eingenommenen Personen davon zurückbringen werde“187. Bereits mit der Verteidigung der dem Menschen angeborenen Güte argumentierte Meiners gegen Kants Gedanken des radikalen Bösen in der menschlichen Natur, über den sich 181 Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 301 u. S. 92. 182 An Heinrich Carl Abraham Eichstädt, 19. Juli 1804 (WA IV 17,159). 183 Vgl. Tagebücher (WA III 3,20, 28, 31), sowie Tag- und Jahreshefte 1801 (FA I 17,84). Zu Goethe und Meiners zusammenfassend Georg Schwedt: Goethes Kontakte zu Göttinger Professoren in und über Göttingen hinaus. In: „Der gute Kopf leuchtet überall hervor“. Goethe, Göttingen und die Wissenschaft. Hg. v. Elmar Mittler, Elke Purpus u. dems. Göttingen 1999, S. 40-52, hier S. 44f. 184 „Mittwoch am 1ten Juli. [...] Nachmittags im Buchladen. Meiners Ethik“ (Tagebücher, WA III 3,26). Vgl. Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 4120. 185 Vgl. das „Verzeichniß der vornehmsten, in diesem Grundrisse angerührten Schriften“ (Christoph Meiners: Grundriß der Ethik oder Lebens-Wissenschaft. Hannover 1801, S. XLI-XLVI). Häufig zitiert werden Hutchesons System of Moral Philosophy (1755) und Smiths Theory of Moral Sentiments (1793), aber auch Humes Essays and Treatises (1783). 186 Meiners: Grundriß der Ethik oder Lebens-Wissenschaft, S. VII. 187 Ebd. Vgl. Brandes’ Invektiven gegen „das neue philosophische Papstthum“ (Brandes: Betrachtungen über den Zeitgeist, S. 111).

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auch Goethe entsetzt hatte.188 Da, mit Kant, „die reine Vernunft keine Quelle der Erkenntniß wirklicher Dinge seyn könne“, sei, so Meiners, der Weg eines sozusagen physiologischen Realismus einzuschlagen: „Es ist außer allem Zweyfel, daß man die ächte Menschkunde mit Betrachtungen über das Empfindungs-Vermögen des Menschen anfangen muß. Gleich im Anfange dieser Untersuchungen stoßen dem Forscher unauflösliche Räthsel so wohl über die Natur des in uns empfindenden und denkenden Wesens, als über die Arten auf, wie vermittels der Nerven und des Gehirns Empfindungen und willkührliche Bewegungen hervorgebracht, oder die Reste von Empfindungen erhalten werden“.189 Diese Grundzüge einer sinnesphysiologisch fundierten Anthropologie, die auf ihre Weise die „Rehabilitation der Sinnlichkeit“190 vertrat, kommen Goethes gegen Kant gerichtetes Projekt einer „Kritik der Sinne“ (10,561) objektiv sehr entgegen. Zudem verwahrte sich Meiners, um wegen seiner Abstandnahme von der Theoriehöhe Kants keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, gegen jede Vereinfachung seiner Menschenkunde und führte bereits in seiner Revision der Philosophie von 1772 den Unterschied zwischen einer nur „exoterischen“ sowie einer zu bevorzugenden „esoterischen“ Betrachtungsweise ein191 und somit ein Begriffspaar, das in den Anschauungen des mittleren und späten Goethe – wie wir seit der berühmten Untersuchung Heinz Schlaffers wissen192 – einen bevorzugten Stellenwert besaß. Meiners charakterisierte die esoterische Haltung dahingehend, daß sie nicht „ohne gefährliche Erschütterung allgemein bekant gemacht werden“ könne und aus der Verteidigung „paradox scheinender Sätze“ lebt,193 wozu wir die Negierung des logischen Grundsatzes von der Identität rechnen dürfen. Bezeichnend für seine ganz unter ästhetischen Gesetzen stehende Erkenntnisweise, lehnte Goethe indes „das allzubreite Exoterische“ gegenüber „dem heilsamen Esoterischen“ keineswegs rundweg ab.194 Als entscheidend erachtete er, daß „man das Esoterische in’s Exoterische“ verwandle „und durch eine Wechselwirkung beider die wahre lebendige Wissenschaft“ aufbaue.195

188 „Dagegen tat aber auch Kant seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurtheilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radicalen Bösen beschlabbert“ (an Herder, 7. Juni 1793 (WA IV 10,75). Vgl. dazu Eudo C. Mason: Goethe’s Sense of Evil. In: PEGS N. S. 34 (1964), S. 1-53. 189 Meiners: Grundriß der Ethik oder Lebens-Wissenschaft, S. XIIIf. u. 3f. 190 Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 19. 191 Vgl. Christoph Meiners: Revision der Philosophie. Göttingen u. a. 1772, S. 91-135 („Exoterische und esoterische Philosophie“), ferner Grundriß der Ethik oder Lebens-Wissenschaft, S. IV, sowie Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 301. 192 Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen. In: GJb 1978, S. 212-226. 193 Meiners: Revision der Philosophie, S. 91f. u. 115. 194 An Christoph Wilhelm Hufeland, 5. September 1817 (WA IV 28,243f.) 195 An Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck, 21. April 1818 (WA IV 29,153).

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Meiners ist aus denselben Gründen als Vorläufer des Rassismus bezeichnet worden, wie er als Vertreter einer psycho-physiologischen Minderwertigkeitstheorie der Weiblichkeit gelten muß, die sich nicht zuletzt in der Beantwortung der Frage niederschlägt, inwiefern die Frau Subjekt sein kann: etwas, das sich „zu den Gegenständen seiner Wahrnehmung und seines Handelns ins Verhältnis setzen kann“196. In besonderer Breite findet sie sich in der vierbändigen Geschichte des weiblichen Geschlechts (1788-1800) ausgefaltet, die darin paradox bleibt, daß sie die Geschichte eines Gegenstandes ist, dem an sich selber kein Entwicklungspotential zukommt.197 Meiners’ (von Brandes weithin geteilten) Ansichten über die degenerative Feminisierung von Gesellschaften sowie seine Verschränkung von Rassen- und Geschlechterlehre flottieren aber auch (außer im von Goethe 1811 und 1812 auszugsweise gelesenen ersten Band der Untersuchungen über die Verschiedenheiten der Menschennaturen198) in der Lebens-Wissenschaft, die als unmittelbares Folgeprojekt gleichsam die Konsequenzen aus den Lehren der Frauengeschichte zog. Wo Meiners den Lehrsatz aufstellte: „Ein großer Theil des künftigen Werthes, oder Unwerths der Menschen hängt von der ursprünglichen Organisation ihrer Muskeln, und Nerven ab“,199 stellte er sich diese Organisation entschieden geschlechtsspezifisch vor. So auch, wo er den Mechanismus der Sympathie beschrieb, der von der einfachen Reaktivierung eigener Erfahrungen angesichts fremder Affekte (so das moderatere Modell von Adam Smith) bis zur Grenzaufhebung zwischen fremdem und eigenem Seelenhaushalt reicht (so die radikalere Variante Humes, die damit noch der kosmologischen Sympathie-Tradition nähersteht). „Eines der wichtigsten Phänomene nicht nur des Empfindungs-Vermögens, sondern auch der ganzen Natur des Menschen ist die Sympathie. […] Wenige Menschen nehmen an den Freuden und Leiden anderer empfindenden Wesen in gleichen Graden Theil. […] Dieselbigen Leiden rühren mehr, oder weniger nach der Verschiedenheit der Stärke, oder Schwäche des Alters, und Geschlechts“.200 Das schwache Geschlecht 196 So über den popularphilosophischen Subjektbegriff Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns, S. 37. Zu Meiners’ Rassenlehre und inwiefern sie auch den „Zustand des weiblichen Geschlechts bestätigt“, vgl. Friedrich Lotter: Christoph Meiners und die Lehre von der unterschiedlichen Wertigkeit der Menschenrassen. In: Geschichtswissenschaft in Göttingen. Hg. v. Hartmut Boockmann u. Hermann Wellenreuther. Göttingen 1987, S. 30-75, hier S. 49f. Dazu ferner Sigrid Weigel: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek/Hbg. 1990, S. 118-148 („Zum Verhältnis von ‚Wilden‘ und ‚Frauen‘ im Diskurs der Aufklärung“). 197 Dazu eher noch wohlwollend Zeidler-Johnson: Die Aufteilung der Menschheitsgeschichte. 198 Goethes Tagebücher zeugen besonders für Mai und Juni 1812 unter Stichworten wie „Meiners Verschiedenheit der Menschennaturen“ und „Meiners Menschenracen“ von ausgiebiger Lektüre (vgl. WA III 4,242, 287 u. ö.). Vgl. Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3100. 199 Meiners: Grundriß der Ethik oder Lebens-Wissenschaft, S. 53f. 200 Meiners: Grundriß der Ethik oder Lebens-Wissenschaft, S. 6f. Zur von David Hume und Adam Smith neu belebten Sympathiediskussion vgl. Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns, S. 244-271 („Sympathie bei David Hume“) u. 272-289 („Sympathie bei Adam Smith“).

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zeigt zu solchen Übertragungsphänomenen demnach eine ausgeprägtere Disposition. Nach Meiners’ Beispiel soll sie etwa dann zum Tragen kommen, „wenn verdienstvolle Personen durch die Bosheit Anderer leiden“201 – ein Fall, der (1801 dargelegt) frappant an denjenigen erinnert, in dem sich die Ottilie-Figur der Wahlverwandtschaften befindet. Der Mitleidsrapport, dem sie unterliegt, fließt freilich nicht aus einer realen Lebenssituation, sondern – bezeichnend für die Medienwelt dieses Romans – aus dem Eindruck eines Geschichtsbuches: „Als Carl der Erste von England vor seinen sogenannten Richtern stand, fiel der goldne Knopf des Stöckchens das er trug herunter. Gewohnt, daß bei solchen Gelegenheiten sich alles für ihn bemühte, schien er sich umzusehen und zu erwarten, daß ihm Jemand auch diesmal den kleinen Dienst erzeigen sollte. Es regte sich Niemand; er bückte sich selbst, um den Knopf aufzuheben. Mir kam das so schmerzlich vor, ich weiß nicht ob mit Recht, daß ich von jenem Augenblick an niemanden kann etwas aus den Händen fallen sehn, ohne mich darnach zu bücken“ (8,315). Derlei gesteigerter, zu Zwangshandlungen bestimmender Empfänglichkeit, die (wie wir noch sehen werden) auch den liminalen Wahrnehmungsvermögen von Goethes ‚Töchtern‘ zugrunde liegt (vgl. unten V.2.a), stellte Meiners die Tatkraft entgegen, die er für einen Vorzug des Männlichen nahm: Das „Bewußtseyn“ davon „hielt große Männer […] aufrecht“.202 Für „Männer von Genie“ gilt im besonderen, daß sie die Einbildungskraft, auf der die Sympathie nach aufgeklärter Auffassung beruht, produktiv gezähmt haben. Die Imagination ist dann für „das Schaffen von Idealen“ zuständig, das „den höheren Denkkräften“ vorausarbeitet.203 Fluchtpunkt dieser Betrachtungen ist die ihres Selbst vollkommen oder doch ausreichend versicherte „Persönlichkeit“: eine Kondition leib-seelischer Gesundheit, die auf Harmonie der Vermögen und folglich auf Selbstübereinstimmung gründet. Dagegen stellt sich das Krankheitsbild der ‚multiplen Persönlichkeit‘ (die Meiners freilich noch nicht mit diesem Namen belegt) so dar, „als wenn in demselbigen Menschen zwey Seelen, oder zwey Personen wären, die gegen einander kämpften, und wovon bald die eine, bald die andere obsiegte“.204 Der diätetischen Aufrechterhaltung des Selbstgleichgewichts dient mithin eine moderate Aus201 Meiners: Grundriß der Ethik oder Lebens-Wissenschaft, S. 8. 202 Ebd., S. 12. Vgl. Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur (1794). In: Ders.: Werke. Hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel. 5 Bde. Darmstadt 1960, Bd. 1, S. 268-295, S. 278: „Alles Männliche zeigt mehr Selbstthätigkeit, alles Weibliche mehr leidende Empfänglichkeit.“ Der narratologischen Charakterisierungstheorie von Uri Margolin (The Doer and the Deed. Action as a Basis for Characterization in Narrative. In: Poetics Today 7 [1986], S. 206-225) zufolge, kann das für die Figurenkonstitution wiederum nicht unproblematisch sein – was man bereits auch um 1800 wußte: „Leiden schattet niemals so scharf ab als Tun, daher Weiber schwerer zu zeichnen sind“ (Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 224). 203 Meiners: Grundriß der Ethik oder Lebens-Wissenschaft, S. 19f. 204 Ebd., S. 22.

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prägung des „Trieb[es] der Selbsterhaltung“, denn das „Verlangen nach den Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens kann nicht nur zu stark, sondern auch zu schwach seyn“ – sowohl hinsichtlich der „Begierde nach Speise und Trank“ als auch der „Befriedigung des Geschlechtstriebes“.205 Meiners Beschreibungen von Persönlichkeitsdissoziation und Diätfehlern treffen in dieser Kombination und mit diesen Beispielen wiederum auf die Figur Ottilies zu, die in den Zeichen von Anorexie, Liebesentsagung und personaler Mehrdeutigkeit steht. Zusammen mit dem Sympathie-Komplex hält man damit vielleicht genügend Indizien in der Hand, um zu dem Ergebnis kommen zu dürfen, daß Goethe Meiners Lebens-Wissenschaft in der alchimistischen Werkstatt seiner Wahlverwandtschaften ex negativo rezipiert und in eine poetische Thanatologie verwandelt hat. c) An den Rändern der großen Systeme (Kant, Hegel) Während Brandes und Meiners im deutschen Kulturraum zu den hauptverantwortlichen Spezialisten der Geschlechtertheorie zählten, teilen die Denkarchitekturen, die sich von der Popularphilosophie fernzuhalten wünschten, geschlechtertheoretische Positionen eher beiläufig mit. Als ergiebig nach ihrem bewußtseinsgeschichtlichen Symptomwert wie auch für die Rekonstruktion von Goethes Anteil an der diesbezüglichen Wissensordnung erweisen sich (vor verschiedenen anderen Spuren) Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) sowie Hegels Phänomenologie des Geistes. – Die Beobachtungen rezipierte Goethe (in der dritten, 1771 erschienenen Auflage) im ganzen interessiert aber mit Kritik an der verfehlten Balance zwischen Ästhetik und Anthropologie: „Es wäre eine recht artige Schrift wenn die Worte schön und erhaben auf dem Titel gar nicht stünden und im Büchelchen selbst seltner vorkämen. Es ist voll allerliebster Bemerckungen über die Menschen“,206 so im Brief an Schiller vom 18. Februar 1795 und damit im unmittelbaren Einzugsgebiet der Lehrjahre. Kant hatte sich im Zuge seiner populärsten vorkritischen Schrift erstmals in seinem Reflexionsprozeß systematisch und umfassend auch an eine Bestimmung des Männlichen und des Weiblichen gemacht, wesentlich unter dem Einfluß Rousseaus und der Frage, ob die Geschlechterdifferenz aus der Natur oder aus der Gesellschaft stamme.207 Nach ursprünglich bedeutend 205 Ebd., S. 38. 206 An Schiller, 18. Februar 1795 (MA 8/1,60). 207 Vgl. die ausgewogene Beurteilung in der Untersuchung von Ursula Pia Jauch: Immanuel Kant zur Geschlechterdifferenz. Aufklärerische Vorurteilskritik und bürgerliche Geschlechtsvormundschaft. Wien 1988, S. 58-115 („Systematische Annäherung an das Weibliche – die ‚Beobachtungen‘“). Zu Goethes Auseinandersetzung mit der Geschlechterkonzeption Rousseaus vgl. Anke Engelhardt: Zu Goethes Rezeption von Rousseaus ‚Nouvelle Héloïse‘. Rheinfelden u. a. 1997, bes. S. 30-33 („Identität und Geschlecht“).

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weitläufiger konzipierten Ausführungen konzentrierte er das Thema schließlich auf eines von vier Kapiteln, überschrieben „Von dem Unterschiede des Erhabenen und Schönen in dem Gegenverhältnis beider Geschlechter“. Die Bestimmung des Geschlechterverhältnisses als „Gegenverhältnis“ (auf der Linie des Duals von Subjekt und Objekt) ist darin Programm. Der galante Magister glaubte erkennen zu können, daß „vornehmlich in dem Gemütscharaktere dieses [des anderen] Geschlechts eigentümliche Züge [liegen], die es von dem unseren deutlich unterscheiden und die darauf hauptsächlich hinauslaufen, sie durch das Merkmal des Schönen kenntlich zu machen. Anderer Seits können wir auf die Benennung des edlen Geschlechts Anspruch machen“.208 Daß das Schöne, der Beurteilung der „Mannspersonen“ anheimgestellt,209 im hier gebrauchten Verständnis allzu offensichtlich eher eine Objekteigenschaft ist, das Edle dagegen eher eine sittliche Größe, stößt dabei als ethisch problemgeladen auf, insofern ein Mensch in dieser Konstruktion zum Zweck des Wohlgefallens und der Anschauung anderer wird. Gewiß nicht zuletzt aus diesem Grund fühlte sich Kant zu einer Relativierung veranlaßt, welche die Aufrichtung fester Grenzen indes nur notdürftig mildert: „Hierdurch wird nun nicht verstanden, daß das Frauenzimmer edler Eigenschaften ermangelte, oder das männliche Geschlecht der Schönheiten gänzlich entbehren müßte“, vielmehr werde der „Charakter des Schönen [als] der eigentliche Beziehungspunkt“ gedacht.210 Die narrativen Weiblichkeitsarrangements Goethes, ‚goldene Äpfel in silbernen Schalen‘ (vgl. oben II.2.b), bedienen sich dieser Engführung von Weiblichkeit und Schönheit – sei es in Wilhelms Amazonen-Phantasien, sei es in den kostbaren Erstarrungen Mignons und Ottilies – für die ästhetische Auslöschung des Subjekts in der Objektivität der Kunst. Im übrigen bemühte sich Kant, die Ansicht von der nicht-kognitiven Organisation des weiblichen Seelenhaushalts zu untermauern, die sich zur Zeit seines Frühwerks gerade erst etablierte. Das frühaufklärerische Paradigma des gelehrten Frauenzimmers hat seine Geltung in der Topik dieses neuen bürgerlichen Frauenbildes gründlich eingebüßt. „Mühsames Lernen oder peinliches Grübeln“ stehe dem zweiten Geschlecht nicht wohl an; es werde demnach beispielsweise auch (woran die Fälle Mignons und Ottilies anknüpfen, vgl. unten V.2.a) „keine Geometrie lernen“.211 Eine dem Frauenzimmer eigene „Weltweisheit“ realisiere sich, wenn irgendwo, im „Empfinden“.212 Wie sich zu diesem Meinungsbestand die spätere Bestimmung der Ich-Erfahrung vermittels der Kognition verhält (vgl. oben III.1.e), hat Kant niemals direkt 208 209 210 211 212

Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 850. Vgl. ebd., S. 862. Ebd. Ebd., S. 852. Ebd.

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Goethes subjektphilosophischer Horizont

ausgeführt. In gewisser Weise, könnte man sagen, hat Goethe dieses für den gelehrten Diskurs allzu riskante Unterfangen für ihn im Experimentalraum seines Erzählsystems übernommen. Die Weiblichkeitsimaginationen, aus dem Konventionellen genommen und ins Exzeptionelle getrieben, werden dort zu Fallgruben des Subjektkonzepts. Während Meiners Mann und Frau überwiegend unter physiologischen Aspekten differenzierte (Leitdifferenz ‚stark – schwach‘) und Kant unter ästhetisch-anthropologischen (‚edel – schön‘), so ist Hegels diesbezüglicher Ausgangspunkt in der Phänomenologie die Familie als ein „natürliches sittliches Gemeinwesen“213 (‚Gatte – Gattin‘). Zunächst scheint Hegel einer emphatischen Auffassung der Ehe folgen zu wollen, die Liebe mit unmittelbar subjekttheoretischer Relevanz als Vehikel der Selbstfindung codiert: Das „Verhältnis des Mannes und der Frau [ist] das unmittelbare Sich-Erkennen des einen Bewußtseins im andern und das Erkennen des gegenseitigen Anerkanntseins“.214 Im weiteren nahm er davon jedoch empfindliche Abstriche vor: erstens weil „dies Verhältnis […] seine Wirklichkeit nicht an ihm selbst [hat], sondern an dem Kinde – einem Anderen, dessen Werden es ist und worin es selbst verschwindet“.215 Dabei handelt es sich bis in den Wortlaut hinein um denselben dialektischen Grundgedanken, der Goethe, wie gesehen, so vollständig aus der Fassung brachte (vgl. oben III.1.e). Zweitens schien ihm das Selbstgefühl des weiblichen Partners, „das Fürsichsein, dessen sie fähig ist“, auf eine Weise limitiert, die ihn zu dem unzweideutigsten Urteil veranlaßte: „die Frau entbehrt das Moment, sich als dieses Selbst im Anderen zu erkennen“.216 Dagegen werde der Mann „vom Familiengeiste in das Gemeinwesen hinausgeschickt“, um „in diesem sein selbstbewußtes Wesen [zu finden]“.217 Er gehöre sodann der Sphäre des „menschliche[n] Gesetz[es]“ an, während die Frau als „Vorstand des Hauses“ die „Bewahrerin des göttlichen Gesetzes“ abgibt.218 Die zwei Jahre nach der Phänomenologie erschienenen Wahlverwandtschaften nehmen sich vor dem Hintergrund der von Hegel inspirierten Geschlechter- und Eheideologie des 19. Jahrhunderts als frühzeitige Störmeldung aus. Mittler, der sich von der priesterlichen Seelsorge auf die „Rechtskunde“ verlegt hat und darin nun die „Landeskollegien“ er213 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 330. Zu Hegels Metapyhsik des verschiedenen Geschlechtsverhaltens von Mann und Frau aufschlußreich Hösle: Hegels System, S. 530-537 („Die Familie“). Hegels auf das Geschlechterverhältnis und die Ehe bezügliche Ausführungen in späteren Arbeiten wie der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und den Grundlinien der Philosophie des Rechts, die in manchem noch einmal anders lauten, liegen weitgehend außerhalb von Goethes Gesichtsfeld. 214 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 335f. 215 Ebd., S. 336. 216 Ebd., S. 337. 217 Ebd., S. 339. 218 Ebd., S. 338.

Geschlechtsspezifik der Subjekttheorie

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setzt (8,284), vertritt mit der Bestimmung des „Ehstand[s]“ als „Grund aller sittlichen Gesellschaft“ (8,338) weniger die ältere, aufklärerische Auffassung der Ehe als Privatvertrag denn die Position eines Geschlechterverhältnisses als Gegenstand staatsbürgerlichen Interesses. Indes zeigt sich, daß diese Position in den „dunklen Regionen“, in denen sich Mittler „immer unbehaglicher fühlte, je länger er darin verweilt“ (8,390), keinerlei Orientierung stiftet: Die von Mittler auf das Kind Otto gesetzte Hoffnung, der Ehe zwischen Charlotte und Eduard eine neue Wirklichkeit zu geben (vgl. 8,391), wird katastrophal enttäuscht. Eduard fühlt sich mit seiner Kriegsteilnahme nicht etwa in das Gemeinwesen hinausgesendet, sondern pflegt darin seinen privaten, lebensmüden Egoismus. Ottilie, obschon „Haushälterin“ (8,307), vergeht sich an den göttlichen Gesetzen der Eheheiligung, der Aufrichtigkeit und des Lebensschutzes. Richtig bleibt nur, daß sie sich in Eduard nicht als sich selbst erkennt, sondern Echo im Zeichen ihrer Nicht-Identität ist.

IV. „Wenn wir uns selbst fehlen“ Aporien des Subjekts 1. Referenzpunkte in Goethes literarischem Umfeld a) Impulse durch Herder Die Phänomene und Begriffe der personalen Identität, des Individuums und seiner Subjektivität schienen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der Phase ihrer semantischen Hochkonjunktur, die sich maßgeblich an die Wirksamkeit Johann Gottfried Herders knüpft, nicht nur intakt, sondern für vielerlei Wissensfelder überwältigend produktiv. Goethes früher Mentor und langjähriger Weggefährte (bis zum Bruch der Freundschaft 1795) vertrat über weite Strecken einen freudigen subjekttheoretischen „Expressivismus“ (wie Charles Taylor es faßt), der durch die zentrale Vorstellung gekennzeichnet ist, jede Person habe naturgegeben – kraft einer religiös fundierten Ontologie – ihre eigene ursprüngliche Art zu sein.1 Als einer von mehreren diesbezüglichen Schlüsseltexten hält beispielsweise der Aufsatz über Liebe und Selbstheit (1781) fest: „Wir sind einzelne Wesen, und müßen es seyn, wenn wir nicht […] uns selbst verlieren wollen“.2 Der Mensch ist zum Subjekt-Sein bestimmt und nach allen Seelen- und Leibvermögen darauf hin organisiert. Daß Liebe zur in ihr versprochenen Selbstfindung beiträgt, erfordert eine subjekthygienische Diätetik zwischen Verausgabung und Verschließung. Als Voraussetzung zureichender Erkenntnis wird die stabile Einheit des Selbst unter anderem in der Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1774) reklamiert: „Der innere Mensch […] ist nur Einer“.3 – Bedenkliche Risse in Herders Individualitätsarchitektur werden jedoch symptomatisch in deren Genese sichtbar, besonders deutlich etwa in der Abhandlung Über Thomas Abbts Schriften von 1768, einem Charaktergemälde des eben verstorbenen Schriftstellers, das einleitend „von der Kunst redet, die Seele des andern abzubilden“4. Herder legte dafür die Diskursregel fest: „Eine Menschenseele ist ein Individuum im Reiche der Geister: sie empfindet nach einzelner Bildung […], [sie ist] wie ein einzelnes

1 Vgl. Taylor: Quellen des Selbst, S. 328 u. bes. S. 639ff. 2 Johann Gottfried Herder: Liebe und Selbstheit. Ein Nachtrag zum Briefe des Hr. Hemsterhuis über das Verlangen (1781). In: Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1877-1913, Nachdruck 2. Aufl. Hildesheim u. a. 1978 (zuerst 1967f.), Bd. 15, S. 304-326, hier S. 321. 3 Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume (1778). In: Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1877-1913, Nachdruck 2. Aufl. Hildesheim u. a. 1978 (zuerst 1967f.), Bd. 8, S. 165-235, hier S. 178. 4 Herder: Ueber Thomas Abbts Schriften, S. 257.

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Phänomen, wie eine Seltenheit darzustellen“.5 Gehalten wird das Plädoyer einer Psychologie, die nicht erforscht, was „alle Menschlichen Seelen gemein haben“, sondern „auf die Besonderheiten einzelner Subjekte [merkt]“.6 Obwohl die besagte individuelle Singularität und Einheit naturgegeben sein soll, ist ihre Beschreibung merkwürdig obsessiv in den Sinnbereich der bildenden Künste gebannt: Die Rede ist vom „Bild Abbts“, von seinem „Torso“ und „Denkmaal“.7 Herders Laudatio auf Abbts Individualität realisiert sich als Nekrolog: „an seinem Grabe“, wie bereits der Untertitel meldet, und setzt also gerade die Abwesenheit und empirische Widerstandslosigkeit dessen voraus, das sie vergegenwärtigen will. Offenkundig steht das, was so wortreich beschworen wird, im Schatten seiner Beweisschwierigkeiten. Ein entsprechendes Gefährdungsbewußtsein drängt sich mehrfach vor: Die Natur habe (nur) „schmale Grenzen um jedes Einzelne gezogen“8; das Ich, aus dem sich „alle Ideen“ des Menschen entwickelten, sei selber eine „dunkle Idee“, deren „disharmonische[] Stimmungen“ erst noch zu „akkordieren“ seien.9 Schließlich wird die Erfahrung der eigenen Identität – einem Topos der visio mystica folgend – als klar, aber konfus herausgestellt, damit allerdings auch der bewußtseinsmäßigen Unkontrollierbarkeit überantwortet: „Mit einem lebendigen aber verworrenen Bewußtseyn unsrer selbst, gehen wir einher wie in einem Traume, von welchem uns nur bei Gelegenheit ein und ander Stück einfällt, abgerissen, mangelhaft, ohne Verbindung“.10 Verlegte Herder das Ich auf dieser Seite in einen schwer beobachtbaren, gefühlsphilosophischer Spekulation anheimgestellten „dunklen Grund“, so suchte er auf der anderen Seite eine Operation zu dessen letztgültiger Versicherung und fand sie im Himmel der Metaphysik: „nur Er, der Schöpfer, kennet eine von ihm erschaffne Seele!“11 Herder wußte, warum er auf dem diskursiven Minenfeld der Subjekttheorie vorzugsweise den religiös tingierten Terminus der „Seele“ benutzte und sich im übrigen hütete, die Instanz des persönlichen Gottes zu beseitigen (vgl. unten IV.2.b). 5 Ebd., S. 257. Es sind diese Forderungen, die ihre Wirkung unter anderem bei Blanckenburg zeitigten (Versuch über den Roman, S. 277): „soll der Dichter nicht seine Personen individualisieren?“ 6 Herder: Ueber Thomas Abbts Schriften, S. 257. 7 Ebd., S. 268. Dazu Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 10 u. 49ff. 8 Ebd., S. 323. 9 Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wißenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen. Über Riedels Theorie der schönen Künste (1769). In: Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1877-1913, Nachdruck 2. Aufl. Hildesheim u. a. 1978 (zuerst 1967f.), Bd. 4, S. 3-198, hier S. 28f. u. 38f. 10 Herder: Ueber Thomas Abbts Schriften, S. 258. 11 Ebd. Zu Herders Metaphysik als Regulativ der rehabilitierten Sinnlichkeit vgl. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 620. Zur Gleichursprünglichkeit von IchEmphase und Ich-Verzweiflung (hinsichtlich Rousseaus) vgl. Claudia Jünke: Selbstschwächung und Selbstbehauptung – Zur Dialektik moderner Subjektivität. In: Von Rousseau zum Hypertext. Subjektivität in Theorie und Literatur der Moderne. Hg. v. Paul Geyer u. ders. Würzburg 2001, S. 9-18.

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Die mit Hilfe solcher und anderer Verbürgungstechniken insbesondere seit den 1760er Jahren euphorisch fortgesetzten Bedeutungsinvestitionen in das Individualitätskonzept begannen während der gesamtkulturellen Krisenzeit um 1800, der gegenseitigen Überlagerung beträchtlicher Verschiebungen in Gesellschaftsstruktur und Semantik, empfindliche Plausibilitätsverluste zu zeitigen. Die massenhafte Spekulation auf den stabilen Orientierungswert des Subjekts erzeugte gleichsam eine Sinnblase, die in dem Augenblick, als im Zuge eines letzten ordo-Abbaus alles von ihr erwartet wurde, zu platzen drohte. Georg Christoph Lichtenberg und Jean Paul (obschon sich letzterer mehr noch denn Goethe als Herder-Bewunderer verstand) traten als die scharfsichtigsten Analysten jener Krise hervor. Sie verlegten sich nicht so sehr aufs Leugnen der enttäuschten Gewinnerwartungen und auf Neuauflegungen des Ich, sondern gestalteten vielmehr jeder auf seine Weise die Insolvenz des Subjekts: Lichtenberg mit der reservierten Plötzlichkeit der Kurzmeldung, Jean Paul schonungs- und gefühlvoller mit Erzählungen von Verwandlungen, Vertauschungen und Identitätswechseln (vgl. unten). Aber weisen sie sich darin, abgesehen von der teils relativen, teils absoluten Explizitheit ihrer Desillusion, als Gegenklassizisten aus? Wird dadurch also Goethes Position im Subjektdiskurs hinreichend oder auch nur ungefähr bestimmt? Wie nah, mit anderen Worten, stand Goethe in den Mitteln und im Ergebnis noch dem von Herder geprägten Individualitätsethos? b) Repulsion und Attraktion: Goethe und Lichtenberg „Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.“12 Diese Erkenntnis einer genuinen literarischen Psychologie hinderte Lichtenberg zugleich am großen Wurf einer zusammenhängenden autobiographischen Selbstdarstellung. Statt dessen zerfiel der Spiegel seiner Eigenrepräsentation in die Splitter tagebuchförmig aufgezeichneter Aphorismen.13 Blitzartige Selbsterhellung auf Augenblicke war eher seine Sache als die gleichmäßige 12 Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher (1765-1799). In: Ders.: Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. 4 Bde. 3. Aufl. München 1980ff. (zuerst 1968ff.), Bd. 1. u. Bd. 2, S. 7-566, hier Bd. 2, S. 412. 13 Zum Gesamtrahmen der Ich-Thematisierung bei Lichtenberg vgl. Wuthenow: Das erinnerte Ich, S. 193-203 („Lichtenberg: Mosaik aus Fragmenten“). Nach Gerhard Neumann („Rede, damit ich dich sehe“. Das neuzeitliche Ich und der physiognomische Blick. In: Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne. Hg. v. Ulrich Fülleborn und Manfred Engel. München 1988, S. 71-107) beantwortet Lichtenberg die Frage, ob sich das Individuum aus der Lektüre der Körperzeichen oder der Seelenzeichen erschließe, zugunsten der zweiten Lösung im Dienst der „Kenntnis des einen, unverwechselbaren Ich“ (S. 87). Skeptischer dazu Helmut Pfotenhauer (Sich selber schreiben. Lichtenbergs fragmentarisches Ich. In: Ders.: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik. Tübingen 1991, S. 5-26), der Lichtenbergs Einsicht in die Unbeantwortbarkeit der Subjektfrage akzentuiert.

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Ausleuchtung unter dem italienischen Himmel Goethes. Mit einem persönlichen Widerspruch zwischen beau esprit und (häßlichem) Körper belastet, auf den Goethe einigermaßen boshaft sein Wohlgefallen an der Karikatur zurückführte,14 hegte der Göttinger Professor implikationsreiche Zweifel an der Integrität des Ich. Der Einzelne verfügt demnach über keinerlei stabile Identität: „Unsere Seele ist ein Chamäleon“ und unterliegt „frappante[n] psychologische[n] Veränderungen“.15 Die Instabilität und das Transitorische zerdehnter Körperformen, für die Lichtenberg im Streit um die Karikatur (gegen Goethe) Partei ergriff, ist das außenseitige Pendant hierzu. „[M]ißtrauisch gegen mich selbst“,16 schlug sich Lichtenbergs Ich-Skepsis als Skrupel vor der Selbstsetzung des Autors nieder und stellte notwendig auch die Effabilität des Individuums, d. h. die Möglichkeit des „Portrait[s] einer Seele“, in Frage: „Wenn man nämlich gnau [sic] auf die Ausdrücke acht hat, deren sich die Schriftsteller bei solchen Entwürfen bedienen, so wird man oft etwas Unbestimmtes, Wandelbares bemerken“, heißt es dazu in dem Aufsatzentwurf Von den Charakteren in der Geschichte (1765),17 mit dem Lichtenberg zur zeitgenössischen Diskussion um die Figurenpoetik beigetragen hat (vgl. oben II.1), ohne weiter zwischen medialen und psychologischen Gründen für die Nicht-Repräsentierbarkeit des Individuums zu unterscheiden. Punkt für Punkt scheint Lichtenberg, den sich die Subjektkritik um 1900 zum Zeitgenossen erwählte,18 der „genaue Gegensatz“19 zu Goethe, dem Meister der großen Erzählung, der in seiner Autobiographik das unzerstückbare Individuum aufs Podest hob und in seiner Kunstanschauung den vollendeten Menschenleib aus geprägter Form hochhielt: „Es gehört durchaus eine gewisse Verschrobenheit dazu, um sich gern mit Karikaturen und Zerrbildern abzugeben“ (8,451). Lichtenbergs Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche degoutierten ihn, so verraten die Tag- und Jahres14 Vgl. mit Friedrich Wilhelm Riemer, März 1806 (Goethes Gespräche 2,59). Zu den zwischen Göttingen und Weimar zahlreich hin- und hergehenden Invektiven vgl. Horst Zehe: Vom „Furor Wertherinus“ zu „Göthens Farbengeschichte“. Goethe, Göttingen und Lichtenberg. In: „Der gute Kopf leuchtet überall hervor“. Goethe, Göttingen und die Wissenschaft. Hg. v. Elmar Mittler, Elke Purpus, Georg Schwedt. Göttingen 1999, S. 143-164, sowie ferner Gerhard Neumann: „Heut ist mein Geburtstag“. Liebe und Identität in Goethes ‚Werther‘. In: Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft. Hg. v. Waltraud Wiethölter. Tübingen u. a. 2001, S. 117-143, hier S. 121-127. 15 Georg Christoph Lichtenberg: Verschiedene Arten von Gemütsfarben (1796). In: Ders.: Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. 4 Bde. 3. Aufl. München 1980ff. (zuerst 1968ff.), Bd. 3, S. 577-582, hier S. 577 u. 581. 16 Georg Christoph Lichtenberg: Über die Macht der Liebe (1777). In: Ebd., S. 515-521, hier S. 516. 17 Georg Christoph Lichtenberg: Von den Charakteren in der Geschichte (1765) In: Ebd., Bd. 3, S. 497-501, hier S. 500. 18 Vgl. Mach: Die Analyse der Empfindungen, S. 23. 19 Wuthenow: Das erinnerte Ich, S. 40.

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hefte für 1795, als Delektierung an „excentrische[n] Fratzen“20. Goethe war bemüht, die Deformation des Subjekts aus den verschiedenen Registern seiner Selbst-Aufzeichnung fernzuhalten und vermochte dies gewissermaßen dadurch, daß er ihr Thema von der Seite der Irrealisierung des Ich nahm und solchermaßen in die Romane und Erzählungen abzog. Die massive Ästhetisierung erzählter Figuren kann für den Subjektgedanken dieselbe Sprengkraft wie die unmenschliche Verzerrung entfalten. Sie liegt auf der Linie eines vorzugsweise ‚weiblichen‘ Gestalttypus, den Lichtenberg in den Kupferstichbeschreibungen, Goethes Preziosenmetaphorik verwandt, als „zerbrechliche Marzipanpuppe“21 namhaft macht. Die stilisierende Idealisierung wird nicht weniger mit Stücken von Individualität und der Mortifikation der Person bezahlt als die karikierende Bestialisierung. „Lichtenberg’s Schriften“, so lautet ein Aphorismus der Wanderjahre, „können wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute bedienen“ (10,761). Diese Aussage, deren Relevanz für Goethes Erzählen man bislang nicht konsequent zu deuten unternommen hat, ist vielleicht gerade unter den Auspizien der Figurenpoetik und Subjektrepräsentation ernst zu nehmen. Die Empfindung der Entzogenheit des Selbst gehört zu den bittersten Klagen des jungen Werther: „Ich soll, ich soll nicht zu mir selbst kommen […]. O Schiksal! O Menschheit!“ (8,184). Diese Exklamation weist das Problem nicht nur als Angelegenheit der menschlichen Konstitution aus, sondern insinuiert mit dem hohl drehenden Wiederholungstick von ‚ich soll, ich soll‘ zugleich das Zirkuläre von Werthers Selbstbestimmungsversuchen. Mignon laboriert unter anderem an ihrer nicht festgestellten Geschlechtsidentität – ein Themenkomplex, zu dem sich Lichtenberg erst 1794, im Vorjahr des Publikationsbeginns der Lehrjahre, in der ersten Beschreibung Hogarthischer Kupferstiche geäußert hatte. Es geht dort um das Bild der Herumstreichenden Komödiantinnen, das dem Titel zum Trotz doch auch männliche Gestalten zeigt, was Lichtenberg zu delikaten „Geschlechts-Untersuchungen“ und Phantasien von „eine[r] Bande Hermaphroditen“ inspiriert.22 Auf die lebensgeschichtliche Identität bezogen, lautet ein Hauptsatz von Wilhelm Meisters verschlungener Vita, daß wir uns zuweilen in der Erinnerung mit unserem früheren, 20 Tag- und Jahreshefte 1795 (FA I 17,48). Dazu Arnd Beise: „Wenn man auch nicht lichtenbergisieren kann noch will“. Goethes Gegenentwurf zu Lichtenbergs Manier, Bilder zu erklären. In: Jahrbuch der Lichtenberg-Gesellschaft 1993, S. 56-77: Goethe opponiere strikt gegen Lichtenbergs an einer Zerrbildkunst geschulten Menschendarstellung, da diese in Einzelheiten zerfalle. Einig sind sich Goethe und Lichternberg immerhin schon in der Zurückweisung der Signaturenlehre der Physiognomik, die jedem Körperzeichen eine Bedeutung zuweist; vgl. die anregende Studie von Richard Gray: Sign and ‚Sein‘. The Physiognomiestreit and the Dispute over the Semiotic Constitution of Bourgeois Individuality. In: DVjs 66 (1992), S. 300-332, bes. S. 325f. 21 Georg Christoph Lichtenberg: Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche (1794-1799). In: Ders.: Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. 4 Bde. 3. Aufl. München 1980ff. (zuerst 1968ff.), Bd. 2, S. 660-1060, hier S. 918. 22 Ebd., S. 669 u. 671.

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„veränderten Selbst wie mit einer dritten Person unterhalten“ (9,433). Die Wahlverwandtschaften nehmen die bemerkenswerte Unterscheidung zwischen der Spaltung des „eine[n] Ich“ (Eduards) und dem Auftreten „ein[es] zweite[n] Ich“ (Eduards Freund, der Hauptmann) vor (8,296). Darauf bezieht sich unter anderem die exuberante Identitätskonfusion in der Tapetentür-Szene: „Ich bins“, ruft Eduard. „Wer? entgegnete Charlotte […]. Ihr stand des Hauptmanns Gestalt vor der Türe. Etwas lauter klang es ihr entgegen: Eduard!“ (8,352). Derlei Vorkommnisse erstrecken sich bis in logische Paradoxien hinein: Eduards Glas, das Symbol seiner Liebe, „war dasselbe und nicht dasselbe“ (8,527).23 In den Wanderjahren dehnt sich dieser Sachverhalt sogar auf Personen aus: „Es war meine Geliebte und war es nicht“ (9,843), sagt Lothario über seine Begegnung mit der Pächterstocher. Mit anderen Worten: ‚A‘ ist nicht mehr nur ‚A‘, sondern zugleich ‚Nicht-A‘. c) Wiederholte Spiegelungen: Goethe und Jean Paul Zum komparativen Verständnis der Formen, in denen sich Goethes Subjektzweifel artikulieren, vermag auch ein Blick auf das Verhältnis zwischen Goethe und Jean Paul beizutragen, das vor allem in den 90er Jahren intensiv mit Polemik durchwirkt war.24 Goethes langanhaltende Abneigung gegen Jean Pauls Erzählen knüpfte sich wesentlich (wie schon im Zusammenhang mit Lichtenbergs Karikaturenlust) an den gestaltästhetischen Vorwurf unfest konturierter „Fratzen“25. Erst der späte Goethe signalisierte Sympathien für diese Formverstöße, indem er sie im Abschnitt „Vergleichung“ der DivanNoten unter der Perspektive einer „Orientalität“26 betrachtete, die sich bereits für seine Erzählstrategien der 90er Jahre – durch die Prägewirkung der Tausendundeinen Nacht auf die Unterhaltungen – als ‚öffnende Macht‘ erwiesen hat (vgl. oben I.2.a). Jean Paul hat mit Ich-Konzepten experimentiert, die in der Idee einer „Konjekturalbiographie“ ihren Status als freischwebende Fiktionen zu erkennen geben.27 Für seine Romanfiguren gilt Vergleichbares, insofern ihnen eine lebensgeschichtliche Identität, die sich aus Kausalität und 23 Zur hierfür relevanten Strukturhomologie von dinglicher und personaler Identität vgl. Meuter: Narrative Identität, S. 10. 24 Vgl. Peter Sprengel: Einleitung. In: Jean Paul im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Jean Pauls in Deutschland. Hg. v. dems. München 1980, S. XIII-XCII, hier S. XXVIII-XXXIV; vgl. Goethes Äußerungen zu Jean Paul S. 97f. u. 342f. 25 Zahme Xenien (Der Ost hat sie schon längst verschlungen) (FA I 2,632). 26 West-oestlicher Divan (FA I 3/1,203). Ebenso prägnant wie aufschlußreich dazu Hendrik Birus: Vergleichung. Goethes Einführung in die Schreibweise Jean Pauls. Stuttgart 1986. 27 Dazu Helmut Pfotenhauer: Antiklassizismus und Bedenken vor dem Ich. Jean Pauls Autobiographik. In: Ders.: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik. Tübingen 1991, S. 221-257; sowie Herbert Kaiser: Jean Paul lesen. Versuch über seine poetische Anthropologie des Ich. Würzburg 1995. Zum Kontext der romantischen Ich-Kritik vgl. pointiert Kamper:

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Kontinuität entbinden würde, vorenthalten bleibt. Hinzu treten die Leitmotive der Verwechslung, Vertauschung und Verwandlung, des Doppelgängers, des Spiegel- und Porträtbildes, unter deren Einfluß die von ihnen betroffenen Figuren (mit einem Lieblingswort Jean Pauls) ‚zerflattern‘. „Der Mensch“, so eine Maxime des Hesperus, die gewissermaßen auch einen Kommentar zur Figurenpoetik des Romans darstellt, „hat hier dritthalb Minuten: eine zu lächeln, eine zu seufzen und eine halbe zu lieben; denn mitten in dieser Minute stirbt er“.28 Gegen solche Flüchtigkeit des Menschen, der nach diesen Vorgaben niemals zur Persönlichkeit werden könnte, formulierte Goethe betont vitalistisch und mit ausdrücklichem Bezug auf die Hesperus-Stelle: „Ihrer [der Minuten] sechzig hat die Stunde,/ Über tausend hat der Tag./ Söhnchen! werde dir die Kunde/ Was man alles leisten mag“.29 Der so Angeredete blieb die Antwort, wie man weiß, nicht schuldig. Namentlich der Titan (1800-03) entstand in teils offener, teils versteckter Dialogizität sowohl hinsichtlich des Werthers als auch der Lehrjahre.30 Jean Pauls Goethe-Kritik kristallisierte dabei insbesondere in den Gestalten Lindas und Roquairols, deren ins Nichts laufende Ichbesessenheit einen am Leben frevelnden Ästhetizismus hervortreibt. In der expliziten Wertheriade, die Roquairol mit Linda auf der Redoute des 16. Zykels aufführt, probt Roquairol die spätere Zerstörung Lindas wie auch seine eigene Selbstabschaffung vermittels des Pistols. Nicht weniger gründlich scheitert freilich auch der Sympathieträger Schoppe an den Aporien des Ich: „Ich gleich Ich, sagt‘ er noch leise, aber dann brach der überwältigte Mensch“ nach der Begegnung mit seinem Doppelgänger „zusammen“.31 Das Urteil, das Jean Paul mit dieser Dekonstruktion vollstreckt, gilt keineswegs

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Zur Geschichte der Einbildungskraft, S. 69-85 („Romantik in Marburg. Über einen Versuch, kein Subjekt sein zu wollen“): Indem er sich in Gesellschaft paradox verhalte, seine Geschlechtsrolle nicht wahrnehme, Selbstverantwortung ablehne etc., wehre sich Clemens Brentano gegen die gesellschaftliche Forderung, ein Subjekt sein zu müssen. Jean Paul: Hesperus oder 45 Hundsposttage. Eine Lebensbeschreibung (1795). In: Ders.: Werke. Hg. v. Norbert Miller. München 1963, Bd. 1, S. 472-1236, hier S. 540. Ihrer sechzig hat die Stunde (FA I 2,807). Vgl. Wulf Köpke (Jean Pauls Auseinandersetzung mit ‚Werther‘ und ‚Wilhelm Meister‘ im ‚Titan‘. In: Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1984, S. 69-82), der im Titan ein für das ganze 19. Jahrhundert symptomatisches „Zeugnis der intensivsten Faszination und Abwehr Goethes“ (S. 82) erblickt. Jean Paul: Titan, S. 800. Dazu Hans-Christoph Koller (Bilder, Bücher und Theater. Zur Konstituierung des Subjekts in Jean Pauls ‚Titan‘. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 21 [1986], S. 23-62), der eine für die Subjekte ruinöse Bildung durch Bilder im Titan fokusiert, sowie Jochen Golz (Welt und Gegen-Welt in Jean Pauls ‚Titan‘. Stuttgart u. a. 1996, S. 103-108 [„Zur Genesis von Jean Pauls Individualitätskonzept“]), der an der Integrität zumindest des ‚hohen Individuums‘ bei Jean Paul festhält. Wichtig auch der Hinweis von Schmidt (Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 433-446 ([„Der ‚Titan‘ als Anti-Titan“], hier S. 325), daß „die Genie-Ästhetik als ein ideologisches Epiphänomen der so viel allgemeineren und tiefer reichenden SubjektivismusProblematik zu sehen“ sei. Vgl. ferner Paul Heinemann: Potenzierte Subjekte – potenzierte Fiktionen. Ich-Figurationen und ästhetische Konstruktionen bei Jean Paul und Samuel Beckett. Würzburg 2001.

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nur dem Par-force-Ich des Genies, so als gäbe es einen richtigen und falschen Ich-Gebrauch. Albano ist als therapeutische Gegenanzeige nicht nur wenig eindringlich geraten, sondern versagt als solche, indem er abhängig und fremdbestimmt ganz der Faszination Roquairols sowie Schoppes unterliegt und ein Gegenprogramm mit ausreichender innerer Füllung nicht zu stellen vermag. Ebenfalls mit starken subjekttheoretischen Akzenten zielt die Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein (1796) auf das Weimarer Kunstprogramm.32 Dem egozentrisch-unmenschlichen Kunstrat Fraischdörfer, der zugunsten der schönen griechischen Form auf alle Materie verzichten will, bietet dort ein schillerndes Erzähler-Ich mit dem Namen Jean Pauls Widerpart, das seinerseits in einer gewissen Pauline (abgeleitet vom Namen ihres Verfassers) seinem weiblichen alter ego nachsetzt. Die an Identität und Identifikation interessierte Absicht, „der Dame durchaus vorzulaufen, um ihr ins Gesicht zu sehen“, wird hierbei auf vielfache Weise behindert: zuerst nur durch den „Höfer Schlagbaum“, dann aber dadurch, daß sich immer mehr Imaginationen über das „magische Vis-à-vis“33 legen: spirituelle („heilige Jungfrau“ und „Engel“), aber auch materialistische („Spinnmaschine“).34 Am nächsten Haltepunkt sieht der Erzähler die Dame nur noch sich „in ihren Schleier wickeln und abfahren“. Kommt die Flüchtige dem Erzähler hier noch wie eine „Netzmelone“ vor, so an der folgenden Station – im Fluß einer metaphorischen Dauerverwandlung – wie eine „fliegende Bienenkönigin“.35 Derlei Verschlüsselungen, welche die Entzifferung personaler Identitäten behindern, wendet die Erzählerfigur ‚Jean Paul‘ in den Atempausen der Verfolgung auch auf sich selber an. Es gilt ihm nämlich, die eigene Identität vor der Inquisition des hinzustoßenden Kunstrats Fraischdörfer zu verbergen. Das physiognomische Incognito ist bereits gewahrt: „Mein Gesicht […] war ihm ein unbekanntes inneres Afrika.“36 Die Ummünzung des Namens aus ‚Jean Paul‘ in ‚Egidius Zebedäus Fixlein‘ tut ein übriges. In der Folge steht es ihm frei, „aus meinem Fixleinschen Charakter heraus[zufallen]“37 oder in ihn hineinzuschlüpfen. Nicht genug damit, bringt die Geschichte meiner Vorrede auch explizit figurenpoetologische Fragen zur Sprache: Wenn der Kunstrat theoretisch dafür hält, im Roman sei daran gelegen, „den Charakter 32 Hierzu Kurt Wölfel: Antiklassizismus und Empfindsamkeit. Jean Paul und die Weimarer Kunstdoktrin. In: Ders.: Jean Paul-Studien. Hg. v. Bernhard Buschendorf. Frankfurt/M. 1977, S. 238-258, hier S. 240-246. In die Irre führt diese Interpretation, wo sie der Kritik an der klassizistischen Hohlform der Person das Konzept einer intakten Individualität auf Seiten Jean Pauls gegenüberstellt. 33 Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein, S. 19. 34 Ebd., S. 17f. 35 Ebd., S. 28f. 36 Ebd., S. 20. 37 Ebd., S. 24.

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des wahrhaften Mannes durchzusetzen und zu halten“,38 erweist sich die gleichzeitig ablaufende Praxis von Jean Pauls Erzählen als der Gegenbeweis fiktionalpersonaler Inkonsistenz. Geht es Fraischdörfer anhand seiner eigenen Person wie auch anhand von Erzählcharakteren um ironiefreien Selbstbesitz, so vermittelt sich in Jean Pauls Narration, daß die Auflösung fester personaler Konturen nicht unbedingt (wie in den Fällen Roquairols und Schoppes) schmerzhaft sein muß, sondern – an der „krumme[n] Linie des Humors“39 entlang – eine glückliche Entlastung von Konsistenzpflichten und eine Befreiung zu extremen Möglichkeiten bedeuten kann, beides von besonderen ästhetischen Reizen getragen. Hingegen wird die forcierte Ichheit (sei es in ihrer titanischen, sei es in ihrer kunsträtlichen Ausprägung) als substanzlos dekuvriert: als „Darstellungen ohne Stoff“40, die ins Bodenlose sinken müssen. Außerhalb des Imaginationsraums seiner Studierstube ist denn Fraischdörfer auch nur „ein schwacher Schattenriß und Nachstich seines eignen Ichs, ein Figurant und curator absentis desselben“.41 In wichtigen Teilen hat man die Subjektbehandlung Jean Pauls in Opposition zu der auf den Höhen der Weimarer Menschheit gesehen: als müsse erst durch Jean Paul und gegen die Absicht Goethes enthüllt werden, daß die Figur Wilhelm Meisters eine identitätspsychologische „Leerstelle“ mit dem „Mangel eines zukunftsweisenden Ziels“ symbolisiere.42 Bei näherer Betrachtung unterscheidet sich Jean Pauls und Goethes Erzählen nicht durch Subjektkritik hier und Subjektbehauptung dort, sondern durch die Mittel und Wege der beiderseitigen Subjektkritik. Den Konjekturalstatus des Individuums räumte Goethe zwar kaum jemals in der Autobiographik ein, regelmäßig aber im Reversbild der markiert fiktionalen Lebenserzählung: Für Wilhelm gilt im Grunde sein Leben lang die Gewohnheit aus Kindheitstagen, sich „Märchen über mich selbst zu erzählen“ (9,80). Jean Pauls Simulakren-Motivik (Spiegel-, Porträt- und Wachsbilder) tritt in Goethes Erzählen in ähnlicher Dichte und nur etwas gedämpfterer Form durch Schattenrisse (Lotte), Exequien (Mignon, Ottilie) und allfällige tableaux vivants in Erscheinung. Spiegelbilder, heißt es in den Lehrjahren, erzeugen „ein zweites Selbst“, Portraitbilder „ein anderes Selbst“ (9,884); keinesfalls bestätigen sie offenbar ein primäres, ursprüngliches Selbst. Nicht weniger virulent in Goethes Erzählprojekten ist der Verwechslungstopos, der zu mehr als nur zu Verwicklungen der äußeren Handlung dient. Zeigt er doch – entgegen dem Wunsch, ein „unvergleichlicher Mensch“ (9,529) zu sein – wie wenig sich die Ich-Prätendenten als Unverwechselbares im Fluß der Zeit zu behaupten ver38 39 40 41 42

Ebd., S. 31. Ebd., S. 27. Ebd., S. 26. Ebd., S. 21. Köpke: Jean Pauls Auseinandersetzung mit ‚Werther‘ und ‚Wilhelm Meister‘ im ‚Titan‘, S. 80.

Referenzpunkte in Goethes literarischem Umfeld

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mögen. So verschmilzt Lotte in Werthers Einbildungskraft mit dem Fräulein von B. (vgl. 8,134f.); Wilhelm fürchtet, Mignon statt Philine beigeschlafen zu haben, und glaubt, in Friedrich Mariane zu erkennen (vgl. 9,696f., 705ff.); Eduard stößt eine „sonderbare Verwechslung“ (8,351) zwischen Ottilie und Charlotte zu; in der Erinnerung Leonardos verschwimmen die Gestalten Nachodines und Valerines ineinander. Dies, obwohl auf Momente der Verdacht einer falschen Erinnerung in ihm aufblitzt: Er „hielt einen Augenblick nachdenkend inne. ‚Wie ist mir denn?‘ sagte er: ‚hieß sie auch Valerine? Ja doch‘“ (10,395); „[m]ir war indessen ganz wunderlich zu Mute, mich hatte gleich bei’m Eintritt eine Ahnung befallen daß es die Ersehnte sei; bei’m längeren Hinblick war sie es wieder nicht […] wenn sie sich umkehrte war sie es wieder“ (10,699).43 Die Fallreihe dokumentiert zugleich, daß Goethe die Phänomene der Nicht-Identität vorzugsweise auf dem Experimentierfeld der Frauenfiguren erzeugt. Die Fokussierung des Subjektdiskurses unter dem Aspekt des Illusionären des Ich scheint solchermaßen geeignet, Goethes Erzählen an die Problemlagen von Jean Pauls Erzählen näher als gewöhnlich heranzurücken. Auf programmatischer Ebene freilich, in dem Pasquill vom Chinesen in Rom (1796) beispielsweise, perhorreszierte Goethe das „luftig Gespinst“ Jean Paulscher Manier zugunsten der vermeintlich „soliden Natur“ (1,706), die offenbar dem eigenen, objektiven Stil zugrunde liegen soll. In der literarischen Praxis schließt sich daran aber keine Differenz zwischen digressiven Subjekten einerseits, soliden Subjekten andererseits an. Spätestens für die Wanderjahre geben die „luftig Gespinst“ den treffendsten Ausdruck für eine Welt von Figuren, die geradezu gespenstisch an Kontur verlieren. Eine Digressionsangst, die sich immer wieder in der ästhetischen Petrefaktion fiktiver Menschen Luft verschaffte, konvertierte hier endgültig in eine Digressionslust, die zur Verflüssigung und Verflüchtigung des Individuums ausschlägt. Goethe hat seinem letzten Roman sogar einen Hinweis auf Jean Paul eingebaut. Er führte damit den Dialog weiter, den Jean Paul mit dem Titan eröffnete, insoweit dieser Replik auf die Lehrjahre ist (so daß sich hier auch einmal, entgegen der sonstigen Sachlage, ein produktiver Einfluß Jean Pauls auf Goethe verzeichnen läßt). Isola Bella und der Lago Maggiore, das Lokal von Albanos großartig inszenierter zweiter Geburt in der ersten Jobelperiode des Titan,44 geben im zweiten Buch der Wanderjahre den Schauplatz ab, auf dem Wilhelm am „Beginn eines neuen Lebensganges“ (10,497) steht.45 Er 43 Scharfsinnig hierzu Käuser: Das Wissen der Anthropologie, S. 160: „Das visuelle ‚Bild jener Bittenden‘ erhält eine ‚Gewalt‘ […], die weder sprachlich im Namen, noch psychologisch in der Identität der Person aufgehoben ist“. 44 Vgl. Jean Paul: Titan, S. 13-23. 45 Zum Zäsurcharakter dieser Episode in Wilhelms Vita vgl. Saße: „Der Abschied aus diesem Paradies“, bes. S. 98f.

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befindet sich dabei in Begleitung eines namenlosen Malers, wie dergleichen „mehrere noch in Romanen […] umherwandeln und spuken“ (ebd.), im Titan nämlich in Gestalt von Dian, Albanos landschaftszeichnendem Begleiter auf der Italienreise. Mignon hat an diesen Örtlichkeiten, wie wir nun erfahren (wovon in den Lehrjahren indes noch nicht die Rede war), die ersten Lebensjahre verbracht. Das gleiche trifft auf Albano zu. Zudem steht die ganze Wanderjahre-Episode unter dem Gesetz einer für Goethes Erzählen völlig exzeptionellen schwärmerischen Sentimentalität, die sich stilgeschichtlich viel eher von Jean Paul herschreibt: Es „entging ihnen weder Sonnenaufgang noch Untergang“ (10,499), die „Gestalten so holder Personen“ (10,501) finden sich in Umarmungen und Umhalsungen, Wilhelm „fühlte sich so begeistert“, daß er „in fremden Bildern und Gefühlen umher[schwärmte]“ (ebd.) – ein angesichts seiner sonstigen Entsagungsblässe überaus auffälliges Verhalten. Goethe schwelgt mit Jean Paul in den Bildern der ‚hohen Natur‘. Dian und Schoppe, der zweite Begleiter, beschreiben Albano die Landschaft gesprächsweise, bevor sie ihm die Augen von einer Binde befreien. Gleiches, wenn auch ohne regelrechte Augenbinde, bei Wilhelm: „In gesprächiger Hindeutung auf die wechselnden Herrlichkeiten der Gegend […], wurden ihm die Augen aufgetan“ (10,499). Jedoch erlaubte sich Goethe in diesem Pastiche46 einen antiphrastischen Zug, indem er in das Paradies der gefühlvollen Subjektivität eine Schlange legte. Denn er inszenierte nicht nur eine zweite Geburt, sondern läßt zuletzt auch des Todes gedenken. Wilhelm und seine Begleiter tragen Mignon gedanklich zum zweiten Mal zu Grabe. Zwischen Orangen und Zitronen rankt auf Goethes Isola Bella auch der „Granatapfel“ (10,499), das Symbol der Persephone – mit der Folge, daß die Landschaft „wie durch einen Zauberschlag für die Freunde zur völligen Wüste gewandelt“ (10,511) war. Der damit notwendig werdende „Abschied aus diesem Paradiese“ (ebd.) ist auch ein Abschied von Jean Pauls Erzählen. Die Wanderjahre sind offenbar nicht nur ein Erzählgeflecht, das mit allen narrativen Traditionen bricht, sondern zugleich ein ausführlicher Kommentar zu diesen Traditionen: eine Aufhebung nach Goethes eigener, literarischer Dialektik (vgl. oben II.2.a sowie unten V.1.b).

46 Als Intertextualitätsmodus im Sinne Genettes (Palimpseste, S. 38f. u. 130-139).

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2. Quellen des Selbstverlusts I a) Ständisch-familiale und liebesdiskursive Exklusionen Goethes Erzählsystem, so die These unserer Untersuchungen, erbringt bestimmte Darstellungs- und Kommentarleistungen im Blick auf die fragile, ontologisch unsolide Verfassung des Subjekts. Es verwirklicht diese Fungibilität, indem es die logischen Konstruktionsschwächen und die empirische Störanfälligkeit des Selbst inspiziert. Eine Notation, um die komplizierten Variationen dieses Themenkomplexes herauszuhören und aufzuzeichnen, soll uns nachfolgend die Tabulatur der Hauptstimmen an die Hand geben – einer Forderung von Goethes eigener Methodologie entsprechend, derzufolge „die Phänomene bis zu den Urquellen zu verfolgen“ sind.47 Es geht jetzt, ergänzend zur Situierung von Goethes Erzählen im Areal der Subjektphilosophie, um die narrative Modellierung der historisch-anthropologischen Erfahrungsaspekte eines am Subjekt ansetzenden lebensweltlichen Ordnungsschwundes. Die Topographie der wichtigsten diesbezüglichen Problemquellen umfaßt (a) ständisch-familiale und liebesdiskursive sowie (b) religionsgeschichtliche Transformationen, sodann die in (c) Vernunftkritik, (d) Leibdiskurs und (e) Gedächtniskonzeption sich aussprechenden Neumodellierungen der psychophysischen Organisation des Menschen.48 Die aporetische Zirkelstruktur des Subjekts macht sich freilich schon darin geltend, daß der Versuch, Selbstbezug als durch Fremdbezug generiert zu begreifen, jenes Selbst, das aus den Quellen erst gespeist werden soll, bereits voraussetzt. Unter den handgreiflichsten Ursachen sowohl der Entfesselung als auch des Problematischwerdens von Individualität verlangt zuerst die Auflösung der Ständegesellschaft mit ihrem dichten Netz von Ritualen, Verhaltens- und Denknormen Beachtung; prinzipieller betrachtet: der Umbau einer segmentär differenzierten in eine funktional differenzierte Gesellschaftsstruktur,49 der 47 Einleitung zur Farbenlehre (FA I 23/1, 28). 48 Interessanterweise scheint diese Topik, die sich ganz aus dem Bewußtseinshorizont des 18. Jahrhunderts ergibt, nicht sonderlich von den Varietäten der gegenwärtigen Selbstbewußtseinstheorie abzuweichen; vgl. Manfred Frank: Vorwort. In: Analytische Theorien des Selbstbewußtseins. Hg. v. dems. Frankfurt/M. 1994, S. 7-34. 49 Vgl. die konzise Beschreibung dieser sozialen Wandlungsvorgänge durch Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie, bes. S. 162f. u. 219ff.; auf literaturgeschichtliche Zusammenhänge übertragen von Willems: Das Problem der Individualität, bes. S. 2f. u. 83-91; in den Perspektiven der Marxschen Selbstentfremdungsthese und des ‚vereinzelten Einzelnen‘ Sigrid Lange: Die Konzeption der Persönlichkeit in Goethes Frühwerk. Untersuchungen zum dramatischen Schaffen und zur Erstfassung des ‚Werther‘-Romans. Jena 1980, bes. S. 5-14. Der Zusammenhang von Individualisierung und gesellschaftlicher Differenzierung ist aber bereits auch Christoph Meiners (Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 31) nicht entgangen: „In den ersten originalen Gesellschaften waren alle Menschen, wegen der gleichen Lebensart, Erziehung, sich zu ähnlich“.

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mit Verschiebungen in der literarischen Semantik zusammengreift. „Da jedes endliche geistige Wesen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort zu existieren begonnen hat, wird die Relation zu dieser Zeit und zu diesem Ort stets die Identität eines jeden dieser Wesen bestimmen, solange sie existieren“: In dieser Verallgemeinerung beschrieb Locke nichts anderes als einen Bestandteil dessen, was Luhmann Inklusionsidentität taufte.50 Über den Protagonisten der Ferdinand-Geschichte in den Unterhaltungen heißt es hierzu: „er war mit allem, was ihn umgab, zusammen gewachsen; er konnte keine Faser seiner Verbindungen, Gesellschaften, Spaziergänge und Lustpartien zerreißen“ (9,1061f.). Und Goethes Wahlverwandtschaften wissen: „Charakter, Individualität, […] Örtlichkeit, Umgebungen und Gewohnheiten bilden zusammen ein Ganzes“ (8,516). Versuche der individuellen Selbstthematisierung verwenden regelmäßig Verweise auf die Zugehörigkeit zu sozialen Kategorien. Sie stützen sich insofern auf die Partizipation an gesellschaftlichen Identifikationsangeboten, mithin auf Identität als partiell durch Institutionen garantierte Tatsache. Die Etappe der sozialen Evolution, die das 18. Jahrhundert übergreift, wird freilich gerade durch einen die Individuen betreffenden Prozeß der Exklusion aus institutionellen Verbänden gekennzeichnet. Einige der avanciertesten Vertreter literarischer Diskurse, darunter Lichtenberg, Jean Paul, aber auch Goethe, begleiteten diesen Prozeß aktiv wie reaktiv mit der Beschreibung des Individuums als etwas Unbekanntem, Spontanem und Inkonstantem. Eine eigentlich emanzipatorisch gedachte Position, nämlich die relative ständische Unabhängigkeit des Individuums, schlägt darin unversehens (wie an anderer Stelle die Abwertung der Metaphysik und die Aufwertung der Natur, vgl. unten IV.2.b) in einen Angelpunkt der Ich-Skepsis um. Das Unterfangen, die sozialen Fäden aus dem Text der eigenen Identität herauszuziehen, leistet im „Zerstückelte[n] unsers Daseins“ (9,631) der Selbstzerfaserung Vorschub. Mit einer Klasse, die in „der ganzen Garderobe von den Krönungszeiten Franz des ersten“ (8,142) dasteht, mögen sich bereits die adligen Gönner Werthers nicht mehr identifizieren, viel weniger die Glieder der Baronenfamilie, in die Wilhelm einheiratet (vgl. Lotharios Rede gegen den „Lehns-Hokus-Pokus“, 9,887). Werther sieht in den „fatalen bürgerlichen Verhältnisse[n]“ (8,130) keinen Platz mehr für sich. Und Wilhelms „altes bürgerliches Verhältnis war schon“, wie es in der Sendung heißt, „wie eine Kluft von ihm getrennt und er in einen neuen Stand aufgenommen“ (9,239). Dieser neue Stand ist indes nicht der des Adels, dessen von Wilhelm so bewunderte Vorzüge gerade in einer ausgeprägten Inklusionsidentität begründet liegen, sondern der des Schauspielers, der sämtliche Sozialpositionen beliebig imitiert und deren eigene Beliebigkeit dadurch erst 50 Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, S. 411; vgl. Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus. Luhmann nahestehend, aber empirisch gesättigter und mit Mut zur Konkretisierung Hahn: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, bes. S. 13-79.

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hervortreibt. Die Verantwortung für eventuelle Unordnungen der Identität können bei derartiger Abnabelung von sozialen Konten auch nicht länger auf diese verschoben werden – mit der Folge, daß dahingehende Anklagen allein das Individuum treffen: „nicht in deinem Stande, sondern in dir liegt das Armselige, über das du nicht Herr werden kannst!“ (9,112). Nicht weniger eindringlich gestaltete Goethe derlei modernisierungsbedingte Verlusterfahrungen im Bereich des genealogischen Anteils der Identität. Die Ständegesellschaft zerfiel nicht zuletzt von der Institution her, die den Einzelnen am genauesten in ihr lokalisierte: dem Inklusionsregulativ des Familienverbands. Zog bislang die Kette der Geschlechter dem Meer der Geschichte Breiten- und Längengrade ein, gefährdete nun die bürgerliche Kleinfamilie ihren eigenen Fortbestand. Werthers radikale Rückhaltlosigkeit entspringt vom berühmten ersten Satz an – „Wie froh bin ich, daß ich weg bin!“ (8,10) – immer auch seiner Entfremdung von Mutter und Verwandten.51 In veränderter Form gilt dies ebenso für den aus der Kaufmannsart geschlagenen Wilhelm wie auch für Lothario, dem es widerstrebt, „die Geister unserer Vorfahren hervorrufen [zu] müssen“ (8,887). Die Familienbande gering zu schätzen, provoziert indes Resultate, die ein mögliches individuelles Selbstverständnis hochgradig gefährden – sei es, daß die Werthersche Wahlmutter Natur ihre Kinder frißt, sei es, daß sich eine Paradoxierung des eigenen Ursprungs einstellt wie beispielsweise in dem Satz „Therese ist nicht die Tochter ihrer Mutter!“ (9,914), der nach dem Muster des Satzes vom Widerspruch (‚AA‘) gebaut ist. Im handlungslogischen Zusammenhang der Lehrjahre bezieht sich dies darauf, daß die (namenlose) Frau, die ihr Eheleben mit Thereses Vater promiskuitiv unterhöhlt hatte, die Mutterschaft des in Wahrheit illegitimen Kindes ihres Gatten nur vorgetäuscht hat. Solche Ordnungs- und Zukunftslosigkeit der intimsten Beziehungen zieht sich wie ein roter Faden durch Goethes Erzählsystem und dessen zahlreiche „Familiengemälde“ (9,1059). Lotte, Mignon, Ottilie und Makarie leben durchweg in den Fragmenten von Familien. Der Mann von fünfzig Jahren und seine Schwester stehen endlich – ein ergreifendes Symbol – ratlos vor dem „Stammbaume“, dessen Glieder „teils in fernen Landen wohnhaft, teils gar verschollen“ sind (10,447). Die letzten dürren Äste besetzen Hilarie und Flavio, deren Heiratspläne scheitern und sie zur Entsagung bestimmen. 51 „Genau besehen, gibt es in Goethes Dichtung kaum mehr eine intakte Familie” (Friedrich Strack: Väter, Söhne und die Krise der Familie in Goethes Werk. In: JbFDH 1984, S. 57-87, hier S. 65), zum Werther S. 70ff. Vgl. Bengt A. Sørensen: Über die Familie in Goethes ‚Werther‘ und ‚Wilhelm Meister‘. In: OL 42 (1987), S. 118-140; sowie Willy Hasty: On the Construction of an Identity. The Imaginary Family in Goethe’s ‚Werther‘. In: Monatshefte 81 (1989), S. 163-174. – Zum sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Kontext vgl. Rebekka Habermas: Bürgerliche Kleinfamilie – Liebesheirat. In: Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Richard van Dülmen. Köln 2001, S. 287-309, bes. S. 298-304 („Debatten über den Verfall der Familie“).

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Bei solcher Aussicht steht zugleich die Tradierung des Namens auf dem Spiel. Unter den beeinträchtigten Leistungen der Familie ist die der Namensgebung für unsere Zwecke insofern hervorzuheben, als sie eine führende kulturelle Praxis der Identitätsrepräsentation darstellt; in Goethes Worten: Der „Name bleibt doch immer der schönste lebendigste Stellvertreter der Person“ (10,711). Solches gilt in doppelter Hinsicht schon deshalb, weil der Nachname die Herkunft, der Vorname aber die Sexualzugehörigkeit kennzeichnet – oder besser: kennzeichnen sollte, denn Namen und deren Buchstaben spielen in Goethes Romanen und ‚kleinen Erzählungen‘ eine fulminant vexierende Rolle, deren Tragweite man mit dem genugsam bekannten Motivkomplex der Namensänderungen und Namensähnlichkeiten in den Wahlverwandtschaften noch bei weitem nicht erfaßt hat. Bereits der „Herausgeber“ der Werther-Briefe „hat sich genöthigt gesehen, die im Originale befindlichen wahren Nahmen zu verändern“ (8,26). Wilhelm ist es selber, der seinen „Namen verändern [will]“; den alten „schrieb er […] nur mechanisch hin, ohne zu wissen was er tat“ (9,660). „Es weiß niemand Ihren rechten Namen“ (9,177), bemerkt Frau Melina ihm gegenüber. An anderer Stelle befragt er ein „sonderbare[s] Geschöpf“, „[w]ie nennst du dich?“, um zu erfahren: „Sie heißen mich Mignon“ (9,451). Den Gipfel dieser Signifikationsunfälle stellt der Fall des „nußbraunen Mädchens“ der Wanderjahre dar, das von Hause aus Nachodine heißt, zwischenzeitlich mit einer gewissen Valerine verwechselt wird und endlich als Susanne firmiert (vgl. 10,392ff., 631).52 Eine andere Irritationsquelle bildet das Phänomen einzeltextübergreifender Verdoppelungen von Figurennamen: Wilhelm heißt schon der in Permanenz versteckt anwesende Adressat von Werthers Briefen (vgl. 8,22 u. ö.); Ottilie nennt sich außer der Wahlverwandtschaften-Figur auch die Protagonistin der Ferdinand-Geschichte in den Unterhaltungen, wo sie sich als „Haushälterin und Beschließerin“ (9,1069) nützlich macht wie die spätere Ottilie als „Beschließerin und Haushälterin“ (8,307); zwei Charlotten grüßen einander aus dem Werther und den Wahlverwandtschaften zu, zwei Friedrichs aus dem Erzählrahmen der Unterhaltungen und den Lehrjahren; der sittenkultivierenden Baronesse von C. der Unterhaltungen waltet eine Baronesse von C. (9,265) in der Sendung voraus, eine intrigante „Circe“ (8,269). Die Figuren dieses Spiegelkabinetts stehen zueinander im Verhältnis charakterlicher Inversion: der Wilhelm des Werther ist ganz im 52 Goethe hat die diesbezügliche Unsicherheit Lenardos intensiv gestaltet: „[Nußbraunes Mädchen] war nur ein Scherzname, durch ihre bräunliche Gesichtsfarbe veranlaßt. […] Lenardo hielt einen Augenblick nachdenkend inne. Wie ist mir denn? sagte er: hieß sie auch Valerine?“ (10,68f.). „Eine unglückliche Verwechslung des Namens, merke ich, verdoppelt sie. Diese blonde Schönheit habe ich oft mit jener braunen, die man keine Schönheit nennen durfte, spielen sehen; […] ich habe nur den Namen der einen behalten und ihn der andern beigelegt“ (10,77). Dazu Gertrud Lehnert-Rodiek: Das „nußbraune Mädchen“ in ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden‘. In: GJb 1985, S. 171-183.

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Unterschied zu dem der Lehrjahre ein Mann der vernünftigen Entschlüsse, der bei seiner Familie geblieben ist (vgl. bes. 8,88, 216); die Ottilie der Unterhaltungen gibt als verzogene Gesellschaftspuppe den Gegenpart zu ihrer Namensschwester in den Wahlverwandtschaften; Werthers Charlotte ist empfindsam, Eduards Charlotte kühl und selbstbeherrscht; der Friedrich der Unterhaltungen ist „ein entschloßner junger Mann […] mit Ordnung und Genauigkeit“ (9,996), der Friedrich der Lehrjahre „eine sehr lustige, leichtfertige Natur“ (9,901). Trotz aller aufgezeigten Selbstverunklärungen, die der familiale Wandel hervortreibt, liegt auf der Hand, daß das Funktionieren des alteuropäischen Familienverbands seinerseits mit ganz erheblichen Individualitätsbeschränkungen operierte. Die Kosten, die es verursacht, an den Selbstverständnisressourcen eines gepflegten Stammbaumes zu partizipieren, wiegen nicht eben gering. Darauf macht in Goethes Erzählsystem ein Motivkomplex aufmerksam, der das Doppelgängermotiv, das die Romantik überwiegend als fantastisches Handlungselement auffaßte, als Folge von Familienähnlichkeiten realisiert. Niederschlag dessen sind sowohl Duplizierungen auf der optischen Oberfläche als auch auf Funktionsrollenebene. Physiognomische Analogien, „Familienähnlichkeit in Kindern und Verwandten“ (9,789), ziehen zuerst das Interesse des „denkenden“, d. h. philosophischen „Arzt[es]“ (9,716) der Bekenntnisse einer schönen Seele auf sich. Betroffen davon sind in erster Linie Natalie und die Gräfin, die Wilhelm denn auch aufs Sinnverwirrendste verwechseln wird (vgl. 9,603, 890f., dazu unten IV.3.c). Die Geheimoperationen der Turmgesellschaft funktionieren unter anderem durch die Zwillingsbruderschaft des Abbé (vgl. bes. 9,932). Funktionale Analogien liegen vor, wo das Individuum sich einer Familienrolle anähnelt, die ihm uneigentlich ist, und somit zum Stellvertreter eines Abwesenden, zum Zeichen eines Toten wird. In voller Schärfe geschieht das bereits im Werther, wo Lotte vorbehaltlos in der Bestimmung ihrer Mutter aufgeht: „er möchte mich ihr gleich machen“, bittet sie Gott; und mit Blick auf den Vater schwört sie gar „die Treue, den Gehorsam einer Frau“ (8,120). Vater-, Mutter- und Kindesstellen sind auch in den Lehrjahren und den Wahlverwandtschaften reichlich neu zu besetzen (vgl. bes. 9,883 u. 8,282). Und noch die Namensproteik des „nußbraunen Mädchens“ der Wanderjahre steht damit in Verbindung: Susanne „ist […] der dritte Name den man mir aufbürdet; ich ließ es gerne zu, weil meine Schwiegereltern es wünschten, denn es war der Name ihrer verstorbenen Tochter, an deren Stelle sie mich eintreten ließen“ (10,711). Als letzter sozial-institutioneller Strebepfeiler der Subjektarchitektur sind Liebe und Ehe anzuführen, die kleinsten intersubjektiven Einheiten und (nicht erst im bürgerlichen Zeitalter) privilegierte Formen des gesteigerten Ich-Erlebens sowie der Selbstmanifestation als Individuum. Die „Liebe zu einem Weibe“ rechnet in dieser Semantik zu den Ereignissen, in denen ein gefühlsfähiger Mensch, wie noch Weininger ausführt, „erst sein Ich finde[t]

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und sich seines Selbst bewußt“ wird.53 Darauf ist nun aber auch die Tatsache zu beziehen, daß Goethe mit den Mitteln seines Erzählsystems die Disproportion der Geschlechter und die Unsicherheiten ihres Rapports auslotet. Dieses Verfahren gestattet vom Werther bis zu den Wanderjahren keine einzige Paarbindung, auf die nicht der Schatten des Verdachts fiele, daß „Sorgfalt, Liebe und Treue doch zuletzt auf Herrschaft hinaus[gehen]“ (8,629).54 Im Werther und in den Lehrjahren ist der Liebesdiskurs schon nicht mehr an die Eheinstitution gebunden, womit zugleich der Folgeschritt angebahnt wird, den Sexualitätsdiskurs von der Liebe als Institution abzulösen. Durch deren Sakralsprache hindurch artikuliert sich das Triebleben einer nicht-normativen Natur, das einer individuellen Charakterisierung seines Objekts unbedürftig ist. „Ist nicht meine Liebe zu ihr die heiligste, reinste, brüderlichste Liebe? […] Und nun, Träume! O wie wahr fühlten die Menschen, die so widersprechende Wirkungen fremden Mächten zuschrieben“ (8,215). Die fremden Mächte, von denen Werther hier spricht, wohnen im eigenen Inneren und provozieren einen „Streit mit sich selbst“ (8,210). Am ungeschminktesten spielt „das lebendige Fleisch“ (9,39) seine Macht am jungen Wilhelm aus. „[W]ollüstige Furcht“ (9,18) geht hier mit der „leidlichste[n] Eigenliebe“ (9,31) einher, und dies keineswegs nur auf Seiten des Mannes, heißt es doch über Mariane recht schonungslos: „Ein Mädgen das zu mehreren Liebhabern, die es unter sich gebracht hat, noch einen frischen gewinnt, gleicht der Flamme, wenn auf bald verzehrte Brände ein neu Stück Holz gelegt wird“ (9,41). In Wilhelm Meisters Verhältnis zu seiner Amazone mischen sich „grausame zerstörende Begierden“ mit den „süßesten Vergnügungen“ (9,100). Luciane, der schöne Besitz ihres Mannes, figuriert zum voyeuristischen Vergnügen der Umstehenden in dem tableau vivant nach Gerard Terborchs „sogenannte[r] [!] väterliche[r] Ermahnung“ (8,428), einem Gemälde, das tatsächlich eine Bordellszene darstellt.55 Die Schattenleiber der Wanderjahre-Figuren scheinen dagegen eher jenseits des Fleisches im Vorhof des „ernsten Beinhaus[es]“ (10,774) zu stehen. 53 Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 216. Dazu Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/M. 1994, bes. S. 208. 54 Störungen im narrativen Geschlechterverhältnis und deren Gründe untersucht auch Schwander (Alles um Liebe?, bes. S. 360-373): Aussicht auf Dauer hätten nur Beziehungen, die Distanz garantieren, in welchem Zusammenhang die Geliebte ihrer Präsenz nach eliminiert werden könne. Zur negativen Einschätzung erotischer Selbstverwirklichungsmöglichkeiten auch Beate Hansel: Die Liebesbeziehungen des Helden im deutschen Bildungsroman und ihr Zusammenhang mit der bürgerlichen Konzeption von Individualität. Frankfurt/M. u. a. 1986, bes. S. 42ff. Dagegen noch weitgehend idealistisch Johannes John: Liebe. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4/2. Hg. v. Hans Dietrich Dahnke u. Regine Otto. Stuttgart u. a. 1998, S. 663-666: Liebe stehe bei Goethe „als universales Prinzip, als Medium, das […] dem Individuum auf emphatische, oft aber auch schmerzhafte Weise seinen Platz zuweist“ (S. 665). 55 Vgl. Waltraud Maierhofer: Vier Bilder und vielfältige Bezüge: die sogenannte ‚Väterliche Ermahnung‘ und die Figuren in den ‚Wahlverwandtschaften‘. In: Ethik und Ästhetik. Werke und Werte in der

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Diese Hinweise mögen genügen, um wahrscheinlich zu machen, daß Goethe mit bei weitem unterschätzter Radikalität eine realpsychologische Desillusionierung der Liebesmoral vorantrieb, nach der Liebe nicht mehr zum Ausgangspunkt der Selbstwerdung des Helden taugt. Der Dichter trug mit solcher Entzauberung zu einer Diskursformation bei, die wie schon die Formen der Subjektkritik den theoretischen Ausarbeitungen Schopenhauers verbunden sind. Die Metaphysik der Geschlechtsliebe stützte sich vorzüglich auf Goethes Werther als der dichterischen Behandlung des Themas (Geschlechtsliebe), dessen sich auch die Philosophie einmal annehmen müsse. Dabei bestritt Schopenhauer nicht etwa, sondern schien vielmehr vorauszusetzen, daß bereits der Roman zeigte: „alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch gebärden mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe“.56 Für die Herkunft des diesbezüglichen Diskursfadens in seinen Texturen hat Goethe eine lesbare Spur hinterlassen: „und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?“ (9,597) – dieser Philine in den Mund gelegte Satz ist nichts anderes als ein wörtliches Spinoza-Zitat. Dahinter eröffnet sich eine Erotologie, die Liebe nicht als Vereinigungswunsch von Liebenden, sondern als entschieden antwortlose und einsame Imagination auf physiologischer Basis entwirft: eine „Lust, begleitet von der Vorstellung einer äußeren Ursache“.57 Liebe ist derjenige Affekt, der (nach Jacobis Spinoza-Lektüre) „bis zur möglichen Vertilgung des Individui“ führen kann und in diesem Fall „ein bloßes Nichts in Person“ übrig läßt.58

Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Festschrift für Wolfgang Wittkowski zum 70. Geburtstag. Frankfurt/M. u. a. 1995, S. 363-382. Dagegen die These von der ‚sittlich-humanen Tradierung‘ bei Gisela Brude-Firnau: Lebende Bilder in den ‚Wahlverwandtschaften‘. Goethes ‚Journal intime‘ von Oktober 1806. In: Euph. 74 (1980), S. 402-416, hier S. 414; sowie Erich Trunz: Die Kupferstiche zu den „Lebenden Bildern“ in den ‚Wahlverwandtschaften‘. Mit einem Anhang über Terborchs „Väterliche Ermahnung“. In: Ders.: Weimarer Goethe-Studien. Weimar 1980, S. 203-217. Zur Begehrensthematik der Tableaux vivants Dagmar von Hoff u. Helga Meise: Tableaux vivants. Die Kunst- und Kultform der Attitüden und lebenden Bilder. In: Weiblichkeit und Tod in der Literatur. Hg. v. Renate Berger u. Inge Stephan. Köln u. a. 1987, S. 69-86, bes. S. 77f. 56 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 681. Vgl. Goethes ironische Verteidigung der Monogamie gegen „vage Lüsternheit“ in dem Aufsatz Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung (FA I 24,514). 57 Vgl. Spinoza: Ethica/Ethik, S. 356: „Amor est Laetitia, concomitante ideâ causae externae.“ Zur Ideengeschichte des Verdachtes, alle Liebe sei Eigenutz, vgl. auch Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 45 u. 176-198. Ferner hierzu Jacob Friedrich Abel: Moralische Sätze von den Quellen der Achtung und der Liebe (1779). In: Jacob Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773-1782). Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie hg. v. Wolfgang Riedel. Würzburg 1995, S. 61-74 (Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 3012). 58 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza, S. 24.

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b) Metaphysische Ursprungslosigkeit „Kein Geistlicher hat ihn begleitet“ (8,266). Die verschiedenen Operationen, das Subjekt in der Ständeordnung sowie im Familiengefüge zu verorten und dadurch als solches abzustützen, leiden ihrer Fungibilität nach sichtlich auch am sinkenden Orientierungswert, den die theologische Rückversicherung bietet. Es ist dieser Religionsabbau, den die Absenz des Priesters am Schluß des Werthers symbolisiert. Von ihren antiken Ursprüngen her kreiste die Tradition der ‚Sorge um sich‘ maßgeblich um die Teilhabe des Subjekts an der göttlichen Vernunft.59 Der in der Goethezeit erreichte Stand des Säkularisierungsprozesses, als Depotenzierung der Metaphysik verstanden, bedeutet in dieser Verflechtung nun nicht einfach, daß das Individuum, statt seine Sünden zu beklagen, lerne, mit sich selber auszukommen.60 Vielmehr wurden mit den Gottesbeweisen auch bestimmte Formen des Ich-Beweises in den Strudel einer Entplausibilisierungsbewegung gezogen. Die Referenz auf eine höhere Macht, die sich noch die Leibnizsche Monadenlehre gönnte, ist weniger die Quelle einer externen Steuerung des Selbst als dessen externe Garantie. Die mit der Entleerung des Himmels etablierte Innensteuerung des menschlichen Seelenapparates treibt die Architektur des Individuums nicht nur weiter ins Profil, sondern liegt auch als eine Hypothek auf ihr.61 Goethe reagierte durchaus ungehalten gegenüber Geisteshaltungen, welche die Vakanz eines persönlichen oder unpersönlichen Gottes nicht wenigstens mit der rettenden Wirklichkeit einer im weitesten Sinn göttlichen Natur besetzten. Es ging ihm, wie es in den Wanderjahren einer zur Kanzlei umgebauten Hauskapelle eingeschrieben ist, um „veränderte Religionsbegriffe“ (10,367). Ein Atheismus wie der Fichtesche, der Hand in Hand mit dem Entwurf eines (in Goethes Verständnis) hybriden Ichs ging, widerstand ihm aus mehr als politischen Gründen.62 Seine eigene Position, die 59 Vgl. Wolfgang Detel: Macht, Moral, Wissen. Foucault und die klassische Antike. Frankfurt/M. 1998, bes. S. 140ff., sowie Pierre Hadot: Überlegungen zum Begriff der Selbstkultur. In: Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Frankfurt/M. 1991, S. 219-228, hier S. 220f. 60 Dagegen Reed: Die klassische Mitte, S. 107. 61 Maßgeblich beschrieben von Marquard: Der angeklagte und der entlastete Mensch (S. 50): „jedermann hat – als säkularisierte causa sui – ohne Pardon die totale Beweislast für sein eigenes Seindürfen und Soseindürfen“. Vgl. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 361381 („Gott zwischen Geist und Natur bzw. die Aufklärung zwischen Anbetung, Neutralisierung und Instrumentalisierung Gottes“); sowie in Übertragung auf Goethe Willems: Das Problem der Individualität, S. 60-67 („Probleme des Individualitätskonzepts in religiöser Codierung“); sowie Erich Meuthen: Säkularisationsformen religiös fundierter Subjektivitätsstrukturen im Roman des 18. Jahrhunderts (Rousseau/Goethe). In: Glaube, Kritik, Phantasie. Europäische Aufklärung in Religion und Politik, Wissenschaft und Literatur. Hg. v. Lothar Bornscheuer, Herbert Kaiser u. Jens Kulenkampf. Frankfurt/M. 1993, S. 169-180. 62 Vgl. Hans Tümmler: Goethes Anteil an der Entlassung Fichtes von seinem Jenaer Lehramt 1799. In: Ders.: Goethe in Staat und Politik. Köln u. a. 1964, S. 132-166.

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das Problem des zureichenden Grundes des Subjekts indes nur verschiebt, ist daher treffend als „Theologie der Natur“63 zu kennzeichnen. Goethe war sich selbstverständlich im Klaren darüber, daß die Ausfaltung des Personenbegriffs bis zum Gehalt unverwechselbarer Individualität wesentlich eine Leistung (ein Vergehen, meinte Nietzsche) der christlichen Kultur ist. Die Religionsgeschichte, „dieser wunderbare Theil der Welthistorie“, hat Goethe nach eigenem Zeugnis „von jeher mächtig angezogen“.64 Davon rührt beispielsweise die Überlegung: „Es wäre schön zu untersuchen, ob nicht Protestanten mehr als Katholiken zu Selbstbiographieen [sic] geneigt sind. Diese haben immer einen Beichtvater zur Seite und können ihre Gebrechen hübsch einzeln los werden, ohne sich um eine fruchtbare Folge zu bekümmern; der Protestant im entgegengesetzten Falle trägt sich selbst die Fehler länger nach und ihm ist es doch um ein sittliches Resultat zu thun.“65 Auch wenn es sich so anhören könnte, wollte Goethe damit wohl kaum einer Hochschätzung des Protestantismus und dessen historischer Rolle Ausdruck verleihen. Die schneidende Frömmigkeitskritik des „dezidirte[n] Nichtkrist[en]“66 ging bei weitem mehr auf das protestantische als auf das katholische Christentum. Wenn die Unterhaltungen konstatieren, „daß die alte Religion eine größere Sicherheit“ (9,1008) gewährte, steht dies im Zusammenhang mit Goethes Analyse eines religionsgeschichtlichen Umgestaltungsprozesses, der weitreichende Folgen für die Konzeptionalisierung des Individuums hatte. Das Subjekt der ‚neuen Religion‘ stellt sich nicht länger als Passagier des kirchlichen Schiffes dar, vielmehr rudert es ausschließlich sein eigenes Boot. Seine verminderte Sicherheit betrifft dabei nicht allein den Grad der Heilsgewißheit, sondern ebenso die Selbstversichertheit eines Ich, das sich zum Zweck seiner Rechtfertigung in den Zirkel permanenter Introspektion verwiesen sieht. Die Reformation trug nicht zur Genese des

63 Peter Hofmann: Goethes Theologie der Natur. In: GJb 1999, S. 331-344. Vgl. auch Kurt Hübner: Eule – Rose – Kreuz. Goethes Religiosität zwischen Philosophie und Theologie. In: Goethe im Gegenlicht. Hg. v. Dieter Borchmeyer. Heidelberg 2000, S. 59-83, bes. S. 67f.; sowie Alfred Schmidt: Goethes herrlich leuchtende Natur. Philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung. München 1984, S. 135137 („Goethes theologia naturalis“). Mit umfassender Berücksichtigung des theologischen Umfelds Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. 5 Bde. Gütersloh 1949-1954, Bd. 4, S. 207-271 („Herder und Goethe“), bes. S. 247ff. 64 (FA I 22,674). Zu Goethes intensiver, vom ihm gemachten Pelagianismusvorwurf angetriebenen Beschäftigung mit der Geschichte des Christentums vgl. Hans Schneider: „Mit Kirchengeschichte, was hab‘ ich zu schaffen?“ Goethes Begegnung mit Gottfried Arnolds ‚Kirchen- und Ketzerhistorie‘. In: Goethe und der Pietismus. Hg. v. Hans-Georg Kemper u. Hans Schneider. Tübingen 2001, S. 79-110. 65 An Carl Wilhelm Göttling, 4. März 1826 (WA IV 40,311f.). 66 An Johann Kaspar Lavater, 29. Juli 1782 (WA IV, 6,20). Dazu Martin Bollacher: Christentum. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4/1. Hg. v. Hans Dietrich Dahnke u. Regine Otto. Stuttgart u. a. 1998, S. 165-175.

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Subjekts schlechthin bei, aber zur Genese eines anderen Subjekts. Sie erhöhte qua Verantwortungs-, Bekenntnis- und Heilsindividualität die Anforderungen an Konsistenz, Selbstkontrolle sowie Grundsatztreue der Person und trug dem Christenmenschen neuartige Freiheiten und Selbstermächtigungen zugleich mit neuartigen Disziplinarauflagen und Unsicherheiten ein.67 Die ‚schöne Seele‘ der Bekenntnisse ist das beste Studienobjekt für die gespannte Mentalitätslage einer protestantischen Subjektkultur, die Goethe von Jugend auf vertraut war.68 Der Zusammenhang zwischen Transzendenzannahmen und menschlichem Selbstbewußtseinsakt ist nicht zum wenigsten auch herkunftslogischer Art. Befragt man Zedler und Adelung, die Archivare des Bildungsgemeinguts ihrer Zeit, so findet sich noch bei ersterem individuelle Personalität durch einen vatergöttlichen Gründungsakt verbürgt, was im übrigen ganz der Leibniz-Wolffianischen Gesamtprägung dieser Enzyklopädie entspricht.69 Sogar Locke, in dessen Empirismus sie zumindest an zweiter Stelle verankert ist, erlaubte sich im Bedrängnisfall den metaphysischen Ausfallschritt über das bloß Natürliche hinaus: Für die Differenz zwischen Identität und Verschiedenheit „bürgt“ ihm zufolge nämlich, „solange wir keine klarere Anschauung von der Natur der denkenden Substanzen besitzen, am besten die Güte Gottes“.70 Ausgesprochen ist mit dem Gedanken, Gott habe uns als von ihm und voneinander unterschieden oder als individuelle Substanzen geschaffen, die von Kant so genannte „Evolutionstheorie“71 des aus dem Schöpfer emanierenden Ich, die grosso modo noch Herder und Jacobi vertraten. – Bei Adelung trat dagegen, höflicher Referenzen an das höchste Wesen ungeachtet, das „für sich Bestehen eines vernünftig denkenden Wesens“ ins Zentrum des Personseins: quasi seine Selbstorganisation.72 Analog 67 Vgl. insbesondere die lesenswerte Arbeit von Alois Hahn: Religion und der Verlust der Sinngebung. Identitätsprobleme in der modernen Gesellschaft. Frankfurt/M. u. a. 1974, bes. S. 107ff. Zur Rolle des „Puritan individualism“ für den englischen Roman Watt: The Rise of the Novel, bes. S. 74ff. 68 Vgl. Susanne Zantop: Eigenes Selbst und fremde Formen. Goethes ‚Bekenntnisse einer schönen Seele‘. In: GYb 3 (1986), S. 73-92; sowie Christine Sjörgren: Pietism, Pathology, or Pragmatism in Goethe’s ‚Bekenntnisse einer schönen Seele‘. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 193 (1980), S. 2009-2015. Die überwiegend negativen Urteile über den Bildungserfolg der ‚schönen Seele‘ versammelt Dan Farrelly: The Autonomy and Socialisation of the „Schöne Seele“. In: Frauen: MitSprechen – MitSchreiben. Hg. v. Marianne Henn u. Britta Hufeisen. Stuttgart 1997, S. 37-47. 69 Aufschlußreich hierzu die Artikel Person und Selbst (Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Halle u. a. 1732-1754, Nachdruck Graz 1961, Bd. 27, Sp. 668f., sowie Bd. 37, Sp. 1624). 70 Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, S. 424. 71 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790). In: Ders.: Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. 6. Aufl. Darmstadt 1998 (zuerst 1960), Bd. 5, S. 237-620, hier S. 543. Vgl. Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, S. 18. 72 Johann Christoph Adelung: Person. In: Ders.: Grammatisch-kritisches Wörterbuch. 4 Bde. 2. Aufl. Leipzig 1793-1801 (zuerst 1774-1786), Bd. 3, Sp. 694. Deckungsgleich die Subjektdefini-

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folgerte Goethe aus der Beobachtung der Natur, „[j]edes existierende Ding existiert […] durch sich selbst“ und nur durch sich selbst,73 zeigt also (wie der Protagonist der Neuen Melusine von sich feststellt) keine Spur davon, „von Gott unmittelbar erschaffen worden“ (10,648) zu sein. Die diesbezügliche Kausalumkehr des Verhältnisses zwischen Gott und individuellem Menschen haben versuchsweise bereits die Lehrjahre formuliert: „Ja, wer hat, wenn du willst, Götter gebildet […] als der Dichter?“ (9,82). – Es zählt zu den dialektischen Verhängnissen der Aufklärung, das Subjekt gefährdet zu haben, indem sie das Spiel der kulturellen Bedeutungsstiftung ganz auf seine Karte gesetzt hat. Je mehr Autoritäten und Garantien verabschiedet werden, desto mehr ist das Subjekt auf sich selbst gestellt. Die Herauslösung der Frage ‚Welch ein Mensch bin ich?‘ aus dem religiösen Sinnzusammenhang verabschiedet auch den augustinisch geprägten Begriff der gottgeschaffenen Seele als dem metaphysischen Legitimativ des Subjekts.74 Wohl nicht zufällig trägt der Harfner der Lehrjahre, der frühere Mönch, den Namen Augustin (vgl. 9,962): Der Weg nach Innen, die selbsterforschenden Bekenntnisse, Zweifel und Vorwürfe führen exemplarisch nicht mehr – wie bei dem Heiligenphilosophen und Kronzeugen der Ich-Erkenntnis75 – auf den festen Grund allen Seins, sondern in ein hohles, leeres Nichts.76 Den leeren Himmel der Metaphysik vor Augen, eruierte Goethe das funktionale Äquivalent einer schöpfungsursprünglichen Rückendeckung des Selbst in der bildenden Kraft jener selbstorganisierten „Gott=Natur“ (2,685), deren Offenbarungen seine Lyrik in einer adäquaten metrischen Formenordnung beschwört. Bereits Werther gab aber das Instrument ab, mit dem Goethe die Fallibilitäten dieser Ausweichposition abmaß. Daß die Position einer spinozistisch gefärbten Naturfrömmigkeit auf bestimmte normative Untiefen aufläuft, liegt nicht allein an Werthers unzulänglicher, weil dilettantischer Umgangsweise damit. Allzu leicht verwandelt sich die innere wie die äußere Natur in ein „verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer“ (8,108) oder kann sich als winterlich tot erweisen (vgl. 8,188).

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tion von Johann Georg Sulzer (Interesse. In: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. 5 Bde. 2. Aufl. Leipzig 1792-1799 [zuerst 1771-1774], Nachdruck Hildesheim u. a. 1970, Bd. 2, S. 691-694, hier S. 692): „freye aus eignen Kräften handelnde Wesen“. Eine besondere Variante bietet Johann Georg Walch (Individuum. In: Ders.: Philosophisches Lexicon [1726]. 4. Aufl. 1775, Nachdruck Hildesheim 1968, Bd. 1, Sp. 2060-2063), der sich gegen eine anonyme Position zur Wehr setzt, die darauf hinauslaufen müßte, daß die Idee des Individuums keinen Bestand haben könne. Studie nach Spinoza (FA I 25,14). Vgl. Hahn: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, S. 24ff. Zur Aktualität von Augustinus im 18. Jahrhundert vgl. Pfotenhauer: Literarische Anthropologie, S. 16f. Vgl. dagegen den unzulänglichen Versuch, einen metaphysischen oder quasi-metaphysischen Standort des Subjekts zu retten, in der verstiegenen Interpretation von Sabine BrandenburgFrank: Mignon und Meret. Schwellenkinder Goethes und Gottfried Kellers. Würzburg 2002, S. 15.

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Die Theologie der Natur stößt auf ihr eigenes Theodizee- und ihr eigenes Atheismusproblem. Sie erfüllt sich wesentlich in Vereinigungsphantasien mystischer Provenienz, gibt also (wie praktisch jede abendländische Mystik) ein Versprechen der Selbstfindung durch Selbstverlust, auf das sich zu verlassen nicht nur ein denkbar großes Risiko darstellt, sondern auch das Subjektkriterium der Autonomie preisgibt. Genau aus diesem Grund attackierte Herder den „Mysticismus“: Wahre Religion müsse die freie Beziehung jedes Individuums auf Gott sein.77 Zwei Erbinnen Werthers, Ottilie und Makarie, werden, diese Warnung in den Wind schlagend, auf dem mystischen Weg voranschreiten, um erstaunliche Exerzitien der Auflösung des Ich in der Natur zu vollbringen (vgl. unten V.2). c) Fehlbeträge des Seelenhaushalts Die von Adelung dokumentierte Vorstellung des Für-sich-Bestehens eines vernünftig denkenden Wesens macht augenfällig, daß die personale Integrität oder das ungebrochene Selbstsein zwischen zwei Zeitpunkten in einer Hauptstimme des diskursiven Konzerts der Goethezeit vom Binnenraum der Rationalität erwartet wird. Die seelenökonomische Oberherrschaft der Vernunft konnte weithin und im Zweifelsfall sogar der antiintellektualistischen Fraktion als Garantie für die organisatorische Einheit des Individuums erscheinen.78 Jenseits dessen existierte jedoch ein Wissen der Literatur, das bevorzugt ein alternatives Bild der Seele vermittelte: weniger mit den Ordnungsleistungen eines normativ beauftragten Intellekts ausgestattet als vielmehr mit Zügen der Erfahrung, daß Rationalitätsstrukturen keinen in jedem Fall zuverlässigen Plan für das Labyrinth des eigenen Hauses abgeben, in welchem folglich das „gute und mächtige Ich […], das so still und ruhig in uns wohnt, […] die Herrschaft“ (9,1056) nicht unumschränkt erhält. „Das Bewußtsein […] ist keine hinlängliche Waffe, ja manchmal eine gefährliche, für den der sie führt“ (8,276). Die damit ausgesprochene Angst vor der Heteronomie, d. h. der mangelhaften oder fehlenden Verfügung über sich selbst, erwacht in Goethes Narrationen immerzu im Symbol der Gliederpuppen, die den trügerischen Eindruck erwecken, als ob „sie selbst redeten und sich bewegten“ (9,369). Werther fühlt sich nachgerade umzingelt von „dogmatische[n] Dratpuppe[n]“ (8,58) und „gespielt wie eine Marionette“ (8,134), womit sich auch seine Frage beantwortet: „Haben wir denn keinen [Willen]?“ (8,60). Wilhelm Meister scheint es gegeben, darauf insoweit gegenteilig zu antworten, als er selber 77 Herder: Liebe und Selbstheit, S. 312 u. 324. 78 Vgl. Kondylis (Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 624 u. 626) in bezug auf Herder: Im Zweifelsfall rangiert die Vernunft als eine Monarchin, die die Einheit des Reichs zu garantieren hat.

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die Puppen zu manipulieren lernt, deren „Drähte an den Köpfen“ (9,12) ihn beunruhigt haben. Als Schauspieler hingegen nimmt er eben die Stelle jener Puppen ein und erfährt, „was man von seiner Individualität hingeben müsse um einer Rolle genug zu tun“ (9,677). Daß er „prädestiniert“ ist, „überall Schauspieler und Theater zu finden“ (9,804), verlängert die heteronomen Gesetze der Bühne in einen Weltlauf hinein, in dem das Leben der Charaktere vorherbestimmt und ihre Meinungen souffliert sind. Der diesbezügliche Motivkreis um Wilhelm schnürt sich freilich noch nicht zu der Schlinge zu, in welche die Figur Mignons gerät: „wie ein aufgezogenes Räderwerk“ (9,469) tanzt sie den Fandango; bei der Feier zur Hamlet-Premiere gibt sie eine unheimliche Zwischeneinlage als „Pulcinellpuppe“, wozu sie „den schnarrenden Ton sehr artig nach[machte]“ (9,695) – kein Zweifel, daß wir damit beim Automatenmotiv und höchsten Grad der Ichlosigkeit angelangt sind. Die „Maschine“, so die klassische Studie von Arno Baruzzi, „ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie kein Subjekt darstellt“, daß sie die radikale „Absage an den Menschen als Subjekt“ formuliert.79 Wenn die ordnende Vernunft den individuellen Menschen nicht eint, was dann? Er habe, schrieb Goethe in der Rezension zu Ernst Stiedenroths Psychologie (1824f.), „an mancher Stelle den Unmut geäußert, den mir in jüngeren Jahren die Lehre von den untern und obern Seelenkräften erregte. In dem menschlichen Geist […] fordert [alles] gleiche Rechte an einen gemeinsamen Mittelpunkt, der sein geheimes Dasein eben durch das harmonische Verhältnis aller Teile zu ihm manifestiert“.80 Die Rede von jenem geheimen Mittelpunkt umstellt präzise das Rätsel einer personalen Identität, die sich nicht unmittelbar aussprechen läßt, die sich vielmehr als unsichtbares Gravitationszentrum kundgeben soll. Analog heißt es in der Sternwartenepisode der Wanderjahre angesichts des Himmelsgebäudes (bezeichnenderweise in Form eines Selbstgesprächs): „darfst du dich in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht gleichfalls in dir ein beharrlich Bewegtes, um einen reinen Mittelpunkt kreisend, hervortut? Und selbst wenn es dir schwer würde, diesen Mittelpunkt in deinem Busen aufzufinden, so würdest du ihn daran erkennen, daß eine wohlwollende, wohltätige Wirkung von ihm ausgeht und von ihm Zeugnis gibt“ (10,383). Wilhelm sucht die kollektive Identitätskränkung der Kopernikanischen Wende, die kosmologi79 Arno Baruzzi: Mensch und Maschine. Das Denken sub specie machinae. München 1973, bes. S. 183196 („Das Denken ohne Subjekt“), Zitate S. 183 u. 185). Vgl. die von Olaf Breidbach (Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1997, S. 41ff.) beschriebene Konkurrierung des Ichs der Philosophen durch die Suche nach dem Seelenorgan seitens der Neurophysiologen. Dazu ferner Düsing: Subjektivität und Freiheit, bes. S. 7-32. 80 Ernst Stiedenroth. Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen (FA I 24,614f.). Fast wörtlich auch in Zum Shakespears Tag (FA I 18,11) und im Aufsatzentwurf (FA I 20,605f.).

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sche Dezentrierung des Menschen, mit dem Konzept eines Individuums zu heilen, das ein neues anthropologisches Zentrum darstellt, weil es selber über ein Zentrum verfügt. Was Goethe in derlei exoterischen Programmpassagen (wie schon im Bildungsbrief und im Lehrbrief der Lehrjahre, vgl. 9,657f., 874f.) harmonieverpflichtet auf seine Fahnen schreibt, ist indes in einen esoterischen Untergrund eingelassen. Seine narrativen Psychologien werden nicht so sehr von der reklamierten Ordnung gleicher Rechte regiert als von einer Disproportionalität im Verhältnis der Seelenteile, die einen geheimen Mittelpunkt zu erraten schwierig gestaltet. Der „Strom des Genies“ (8,28), die Vielkräftigkeit der Wertherschen Anlagen, Regungen und Strebungen, steht immer auch in der reizvollen und vielversprechenden Gefahr, die Dämme der Personalität aufzubrechen: „Ich heise Legion“81, schrieb der junge Goethe. In der Gestalt Wilhelm Meisters wird das Geniewesen der inneren Vielfalt zum kommoderen Wunsch der „allgemeinen Bildung“ (10,555) herabgestimmt – eine Harmonieforderung, aus der aber der unberechenbare psychoenergetische Überschuß der Einbildungskraft beständig ausbricht: Die Imagination ist diejenige schöpferische und deshalb zerstörerische Kraft, die im Grenzfall noch in der Vermögensarchitektur, in der sie selber steht, keinen Stein auf dem anderen läßt. Sie agiert einen „Trieb zum Absurden“ aus, der die „Rohheit fratzenliebender Wilden“ im eigenen Innern zum Vorschein bringt,82 so daß man sich selber fremd werden kann. Soll also unter den diversen Operatoren des Identitätskonzepts die Vernunft für die synchrone Integration des Seelenhaushalts sorgen, so hat die Erinnerung diachrone Integrationsaufgaben zu erfüllen. Sie sucht das Ich als eine paradoxe Einheit aus Gegenwart und Vergangenheit zu konstituieren, ihm eine fortlaufende selbstidentische Geschichte zu spinnen, auf daß die Momente des Ich nicht wie „tausend verlorene Ereignisse wimmeln“83. Die Erfüllung der Ich-Funktion des Gedächtnisses (genauer des individuellen Erfahrungsgedächtnisses) wird umso dringlicher, je tiefer der Subjektbegriff in die Dimension der Geschichte, d. h. in das für Goethe vor allem mit dem Namen Herders verbundene genetische Denken, einrückt.84 Die Erfahrung 81 An Johann Kaspar Lavater, 7. Mai 1781 (WA IV 5,123). Dazu Jochen Hörisch: Der Gott Goethe(s). In: Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft. Hg. v. Waltraud Wiethölter. Tübingen u. a. 2001, S. 65-80, hier S. 78ff. 82 Tag- und Jahreshefte 1805 (FA I 17,178). Über die Einbildungskraft als verbindender Problemgehalt von Goethes Romanen vgl. Hans Adler: Einbildungskraft. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4/1. Hg. v. Hans Dietrich Dahnke u. Regine Otto. Stuttgart u. a. 1998, S. 239-242, hier S. 240; sowie vor allem Larissa Kritschil: Zwischen „schöpferischer Kraft“ und „selbstgeschaffenem Wahn“. Die Imagination in Goethes Romanen. Würzburg 1999. 83 Michel Foucault: Nietzsche. Die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Von der Subversion des Wissens. Übers. v. Walter Seitter. München 1974, S. 83-109, hier S. 89. 84 Zum Verhältnis von Geschichtsbewußtsein und Identitätsbildung vgl. Angehrn: Geschichte und Identität, bes. S. 51-68 („Geschichte als Konstitution und Vergegenwärtigung persönlicher Identität“).

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beschleunigten gesellschaftlichen Wandels – „Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen“ (8,300) – stellt in dieser Hinsicht neue, erhöhte Anforderungen. Den Nachweis personaler Identität an die Kategorie der Erinnerung zu knüpfen, rechnet bereits zu den Schachzügen von Lockes An Essay Concerning Human Understanding. Das Gedächtnis erscheint hier als gleichsam betriebswirtschaftlich gedachte Vorratskammer, die lediglich zwei sehr überschaubare Fehlerquellen aufweist: „Erstens, daß ihm eine Idee ganz verloren geht, so daß völlige Unwissenheit eintritt. […] Zweitens, daß es nur langsam arbeitet und die Ideen, die es besitzt und aufgespeichert hat, nicht rasch genug wieder hervorholt, um dem Geist bei gegebener Gelegenheit damit zu dienen“.85 Den homines ficti des Goetheschen Erzählsystems stoßen jedoch ungleich kompliziertere Fehlleistungen des Gedächtnisses zu, die eher schon den Beobachtungen Humes in A Treatise of Human Nature verwandt sind. Das dort konstatierte Irritationsmoment besteht im wesentlichen in der Gefahr, Erinnerungen mit Imaginationen zu verwechseln, insofern nämlich Gedächtnisideen keineswegs in jedem Fall eine höhere Überzeugungskraft als Einbildungen besitzen. Unter bestimmten Umständen „wissen [wir] von einem Bilde, das uns vorschwebt, nicht, ob es der Einbildung oder der Erinnerung angehört“86. So stellt sich erst recht für die vergegenwärtigte Vergangenheit meiner Person als „ungewiß“ dar, „ob sie nicht etwa nur ein Erzeugnis meiner Phantasie ist“.87 Auf der Seite der Programmatik scheint Goethe nicht bereit, derlei Unverfügbarkeit des früheren Selbst einräumen zu wollen, vielmehr schließt er den Aspekt der Memoria in seine Monadentheorie der Person ein: „Die Intention einer Weltmonade kann und wird manches aus dem dunkeln Schoße ihrer Erinnerung hervorbringen, das wie Weissagung aussieht und doch im Grunde nur dunkle Erinnerung eines abgelaufenen Zustandes, folglich Gedächtnis ist“.88 Solchermaßen scheint die „Fortdauer von Persönlichkeit“89 über die Schranken eines Menschenlebens hinaus wenigstens nicht undenkbar und innerhalb derselben so sicher, wie es Goethes autobiographisches Œuvre weitgehend zu insinuieren unternimmt.90 85 Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, bes. S. 167-175 („Über die Erinnerung“). Vgl. Wolff: Psychologia Rationalis, § 741 u. 743: „Persona dicitur ens, quod memoriam sui conservat, hoc est, meminit, se esse idem illud ens, quod ante in hoc vel isto fuit statu. Dicitur etiam Individuum morale” bzw. „Quia homo memoriam sui habet […] homo persona est”. 86 Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, S. 112ff. 87 Ebd., S. 115. Dazu mit Gegenüberstellung der Gedächtniskonzeptionen Lockes und Humes Assmann: Erinnerungsräume, S. 95-100. 88 Mit Johann Daniel Falk, 15. Januar 1813 (Goethes Gespräche 2,774). 89 Ebd., S. 775. 90 Am Rande bemerkt, bot sich der vage Anschluß an die Monadologie für Goethe auch deshalb an, weil die Anforderungen, die Leibniz für die Erhaltung der persönlichen Identität an die Erinnerung stellt, relativ gering sind: „An und für sich genügt es für die moralische Identität, daß von einem Zustand zu einem benachbarten ein vermittelter Bewußtseinszusammenhang

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In das Hoheitsgebiet des Erzählens eintretend, untersteht das Subjekt freilich umgehend anderen Gesetzen. „Wüßte kaum genau zu sagen/ Ob ich es noch selber bin“ (10,14), so reflektiert das Autor-Ich im Einleitungsgedicht der Wanderjahre angesichts des rahmensprengenden Entstehungszeitraums des Buches, der sich über die Melusinengeschichte wahrscheinlich bis in die frühen 1770er Jahre hinein erstreckt. Die Romanbiographien durchleuchten endlich, wie dringend die geschichtliche Selbstaneignung nach partiellen Klitterungen sowie nach sektoralen Löschungen und Neueinspeicherungen verlangt, die nicht immer erfolgreich und noch seltener störungslos vonstatten gehen. An logisch erster Stelle des Versuchs, divergente Geistesverfassungen an einem zeitlichen Faden entlang zu synthetisieren, steht die Gewinnung der eigenen Kindheit. In deren Dunkel fällt allerdings fast ausschließlich der Blitz der unfreiwilligen Erinnerung, der zu wenig kontrollierbar ist, um gleichmäßiges Licht in die Genese des Ich zu bringen. Werther, der geklagt hat, daß uns „doch alles [fehlt], „[w]enn wir uns selbst fehlen“ (8,108), unternimmt eine „Wallfahrt“ nach dem Ort seiner Geburt, „nach meiner Heimat, […] um […] jede Erinnerung ganz neu, lebhaft, nach meinem Herzen zu kosten“ (8,150). Doch schlagartig entzieht sich der gesuchte Ursprung: „Da stand ich nun […]. Wie anders!“ (ebd.). Auch das Andenken an Leonore überfällt ihn „mit ganzer Gewalt“ (8,68), aber ohne die Kontinuität, die notwendig wäre, der Gestalt dieser Jugendfreundin Konturen mitzuteilen. Werthers Dauererfahrung, ‚sich zu verlieren‘ (vgl. 8,56, 151 u. ö.), die sich auf Natur, auf Träume und zunehmend – je länger nämlich das Verhältnis zu Lotte dauert – auf Vergangenes bezieht, bringt ihn schließlich auf die Wendung von der „Schwermut der Erinnerung“ (8,226). Zu ihr gehört der Zweifel, ob er „noch eben derselbe“ (8,176) sei, der er übers Jahr war. Entzogen ist ihm damit das „Gefühl einer immer fortdaurenden Identität“, welches Sicherheit darüber verleiht, „daß ich der nämliche heute bin, der ich vor zehn Jahren war“.91 Wilhelm Meister, auch seinem Erinnerungsvermögen nach glücklicher begabt als Werther, ist nicht mehr ohne weiteres bereit, sich mit dieser Melancholie abzufinden, sondern beabsichtigt, „von jeder unangenehmen Erinnerung frei [zu] sein“ (9,387). Zu Eingang seiner Geschichte ergeht er sich weitschweifig (vom dritten bis zum achten Kapitel des ersten Buchs) und geradezu „selbstzufrieden“ (9,367) in der Repräsentation seiner vom Puppen- und Laientheater bestimmten Kindheit. Soweit scheint seine memoriale Selbstzugänglichkeit gesichert, wenn auch die durch diese initiale stattfindet, ja dies gilt auch für einen etwas entfernten Zustand, selbst wenn hier irgendein Sprung besteht oder ein Abschnitt der in Vergessenheit geraten ist, dazwischen liegt“ (Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, S. 223). 91 Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise, S. 16 u. 27; vgl. auch S. 103-158 („Von dem Gedächtnis“).

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Erinnerungsorgie abgestützte Künstleridentität alsbald wieder zur Disposition steht. Die Wanderjahre inokulieren der Figur mit einiger narrativer Gewaltsamkeit die ganz anders geartete Vergangenheit eines Menschen, der zum Wundarzt bestimmt ist: Unvorbereitet präsentiert uns das Fischerknaben-Erlebnis (vgl. 10,542-552) einen naturverbundenen, zupackenden und karitativ engagierten Wilhelm. Wie ein Kommentar zu solcher Fährnis der Erinnerung nimmt sich Lenardos ‚Roman‘ mit dem „nußbraunen Mädchen“ aus. Mehrere Fehlleistungen des Gedächtnisses scheinen endlich einer heilsamen Anagnorisis zu weichen, über der indes ein Schatten liegt: „Und dann ist es ein widerwärtiges Gefühl, aus dem Enthusiasmus einer reinen Wiedererkennung, aus der Überzeugung dankbaren Erinnerns […] auf einmal zu der schroffen Wirklichkeit einer zerstreuten Alltäglichkeit zurückgeführt zu werden“ (10,708f.). Die Ausfälle des individuellen Erfahrungsgedächtnisses sind es offenbar, auf die sich die Motive der Institutionalisierung des Andenkens beziehen. Die Bedeutung von Archiven in Goethes Erzählsystem reicht über die viel diskutierte, erzählpoetologisch basierte Archivfiktion der Wanderjahre weit hinaus.92 Nach demselben Prinzip von Verwalten und Auswählen funktioniert selbstverständlich bereits die Herausgebersammlung, als die sich der Werther ausweist (vgl. 8,10, 198). Archivcharakter im weiteren Sinn eignet den biographischen Reposituren der Turmgesellschaft (vgl. 9,872, 875), der „Sammlung“ (9,1012f.) des Alten der Unterhaltungen sowie den Lektüre- und Gesprächskollektaneen Ottilies, Makaries und des Wandererbundes (8,403f. u. ö., 10,557ff., 746ff.). Vor allem aber gehören unter die Erscheinungsformen der Erinnerungsinstitutionen auch der in Marmorschönheit starrende Saal der Vergangenheit der Lehrjahre und die Grabeskapelle der Wahlverwandtschaften. Die preziösen Särge Mignons und Ottilies, mit Relief- bzw. Glasplatten bedeckt, stehen in funktionaler Äquivalenz zu den „schön gearbeitete[n] Schränke[n]“ der Turmgesellschaft, die „mit feinen Drahtgittern verschlossen“ sind (9,872). Sie dienen der psychohygienischen Ausbuchung schmerzhafter Gedächtnisposten, indem nicht nur ein Lebensabschnitt wie Wilhelms Lehrjahre ad acta gelegt wird (vgl. 9,875), sondern der lebendige Mensch als Ganzes. Die Erinnernden amputieren durch solche Materialisierung einen Teil ihres Selbst, während die Erinnerten es vollständig verlieren. Der schöne Tod, der Mignon und Ottilie ereilt, bringt mit seiner Totalabsenz aller Subjektivität freilich nichts qualitativ Neues in die Erzählung, sondern ist eine Allegorie auf das fiktional gefristete Leben dieser Figuren (vgl. unten V.2.e).

92 Vgl. Neuhaus: Die Archivfiktion in ‚Wilhelm Meisters Wanderjahren‘, sowie die an Foucaults Autortod-These entlanggeführte Deutung von Bahr: The novel as archive, bes. S. 84ff.

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d) Insuffizienz der Körpererfahrung Am Gegenpol jener auf Dauer angelegten Identitätsgeneratoren der geordneten Genealogien, der Metaphysik, der Vernunft und des Gedächtnisses harrt schließlich der (ganze) Leib bzw. (partialisierte) Körper mit seiner Endlichkeit und seiner begehrlichen Physiologie des Hier und Jetzt. Seine Wiederentdeckung im Rahmen des spätaufklärerischen Antiintellektualismus durch philosophische Ärzte, Popularphilosophen und Erfahrungsseelenkundige, zumal seine Lesbarmachung durch die Physiognomik, steht in tiefgreifender Wechselwirkung mit dem Diskurs der Individualität.93 Anders gelagert, konnte bereits im Verständigungsrahmen der Kunstliteratur seit Winckelmann eine Auffassung des Subjekts entstehen, das seine Legitimation nicht mehr aus feudaler und metaphysischer Ordnung, sondern aus dem Griechenphantasma vollkommener Naturkörper bezog, die jenseits kultureller Zerstückelung eine Einheit als Ausdrucksmedium von Identität zugesprochen erhielten.94 In einer intakten christlich-platonistischen Vorstellungswelt hatte das menschliche Selbst – als Seele oder Geist – ganz dem mundus intelligibilis angehört, während dessen Antipode, der mundus sensibilis, gerade dasjenige dargestellt hatte, was das Selbst wesentlich nicht ist. Systemtheoretisch gesprochen: Im Verhältnis zum psychischen System ist der Körper Umwelt. Die Aufklärung, in ihren Hauptströmungen bereit, Geistiges auf Sinnliches zurückzuführen, kultivierte dagegen (wie uns Philipp Sarasin gezeigt hat) eine körperbasierte Gesundheitslehre, die auf individueller Selbstregulation als einer spezifischen Sorge um sich be93 Einen vorzüglichen Überlick über Theorien leiblicher Individualität bietet Joachim Küchenhoff: Der Leib als Statthalter des Individuums? In: Individualität. Hg. v. Manfred Frank u. Anselm Haverkamp. München 1988 (= Poetik und Hermeneutik 13), S. 167-202, bes. S. 172-189. In geschichtlicher Perspektive kenntnisreich Eva Labouvie: Individuelle Körper. Zur Selbstwahrnehmung mit „Haut und Haar“. In: Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Richard van Dülmen. Köln 2001, S. 163-195, bes. S. 174ff. Daß sich die Technologien des Selbst von den Normen des Körpers, namentlich von deren Bedrohung durch ausschweifende Sexualität her definieren, ist bekanntlich der Ausgangspunkt von Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Frankfurt/M. 1986, bes. S. 7-46. Zur Entdeckung der subjektiven Erfahrungsdimension in Foucaults Spätwerk Gilles Deleuze: Foucault. Frankfurt/M. 1992 (zuerst 1987), S. 131-172 („Die Faltungen oder das Innen des Denkens“), sowie Hans Herbert Kögler: Fröhliche Subjektivität. Historische Ethik und dreifache Ontologie beim späten Foucault. In: Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Hg. v. Eva Erdmann, Rainer Forst u. Axel Honneth. Frankfurt/M. 1990, S. 202-226. Vgl. ferner Matthias Rüb: Zur Konzeption von Subjektivität beim frühen Foucault. In: Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Hg. v. Eva Erdmann, Rainer Forst u. Axel Honneth. Frankfurt/M. 1990, S. 187-201. 94 So Klaus Schneider: Natur – Körper – Kleider – Spiel. Johann Joachim Winckelmann. Studien zu Körper und Subjekt im späten 18. Jahrhundert. Würzburg 1994, bes. S. 118-124 („Die Enthüllung des Naturkörpers“). Zur Umorganisation der Körperwahrnehmung im Klassizismus vgl. auch Begemann: Der steinerne Leib der Frau, S. 136f.

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ruhte.95 In ihr konnte sich die Frage nach dem Subjekt als Frage nach dem Körper und dem in ihm verborgenen Wissen stellen. Immerhin scheint nichts die eigene Unverwechselbarkeit so suggestiv zu insinuieren wie die offenbar jedem gegebene organische Einmaligkeit und Einheit. Zum physiologischen Idioplasma scheint ein psychologisches Äquivalent existieren zu müssen, wonach man über ein eigenes Selbst genauso selbstverständlich verfügt wie über einen eigenen Kopf: die körperliche Dimension also als das „letzte und unveräußerliche Residuum menschlicher Identität“96, zu dem sie im Prozeß der Modernisierung bei zunehmender Alternativlosigkeit hinsichtlich anderer, geistigerer Ordnungen heranwächst. Das Cartesianische Ego, das nicht durch die Erfahrung seiner Ausdehnung, sondern durch das Denken seines Denkens zur Selbstgewißheit gelangt, beruhte auf einer Selbstkonstitution von verhängnisvoller Einseitigkeit, die der von Goethe maßgeblich mitverantworteten Aufwertung der körpernahen niederen Seelenkräfte letztlich nicht standzuhalten vermochte. Man glaubt Spuren dafür zu haben, daß Goethe früh, im Freundeszirkel der Katharina von Klettenberg und in Reflexion auf seine ernste gesundheitliche Krisis von 1768/69, mit dem Stahlschen Animismus in Kontakt kam. Im selben Zusammenhang beschäftigte sich Goethe nach dem Zeugnis von Dichtung und Wahrheit eingehend auch mit dem Gegenmodell der Boerhaaveschen Mechanopathologie.97 Die beiden großen schulmedizinischen Parteien des 18. Jahrhunderts, die Goethe auf diese Weise kennengelernt hat, konvergierten letztlich darin (wenn auch von entgegengesetzter Seite), die Überbrückung der Leib-Seele-Grenze vorangetrieben zu haben – mit dem berühmten Ergebnis des commercium mentis et corporis, d. h. in Goethes Worten der Erfahrungstatsache, daß das „Heil des Körpers […] nahe mit dem Heil der Seele verwandt“ sei.98 Die Integration von Leib und Seele untersteht einer 95 Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Frankfurt/M. 2001, bes. S. 73-82 („Eine Politik des Subjekts”); mit luzider Kritik an „Foucaults Körper“ S. 452465. 96 Rudolf Behrens u. Roland Galle: Vorwort. In: Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman. Hg. v. dens. Würzburg 1995, S. 7-10, hier S. 8. Mit dem Leibargument der Identität operiert an zentraler Stelle noch Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 199. 97 „Indessen zog mich doch das chemische Kompendium des Boerhave [!] gewaltig an, und verleitete mich mehrere Schriften dieses Mannes zu lesen, wodurch ich denn, da ohnehin meine langwierige Krankheit mich dem Ärztlichen näher gebracht hatte, eine Anleitung fand auch die Aphorismen dieses trefflichen Mannes zu studieren, die ich mir gern in den Sinn und ins Gedächtnis einprägen mochte“ (Dichtung und Wahrheit, FA I 14,376). – Zu Goethes geistigen Beschäftigungen während seiner Krankheit vgl. Pfotenhauer: Literarische Anthropologie, S. 145ff., sowie Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. 2. Bde. München 1969-79, Bd. 1, bes. S. 192ff. Zu Stahl und Boerhaave Karl Ed. Rothschuh: Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart 1978, S. 293-302 u. S. 249-252 ff. 98 Dichtung und Wahrheit (FA I 14,372).

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Denkbewegung, die aus dem Interesse an Einheiten heraus zugleich den Organismus erfindet: die Idee einer selbstorganisierten Körpernatur, die das Subjekt aus dem Zusammenhang elementarer Ein- und Durchflüsse herausnimmt, in ein System mit kontrollierten Grenzen zur Umwelt einfriedet und endlich in diesem Innenraum Selbstbezug ermöglicht. Das Organismuskonzept, indem es dergestalt das Konstrukt einer in sich geschlossenen Individualität komplettiert, unterläuft das Diktum Descartes’, „die körperliche Natur“ (im Unterschied zum nicht pluralisierbaren Geist) enthalte „die Unvollkommenheit, teilbar zu sein“.99 Besteht sie schon aus Gliedern, so ist doch im Organismus jedes Glied unmittelbar Symbol des Ganzen. Programmatische Formulierungen des Leibes als sich selbst bedingende, unteilbare (in-dividuelle) Einheit hat Goethe auch in seinem Exemplar der Kritik der Urteilskraft angestrichen.100 In den emphatischen Stimmlagen seines Aufschreibesystems hat Goethe bekanntlich ebenfalls die „geprägte Form die lebend sich entwickelt“ (2,501) vertreten, wo nicht zelebriert. Der vollkommenste organische Körper, heißt es in der , „[erscheine] uns als eine von allen übrigen Wesen getrennte Einheit“.101 Somatische Gesundheit bestimme sich dadurch, daß wir „die Teile unseres Ganzen nicht, sondern nur das Ganze empfinden“102. Goethe hat auf die Anerkenntnis des körperlichen Substrats des Individuums, namentlich auf die energetische Erfahrung der Sinnestätigkeit, allergrößten Wert gelegt.103 Das Ich geht darin auf die Rechnung einer leibgarantierten Selbst-Empfindung. So könnte der Leib auch in Goethes Erzählsystem, sollte man meinen, die Funktion des naheliegendsten Ortes der Selbstthematisierung und Subjektfundierung spielen. Statt dessen gerät die Physiologie des homo fictus, die unter den besonderen Gesetzen ihres konsekutiven Mediums steht, zur Quelle vielfältiger Irritationen – ein veritabler Unruheherd. Dies rührt freilich nicht allein von ihren bereits besprochenen mediologischen Bedingungen her (vgl. oben II.1), sondern hat seine Gründe auch in Goethes wissensgeschichtlicher Position, in der sich der neue Organismusgedanke nämlich mit einer älteren Körperkonzeption kreuzt. Die von Descartes formulierte Dividualität des Körpers wird eben von 99 Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, S. 8. Vgl. dagegen bereits Locke (Versuch über den menschlichen Verstand, S. 415): Die „Identität [besteht] in dem einen zweckmäßig organisierten Körper, der von einem bestimmten Zeitpunkt ab in stetig fließenden, mit ihm verbundenen Partikeln der Materie – unter einer einheitlichen Organisation des Lebens – seine Existenz fortsetzt“. – Dazu zusammenfassend Breidbach (Das Organische in Hegels Denken, S. 222: „Der Organismus ist nicht bloße Summe, sondern wesentliche Einheit./ Als Organismus ist das Lebendige Individualität, und es ist von daher abgehoben gegen die Umwelt“. 100 Vgl. Molnár: Goethes Kant-Studien, S. 124-127, sowie Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 483-488. 101 (FA I 24,367). Dazu Schmidt: Goethes herrlich leuchtende Natur, bes. S. 64ff. 102 (FA I 24,367). 103 Vgl. Böhme: Natur und Subjekt, bes. S. 170ff.

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jenem Philosophen an Goethe herangetragen, den er wie keinen schätzte: Spinoza. Dessen Ethik führt mit unzweideutiger Schärfe aus, der „menschliche Körper besteht aus sehr vielen Individuen (von diverser Natur), von deren ein jedes sehr zusammengesetzt ist. […] Die Individuen, welche den menschlichen Körper ausmachen, und folglich der menschliche Körper selbst, wird von äußeren Körpern auf sehr vielfache Weise affiziert“.104 Jenseits des Diskurses, in dem auch dem Leib eine (organische) Einheit zugebilligt wird, verteilen sich hier die Attribute Zusammensetzung und Einheit in strikter Trennung auf Leib und Seele. Selbst eine höhere Einheit des Aggregierten ist Spinoza zufolge nicht denkbar: „Der menschliche Geist schließt nicht die adäquate Erkenntnis der Teile in sich, welche den menschlichen Körper bilden“,105 daher auch die Sprache der Anatomie so oft bei der Synthesisleistung der Metaphern Zuflucht suchen muß.106 Diese Sätze seines Leibphilosophen haben Goethe vielleicht mehr beunruhigt, als die exoterische Dimension seines Erzählens und seine weltanschaulich-naturwissenschaftlichen Äußerungen ahnen lassen. Auffällig ist die Empfindlichkeit, mit der er sich – in dem Aufsatz Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung von 1820 gipfelnd – gegen die von dem Naturphilosophen Nees von Esenbeck vertretene Theorie der Verstäubung aussprach, welche die Inklination organischer Körper zur entropischen Auflösung zum Gegenstand hat. „Es mußte mir des Nachdenkens werth scheinen, daß, wenn dort der aufgelöste Organismus sich als Verstäubung manifestirt und schon mitunter als zellige Faser erscheint, derselbe hier um den entseelten Körper einen zusammenhängenden Nimbus bildet und alle Verstäubung sich zu einem Continuum ordnet, und zwar in derselben Maaße, wie sie vorher elastisch abstoßend in einem leichtern Element wirkte, hier in einem dichtern vollkommen zusammenhängend erscheint. […] Auf alle Fälle wünschte ich, daß Sie [Nees von Esenbeck] diesem gesteigerten Phänomen dieselbe Aufmerksamkeit wie jenem erstern freundlich gönnen möchten.“107 In der Verstäubung, falle sie abnorm oder regelmäßig aus, vollzieht sich ein gewaltsames Ausstoßen der Materie aus dem sich desorganisierenden Körper, wogegen Goethe ein dezidiertes Lebens- und Gesundheitsethos zu 104 Spinoza: Ethica/Ethik, S. 192. In der Studie nach Spinoza emendiert Goethe charakteristischerweise: „In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Teile nennen, dergestalt unzertrennlich vom Ganzen“ (FA I 25,15). 105 Spinoza: Ethica/Ethik, S. 206. 106 Vgl. Richard J. Brunner: Von der Sprache der Anatomie. In: Philosophie der Subjektivität und das Subjekt der Philosophie. Festschrift für Klaus Giel zum 70. Geburtstag. Hg. v. Renate Breuninger. Würzburg 1997, S. 54-66. 107 An Christian Gottfried Nees von Esenbeck, 27. September 1826 (WA IV 41,174). Dazu Kai Torsten Kanz: „… man weiß nur was man einem Manne schreiben soll mit dem man einmal persönlich verhandelt hat.“ Zum Briefwechsel Goethes mit Christian Gottfried Nees von Esenbeck. In: Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Hg. v. Olaf Breidbach u. Paul Ziche. Weimar 2001, S. 203-215.

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verteidigen hatte.108 Aber auch in dieser Abwehrhaltung ist das Bewußtsein einer Attraktionskraft der Auflösung präsent, das nur wenige Jahrzehnte später von Baudelaire in eine Laufbahn gehoben wurde, die bei Thomas Mann auf die Linie des Versuchs einer bürgerlich-humanistischen GoetheNachfolge einschwenkte. Die Auswechselung des Cogito durch das Sentio als der Leibhaftigkeit des Individuums verspricht eine Plausibilität der Selbsterfahrung, deren Überzeugungskraft allenthalben in Goethes Erzählsystem geschwächt wird. Auch hierin steht es von den subjektkritischen Pointen Lichtenbergs („Ich fühle mich – sind zwei Gegenstände“109) gar nicht so weit entfernt. Differenzen zwischen dem Signifikanten des Leibes und dem Signifikat des Ich können erstens über dem Mißverhältnis zwischen seiender und sollender Morphologie aufbrechen. In diesem Fall kommt es zu chimärischen Verschiebungen der Menschengestalt innerhalb einer instabil gewordenen ontologischen Hierarchie: so wenn Werther ein wildes Pferd zu sein wünscht, „das sich die erhitzte Ader aufbeisst“ (8,146), Mignon Engelsflügel zu entfalten gedenkt (9,895) oder aber Luciane – lächerlich statt erhaben – die „wunderlichsten Affenbilder“ (8,417) über die Erscheinung von Verwandten und Bekannten blendet.110 Allzu leicht scheint der Leib in die Bewegung der Metamorphose zu geraten, deren Inbegriff das mythische Wechselwesen der Melusine darstellt: ein Fall für Hartmut Böhmes Beschreibung der Physis als „poröse[m] Signifikant[en] in der Kette metonymischer Verwandlungen“111. – Eine zweite Ursache potentieller Ungeborgenheit im eigenen Leib bilden Zustände, welche die Geschlossenheit der Körperströme, auf denen das physiologische Paradigma des Organismus basiert, durch Affizierung von außen beeinträchtigen. Ladungen und Stasen erschüttern den Metabolismus Werthers: „es ist als wenn die Seele sich mir in allen Nerven umkehrte“ (8,78). Werthers beständiges ‚Außer-sich-sein‘ (vgl. 8,44, 146, 209) erfüllt sich in dem factum brutum, daß zuletzt – in einem Prozeß organischer Verstäubung gleichsam – sein „Gehirn“ aus dem Kopf „heraus getrieben“ (8,265) wird. Nicht mehr annähernd so weit gehen die Konstitutionskrisen Wilhelms, der freilich noch oft genug „in Verlangen [zittert]“ (9,62), „an allen Gliedern [bebt]“ (9,960), gar „sich selbst [zerreißt]“ (9,67). – Drittens 108 Vgl. Goethes Aufsatz über Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung (FA I 24,513). Dazu Breidbach: Das Organische in Hegels Denken, S. 29-35, sowie Kuhn: Zur Morphologie. Von 1816 bis 1824, S. 825-831. 109 Lichtenberg: Sudelbücher, Bd. 2, S. 197. Ähnlich Moritz: Deutsche Sprachlehre für die Damen, S. 202204. 110 Das Affen-Problem, die Frage nämlich, was einen am Vernunftgebrauch verhinderten Menschen z. B. von einem Orang-Utan unterscheidet, gehört im übrigen zu den Grundfragen der subjektphilosophischen Diskussion des 18. Jahrhunderts: vgl. Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, S. 417f., sowie mit Bezug darauf Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, S. 221, u. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, S. 237-240. 111 Böhme: Natur und Subjekt, S. 216.

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schneidet endlich auch der Motivkreis um Verkennung und Verwechslung das Körperthema (vgl. oben IV.2.a). Die Zuordnung des Leibes zur Person scheint eben keineswegs immer störungsfrei zu funktionieren: „Das Gesicht schien ihm bekannt, das Wesen hingegen fremd“ (9,108), so nimmt Wilhelm Meister den Schauspieler Melina wahr. Letztlich garantiert die menschliche Leibnatur allenfalls das schiere Dasein, nicht aber ein wie auch immer geartetes Sosein (oder ‚Wesen‘).112 Und im Grenzfall gilt nicht einmal das, weil man nämlich, wie der Lehrjahre-Erzähler feststellt, „einen Körper so lange die Verwesung dauert, nicht ganz tot nennen kann“, umgekehrt aber den lebenden Organismus mitunter ein „leeres Totengefühl“ (9,66) beherrscht, das ihn zur Verwandlung in eine Statue disponiert – eine Statue allerdings, die nicht mehr (wie die Winckelmannsche113) durch beliebig wiederholbare Verlebendigungen und rhetorische Rekonstruktion zum Identitätsphantasma taugt. – Die Radikale, d. h. die Spitzenwerte der von uns soweit noch ohne beschwerten Gender-Akzent beobachteten und beschriebenen Subjektfallibilitäten werden jedoch fast ausschließlich, wie jetzt zu zeigen ist, in der Konstruktion der Frauenfiguren erreicht. Sie erst bieten das erzählexperimentelle Sprungbrett, von dem aus sich die Ausnahmezustände des Subjekts zu Formen regelrechter Extrapersonalisationen aufwerfen.

3. Quellen des Selbstverlusts II a) Künstliche Werkzeuge Zu Beginn ein Fallbeispiel. In Diderots Neveu de Rameau, nachfolgend in der Fassung Goethes, disputieren der räsonable Erzähler und die exzentrische Titelfigur über ein Lieblingsthema der Zeit in Gestalt der Töchtererziehung: „Er: Und was soll sie denn lernen, wenn’s beliebt?/ Ich: Vernünftig denken, wenn’s möglich ist, eine seltne Sache bei Männern und noch seltner bei Weibern. […] Die Natur war stiefmütterlich genug gegen sie und gab ihr einen zarten Körperbau [organisation délicate] mit einer fühlenden Seele […]./ Er: Laßt sie doch weinen, leiden, sich zieren und gereizte Nerven [nerfs agacés] haben wie die andern, wenn sie nur hübsch, unterhaltend und kokett ist.“114 112 Zur Unterscheidung des „Wesen[s] von dem Dasein“ vgl. Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, S. 6, sowie Spinoza: Ethica/Ethik, S. 121. 113 Vgl. Schneider: Natur – Körper – Kleider – Spiel, bes. S. 242-249 („Die vollendete Schöpfung: Der Torso des Herkules“). 114 Denis Diderot: Rameau’s Neffe. Aus dem Manuskript übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Goethe (1805). In: Johann Wolfgang Goethe. Leben des Benvenuto Cellini. Übersetzungen I. Hg. v. Hans-Georg Dewitz u. Wolfgang Proß. Frankfurt/M. 1998 (= FA I 11), S. 655-817, hier S. 681. Vgl. Denis Diderot: Le Neveu de Rameau. In: Ders.: Œuvres. Hg. v. André Billy. Paris 1951 (=Bibliothèque de la Pléiade, Bd. 25), S. 395-474, hier S. 415.

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Die beiden männlichen Sprecher bieten ein Gutteil des neuropathologischen Arsenals einer dem Weiblichen gewidmeten Sonderanthropologie auf. Dabei praktizierte Diderot eine diskursive Strategie, die auf gleitende Adressatenverschiebungen abgestellt ist: explizit, indem sich die Defizienzfeststellung von Männern auf Weiber zuspitzt; implizit, indem doch alle wesentlichen Diagnosen – der benachteiligte Körper, die Disposition zum Leid und zu nervöser Überreizung, verbunden mit Eitelkeit und Gesprächssucht – nur zu deutlich Rameau höchst persönlich betreffen. Er, das Inbild des bizarren Menschen, ist Gegenstand dieses Redens, nicht eine gleichgültige Tochter. Dem Ort der Weiblichkeitsimagination kommt offenbar die Funktion einer diskursiven Stellvertreterposition zu.115 Sie vermag, nach dem entschiedendsten Ausweis der Kantischen Anthropologie, als Prüfstein der menschlichen Kondition schlechthin zu dienen: „Um den ganzen Menschen zu studieren, dürfen wir nur auf das weibliche Geschlecht unsere Augen richten; denn da, wo die Kraft schwächer ist, ist das Werkzeug selbst um so viel künstlicher“.116 Auf dem Spielbrett dieser Substitutionslogik verteilt und bewegt auch Goethe seine Figuren, indem er sich von den Anstrengungen narrativer Ich-Arbeit am ausgiebigsten in seinen Imaginationen der ‚femina ficta‘ erholt. Mit möglichster Vereinfachung gesagt: Goethes Erzählsimulationen des Zweiten Geschlechts dezentrieren das emphatische Individuum des 18. Jahrhunderts und ordnen dessen Fragmente zu den flüchtigen Umrissen des modernen Subjekts. Identitätsbezogene Gefahrenherde werden sozusagen allererst hinter den Brandmauern des imaginierten Weiblichen darstellbar. Dies auf der Folie zeitgenössischer Subjekttheorien, die den Personenstatus der Frau als Problem sui generis behandeln (vgl. oben III.2). Selbstverständlich kennt das Universum von Goethes Romanen und ‚kleinen Erzählungen‘ höchst distinkte Weiblichkeitsfigurationen und nicht jede einzelne weist die Formenpalette der Identitätsverstäubung vollständig auf, vielmehr bringt erst ihre Konfiguration das ganze Phänomen an den Tag. Ebenso gewiß ist, daß die Funken der Prismatisierung des Ich auch aus der Architektur von Männerfiguren schlagen: Der erste, unkontrollierteste Ausbruch einer 115 Zur Frau als Projektionsort vgl. Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 129f. u. 137ff., sowie Liliane Weissberg: Gedanken zur „Weiblichkeit“. Eine Einführung. In: Weiblichkeit als Maskerade. Hg. v. ders. Frankfurt/M. 1994, S. 7-33; als „Reservat“ Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen 1989, S. 233ff. Ferner dazu Fischer-Homberger: Herr und Weib, S. 92-121, bes. S. 95. Vgl. in exemplarischer Übertragung auf einen GoetheText Inge Stephan: Mignon und Penthesilea. Androgynie und erotischer Diskurs bei Goethe und Kleist. In: Annäherungsversuche. Zur Geschichte und Ästhetik des Erotischen in der Literatur. Hg. v. Horst Albert Glaser. Bern u. a. 1993, S. 183-208, bes. S. 192. 116 Immanuel Kant: Menschenkunde. Nach handschriftlichen Vorlesungen hg. v. Friedrich Christian Starke (1831). Nachdruck Hildesheim 1976, S. 358. Zu Kants anthropologischem Interesse an der Erkenntnis der ‚weiblichen Eigentümlichkeit‘ Jauch: Immanuel Kant zur Geschlechterdifferenz, bes. S. 38-45.

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Selbstfragmentierung, höchst aktiv betrieben, findet ohnehin durch Werther statt. Wilhelm betrachtet Hamlet, der über der „Empfindung seines Nichts“ (9,321) brütet, nicht ohne geheime Verwandtschaft. Im ganzen sind es aber doch die Gestalten um ihn herum, die wie seine Lastträger Werthers Leiden auf sich zu nehmen haben; darunter der Harfner, dessen „hohles leeres Ich […] ihm als unermeßlicher Abgrund erschien“ (9,812f.). Gleichwohl operierte Goethe in seinem Erzählsystem mit einigen bewußtseinsgeschichtlichen Formationen, an die erschwerte Bedingungen weiblicher Identitätskonstitutionen gekoppelt sind und durch die gerade in der Weiblichkeitsimagination die Aporien des Subjekts zu voller Signifikanz gelangen. Es handelt sich um die Grundbedingungen (a) der paternalen Gesellschaftsverfassung sowie einer Wissenschaft vom Menschen, die (b) der körperlichen und (c) der geistigen Verfassung der Frau mit Kant das Zeugnis schwächerer Kraft ausstellt, aber auch die Qualität eines ‚künstlichen Werkzeugs‘ zuspricht, das sich die Literatur für feine Schnitte in die kulturelle Konstruktion der Wirklichkeit prinzipiell zunutze machen kann. b) Die „patriarchalische Idee“ So kunstreich ausgeschliffen findet sich das in Rede stehende ‚Werkzeug‘ zunächst durch die Treibräder der Gesellschaftsverfassung: „Nichts schärft das Auge des Menschen mehr als wenn man ihn einschränkt, darum sind die Frauen durchaus klüger als die Männer“ (9,1063), heißt es in den Unterhaltungen. Und auch in seiner Rezension des anonym erschienenen Romans Bekenntnisse einer schönen Seele zeigt sich Goethe dieser Problemdimension gewärtig, wenn er als „Hauptfrage“ glaubte festhalten zu dürfen, wie „ein Frauenzimmer seinen Charakter, seine Individualität gegen die Umstände, gegen die Umgebung retten“ könne.117 Die deutschen Obrigkeiten gaben es schwarz auf weiß, daß Frauen weder als Töchter noch als Gattinnen vollgültige Rechtssubjekte darstellen.118 „[K]urz und gut“, faßte Hippel die Situation im Kapitel „Gesetze“ seines Nachlasses über weibliche Bildung zusammen, „sie haben das vorzügliche Recht, Kinder zu bleiben bis an ihr seliges Ende“119. Zumal die Gattin „hat 117 FA I 19,287. 118 Ein Beispiel aus dem Preußischen Allgemeinen Landrecht (1794): „Ohne des Mannes Einwilligung kann die Frau keine Verbindung eingehen, wodurch die Rechte auf ihre Person gekränkt werden“ (zit. n. William H. Hubbard: Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. München 1986, S. 50). Vgl. Theodor Gottlieb von Hippel: Über die Ehe (1774). Ders.: Sämmtliche Werke. Berlin 1828, Bd. 5, S. 161. Über den mittelbaren Zusammenhang dieses Familienrechts mit der Wirksamkeit Kants vgl. Jauch: Immanuel Kant zur Geschlechterdifferenz, S. 125-131 („Geschlechtsvormundschaft, Allgemeines preussisches Landrecht und der Einfluss Kants“). 119 Theodor Gottlieb Hippel: Nachlaß über weibliche Bildung (1801). In: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 7. Berlin 1828, S. 1-126, hier S. 48.

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aufgehört, das Leben eines Individuums zu führen“120. Die Frau ist von dieser Seite über ihren Personenstand definiert, mit dem sich ihr ganzes Ansehen wandelt. Mit denkbarer Luzidität beschreiben die Wahlverwandtschaften diesen Wandlungsfaktor in weiblichen Biographien: „Was wird nicht gleich abgestreift, was nicht gleich der Vergessenheit überantwortet sobald ein Frauenzimmer sich im Stande der Hausfrau, der Mutter befindet“ (8,447). Somit fällt nichts anderes als der Identitätsgenerator des Gedächtnisses aus (vgl. oben IV.2.c). Eine Figur der Lehrjahre, in einem Fall von symbolwertiger Konstruiertheit, erhält statt eines Eigennamens denn auch nur den Titel von „Wilhelms Schwester, nun Werners Frau“ (9,88). Die Schwester Wilhelm Meisters erfüllt bereits das Schicksal, das Virginia Woolf mit einem Gedankenexperiment für die Schwester William Shakespeares ausgesonnen hat.121 – Flankiert wurde der abgeleitete Status des anderen Geschlechts durch zentrale Regeln des Erziehungsdiskurses. Die verschiedenen zeitgenössischen Experimentalpädagogiken, auf die sowohl Passagen des Meister-Komplexes als auch der Wahlverwandtschaften reflektieren, formulierten ein weibliches Geschlechtsrollenkonzept, das seinen Mittelpunkt nicht in sich selber, sondern in der Männlichkeitskonzeption hat.122 Wir „erziehen eine Anzahl Kinder“, so Natalie über ihre „kleine weibliche Welt“, „für das Glück der Männer“ (9,836). Das Faktum, daß Mignon in dieser Atmosphäre umkommt, drückt kein geringeres Unbehagen aus als der in den Wahlverwandtschaften geäußerte Soupçon, Frauen müßten sich, auch „ohne Mütter zu sein, doch immer einrichten […], Wärterinnen zu werden“, während man „unsre[n] jungen Männer[n] […] leicht ansehen kann“, daß sich jeder „zum Gebieten fähiger dünkt“ (8,446). Das Referenzsignal des Gebietens ruft das Thema einer öffentlichen Herrschaftsorganisation auf, in der es für so etwas wie eine Regentin keinen auf Dauer gesicherten Ort gibt. Im Herzogtum Weimar-Eisenach lag dieses Thema zum Greifen nah: Selbst Herder sah in Anna Amalias Vormundschaftsregierung einen unnormalen dynastischen Zustand, eine „schwache […] Weiberregierung[ ]“123. Als Entscheidungsträgerin ist das „weibliche[ ] Geschlecht“ angesichts der ihm „so nötige[n] und anständige[n] Unter120 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796). In: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Hg. v. Fritz Medicus. Darmstadt 1962, Bd. 2, S. 1-389, hier S. 308-322 („Deduction der Ehe“), Zitat S. 317. 121 Vgl. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Übers. v. Thomas Lindquist. München 1994, S. 570f. („Virginia Woolf und Judith Shakespeare“). 122 Vgl. Rainer Strotmann: Zur Konzeption und Tradierung von Geschlechterrollen in ausgewählten Schriften pädagogischer Klassiker. In: Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung. Hg. v. Barbara Rendtorff. Opladen 1999, S. 117-134. 123 Zit. n. Joachim Berger: Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach (1739-1807). Denk- und Handlungsräume einer ‚aufgeklärten‘ Herzogin. Heidelberg 2003, S. 244-294 („Landesmutter“), hier S. 291.

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werfung“ (9,743) schwierig zu legitimieren und zieht spätestens dann das kürzere Ende, wenn die Machtfrage im Kontext physischer Gewaltsamkeit gestellt und beantwortet wird. Dagegen vermag sich ein „Held“ „den Namen Vater des Vaterlandes“ (9,1057) zu verdienen.124 Sehen wir einmal „in der Geschichte Frauen […], die uns weit vorzüglicher als alle Männer erscheinen“, liegt dies nach dem Urteil Lotharios an deren „Klarheit“ über ihre kautelierten „Umstände“ (9,845). Die für das bürgerliche Zeitalter konstitutive Unterscheidung von Staatsmacht und Familie als voneinander getrennten männlichen und weiblichen Sphären fand seine ultimative Formulierung in Hegels Phänomenologie: Die „sittliche Substanz“ der Welt habe sich „in die beiden Mächte entzweit[ ], die als göttliches und menschliches oder unterirdisches und oberes Recht bestimmt wurden – jenes die Familie, dies die Staatsmacht – und deren das erstere der weibliche, das andere der männliche Charakter“ ist.125 Goethe spürte dieser Entzweiung, der Exorzisierung des mythisch besetzten Weiblichen aus dem Politischen, in gewissen frühen Urkunden des Menschengeschlechts nach: in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments, deren „patriarchalische Idee“ (8,16) bereits Werther schwärmerisch evoziert. Wilhelm Meister spinnt diese Anknüpfung fort, wo er sich (nur in der Theatralischen Sendung) als Autor zweier Bibeldramen mit Haupt- und Staatsaktion betätigt: das eine über Belsazar, worüber wenig verlautet, das andere, ausführlicher referierte, über die wenig bekannte Gestalt der Königin Isebel (2. Buch Könige) – eine bemerkenswert ausgefallene inventio, deren ganzer Reiz in einem geschichtsphilosophisch-biopolitischen Symbolcharakter liegt. In ihrer Eigenschaft als Königinwitwe zur israelitischen Herrschaft gelangt, sucht Isebel, Baalsverehrerin und beschuldigte Hexe, mit der ganzen Gesellschaft (um die Worte der Vampirbraut von Korinth zu benutzen) „den alten Göttern zu[zueilen]“ (1,692). Joram, Anführer eines coup d’état im Namen des Gottes Abrahams, schlägt nun ihr Heer und zieht gegen den Palast, wo sie ihm – mit einer letzten Herrschaftsgeste – auf dem Altan entgegentritt. Was jetzt folgt, ist eine der drastischsten Personenauslöschungen der Weltliteratur: „Er sprach/ Störtzet sie herab. Vnd sie stortzten sie er ab [!]/ das die wand vnd die Ross mit jrem blut besprengt worden/ vnd sie ward zutretten. […] Auff dem acker Jesreel sollen die Hunde der Jesebel Fleisch fressen. Also ward das ass Jsebel wie kot auff dem felde/ 124 Zu den spezifischen Legitimationsschwierigkeiten der Herrscherin vgl. Ute Frevert: „Mann und Weib, und Weib und Mann.“ Geschlechterdifferenzen in der Moderne. München 1995, S. 61-132 („Zur politischen Topographie der Geschlechter“); sowie Heide Wunder: Herrschaft und öffentliches Handeln von Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit. In: Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. v. Ute Gerhard. München 1997, S. 27-54. Vgl. die Kapitel „Herrschaft“ und „Regierung der Weiber“ bei Hippel: Nachlaß über weibliche Bildung, S. 14-18 u. S. 99. 125 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 536.

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im acker Jesreel/ das man nicht sagen kund/ Das ist Jsebel.“126 Werner, dem Wilhelm diesen Dramenplan schildert, reagiert auf solche Ästhetik des Schrecklichen mit Spott, und auch Wilhelm distanziert sich von dem Jugendprojekt, indem er humoristisch vom „Salto mortale meiner Königin“ (ebd.) spricht. „[I]ch begreife nicht“, gesteht Werner, „sollte sie denn wirklich von oben herunter geworfen werden, wie man es in Merians Kupferbibel zu sehen kriegt“ (ebd.). Isebels Versuche, „den Überwinder durch erkünstelte Reize und Schmeicheleien zu bewegen, durch Drohungen zu erschüttern“, sollten damit enden, führt Wilhelm aus, daß „der Held in gerechtem Eifer […] ein sehr wohlgeführtes Gespräch ziemlich rittermäßig kurz ab[schneidet], indem er der Wache befiehlt sie herabzustürzen. Diese greift zu – und der Vorhang fällt“ (9,94.). Wie die ‚Hexen‘-Verbrennung am Schluß der Braut von Corinth wird die Austilgung des devianten Menschen mit derselben performativen Macht der Rede angekündigt, die bereits der Ausschließungsdiskurs über die Opfer ausübte. Der von Goethe hierbei in Erinnerung gebrachte Kupferstich Matthäus Merians d. Ä. – ein gutes Beispiel für die innovativ bewegte Darstellungsweise des Frankfurter Künstlers aus der zuerst 1630 erschienenen sogenannten Merian-Bibel (vgl. Abb. 1)127 – geht über diesen literarisch prägnanten Augenblick einen entscheidenden Schritt hinaus. Er zeigt Isebel, die als solche durch ihre nackte Brust, Zeichen der Devestitur, markiert ist, im freien Fall mit entgleitender Krone.128 Dieser buchstäblichen Haltlosigkeit verfällt sie als Verkörperung der in Hegels Bürgerwelt skandalisierten Deckung von Staatsmacht, unterirdischem Recht und weiblichem Charakter. Perspektiviert wird ihr ‚Fall‘, der im linken Bilddrittel und damit (innerhalb eines Geschehnisablaufes von links nach rechts) bereits an der Schwelle der historischen Erledigtheit geschieht, durch die gebündelten Blicke der Soldaten auf sie. Des politischen Territoriums enteignet, geht ihr solchermaßen auch noch das Territorium der Selbstverfügung verloren. Sogleich wird das Heer nach der oberen Mitte in eine helle, städtisch zivilisierte Zukunft abziehen. Es scheint ein zentrales Funktionselement von Goethes unstillbarem Intertextualitätsbedarf zu sein, die dämpfende Glättung des eigenen Textes durch Heranzitation von Spitzen aus den Hypotexten fein aber nachvollziehbar zu durchstoßen. Daß vor allem der geschlechterdifferentiell-herrschaftsdiskursive Faden die Dramenphantasie der Sendung zusammenhält, erweist dessen Wiederaufnahme im an späterer Stelle referierten, vom jungen Goethe selber verfolgten 126 II. Kg. 9,33-37 (Martin Luther: Biblia. Das ist die gantze Heilige Schrift Deudsch auffs new zugericht. Wittenberg 1545. Hg. v. Hans Volz unter Mitarbeit v. Heinz Blanke. München 1974, Bd. 1, S. 703). 127 Vgl. Stefan Strohm: Die Kupferbibel Matthäus Merians von 1630. Stuttgart 1990, bes. S. 49ff. 128 Vgl. Wolfgang Brückner: Devestierung. In: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte. Hg. v. Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann. Bd. 1. Berlin 1966, Sp. 724-726.

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Plan des Belsazardramas. Mit in der Stofftradition singulärem Nachdruck führte er das Motiv einer Hofintrige ein, deren Haupt zuerst eine Frau, Prinzessin Kandate, ist.129 Konkurrenz erhält sie durch den unvermutet dazustoßenden Perserkönig Darius. Der Ausgang kann nicht überraschen: „Die Prinzessin tritt auf, maßt sich des Reiches an, läßt die Königin bewachen […]; Darius […] kommet selbst, an der Spitze medischer Soldaten […] herein, […], zeigt sich als Herrn, die Verschwornen fallen ihm zu“ (9,160). Die Fabel nimmt sich wie ein herrschaftstheoretisches Folgestück des Isebel-Kasus aus: Die entmachtete Gynokratie probt die Konterrevolution und scheitert kläglich damit. Wir sehen ein Stadium des Geschichtsprozesses, in dem die Prinzessin ihren Machtanspruch erhebt, ohne noch ihre eigenen Verschworenen von dessen Legitimität überzeugen zu können. Goethes Machtanalyse bleibt indes nicht auf dem Stand einer Patriarchatsthese stehen, die das Geschlechterverhältnis einsträngig als Beziehung zwischen einer siegreichen und einer besiegten Gruppe entwirft. Zu sehr zeigt sie sich davon überzeugt, daß der Wunsch männlicher Selbstmächtigkeit phantasmatisch ist. Der Minister Goethe dürfte aus seiner politischen Praxis heraus auch zu desillusioniert gewesen sein, um Macht mehr für eine persönliche Ressource als für eine anonyme Bedingung zu halten.130 Die Baronesse der Unterhaltungen spricht es mit vollendeter Prägnanz aus: „Wie leicht doch Männer sich überreden können […]! Das Wort Herrschaft ist ihnen ein so angenehmes Wort […]. Sie […] mögten uns glauben machen, es sei wirklich auch in der Ausübung Ernst damit“ (9,1006). Laertes, der im Namen Wilhelm Meisters eine Reisebeschreibung verfaßt, enthüllt parodistisch die Diskursunterworfenheit der Fürstenherrlichkeit: „Ein Paar Fürsten beschreiben wir als wahre Väter des Vaterlandes, damit man uns desto eher glaubt, wenn wir einigen andern etwas anhängen“ (9,632). Der Wahlverwandtschaften-Erzähler konstatiert über die Sozialstrategien der Frauen: „durch Abweisen wie durch Empfänglichkeit, durch Beharren und Nachgiebigkeit führen sie eigentlich das Regiment“ (8, 442). Eulalie, die Gesprächsführerin in der Konversationsnovelle von den Guten Frauen, möchte „ein Recht zur Herrschaft […] uns nicht gern vergeben“ (8,629). Mit solchem Herrschaftsanspruch scheint es aber nicht so sehr auf einen weiblichen Anteil an der Gesetzlichkeit abgesehen, sondern vielmehr auf eine Alternative zu dieser: „Alle Gesetze sind von Alten und Männern gemacht. Junge und Weiber wollen die Ausnahme“ (10,757), so kündet ausgerechnet das Archiv der „Ursibylle“ (10,325) Makarie, die selber 129 Vgl. Wilhelm Glenk: Belsazar in seinen verschiedenen Bearbeitungen. München 1910. Zur „contradiction between femininity and the capacity to wield political power” anhand deutschsprachiger Maria-Stuart-Dramen vgl. Susanne Kord: Performing Genders. Three Plays on the Power of Women. In: Monatshefte 86 (1994), S. 95-115 (Zitat S. 97). 130 Vgl. Friedrich Sengle: Das Genie und sein Fürst. Die Geschichte der Lebensgemeinschaft Goethes mit dem Herzog Carl August. Stuttgart u. a. 1993, bes. S. 259ff. u. 409ff.

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eine staunenswürdige Anomalie darstellt. Der in Goethes ‚Töchtern‘ institutionalisierte psychologische und physiologische Ausnahmezustand ist dazu angetan, Makaries retrospektive Prophezeiung zu bestätigen, indem durch sie Grenzen ins Blickfeld gelangen, an denen die Regeln systemimmanenter Ordnungen ihre Geltung zu verlieren beginnen. c) Vernunft- und Gedächtnisdefizienz Kant, hierin konsequenter als die anderen Aufklärer, definierte die erwünschter maßen feste Größe des selbständigen Einzelmenschen über das Kriterium der Rationalität. Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht eröffnet fulminant genug mit der Prämisse: „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann“ und eine „Einheit des Bewußtseins“ aufweist, beruhe auf dem „Vermögen […] zu denken“.131 Unter einem ‚Ich‘ ist nach dieser Maßgabe ein denkendes, verständiges Wesen zu verstehen, das Vernunft besitzt und sich selbst betrachten kann, nämlich als Identisches zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten. Goethe begegnete der Anthropologie mit der Ambivalenz, die für sein Gesamtverhältnis zu Kant (und zum philosophischen Wissen überhaupt) so kennzeichnend ist: ein „mir […] sehr wertes Buch“, doch „im ganzen wie es da steht, ist es nicht erquicklich“,132 das ganze Leben werde darin „wie eine böse Krankheit“133 gesehen. Mit Skepsis betrachtete er – besonders hintergründig in den beiden Kant-Aphorismen der Wanderjahre (vgl. 10,561 u. 761) – eine Konzeption des Menschen, die aus seiner Sicht, wenn auch noch so „sorgfältig bewiesen“ (10,761), eine „Kritik der Sinne“ (10,561) vermissen ließ und schon deshalb die ersehnte Erfahrung eines geheimen Mittelpunkts aller Vermögen eines Menschen (vgl. oben IV.2.c) verfehlen mußte. – Der Schachzug, Subjektsein an entwickelte Vernunft zu koppeln, führt nun freilich auf die Frage, inwiefern dem Weibe eine solche überhaupt zugestanden werden kann und soll. Die Ansicht, daß sich die leib-seelische Konstitution der Frau durch reduzierte logische Fähigkeiten und durch mangelnde Herrschaft des Intelligibilen über das Sensibile auszeichne, beruht auf einer tief in der Bewußtseinsgeschichte verwurzelten Vorstellungstradition, die bei der Neukonstruktion von Weiblichkeit im 18. Jahrhundert in Teilen

131 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). In: Ders.: Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. 6. Aufl. Darmstadt 1998 (zuerst 1960), Bd. 6, S. 395-690, hier S. 407. Vgl. denselben rationalistischen Grundgedanken bei Spinoza: Ethica/Ethik, S. 424: „Nur insofern die Menschen nach der Leitung der Vernunft leben, stimmen sie von Natur stets notwendig mit sich selbst überein“, andernfalls sie „veränderlich und unbeständig“ sind. 132 „Übrigens ist mir alles verhaßt was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben“ (an Schiller, 19. Dezember 1798 [MA 8/1,661]). 133 An Christian Gottlob Voigt, 19. Dezember 1798 (WA IV 13,347).

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kritisiert und verworfen, in wesentlichen Resten aber auf das Fundament des gültigen wissenschaftlichen Beweissystems gebaut wurde. Nicht mehr unter die Kategorie des Vorurteils fallen damit Meinungsbestände, denen zufolge der weibliche Körper weniger vom Gehirn als vom Unterleib bestimmt und die weibliche Psyche in besonderem Maße vom tierischen Empfindungssystem beeinflußt sei. Die formale Gleichheit der Geschlechter gilt damit lediglich unter der selbstverständlichen Voraussetzung der „natürliche[n] Überlegenheit des Vermögens des Mannes über das weibliche“134. „Das schöne Geschlecht“, lautet die konzis verdichtete Formulierung Kants für dieses Ineinander von Identität und Differenz, „hat eben so wohl Verstand als das männliche, nur es ist ein schöner Verstand“.135 Dabei hat der hier agierende Schönheitsbegriff noch viel mit dem älteren ‚aisthesis‘ (Sinnesempfindung) zu tun. „Schöne Tugend“ und „schöne Seele“136 sind weitere Begriffsbildungen nach diesem Muster einer reiztheoretischen Attribuierung weiblicher Vermögen, die eine Disposition zu passiver Empfänglichkeit, aber auch zur pittoresken, thanatologisch konnotierten Vergegenständlichung einschließt. Der von dem Architekten der Wahlverwandtschaften angestellte Vergleich der toten Ottilie mit der Tableau-vivant-Figur Belisars (der Fakturbewußtsein bildende Vergleich also eines homo fictus mit einem homo fictus fictus) stellt genau auf solche Distinktionen ab (und dokumentiert zugleich deren Zusammenhang mit herrschaftstheoretischen Einstellungen): „wenn dort Tapferkeit, Klugheit, Macht, Rang und Vermögen in einem Manne als unwiederbringlich verloren bedauert wurden; wenn Eigenschaften, die der Nation, dem Fürsten, in entscheidenden Momenten unentbehrlich sind, […] ausgestoßen worden: so waren hier so viele andere stille Tugenden […] ausgetilgt: seltene, schöne [!], liebenswürdige Tugenden, deren friedliche Einwirkung die bedürftige Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genügen umfängt und mit sehnsüchtiger Trauer vermißt“ (8,526). Im Gefolge jener Behauptung reduzierter Vernunftfähigkeit läuft der Verdacht mit, die weibliche Natur verrate eine geringere Begabung zum schriftlichen Ausdruck. Dies bedeutet auch, daß die Individualitätsstrategie, mit der „Subjektivität im literarischen Schreiben veranker[t]“137 wird, hier alles andere als gute Voraussetzungen findet. Die dem weiblichen Organismus und 134 Vgl. Immanuel Kant: Die Metapyhsik der Sitten (1797). In: Ders.: Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. 6. Aufl. Darmstadt 1998 (zuerst 1960), Bd. 4, S. 303-634, bes. S. 389-393 („Das Eherecht“), Zitat S. 392. 135 Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 851. Zur zeitgenössischen Debatte geschlechtsdistinkter Erkenntnisvermögen vgl. Sarah Coackley: Geschlecht und Erkenntnis in der westlichen Philosophie: der „Mann der Vernunft“ und die „weibliche Andere“ im Denken der Aufklärung und der Romantik. In: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 27 (1991), S. 500-505. 136 Vgl. Bronfen: Nachwort, hier S. 372-376. 137 Zima: Das literarische Subjekt, S. 21. Vgl. Ulrike Prokop: Die Einsamkeit der Imagination. Geschlechterkonflikt und literarische Produktion um 1770. In: Deutsche Literatur von Frauen. Hg. v. Gisela Brinker-Gabler. München 1988, Bd. 1, S. 325-365.

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Geist zugeschriebene Rezeptivität disponiert die Frau vielmehr zur geborenen Adressatin und zum Objekt der Rede.138 Lotte und Mariane sind nach ihrer Hauptfunktion für Werther und Wilhelm nichts anderes als „Zuhörer“ (9,384) oder Empfangsstationen; im Fall Marianes wenigstens humoristisch aufgehellt, indem sie darüber einschläft (vgl. 9,381). Die Erzählstücke der Unterhaltungen stehen im Dienst der Baronesse von C., werden aber (was in der Forschung offenbar noch niemals größeren Erklärungsbedarf ausgelöst hat) ausnahmslos von den Männern der Gesellschaft, von dem Geistlichen, von Karl und von Fritz, vorgetragen. Noch hybrider gestaltete Goethe seine Fiktionen dort, wo er Frauenfiguren als Leserinnen von Frauenfiguren auftreten läßt. Lotte nimmt mit ihrem ganzen papiernen „Herzen an dem Glükke und Unstern einer Miß Jenny Theil“ (8,44).139 Aurelie, versierte Rollenspielerin, geht vollständig in identifikatorischen Lektüren Ophelies sowie der Orsina auf (vgl. 9,702f., 723) und begeistert sich für die Geschichte der ‚schönen Seele‘, die sich ihrerseits Anton Ulrichs römische Octavia zum Vorbild nimmt (vgl. 9,730). Ein Identitätsversuch verweist in dieser miseen-abîme-Struktur auf den anderen, ohne einmal im Realen, vielmehr stets im Imaginären anzukommen. Eine weitere Quelle im Bereich der Geisteskräfte für die ausgeprägten Ich-Absenzen in Goethes narrativen Weiblichkeitskonstruktionen bilden die liminalen Erinnerungsformen, die ihnen zu eigen sind. Die Gedächtnisfunktion vermag je nach Wirkungsgrad und -weise die Kontinuität der Person, wie gesehen, zu verbürgen oder preiszugeben. Fügen wir noch an, daß sie in der für Goethe maßgeblichen Wissensordnung als geschlechtsspezifisch aufgefaßt wird. Nur deshalb konnte Kant in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen über eine an ‚natürlichen Gegebenheiten‘ orientierte Mädchenerziehung schreiben: „Man wird ihr gesamtes moralisches Gefühl und nicht ihr Gedächtnis zu erweitern suchen“.140 Daß die Konstitution einer vollkommenen Frau „weich und gefällig“ (9,1069) sei, gilt nach unter den Zeitgenossen weithin geteilter Meinung nicht zuletzt hinsichtlich der zerebralen Grundlagen des Gedächtnisses.141 Umso leichter vermag das 138 Zur Verknüpfung sexualontologischer Kategorien mit literarischen Verkehrsverhältnissen vgl. Albrecht Koschorke: Geschlechterpolitik und Zeichenökonomie. Zur Geschichte der deutschen Klassik vor ihrer Entstehung. In: Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Hg. v. Renate von Heydebrand. Stuttgart 1998, S. 581-599. 139 Vgl. aber auch Werthers Identifikationssuche bei Papiermenschen: Erwin Leibfried: Goethes Werther als Leser von ‚Emilia Galotti‘. In: Text – Leser – Bedeutung. Untersuchungen zur Interaktion von Text und Leser. Hg. v. Herbert Grabes. Großen-Linden 1977, S. 145-156, bes. S. 152. 140 Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 853. 141 Vgl. Johann Christian Gottfried Jörg: Handbuch der Krankheiten des menschlichen Weibes nebst einer Einleitung in die Physiologie und Psychologie des weiblichen Organismus. Leipzig 1809, bes. S. 575ff. Über den Zusammenhang von Identität, Gedächtnis und Gehirn auch Bonnet: Philosophische Palingenesie, Bd. 1, S. 20f. u. 361f.

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weibliche Gehirn von Traumata geprägt zu werden, welche die Empfindung der Kontinuität des eigenen Lebens und Bewußtseins beeinträchtigen. Dieser traumatische Erinnerungsmodus steht nun freilich in besonderem Maße den Einflüssen der Einbildungskraft offen. Denn „[u]ngeachtet in allen gebildeten Sprachen Gedächtnis, und Einbildungskraft unterschieden werden, so sind doch“, konstatierte Meiners, „die Gränzen dieser Fähigkeiten nicht genau bestimmt“. Vielmehr gilt: „So wenig Wort- und Sachen-Gedächtnis stets in gleichen Graden beysammen sind; so wenig sind sie in gleichem Verhältnisse mit dem Vorzug der Denkkraft begleitet“.142 Die Vernunftdefizienz des anderen Geschlechts zieht die Dominanz des imaginativ versorgten, von Worten und Gedanken entlasteten Sachen- oder Bildgedächtnisses nach sich.143 Den daraus resultierenden memorialen Notständen hat Goethe namentlich in den Fakturen Mignons und Ottilies Ausdruck gegeben. Einmal in Gestalt bemerkenswerter Ausfallerscheinungen des Erinnerns, die sogar das eigene Selbst einschließen: Mignon „setzte sich meistenteils in eine Ecke […] und schien sich selbst zu vergessen“ (9,167); Ottilie, hierin eine Vorreiterrolle gegenüber den anderen Mitgliedern der Schloßgesellschaft einnehmend, „vergaß Zeit und Stunde“ (8,491), „[vergaß] die Welt“ (8,449) und zuletzt sich selber, indem sie gleichsam – die mystische Erfüllung des jungen Werther – in die Natur hinüberfließt (vgl. unten V.2.d). Zum anderen zeichnen sich Mignon und Ottilie gleichermaßen durch einen beeindruckenden Grad von Traumatophilie aus. Beider Verhaltensreglements sind von analogen Episoden frühen Unglücks, dem identitätsverunsichernden Verlust der Herkunftsfamilie im dämmerbelichteten Vorfeld des Romangeschehens, eingesetzt. Die diesbezüglichen Memorate kehren in visionsartiger Verbindung von Eindringlichkeit und Vagheit wieder; sei es in Mignons wie unbewußt vorgetragenem Italienlied, in dem die Bildfragmente einer Landschaft und eines Palastes aufblitzen, sei es in Ottilies großem Déjà-vu („zum zweitenmal widerfährt mir dasselbige“) im „halben Todesschlafe“ (vgl. 8,498-500). Anders Makarie: Statt eines Gedächtnisses besitzt sie ein Archiv. Ihre Memorabilien sind exkarniert und nach dem technisch-mechanischen Erinnerungsmodell von ‚storage and retrieval‘ abgelegt. Das gescholtene „Maschinenwesen“ (10,385) hat einen seiner vorgeschobensten Posten im geistigen Mittelpunkt seiner Gegner. – Neben Mignon, Ottilie und Makarie, die nicht nur auf diesem Feld für die anthropologischen Hauptsensationen zuständig sind, tragen einige zweitrangige Figuren mit merkwürdigen Spielarten zur Phänomenologie der Erinnerungskrisen bei. Aurelie hat die „verhaßte Erinnerung“ an Lothario, 142 Meiners: Grundriß der Ethik oder Lebens-Wissenschaft, S. 19. 143 Zur Idee, daß die Geistesverfassung der Frau ganz unter dem Gesetz der Einbildungskraft stehe – wegen des Uterus als „Inbegriff eines Organs der Einbildung“ – vgl. Esther FischerHomberger: Aus der Medizingeschichte der Einbildungen. In: Dies.: Krankheit Frau und andere Arbeiten zur Medizingeschichte der Frau. Bern u. a. 1979, S. 106-129, hier S. 116.

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mit dem sie Französisch konversierte, den Gebrauch jener Kultursprache „geraubt“, der man doch bedarf, wie Wilhelm zu Bedenken gibt, „ehe unser Wesen eine Gestalt gewinnen kann“ (9,711). Indem Luciane „alles vergißt und im Augenblick sich an alles erinnert“ (8,280), sprengt sie die Ketten jeglicher personaler Erinnerungskontinuität. Ihre Mutter Charlotte führte zuvor die Ahndungen, in denen „Frauen wohl unüberwindlich“ sind, auf „unbewußte Erinnerungen“ zurück (8,277). In diesem letzten Fall zeichnet sich bereits ab, daß allen hier dargelegten Verstandes- und Erinnerungsdefiziten, die durch die literarische Fingierung von Weiblichkeit hindurch kommuniziert werden können, außerordentliche translogische Begabungen korrespondieren: die Verarbeitungsergebnisse eines ‚überirrdischen Sinns‘, der uns an späterer Stelle noch beschäftigen wird (vgl. unten V.2.b). d) Schwierige Körper Das Leibkriterium des Subjekts empfahl sich zu Zeiten mit besonderem Nachdruck als unmittelbar einleuchtend, naturgarantiert und absolut: von den zirkulären Deutungsprozessen menschlicher Selbstreflexion losgelöst, indem es nämlich personale Identität letztlich an Dingidentität anschließt. Im Verständigungsrahmen der aufklärerischen Rehabilitation der Sinnlichkeit konnte ihm zugetraut werden, den Vorstellungen des Selbst-Besitzes eine sichere, ununterschreitbare bottom line zu verleihen. „[I]hr ganzer Körper, eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn sie sonst nichts dächte, nichts empfände“ (8,46), so begeistert sich Werther über seine einzige Lotte. Bereits versprengte vorliterarische Erfahrungen vermögen dagegen aufzudrängen, wie erschreckend einfach es ist, die Ontosemiologie der Ich-Vermutung, d. h. die wechselseitige Deckung von Sein und Sinn in den Zeichen der Identität, gerade nach der Seite des Leibes zu diskreditieren. Anna Elisabeth (Lili) Schönemann überrascht einmal in ihren Briefen, freilich Jahre nach dem engen Umgang mit Goethe, mit einem ungewöhnlich luziden und schonungslosen Bewußtsein von der kulturellen und damit kontingenten Konstruktivität der eigenen Physis: „Daher kann ich sagen, daß ich jeden Morgen meinen Organismus wieder zusammensetzen und herrichten muß, um nicht als das zu erscheinen was ich bin, sondern als das, was ich sein soll“.144 Der Glaube an die semantisch-referentielle Deckung 144 An Johann Friedrich Schönemann, 19. November 1806 (Die Briefe der Elise von Türckheim, geb. Schönemann. Unter Mitarbeit v. Ernst Marckwald hg. v. John Ries. Frankfurt/M. 1924, S. 185). Zum Körper als Gegenstand sozialer Kontrollen und Erwünschtheiten vgl. Alois Hahn u. Rüdiger Jacob: Der Körper als soziales Bedeutungssystem. In: Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman. Hg. v. Rudolf Behrens u. Roland Galle. Würzburg 1995, S. 285-316.

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der Rede von dem, ‚was ich bin‘, ist darin freilich noch nicht zerstreut, bleibt vielmehr ein Dreh- und Angelpunkt, von dem lediglich die gesellschaftliche Notwendigkeit abzuziehen scheint. Goethe, privilegiert durch seine erhöhte Partizipation an den Ressourcen gelehrten Wissens und mehr noch durch die Darstellungskapazitäten seines Aufschreibesystems, ging über diesen Standpunkt, der im Grunde ein solcher der Entfremdung ist, hinaus – als ein Schritt zur potentiellen Absentierung aus der Subjektwissensordnung. Daß der Körper erst ‚zusammengesetzt und hergerichtet‘ werden muß, sei es durch Einzelne hinsichtlich ihrer Tagesverfassung, sei es durch die Wissenschaft hinsichtlich höher theoretisierter Körperbilder, löst ihn aus der Verankerung in einer scheinbar unhintergehbaren Naturwirklichkeit und übergibt ihn der unabschließbaren Bewegung der Semiose. Wer wie Goethe in den frühen 1770er Jahren anatomische Vorlesungen in deutschen Hörsälen besucht hatte, konnte dies beispielhaft an den Störungen erfahren, denen der Paradigmenwechsel vom Geschlechtermodell der Analogie zu dem der Binäropposition ausgesetzt war.145 Die gründliche Bestimmung des wissenschaftsgeschichtlichen Ortes, an dem sich Goethe in den Medizindiskursen der Universität von Straßburg bewegte, stellt aufs Ganze gesehen ein gravierendes Forschungsdesiderat dar.146 Unter unseren Auspizien ist hier insbesondere eine Konstellation zu entdecken, die sich im April 1771 einstellte. Goethe besuchte seit einiger Zeit das anatomische Theater, als dessen Dramaturg sich Johann Friedrich Lobstein (1736-1784), Professor der Anatomie und Chirurgie, betätigte. Unter dessen Präsidium 145 Vgl. Margita Lipping: Bürgerliche Konzepte zur weiblichen Sexualität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Frauenkörper – Medizin – Sexualität. Hg. v. Johanna Geyer-Kordesch u. Annette Kuhn. Düsseldorf 1986, S. 28-42; Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Übers. v. H. Jochen Bußmann. Frankfurt/M. u. a. 1992, S. 172-219 („Die ‚Entdeckung‘ des Geschlechtsgegensatzes im Leib“); sowie Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, bes. S. 170ff. Zum Verunsicherungspotential des Geschlechtskörpers grundsätzlich Corinna Wernz: Sexualität als Krankheit. Der medizinische Diskurs zur Sexualität um 1800. Stuttgart 1993. – Als konkreten Bezugspunkt Goethes für das Zwei-Geschlechtermodell vgl. z. B. Jacob Fidelis Ackermann: Dissertatio inauguralis anatomica de discrimine sexuum praeter genitalia. Über die körperliche Verschiedenheit des Mannes vom Weibe außer den Geschlechtstheilen. Übers. nebst einer Vorrede u. einigen Bemerkungen v. Joseph Wenzel. Mainz 1788 (Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 4314). 146 Zu Goethes medizinischem Wissen vgl. Wachsmuth: Geeinte Zwienatur, S. 290-298 („Goethe und die Medizin“); Irmgard Müller: Goethe und die Medizin seiner Zeit. In: GJb 1995, S. 55-70; sowie Nager: Der heilkundige Dichter. – Zu den Lehr- und Wanderjahren als Wissenschaftsromanen und Romanen der Heilung mit dem Wundarztberuf als dem denkbar höchsten Bildungsgrad vgl. Walter Müller-Seidel: Dichtung und Medizin in Goethes Denken: Über Wilhelm Meister und seine Ausbildung zum Wundarzt. In: Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Wissenschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Otto Pöggeler. Hg. v. Hans-Jürgen Gawoll u. Christoph Jamme. München 1994, S. 107-137. Ferner Marianne Schuller: Wunde und Körperbild. Zur Behandlung des Wundenmotivs bei Goethe und Kafka. In: Bildkörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin. Hg. v. ders., Claudia Reiche u. Gunnar Schmidt. Hamburg 1998, S. 19-46.

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wurde nun eine Inauguralschrift verteidigt, die sich dem für die neue ZweiGeschlechter-Physiologie entschieden prekären Phänomen des Genitalbruchs widmete. Näherhin geht es dabei um eine im (männlichen?) Fötus angelegte Fehlbildung, bei der die Hoden inoperabel mit dem Darm verwachsen sind, so daß davon sehr plastisch als von einer „tunica vaginalis testiculi“147 gesprochen werden kann. Kurzum: Männliche Geschlechtsmerkmale erweisen sich als invertierbar in weibliche. Nach der Promotionspraxis der Zeit repetierten die Kandidaten die Thesen ihrer akademischen Lehrer, so daß Rückschlüsse auf entsprechende Ideen in Lobsteins Unterricht erlaubt sind. Zwar bemühte sich Goethe in seinen eigenen anatomischen Schriften kurzzeitig (in den 90er Jahren) mit durchaus forscher Apodiktik um eine stabile Trennwand zwischen den Geschlechtern: „Der Hauptpunkt der ganzen weiblichen Existenz ist die Gebärmutter“, durch welche die Natur nach dem sogenannten Kompensationsgesetz „genötigt ist bei anderen Teilen der Gestalt kärglich zu verfahren“.148 Im Jahre 1804 aber weihte ihn Friedrich Joseph Schelver, von Goethe eingesetzter Leiter der Botanischen Anstalt in Jena, in das verbergungswürdige Geheimnis ein, „daß er an der Lehre, welche, den Pflanzen wie den Tieren, zwei Geschlechter zuschreibt, längst gezweifelt habe und nun von ihrer Unhaltbarkeit völlig überzeugt sei“.149 „Nun traten mir“, so Goethe offenbar in Erinnerung an Früheres, die „gegen das Geschlechtssystem von Zeit zu Zeit erregten Zweifel sogleich vor die Seele und was ich selbst über diese Angelegenheit gedacht hatte ward wieder lebendig“.150 Freilich wird man mit solch ketzerischen Ansichten im Gepäck, worüber sich Goethe keinen Augenblick täuscht, „mit Protest von der Schwelle des wissenschaftlichen Tempels zurückgewiesen“, „beseitigt und zur Ruhe gewiesen“.151 In der Architektur seines Erzählsystems bereitete Goethe den inkriminierten Instabilitäten einen Zufluchtsort und Resonanzraum, der sich im Fall des Knabenmädchens Mignon bis in die 70er Jahre erstreckt 147 Johann Friedrich Lobstein (Präsidium): De Hernia congenita, in qua intestinum in contactu testis est. Straßburg 1771, S. 43f. Vgl. Eduard Lobstein: Johann Friedrich Lobstein sen., Professor der Anatomie und Chirurgie. Heidelberg 1880, bes. S. 24ff. 148 Allgemeine Einleitung in die vergleichende Anatomie (FA I 24,237). Zum Kompensationsgesetz Verra: Die Vergleichungsmethode bei Herder und Goethe, hier S. 59. 149 Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung (FA I 24,509). Zu Schelver vgl. Günter Steiger: Die Klassische Zeit der Universität Jena. In: Alma mater Jenensis. Geschichte der Universität Jena. Hg. v. Siegfried Schmidt in Verbindung mit Ludwig Elm u. Günter Steiger. Weimar 1983, S. 127-176, hier S. 154; sowie Thomas Bach: „Für wen das hier gesagte nicht gesagt ist, der wird es nicht für überflüssig halten.“ Franz Joseph Schelvers Beitrag zur Naturphilosophie um 1800. In: Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Hg. v. Olaf Breidbach u. Paul Ziche. Weimar 2001, S. 65-82. Zur Diskussion um die Pflanzensexualität Breidbach: Das Organische in Hegels Denken, S. 122f. u. 226-233, sowie François Delaporte: Das zweite Naturreich. Über die Fragen des Vegetabilischen im 18. Jahrhundert. Berlin 1983, S. 121-139. 150 Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung (FA I 24,509). 151 Ebd., S. 510.

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– nicht sehr lange nach dem Besuch der Anatomievorlesungen Lobsteins. Die Schwächen des Zwei-Geschlechter-Modells konnten lange Zeit erfolgreich als die des Frauenkörpers ausgewiesen werden. In dem dazu erforderlichen Entwurf glich dieser einem uneinigen Land, das sich der wünschenswerten diätetisch-medizinischen Regierbarkeit im Inneren ebenso entzieht wie seine Außengrenzen besonders ungeregelt und durchlässig sind. Daraus mußten sich Steuerungsprobleme ergeben, deren Komplexität die Zuständigkeit eines neuen Arzttypus, des Gynäkologen, verlangte. Dieser Hintergrund disponiert Goethes Narrationen dazu, den Garantiemangel des Körpers vorzugsweise vermittels der Weiblichkeitsimagination zu autopsieren. „Die Herrschaft des Mannes über die Frau muß […] sein […] wie der Seele über den Leib.“152 Die Sentenz aus der Feder Hippels liefert einerseits einen Beleg für die in den gelehrten Diskursen fest installierte Mentalität der Weib-Leib-Gleichung, faltet andererseits aber auf der Folie der zeitgenössischen Anthropologie einen perfiden Hintersinn aus. Herrscht doch der Leib nicht weniger über die Seele als umgekehrt. Und niemand ist vom influxus physicus, einem Kernstück der neuen Wissenschaft vom Menschen, rückhaltloser betroffen als gerade das Geschlecht, dessen Existenz so sehr im Körper aufgeht. „Wir haben aber unser Gemüth nicht in unserer Gewalt, […]: wie viel hängt vom Körper ab!“ (8,64), erinnert die Pfarrersfrau gegen Werthers (sehr unberufene) Ermahnung zum Glücklichsein qua Willensentscheidung. Der weibliche Körper, wie er im 18. Jahrhundert entworfen wurde, läßt ebenfalls daran zweifeln, ob es eine glückstechnische Verfügungsgewalt über ihn geben kann. „Bildungskraft und Empfindungsfähigkeit“, so Goethe, „verhalten sich zueinander wie Mann und Weib“.153 In den Unterhaltungen erscheint diese Annahme zu dem Verdacht zugespitzt, daß das weibliche Geschlecht, „ein für allemal […] schwach“ (9,1044), „Empfindungen und Begierden […] überlassen“ (9,1042) sei. Diese Zuschreibungen erfolgen auf der Grundlage von Vorstellungen über das Nervensystem, deren Diskursivierung Goethe im Rahmen seiner anatomischen Interessen, wohl aber auch aus Neugier für das damit zusammenhängende Phänomen der Sympathie verfolgte. Das Konzept der Seele als Steuerungszentrum vitaler Prozesse griff noch mit einer Individualitätsvorstellung zusammen, für die im Modell der „Nervenknoten, die wir Gehirn zu nennen pflegen“154, wie sich Goethe ausdrückt, kein Platz mehr blieb. Nach gängiger gynäkologischer Ansicht 152 von Hippel: Über die Ehe, S. 162. 153 Italienische Reise (FA I 15/1,579). 154 Allgemeine Einleitung in die vergleichende Anatomie (FA I 24,231). Zum Konnex von Sympathieund Nervenlehre vgl. Jacob Friedrich Abel: De phaenomenis sympathiae in corpore animali conspicuis dissertatio (1779). In: Jacob Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773-1782). Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie hg. v. Wolfgang Riedel. Würzburg 1995, S. 237-292. Vgl. Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 4313.

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der Zeit verzweigen sich die Nerven und Nervenknoten der Frau „in ein weicheres und mehr lockeres Substrat hinein“155 mit der Folge erhöhter Fragilität des weiblichen Nervengebäudes. Rameaus Neffe, der – von Goethe gedolmetscht – die „gereizte[n] Nerven“156 der Mädchen diagnostiziert, reflektiert auch geschlechtsspezifisch die Umstellung von säftepathologischen auf nervenphysiologische Erklärungsmuster: „Sonst hatte Mademoiselle Vapeurs, jetzt sinds die Nerven“.157 Diese Voraussetzungen steuern eine ungewöhnliche Beobachtung, die Werther bei Gelegenheit des Gewitters auf der Tanzgesellschaft vornimmt: „Es ist natürlich, wenn uns ein Unglük oder etwas schröckliches im Vergnügen überrascht, daß es stärkere Eindrükke auf uns macht, als sonst, theils wegen dem Gegensazze, der sich so lebhaft empfinden läßt, theils und noch mehr, weil unsere Sinne einmal der Fühlbarkeit geöffnet sind und also desto schneller einen Eindruk annehmen. Diesen Ursachen muß ich die wunderbaren Grimassen zuschreiben, in die ich mehrere Frauenzimmer ausbrechen sah. Die Klügste sezte sich in eine Ekke, mit dem Rükken gegen das Fenster, und hielt die Ohren zu, eine andere kniete vor ihr nieder und verbarg den Kopf in der ersten Schoos, eine dritte schob sich zwischen beyde hinein, und umfaßte ihre Schwesterchen mit tausend Thränen“ (8,50). Die atmosphärischen Entladungen scheinen unmittelbar auf die Lebensbewegungen des weiblichen Organismus überzugreifen. Sie bedeuten – nach den Begriffen des wichtigsten nervenphysiologischen Denkansatzes der Goethezeit, des Brownianismus – eine Reizüberflutung, die bei der hohen „excitability“ des Frauenleibs einen hypersthenisch genannten Zustand des inneren Aufruhrs herbeiführt.158 Dem Zusammenbruch der individuellen Nervengebäude entspricht die groteske Verklammerung, mit der die drei Frauenzimmer geradezu zu einem einzigen Mischwesen zusammendrängen. Über den nervösen Leib ist das Weib mit der Natur verschaltet und ihren Kräften ausgesetzt. Werther selber, der die Aufforderung „Sei ein Mann“ (8,917) nötig hat, unterliegt ganz dem Einfluß der Naturverhältnisse wie beispielsweise den wechselnden Jahreszeiten. Desgleichen Ottilie, schon weil sie expressis verbis wie eine Pflanze in der Erde wurzelt (vgl. 8,460), wozu 155 Jörg: Handbuch der Krankheiten des menschlichen Weibes, S. 71; zur größeren Empfindlichkeit des weiblichen Nervensystems auch S. 575-592 („Von der Hysterie“). Zur pathogenen Delikatesse des ärztlich entworfenen weiblichen Nervenkostüms quellennah auch Ursula Geitner: Passio hysterica – Die alltägliche Sorge um das Selbst. Zum Zusammenhang von Literatur, Pathologie und Weiblichkeit im 18. Jahrhundert. In: Frauen – Weiblichkeit – Schrift. Hg. v. Renate Berger, Monika Hengsbach, Maria Kublitz, Inge Stephan u. Sigrid Weigel. Berlin 1985, S. 130-144. 156 Diderot: Rameaus Neffe, S. 681. 157 Ebd., S. 713. Vgl. zu dieser Episode Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 124. Zur Erklärung der ‚vapeurs‘, aus dem Uterus aufsteigende Dämpfe, die das Gehirn umnebeln, vgl. Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne. Übers. v. Nikolaus G. Schneider. Berlin 1998, S. 120f. 158 Vgl. Rothschuh: Konzepte der Medizin, S. 342-352. Belege für Goethes Rezeption des Brownianismus bietet Müller: Goethe und die Medizin seiner Zeit, S. 59f. u. 69.

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sich auch ihre Affinität zum Wasser fügt.159 Im selben naturalen Symbolkreis wird die Existenz Mignons gefaßt: Eine Lilie ist sie (vgl. 9,894, 965), seit dem Verdacht ihres Todes im See mit dem unberechenbaren Element assoziiert; der Maler der Wanderjahre stellt sie sinnenreich „von Wasserfällen besprüht“ (10,499) dar. Diese Offenheit zur Natur hin, vermittelt über ein Vegetabilisches, das auch dem menschlichen Körper und einer körpernahen Seelenfakultät (aristotelisch gesprochen der anima vegetativa) zu eigen sein kann, folgt nun nicht etwa den Regeln für die von Albrecht Koschorke beobachteten „somatischen Ein- und Ausfuhren“, die „einer Kultur des Selbst dienlich“ sind.160 Sie ist Resultat einer Sympathie, die nicht mehr nur (als imaginative Kraft) die Brücke zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft schlägt, sondern auf physiologischer Ebene die Grenze zwischen Innen und Außen, die Herder zufolge „für den vesten Bestand einzelner Wesen [sorgt]“161, verwischt, wenn nicht durchbricht. Goethes nachhaltiges Interesse an der Büste einer Frau, die aus einem Blumenkelch hervorwächst, zeitgenössisch als Darstellung der Klytia aus Ovids Metamorphosen gedeutet (Abb. 2), läßt sich unschwer in diesem Kontext verorten.162 Diese Gestalt ist augenfällig nicht im Ich, sondern im Nicht-Ich der Natur grundgelegt. Diese Grenzüberschreitung mit Neigung zum Wunderbaren und Außerordentlichen ist charakteristisch für die Differenz zwischen dem medizinischphysiologischen Wissen der Zeit und Goethes erzählerischer Erkenntnis. Die „wunderbaren Grimassen“ (8,50) jener drei Mädchen, die sich so unwahrscheinlich ineinander schieben, geben dafür (den Beginn des Melusinenkomplexes ausgenommen) das früheste Beispiel. Von hier aus öffnet sich ein Motivhorizont, in dem die in die Terme des Leibes gesetzte Hoffnung, daß sie aus der Spekulation über das Subjekt in dessen Realisation führen mögen, durch Phänomene der Hybridisierung der Körpergestalt nachhaltig beeinträchtigt wird. – Mit besonderer Leichtigkeit vermengen sich zunächst männliche und weibliche Erscheinungsbilder. Dies jedoch nicht eigentlich 159 Vgl. Dirk Grathoff: Der Pflug, die Nußbäume und der Bauernbursche. Natur im thematischen Gefüge des ‚Werther‘-Romans. In: GJb 1985, S. 184-198, sowie mit Vorbehalten Peter Dettmering: Reglose und entfesselte Natur in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. In: Ders.: Dichtung und Psychoanalyse II. München 1974, S. 33-68 u. 164-167. 160 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 54. Zur vegetabilischen Interpretation der Frau vgl. Christine Lehmann: Das Modell Clarissa. Liebe, Verführung, Sexualität und Tod der Romanheldinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1991, S. 81ff. 161 Herder: Liebe und Selbstheit, S. 305. Zur Unterscheidung zwischen limitierter und extensiver Sympathie vgl. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 502. 162 Vgl. den diesbezüglichen Briefwechsel mit Johann Friedrich Blumenbach vom 19. November und 18. Dezember 1793 (WA IV 18,54-56). Dazu Christian Schuchardt: Goethe’s Kunstsammlungen. 3 Bde. Jena 1848f., Bd. 2, S. 335, Nr. 113; sowie Max Wegner: Goethes Anschauung antiker Kunst. Berlin 1944, S. 76. Zur umstrittenen Herkunft und Datierung des Originals vgl. Susan Walker: Clytie – a False Woman? In: Why Fakes Matter. Essays on Problems of Authenticity. Hg. v. Mark Jones. London 1993, S. 32-40.

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im Register der Androgynie, sondern dem der Gynandrie, also der Modifikation von als Frauen eingeführten Figuren ins Maskuline. Konzentriert tritt das Motiv solcher Zwitterbildung im prominenten Reigen der Lehrjahre auf, in dem sich das „zwitterhafte Geschöpf“ (9,553) Mignon, die „schöne Amazone“ (9,589) Chlorinde/Natalie, der „Offizier“ (9,359) Mariane und der „Jägerbursche“ (9,822) Therese zusammenschließen.163 Im hartnäckigen Phantasma der Amazone und ihrer „Mannweiblichkeit“ (9,378), einem Prototyp der Manipulierung des weiblichen Geschlechtskörpers, reicht es aber bis in die Wanderjahre hinein, wo die Ekphrasis einer kolossalen Amazonenschlacht gegeben wird (vgl. 10,525f.). Zu den Hybridisierungsphänomenen zählen des weiteren, wenn auch mit unterschiedlichem Wirklichkeitsstatus, die nicht wenigen Fälle einer Art von Chimärenbildung: Die Erscheinungen Mignons und Ottilies changieren vermittels theatralischer bzw. piktorialer Kostümierungen zwischen Mensch und Engel (vgl. 9,894f. u. 8,406); Melusine (von ihrer abgeschatteten Nixenseite) und die Lilie im Garten des UnterhaltungenMärchens spielen komplementär ins (tierisch bzw. pflanzlich) Subhumane. Als letztes Moment der Verschiebung und Verzerrung der Körperzeichen ist auf das von Goethes Erzählen mehrfach interpretierte biologische Datum der Schwangerschaft hinzuweisen. Immerhin stellt es sich als Grenzzustand dar, der die Annahme einer leiblich versicherten Individualität, d. h. einer unteilbaren Einheit der Person, in denkbar konkretem Sinn außer Kurs setzt. In seinen anderen Umständen erreicht das andere Geschlecht einen Höchstgrad der Alterität. „Mit dieser Function“, so instruiert uns ein gynäkologisches Standardwerk der Zeit, „besteigt es die höchste Stufe der Weiblichkeit, wo es sich am meisten vom Manne unterscheidet“.164 Die Dividierbarkeit und Deformierbarkeit seines Körpers wird hierdurch augenfällig realisiert. „Unförmlicher […] ist nichts in der Welt“ (9,939), heißt es über die schwangere Philine. Auf den ersten Blick scheint von Goethe nichts als ein komischer Widerspruch intendiert, wenn „Madam Melina, ohngeachtet ihrer hohen Schwangerschaft, die Rolle der himmlischen Jungfrau [Minerva] übernommen hatte“ (9,531). Aber diese Minerva wird wegen ihrer Zuständigkeit für den Krieg und die Künste als eine „doppelte Person“ (ebd.) annonciert. Und insofern ist der Schwangeren diese Rolle im wahrsten Sinne des Wortes auf den Leib geschrieben. Potenzierte Formen nimmt deshalb der Mischwesenstatus der neuen Melusine an, indem sie in ihren „zweierlei Gestalten“ (10,643) auch noch „entschieden guter Hoffnung“ (10,640) ist (vgl. unten V.2.c). 163 Detailliert ausgeleuchtet in den Arbeiten von Catriona McLeod: Pedagogy and Androgyny in ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. In: MLN 108 (1993), S. 389-426; Mignon und Penthesilea. Androgynie und erotischer Diskurs bei Goethe und Kleist. In: Annäherungsversuche. Zur Geschichte und Ästhetik des Erotischen in der Literatur. Hg. v. Horst Albert Glaser. Bern 1993, S. 183-208; sowie Embodying Ambiguity. Androgyny and Aesthetics from Winckelmann to Keller. Detroit 1998. 164 Jörg: Handbuch der Krankheiten des menschlichen Weibes, S. 23-37 („Schwangerschaft“), hier S. 23.

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e) Homo duplex Das Zusammenspiel der Sachbereiche von fragilem Seelenhaushalt (c) und schwierigem Körper (d) kann kaum weniger problematisch sein als jeder einzelne derselben für sich. Goethes programmatisches Ethos hinsichtlich der „Vorzüge des Geistes und Körpers“ lautet freilich auf „das unablässige Streben zu einem unteilbaren Ganzen, welches der menschlichen Natur, als ihr schönstes Erbteil, angeboren“165 sei. Diese Überzeugung, in der immerhin bereits eingeräumt ist, daß sich das avisierte Ziel der endgültigen Erreichbarkeit entzieht, schreibt sich zum einen von Goethes Vorliebe für die „schöne Hippocratische Verfahrungsart“166 her: deren diätetischen Grundgedanken vom gesunden Gleichgewicht und kranken Ungleichgewicht der menschlichen Kräfte, voran von mens und corpus. Zum anderen ist sie von Goethes philosophiegeschichtlicher Position gedeckt: der dem Cartesianischen Rationalismus entgegengesetzten Synthese von neuplatonisch-idealistischen mit empirisch-sensualistischen Gedankengängen.167 Diese Operation steht ihrerseits gar nicht so weit entfernt von einem Hauptpunkt innerhalb der charakterologischen Diskussion der pragmatischen Erzähltheorie (vgl. oben II.1.a), nämlich – anthropologisch reformuliert – der Anforderung, zur Schilderung ‚wahrer Charaktere‘ das Körper- und das Geistwärtsgerichtete im Brennpunkt eines Harmonieideals zu verschmelzen und damit die „Vereinigung zwoer sehr verschiedener Substanzen“168 zu leisten. Ungeachtet dieser Theoriephalanx, welche die bruchlose Architektur des Individuums auch für die Verbindung von Seele und Körper verteidigt, bauen sich nun gerade in den Fakturen seiner ‚geliebten Töchter‘ Spannungen auf, die es der schönen Einheit der psychophysischen Menschennatur schwer machen und vielmehr zur Humeschen Analyse von deren Kontinuitätsmangel ausschlagen.169 Mignon, Ottilie und Makarie zeichnen sich durch bis zur Flüchtigkeit subtile Geistesverfassungen in Körpern aus, die jeweils von Beginn an der Krankheit anheimgegeben sind und dadurch ihre eklatante Materialität in den Vordergrund schieben. Die regelmäßige Begabung dieser Figuren mit überirdischen Sinnen, vor allem einer immer wieder unter Beweis gestellten visionären Hellsichtigkeit (vgl. unten V.2.a), gehen 165 Rameaus Neffe (FA I 11,791). Vgl. Schiller: Versuch über den Zusammenhang (NA 20,64): Gefragt wird nach der Kraft, „die die heterogenen Principien des Menschen gleichsam zu Einem Wesen macht“. 166 Dichtung und Wahrheit (FA I 14,494). Dazu Müller: Goethe und die Medizin seiner Zeit, S. 69f. 167 Dazu Ernst Moritz Manasse: Goethe und die griechische Philosophie. In: Goethe und die Tradition. Hg. v. Hans S. Reiss. Frankfurt/M. 1972, S. 26-57. 168 Bonnet: Philosophische Palingenesie, Bd. 1, S. 10. 169 Vgl. Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, bes. S. 80-90. Es gebe, so Humes Ausgangspunkt, kein „geheimnisvolleres Prinzip, als die Verbindung von Seele und Körper“ (S. 80). Die Schlußfolgerung seiner Analysen lautet, „daß wir überhaupt gar keine Vorstellung von Verknüpfung oder Kraft besitzen“ (S. 90).

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mit den naturalistischsten Zufällen der Maschine einher: „Zuckungen“ und „krampfige[ ] Bewegungen des Körpers“ (9,498) bei Mignon; Magersucht, „Kopfweh […] schmerzlich und bedeutend“ (8,293), Lähmungen – „[Ich] konnte […] mich nicht regen, […] wenn ich auch gewollt hätte“ (8,499) – und nochmals „Zuckungen“ (8,521) bei Ottilie; akutes Kopfweh, das ihr die Schreibfähigkeit raubt (vgl. 10,335), chronische Lähmung und daher ständige ärztliche Aufsicht (vgl. 10,379) bei Makarie. Indem sie wechselweise solchen Extremwerten zuneigen, widersetzen sie sich den Anforderungen des subjektkonstituierenden commercium corporis et mentis. Liminale Geisteszustände und extreme Körperverfassungen stehen dann zwar noch immer in den von der anthropologischen Harmonielehre geforderten „simultanen Verhältnissen“, lassen aber nichts von einer „geläuterte[n] Mitte“ erkennen.170 Sie tarieren sich nicht zum Gleichgewicht eines geheimen Mittelpunkts aus, sondern bilden ein doppeltes Ungleichgewicht. Die delikaten Verhältnisse des weiblichen Nervensystems mußten dem Vorschub leisten, da gerade in seinem Medium die Vermittlung der heterogenen Wesen geleistet werden sollte. Statt dessen setzt der lückenlose Zusammenhang des Individuums hinsichtlich seiner Erstreckung auf der Leib-Seele-Achse in diesen Figuren aus. Die Spanne zwischen dem Geistigsten und dem Materiellsten erlaubt nicht mehr von einer Polarität zu reden, in der das Subjekt rund eingefaßt wäre. Vielmehr macht die menschliche Natur hier einen Sprung, den es nach Herders aus Leibniz gezogener Lehre unter der Voraussetzung der „Einerleiheit des Individuums“171 gar nicht geben dürfte. Es ist als ein Ergebnis von Goethes „Kritik der Sinne“ (10,561) zu verstehen, daß res cogitans und res extensa der klassisch-cartesianischen Symbolordnung durch die aufklärerische Rehabilitation der Sinnlichkeit nicht erfolgreich koordiniert werden können. Das in der narrativen Weiblichkeitsimagination zur Darstellung gebrachte paradoxe Grundverhältnis von Körper und Geist übersetzt eine Entzweiung, die in den theoretischen Schriften Schillers und Friedrich Schlegels ins Innere der Modernedefinition führt.172 Es prägte sich in einem historischen Kontext aus, in dem an der Bruchstelle des Substanzendilemmas entlang die gynäkologische Sonderanthropologie eine besondere Körperunterworfenheit ihres Objekts („mehr Stoff, mehr Körper“173) vertrat, während man in einem eher empfindsamen Debattenrahmen 170 Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise, S. 37. 171 Johann Gottfried Herder: Wahrheiten aus Leibniz (1769). In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1877-1913, Nachdruck 2. Aufl. Hildesheim u. a. 1978 (zuerst 1967f.), Bd. 32, S. 211-225, hier S. 215. 172 Vgl. Andreas Käuser: Archaik und Moderne. In: Konzepte der Moderne. Hg. v. Gerhart von Graevenitz. Stuttgart 1999, S. 521-543, bes. S. 531f. 173 Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied, S. 284f. Dazu Lesley Sharpe: Über den Zusammenhang der tierischen Natur der Frau mit ihrer geistigen. Zur Anthropologie der Frau um 1800. In: Anthropologie und Literatur um 1800. Hg. v. Jürgen Barkhoff u. Eda Sagarra. München 1992, S. 213- 225.

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eine exuberante Spiritualisierung des Weiblichen als Inbegriff „moralische[r] Allmacht“174 vorantrieb. Die darauf zu beziehenden Konkurrenzpositionen innerhalb der Diskursivierung der menschlichen Natur, die Alternativen der Dominanz von materia oder anima, prallen in der Konstruktion hervorragender Frauenfiguren aufeinander. Es ist eine produktive Lizenz literarischer im Unterschied zu gelehrter Erkenntnis, daß hier beides möglich ist. Mignon, Ottilie und Makarie sind zugleich überaus spirituell und höchst korporal: nicht, wie der anthropologische Topos lautet, „Mittelding von Vieh und Engel“175, sondern einerseits Vieh und andererseits Engel, in jedem Fall aber menschliches Maß verfehlend. Johann Heinrich Meyer hat diese Konstellation signifikant der einzigen Arbeit zugrunde gelegt, mit der sein „Wollen und Vollbringen die Bahn der deutschen Kunstgeschichte schneidet“: der Zeichnung Ödipus löst das Rätsel der Sphinx, über die sich Goethe, für den sie erklärtermaßen geschaffen wurde, im März 1791 ausführlich und mit vollem Beifall aussprach.176 Ödipus, nach dem Wesen des Menschen gefragt, steht zwischen der Sphinx, die – halb Weib, halb Tier – auf der Erde kauert, und Minerva, die – mit durchsichtigem Leib über der Erde schwebend – eine immaterielle Substanz vorstellt (vgl. Abb. 3). Die Gestalt des Ungeheuren ist, so Goethe, „wohl mit Vorbedacht […] gröber und roher gehalten“, um die göttliche Gestalt „desto zierlicher erscheinen zu machen“, was „der Gegenstand einer kritischen Unterredung werden [mag]“.177 Der Diskussionswert dieses Sujets gibt einen weiteren Hinweis darauf, daß der Hauptschlüssel für Goethes Dividualitätssemantik in den Ausdrucksformen des Mythos zu suchen ist.

174 Vgl. Hippel: Nachlaß über weibliche Bildung, S. 84ff.: Eigenschaften der Frauen seien „Natur und Wahrheit“ sowie „aus Menschenliebe abstammende Bereitwilligkeit zur Selbstverleugnung“. Dazu Heidi Ritter: Der Diskurs über die Tugendhaftigkeit des Weibes. Frauenbilder und Weiblichkeitsmuster in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Aufklärung und Spätaufklärung. In: Aufklärung nach Lessing. Hg. v. Wolfgang Albrecht. Kamenz 1992, S. 57-68; zur Spiritualisierung der Frau auch Bronfen: Nachwort. Zur Rivalität zwischen den beiden Weiblichkeitskonzeptionen Albrecht Koschorke: Die zwei Körper der Frau. In: Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart. Hg. v. Barbara Vinken. München 1997, S. 66-91. 175 Schiller: Versuch über den Zusammenhang (NA 20,47). 176 Vgl. Hans Wahl: Zu den Zeichnungen von Johann Heinrich Meyer. In: Zeichnungen von Johann Heinrich Meyer. Hg. v. Hans Wahl. Weimar 1918, S. 7f.; vgl. ebd. Tafel II. Ferner Schloßmuseum Weimar: Johann Heinrich Meyer. Gedenkausstellung in der graphischen Sammlung. Weimar 1960, unpaginiert (S. 4). – Zu Meyers Gemeinsamkeiten mit Goethe Jochen Klauß: Der Kunschtmeyer. Johann Heinrich Meyer. Freund und Orakel Goethes. Weimar 2001. 177 An Johann Heinrich Meyer, 13. März 1791 (WA IV 9,250).

V. „Dem Märchen ähnlich“ Mythopoetik und Desubjektivierung 1. „Wundergeschöpfe“ a) Goethe und die Mythologiediskussion „Auf der Grenze“, notierte Lichtenberg, „liegen immer die seltsamsten Geschöpfe“1; und auch hierin, wie bereits in den damit korrespondierenden Sichten auf den Subjektgedanken, nimmt Goethe bei näherer Betrachtung einen verwandten Standpunkt ein. Wird doch sein Erzähluniversum von einer gravitationsmächtigen Isotopie durchzogen, die ans Phantastische reichende, letztlich monströse Mischgestalten am Leitfaden des anderen Geschlechts aufreiht. Die Rede ist von jenen „doppelte[n] Person[en]“ (9,531), „zwitterhafte[n] Geschöpf[en]“ (9,553), „Halbmenschen“ (9,557), „englische[n] Geist[ern]“ (10,635), „Nixen“ (10,642) etc., die sich der gewohnten „Ordnung der Dinge“ (10,437) einschließlich der meisten Identitätserwartungen entziehen. Es handelt sich um figürliche Erscheinungen, die weder über selbstregulative Körperkontrolle im Sinne des Organismuskonzepts noch über die subjektkonstitutive Vernunft verfügen, insofern sich diese als das System selbstkontrollierter Autonomie in Differenz zur heteronomen Natur ausweist. Goethe kreierte diese Wesen entgegen der romanpoetologischen Warnung vor dem Vergnügen an übertriebenen, handlungslogisch inkohärenten Charakteren, das – so Blanckenburg – „seltsame Dinge schaffen“ müsse und die Figuren „über die Gränze […] ausdehnet“, in der ein „wirklicher, einzelner Mensch, ein wahres lebendes Individuum“ doch erst bestehen könne.2 Goethe (und Schiller) zufolge erfüllt sich epische Dichtung in der „Welt der Phantasieen, Ahnungen, Erscheinungen, Zufälle und Schicksale […]; wobey denn für die Modernen eine besondere Schwierigkeit entsteht, weil wir für die Wundergeschöpfe […] der Alten, so sehr es zu wünschen wäre, nicht leicht Ersatz finden“.3 Die solchermaßen annoncierten Gestalten gehören dem Hoheitsgebiet des Mythischen an. Sie gelten Goethe als „Urphänomene“4 und sind damit der Konzeption des Typus verwandt, die er in die Position eines narratologischen Prinzips gerückt hat: Unter einer Textoberfläche des exoterisch Mannigfaltigen und Einzigartigen tauchen, über die Einzeltexte hinweg und deren Grenzen relativierend, 1 2 3 4

Lichtenberg: Sudelbücher, Bd. 1, S. 254. Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 454 u. 457. Über epische und dramatische Dichtung (FA I 22,296). Fritz Strich: Die Mythologie in der deutschen Literatur von Klopstock bis Wagner. 2 Bde. Halle 1910, Nachdruck Tübingen 1970, S. 328ff. Vgl. Benedikt Jeßing: Mythos. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4/2. Hg. v. Hans Dietrich Dahnke u. Regine Otto. Stuttgart u. a. 1998, S. 734-737, S. 735.

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mehrfach dieselben esoterischen Schlüsselgrößen auf. Die Markierung des ‚Ur‘ verweist dabei nicht etwa auf eine Vorzeitlichkeit, zu der ein historisches Abstandsverhältnis gewahrt werden könnte,5 sondern – der „Zuordnung von historischer ‚Vorwelt‘ und psychischer ‚Unterwelt‘“6 gemäß – auf mitlaufende Grundbedingungen aller natürlichen Vollzüge. Über die Struktur des Mythischen gibt der locus classicus eines Werkes Auskunft, das in Goethes Korrespondenz mit dem Duzfreund Karl Ludwig von Knebel seit 1793 immer wieder zur Sprache kommt: Lukrezens De rerum natura, eine unumstrittene Hauptquelle für Goethes Naturphilosophie. Knebels übersetzerischen und interpretatorischen Verdiensten um diesen Text will Goethe, wie im Aufsatz Von Knebels Übersetzung des Lukrez festgehalten, „manche Hülfe und Förderniß zu danken“ haben.7 Bei dieser nicht näher spezifizierten Dankesschuld wird insbesondere an die präzise Bestimmung jener in Goethes Erzählpoetik nachgefragten Wundergeschöpfe der Alten zu denken sein. Goethe unterschied einmal eine physiologisch naturforschende und eine pathologisch ärztliche Anschauung. Lukrez sei zu beiden befähigt gewesen. Daher habe man auf die Stellen zu achten, „wo derselbe die Natur in ihrer ganzen Fülle und Gesundheit, sodann aber, wo er sie als krank und mangelhaft gleichfalls erkennt“8. Auf diesen Steckbrief paßt die Lukrezische Vorzeitimagination: „Einstmals schuf auch die Erde noch zahlreiche Wundergestalten/ Wie zum Versuch, an Gestalt wie an Gliedern seltsam gebildet:/ Hermaphroditen mit Doppelgeschlecht, doch zu keinem gehörig/ […]/ Einige mundlos stumm, blind andere ohne die Augen/ […]/ Diese und derart mehr, Mißbildungen, scheußliche Wunder,/ Schuf sie umsonst; die Natur verweigerte ihnen den Nachwuchs“.9 Andernorts, in seinen Betrachtungen über die im wesentlichen mittelalterliche Legende der Heiligen drei Könige,

5 Vgl. dagegen Christoph Jamme (Vom ‚Garten des Alcinous‘ zum ‚Weltgarten‘. Goethes Begegnung mit dem Mythos im aufgeklärten Zeitalter. In: GJb 1988, S. 93-114, hier S. 109), der für ein „primär historische[s] Verhältnis“ Goethes zum Mythos eintritt. 6 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. v. Manfred Fuhrmann. München 1971 (= Poetik und Hermeneutik 4), S. 11-66, hier S. 12. Vgl. die klassische Bestimmung des Mythischen als dasjenigem, „das nie geschah und immer ist“ bei Heinz Gockel: Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff in Aufklärung und Frühromantik. Frankfurt/M. 1981, S. 20. 7 Von Knebels Übersetzung des Lukrez (FA I 21,285); vgl. auch (FA I 21, 648-651). Dazu Karl Bapp: Goethe und Lukrez. In: GJb 1926, S. 47-67, sowie von Thadden: Erzählen als Naturverhältnis, S. 178ff. 8 An Karl Ludwig von Knebel, 21. Februar 1821 (WA IV 34,136). 9 Vgl. Titus Lucretius Carus: Von der Natur der Dinge. Übs. v. Carl Ludwig von Knebel. Neu hg. v. Otto Güthling. Leipzig 1901, 5. Buch, vv. 824-833, S. 247. Knebel spricht in diesem Zusammenhang auch von „doppelten entgegengesetzten und widersprechenden Naturen“ (Betrachtungen zum Lucrez. In: Ders.: Literarischer Nachlaß und Briefwechsel. Hg. v. Karl A. Varnhagen von Ense u. Theodor Mundt. Bd. 3. 2. Aufl. Leipzig 1840 [zuerst 1835f.], S. 455466, hier S. 457).

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bestimmte Goethe die „Art zu erzählen“, die „eine uralte Mythe“ betrifft, als die des „Mährchens“.10 Es handelt sich also um eben den Erzählmodus, der – wie oben dargelegt (vgl. I.2.a) – ein wesentliches Modell für das arabeske Ineinanderschlingen oberflächlich distinkter Einzeltexte abgibt und zugleich eine Figurenkonzeption protegiert, die keine Individuen zeichnet, sondern Phänotypen eines in seinen Bestandteilen unzählig kombinierbaren und modifizierbaren Genotyps oder Urphänomens. Damit schneidet Goethe die „Fluchtbahn des Subjekts vor den mythischen Mächten“11 ab, welche durch die geschlossene Ordnungsform des Epos geebnet worden sein mag, in einem offenen Erzähluniversum sich aber verlieren muß. Die „Denkungsart“ (9,968), die der Mythos darstellt und die sich an die Erkenntnisweise der Literatur besonders anschlußfähig zeigt, konkretisiert mit der „Evidenz einer Einsicht“12 ein Selbstwissen des Menschen als Grenzwesen, das weder seiner kollektiven noch seiner individuellen Identität noch seines Subjektstatus letztgültig versichert ist. Goethes Wundergeschöpfe sind dafür gebaut, psychologische und physiologische Pathologien, welche die Grenzen des Nützlichkeitskonstruktes ‚Subjekt‘ schlechterdings sprengen, in die literarische Beobachtung der conditio humana hineinzuholen. Die Konzeptionen Mignons, des ‚Hermaphroditen mit Doppelgeschlecht, doch zu keinem gehörig‘, und der aphatischen Ottilie, ‚mundlos stumm‘, adaptieren die pathologische Anschauung des Lukrez mit nicht zufälliger Genauigkeit. Als seit der Mitte des 18. Jahrhunderts das allgemeinkulturell gültige Weiblichkeitskonzept in Mittel- und Westeuropa grundlegend umkonstruiert wurde, schrieb man ihm – wie im Pendelschlag zum nun verabschiedeten Leitbild des gelehrten Frauenzimmers – eine subdominante mythische Komponente ein. Sie zeichnet sich durch eine eigentümliche Kontrastharmonie von Faszinierendem und Ängstigendem, „staunende[r] Verwunderung“ und „Furcht“13 aus, die auf der Karrierewelle der gemischten Empfindungen nach oben steigt. Die Discourse der Mahlern (1721-23) schütteten noch Spott über den Künstler aus, „der den Obertheil einer Statuen biß an die Hüfften zu einer schönen Frauens=Person hauete/ und den untern in einen Fischschwanz zusammenzöge“14. Nach und nach aber ver10 Die Heiligen drei Könige (FA I 20,447f.). Zu Mythos und Märchen bei Goethe Strich: Die Mythologie in der deutschen Literatur von Klopstock bis Wagner, S. 321ff. Im Spezielleren dazu Elisabeth Christern: Goethe, Sulpiz Boisserée und die Legende von den Heiligen Drei Königen. In: Kölner Domblatt 14/15 (1958), S. 162-172. 11 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1988 (zuerst Amsterdam 1947), S. 53. 12 Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, S. 25. 13 Vgl. Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 29. Dazu Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München 1963 (zuerst 1917), bes. S. 42. 14 Johann Jacob Bodmer u. Johann Jacob Breitinger: Die Discourse der Mahlern (1721-23). Nachdruck Hildesheim 1969, Teil I, XX. Discours, f. Uv.

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drängten das Ambivalenzfreudige und Distinktionsgefährdende eben dieses Melusinenmodells den Verständigungswert alternativer Modelle: die bürgerliche oeconomia einer Frau Schlampampe, die praktisch validierte Rationalität der vernünftigen Tadlerinnen und zuletzt auch die immerhin noch moralisch trennscharfe Empfindsamkeit eines Fräuleins von Sternheim. Jenseits der Unterscheidungsoperationen des rationalen Denkens vermag sich das mythische bzw. mythenanaloge Denken als Lebenspraxis bzw. Kunst der Indifferenz zu betätigen (mit der freilich wieder andere Ordnungen einhergehen). Insbesondere an diesen Umstand knüpft sich die von Hans Blumenberg beschriebene Trias des den Mythos charakterisierenden Unvertrauten, Unerklärlichen und Unnennbaren,15 die in einem Referenzwerk Goethes, das uns noch beschäftigen muß, als das Zugleich des „plötzlich Ueberraschende[n], Geheimnisvolle[n], und Wunderbare[n]“ erstaunlich genau vorgeprägt ist.16 Die wiederaufgenommene Mythosarbeit gräbt am Absolutismus einer sozial konstruierten Wirklichkeit, zu deren größten Zumutungen die Anforderungen personaler Integrität gehören. Dabei funktionieren Mythos und Mythosarbeit wesentlich über das Darstellungsmittel der „reine[n] charakteristische[n] Personification“17, stiften aber darin das Modell von Figuren bzw. figuralen Erscheinungen, die gerade keine Individuen sind. Bevor Goethes mythologische Auffassungen und mythopoetische Praktiken mit der naheliegenden Neuen Mythologie einiger Romantiker in Beziehung gesetzt werden kann, ist der größere, über Herder vermittelte Zusammenhang einer Revision der Mythentheorie zu sichten, die sich mit der Scienza Nuova Giovanni Battista Vicos verbindet („sibyllinische Vorahnungen“ glaubte Goethe darin zu erkennen18) und von aitiologischen sowie allegorischen zu ethnologisch-anthropologischen Interpretationen, der ästhetischen Inbesitznahme des Mythos und der Schellingschen Erfindung einer Mythologiephilosophie führte, wenngleich der alternde Literaturpapst Karl Wilhelm Ramler noch 1790 eine gänzlich allegorisch verfahrende Kurzgefaßte Mytho15 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M. 1986, S. 11 u. ö. Bei Blumenberg stellt der Mythos zwar eine Abhilfe gegen diese Bedrohungen dar, bleibt damit aber auch immer auf sie bezogen: er besitzt eine regressive Kehrseite, die – wie im Paradebeispiel der Medusa – die Rückkehr zum Unheimlichen vermitteln kann. Obwohl der Mythos immer schon selber bedeutungsstiftende Arbeit ist, bedarf es deshalb noch einer Arbeit am Mythos. Zur Deutung Blumenbergs vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Diesseits namenlosen Entsetzens. In: Neue Deutsche Hefte 28 (1981), S. 570-579. 16 Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 32. 17 An Georg Friedrich Creuzer, 1. Oktober 1817 (WA IV 28,267). 18 Italienische Reise (FA I 15/1,208). Zu Vicos Mythentheorie und Goethes Vico-Rezeption vgl. Vittorio Hösle: Vico und die Idee der Kulturwissenschaft. In: Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (1725). Übers. v. Vittorio Hösle u. Christoph Jermann. 2. Bde. Hamburg 1990, Bd. 1, S. XXXI-CCXCII, hier S. CLXXII-CLXXIX u. S. CCLXIXf. Dazu ferner Gockel: Mythos und Poesie, S. 88ff., sowie Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt/M. 1982, S. 121f.

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logie vorlegte.19 In der damit gegebenen Wissenslandschaft läßt sich Goethe durchaus aufschlußreicher und präziser verorten, als dies bislang geschehen ist. Als ersten wichtigen Orientierungspunkt stößt man hier auf Christoph Meiners’ Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker besonders der Egyptier, in dessen Mittelpunkt die Erklärung „mythologische[r] Religions-Systeme“20 steht. Goethe setzte sich mit dem Buch bereits im Erscheinungsjahr 1775, und zwar im Abgleich mit Herders Schrift über die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts auseinander.21 Insofern es sich in weiten Teilen auf hermetische Überlieferungen stützt, stellt es innerhalb einer Geschichte Goethes als Leser gewissermaßen eine Gelenkstelle zwischen dem Frankfurter Hermetismus und dem in Weimar vertieften Studium der Antike dar. Meiners vermittelt einen Begriff „mythische[r] Wesen“ als „Zwitter […], die halb Götter halb Menschen waren“ und zugleich „Natur personificirten“.22 Aus dieser Voraussetzung resultiert die Eigenschaft des „System[s] der Mythologie“, dieselben Gestalten „bis zum Vieh zu erniedrigen, und wiederum zu anbetungswürdigen Gottheiten zu erheben!“23 Sie visualisieren, im Unterschied zu Allegorien jedoch nicht auf eindeutige Weise, für jeden Kulturangehörigen „Gegenstände […], deren Größe er nicht fassen konnte, deren Würksamkeit seine schwachen Kräfte überstieg, und die zu gleicher Zeit einen wichtigen Einfluß auf sein glückliches oder unglückliches Schicksal äußerten“.24 Nicht minder zeugen sie an sich selber von der Unterworfenheit unter anonyme Naturgesetze, beispielsweise von „dem Einfluße des Himmelsstriches und der Gestirne“25. Der mythologischen Phantasie und ihrem heteronomen, individualitätsnegierenden Kosmos den geringsten Wahrheitswert zuzuerkennen, schilt Meiners freilich „Wahnsinn“26 und situiert sich damit auf einer zu Ludwig Feuerbach führenden Entwicklungslinie, in der Mythologie als „atavistische[r] Illusionismus“27 19 Vgl. Karl Wilhelm Ramler: Kurzgefaßte Mythologie oder Lehre von den fabelhaften Göttern, Halbgöttern und Helden des Alterthums. 2 Bde. Berlin 1790, Bd. 1, S. III-XVI („Vorbericht“): Die „Fabellehre der Griechen und Römer“ sei „höchst bequem“ „zu Sinnbildern“ zu brauchen, zum „Vortheil für die gesunde Vernunft“ und zur „Belustigung der Einbildungskraft“. Zum Euhemerismus und zur aufklärerischen Mythenkritik vgl. Gockel: Mythos und Poesie, bes. S. 27ff. 20 Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 29. „Gedanken über die Entstehung der Mythologie“ ist insbesondere das zweite Kapitel (S. 24-41) gewidmet. 21 Vgl. Heinz Gockel: Herder und die Mythologie. In: Johann Gottfried Herder: 1744-1803. Hg. v. Gerhard Sauder. Hamburg 1987, S. 409-418, bes. S. 416f. Ferner dazu Frank: Der kommende Gott, S. 123-152. 22 Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 29. 23 Ebd., S. 39. 24 Ebd., S. 29. 25 Ebd., S. 242. 26 Ebd. 27 Marquard: Zur Funktion der Mythologiephilosophie bei Schelling, S. 259. Die Fortentwicklung gegenüber der aufklärerischen Mythologiekritik besteht insbesondere darin, daß Meiners die Strukturverhältnisse mythologischer Figuren auch mit Individualitäts- und Identitätsanforderungen in Konflikt sieht; vgl. Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 204, sowie oben II.1.b).

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verdammt wird. Mit wenig Verständnis für ihre spezifischen Erkenntnisleistungen und ästhetischen Qualitäten geißelt er ihren Mangel an „großen und wahren Gedanken“ und ihre „unphilosophischen Fictionen“,28 die sich hermeneutischer Entschlüsselung entziehen. Meiners’ Religionsgeschichte bietet wahrscheinlich die größte zusammenhängende Mythenauseinandersetzung, mit welcher der junge Goethe überhaupt in Berührung gekommen ist. Mit ihrer durchtragenden Beschreibung mythischer Figurengesetze als solche einer grenzwertigen Dividualität (von Engel und Vieh) und als Exempel für Körper, die nicht (durch die Leistungen des Organismus) aus der Zirkulation naturaler Einflüsse herausgenommen sind, konnte sie Goethes Mythopoetik ein prägendes Anregungsreservoir bieten, dessen Spuren sich noch hier und da wiederfinden (vgl. unten V.2.). Ungleich prominenter als der von der Dixhuitièmistik wenig beachtete Meinerssche Diskussionsbeitrag nimmt sich freilich die Mythenauffassung von dessen Göttinger Kollegen Christian Gottlob Heyne aus. „Auf Männern wie Heyne […] und so manchem Anderen ruhte mein ganzes Vertrauen“29, begründete Goethe seinen Wunsch in Göttingen zu studieren, dem der Vater freilich nicht stattgab. Der Altertumswissenschaftler hatte den Mythos als Denk- und Ausdrucksform promoviert, welche die Anfänge der menschlichen Geschichte unterirdisch mit deren Gegenwart verbindet: das Mythische also als „Konstante menschlicher Erfahrung“30. Mit wenigen Winken rief Goethe diese Position bereits im Werther auf: Die Erwähnung eines „Manuscript[s] von Heynen über das Studium der Antike“ (8,22) im Brief vom 17. Mai, in Anspielung auf die 1772 erschienene Einleitung in das Studium der Antike, folgt als ein versteckter Kommentar unmittelbar auf Werthers Imaginierung der Melusine (12. Mai) und Penelopes (13. Mai). In der Bibliothek von Goethes Vater befand sich wirklich ein solches Manuskript, das Goethe später aus dem Frankfurter Nachlaß übernahm. Eine Heyne-Rezension Goethes in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen belegt ebenfalls dessen Gebrauch. Es enthält unter der Kapitelüberschrift „Von den ganzen Bild-Säulen“ einen detaillierten Katalog weiblicher Mythenwesen.31 28 29 30 31

Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 241. Dichtung und Wahrheit (FA I 14,265). Gockel: Mythos und Poesie, S. 34. Christian Gottlob Heyne: Vorlesungen zur Einleitung in das Studium der Antike. Manuskript. Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 2056, S. 100-136; zuvor in der Bibliothek von Goethes Vater: vgl. Götting: Die Bibliothek von Goethes Vater, S. 42. Vgl. Einleitung in das Studium der Antike (FA I 18,66f.). Dem 412seitigen Manuskript ist der Druck der Einleitung in das Studium der Antike (Göttingen 1772) vorangebunden, die wenig mehr als ein Inhaltsverzeichnis der Vorlesungen darstellt. Dazu Axel E.-A. Horstmann: Mythologie und Altertumswissenschaft. Der Mythos-Begriff bei Christian Gottlob Heyne. In: Archiv für Begriffsgeschichte 16 (1972), S. 60-85; ferner Frank: Der kommende Gott, S. 142. – Zu Goethe und Heyne zuletzt Hartmut Döhl: Goethe und Christian Gottlob Heyne. In: „Der gute Kopf leuchtet überall hervor“. Goethe, Göttingen und die Wissenschaft. Hg. v. Elmar Mittler, Elke Purpus u. Georg Schwedt. Göttingen 1999,

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Abgewiesen wird in solch intertextuellem Dialog ein euhemeristisch-allegorisches Auslegungsmuster, das beispielsweise noch Johann Gottlieb Lindners Lehrreichem Zeitvertreib Ovidianischer Verwandlungen (1764) zugrunde lag und die restlose sittlich-rationale Auflösbarkeit der mythischen Rätsel verlangte. Goethe karikierte diese Verfahrensweise, wo im dritten Buch der Lehrjahre Graf und Baron die Gestalten Minervas und Circes restlos in Bebilderungen prudentistischer Grundbegriffe aufgehen lassen (vgl. 9,528f. u. 537). In einer kritischen Rezension des Lindnerschen Buches empfahl Heyne den Mythos zunächst aus anthropologisch-ikonologischen Gründen: weil „wir […] eine Einbildungskraft [haben], der wir, wofern sie sich nicht der ersten besten Vorstellungen selbst bemächtigen soll, die schicklichsten und schönsten Bilder vorlegen […] müssen“.32 Die „bedeutende Stelle“33 findet sich am Anfang des neunten Buches von Dichtung und Wahrheit wieder. Daneben setzte Heyne aber auch Hoffnungen in den Mythos als Erkenntnismedium, genauer in ein mythisches Genus des Denkens, das als ein Drittes aus dem Zusammenschluß von historischem und philosophischem Genus hervorgehe.34 Daß die „uralte[n] Fabel[n]“ Beobachtungskapazitäten erzeugen, und zwar solche, die leichter von der Kunst als von der Wissenschaft genutzt werden können, hat Goethe eigens betont: „worüber uns die Weisen aller Welt noch Belehrung geben sollten“, davon habe „der Künstler unserm feinsten Sinne geoffenbart“.35 Genetisch wie typologisch gebührt damit der klassizismusverbundenen Mythentheorie Heynes der Vorrang vor der in der Goethe-Forschung ungleich häufiger zitierten romantischen Mythenarchäologie Friedrich Creuzers, die nachdem, was wir bei Meiners vorfanden, auch kaum als erster Versuch bezeichnet werden kann, die Stoffe des griechischen Sagenkreises mit denen Ägyptens in Verbindung zu bringen.36 Als sich Goethe verstärkt seit 1815 mit den Studien (1805-11) und der Symbolik und Mythologie der alten Völker (in der 1819-21 erschienenen zweiten Auflage) beschäftigte, glaubte er dem Heidelberger Professor gelehrte Bedeutungshuberei und eine über den Kulturglobus hastende Stoff- und Motivjagd vorwerfen zu dürfen. Wer „in den zerstreuten Mythen […] ängstlich herumirrt, mit Gelehrsamkeit bedeutend,

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S. 84-89; sowie ders.: Das frohe Große und das heitere Gute – der Dichter, der Forscher und die Künstler (Goethe – Heyne). In: „Göthe ist schon mehrere Tage hier, warum weiß Gott und Göthe“. Vorträge zur Ausstellung „Der gute Kopf leuchtet überall hervor“ – Goethe, Göttingen und die Wissenschaft. Hg. v. Elmar Mittler. Göttingen 2000, S. 127-154. Dichtung und Wahrheit (FA I 14,386). Vgl. Heyne: Johann Gottlieb Lindners ‚Lehrreicher Zeitvertreib Ovidianischer Verwandlungen‘ (1764) Dichtung und Wahrheit (FA I 14,386). Vgl. Horstmann: Mythologie und Altertumswissenschaft, S. 74f. Joseph Haydns Schöpfung (FA I 22,257). Vgl. dagegen Reinhard Herbig: Die Beziehungen zu Friedrich Creuzer in Heidelberg. In: Goethe und Heidelberg. Hg. v. d. Direktion des Kurpfälzischen Museums. Heidelberg 1949, S. 267-274, hier S. 267.

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oder allegorisch interessant sein will“37 (letzteres vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Diskussion ein besonders gravierender Tadel), ist schwerlich Goethes Mann. Die verschiedenen Inhaltsaspekte und Auflösungsmöglichkeiten der Götter- und Heldensagen rangierten ihm als untergeordnetes Kommentarwissen, für dessen Zulieferung er sich nötigenfalls auf seine gelehrte Umgebung verließ. Ihren Grundlagen nach ist Goethes Mythopoetik vielmehr entschieden mediologisch interessiert. „Das Abwesende wirkt auf uns durch Überlieferung. Die gewöhnliche ist historisch zu nennen; eine höhere, der Einbildungskraft verwandte, ist mythisch“ (10,571), so reflektieren die Betrachtungen in den Wanderjahren, die ja wesentlich – in einer Spiegelfigur der Selbstbeobachtung – Betrachtungen über den Meister-Komplex selber sind (vgl. oben I.2.b). Es gibt demnach also ein abwesendes Anderes, das durch das Mythische zur Wirkung gebracht wird, nämlich analog der von Begriffen entlasteten, ikonisch verfahrenden Imaginationsfähigkeit – Mythos somit als „Sprache der Phantasie“38, wie im Einleitungskapitel von Moritzens Götterlehre (1791) postuliert, auf deren Entstehung Goethe einigen Einfluß genommen hatte. Solcher ästhetisch-mediologischen Akzentierung der Mythentheorie leistete aber auf durchaus nicht unoriginelle Weise bereits Meiners Vorschub: „Größe, Entfernung […] und selbst das Unbegreifliche ihrer [der fremden Mächte] Wirkungen waren lauter Vorzüge, die mächtig in die Sinne würkten“.39 Während Moritz jedoch die mythengespeiste Imagination an die „Vorstellung“ knüpft, „daß das Unförmliche, Ungebildete, Unbegrenzte erst vertilgt und besiegt werden muß, ehe der Lauf der Dinge in sein Gleis kömmt“40, daß mithin die schöne Ordnung der Kunst das Ängstigende und Ungeheure des Mythos zu überwinden hilft, fehlt bei Meiners jede Form von Vertrauen in dessen effektive Domestizierbarkeit. Dieses Moment eines Bodensatzes von Wildem und Fratzenliebendem berührt Goethes Furcht vor dem in der Einbildungskraft lauernden „Trieb zum Absurden“41. 37 Einleitung ([Johann Wolfgang Goethe] Kupferstich-Anzeigen für die ‚Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘ u. a., S. 138). 38 Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten (1791). Leipzig 1966, S. 7. Dazu Hans Joachim Schrimpf: Die Sprache der Phantasie – Karl Philipp Moritz’ ‚Götterlehre‘. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hg. v. Herbert Singer u. Benno von Wiese. Köln u. a. 1967, S. 165-192, sowie Jochen Becker: „Trösterin Hoffnung”: Zu Moritz’ Götterlehre. In: Karl Philipp Moritz und das 18. Jahrhundert. Bestandsaufnahme – Korrekturen – Neuansätze. Hg. v. Martin Fontius u. Anneliese Klingenberg. Tübingen 1995, S. 237-247; sowie Christoph Jamme: „Sprache der Phantasie“. Karl Philipp Moritz’ ästhetische Mythologie. In: Die schöne Verwirrung der Phantasie. Antike Mythologie in Literatur und Kunst um 1800. Hg. v. Dieter Burdorf u. Wolfgang Schweickard. Tübingen 1998, S. 45-60, hier S. 45f. Vgl. auch im Hinblick auf die Poetik Diderots Peter Bürger: Über den Umgang mit dem andern der Vernunft. In: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Hg. v. Karl Heinz Bohrer. Frankfurt/M. 1983, S. 41-51, hier S. 43f. 39 Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 30. 40 Moritz: Götterlehre, S. 20. 41 Tag- und Jahreshefte 1805 (FA I 17,178).

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Das Neue, das Creuzers Arbeiten der Diskussion hinzufügen, besteht nicht so sehr darin, Mythen in den religionsgeschichtlichen Kontext ihrer Mysterien zu stellen (dies darf man vielmehr bereits Meiners zugute halten), sondern in der verfeinerten Einstellung der Optik auf die Geschlechterdifferenz. An zentraler Stelle steht bei Creuzer noch einmal die Grundeinsicht, daß sich das mythische Denken über figurale Entitäten organisiert, woraus er weitreichende Folgerungen zieht: „Was also der abstrakte Verstand wirkende Kraft nennet, ist der ursprünglichen, naiven Betrachtungsart Person. Hiermit ist aber sofort das Geschlechtliche gegeben und alle Aeusserungen, die daran hängen, Liebe und Hass, Verbindung und Trennung, wovon jene Zeugung und Gebären, diese Tod und Untergang als unmittelbare Folge setzt.“42 Den Attraktionspunkt der größten Geschlechtlichkeit bietet freilich das Weib, dem selbst der nüchterne Kant eine „geheime Zauberkraft“43 zuschrieb, die es ins Wunderbar-Numinose taucht und ihm auch in dieser Hinsicht ein ästhetisches Surplus verschafft – ein mit Drohungs- und Versprechungsfakten versehenes Vehikel, mit dem die Grenzen der kulturellen und gesellschaftlichen Organisation überschritten werden können. Goethes Mythopoetik bildet darin, zumindest nach ihrer narrativen Seite, keine Ausnahme, sondern hat die Weiblichkeitsimagination zum qualitativen und quantitativen Hauptgegenstand, die Frau sozusagen als Subjekt in der älteren philosophiesprachlichen Bedeutung des Trägers oder Trägerstoffes.44 Mit ‚Weib‘ und ‚Weiblichkeit‘ wird so ein letztlich geschlechtsneutrales Symbol des Anderen in Position gebracht. Trotzdem setzte sich Goethe von der geläufigen mythologischen Überbeschriftung der Frauenimago, die ihn dem Vorwurf der Männerphantasie aussetzen müßte,45 auf eigentümliche Weise ab. Wie er sich, nach Schillers Beobachtung, niemals zu irgendetwas herzlich bekannte, so nahm er sich auch des Mythologiediskurses weder ungebrochen noch distanzlos an. Mit auffälliger Regelmäßigkeit schränkt er dessen Führung auf Vertreter des männlichen Personals ein, voran auf Werther und Wilhelm, die Binnenerzähler der Unterhaltungen und der Wanderjahre, am symbolischsten aber im Fall des Wahlverwandtschaften-Architekten, der während der ganzen Zeit seines Schloßaufenthalts schließlich nichts anderes baut als 42 Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen. 4 Bde. 3. Aufl. Leipzig 1837ff., Nachdruck Darmstadt 1973, Bd. 4, S. 524-569 („Ideen zu einer Physik des Symbols und des Mythus“), hier S. 527; dazu Hannelore Schlaffer: ‚Wilhelm Meister‘. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos. Stuttgart 1980, S. 10. 43 Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 850. Motivgeschichtlich dazu auch Ursula Frieß: Buhlerin und Zauberin. Eine Untersuchung zur deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. München 1970, bes. S. 18-23. 44 Diese Begriffsverwendung z. B. bei [Thomas von Aquin]: Die Philosophie des Thomas von Aquin, S. 79. 45 Vgl. Waltraud Wiethölter: Legenden. Zur Mythologie von Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. In: DVjs 56 (1982), S. 1-64, hier S. 25.

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die Engels- und Mariengestalt Ottilies (vgl. 8,406 u. 438f.). Somit schwelgt die poetische Gestaltung nicht in solchen Phantasien, sondern gibt sie immer schon als deren Analyse. Diese Metamythographie hält den Mythos nicht nur als „Produkt von europäischen Wahrnehmungs- und Denktraditionen“46 bewußt, sondern auch als Stilisationsprinzip, das auf Kosten des Individualitätsprinzips geht. So sieht sich Wilhelm, eine Dauerwirkung offenbar seiner frühen Tasso-Lektüre, beständig von Amazonen und Zauberinnen, Sibyllen und Furien umgeben (vgl. 9,277ff. u. 853). Nur in seinen Augen wird dem Anblick Natalies die Erscheinung einer marmornen „Muse“ (9,892) vorgeblendet. Wilhelms Busenfreund Laertes definiert die Bedeutung, die Philine für ihn hat: „Sie ist mir die wahre Eva, die Stammmutter des weiblichen Geschlechts“ (9,452). Der Baron schreibt der Baronesse von C. die „gefährlichen Liebkosungen einer Circe“ (9,537) zu. Auf die hermeneutischen Zwangsmaßnahmen der Turmgesellschaft ist es zurückzuführen, daß am Eingang zum Grabe Mignons, „dieser geheimnisvollen Kreatur“ (9,238), „zwei Sphinxe von Granit“ (9,920) lagern. Bereits für Werther kristallisierten sich die „Zauberei der Liebe“ (9,409) und „alle die Kräfte unergründlich“ (8,107) letztlich in der Gestalt der Geliebten, welche die eines Engels und einer Heiligen ist (vgl. 8,36, 78 u. ö.). Das Metaphernsystem, in welches das Weibliche eingetragen wird, weist wieder deutlich zwei Hemisphären, eine celeste und eine tellurische, auf – Extremlagen des Menschlichen. Die Vorstellungen, die Goethe mit dem Engelsmotiv verbindet, sind die von Wesen mit verminderter Körperlichkeit und flüchtiger Individualität: „ohne Lung und Leber“47, mit „simpelsten […] Eigenschafften“48 und natürlich von „blasse[m] Colorit“49. Die Dispositive in Goethes Erzählen, die am Gegenpol des materielosen Engelsgeschöpfes das Elementarwesen aufweist, lassen sich vollständig am Melusinenkomplex entwickeln. b) Goethes Mittelalter und der Melusinenmythos Für Goethes Verfahrensstrategien im Regelwerk des mythischen Denkens ist zu allererst kennzeichnend, daß er dessen von Meiners namhaft gemachten Irritationspotentiale – insbesondere die gründliche Denunziation des Satzes von der Identität – nicht oder nur widerstrebend mit dem klassizistisch pro-

46 Gerhart von Graevenitz: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Von Giordano Bruno bis Richard Wagner. Stuttgart 1987, S. VIIf. 47 An Johann Christian Kestner, April 1773 (WA IV 2,81). 48 An Betty Jacobi, Februar 1774 (WA IV 2,143). 49 Drei singende Engel von Ruhl (FA I 20,532). Zu diesen durchaus traditionsverpflichteten Charakteristika vgl. Alfons Rosenberg: Engel und Dämonen. Gestaltwandel eines Urbildes. Mit einem Vorwort von Otto Betz. 3. Aufl. München 1992, bes. S. 277-291.

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movierten antiken Mythenpool in Verbindung gebracht sehen wollte. Hatte dieser doch für vollständig anderes einzustehen: für „verklärte[ ] physische[ ] Eigenschaften“ und „gesunde Natur“, „Verkörperung der tüchtigsten, reinsten Menschheit“ und „Klarheit der Vorstellung“.50 Als feiernde Bejahung der Lebensmächte sind ihm die Sagen des Altertums regelmäßig „auf einer höhern und edlern Stufe“ angesiedelt.51 Zentrale Funktionen des mythischen Denkens sind nach dieser Seite, wie Bernhard Buschendorf unter Berufung auf Blumenberg festhält, Bedeutungsstiftung und Willkürentzug.52 In Meiners’ Religionsgeschichte der ältesten Völker war freilich die Vermutung nachzulesen, daß die Mythologie der Griechen aus einem tiefschwarzen, desaströsen und inhumanen Schicksalsglauben an kosmische Chaosmächte deszendierte, der „von den spätern Dichtern, und den philosophischen und unphilosophischen Auslegern“53 nur mehr an der Oberfläche aufpoliert wurde. Solche Ableitung der alten Erzählungen aus archaischen Ursprüngen, voran der vermeintlichen „egyptische[n] Finsterniß“54, mag Goethes schlimmste Befürchtungen bestätigt haben und blieb ihm ebenso unerträglich wie inakzeptabel. „Sie haben mich genöthigt in eine Region hineinzuschauen, vor der ich mich sonst ängstlich zu hüten pflege“,55 beklagt er gegen Creuzer. Seine Vorbehalte gegen die traumatophile Interpretationslinie, die das Mythische als Zone des Unheils nimmt, sprechen sich durch epistolare Höflichkeit moderiert gegen Heinrich von Kleist aus: „Mit der Penthesilea kann ich mich noch nicht befreunden. Sie ist aus einem so wunderbaren Geschlecht und bewegt sich in einer so fremden Region daß ich mir Zeit nehmen muß mich in beyde zu finden.“56 Adornos Argumentation, Goethe nehme dem Mythos im Dienst humaner Selbstbehauptung den Stachel seiner genuinen Irrationalität, aber auch Blumenbergs Absicht, in Goethes 50 Vgl. Goethe und die Antike. Eine Sammlung. Hg. v. Ernst Grumach. 2 Bde. Berlin 1949, Bd. 2, S. 683-690. 51 Faust, Paralipomena (FA I 7/1, 628). 52 Vgl. Bernhard Buschendorf: Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der ‚Wahlverwandtschaften‘. Frankfurt/M. 1986, S. 29-42 („Bedeutsamkeit: Aspekte und Funktion von Goethes mythischem Denken“). 53 Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 37. 54 Ebd., S. 230. „[D]eutet man uns aus dem hellenischen Gott-Menschenkreise nach allen Regionen der Erde, um das Ähnliche dort aufzuweisen, in Worten und Bildern, hier die FrostRiesen, dort die Feuer-Brahmen; so wird es uns gar zu weh, und wir flüchten wieder nach Ionien, wo dämonische liebende Quellgötter sich begatten und den Homer erzeugen“ (An Georg Friedrich Creuzer, 1. Oktober 1817 [WA IV 28,267]). Zu Goethes Widerwillen gegen die „egyptische[n] und indische[n] Fernen“ vgl. auch an Sulpiz Boisserée, 16. Januar 1818 (WA IV 29,12). 55 An Georg Friedrich Creuzer, 1. Oktober 1817 (WA IV 28,266). 56 An Heinrich von Kleist, 1. Februar 1808 (WA IV 20,15). Weiterführend hierzu Ortrud Gutjahr: Iphigenie – Penthesilea – Medea. Zur Klassizität weiblicher Mythen bei Goethe, Kleist und Grillparzer. In: Frauen: MitSprechen – MitSchreiben. Hg. v. Marianne Henn u. Britta Hufeisen. Stuttgart 1997, S. 223-243, bes. S. 229f. u. 237f.

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Mythosarbeit einen Ordnungsentwurf gegen den Verläßlichkeitsmangel der Welt und für die Erhaltung des Subjekts herauszustellen, funktionierte entsprechend mit der Einschränkung auf griechische Motive (vor allem Iphigenie und Prometheus),57 schloß den mittelalterlichen Mythenkosmos aber lückenlos aus. Bemißt man den allenthalben unterschätzten Stellenwert von Goethes ‚altdeutschem‘ Bezugssystem, erschließt sich eine weitgehend unbekannte und gänzlich anders geartete Dimension seiner Mythopoetik. Vor allem öffnet sich dann der Horizont zur Preisgabe jener Autonomieposition, die sich als Selbstermächtigung der Personalität darstellte. Grundlegend für dieses Gebiet ist zum einen, daß sich Goethe mit der Lektüre eines breiten ‚mittelzeitlichen‘ Textspektrums – entgegen dem Tenor seiner gelassenen, von höflichen Reserven bestimmten Selbstdarstellung – nicht nur gefälligkeitshalber und der Bildungsvollständigkeit wegen abgegeben hat: als einer kindischen „Näscherei“, auf die prompt auch „Kinderkrankheiten“ folgen, oder als einem von Greuel beschränkten Raum, von dem man sich alsbald und „um so lieber zu freyeren Regionen erheb[t]“.58 Vielmehr ließ er sich mehrfach hochgradig von ihnen engagieren und aus der Reserve locken. Zum anderen muß festgehalten werden, daß Goethe zwar eindeutig auch mittelalterliche Sagenüberlieferungen als Mythen bezeichnet,59 mit ihnen aber nach Regeln verfährt, die von denen des antikischen Mythendiskurses 57 Vgl. Adorno: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, sowie Blumenberg: Arbeit am Mythos, bes. S. 567-604 („Lesarten des ‚ungeheuren Spruchs‘“) u. S. 22: „Für Goethe ist das Haupt der Medusa der Triumph des Klassizismus. Er steht für die Überwältigung des Schreckens der Urzeit“. Zur Korrektur an Blumenberg bereits Jamme: Vom ‚Garten des Alcinous‘ zum ‚Weltgarten‘, S. 95. 58 Dichtung und Wahrheit (FA I 14,41), Tag- und Jahreshefte 1816 (FA I 17,268). – „Man liest es und interessirt sich wohl eine Zeit lang dafür [für mittelalterliche Literatur], aber bloß um es abzuthun und sodann hinter sich liegen zu lassen. Der Mensch wird überhaupt genug durch seine Leidenschaften und Schicksale verdüstert, als daß er nöthig hätte, dieses noch durch die Dunkelheiten einer barbarischen Vorzeit zu thun“ (Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 274 [3. Oktober 1828]). – „[S]o ist es doch löblich sich historisch praktisch an ihr [der mittelalterlichen Kunst] zu üben und durch neuere Kunst das Andenken einer älteren aufzufrischen, damit man ihre Verdienste erkennend sich alsdann um so lieber zu freyeren Regionen erhebe“ (Tag- und Jahreshefte 1816 [FA I 17,268]). Diese Vorbehalte wirken ebenso beim Straßburger Goethe, dessen Erwin von Steinbach ein Genie gerade aus Opposition zu seinem Zeitalter ist. Dazu Jens Haustein: Nachwort. In: Goethe über das Mittelalter. Hg. v. dems. Frankfurt/M. 1990, S. 271-281, hier S. 277f.; sowie Joachim Heimerl: „Divis manibus“: Goethe und Erwin von Steinbach. In: Revista de Filología Alemana 12 (2004), S. 9-31. Vgl. auch Ernst Jenny: Goethes altdeutsche Lektüre. Basel 1900; Arthur Hübner: Goethe und das deutsche Mittelalter (1936). In: Ders.: Kleine Schriften zur deutschen Philologie. Hg. v. Hermann Kunisch u. Ulrich Pretzel. Berlin 1940, S.268-281; sowie Martina Eicheldinger: Mittelalter. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4/2. Hg. v. Hans Dietrich Dahnke u. Regine Otto. Stuttgart u. a. 1998, S. 706-709. 59 Vgl. etwa Die Heiligen drei Könige (FA I 20,447). Dies entspricht auch dem Wortgebrauch der Romantiker; vgl. Edith Höltenschmidt: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel. Paderborn u. a. 2000, S. 359ff.

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bedeutend abweichen.60 Der „düster[e] Pfaffenschauplatz des medii aevi“61 stellte für Goethe (obwohl das nach kulturgeschichtlicher Aktenlage selbstverständlich keine sonderlich zutreffende Vorstellung ist) die letzte Vorwelt unbeherrschter Gewalten und trüben Bewußtseins vor dem eigenen, neuzeitlichen Geschichtsraum dar: ein Herrschaftsbereich des Abstrus-Wirren, Willkürlichen und Unmöglichen. Angesichts des mittelalterlichen Erzählguts unterschreibt Goethe eben jenes Urteil, das Meiners hinsichtlich der Antike ausstellte. Das Mittelalter partizipiert demzufolge nicht weniger an der Fremdheit der „Fabelzeit“, d. h. der Zeit des „lebendigen Mythos“62, als jede ältere Archaik. Der ‚exoterische Goethe‘, wenn man so sagen darf, der sich einem Ethos des Lebens und der Individualität verpflichtete, weil der Mensch der Klarheit und der Aufheiterung bedürfe, beschied in Dichtung und Wahrheit, daß er es nicht über sich gewinnen könne, aus der „nordische[n] Mythologie“ mit ihren „formlosen Helden“63 zu schöpfen, furchtbaren „eherne[n] Wesen“64 ohne Selbstreflexivität, deren „Übergroße[s]“65 menschliches Maß verfehlt und „düsterem Wahn“66 anheimgegeben sei. Die „griechische Mythologie als höchst gestaltet, als Verkörperung der tüchtigsten, reinsten Menschheit“, verdiene „mehr empfohlen zu werden […] als das häßliche Teufels- und Hexenwesen, das nur in düstern ängstlichen Zeitläufen“ sich habe entwikkeln können und dessen romantische Restauration eine „Hölle“ schaffe, aus der „keine Erlösung“ sei.67 Mit den ‚nordisch-germanischen‘ Motiven, die Heinrich Wilhelm von Gerstenberg und Friedrich Gottlieb Klopstock zur Mythenrehabilitation der Spätaufklärung beitrugen,68 hat dies sichtlich nichts zu tun. Bei aller von Goethe demonstrativ geübten Relativierung der ‚Mittelzeit‘ vermochte sie ihm jedoch als Ventil für jene abgeschatteten Größen zu dienen, die das Individuum zu vernichten imstande sind und in der Anschauung der Antike unter Verschluß bleiben sollten. Unsichtbarer Zwang, entzogene Affektkontrolle und radikaler Selbstverlust, Mythos mithin als „heteronome Geschichte“69, bestimmten in diesen Koordinaten seine Auffassung des Tristanstoffs, den er gleichwohl aufs Sorgfältigste dem Text 60 Vgl. dagegen Jamme: Vom ‚Garten des Alcinous‘ zum ‚Weltgarten‘, S. 98 u. 100, sowie Benedikt Jeßing: Mythologie. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4/2. Hg. v. Hans Dietrich Dahnke u. Regine Otto. Stuttgart u. a. 1998, S. 732-734, hier S. 733. 61 Von deutscher Baukunst (FA I 18,117). 62 Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 33. 63 FA I 14,583f.; vgl. ebd.: „[Ich] konnte [sie] nicht in den Kreis meines Dichtungsvermögens aufnehmen“. 64 Tagebücher, 6. November 1808 (WA III 3,399f.). 65 Das Nibelungenlied (FA I 22,819). 66 Die Tochter der Luft (FA I 21,271). 67 An Carl Friedrich von Reinhard, 7. Oktober 1810 (WA IV 21,395). Reinhard hatte Goethe die Bekanntschaft mit den mittelalterbegeisterten Brüdern Boisserée vermittelt. 68 Vgl. Gockel: Mythos und Poesie, S. 129f., sowie Frank: Der kommende Gott, S. 135-138 u. S. 149f. 69 Marquard: Zur Funktion der Mythologiephilosophie bei Schelling, S. 259.

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der Wahlverwandtschaften verwob.70 Die Legende der heiligen Ottilie, in welcher Fassung Goethe sie auch zur Kenntnis genommen hat, präsentiert eine Zentralfigur ohne psychischen Innenraum, eine auch im Darstellungsmodus realisierte „Selbstverleugnung im höchsten Grade“, wie sie beispielsweise für die Figurenpoetik der noch 1774 aufgelegten Legend der Heiligen des Goethe bekannten Klosterschriftstellers Martin von Cochem (1633-1712) charakteristisch ist.71 In der Legendenadaption Sankt Joseph der Zweite zu Beginn der Wanderjahre verliert die Gegenwart zweier Scheinindividuen – des neuen Josephs und der neue Maria – ihr Eigenrecht, insofern sich in ihnen „die Vergangenheit […] wieder […] darstellt“ (10,272). Die mittelalterlich imprägnierten Engelsgestalten, mit denen Goethe seine erzählten Frauenfiguren unermüdlich hinterblenden läßt, sind nach überlieferter Auffassung jeder persönlichen Individuation unbedürftig. Die Engelsikonen der Wahlverwandtschaften rühren denn auch ausdrücklich von den „Reste[n] jenes älteren Gottesdienstes“ (8,400) und spenden der Faktur Ottilies nicht etwa individuelle, sondern „Urbilder“ (8,402). Die mittelzeitliche Mythenbricolage, die Goethe zweifellos am nachhaltigsten in ihrem Bann hielt – von den frühen 1770er bis zu den späten 1820er Jahren –, liegt im französischen Melusinenstoff vor, dessen deutsche Bearbeitung durch Thüring von Ringoltingen aus dem Jahr 1456 stammt. Eingehend hat sich die Forschung diesem Komplex nur hinsichtlich des Melusine-Märchens der Wanderjahre gewidmet.72 Tatsächlich handelt es sich bei diesem scheinbaren Solitär um den letzten Reflex eines motivischen Spiegelkabinetts, in das man auf den ersten Seiten des Werther (vgl. unten) eintritt. Eine mündliche Fassung des Sujets, die dem ‚Volksbuch‘ nahe gestanden haben dürfte, will Goethe bereits 1770/71 in Sesenheim vorge70 Vgl. Stefan Keppler: Die Heiligung der „sündigen Liebe“. Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ und der Tristanstoff. In: Archiv 152 (2000), S. 64-91. 71 Vgl. die Episode über die Alexius-Legende in den Briefen aus der Schweiz (1796) (FA I 16,72); sowie Martin von Cochem: Verbesserte Legend der Heiligen. Das ist: Eine schöne, klare, und anmuthige Beschreibung des Lebens, Leidens und Sterbens von den lieben Heiligen Gottes, auf alle und jede Tage des ganzen Jahres […] Augsburg 1774. Dazu Fritz Wagner: Zur Rezeption des lateinischen Mittelalters durch Johann Wolfgang Goethe. In: Mittellateinisches Jahrbuch 15 (1980), S. 172-190, hier S. 175ff. 72 Wichtig hier insbesondere Oskar Seidlin: Ironische Kontrafaktur: Goethes ‚Neue Melusine‘. In: Ders.: Von erwachendem Bewußtsein und vom Sündenfall. Stuttgart 1979, S. 155-170; Hans Geulen: Goethes Kunstmärchen ‚Der neue Paris‘ und ‚Die neue Melusine‘. Ihre poetologischen Imaginationen und Spielformen. In: DVjs 59 (1985), S. 79-101; Monika Schmitz-Emans: Vom Spiel mit dem Mythos. Zu Goethes Märchen ‚Die neue Melusine‘. GJb 1988, S. 316-332; Christine Lubkoll: „In den Kasten gesteckt“. Goethes ‚Neue Melusine‘. In: Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien. Hg. Irmgard Roebling. Pfaffenweiler 1992, S. 49-63; Herwig: ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘, S. 258-289 („Bewährungmärchen oder Zerstörung des Wunderbaren durch die Ökonomie?“); sowie Franziska Schößler: Aufbrechende Geschlechterrivalitäten und die „Verzwergung“ der Frau. Zu Goethes Märchen ‚Die neue Melusine‘. In: Bei Gefahr des Untergangs. Phantasien des Aufbrechens. Festschrift für Irmgard Roebling. Hg. v. Ina Brueckel, Dörte Fuchs, Rita Morrien u. Margarete Sander. Würzburg 2000, S. 77-90.

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tragen haben. Damit übereinstimmend konnte er die Melusinendichtung 1782 als einen langgehegten Plan behandeln.73 Nachdem der Stoff in den Unterhaltungen alludiert wurde (vgl. unten), heißt es 1797 an Schiller: „Das Mährchen mit dem Weibchen im Kasten lacht mich manchmal auch wieder an, es will aber noch nicht recht reif werden.“74 Weitere Stationen der unterschwelligen Arbeits- und Verarbeitungskontinuität, die sich hier abzeichnet, führen über Reflexe in den Lehrjahren und den Wahlverwandtschaften zu den jeweils unterschiedlich kontextualisierten Veröffentlichungen der Neuen Melusine: zweigeteilt frei stehend im Taschenbuch für Damen (1817 und 1819), zwischen den nicht wunderbaren, aber doch wunderlichen Geschichten des Mannes von funfzig Jahren und der Pilgernden Törin in den ersten Wanderjahren, sodann zwischen den betont prosaischen Texten von Lenardos Tagebuch und der Gefährlichen Wette in den zweiten Wanderjahren. Darüber hinaus liegt die Melusinenmotivik sogar, wie sich zeigen wird, dem Handlungsstrang um Felix und Hersilie zugrunde. In diesem isotopiebildenden Wieder-und-wieder-Erzählen nach dem Prinzip der mythischen Wiederkunft75 kommt ein narratologischer Aspekt von Goethes Mythopoetik zum Tragen, der die Eigenschaft von Goethes Erzähluniversum als System von untereinander kommunizierenden Subsystemen unterstützt. Jeder Fall von Mythopoetik impliziert auch Aspekte der Intertextualität. Um herauszuarbeiten, welche „semantische[n] Explosionen“ Goethe mit seiner Herstellung textueller Interferenzen provoziert und wie sich seine „Arbeit der Assimilation, Transposition und Transformation“ genau gestaltet,76 ist zunächst der literaturgeschichtliche Ort von Goethes Hypotext zu sichern. Die Melusine folgt dem Erzählmodell der gestörten Martenehe, des brüchigen Bündnisses zwischen einem Menschen und einem Halbwesen, und mythologisiert das Herkommen des Adelsgeschlechts der Lusignans. Dabei präsentiert der frühneuhochdeutsche Prosaroman die Geschlechterbeziehung, hier zwischen Reymund und Melusine, nicht etwa als liebespsychologischen und erotischen Selbstzweck, sondern in Problemunion mit delikaten Macht- und Herrschaftsfragen („Gut/ Ehr/ Glücks unnd Gelts“77); dies relativ unabhängig von der im übrigen (für neugermanistische Begriffe) nicht unerheblichen Fassungsvarianz.78 Bei der für Goethe relevanten Text73 Vgl. Dichtung und Wahrheit (FA I 14,485) sowie an Charlotte von Stein, 17. September 1782 (WA IV 6,58). 74 4. Februar 1797 (WA IV 12,31f.). 75 Vgl. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, S. 31f. 76 Lachmann: Literatur und Gedächtnis, S. 57. 77 Thüring von Ringoltingen: Melusine. In der Fassung des ‚Buchs der Liebe‘ (1587). Hg. v. Hans-Gert Roloff. Stuttgart 1991, S. 12. 78 Grundlegend hierzu Xenja von Ertzdorff: Die Fee als Ahnfrau. Zur ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen. In: Beitr. 94 (1972), S. 428-457; sowie Beate Kellner: Aspekte der Genealogie in mittelalterlichen und neuzeitlichen Versionen der Melusinengeschichte. In: Genealogie als Denkform in

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fassung handelt es sich schwerlich um die des in verschwindend wenigen Exemplaren überlieferten ältesten Drucks der Melusine von 1474, auf den sich die Forschung freilich bevorzugt gestützt hat. Die zeitgenössischen, ohne Orts- und Jahresangabe erschienenen Kolportagedrucke, jene Heftchen, die nach Ausweis von Dichtung und Wahrheit „auf einem Tischchen vor der Haustüre eines Büchertrödlers“ um „ein paar Kreuzer“ zu haben waren und unter denen Goethe ausdrücklich auch Melusine nennt, können im einzelnen nicht sinnvoll identifiziert werden.79 Und doch lassen sich mindestens zwei der wahrscheinlichen Quellen Goethes präzise namhaft machen.80 Da ist zuerst das 1772 anonym erschienene Bändchen mit dem unverdächtig erscheinenden Titel Zwei schöne neue Mährlein. Goethe hat es umgehend für die Frankfurter Gelehrten Anzeigen rezensiert, noch ohne darin eine späte Veröffentlichung des Rokokodichters Friedrich Wilhelm Zachariä zu erkennen. Enthalten ist in ihr auch eine modernisierende Versfassung der Melusinengeschichte, die trotz empfindlicher Kürzungen bei den genealogischen Anteilen des Originals dessen Themenbestand weithin Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Kilian Heck u. Bernhard Jahn. Tübingen 2000, S. 13-38; sowie Manuel Braun: Historie und Historien. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke und Marina Münkler. München u. a. 2004, S. 317-361, hier S. 351 ff. Zur Thematisierung der Differenz zweier Welten, Anderswelt und Menschenwelt, Volker Mertens: Melusine, Undinen. Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Jahrhundert. In: Festschrift Walter Haug und Burkhardt Wachinger. Hg. v. Johannes Janota. Tübingen 1992, S. 201-232 (ohne Berücksichtigung Goethes). Zur Resistenz des Mythischen in der Melusine erhellend Bruno Quast: „Diß kommt von gelückes zuualle“. Entzauberung und Remythisierung in der ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Udo Friedrich u. Bruno Quast. Berlin 2003, S. 8396; sowie Manuel Braun: Historie und Historien. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. v. Werner Röcke u. Marina Münkler. München u. a. 2004, S. 317-361, hier S. 351-353 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1). Eine weniger rationalisierte Stoffauffassung signalisiert bereits der Untertitel der Historia und Geschicht von Melusina im Buch der Liebe: Und mit was seltzamen Gespenstern dieselbige/ alle Sonnabend oder Sambstag/in ein Meerwunder ist verwandelt worden. 79 „Der Eulenspiegel, die vier Haimonskinder, die schöne Melusine […] alles stand uns zu Diensten, sobald uns gelüstete, nach diesen Werken anstatt nach irgend einer Näscherei zu greifen“ (FA I 14,42). Vgl. das Verzeichnis der Drucke bei Karl Schorbach: Die Historie von der schönen Melusine. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 1 (1897/98), S. 132-142, u. 9 (1905/6), S. 147f. Typisch sind Titelblätter wie Eine wunderbarliche und kurzweilige Historie oder Geschicht von der edlen und schönen Melusina. Aufs neue mit schönen Figuren gezieret. Gedruckt in diesem Jahr [o. O., o. J.] oder Historia von der edlen und schönen Melusina, welche König Helmas in Albanien Tocher und ein Meer-Wunder gewesen […]. Jetzo aufs neue übersehen, und mit schönen Figuren gezieret. Frankfurt und Leipzig [o. J.]. 80 Wie aus August Wilhelm Schlegels Brief vom 4. Mai 1800 hervorgeht (vgl. August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe. Bd. 7: Ausgewählte Briefe. Hg. v. Edgar Lohner. Stuttgart u. a. 1974, S. 67f.), sollte Goethe zu diesem Zeitpunkt auch Tiecks soeben erschienene Nachdichtung der Melusine vorliegen: Ludwig Tieck: Sehr wunderbare Historie von der Melusina. In: Ders.: Romantische Dichtungen. Bd. 2. Jena 1800, S. 331-464). In Goethes Nachlaßbibliothek findet sich nur der erste Band der Romantischen Dichtungen (vgl. Klassik Stiftung Weimar, Goethes Bibliothek, Ruppert Nr. 1172).

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wiederspiegelt.81 Eine der ursprünglichen Textgestalt näherstehende Fassung konnte Goethe in einem „betagte[n] deutsche[n] Foliant[en]“ finden, der ihm Ende 1799 „in die Hände“82 fiel: das 1587 erschienene Buch der Liebe des Frankfurter Verlegers Sigmund Feyerabend, aus dem Goethe erstmals auch die Tristan-Geschichte bezog.83 Der Holzschnitt zum ersten Kapitel der Historia und Geschicht von Melusina präsentiert die Wasserfrau nach ihrer Doppelnatur mit nacktem weiblichem Oberkörper und einem Unterleib zwischen Fisch- und Schlangengestalt in dem gemauerten Brunnen eingeschlossen, der auch im Text selber eine zentrale Rolle spielt (vgl. Abb. 4). Es verwundert nicht, daß Werther, der allerorten seiner Sympathie für die „geringen Leute“ (8,18) nachgibt, auch eine ausgeprägte Ader für das ‚Volksbuch‘ besitzt. Bereits im Brief vom 12. Mai, seinem dritten Brief, zitiert er das Schlüsselsymbol des Melusinenromans. „Da ist gleich vor dem Orte ein Brunn‘, ein Brunn‘, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern. Du […] findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinab gehen, wo unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Das Mäuergen, das oben umher die Einfassung macht, […] die Kühle des Orts, das hat alles so was anzügliches, was schauerliches“ (8,16). In Goethes Hypotext ist der „Nixenbrunnen“84 der Ort, an dem Melusine erstmals und letztmals erscheint. Dazwischen muß sie das unsichere Element zumindest wöchentlich aufsuchen, wie es denn auch Werther immer wieder dorthin zieht. Seine Einführung unter dem Melusinenzeichen reicht aus, um den Brunnen vor Wahlheim ein für alle mal mit den mythischen Qualitäten von Bann, Anziehung und Schauer aufzuladen85 und zur „Wunderquelle“ (8,70) zu machen, die Werthers eigenen psychischen Innenraum bezeichnet: „die Quelle alles Elendes“ und „die Quelle aller Seligkeiten“, die in ihm „verborgen ist“ (8,176). In diesem von Gegensätzen bewegten Spiegel erkennt der Narziß sein eigenes Bild nicht mehr (vgl. 8,177f.). Goethes Dialog mit dem Melusinenstoff antizipiert diesen Glückswechsel. Denn das Zwitterwesen des frühneuhochdeutschen Prosaromans erscheint unter gegensätzlichen Vorzeichen am Brunnen: zum einen um Glück, zum anderen aber um Tod zu verheißen: „daß der Herr des hohen schnen Schloß sol geendet werden“.86 81 Vgl. Zwei schöne neue Märlein (FA I 18,63f.); sowie Friedrich Wilhelm Zachariä: Zwei schöne neue Mährlein: als I. von der schönen Melusinen; einer Meerfey. II. von einer untreuen Braut, die der Teufel hohlen sollen. Der lieben Jugend, und dem ehrsamen Frauenzimmer zu beliebiger Kurzweil, in Reime verfasset. Leipzig 1772. 82 An August Wilhelm Schlegel, 1. Januar 1800 (WA IV 15,1f.). 83 Vgl. Keppler: Die Heiligung der „sündigen Liebe“. Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ und der Tristanstoff, S. 68f. 84 Zachariä: Zwei schöne neue Mährlein, S. 3. 85 Dies fügt sich zu den Beobachtungen von Horst Albert Glaser: Der Mythos des Wassers bei Goethe. In: Celebrating Comparativism. Hg. v. Katalin Kürtösi u. József Pál. Szeged 1994, S. 269-275. 86 Vgl. Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 89.

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Goethes direkte und aufmerksame Auseinandersetzung mit der Melusinenfabel setzt sich nach dem Werther zunächst in dem Erzählzyklus der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten fort und weist auch dort einen Bezug zur zentralen Thematik auf. Ein höfischer Gesprächszirkel, von den Auswirkungen der Französischen Revolution verunsichert und derangiert, sucht im kultivierten Geschichtenerzählen die Symptome adligen Herrschaftsverfalls zu kompensieren. Der mittlere der sieben Vorträge behandelt den Fall eines illegitimen Liebespaares und dessen Entlarvung durch die Ehefrau. Zerknirscht bekehrt sich die Ehebrecherin zur sittlichen Ordnung. Sie verläßt den Mann, „nachdem sie ihm drei Geschenke, ein kleines Fruchtmaß, einen Ring und einen Becher für seine drei rechtmäßigen Töchter verehrt und ihm die größte Sorgfalt für diese Gaben anbefohlen hatte. Man hub sie sorgfältig auf und die Abkömmlinge dieser drei Töchter glaubten die Ursache manches glücklichen Ereignisses in dem Besitz dieser Gabe zu finden“ (9,1036). Daran schließt sich in der Rahmenerzählung eine spannungsvolle Auseinandersetzung zwischen den Geschwistern Luise und Friedrich an, die nochmals belegt, mit welch präziser Allusionskraft sich Goethe auf seinen Hypotext bezieht. Die Erzählung, konstatiert Luise philologisch korrekt, sieht nämlich „dem Märchen der schönen Melusine“ (9,1036) ähnlich. Zudem liegt dessen Wunderbares der scheinbar gesicherten Rationalität der eigenen Kultur nicht so fern, wie es scheint. Auch in der Auswandererfamilie hat sich ein „Talisman“ erhalten. „Es ist ein Geheimnis“, so Friedrich, „nur der älteste Sohn darf es allenfalls bei Lebzeiten des Vaters erfahren, und nach seinem Tode das Kleinod besitzen“ (9,1036f.). Solchermaßen von Erbe und Besitz ausgeschlossen, fragt Luise einigermaßen mißtrauisch: „Du hast es also in Verwahrung?“ Darauf scheint der junge Mann die Gesprächshoheit zu behaupten, wenn er seinen Besitzanspruch auch als informationellen ausweist: „Ich habe wohl schon zu viel gesagt“ (9,1037). Soweit wäre Luise abgewehrt. Doch hat sie bereits mit der Feststellung der Melusinenanalogie dem conte moral der Schleier-Geschichte eine Folie untergeschoben, deren besonderes Relief die erbauliche Aussageabsicht Friedrichs, die auf Glückssicherung durch die Einhaltung legitimierter Ordnungen zielt und bereits durch die neuen politischen Umstände in Zweifel gezogen wird, dunkel grundiert. Die jüngere Unterhaltungen-Forschung hat es als Rätsel herausgestellt, was genau durch die drei Gaben symbolisiert werde.87 Melusines Mutter, Persina, hat ihren Töchtern „drey Gaben“ hinterlassen, die jedoch auch als „Flüch“ angesprochen werden.88 Melusine selber verwandelt sich jeden Samstag „von dem Nabel hinab/ [in] eine Schlang“,89 in welchem Zustand ihrem Ehemann verboten ist, sie zu sehen. Meliora hat einem adligen Helden jeden erdenklichen 87 Vgl. Niekerk: Bildungskrisen, S. 81. 88 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 116. 89 Ebd., S. 106.

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Wunsch zu erfüllen, „doch also, daß er iren Leib noch sie nicht fordert“.90 Palentina muß den Schatz ihres Vaters verwahren, der ausschließlich an einen männlichen Nachkommen weitergegeben werden kann. Der Kunstmythos der Melusinenbücher schafft nun aber dem Unheil Raum, indem sowohl das Blick- als auch das Geschlechtstabu gebrochen werden und die Erbfolge scheitert. „O du böse Schlang unnd schendtlicher Wurm/ der Samen noch all dein Geschlecht thut nimmer gut“91, entsetzt sich Reymund über das Zwitterwesen seiner Gattin und stellt zugleich seiner Nachkommenschaft die düstersten Prognosen. Der König, der erfolglos den Leib Melioras fordert, „fieng […] nun an widerumb zu herrschen/ das geschahe aber in grossem ungefäll. Er fieng an von tag zu tag abzunemmen/ und sein Königreich begund zu zergehen/ immer je lenger und je fester/ biß in seinen todt“.92 Der Melusinensproß, der den „grausamen Schatz da erlangen […] wollte […] ward sehr kranck […] und starb“.93 Mit der fein kalkulierten Hindeutung auf die mittelalterliche Sagenerzählung zitiert Goethe folglich ein aus erotischen und politischen Aspekten zusammengesetztes Katastrophenszenario herauf, das die von der Revolutionsunruhe gereinigte Oberfläche der Unterhaltungen nadeldünn und zielsicher durchstößt . Das alteuropäische Herrschaftsmodell operiert wesentlich mit dem Legitimativ der Herkunft, die bei Melusine indes im Dunkeln liegt. „[W]er oder von wannen ist die Frauw“94, fragt sich deshalb eine Adelsgesellschaft, für die der vorläufig verschleierte, erst noch zu lüftende Ursprung des Elementarwesens eine eklatante Beunruhigung darstellt. Exponentin einer solchen genealogischen Fremdartigkeit, die analytische Aufklärungsbemühungen auf sich zieht, ist auch Mignon. Wie Melusine ist sie in mehrfacher Hinsicht ein „zwitterhafte[s] Geschöpf“ (9,553), eine Zelle des Mythischen, zwischen den Leitdichotomien von Männlich und Weiblich, Diesseits und Jenseits angesiedelt. Mignon führt keinen Familiennamen und beherrscht keine bestimmte Landessprache. Ihr Italien ist eine Antikenvision, bewacht von „der Drachen alte[n] Brut“ (9,503). Das Kind aus einer „Gesellschaft Seiltänzer“ (8,443) fällt gewissermaßen vom Himmel und sucht auch in Engelsgestalt den Rückweg „von der schönen Erde“ zu „jene[n] himmlische[n] Gestalten“ (9,895). Sie figuriert wie die neue Melusine als „englischer Geist“ (10,635) bzw. die 90 Ebd., S. 107. 91 Ebd., S. 86. 92 Ebd., S. 128f. Die Aspekte politischen Zerfalls akzentuiert auch Ludwig Tieck: Sehr wunderbare Historie von der Melusina. In: Ders.: Schriften. Bd. 13. Berlin 1829, S. 67-170, hier S. 129, 162 u. ö. 93 Ebd., S. 135. 94 Ebd., S. 22. Dazu in verwandtem Sinn Rudolf Drux: Pandoras utopische Wiederkunft. Das Mythem von der Fremdartigkeit der Frau bei Herder (1802) und Goethe (1808). In: Begegnung mit dem Fremden. Grenzen, Traditionen, Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen GermanistenKongresses, Tokyo 1990. Hg. v. Eijiro Iwasaka. München 1991, Bd. 11, S. 113-120.

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alte Melusine als „Gespenst Weib“95. Ihre „Gegenwart“ kann folglich nur eine „geheimnisvolle“ sein, wodurch sie Wilhelm freilich „mehr [reizte], als er sich selbst gestehen durfte“ (9,460). So ist es vielleicht auch kein Zufall, daß die neue Melusine aus dem Volk der „Gnomen“ (10,642) stammt und MIGNON ein Anagramm von GNOMIN ist. In den Wahlverwandtschaften hielt Goethe die Erinnerung an das Phantasma der Wasserfrau zumindest in der Erscheinung Lucianes wach, die „das Gegenwärtige und das Eingebildete dergestalt [verwirrte]“, daß die Gesellschaft die berechtigte Ahnung überkommt, „mit der Saalnixe verwandt und verschwägert zu sein“ (8,414).96 Mit der Saalnixengeschichte, einer Variante des Melusinenstoffs, beschäftigte sich Goethe vor allem zwischen 1802 und 1805. Christian August Vulpius hatte unter dem Titel Die Saal-Nixe ein Singspiel bearbeitet, das Goethe in dieser Form auf die Weimarer Bühne brachte. Wieder besteht die Provokation in der Störung einer symbolischen Ordnung, die sich über Leitdifferenzen, in diesem Fall den Unterschied von Realem und Imaginärem, organisiert. Feiner, aber (wie wir sehen werden) noch nicht vollständig ausgeschliffen wird der Komplex in der Neuen Melusine, die Goethe 1817/19 wie zuvor die meisten anderen ‚kleinen Erzählungen‘ der späteren Wanderjahre in Cottas Taschenbuch für Damen plazierte. Erstmals veröffentlichte Goethe 1801 in dem Damenkalender, und zwar die Gelegenheitsarbeit der Guten Weiber, die immerhin nahelegt, daß die Entscheidung für einen weiblichen Publikumskreis mit dem zu tun hat, was in den Texten verhandelt wird und mehr noch wie dies geschieht: Goethe sucht ein Publikum auf, dem man (und das sich selber) verselbständigte Einbildungskraft, eingeschränkte Urteilsfähigkeit und mangelnde Sinnerfassung beim Lesen attestierte.97 In seiner weiteren Verwendung gehört das Melusine-Märchen zu den ersten Wanderjahren von 1821 und damit zum konzeptionellen Kernbestand des Altersromans. Der Titel der Neuen Melusine fordert ebenso zur Überprüfung der intertextuellen Dialogizität auf, wie er die Tatsache des Neuarrangements festhält. Zum einen reagiert Goethes Text auf die Signale einer tiefgreifend gestörten Beziehungsgrammatik in seiner Quelle. Ebenso wie der Verkehr des Rotmantels mit der „Nixe[ ]“, die zugleich eine „Zwergin“ (10,642f.) ist, einschränkenden „Bedingungen“ (10,635) unterliegt, so auch der Geschlechtsrapport zwischen Melusine und Reymund. Beide Frauen verlangen das Séparée einer „besondere[n] Stube“, in welcher der Mann „weder wohnen 95 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 84. 96 Vgl. Volkmar Hansen (Hg.): Goethe-Museum Düsseldorf. Goethe in seiner Zeit. Katalog der ständigen Ausstellung. Düsseldorf 1993, S. 254. 97 Vgl. Silke Schlichtmann: Geschlechterdifferenz in der Literaturrezeption um 1800? Zu zeitgenössischen Goethe-Lektüren. Tübingen 2001, S. 22-33 („Das Postulat einer Geschlechterdifferenz im Lesen um 1800“) u. S. 124-220 („Geschlechtscharaktere und Lektüreweisen“). Zu Goethes Publikation in Damenkalendern vgl. Bunzel: „Das ist eine heillose Manier, dieses Fragmente-Auftischen“.

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noch schlafen“ darf (10,635).98 Beide Mal liegt der Grund des Tabus in der identitätskritischen Existenz in „zweierlei Gestalten“ (10,643), der Verwandlung vom Eigenen ins Fremde, Andere. Die Konturen der neuen Melusine verschwimmen dabei doppelt, da sie nicht nur wiederholt mit der Nixennatur in Verbindung gebracht wird (vgl. 10,642f. u. 645), sondern außer in Menschen- auch in Zwergengestalt erscheint: als ein „undenische[s] Pygmäenweibchen“99. Beide Mal werden „Versprechen und Schwur“ (10,646), „Eyd und Trew“100 gebrochen. Der Rotmantel berührt „mit dem Auge unmittelbar den Riß“ (10,641) des Kästchens und sieht zu seinem „Erstaunen“ (ebd.) in eine andere Welt, einen Mikrokosmos, so daß die Szene wörtlich Roger Caillois vielzitierte Bestimmung des Phantastischen als „Riß in der Welt“101 erfüllt. Etwas brachialer „machet [Reymund] mit seinem Schwerdt ein Loch durch die Thür“ und erblickt das „frembde“ Wesen seiner Frau.102 Es folgt die öffentliche Denunziation des Anderen, in dessen Existenz man sich nicht schicken kann. „Wasser ist für die Nixen!“ (10,645), ruft der Rotmantel in Gesellschaft aus; Reymund hat „Melusina vor den Leuten beschemet/ wie sie ein Meerwunder wer“103. Soweit reflektiert Goethe detailliert die erotisch-individuelle Dimension seines Bezugstextes. Doch muß weiter gefragt werden, ob er nicht auch mit dessen politisch-gesellschaftlichen Valeurs einen intertextuellen Dialog arrangiert hat, mit dem wir uns dem eigentlichen Gravitationszentrum der Neuen Melusine nähern. Reymund und Melusine haben ausschließlich Söhne gezeugt, womit sich das Problem von deren standesgemäßer Versorgung stellt. Fast alle avancieren nun zu Landesherren, indem sie die „Königs Töchter“104 aus Häusern ehelichen, denen die männliche Nachkommenschaft fehlt. Wiederholt wird dabei die Rede vom prekären Status weiblicher Herrschaft intoniert, die Goethe bereits mit den Staatsaktionen von Wilhelms Jugenddramen analysierte (vgl. oben IV.3.b). „Sehet/ nun ist es nicht müglich/ daß eine Fraw ein solches Königreich möge beschirmen“105; „es ist not/ daß ir acht habt/ wer euwer König wird/ […] seyd das doch nicht zimlich ist/ daß ein Weibliches Bildt sich deß unterstehe“,106 raten die 98 99 100 101 102 103 104 105 106

Vgl. Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 14. Goethe an Schiller, 12. August 1797 (WA IV 12,231). Ebd. Roger Caillois: Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science-Fiction. In: Phaicon 1. Almanach der phantastischen Literatur. Hg. v. Rein A. Zondergeld. Frankfurt/M. 1974, S. 4483, hier S. 45f. Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 70f. Ebd., S. 85. Ebd., S. 55. Ebd., S. 39. Ebd., S. 61. Diese Problemlage hält auch noch Tieck (Melusina, S. 98, 105, 109 u.ö.) für relevant. Vgl. dazu Jürgen Weitzel: Primogenitur. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. v. Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann. Berlin 1984. Bd. 3, Sp. 1950-1955; Heide Wunder:

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Staatsklugen im Melusinenbuch. Movens und Leitfaden der Neuen Melusine bildet genau genommen eine politische Nachfolgefrage. Die Nixenzwergin spricht von ihrem „nachgeborne[n] Bruder“, der „so klein ausgefallen [ist], daß ihn die Wärterinnen sogar aus den Windeln verloren haben und man nicht weiß wo er hingekommen ist“ (10,649). Die burleske Einkleidung darf nicht über das Signal hinwegtäuschen, das dieses Ereignis als Störung der männlichen Thronfolge im Diskursfeld genealogischer Biopolitik darstellt.107 Unter machtanalytischen Vorzeichen drängt sich doch der Verdacht auf, daß die unstandesgemäße Bräutigamswahl der Prinzessin, die auf den Erzähler, den Landstreicher Rotmantel fällt, mehr als ein komisches Mißverständnis ist. Nicht zufällig verursacht es ihm „einiges Mißtrauen“, „daß sie mich anstatt eines Ritters ergriffen hatte“ (10,648). Diese Melusine ist offenbar auch darin neu, daß sie, von den Umständen begünstigt, an ihrer politischen Vormachtstellung arbeitet. Denkt man nämlich ihre Geschichte weiter, positioniert sich die Heldin als Mutter eines minderjährigen Thronfolgers und damit als vormundschaftliche Regentin ohne jenen konkurrenzfähigen Gemahl, den die Prinzessinnen der Melusine regelmäßig an die Seite bekommen. Bei aller buchstäblichen Verkleinerung der Vorgänge im Rahmen einer verharmlosenden Persiflage108 enthüllt sich die „Macht des Weiblichen“109 keineswegs als domestiziert. Goethe gestaltet nicht nur deren Verdrängung (durch die Kasernierung im Kästchen), sondern zugleich deren Wiederkehr. Mit dem Märchen der Wanderjahre hat sich die Melusinenkonstante in Goethes Erzähluniversum gegen allen Anschein noch nicht erschöpft. Vielmehr erstreckt sie sich – in einem Wechsel von manifester zu latenter Intertextualität – unsichtbar und doch grundlegend, durch ein transtextuelles Spiegelverhältnis der Schauplätze nämlich, auch auf die Felix-Hersilie-Handlung des Altersromans. Das Kästchen, das von dort an zum Leitmotiv des Buchs wird, findet sich in der Höhle einer Felsformation mit dem eigentümlichen Namen „Riesenschloß“: „Aus einer Wand von Säulen“ ragt dieses „als ein einsamer Gipfel hervor, angeschlossene Säulenwände bildeten Pforten an Pforten, Gänge nach Gängen“ (10,300f.). Wilhelms Sohn Felix verschwindet in einer „Kluft des schwarzen Gesteines“ und lüftet den Deckel eines „große[n] Herrschaft und öffentliches Handeln von Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit. In: Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. v. Ute Gerhard. München 1997, S. 27-54; sowie Willhelm Haefs u. Holger Zaunstöck: Hof, Geschlecht und Kultur – Luise von Anhalt-Dessau und die Fürstinnen ihrer Zeit. Ein Forschungsaufriß. In: Das achtzehnte Jahrhundert 28 (2004), S. 158-178. 107 Zur Virulenz dynastischen Denkens beim Goethe der 1790er, aber auch der 1820er Jahre vgl. Jaeger: Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne, S. 37ff. 108 Als inhaltlich akzentuierter Intertextualitätsmodus im Sinne Genettes (Palimpseste, S. 118-130). Formal handelt es sich bei einer solch kontinuierlichen Bezugnahme, wie sie Goethe hinsichtlich des Melusinenromans vornimmt, um das, was Lachmann (Literatur und Gedächtnis, S. 61f.) als Anagramm beschreibt. 109 Lubkoll: „in den Kasten gesteckt“, S. 50.

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eiserne[n] Kasten[s]“ (10,302), in dem wiederum – eine Allegorie des miseen-abîme-Verfahrens des Romans – das Kästchen liegt. Dieses Ensemble reminisziert aber präzise eine Schlüsselepisode der alten Melusine. Goethe läßt Wilhelm und Felix gewissermaßen auf einem Schauplatz eintreffen, der eine Vorgeschichte im Hypotext hat. Melusines bedeutendster Sohn, Goffroy, trägt einen Kampf mit einem Riesen vor dessen in den Bergen gelegenem Schloß aus. Dabei springt er „als in einen Keller in ein finster Loch“110, in dem er auf ein „gehauwen Frawenbild“, Melusines Mutter vorstellend, stößt, „das hatte ein Täfelin in den Händen“.111 Felixens Kästchen, auch mit einem „Oktavband“ verglichen und als „Prachtbüchlein“ angesprochen (10,300f.), nimmt also die Stelle dieses Täfelchens ein, das vom Bruch eines Sichttabus berichtet, wie wir es bereits aus der Melusine-Reymund-Geschichte kennen. Persinas Gemahl mußte schwören, „das er sein lebtag die zeit und weil/ so ich [Persina] in dem Kindtbett lege/ mich nimmer besuchen/ besehen“ würde.112 Das Skandalon des tierischen Unterleibs ist gegen das der Gebärfähigkeit ausgetauscht. Wiederum hat die Frau ein erotisches Tabu aufgestellt, wiederum wird es – wie könnte es anders sein – durch den Mann gebrochen. Zwischen den Eheleuten öffnet sich eine unüberwindliche Kluft, wie es im Mittelgrund des Titelbildes von 1587 zu sehen ist (vgl. nochmals Abb. 4). Dieses Tatmuster stellt eine Art Familienfluch dar, der die Melusinenwelt gänzlich unter das Fatum – „des eisernen Geschickes Schluß“113 – sowie unter das mythische Gesetz der Wiederkunft stellt. Daß hiermit die quellengeschichtliche Filiation des Kästchenmotivs und sein Wert als intertextuelles Referenzsignal aufgedeckt ist, soll ausdrücklich nicht heißen, man könne dessen semantische Polyfunktionalität abstellen. Ihr Nachweis untermauert aber diejenige Funktionsbestimmung, die Gerhard Neumann – von dem Befund ausgehend, daß das Kästchen vornehmlich einen Spielball zwischen Felix und Hersilie darstellt – mit dem „Problem der Disproportionalität“ der Geschlechter vorgenommen hat: das Kästchen also „als Zeichen für die aporetische Struktur einer Beziehung“114. In der Tat tragen Felix und Hersilie ihr scheiterndes wechselseitiges Verhältnis über diese ‚black box‘ aus: „[D]ein Herz wünscht ich zu öffnen“ (10,742), ruft der junge Mann, dreht den Schlüssel im Kästchen und – bricht ihn ab. Dann, so 110 111 112 113 114

Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 101. Ebd., S. 105. Ebd. Zachariä: Zwei schöne neue Mährlein, S. 38. Neumann u. Dewitz: Kommentar, S. 1205. Eine alchimistisch-hermetische Interpretation des Kästchens bietet Diethelm Brüggemann: Makarie und Mercurius. Goethes ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘ als hermetischer Roman. Frankfurt/M. u. a. 1999, S. 67-70. Die ‚cista‘ der Eleusinischen Mysterien glaubt Ingrid Altenhöner (Die Sibylle als literarische Chiffre bei Johann Georg Hamann, Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe. Frankfurt/M. u. a. 1997, S. 305ff.) in dem Kästchen zu erkennen.

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berichtet Hersilie, „fährt er auf mich los und faßt mich in die Arme“; sie muß ringen, um sich loszureißen. „[N]ur zu deutlich“ erscheint ihr nach diesem Übergriff die „Kluft die uns trennt“ (ebd.).115 In Felixens Gewaltakt pflanzt sich sichtlich der alte Melusinenfluch fort, den Goethe offenbar nicht mit gleicher Entschiedenheit zu depotenzieren gewillt war wie den berühmten Tantalidenfluch des Iphigenienstoffes.116 Die Entfesselung der Triebwelt und der Verlust des Verantwortungsgefühls zerstören ein Glück, das so nahe lag. So oft sich Goethe darum bemüht hat, das menschliche Denken und Handeln dem Mythos zu entwinden, präsentiert er es doch auch wieder in ihn verstrickt. Hersilie bleibt es auszurufen: „O Männer, o Menschen! Werdet ihr denn niemals die Vernunft fortpflanzen?“ (10,743).

2. Jenseits von Subjekt und Objekt a) „überirrdischer Sinn“ und Hinüberfließen in die Natur Auf Goethes Erzählsystem hin betrachtet hat sich die Melusinenisotopie, die in den Erzählsolitären zumindest keine zentrale Rolle spielt, als bemerkenswert ostinat erwiesen. Sie eröffnet nun vom Rand her den Zugang zu einem noch größeren Motivnetz, in dem Goethe die Grenzwerte des Subjekts an den Bauplänen erdichteter Menschen ausmißt – und zwar auf eine Weise, die den Wahrheitsanforderungen der gelehrten Diskurstypen weithin entzogen ist, da sie die Differenz von Identität und Nicht-Identität, Ich und Nicht-Ich außer Kraft setzt. Was in diesen Liminalzonen ins Straucheln gerät, ist die Annahme des Individuums als etwas Selbständigem und Einheitlichem, in sich Zentriertem und Für-sich-Bestehendem. Die dynamisch auseinander hervorgehenden Gestalten Mignons, Ottilies und Makaries – transitorische Phänotypen eines subjektkritischen Grundmodells – bieten keine Ichheiten, die dem Nicht-Ich der Natur und der Anderen entgegengesetzt wären. Es ermangelt ihnen ein spezifischer Widerstand gegen die Objektwelt, aus welchem dem Ich sonst sein Selbstbewußtsein zuwächst, weil er die rückwendende Bezugnahme auf ‚sich selbst‘ erfordert. Goethe legte diesen Fällen nicht so sehr das Prinzip der Vermittlung von Subjekt und Objekt zugrunde, die deren 115 Vgl. die Parallelszene in der Neuen Melusine: Der Rotmantel stürzt auf seine Schöne zu und faßt sie in die Arme; diese entwindet sich ihm mit „unglaublicher Gewandtheit“ (10,635). Dazu Tieck: Melusina, S. 161: „Er springt und will sie fassen/ Um ihren schlanken Leib,/ Doch schnell muß er sie lassen,/ Es schwand das süße Weib.“ 116 Vgl. Adorno: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, bes. S. 500; sowie die mit den Geschlechterkomplikationen des Melusinenstoffes kontrastierenden Ergebnisse von Sibylle Schönborn: Vom Geschlechterkampf zum symbolischen Geschlechtertausch. Goethes Arbeit am antiken Mythos am Beispiel der ‚Iphigenie auf Tauris‘. In: Goethes Rückblick auf die Antike. Beiträge des deutsch-italienischen Kolloquiums Rom 1998. Hg. v. Bernd Witte u. Mauro Ponzi. Berlin 1999, S. 83-100.

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Trennendes als Bedingung ja voraussetzt, sondern experimentierte mit der Negation des so Unterschiedenen. Diese Hypothese gilt es im folgenden zu entfalten und zu verifizieren: anhand einer Sichtung von Goethes Erzählen unter den Kategorien ‚überirdischer Sinn‘ und Hinüberfließen in die Natur (a), Vampirismus und Öffnungserfahrung (b), ‚Schwangerschaft und Dividualität‘ (c) sowie ‚Tod und Ende‘ (d). Goethes Weiblichkeitsimaginationen modellieren – wie gesehen (vgl. oben IV.3) – eine menschliche Kondition, die sowohl politisch-soziale Selbstverfügungsgewalt als auch Kontrolle über den eigenen Seelenhaushalt vermissen läßt; ebensowenig ist sie der Fungibilität des Organismus und eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Leib und Seele, d. h. der Vereinigung der zwei Substanzen, vergewissert. Indes scheint dieser heikle Gesamtzustand die Voraussetzung für einige erstaunliche paranormale Begabungen zu bilden. Es ist ein Proprium von Goethes ‚geliebten Töchtern‘ mit der Anlage zur Kryptästhesie gezeichnet zu sein: einem „überirrdischen Sinn“117, den Meiners’ Religionsgeschichte den Akteuren des Mythensystems attestiert hatte. Sie verdienen sich diesen Namen als „apprehensive Wunderkind[er]“118, die von konventionellen Wissensbeständen ausgeschlossen sind, um – dem morphologischen Gesetz der Kompensation folgend119 – an einer Sphäre des Mehrals-Wissens, der nicht-begrifflichen Offenbarung und der dunklen Sensationen teilzuhaben. Während ihre Empfindungsapparatur den „Fühlhörner[n]“ gleicht, „mit denen der Mensch in’s Universum tastet“,120 bewegen sich ihre Ausdruckmöglichkeiten weniger in sprachlichen als vielmehr gestischen und musikalischen Formen, die wie Fragmente von kultischem Geschehen anmuten und mit einer „Zauberkraft“ (8,78) ausgestattet sind, die Selbstvergessenheit verbreitet: „Niemand glaubte sich mehr gegenwärtig“ (10,187), berichtet der Melusine-Erzähler über die Wirkung des Sirenengesangs seiner Gnomin.121 Am Postulat gemessen, daß wir „allein durch den richtigen Gebrauch der Vernunft […] Menschen [sind]“122, passieren diese Gestalten oft 117 118 119 120

Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 234. Goethe an Carl Friedrich von Reinhard, 31. Dezember 1809 (über Ottilie) (WA IV 21,153). Zum Kompensationsgesetzes vgl. Verra: Die Vergleichungsmethode bei Herder und Goethe, S. 59. An Christian Dietrich von Buttel, 3. Mai 1827 (WA IV 42,167). Dazu Müller-Seidel: Dichtung und Medizin, S. 133. Bereits der bemerkenswerte Aufsatz von Schiff (Mignon, Ottilie, Makarie im Lichte der Goetheschen Naturphilosophie, S. 133) attestierte Mignon, Ottilie und Makarie eine die „cognitio clara et distincte“ übertreffende „cognitio intuitiva“: ein „unmittelbare[s] innere[s] Schauen“. 121 Zum Ausschluß der Frau aus der Schriftlichkeit und ihrer Zuordnung zur Interaktion anstelle der Kommuniktion vgl. Koschorke: Geschlechterpolitik und Zeichenökonomie. Zum Sirenenmotiv in Auseinandersetzung mit Horkheimer und Adorno vgl. Monika Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen. Literarische Spiegelungen innerer und äußerer Fremde. Würzburg 2003, S. 65-72 („Mythische Konfrontationen“). 122 Hippel: Nachlaß über weibliche Bildung. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 7. Berlin 1828, S. 1-126, hier S. 9.

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genug nur als ‚Geschöpfe‘ oder ‚Kreaturen‘123: ohne „Absichten zu haben“ (9,263), „ohne die mindeste Reflexion“ (9,907), wo es doch die „reflexiven Akte“ sind, „vermöge derer wir den Gedanken unseres Ich fassen“.124 Als Hauptfigurantinnen der „‚numinosen‘ Situation“125 und damit als Residuen gegen einen rationalisierenden Modernisierungsprozeß des Wissens ragen wiederum Mignon, Ottilie und Makarie hervor. Der „verworrene[ ] Zustand“ (9,903) Mignons äußert sich zuvörderst in der Unordnung ihres Sprechens, in der sich die Aphasien Ottilies und Makaries ankündigen – „mit Worten konnte es [das Geschöpf] sich nicht ausdrücken“ (9,968). Mit ihrem Verhältnis zur Schrift in einem Zeitalter allfälliger Alphabetisierung steht es allem guten Willen zum Trotz nicht besser: „Sie war unermüdet und faßte gut; aber die Buchstaben blieben ungleich und die Linien krumm“ (9,490). Selbst beim Lesen von Landkarten verfährt sie „nicht mit der besten Methode“, indem sie „bei den Ländern kein besonderes Interesse zu haben [schien], als ob sie kalt oder warm seien“ (9,650). Wie zum Ausgleich stehen ihr, und zwar ohne sichtbaren Lernprozeß, gestisch-tänzerische und musikalische Fähigkeiten zu Gebote.126 Für jeden, der ihr begegnet, hat sie eigene Grußzeichen bereit (vgl. 9,139). Im Unterschied jedoch zur erfolgreich signifizierenden Gebärdensprache in der (Knaben vorbehaltenen) ‚Pädagogischen Provinz‘, in der die verschiedenen „Grüße“ dem Aufseher sogleich anzeigen, „auf welcher Stufe der Bildung ein jeder dieser Knaben steht“ (10,415), schließen sie nichts von Mignons Innerem auf. Die Exerzitien des Fandango beginnt sie – nach dem innersten Strukturprinzip des Mythos – „immer wieder von vorn“ (9,470), zirkulär und entwicklungslos. Es waren Experimente mit der Embryonalentwicklung des Eis, aufgrund deren der für den Bildungsgedanken zentrale Begriff der Epigenese geprägt wurde.127 Genau darüber setzt sich Mignon, ein „non-perfektible[s] Wesen“128, buchstäblich hinweg. Auf der Premierenfeier gebärdet sie sich – ein weiteres Tanzmotiv – wie eine „Mänade […], deren wilde und beinah unmögliche Stellungen uns auf alten Monumenten noch oft in Erstaunen setzen“ (9,695). Annonciert ist solchermaßen ein ekstatischer Zustand, in dem die Ordnungsinstanz des Ich ganz oder teilweise fehlt. Bezeichnenderweise ruft Goethes Erzähler sogleich 123 Vgl. 8,32, 36 u. ö.; 9,285, 365 u. ö., 8,281; 10,79, 413 u. ö. ; sowie 9,263, 387 u. ö. 124 Leibniz: Monadologie, S. 608. 125 Vgl. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt/M. 1990, S. 113f. 126 Zum nicht-sprachlichen Ausdrucksvermögen Mignons ausführlich Brigitte Kohn: Denn wer die Weiber haßt, wie kann der leben? Die Weiblichkeitskonzeption in Goethes ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ im Kontext von Sprach- und Ausdruckstheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Würzburg 2001. 127 Vgl. Riedel: Deus seu Natura, S. 326f. Eine mythologische, auf die Orphik bezogene Deutung der Eier gibt Hans Richard Brittnacher: Mythos und Devianz in ‚Wilhelm Meisters Lehrjahren‘. In: Leviathan 14 (1986), S. 96-109, hier S. 100f. 128 Stanitzek: Blödigkeit, S. 241.

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auch die kunsthistorischen Quellen des Bildes mit auf und hebt damit das mythopoetische Verfahren des Textes ins Bewußtsein. Mit „wunderbaren Stellungen“ (9,163) begleitet Mignon ihre „phantasieren[de]“ Musik, die eine tiefgreifende Verwandlung ihrer Erscheinungspersönlichkeit begleitet: Es ist dann, „als wenn ein anderer Mensch redete“ (9,168). Schließlich fällt auf, daß Mignon eine Art visionärer Befähigung zukommt. Die „Mutter Gottes erschien [dem Kind] und […] versicherte [es], daß sie sich seiner annehmen wolle“ (9,902). Noch vor Wilhelm weiß es um dessen Vaterschaft: „[W]oher?“ fragt Wilhelm, „[i]ch weiß nicht“, so Mignon, „im Herzen, im Kopfe, ich war so angst, ich zitterte, ich betete, da riefs, und ich verstands“ (9,851).129 Solche begriffslose Gesichte unterlaufen bereits Werther, der sie aber weniger numinos als vielmehr sinnesphysiologisch faßt: „Hier, wenn ich die Augen schließe, hier in meiner Stirne, wo die innere Sehkraft sich vereinigt, stehen ihre [Lottes] schwarzen Augen. Hier! Ich kann dir’s nicht ausdrükken. Mach ich meine Augen zu, so sind sie da, wie ein Meer, wie ein Abgrund ruhen sie vor mir“ (8,192). Namentlich im Problembereich der klaren, aber konfusen Artikulationsund Wahrnehmungsweisen figuriert Ottilie gewissermaßen als Mignons Wiedergängerin. Der Pensionatsbericht zu Beginn der Wahlverwandtschaften (vgl. 8,293-295) gibt den Ton für ihr nur bedingtes Verhältnis zu allen Formen distinkten Bedeutenwollens vor: den Alphabetisierungstechniken des Schön- und Rechtschreibens sowie den fest geregelten Symbolsystemen der Mathematik und Geographie. Auf dem Schloß führt sie sich damit ein, daß sie einen ganzen Tag „den Mund noch nicht aufgetan [hat]“, was sogleich als „wunderbar“ (8,312) auffällt. Sie macht sich nicht durch eine konventionalisierte Begriffssprache geltend, sondern durch „Gebärde“ (8,310), „Blick und Wink“ (8,341), „gehobene Hände“ (8,511) und „Neigen des Hauptes“ (8,512), die sämtlich im Areal des semantisch Unfestgestellten flottieren. Der allgegenwärtigen Echo-Motivik des Romans folgend, hallt Ottilies Tagebuch von fremden Gedanken und Formulierungen wider. Denn wie sie von den Aufzeichnungen Eduards Kopien anfertigt (vgl. 8,355), so hier von den Maximen und Reflexionen der aphoristischen Tradition: „Weil aber die meisten derselben [Sentenzen] wohl nicht durch ihre eigene Reflexion entstanden sein können; so ist es wahrscheinlich, daß man ihr irgend ein Heft mitgeteilt, aus dem sie sich was ihr gemütlich war, ausgeschrieben“ (8,418).130 Da Ottilie also nicht Subjekt, sondern Medium des Sagens ist, vermag sie das Tagebuch als Genre der Subjektivität und Selbstvergewisserung auch nicht 129 Zum Kausalzusammenhang von Gebet und Vision („ich betete, da riefs“) vgl. Stefan Keppler: Gebet als poetogene Struktur. Systematische Aspekte, die Wissenskonfiguration um 1900 und Rilkes ‚Stundenbuch‘. In: Die Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Hg. v. Rüdiger Zymner u. Manfred Engel. Paderborn 2004, S. 338-355. 130 Vgl. Wiethölter u. Brecht: Kommentar, S. 1037ff.

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mit einer eigenen Personalität auszufüllen. Der Geisteszustand, der dem entspricht, ist von einem Mangel an Autonomie und Autoreflexivität geprägt. Ihre Taten geschehen zumeist „halbbewußt[ ]“ (8,309) oder „ohne […] zu wissen“ (8,381). „Sie folgte ihrem guten Sinne, […] ohne sich’s ganz deutlich zu machen“ (8,382). Im Leiden andererseits umfaßt sie „dunkle Fühllosigkeit“ (8,410f.). Daß Eduard sie zwischenzeitlich verläßt, „verstand“ und „begriff [sie] nicht“; „aber daß er ihr auf geraume Zeit entrissen war, konnte sie fühlen“ (8,379). Dieses Fühlen verbürgt indes keinerlei Selbsterfahrung, da sie „sich selbst dabei gar nicht empfand“ (8,461). Die magnetisch-somnambulen Abwesenheitszustände, welche man Ottilie attestiert hat,131 beeinträchtigen merklich ihre diachrone Identität: Nachdem sie sich „wiedergefunden [hatte], glaubte sie ein anderes Wesen anzutreffen“ (8,379). Noch nicht durch die Erklärungskraft des tierischen Magnetismus abgedeckt sind die ihr zustoßenden optischen Sensationen, darunter zunächst diejenigen der Kapellenepisode: In das psychedelische Lichtarrangement der farbigen Fenster getaucht, tritt sie in einen eigentümlichen hypnoiden Entmächtigungszustand. Sie findet sich umgeben von ihren eigenen doppelgängerischen Abbildern: den Engeln, die ihr Gesicht tragen. Dabei ist ihr, „als wenn sie wäre und nicht wäre, als wenn sie sich empfände und nicht empfände, als wenn dies alles vor ihr, sie vor sich selbst verschwinden sollte“ (8,408). In solcher Absorption durch die Objekte wird sie auf die Grenze zwischen Identität und Nicht-Identität geführt. Wie Ottilie durch unwillkürliche Kopfschmerzen am Unterricht verhindert wird (vgl. 8,309), so stellt Makarie deshalb ihr Briefeschreiben ein (vgl. 10,335). Dieser Abbruch, der bereits in der Mitte des ersten Buches erfolgt, bezeichnet den Beginn einer sprachlichen Abstinenz im Stile „mythische[r] Stummheit“132. Sie entpuppt sich als „die schweigsamste aller Frauen“ (10,493), aus deren Mund wir tatsächlich nur noch eine einzige wörtliche Rede vernehmen (vgl. 10,381). Die Sinnsprüche „Aus Makariens Archiv“ verbürgen alles andere als einen Autorschaftsstatus Makaries. Nicht genug, daß die „gute[n] Gedanken“ (10,387) meistenteils entweder anderen Schriftstellern angehören oder aber unverhohlene Selbstzitate Goethes sind.133 Organisiert wird die Sammlung durch Makaries „Hausfreund“, den ArztAstronom, der allein für „Einsicht und Ordnung“ einsteht (10,388). Makaries 131 Zum Zusammenhang von Ottilies mentaler Verfassung mit dem „animalischen Magnetismus“ Hans-Jürgen Schings: Willkür und Notwendigkeit – Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ als Kritik an der Romantik. In: Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft 1989, S. 165-181, hier S. 177ff.; sowie Michael Holtermann: „Thierischer Magnetismus“ in Goethes Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘. In: SchJb 37 (1993), S. 164-197. Zu Ottillies „abnormalities of the senses“ auch Frederick J. Stopp: Ottilie and „das innere Licht“. In: German Studies. Presented to Walter Horace Bruford. London 1962, S. 117-122, Zitat S. 117. 132 Horkheimer u. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 83. 133 Vgl. zu den Quellen Neumann u. Dewitz: Kommentar, S. 1247ff.

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Dienerin Angela, für das „Aufzeichnen“ zuständig, ist darin „seit einiger Zeit […] nachlässiger geworden“, da ihr dieser semantische Apparat „für ein Frauenzimmer nicht faßlich genug“ (10,727) vorkommt. Die Eigenheit, die Makarie ihres Verstummens ungeachtet zu einem orakelgleichen Gesellschaftsmittelpunkt promoviert, besteht in einer Sehergabe, die ausgeprägter ist als alles, was bislang bei Mignon und Ottilie zu konstatieren war. In eines der letzten Kapitel des Romans setzte Goethe die lange zuvor in Aussicht gestellte Annäherung an ein außerordentliches Wahrnehmungsphänomen. Makarie „sieht sich“ (10,734) auf einer Spiralbahn durch das Sonnensystem wandeln, und zwar „sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den äußeren Regionen hinkreisend“ (10,734). Die Erklärungsversuche des Arzt-Astronomen bedienen sich des überkommenen Fundus der philosophischen Ärzte, der hier händeringend durchdekliniert wird. „Einfluß des Gedächtnisses“, „Krankheit“, „Täuschung“ und „Einbildungskraft“ (10,735) – eingedenk des Uterus als des „Sitz[es] pathogener Bilder“134 – lauten die Verdachtsmomente, deren keines verfängt. Weiterzuführen verspricht eine Spur, die Goethe in der Ankündigung des Berichts von Makaries besonderer Opsis legt: Nachfolgend werde „so viel mitgeteilt, um Nachdenken zu erregen und Aufmerksamkeit zu empfehlen, ob nicht irgendwo schon etwas Ähnliches oder sich Annäherndes bemerkt und verzeichnet worden“ (10,733). Annonciert ist solchermaßen das Verfahren der Analogie, das uns vorderhand – qua konstantem Problemgehalt – auf die Ähnlichkeiten Makaries mit Ottilie und Mignon verweist. In dieses Spiegel- und Verwandtschaftsverhältnis greift indes noch ein bislang unberücksichtigter Intertext ein: Johannes Müllers Über die phantastischen Gesichtserscheinungen (1826). Der Makarie-Komplex stellt im wesentlichen eine Errungenschaft der zwischen Juni 1825 und Januar 1829 erarbeiteten zweiten Wanderjahre dar. Gegenüber der Erstfassung von 1821 schrieb Goethe die Figur von einer recht beliebigen Familienangehörigen zur Seherin des Sonnensystems um. Am 8. November 1828 schickte er erstmals eine „umständlichere Ausführung des Zustandes der fraglichen Tante“ an Riemer.135 Vier Wochen zuvor, am 10. Oktober 1828, lautete der Tagebucheintrag: „Die Einrichtung des zweiten Theils der Wanderjahre bedacht und einiges umgestellt. Fortgefahren damit bis gegen Mittag. Um 12 Uhr Professor Johannes Müller von Bonn. Sein Werkchen über die phantastischen Gesichtserscheinungen vorlegend, worüber denn weiter gesprochen wurde.“136 Der Gegenstand von Müllers ‚Werkchen‘, wie sich Goethe nicht allzu respektvoll ausdrückt, sind hypnagoge Bilder: visuelle Eindrücke, die vorzugsweise im Halbschlaf erfahren werden und die eine ungemeine Präsenz bei gleichzeitiger Unschärfe 134 Fischer-Homberger: Aus der Medizingeschichte der Einbildungen, S. 117. 135 WA IV 45,45. 136 WA III 11,289.

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auszeichnet. Es geht um ein inneres Bildersehen, das keine Vorbilder im Draußen benötigt, um eine visuelle Wahrnehmungsweise mithin, die ihren Weg nicht über das Distanzorgan des Auges nimmt.137 Auf die wiederholten Annäherungsversuche des jungen Wissenschaftlers reagierte Goethe mehr als distanziert, ja mit kaum verborgenem Unwillen: „von einem gemeinsamen Wege“ zwischen ihnen könne, anders als von Müller dargestellt, „eigentlich die Rede nicht seyn“.138 In allgemeine Betrachtungen gehüllt, fällte Goethe ein unmißverständliches Trennungsurteil: „Die Divergenzen der Forscher sind unvermeidlich; auch überzeugt man sich bey längerem Leben von der Unmöglichkeit irgend einer Art des Ausgleichens.“139 Im Handbuch der Physiologie des Menschen (1837) explizierte Müller den Grenzverlauf zwischen beiden Positionen: „Ich erklärte, daß ich durchaus keinen Einfluß des Willens auf Hervorrufung und Verwandlung derselben [des inneren Bildes] habe, und daß bei mir niemals eine Spur von symmetrischer und vegetativer Entwickelung vorkomme. Goethe hingegen konnte das Thema willkührlich angeben, und dann erfolgte allerdings scheinbar unwillkührlich, aber gesetzmäßig und symmetrisch das Umgestalten.“140 Gesetzmäßigkeit und Symmetrie sind die ästhetischen Palliative, ohne die sich Goethe nicht auf solch gefährliches Terrain begibt. Letztlich scheute er die mit dem inneren Sehen verbundenden Risiken der Wahrnehmungskontingenz und des Erfahrungsrelativismus: die untergrabene Möglichkeit einer Vermittlung von Objekt und Subjekt. Der Arzt und Naturforscher Johannes Purkinje, ein anderer Vertreter des „Sehens in subjektiver Hinsicht“, stand für Goethe im Gefahrenbereich von „Hypochondristen, Humoristen, Heautontimorumenen“.141 Er habe „die Schwäche zur Maxime“142 erhoben. In der Abhandlung Über die phantastischen Gesichtserscheinungen glaubte sich Müller noch auf die Gestaltung einer Vision in den Wahlverwandtschaften berufen zu dürfen.143 Zwischen Wachen und Schlafen begriffen, erblickt Ottilie „ganz deutlich“ die Gestalt Eduards „im kriegerischen Anzug“ (8,458f.). Das Bild stellt sich zwar unwillkürlich – „ohne daß sie wollte“ (8,459) –, aber hinsichtlich der Außenwelt nicht beliebig ein. Ist es doch mit der Tatsache von Eduards Kriegstreiben vermittelt. Und auch Makaries Sehakte entstehen 137 Vgl. Helmut Pfotenhauer: Empfindbild, Gesichtserscheinung, Vision. Zur Geschichte des inneren Sehens und Jean Pauls Beitrag dazu. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 38 (2003), S. 78-110, zu Goethe hier S. 94ff. 138 An Johannes Müller, 23. Februar 1826 (WA IV 40,304). 139 Ebd., S. 305. Dazu Christoph Scherer: Zum Briefwechsel zwischen Goethe und Johannes Müller. Eine wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung. Bamberg 1936. 140 Johannes Müller: Handbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2/1. Coblenz 1837, S. 567. 141 An Carl August Varnhagen von Ense, 8. November 1827 (WA IV 43,156). 142 Ebd., S. 157. Dazu John: Goethes Beziehungen zu Anthropologie und empirischer Psychologie seiner Zeit, S. 13ff. 143 Vgl. Ulrich Ebbecke: Johannes Müller, der große rheinische Physiologe. Mit einem Neudruck von Johannes Müllers Schrift ‚Über die phantastischen Gesichtserscheinungen‘. Hannover 1951, S. 104f.

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zwar nicht abbildlich, entsprechen aber sehr wohl der Natur eines Äußeren, tragen nämlich himmelsmechanischen Gegebenheiten bis zu den „damals noch unentdeckten kleinen Planeten“ (10,736) hin Rechnung.144 Goethe führte offensichtlich eine Art prästabilierter Harmonie zwischen subjektivem Sehen und objektiver Erkenntnis ein, mit der er sich gegen die anarchischen und chaotischen Potentiale der phantastischen Gesichtserscheinungen zu verwahren suchte. An seinen ästhetischen Kategorien gemessen, erfüllen diese im Grunde die Kriterien der Manier: Sie „mach[en] sich selbst eine Sprache“145. Der „höchste Grad“ der Aisthesis – wie der der Ästhetik, des Stils – muß dagegen mit „dem Wesen der Dinge“146 in Einklang stehen. Gegenüber dem physiologischen Materialismus Müllers hielt Goethe damit gewissermaßen an einer idealistischen Position fest. Indes holte ihn das Formlose und Ungesetzliche, dem er von dieser Seite Widerstand leistete, an anderer Stelle wieder ein. Die Kapellen- ebenso wie die Weltall-Szene laufen auf ein Hinüberfließen der Seherinnen in die stumme Natur hinaus, eine Aufhebung der Exteriorität des Subjekts gegenüber dem Objekt. „[E]in Gegenstand“, so Herder, „ist und bleibt außer uns, und kann eigentlich nur im Bilde d. i. wenig oder gar nicht mit uns Eins werden“.147 Die Bilder der Vision leisten diese Einswerdung jedoch in nicht nur geringem, sondern hohem Maß. Sie versetzen in das Gesehene selbst. Ottilie fließt im Licht der Kapellenfenster mit Ziegelsteinen, Chorstühlen, Wänden (auf denen sich ihre Ebenbilder befinden!) – „dies[em] alle[m]“ (8,408) – zusammen. Von Makarie heißt es, daß sie sich „mit dem ganzen Sternenhimmel vereinigte“ (10,386). Was hier virulent wird, ist die von Goethe verschiedentlich geäußerte „Empfindung als seyen wir mit der Natur eins“.148 Damit fällt aber letztlich die Differenz von Ich und Nicht-Ich, jene Scheide, welche den Rapport des Menschen mit der Natur zu unterbrechen eingesetzt war und in der Denktradition der Skepsis schon häufig angezweifelt wurde.149 Ihren sinnfälligen Ausdruck hat diese Naturverstrickung im tierischen Unterleib der überlieferten Melusinengestalt gefunden. Der Mythos bewährt sich – mit den Worten Manfred Franks – als „Eingedenken der Natur“.150 Oder wie sich Meiners ausdrückte: Die nach mythopoetischen Plänen gebauten Figuren 144 Vgl. Herwig: ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘, S. 371-394 („Makarie: Versöhnung von Naturphilosophie und Naturwissenschaft“), hier S. 384f. 145 Vgl. Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl ([Johann Wolfgang Goethe] Kupferstich-Anzeigen für die ‚Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘ u. a., S. 118). 146 Ebd., S. 119. 147 Herder: Liebe und Selbstheit, S. 308. 148 An Friedrich Heinrich Jacobi, 23. November 1801 (WA IV 15,280). Dazu Horst Albert Glaser: Pflanzen, Schnauzenknochen, Physiognomien und Leidenschaften. Goethes Naturbegriff. In: Goethe und die Natur. Referate des Triestiner Kongresses. Hg. v. dems. Frankfurt/M. u. a. 1986, S. 189202, hier S. 199. 149 Vgl. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, bes. S. 125. 150 Frank: Der kommende Gott, S. 79 u. 85f.

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sind Verwandte „der Elemente, der Thiere, Flüsse, und anderer natürlicher Gegenstände“.151 In seiner Mythopoetik rekonstruierte Goethe ein Denken, in dem „zwischen Natur und Mensch kein Bruch […], sondern ein Strömen des Gleichen und Verwandten“152 besteht. Zuerst ist es Werther, der im Bann der Natur steht. Seine Körper- und Seelenlage kongruiert mit dem Wechsel von Jahreszeiten und Landschaften. Sein Zugang zur Natur besteht darin, von ihr eingenommen zu werden.153 Der Einfluß des magnetischen Fluidums, das Ottilie durchströmen wird, macht sich bei ihm bereits bemerkbar: „eine geheime Kraft“, wie von einem „Magnetberg“ (8,84), „zieht mich […] vorwärts“ (8,76). Auch im Sinn dieser Absorption erweist sich die Natur als ein „wiederkäuendes Ungeheuer“ (8,108), welches das Individuum verschlingt. Fern von der subjektlogisch wünschenswerten Undurchdringlichkeit und Abgegrenztheit des Leibes unterhält Ottilie geheimnisvolle Beziehungen zu den „gehaltreichen Tiefen“ (8,526) der Natur, zu Kohlelagern und Metallen. Wie es Werther beständig zu seinem Brunnen zieht, führt ihr „liebster Weg“ (8,465) an den Platanen vorbei zum See, wo sie sich in einem Boot „von den bewegten Wellen schaukeln“ (8,385) läßt. Das damit verbundene Unheil schwebt auch über dem Bild, in dem Mignon „plätschernd auf dem angebundenen Kahn [schaukelte]“ (10,497). Auch ihr bevorzugter Aufenthaltsort lag am Wasser – dem „Elemente“, „das […] zu verschlingen droht“ (10,147) –, wo ihr „auf den Rändern der Schiffe wegzulaufen“ ein „natürlicher Trieb“ war (9,969). Ottilies Existenz klingt mit dem Lebensimpuls des Vegetativen zusammen: „Der Tag, das Jahr jener Baumpflanzung ist zugleich der Tag, das Jahr von Ottiliens Geburt“ (8,367). „Indem nun die Pflanzen immer mehr Wurzeln schlugen, fühlte sich auch Ottilie immer mehr an diese Räume gefesselt“ (8,460). Mignon, unter dem Zeichen der zwitterhaften Lilie in die Welt getreten, folgt einer Neigung, „auf der nackten Erde“ (9,463) zu schlafen. Sie stirbt, indem sie sich „wie ein Wurm auf der Erde“ (9,904) windet.154 Der Grundstruktur des homo duplex entsprechend liegen diesen chthonischen Eigenschaften siderische gegenüber. Mit Engelsflügeln versehen drängt es Mignon zu „himmlische[n] Gestalten“ (9,895). Ottilie wendet sich mit ihren Bitten „nicht vergebens zu den Sternen“, um einen „sanfte[n] Wind“ zu erheben (8,495). Sie fühlt sich unter der Herrschaft eines über ihr waltenden Gestirns und glaubt sich aus ihrer „Bahn geschritten“ (8,500), als wandle sie bereits wie Makarie im Sonnensystem, wie diese unabhängig von den Gesetzen der Umlaufbahn, 151 Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 29 u. 31. 152 Böhme: Natur und Subjekt, S. 215. 153 Vgl. Horst Thomé: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik. Frankfurt/M. 1978, S. 380ff. 154 Vgl. auch Marlies Janz: ‚Die Frau‘ und ‚das Leben‘. Weiblichkeitskonzepte in der Literatur und Theorie um 1900. In: Faszination des Organischen. Konjunkturen einer Kategorie der Moderne. Hg. v. Hartmut Eggert, Erhard Schütz u. Peter Sprengel. München 1995, S. 39-54.

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die im Himmelsbild der Aufklärung das Komplement zur stabilen Selbstorganisation des Subjekts darstellten.155 b) Vampirismus und Öffnungserfahrung Dem subjektzentrierten Denkmodell der Zirkulation folgend hatte sich der Körper nicht nach einem Außen hin zu verströmen, sondern sollte sich – im Debattenrahmen der „Verschließung des Körpers“156 – als ökonomische Einheit um einen Binnenraum formieren (vgl. oben IV.3.d). Medizin- und mentalitätsgeschichtlich setzte dies fast zwangsläufig die Menstruation als „höchst merkwürdige Erscheinung“157 ins Zwielicht. Noch die Ärzte der ersten Hälfe des 18. Jahrhunderts erkannten in diesem Blutfluß, insofern er einem Aderlaß gleichkam, nichts grundsätzlich Problematisches. Ungefähr ab der Mitte des Aufklärungssäkulums indes geriet zunächst der Aderlaß immer tiefer in Mißkredit – bis hin zu seiner Diffamierung als „Vampirismus“158. Goethes Romandebut zeigt sich auch in diesem Punkt auf der Höhe der Zeit: Die Formulierung, daß „man“ Werther „zum Ueberflusse eine Ader am Arme [ließ]“ (8,264), bringt jedenfalls von Seiten des Herausgebers ein entschiedenes Urteil zum Ausdruck: Der Mensch, der an den Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft litt, wird noch auf dem Sterbebett von ihr falsch, weil mit traditionellen Methoden traktiert. Den späten Goethe finden wir wiederum in der Opposition, die inzwischen freilich in der Befürwortung des Zur-Ader-Lassens besteht. Der ganze Meister-Komplex schließt sich mit dem Motiv, das bereits am Ende des Werther stand. Wilhelm, neugeschaffener Wundarzt, setzt das Mittel der Blutentziehung zur Rettung des bewußtlosen Felix ein: Er „griff sogleich nach der Lanzette, die Ader des Arms zu öffnen, das Blut sprang reichlich hervor und mit der schlängelnd anspielenden Welle 155 Vgl. Peter-André Alt: Kopernikanische Lektionen. Zur Topik des Himmels in der Literatur der Aufklärung. In: GRM N. F. 48 (1998), S. 141-165. Zum „Einfluße des Himmelsstriches und der Gestirne“ als Bestandteil des mythologischen „Wahnsinn[s]“ vgl. Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, S. 242. 156 Dazu Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, bes. S. 54ff. Zum gegenläufigen Bedürfnis der Öffnung des Körpers für „Einflüsse und Eingriffe von außerhalb“ auch Erika Fischer-Lichte: Entgrenzungen des Körpers. Über das Verhältnis von Wirkungsästhetik und Körpertheorie. In: KörperInszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel. Hg. v. ders. u. Anne Fleig. Tübingen 2000, S. 19-34, Zitat S. 20. 157 Vgl. Jörg: Handbuch der Krankheiten des menschlichen Weibes, S. 19-23 („Die Menstruation“), Zitat S. 19. Dazu Esther Fischer-Homberger: Krankheit Frau – aus der Geschichte der Menstruation in ihrem Aspekt als Zeichen eines Fehlers. In: Dies.: Krankheit Frau und andere Arbeiten zur Medizingeschichte der Frau. Bern u. a. 1979, S. 49-84, hier bes. S. 61-63 („Menstruation als Folge einer zivilisatorischen Fehlentwicklung – 18. und frühes 19. Jahrhundert“). 158 Vgl. auf dem Höhepunkt dieser Diskussion Friedrich Alexander Simon: Der Vampirismus im neunzehnten Jahrhundert oder über wahre und falsche Indikation zur Blutentziehung. Hamburg 1830. Dazu nochmals Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 64f.

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vermischt folgte es gekreiselt dem Strome nach. Das Leben kehrte wieder“ (10,745). Der Schnitt in die Blutgefäße hätte, so glaubte er schon zuvor, auch den ertrunkenen Fischerknaben ins Leben zurückbringen können (vgl. 10,552). Diese Ansicht steht in genauem Widerspruch zu den Indikationen einer Medizin, die als Mittel „für Ertrunkene und jeder Art Scheintode“, um „das erloschene Leben von neuem wieder anzufachen“, jede „mechanische Einwirkung“ ablehnt. Zu bevorzugen seien „chemische[ ] Veränderungen“, die wie das „Einreiben von Baum- oder Nussöl auf die Oberfläche der Haut“ die Körpergrenzen nicht aufbrechen.159 Wilhelms Handeln dagegen entlastet vom Druck eines verschlossenen Körpers und läßt dessen Blut spielend in den Fluß, d. h. in die Natur hinüberfließen. Von einem optimistischen Vitalismus, der die exoterische Formel „Gedenke zu leben“ (9,920) ohne das Reversbild des Todes sähe, ist Goethe dabei weit entfernt. Darauf deutet die eigentümliche Interpretation des Aderlasses, er belebe, indem er „erst ermordet“ (11,552). Die Rede ist von einer „Wiederbelebung der für tot Gehaltenen“ (ebd.), deren Zweideutigkeit in Goethes Erzählen eine Vergangenheit besitzt. In seinen Lehrjahren hatte Wilhelm mit der Öffnung des Körpers noch nichts im Sinn, sehr wohl aber die ihn umlagernden Frauengestalten. Mit frappierender Hartnäckigkeit suchen sie ihm eine Ader zu schlagen und trachten ihm nach dem Blut. Bereits von Mariane heißt es, daß sie „ihm das Mark bis in’s Innerste aus[zehrte]“ (9,41). Als Wilhelm nach dem Überfall auf die Schauspielergesellschaft aus einer Ohnmacht erwacht, wundert er sich über Mignons mit Blut getränkten Haare. „Um ihn zu beruhigen“, erklärt Philine, das „Geschöpf“ habe seine Wunden „stopfen“ wollen (9,587). Genau besehen stellte sich dabei freilich der gegenteilige Effekt, der „starke[ ] Verlust des Blutes“ (9,593), ein. Nach seiner eigenen Gesundung bemüht sich Wilhelm um die psychische Heilung Aurelies. Diese jedoch „fuhr [schnell] in die Tasche, riß den Dolch wie der Blitz heraus, und fuhr mit Spitze und Schneide ihm rasch und leicht über die Hand weg, […] schon lief das Blut herunter“ (9,645). Anschließend verbindet sie ihn „unter allerlei wunderlichen Reden, Zeremonien und Sprüchen“ (9,649). Obwohl er sich „vor der zusammenschlagenden Falle einer weiblichen Umarmung“ (9,478) hüten zu müssen glaubt, „warf sich ihm“ Mignon „wie ein Ressort, das zuschlägt, um den Hals“ (9,498). Auf der Premierenfeier „fühlte er sich am linken Arm ergriffen und zugleich einen sehr heftigen Schmerz. Mignon hatte […] ihn in den Arm gebissen“ (9,696). Flavio in den Wanderjahren, der „von Furien verfolgt“ in das Haus seines Vaters und seiner ihm zugedachten Braut flieht, wird dort als erstes „zur Ader gelassen“ (10,472). Hilarie steht wie „Psyche“ 159 Jacob Fidelis Ackermann: Der Scheintod und das Rettungsverfahren. Ein chimiatrischer Versuch. Frankfurt/M. 1804, S. XIII, XIX, 184 u. 192.

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an seinem Bett, als er ausruft: „da haben sie mir Blut gelassen, das ist grausam, sie haben es weggeschafft, das ist frech; es gehört ja nicht mein, es gehört alles, alles ihre“ (10,473), nämlich Hilarie. Diese wiederholt aufgeregt: „Das Blut, das Blut“ (10,474). Hersilie „faßte einen Apfel und reichte ihn“ Felix, „dem heranwachsenden Abenteurer über den Tisch hinüber; dieser, hastig zugreifend, fing sogleich zu schälen an; unverwandt aber nach der reizenden Nachbarin hinblickend schnitt er sich tief in den Daumen“ (10,309). Sogleich springt sie auf und „bemüht sich um ihn“ (10,310). Dazu eine Parallelstelle: „Als ich etwas Obst aufschnitt, brachte ich mir unachtsam eine ziemlich tiefe Wunde bei, und sofort strömte das Blut in kleinen Purpur-Rinnsalen, wobei auch einige Tropfen auf Clarimonde fielen. Ihre Augen leuchteten auf, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein derart gierig-wildes Entzücken wider, wie er es noch nie bei ihr gesehen hatte. Behende wie ein Tier, wie ein Affe etwa oder eine Katze, sprang sie aus dem Bett, stürzte sich auf meine Wunde und begann, sie mit einem Ausdruck unsäglicher Wonne auszusaugen.“160 Diese Sätze stammen aus Théophile Gautiers meisterhafter Novelle La morte amoureuse (1836), einem Schlüsseltext der literarischen Vampirphantasie, der vielleicht nicht allein Goethes Braut von Corinth verpflichtet ist.161 Mit dem Ausweis des weiblichen Blutdursts in Goethes Erzählen dürfte kaum mehr zweifelhaft sein, daß das im Balladenjahr 1797 entstandene „Vampyrische Gedicht“162 nicht ganz so isoliert in Goethes Schaffen steht, wie man bislang vermutete.163 Daß er die in der Braut verarbeitete „Legende[ ]“ nach eigener Aussage „vierzig bis fünfzig Jahre lebendig und wirksam im Innern“ 160 Théophile Gautier: La morte amoureuse (1836). In: Ders.: L’œuvre fantastique. Hg. v. Michel Crouzet. Paris 1992, Bd. 1, S. 78-102, hier S. 98 (Übersetzung nach Théophile Gautier: Die Liebe einer Toten. In: Ders.: Phantastische Erzählungen. Hg. v. Michael Serrer. Düsseldorf 2003, S. 7-50, hier S. 44f.). 161 Zur Abhängigkeit der Morte amoureuse von der Braut von Corinth vgl. Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik (1930). München 1963, S. 147f. Zur intensiven Goethe-Rezeption Gautiers, dessen Sohn Wilhelm Meister später auch übersetzte, vgl. Fernand Baldensperger: Goethe en France. Étude de littérature comparée. 2., erw. Aufl. Paris 1920, Nachdruck New York u. a. 1973, S. 135ff., 175f. u. ö. Zu Gautiers und Gérard de Nervals gemeinsamer Wilhelm MeisterLektüre Jean Richer: Études et recherches sur Théophile Gautier. Prosateur. Paris 1981, S. 200. 162 Tagebücher, Juni 1797 (WA III 2,72). 163 Für Walter Müller-Seidel (Goethes Ballade ‚Die Braut von Korinth‘. In: Geschichte im Gedicht. Protestlied, Bänkelsang, Ballade, Chronik. Hg. v. Walter Hinck. Frankfurt/M. 1979, S. 79-86) ist das „Spukhafte“ der Vampirerscheinung „nur die Folge der vergewaltigten Natur“ (ebd. S. 83), ein dem humanen, Selbstbestimmung und Autonomie transportierenden „Gedankengang untergeordneter“ „Gespensterapparat“; das „Vampyrische“ werde „in seine Grenzen verwiesen“. Dagegen trifftig Wolfgang Schemme: Goethe: ‚Die Braut von Korinth‘. Von der literarischen Dignität des Vampirs. In: WW 36 (1986), S. 335-345: Goethe verstärkte den Wiedergänger seiner Quelle zum Vampir, der ein „dämonische[s] Gegenleben“ (S. 340) darstellt. Zur Vampirin als Sinnbild der „bürgerlichen Existenzweise des Weiblichen“ Silvia Volckmann: „Gierig saugt sie seines Mundes Flammen“. Anmerkungen zum Funktionswandel des weiblichen Vampirs in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Weiblichkeit und Tod in der Literatur. Hg. v. Renate Berger u. Inge Stephan. Köln u. a. 1987, S. 155-176, Zitat S. 159. Zum Vampirismus als Symbol des „ambigous status

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erhalten hat, konnte bereits als Indiz für diesen Umstand gelten.164 Der Vampirismus ist der einzige neue Mythos im engeren Sinn, den das Jahrhundert, an dessen Ausgang das Programm einer ‚neuen Mythologie‘ formuliert wurde, (seit etwa 1730) effektiv hervorgebracht hat.165 Seine Konstruktion folgt freilich dem älteren Bauplan jener Halb- und Mischwesen, die das Monopol bestimmter epistemologischer und ontologischer Leitdichotomien in Frage stellen: Der Wiedergänger ist derselbe und nicht derselbe Mensch; er ist tot und ist es nicht. Für die Braut griff Goethe auf die Geschichte von Machates und Philinnion zurück, die sich unter den ihm nachweislich bekannten Quellen in Johannes Praetorius’ Weltbeschreibung von allerley wunderbaren Menschen (1668) findet. Die Verbindung mit dem Vampirismus fehlt hier allerdings noch ebenso wie in der antiken Tradition der Braut von Amphipolis.166 Goethe hat sie folglich selber vorgenommen oder aber Augustin Calmets Dissertations sur les apparations des esprits et sur les vampires (1749, dt. 1752) entnommen, dem Hauptwerk einer lebhaften Vampirismusdebatte, auf das sowohl der „Vampire“-Artikel der Encyclopédie (1765) als auch der von Voltaires Dictionnaire philosophique (1764ff.) verweisen.167 Ein „Jagen nach äußern Effektmitteln“168 kommt hier selbstverständlich nicht in Betracht. Gerade die Drastik des Motivbereichs von „Hexen und Vampire[n]“ disponiert ihn zum Probierstein einer Ästhetik, die auf „objektive[ ] Ferne“ angelegt ist.169 In diesem Sinn wußte er die gedämpfte Behandlung des Vampirismus bei Byron (eigentlich

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of a woman who is neither quite human nor inhuman, neither mistress of her life nor slave of her master, who is both victim and victimizer“ Lore Metzger: Modifications of Genre. A Feminist Critique of ‚Christabel‘ and ‚Die Braut von Korinth‘. In: Borderwork. Feminist Engagements with Comparative Literature. Hg. v. Margaret R. Higonnet. Ithaca u. a. 1994, S. 81-99, Zitat S. 87f. – Zum Produktionskontext Reiner Wild: Die moderne Form. Goethes Balladen von 1797 als Teil des „Projekts Klassik“. In: Klassik und Anti-Klassik. Goethe und seine Epoche. Hg. v. Ortrud Gutjahr u. Harro Segeberg. Würzburg 2001, S. 63-88. Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort (FA I 24,596). Vgl. Claude Lecouteux: Die Geschichte der Vampire. Metamorphose eines Mythos. Düsseldorf u. a. 2001, S. 18ff. Vgl. Johannes Praetorius: Anthropodemus Plutonicus, Das ist Eine neue Weltbeschreibung Von Allerley Wunderbahren Menschen. Magdeburg 1666 [recte 1668], S. 278-284. Dazu Agnes Bartscherer: Der Anthropodemus Plutonicus als Faustquelle. In: GRM 6 (1914), S. 584-587; sowie Stefan Hock: Die Vampyrsagen und ihre Verwertung in der deutschen Literatur. Berlin 1900, Nachdruck Hildesheim 1977, S. 66ff. – Phlegon von Tralleis: Die Braut von Amphipolis (um 130 n. Chr.). In: Ders.: Das ‚Buch der Wunder‘ und Zeugnisse seiner Wirkungsgeschichte. Hg. v. Kai Brodersen. Darmstadt 2002, S. 19-27. Vgl. Augustin Calmet: Dissertations sur les apparations des esprits et sur les vampires […]. Einsiedeln 1749, dt. Gelehrte Verhandlung der Materi von Erscheinungen der Geisteren, und denen Vampiren. Augsburg 1752, S. 38f.; dazu Louis de Jaucourt: Vampire (1765). In: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Bd. 16. Neufchastel 1765, Nachdruck Stuttgart u. a. 1967, S. 828; sowie François Marie Arouet de Voltaire: Vampires (1770). In: Ders.: Dictionnaire philosophique. Nendeln 1967 (= Ders.: Œuvres complètes. Hg. v. Louis E. Moland. Bd. 19, zuerst Paris 1876), S. 398-401. Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 704 (14. März 1830). Ebd., S. 704f.

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bei John William Polidori) wie auch Prosper Mérimée zu schätzen.170 Die Etablierung und Ausfaltung der Vampirismusidee im 18. Jahrhundert indiziert den dialektischen Zusammenhang zwischen der Abschaffung traditioneller und dem Auftauchen neuer Angstthemen, die sowohl den Anspruch des Subjekts auf Autonomie als auch auf Kenntnis seiner selbst zu widerlegen vermögen.171 Im besonderen aber wartet das Blutzehrermotiv mit dem Eingriff in den geschlossenen Haushalt des Organismus auf. Ein feines Odium der Angst, eine verdünnte Form jener Mischung „aus Liebe und Schauder“172, welche die Braut kennzeichnet, hängt auch der Blutspur durch den Meister an. Die genannten Frauengestalten vermitteln das schmerzhafte Aufbrechen der Körperwände ihrer männlichen Mitspieler, übertragen sozusagen die der weiblichen Physis zugeschriebene weichere, offenere Konstitution. Nach der Art von Wundergeschöpfen erregen sie damit, nochmals mit Bodmer zu sprechen, die „geheimen Besorgnisse, welchen das Gemüthe des Menschen von Natur unterworfen ist“173. Die Auslieferung an das Gefürchtete erweist dieses indes als das Heilsame: Wie beim Aderlaß geht es darum, im Wortsinn eines ‚aufbrechendes Selbst‘ die selbstreferentiell geschlossene Zirkulation des Organismus aufzuheben und dessen Öffnung nach der Natur zu erzwingen. c) Schwangerschaft und Dividualität Nach wie vor beschäftigt uns die Frage, wie sich Goethes narrative Figurenpoetik der Diskursivierung des Weiblichen als Mythischem bedient und dabei die Aporien des Subjektgedankens hervortreibt. Die Melusinengeschichte war im Kern eine Erklärungssage für die Herkunft und Fruchtbarkeit des französischen Adelsgeschlechts der Lusignans. Zunächst verhalf Melusine ihrem Gatten Reymund, ebenso besitzlos wie der Rotmantel, zu einem Herr170 Vgl. [John William Polidori]: Der Vampir. Eine Erzählung aus dem Englischen des Lord Byron. Leizpig 1819 (anonym erschienen und für ein Werk Byrons gehalten); sowie Prosper Mérimée: La Guzla, ou, Choix de poésies illyriques: Recueillies dans la Dalmatie, la Bosnie, la Croatie et l’Herzégowine (1827). Paris 1994. Vgl. das Gespräch mit Friedrich von Müller, 25. Februar 1820 (Goethes Gespräche 3/1,149). Dazu Praz: Liebe, Tod und Teufel, S. 71. 171 Zur Präsenz der Vampirismusdebatte vgl. Klaus Hamberger (Hg.): Mortuus non mordet. Dokumente zum Vampirismus 1689-1791. Wien 1992; sowie ders.: Über Vampirismus. Krankengeschichten und Deutungsmuster 1801-1899. Wien 1992. Dazu Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung, S. 258; sowie Clemens Ruthner: wunderbar, wahrscheinlich, erhaben: zur ästhetischen Genealogie der erlesenen Angst. In: Ders.: Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und die Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 20. Jahrhundert. Tübingen u. a. 2004, S. 80-88. 172 So Madame de Staël, zit. n. Praz: Liebe, Tod und Teufel, S. 74. 173 Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Nachdruck mit einem Nachwort v. Wolfgang Bender. Stuttgart 1966, S. 74.

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schaftsgebiet. Indem sie ein Territorium mit einer in Streifen geschnittenen Hirschhaut einfaßte, griff sie dabei zur selben List wie die klassische Mythengestalt Dido. Im bezeichnenden Unterschied zu ihrer heidnischen Vorgängerin übernimmt sie daraufhin jedoch nicht selber, sondern ihr Gatte die politische Kontrolle. Melusines genealogische Restfunktion besteht in der Folge darin, in reicher Fülle Kinder zu gebären – Söhne von ungewöhnlicher Vitalität, die das Regiment nicht nur weiterführen, sondern dessen Bereich auch noch ausdehnen. Dieser Quellenuntergrund trägt darin zum Verständnis der Neuen Melusine bei, daß er als deren leitendes Handlungsmovens die angestrebte Schwangerschaft herausstreicht. Angesichts des gefährdeten Fortbestands des Halbwesenvolks „ward“, so Melusine, „[der Entschluß] gefaßt, mich auf die Freite zu schicken“ (10,649). Das vom Rotmantel nicht erwartete Ereignis der „entschieden gute[n] Hoffnung“ (10,640) erscheint so als etwas, das von mythischen Mächten verhängt wird. Der Ausschluß des Weiblichen als des Gebärenden sei, so glaubte man feststellen zu können, ein konstitutives Element der klassischen Humanitätsutopie.174 Tatsächlich existiert aber eine Thematisierung von Schwangerschaft in Goethes Erzähluniversum, die in jedem seiner Solitäre marginal, in der Gesamtkonfiguration aber insistent und isotopiebildend ist. Daß dieser Phänomenkreis dem aufklärerischen und empfindsamen Roman offenbar vermeidungswürdig erschien, hat sicher nicht zuletzt mit einer subjekttheoretischen Crux zu tun: Schwangerschaft und Geburt entlassen zur Aufgabe des Personseins, verschieben aber gleichzeitig den Ursprung dieser Person ins Unverfügbare. Sie repräsentieren, mit anderen Worten, das „Nichtintendierbare“, das der „Intention des selbständigen Subjekts […] voraus und zum Grunde liegt“.175 Das Bewußtsein von diesem Problemgehalt konnte kaum prägnanter gestaltet werden, als es in den ersten Sätzen von Dichtung und Wahrheit geschieht. Die vielzitierte Nativität, die einen einmalig begünstigten Daimon verbürgen soll („Die Konstellation war glücklich“ etc.), stößt auf die für die Selbstbegründung des Ich katastrophale Kontingenz der Entbindung („ich [kam] für tot auf die Welt“).176 Der Bericht von den umgehend und zielsicher erfolgenden obrigkeitlichen Maßnahmen des Großvaters, des Schultheißen, sucht der Absurdität der Tatsache zu steuern, daß der neue Erdenbürger durch einen vorgeblichen Hebammenfehler ebenso zufällig zu Tode kommt wie er zum Leben gelangte. Mit der Einsetzung eines amtlichen Geburtshelfers und der Einrichtung einer Hebammen-Schule wird dem Zug der Zeit folgend eine traditionell frauenbündische Domäne unter 174 Helmut J. Schneider: Fiktion als Herkunftsadoption. Zur ästhetischen Substitution der Macht der Geburt im 18. Jahrhundert. In: Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997. Hg. v. Jürgen Fohrmann. 2 Bde. Bielefeld 1999, Bd. 2, S. 618-632, hier S. 630. 175 Ebd., S. 621f. 176 Dichtung und Wahrheit (FA I 14, 15).

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männliche Oberaufsicht gestellt.177 Goethes Aufmerksamkeit für diese Dinge läßt sich bereits 1770 greifen, wo er in Straßburg über Gynäkologie hört.178 1779 wirkte er an der Einrichtung der Jenaer Frauenklinik mit, der zweitältesten Entbindungsanstalt an einer deutschen Universität überhaupt.179 Einen Geburtshelfer hatte man auch in Weimar eingesetzt, im Fall des Hauses Goethe aber mit wenig Erfolg. Drei Kinder des Paares starben (1793, 1795 und 1802) noch als Neugeborene; dazu kam eine Totgeburt (1791). Was Christiane über ihre Schwangerschaften kommuniziert – wenn auch in nur geringem Umfang an Goethe, der sich solche Nachrichten verbietet –, sind Übelkeit, Angstzustände, Depressionen und Todesgedanken.180 Es geht um einen körperlichen Störfall, in dem Lust zu Last ausgeschlagen ist. Die Separierung eines Besonderen in der Einheit gilt im Konzept des Organismus als die exakte Definition der Krankheit.181 Nichts vom „geheimnißvollste[n] Wunder, so auf Erden, die Götter thun“,182 wie in romantischen Kreisen mit der Idee des göttlichen Kindes im Gefolge. Goethe zeigt sich durchaus dem auch medizingeschichtlich verankerten Modell einer „Pathologisierung der Schwangerschaft“183 verpflichtet, die mit ihrer Erinnerung an die Naturgefangenheit des Menschen – wenn er nicht wie der Dichter zur autobiographischen Selbstzeugung fähig ist – Angst macht. „Alle ihre Zustände“, heißt es über eine Schwangere in den Guten Weibern, „waren Begebenheiten einer andern Welt“ (8,624). Dieses Andere bereitet schwerlich einen festen Boden für das Ich als einem Eigenen. Im Werther strahlt der Stand der Mutterschaft in einem idealen Glanz, der zu dieser Zeit relativ neu ist.184 Die materielle Vorgeschichte dessen, die in Zeugung und Schwangerschaft besteht, scheint hierbei aber ein Irrita177 Vgl. dazu scharfsichtig und unpolemisch Ute Frevert: Frauen und Ärzte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte eines Gewaltverhältnisses. In: Frauen in der Geschichte. Hg. v. Annette Kuhn u. Jörn Rüsen. Bd. 2. Düsseldorf 1982, S. 177-210. 178 Vgl. Nager: Der heilkundige Dichter, S. 172. 179 Vgl. Günter Steiger: Die Klassische Zeit der Universität Jena. In: Alma mater Jenensis. Geschichte der Universität Jena. Hg. v. Siegfried Schmidt in Verbindung mit Ludwig Elm u. Günter Steiger. Weimar 1983, S. 127-176, hier S. 142. 180 Vgl. Sigrid Damm: Christiane und Goethe. Eine Recherche. Frankfurt/M. 1998, S. 287ff. 181 Vgl. Breidbach: Das Organische, S. 258f. 182 Sophie Mereau an Clemens Brentano, 28. Oktober 1803 (Haberland u. Pehnt: Frauen der Goethezeit, S. 425). 183 Fischer-Homberger: Herr und Weib, S. 92. Vgl. Elisabeth Badinter: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. Übers. v. Friedrich Griese. München u. a. 1981, bes. S. 36-44 („Das Kind macht Angst“). „Schwanger- und Mutterschaft als verhäßlichende und paradoxerweise lebensberaubende Zustände“ bei Goethe berührt die Studie von Deirdre Vincent: Mädchen, Frau, Ehefrau … Zur Muttergestalt bei Goethe. In: Verklärt, verkitscht, vergessen. Die Mutter als ästhetische Figur. Hg. v. Renate Möhrmann. Stuttgart u. a. 1996, S. 92-107, hier S. 98f. 184 Vgl. Badinter: Die Mutterliebe, S. 159-188 („Die neue Mutter“); sowie Ulrike Prokop: Mutterschaft und Mutterschafts-Mythos im 18. Jahrhundert. In: Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 1760-1830. Hg v. Viktoria Schmidt-Linsenhoff. Marburg 1989, S. 174-206.

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tionsmoment darzustellen, das dem ästhetischen Blick auffällig ferngehalten werden muß. Von seiner eigenen Mutter, die nur „Beschwerden“ (8,12) macht, setzt sich Werther als der Künstler ab, der das Unternehmen seiner Selbstzeugung betreibt. Die Muttererscheinung Lottes ist jedes Gedankens an die blinden, normativ stummen Akte des Organischen enthoben. Sie empfängt ihre Mütterlichkeit als eine Kulturidee und primär seelische Beschaffenheit am Sterbebett ihrer Mutter. Diese wiederum verleugnet – jedenfalls in Werthers Augen – mit ihrer „thätige[n] Liebe“ (8,90) oder caritas den Gedanken an die geschlechtliche Liebe und ihre Folgen. Für die Begegnung mit einer vierten Mutter, der Frau der Linden-Szenen in den Briefen vom 26. und 27. Mai, versenkt sich Werther „ganz in malerische Empfindung“ (8,30), die denn auch über ein Leinwandinkarnat nicht hinausgeht. Eine Spiegelung findet Werthers Mutterphantasie in der Rede Lotharios, die freilich ebenfalls keinen rechten Taten entspricht: „Es ist nichts reizender, als eine Mutter zu sehen mit einem Kinde auf dem Arme, und nichts ehrwürdiger, als eine Mutter unter vielen Kindern“ (9,848). Die in den Lehrjahren vorkommenden Schwangerschaften – Marianes, Madame Melinas, Speratas und Philines – führen nun aber keineswegs zu malerischen Mutter-Kind-Gruppen, sondern haben regelmäßig den Tod im Gefolge. Allenfalls träumt Wilhelm einmal, er sähe Mariane in „aller Schönheit, […] mit einem Kinde auf dem Arm“ (9,470). Mühsam muß ihn die alte Barbara von der Wirklichkeit überzeugen: Sobald sich ihre Schwangerschaft – nicht nur moralisch, sondern auch ästhetisch unpräsentabel – nicht mehr verbergen ließ, wurde Mariane aus der Theatertruppe verstoßen. Das Kindbett ist ihr Weg in die „dunkle Kammer […], wohin kein Bräutigam folgt, woraus man keinem Geliebten entgegengeht“ (9,859). Komplementär zu Mariane, die bei der Niederkunft stirbt, aber einen Sohn hinterläßt, überlebt Madame Melina, beweint jedoch eine tot geborene Tochter. Die Aufregung, die der Überfall auf die Schauspielergesellschaft verursachte, stiftet dafür nur die vordergründige Motivation. Die gynäkologischen Prognosen, welche die Ärzte einer solch veritablen Schwärmerin ausstellten, lauteten ohnedies schlecht. Dramatische Überspannung wie auch ungeregelte Einbildungskraft (man vergleiche die Wahlverwandtschaften) beeinträchtigen die Leibesfrucht.185 Wie Marianes so steht auch Speratas Schwangerschaft unter Verheimlichungszwang und führt, über Umwege, ins Grab. Sie verläuft unter den Vorzeichen von Speratas Wahnsinn, der sich in der labilen psychischen Konstitution Mignons niederschlägt. Allein vor diesem dunklen Hintergrund zeichnet sich der Ernst von Philines scheinbarer Frivolität ab, wenn sie sagt, es „wäre doch immer hübscher, […] wenn man die Kinder von den Bäumen schüttelte“ (9,565). Der speziellere Grund ihrer Apprehension 185 Vgl. Fischer-Homberger: Aus der Medizingeschichte der Einbildungen, S. 120. Ferner Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart 1991, S. 181-194 („Das Schwangergehen als Gratwanderung“).

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ist freilich die die Schwangerschaft begleitende „Mißgestalt“ (9,564). Das Erscheinungsbild der Schwangeren – in den für den Klassizismus vorbildlichen Antiken ein Unding – nähert sich dem Fratzenhaften und Grotesken. Wie die Zwittergestalt Melusines protegiert es Dividualität statt Individualität. – Da nun Schwangerschaft und Geburt an derlei Auslieferungen an die unberechenbare Natur geknüpft sind, überrascht es nicht, daß man in der Turmgesellschaft ihre symbolische Ersetzung anstrebt. Bereits die Erziehung Natalies, Lotharios und der Gräfin geschah ohne Mutter. Vollends jedoch soll der Ursprung von Felix vergessen gemacht werden: „empfangen Sie“, so der Abbé zu Wilhelm, „das liebliche Kind aus unserer Hand“ (9,876). Aber auch aus eigenem Antrieb betont Wilhelm die Differenz zwischen biologischer Mutterschaft und logischer Vaterschaft: Diese „beruht überhaupt nur auf der Überzeugung, ich bin überzeugt und also bin ich Vater“ (9,940). In den Wahlverwandtschaften ist es die Schwangerschaft Charlottes, die von beunruhigenden Umständen und Konsequenzen begleitet wird. Die Lehre von den mütterlichen Einbildungen behandelte mehr als Totgeburten vor allem Mißgestaltungen sowie Nachkömmlinge, die keine Ähnlichkeit mit ihren Eltern aufwiesen.186 Daß das Kind Charlottes und Eduards gegen alle Vererbungsregeln dem Hauptmann und Ottilie gleicht (vgl. 8,457), ist unter dem Blickwinkel der gynäkologischen Imaginationstheorie nicht allein als ein freischwebendes Symbol anzusprechen, sondern erklärt sich – Goethes „realistische[r] Tic“187 – mit Charlottes sorgenvoller Okkupiertheit durch die Neuankömmlinge: mit der „Ahndung“, die ihr „nichts Gutes weissagt“ (8,277). Anders als in den Lehrjahren, wo Kinder wie Felix und Mignon beträchtliche Aufmerksamkeit und Bemühungen auf sich ziehen, waltet in den Wahlverwandtschaften eine merkwürdige pädagogische Distanz, wie aus Unbehagen vor dem Ursprung des Kindes. In der Präsepeszene, in der Ottilie als „neugeschaffene[ ] Himmelskönigin“ (8,439) die Mutterrolle für den kleinen Otto als Christuskind übernimmt, wird wie im Werther wieder der Austausch natürlicher gegen institutionelle Körper unternommen, wieder das Lebendige durch das Malerische kontrolliert. Diesmal indes – mit dem Tod des Kindes in der Pietà-Szene (vgl. 8,495) – wächst sich das Verfahren bis zur Zurücknahme von Geburt und Mutterschaft aus. Ottilies Anorexie besiegelt diese Austreibung des Naturkörpers. Die Wanderjahre und namentlich deren Eingangserzählung Sankt Joseph der Zweite schreiben in manchem den Motiv- und Problembestand der Wahlverwandtschaften fort und um – so auch in der Ikonographie der Heiligen Familie.188 In seinem Altersroman rettet Goethe deren Heilsversprechen in ein Idyll, das auch ein entspannteres Verhältnis zu den Dividualitäts- und 186 Vgl. Fischer-Homberger: Aus der Medizingeschichte der Einbildungen, S. 120ff. 187 An Schiller, 9. Juli 1796 (MA 8/1,208) 188 Vgl. Pfotenhauer: Bild versus Geschichte, S. 60ff.

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Heteronomiefeldern von Schwangerschaft und Geburt eröffnet. Der junge Joseph verdingt sich als Botengänger im Auftrag seiner Mutter. Diese übt die „Kunst […], die so manchen gleich beim Eintritt in das Leben zum Leben rettet“ (10,33). Was es damit auf sich hat, begreift Joseph vorerst nicht, da man ihm „in solchen Fällen“ seine „Botschaften geheimnisvoll zu behandeln pflegte“ (10,32f.). Die Scheu, den klandestinen Zustand der Schwangeren beim Namen zu nennen, bestimmt auch den Erzählgestus der Geschichte. Adressatin von Josephs Mittlerschaft ist in Gestalt von „Frau Elisabeth“ eine weitere Hebamme: „Das Geheimnis“, womit sie „mich jederzeit empfing, die bündigen Antworten auf meine rätselhaften Fragen, die ich selbst nicht verstand, erregten mir sonderbare Ehrfurcht für sie“ (10,33). Dann findet Joseph Maria auf, ohnmächtig und selbstverständlich schwanger. Er verliebt sich in sie als die Eröffnung des Geheimnisses, das ihn von Kindheit an bewegte. Nachdem er sie in den Kreis der Hebammen gebracht hat – von einem männlichen Geburtshelfer oder Arzt ist nichts zu sehen –, verschließt man ihm zunächst wieder das Haus. „Acht Tage hatte man es so mit mir getrieben, als mich endlich Frau Elisabeth hereinrief“ (10,38). Was hinter der Tür zum Vorschein kommt, ist nichts anderes als eine zweite Präsepeszene: Mutter und Kind, in deren Verhältnis sich Joseph nun als Pflegevater einschreibt. Schwangerschaft und Geburt glänzen für diesmal, von ihren Gefährdungspotentialen befreit, in der Aura des Sakralen. Den zweiten Schwerpunkt der Erzählung machen die christlich-mythologischen Wandbilder des von Joseph bewohnten Klosters aus, die Lebensstationen seines Namenspatrons schildern und darin zugleich sein eigenes Leben spiegeln. Es ist das Arrangement der Wahlverwandschaften-Kapelle, an deren Wänden sich Ottilie vervielfältigt sieht. Josephs Versöhnung mit der Kontingenz unseres leiblichen Ursprungs, dem Gegenspieler der Autonomievorstellung, geht Hand in Hand mit einem subjekttheoretisch avancierten Verhältnis zu seinen Vor-Bildern. Er läßt sich von ihnen einladen, von den Einheits- und Singularitätsvermutungen des Ich abzulassen, indem er sich positiv zu seiner Existenz als Postfiguration, eben als zweiter Joseph stellt. Er begreift sich, wenn man so will, als Durchgangspunkt eines Diskurses. Aus gutem Grund muß Wilhelm, dessen Suche nach sich selbst in den Lehrjahren kein rechtes Ziel fand, in den Wanderjahren zuerst hier Station machen. Josephs Verzicht auf den Status personaler Unvertretbarkeit ist eigentlich die letzte Lektion seiner Lehrjahre, mit denen er das 18. Jahrhundert hinter sich läßt und ins 19. aufbricht. Einige Kapitel nach dieser Begegnung besucht Wilhelm eine weitere Bildergalerie, diesmal mit Porträts. Sie überraschen ihn mit der Entdeckung, daß sich einander fremde Menschen bis zur Identität gleichen können. Wenn sich Zwillinge „aus Einer Mutter“ zu entwickeln vermögen, sollte „die große Mutter der Götter und Menschen nicht auch das gleiche Gebild aus ihrem fruchtbaren Schoße gleichzeitig oder in Pausen hervorbringen können?“ (10,340). Der Natur ist die Individualität des Einzelnen ein

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vollkommen Gleichgültiges, ja Überflüssiges. Sie unterstützt allein das Dasein, nicht aber ein Sosein. Sie „macht sich nichts aus den Individuen“189. d) „Principium identitatis“: Tod und Ende Man wird sich Goethes impliziten Entwurf eines ‚aufbrechenden Selbst‘, das sich in den Ausdrucksformen des Mythos zur Geltung bringt, nicht allzu heiter vorstellen dürfen. Die innerste Zelle jeglichen mythologischen Gedankens bildet die Verfallenheit an den Tod, was sich am Beispiel Melusines gleich doppelt bewahrheitet: Sie fungiert als Todeskünderin und verfügt selber über keine unsterbliche Seele.190 Letztlich besteht das Drohungsfaktum der Mortalität darin, die Grenze der individuellen Realität zu ziehen und das in der Struktur der Entelechie verankerte „principium identitatis“191 zu liquidieren. Die graduelle Lockerung und Öffnung des Subjekts eskaliert darin zu seiner endgültigen Verflüchtigung. „Wir werden seyn“, heißt es im Werther über das Jenseits, aber „sollen wir uns wieder finden? und wieder erkennen?“ (8,118). Darauf antworteten die in Goethes Wissenshorizont vertretenen Versionen der Unsterblichkeitslehre bejahend, daß es eine Substanz im Menschen gibt, die seine Personalität repräsentiert: „Immortalitas animae requirit status personalitas conservationem“192, diktierte Christian Wolff in der Psychologia Rationalis (1734). Und Herder referiert zustimmend als eine der Wahrheiten aus Leibniz (1769), vernünftige Seelen seien bestimmt, ihre Persönlichkeit und Erinnerung in der „Stadt Gottes“ fortzusetzen.193 Goethe selber, der seine Sterblichkeit – nach dem Urteil Blumenbergs – „mühsam dem Bilde abringen mußte, das er von sich selbst hatte“194, näherte sich in verschiedenen Stellungnahmen dieser Auffassung (vgl. oben III.1.c). Hume sprach davon als der „religiösen Theorie“, die auf die mögliche stabile und deshalb auch 189 (FA I 25,11). 190 Vgl. Horkheimer u. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 84, sowie Ruh: Die ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen, S. 9 u. 19. 191 Brucker: Institutiones, S. 759. 192 Wolff: Psychologia Rationalis, § 742. 193 Herder: Wahrheiten aus Leibniz, S. 216. Dazu systematisch Hans Ebeling: Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein. Zur Analytik von Freiheit und Tod. München 1979, bes. S. 142-144 („Die Funktion des Selbstbewußtseins als Freiheits- und Todesbewußtsein“); sowie historisch Bernhard Lang u. Colleen McDannell: Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens. Frankfurt/M. 1996, S. 250ff. 194 Blumenberg: Goethe zum Beispiel, S. 103-106 („Goethes Sterblichkeit“), hier S. 103. Vom Tod als „Skandalon der Subjektivität“ bei Goethe spricht Helmut Pfotenhauer: Der schöne Tod. Über einige Schatten in Goethes Italienbild. In: Ders.: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik. Tübingen 1991, S. 113-135, hier S. 139. Zu Goethes Theorie persönlicher Unsterblichkeit vgl. Schöndorfer: Die Monadenlehre Goethes, S. 41f., sowie Jörn Göres: Goethes Gedanken über den Tod. In: Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst. Hg. von Hans Helmut Jansen. 2. Aufl. Darmstadt 1989, S. 267-277, hier S. 275f.

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fortgesetzte Organisiertheit des menschlichen Geistes rechne. Dagegen führte er jedoch ins Feld, daß zumindest die geringeren „Verstandes- und Willenskräfte [der Frauen]“ eine „Theorie der Sterblichkeit der Seele“ untermauern müßten.195 Nun gibt es eine weitverzweigte Nekrotopik in Goethes Erzählen, in der vermittels einer Allianz von Weiblichkeit und Tod den Schrecken der Ich-Endlichkeit nachgespürt wird. Mentalitätsgeschichtlich bewegt man sich in der Goethezeit bekanntlich in der Epoche des ‚schönen Todes‘, für dessen Inszenierung sich das ‚schöne Geschlecht‘ auf besondere Weise eignen mußte.196 Bereits die erste Frauengestalt, die in Goethes Erzählwerk überhaupt vorkommt, ist eine Tote: Werthers ‚Schwermut der Erinnerung‘ (vgl. oben IV.2.c) hebt mit der Trauer um eine gewisse Leonore an: „Ach daß die Freundin meiner Jugend dahin ist […]. Ach ihre Jahre, die sie voraus hatte, führten sie früher an’s Grab als mich“ (8,20). Sie ist Gegenstand sentimentaler Gefühlserhebung wie auch Vorbotin des eigenen Todes. Der Namensanklang an Bürgers Geisterbraut – die Ballade Lenore erschien Ende 1773 im Druck – verrät Kalkül: Die Jugendfreundin wird Werther nachholen. Auch trägt Lotte, die freilich immer als Erschreibnis Werthers bewußt bleiben muß, gewichtige Züge eines die ‚Krankheit zum Tode‘ geleitenden Psychagogen. Sie stand am „Todbette“ (8,90, vgl. 8,120) ihrer Mutter, bringt „einige Tage in der Stadt bey einer rechtschaffenen Frau“ zu, „die sich nach der Aussage der Aerzte ihrem Ende naht, und in diesen lezten Augenblikken will sie Lotten um sich haben“ (8,60), und ist auch später „immer um ihre sterbende Freundinn“ (8,70). Dieser Engel wird zu Werthers Todesengel: „Hier Lotte! Ich schaudere nicht den kalten schröklichen Kelch zu fassen, […] Du reichtest mir ihn“ (8,262). Zwischen der emphatisch bekundeten Annahme persönlicher Fortdauer nach dem Tod – „wir werden uns wieder sehn“ (8,118) – und dem Vollzug des Exitus liegen indes bedeutende „Zweifel“: „Den Vorhang aufzuheben und dahinter zu treten! das ist’s all! Und warum das Zaudern und Zagen? – Weil man nicht weis, wie’s dahinten aussieht? – und man nicht zurükkehrt? – Und daß das nun die Eigenschaft unseres Geistes ist, da Verwirrung und Finsterniß zu ahnden, wovon wir nichts Bestimmtes wissen“ (8,210). Von überhöhter Selbsteinschätzung stürzt Werther in eine Krise seiner Jenseitsanschauung. Die materialistische Entgötterung der Natur, die er in seinem Gefühl erfuhr, mußte ihm letztlich einen antimetaphysischen Standpunkt nahelegen.

195 Hume: Über die Unsterblichkeit der Seele, S. 82. Dazu Gawlick u. Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung, S. 139-142 („Selbstmord und Unsterblichkeit“). 196 Vgl. Philippe Ariès: Geschichte des Todes. Übers. v. Hans-Horst Henschen u. Una Pfau. 8. Aufl. München 1997 (zuerst 1980), S. 521-602; sowie Bronfen: Nur über ihre Leiche, zum 18. Jahrhundert bes. S. 114ff. u. 142ff. Mit Blick auf Goethe Pfotenhauer: Der schöne Tod; sowie Eva Horn: Trauer schreiben. Die Toten im Text der Goethezeit. München 1998, S. 85f. („Der Triumph des Schönen“) u. S. 95-129 („Tropen der Abwehr. Goethe“).

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In der Faktur Mignons spann Goethe das Motiv der weiblichen Engelsbildlichkeit fort – nur daß dieser Engel nicht andere, sondern sich selber an die Schwelle des Todes führt. Sie hat diese Rolle lange begonnen, bevor Natalie sie zum Kunstengel ausstaffiert (vgl. 9,894). Von Beginn an betet sie „alle Morgen“ (9,463) das katholische Rosenkranzgebet, das in erster Linie aus dem Avemaria, dem Engelgruß, besteht. Die Inklination zum Jenseits, noch stärker ausgeprägt als bei Werther, treibt die Auflösung nachgerade aus ihr selber hervor. Keine Pistolenkugel oder sonstige mechanische Einwirkung tötet sie, sondern der bloße Anblick von Wilhelm und Therese als Liebespaar (vgl. 9,924). Das einzige Heilsversprechen allerdings, welches das Ende Mignons begleitet, ist das der Kunst, die es für die Kulissen des ‚schönen Todes‘ bedarf. Ausführender ist ein Abbé, der auf die Attribute des christlichen Jenseitsglaubens ebenso Verzicht getan zu haben scheint wie auf Rosenkranz und Kruzifix. Das Mirakel zu dessen Bewunderung er auffordert, ist das „Wunder der Kunst“ (9,958): Er „färbt“ Mignons Körper mit einer „balsamische[n] Masse […] an der Stelle des Bluts“ (ebd.) und versenkt ihn „in die Tiefes des Marmors“ (9,959), einen klassizierenden weißen Marmorsarg. Von dieser ästhetischen Zurichtung deutet ein Spiegelreflex auf die Gesetze von Goethes eigener Produktion hin: Das Arrangement folgt offensichtlich dem in den Lehrjahren bereits ausgesprochenen Bild des goldenen Apfels in silberner Schale, mit dem Goethe die Komposition seiner femina ficta beschrieb (vgl. oben II.2.b). Auf den Tod folgt ein Leben in der Kunst, die das einzige Jenseits ist.197 Die Schlüsselfigur der weitausgreifenden Todesthematik der Wahlverwandtschaften ist mit Ottilie wiederum eine Frauengestalt.198 Wie Mignon stirbt sie gleichsam aus sich selber heraus – das Ende einer von allem Anfang an moribunden Existenz: schweigsam bis zur Totenstille (vgl. 8,312), enthaltsam gegenüber Essen und Trinken (vgl. 8,293), ermüdbar bis zum „Totenschlafe“ (8,498). „[S]ie sei nicht tot“ (8,523), lautet freilich die Behauptung Eduards, die in gewisser Weise ernst zu nehmen ist. Der „fortdauernde schöne, mehr schlaf- als todähnliche Zustand“ (8,527) scheint ganz der Topik der Hagiographie verpflichtet. Demselben Muster folgt jedoch invertiertermaßen – worauf auch Voltaire abzielte – der Zustand der vampyrisierten Untoten.199 Wie man weiß, unterliegt Ottilie den Einflüssen des magnetischen Äthers. „Mesmerismus post mortem“200 ist aber die exakte romantische Definition 197 Andere Interpretationen von Mignons Tod versammelt Arnd Bohm („auf ewig wieder jung“: Mignon’s End in ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. In: Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretationen und Rezeption. Hg. v. Gerhart Hoffmeister. New York u. a. 1993, S. 27-42), der selber einen Nachvollzug eleusinischer Todesmysterien darin sieht. 198 Vgl. Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘. Berlin 1998, bes. S. 156ff.; sowie Horn: Trauer schreiben, S. 130-163 („Das Lebende und das Tote: ‚Die Wahlverwandtschaften‘“). 199 Vgl. Voltaire: Vampires, S. 265ff. 200 Vgl. Hamberger: Über Vampirismus, S. 34ff.

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der Vampyrisierung. Die aufgehaltene Verwesung Ottilies drängt sich von daher als die morbide Blüte der Untoten auf.201 Daß Eduard ihr nachstirbt, erfüllt den Tatbestand des Nachzehrens, bei dem verwandte und geliebte Personen durch sympathetische Wirkung ins Grab nachgeholt werden.202 An der semantischen Oberfläche, auf der die Versprechungen einer erlösenden Jenseitswelt spielten, taucht so eine Bedeutungsinsel auf, die eine materialistische Desillusionierung bereithält. In den Wanderjahren schließlich, mit denen wir historisch konsequent in die Epoche des „geheimen Todes“203 eintreten, ist von Tod und Ende nur noch mit der größten Vorsicht die Rede. Wilhelm scheint als Wundarzt zu dessen erfolgreichem Gegenspieler avanciert zu sein. Die Öffnung eines toten Frauenkörpers, die ihm zugemutet wird, ruft mit dem Phantasma der schönen Wasserleiche immerhin eines der nachdrücklichsten Wiedergängermotive in Goethes Erzähluniversum zurück. Das „sehr schöne Mädchen“, das „den Tod im Wasser gesucht und gefunden“ hat (10,602), steht in einer langen Reihe ‚wiederholter Spiegelungen‘. Werthers zunächst unverdächtige Neigung zu dem idyllischen Melusinenbrunnen wuchs sich zur gräßlichen Faszination für die Flut aus, in der eine unglücklich Liebende den Tod sucht (vgl. 8,98). Durch die Lehrjahre geisterte in Gestalt der Ophelie die weibliche Wasserleiche par excellence: „like a creature native and endued/ Unto that element“204. Ottilie verhindert die räsonable Auflösung der wahlverwandtschaftlichen Verwirrungen, indem sie Charlotte droht: „In dem Augenblick, in dem ich erfahre: du habest in die Scheidung gewilligt, büße ich in demselbigen See meine Vergehen, meine Verbrechen“ (8,501). Das Mädchen der Wunderlichen Nachbarskinder führt diese Drohung symbolisch stellvertretend für sie aus. Ob es in der wirklichen Begebenheit, die der Novelle zugrunde liegen soll, ebenfalls gerettet wurde, bleibt fraglich.205 In den Todesreigen dieser Frauengestalten reihen sich zwei Knaben ein: der kleine Otto der Wahlverwandtschaften und der Fischerjunge der Wanderjahre. Sie unterliegen indes nicht innerer Affinität zu dem unberechenbaren Element, sondern äußeren Zufällen. An dem Fluß, in dem Wilhelms Spielgefährte ertrinkt, „schwebten und schwankten geisterartig“ wie zur Erinnerung an weibliche Elementarwesen „goldschimmernde Sonnenjungfern“ (10,544). Scheinbar gegenbildlich dazu endet Goethes Altersroman mit Felixens Rettung aus dem 201 202 203 204

Vgl. Thomas Schürmann: Nachzehrerglaube in Mitteleuropa. Marburg/L. 1990, S. 29. Vgl. ebd., S. 13-26 („Tödliche Sympathie“). Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, S. 715ff. William Shakespeare: The Tragedy of Hamlet. Prince of Denmark. In: The Norton Shakespeare. Hg. v. Stephen Greenblatt. New York u. a. 1997, S. 1668-1759, hier S. 1740. Zum Wassertodmotiv hinsichtlich Rousseaus Julie auch Bronfen: Nur über ihre Leiche, S. 118ff. 205 Vgl. Friedrich A. Kittler: Ottilie Hauptmann. In: Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hg. v. Norbert W. Bolz. Hildesheim 1981, S. 260-275, hier S. 267f.

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Wasser zum Leben. Und doch streicht Thanatos um diese Szenerie: Vater und Sohn standen „fest umschlungen, wie Kastor und Pollux, Brüder, die sich auf dem Wechselwege vom Orkus zum Licht begegnen“ (10,745). Diese zwiespältige Äußerung ist charakteristisch für das ganze Zwielicht über dem Schluß der Wanderjahre. Ein Leben lang ist für Goethe Amerika „das Land außerhalb aller Gesichtskreise“206 gewesen, ein schattenhaftes Nirgendwo. Die Gesellschaft, die dorthin auszuwandern gedenkt, nimmt unwirkliche Gestalt an; die Konturen ihrer einzelnen Mitglieder haben sich schon lange aufgelöst. Philine und Lydie, ihren Namensträgerinnen in den Lehrjahren kaum mehr ähnlich, treten mit Schere und Zwirn wie Parzen hinzu.207 Makarie, im Rollstuhl gebracht, ist eine unverhohlene Moribunda, zu deren einen Seite noch ein Arzt, zur anderen bereits ein ‚Engel‘, ihre Dienerin Angela, steht. Wilhelm hat den baldigen „Abschied der Herrlichen“ (10,386), deren Astralleib auf seiner Reise durch das Sonnensystem dem melancholischen „Saturn entgegen[strebt]“ (10,737), bereits im Traum gesehen. Wohin sollte eine solche spirituelle Anführerin die Schattengesellschaft geleiten?

206 Ernst Beutler: Von der Ilm zum Susquehanna. Goethe und Amerika in ihren Wechselbeziehungen. In: Ders.: Essays um Goethe. 7., vermehrte Aufl. Zürich 1980, S. 742-787, hier S. 744f. 207 Schlaffer (Ende der Kunst, S. 4) bietet überzeugende ikonologische Hinweise dafür, daß Philine „als Todesgöttin am Ende des Romans alle Figuren beherrscht“.

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Personenregister

Abbt, Thomas 142, 143 Abel, Jacob Friedrich 159, 189 Ackermann, Jacob Fidelis 187, 229 Adelung, Johann Christoph 162 Adler, Hans 166 Adorno, Theodor W. 15, 198, 206f., 219, 220, 223, 238 Albert, Claudia 52 Albrecht, Michael von 89, 91 Alt, Peter-André 228 Altenhöner, Ingrid 218 Ammerlahn, Helmut 24, 25, 33 Angehrn, Emil 94, 166 Anglet, Andreas 77 Anscombe, Elisabeth 100 Aquin, Thomas von 13, 204 Ariès, Philippe 239 Assmann, Aleida 114, 167 Augustinus 163 Bach, Thomas 188 Bachmann-Medick, Doris 120, 136, 137 Badinter, Elisabeth 234 Bahr, Ehrhard 45, 169 Baldensperger, Fernand 230 Balzac, Honoré de 55, 92 Bartscherer, Agnes 231 Baruzzi, Arno 165 Battafarano, Italo Michele 99 Bäumer, Konstanze 25, 33 Baumgarten, Alexander Gottlieb 66 Beaujean, Marion 83 Beckett, Samuel IX Becker, Hans Joachim 61 Becker-Cantarino, Barbara 130 Beckett, Samuel 5 Begemann, Christian 10, 91, 170, 232 Behler, Ernst 53 Behrens, Rudolf 171 Beise, Arnd 146 Benjamin, Walter 97 Berger, Joachim 178 Bergmann, Ernst 122, 124

Beutler, Ernst 37, 242 Birus, Hendrik 3, 51, 147 Blackall, Eric A. 30, 48, 52 Blanckenburg, Christian Friedrich von 66-68, 72, 74, 80, 83, 109, 143, 196 Blessin, Stefan 31 Blumenbach, Johann Friedrich 132, 191 Blumenberg, Hans 81, 98, 113, 197, 198, 199, 206, 207, 210, 238 Böckmann, Paul 30 Bodmer, Johann Jacob 65-68, 74, 198, 232 Boerhaave, Herman 171 Bohm, Arnd 240 Böhme, Gernot 120, 130 Böhme, Hartmut 13, 120, 172, 174, 227 Boisserée, Sulpiz 206 Bollacher, Martin 107, 109, 161 Bonnet, Charles 8, 184, 193 Born-Wagendorf, Monika 16 Braitling, Petra 124 Brandes, Ernst 131-138 Brasser, Martin 94 Braun, Manuel 211 Braunschweig, Anton Ulrich von 85 Brecht, Christoph 38, 222 Breidbach, Olaf 3, 4, 78, 165, 172, 174 Breithaupt, Fritz 4, 17, 95, 101 Breitinger, Johann Jacob 198 Brenner, Peter J. 17, 66 Brentano, Clemens 148, 234 Brittnacher, Hans Richard 221 Bronfen, Elisabeth 22, 178, 183, 190, 195, 239, 241 Brown, F. Andrew 113 Brucker, Jacob 106, 109-114, 238 Brückner, Wolfgang 180 Brude-Firnau, Gisela 159 Brüggemann, Diethelm 218 Brunner, Richard J. 173 Bubner, Rüdiger 11, 124 Bunzel, Wolfgang 36, 44, 47, 215 Burckhardt, Jacob 11, 12 Bürger, Peter 203

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Personenregister

Buschendorf, Bernhard 206 Buttel, Christian Dietrich von 220 Byron, George Gordon 82, 231 Caillois, Roger 216 Callot, Émile 35 Calmet, Augustin 231 Chatman, Seymour 23 Chladenius, Johann Martin 11 Christern, Elisabeth 198 Cochem, Martin von 209 Cohn, Dorrit C. 74 Conrady, Karl Otto 98 Cramer, Konrad 94, 118 Creuzer, Friedrich 199-206 Daiber, Jürgen 47 Damm, Sigrid 234 Dangel-Pelloquin, Elsbeth 82, 91, 96 Degering, Thomas 73 Delaporte, François 188 Deleuze, Gilles 170 Descartes, René 105-108, 112, 118, 162, 172, 175 Detel, Wolfgang 160 Dettmering, Peter 191 Dewitz, Hans-Georg 218, 223 Dick, Anneliese 87 Diderot, Denis 28, 49, 52f., 82, 90, 175f., 190, 203 Dieckmann, Liselotte 53, 55 Döhl, Hartmut 201 Döll, Heinrich 126 Drux, Rudolf 214 Duby, Georges 13 Duden, Barbara 130, 235 Düntzer, Heinrich 46 Düsing, Klaus 94, 165 Ebbecke, Ulrich 225 Ebeling, Hans 93, 98, 238 Eckermann, Johann Peter 9, 25, 43, 47f., 50, 53, 63, 82, 83, 89, 96, 110, 119, 207, 231 Eckle, Jutta 94 Eco, Umberto 7 Egger, Irmgard 23 Ehrich-Haefeli, Verena 23 Eibl, Karl 17 Eicheldinger, Martina 207 Eichner, Hans 33 Eichstädt, Heinrich Carl Abraham 134 Ellis, John M. 50 Engel, Manfred 18, 53, 54, 144, 222 Engelhardt, Anke 139

Enskat, Rainer 93, 100 Erpenbeck, John 119 Ertzdorff, Xenja von 210 Esenbeck, Christian Gottfried Daniel Nees von 135, 173 Estermann, Josef 110 Falk, Johann Daniel 110, 167 Farrelly, Dan 79, 162 Feuerbach, Ludwig 200 Feyerabend, Sigmund 212 Fichte, Johann Gottlieb 5, 10, 15, 95, 100f., 116, 121-124, 130, 160, 178, 265 Fink, Karl J. 105 Fischer, Klaus P. 113 Fischer-Homberger, Esther 128, 176, 185, 224, 228, 234, 235, 236 Fischer-Lichte, Erika 228 Forberg, Carl Friedrich 2, 7, 8 Forster, Edward Morgan 23 Förster, Jürgen 16 Foucault, Michel 12, 166, 169, 170, 171 Frank, Manfred 1, 13, 27, 68, 75, 110, 153, 163, 199, 200, 201, 208, 226 Franz, Michael 106 Frevert, Ute 130, 179, 234 Frieß, Ursula 204 Fues, Wolfram Malte 47, 99 Fuhrmann, Helmut 131 Fuhrmann, Horst 25, 90 Fülleborn, Ulrich 12, 144 Gabriel, Gottfried 11, 23 Gadamer, Hans-Georg 56, 97 Gaier, Ulrich 43 Galle, Roland 52, 171 Gautier, Théophile 230 Gawlick, Günter 2, 116, 117, 239 Geerdts, Hans Jürgen 24 Genette, Gérard 9, 152, 217 Gerber, Hans Erhard 6 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 208 Geulen, Hans 209 Gidion, Heidi 74 Glaser, Horst Albert 212, 226 Glaubitz, Gerald 99 Glenk, Wilhelm 181 Gockel, Heinz 197, 199, 200, 201, 208 Golz, Jochen 148 Göres, Jörn 238 Götting, Franz 106, 113, 201 Göttling, Carl Wilhelm 161 Grabes, Herbert 74 Graevenitz, Gerhart von 65, 74, 103, 205

Personenregister Grathoff, Dirk 191 Gray, Richard 146 Greimas, Algirdas Julien 7, 34, 35, 62 Günther, Johann Christian 91 Gurjevitsch, Aaron J. 13 Gutjahr, Ortrud 206 Haberland, Helga 84, 87, 234 Habermas, Jürgen 93 Habermas, Rebekka 155 Hadot, Pierre 160 Haefs, Willhelm 217 Hahn, Alois 12, 154, 162, 163, 186 Hamberger, Klaus 232, 240 Hamm, Heinz 76, 124 Hammer-Purgstall, Joseph von 55, 92 Hansel, Beate 158 Hansen, Volkmar 215 Hasty, Willy 155 Haupt, Sabine 58 Hausen, Karin 81 Haustein, Jens 207 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 5, 26, 116, 124-126, 129, 138-141, 179, 268, 280 Heimerl, Joachim 207 Heine, Heinrich 83 Heinemann, Paul 148 Heinroth, Johann Christian 100 Heitner, Robert R. 33 Helfer, Martha B. 17, 89 Henrich, Dieter 121 Herbig, Reinhard 202 Herder, Johann Gottfried 4, 7, 36, 62, 66f., 99, 103, 119, 133, 135, 142-144, 161-164, 178, 188, 191, 194, 199f., 226, 238 Herrmann, Elisabeth 240 Herwig, Wolfgang 55, 226 Heyne, Christian Gottlob 201, 202 Hildebrand, Olaf 52, 53 Himmel, Hellmuth 39 Hippel, Theodor Gottlieb 129, 131, 177, 189, 195, 220 Hirsch, Emanuel 161 Ho, Shu Ching 118 Hock, Stefan 231 Hoff, Dagmar von 159 Hoffmann, Volker 131 Hofmann, Peter 161 Hofmann-Riedinger, Monika 106 Hofmannsthal, Hugo von 55, 92 Höltenschmidt, Edith 207 Holzhey, Helmut 13, 94 Homer 83, 84, 206 Honegger, Claudia 132, 187

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Hoock-Demarle, Marie-Claire 86 Hörisch, Jochen 32, 166 Horkheimer, Max 198, 220, 223, 238 Horn, Eva 239 Horstmann, Axel E.-A. 201, 202 Hösle, Vittorio 96, 124, 125 Hubbard, William H. 177 Hübner, Arthur 207 Hübner, Kurt 161 Hufeland, Christoph Wilhelm 135 Humboldt, Wilhelm von 72, 100, 137, 194 Hume, David 2, 6, 75, 94, 106f., 112, 115118, 128, 134, 137, 167, 174, 193, 238f., 245, 282 Hutcheson, Francis 134 Iken, Carl Jakob Ludwig 57 Irmscher, Hans Dietrich 98 Iser, Wolfgang 34, 70, 72, 75, 113 Jacob, Rüdiger 186 Jacobi, Betty 205 Jacobi, Friedrich Heinrich 10, 105-110, 115, 117, 119, 129, 159, 162, 226 Jacobs, Angelica 102 Jaeger, Michael 16, 99, 124, 217 Jamme, Christoph 197, 207, 208 Jannidis, Fotis 7, 18, 23, 99, 114 Janz, Marlies 227 Japp, Uwe 5, 9 Jauch, Ursula Pia 139, 176, 177 Jaucourt, Louis de 231 Jaumann, Herbert 39 Jauß, Robert 3, 23 Jean Paul 4, 53, 71, 76f., 79, 82f., 98, 119, 123, 130, 137, 144, 147, 148-154 Jellinek, Georg 107 Jenny, Ernst 207 Jeon, Chang-Bae 17 Jergius, Holger 65, 109 Jeßing, Benedikt 196, 208 John, Johannes 158 John, Matthias 2, 100, 225 Jörg, Johann Christian Gottfried 184, 190, 192, 228 Jünke, Claudia 143 Kaiser, Herbert 95, 147 Kallweit, Hilmar 66 Kamper, Dietmar 5, 147 Kant, Immanuel 2, 5, 10, 15, 81, 95-97, 112121, 128-130, 134f., 138-140, 162, 165, 172, 176f., 182-184, 204, 262, 268-270, 275

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Personenregister

Kanz, Kai Torsten 173 Käuser, Andreas 50, 151, 194 Kellner, Beate 210 Kemmerling, Andreas 105 Keppler, Stefan 209, 212, 222 Kestner, Johann Christian 5, 38, 205 Keudell, Elise von 107 Kierkegaard, Sören 124 Kittler, Friedrich A. 241 Klauß, Jochen 195 Kleist, Heinrich von 121, 206 Klettenberg, Katharina von 171 Klopstock, Friedrich Gottlieb 208 Knebel, Carl Ludwig von 35, 108, 124, 197 Kögler, Hans Herbert 170 Kohn, Brigitte 221 Koller, Hans-Christoph 148 Kondylis, Panajotis 2, 14, 102, 105, 108, 109, 115, 135, 143, 160, 164, 191, 226 Konersmann, Ralf 18, 19, 55, 97, 99 Köpke, Wulf 148, 150 Kord, Susanne 181 Körner, Gottfried 15, 97, 98 Koschorke, Albrecht 184, 190, 191, 195, 228 Koselleck, Reinhart 13 Kost, Jürgen 13, 20 Kowalik, Jill Anne 29 Krappmann, Lothar 94 Kreimendahl, Lothar 2, 116, 117, 239 Kristeva, Julia 22 Kritschil, Larissa 166 Küchenhoff, Joachim 170 Kuhn, Dorothea 3, 10, 58, 68, 69, 174 Labouvie, Eva 170 La Bruyère, Jean de 66 Lacan, Jacques 16, 27 Lachmann, Renate 9, 54, 97, 210, 217 Ladendorf, Ingrid 28, 29, 86 Lämmert, Eberhard 3, 14, 24, 34, 38, 48, 65, 66, 92, 97 Landgraf, Edgar 17 Lang, Bernhard 238 Lange, Sigrid 153 Lange, Victor 45, 48 Laqueur, Thomas 187 Lavater 19, 21, 77, 161, 166 Lecouteux, Claude 231 Lehmann, Christine 191 Lehnert-Rodiek, Gertrud 156 Leibfried, Erwin 184 Leibniz, Gottfried Wilhelm 63, 109-112, 167, 168, 174, 194, 221, 238

Lessing, Gotthold Ephraim 71 Lichtenberg 4, 119, 123, 128, 144-146, 154, 174, 196 Lieb, Eckhar 61 Lindner, Johann Gottlieb 202 Lipping, Margita 187 Lobsien, Eckhard 57 Lobstein, Eduard 188 Lobstein, Johann Friedrich 187, 188 Locke, John 63, 75, 112-115, 154, 162, 167, 172, 174 Lotman, Jurij M. 62 Lotter, Friedrich 136 Löwith, Karl 16 Lubkoll, Christine 209, 217 Lugowski, Clemens 13, 84 Luhmann, Niklas 1, 16, 64, 94, 96, 153, 154, 158 Lukrez 197, 198 Luserke-Jaqui, Matthias 16, 59 Luther, Martin 180 Mach, Ernst 115, 128, 145 Macher, Heinrich 114 Macpherson, Crawford B. 114 Mahnke, Dietrich 109 Maierhofer, Waltraud 158 Manasse, Ernst Moritz 193 Manger, Klaus 100 Margolin, Uri 137 Marquard, Odo 5, 12, 70, 160, 200, 208 Mason, Eudo C. 135 Mauvillon, Jakob 131 Mayer, Hans 102 McDannell, Colleen 238 McLeod, Catriona 192 Meier, Georg Friedrich 120 Meiners, Christoph 81, 113-116, 133-138, 140, 153, 185, 198-208, 220, 226-228 Meise, Helga 159 Mellett, Tom 120 Mensching, Günther 111 Merck, Johann Heinrich 40, 52, 90 Mereau, Sophie 234 Mérimée, Prosper 232 Mertens, Volker 211 Meuter, Norbert 34, 147 Meuthen, Erich 160 Meyer, Johann Heinrich 71, 195 Meyer, Theodor A. 72 Michelsen, Peter 80 Molnár, Géza von 97, 118, 122, 172 Mommsen, Katharina 29, 51 Montaigne, Michel de 6, 102f., 105, 121

Personenregister Moritz, Karl Philipp 100, 174, 203 Morris, Colin 13 Muenzer, Clark S. 20 Mülder-Bach, Inka 91, 143 Müller, Friedrich von 232 Müller, Irmgard 187, 190, 193 Müller, Joachim 48 Müller, Johannes 224, 225, 226 Müller-Seidel, Walter 187, 220, 230 Nager, Frank 68, 187, 234 Nerval, Gérard de 230 Neuhaus, Volker 47, 169 Neumann, Gerhard 22, 33, 72, 144, 145, 218, 223 Newton, Isaac 120 Nicolai, Heinz 108 Niekerk, Carl 20, 21, 213 Nietzsche, Friedrich 5, 6, 46, 95, 128, 161 Noé-Rumberg, Dorothea-Michaela 56 Nolan, Erika 24, 79 Oellers, Norbert 41, 73 Oesterle, Günter 52 Ohlig, Karl-Heinz 12 Öhlschläger, Claudia 91 Ovid 91, 191 Partey, Gustav 123 Paulowna, Maria 95 Pehnt, Wolfgang 84, 87, 234 Petritis, Aivars 24 Pfeiffer, K. Ludwig 5 Pfotenhauer, Helmut 1, 31, 32, 58, 90, 144, 147, 163, 171, 225, 236, 238, 239 Phlegon von Tralleis 231 Platner, Ernst 19, 107, 116, 168, 194 Plumpe, Gerhard 6 Polidori, John William 232 Popkin, Richard H. 2, 3 Pörksen, Uwe 13 Porombka, Stephan 47 Praetorius, Johannes 231 Praz, Mario 230, 232 Prokop, Ulrike 99, 234 Promies, Wolfgang 144 Purkinje, Johannes 225 Puszkar, Norbert 91 Quast, Bruno 211 Rabel, Gabriele 119 Rainer, Ulrike 33 Ramler, Karl Wilhelm 199f.

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Reed, Terence James 24, 160 Rehder, Helmut 109 Reinhard, Carl Friedrich von 1, 132, 208, 220 Reinhold, Karl Leonhard 112 Reiss, Hans S. 42, 45 Richer, Jean 230 Richter, Karl 11, 120 Riedel, Christoph 41, 51, 94, 95, 106, 108, 110, 113, 115, 121 Riedel, Wolfgang 41, 51, 121, 221 Riemer, Friedrich Wilhelm 11, 57, 88f., 106, 145, 224 Riess, Gertrud 38 Ritter, Heidi 129, 195 Ritter, Joachim 124 Röd, Wolfgang 94 Rosefeldt, Tobias 95, 118 Rosenberg, Alfons 205 Rothschuh, Karl Ed. 171, 190 Rousseau, Jean-Jacques IX, 3, 138f., 143, 241 Rüb, Matthias 170 Rudolf, Otto 198 Rudolph, Enno 5, 18, 19 Ruh, Kurt 238 Ruthner, Clemens 232 Sagmo, Ivar 28 Said, Edward W. 51 Saine, Thomas Peter 72 Sartre, Jean-Paul 70 Saße, Günter 55, 103, 151 Schelling 116 Schelver, Friedrich Joseph 188 Schemme, Wolfgang 230 Scherer, Christoph 225 Schiff, Julius 33 Schiller, Charlotte 84 Schiller, Friedrich 1, 10f., 15, 25, 37, 40-44, 48f., 51, 65, 72, 80, 84, 97-99, 116-118, 121, 123, 130, 132, 138, 182, 193-196, 204, 210, 216, 218, 236 Schings, Hans-Jürgen 20, 28, 100, 103, 223 Schlaffer, Hannelore 50, 204, 242 Schlaffer, Heinz 15, 31f., 59, 135, 221 Schlegel, August Wilhelm 211f. Schlegel, Friedrich 69, 83, 194 Schlichtmann, Silke 215 Schmid, Carl Christian Erhard 95, 118f. Schmidt, Alfred 161, 172 Schmidt, Jochen 3, 148 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 110, 199 Schmitz-Burgard, Sylvia 22, 25, 29 Schmitz-Emans, Monika 209, 220

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Personenregister

Schneider, Hans 161 Schneider, Helmut J. 233 Schneider, Klaus 170, 175 Schneider, Sabine M. 71 Schöndorfer, Ulrich 111, 238 Schöne, Albrecht 60, 110 Schönemann, Anna Elisabeth 186 Schönemann, Johann Friedrich 186 Schopenhauer, Adele 98, 126 Schopenhauer, Arthur 6, 126-128, 159 Schorbach, Karl 211 Schößler, Franziska 17, 114, 209 Schuchardt, Christian 191 Schuller, Marianne 187 Schultz, Christoph Ludwig Friedrich 98 Schulz, Gerhard 46 Schürmann, Thomas 241 Schwab, Gabriele 4, 8, 75 Schwamborn, Claudia 20 Schwander, Hans-Peter 25, 158 Schwedt, Georg 58, 106, 134 Seebeck, Thomas Johann 125 Seidel, Philipp 60, 61, 62, 63 Seidlin, Oskar 209 Sengle, Friedrich 181 Seppänen, Lauri 111 Shakespeare, William 60, 69, 73, 84, 102-105, 178, 241 Sharpe, Lesley 194 Simmel, Georg 18, 23f., 119 Simon, Friedrich Alexander 228 Sjörgren, Christine 162 Smith, Adam 114, 134, 136, 137 Soeffner, Hans-Georg 13 Sørensen, Bengt A. 155 Spies, Bernhard 17, 54 Spinoza, Benedictus de 98, 107-110, 112, 118, 159, 173, 175, 182 Sprengel, Peter 147 Staël, Anne-Louise Germaine de 232 Stahl, Georg Ernst 171 Stahr, Adolf 87 Stanitzek, Georg 176, 221 Stäudlin, Carl Friedrich 2, 3 Stehle, Claudia 74 Steiger, Günter 188, 234 Stein, Charlotte von 4, 72, 84, 87, 210 Stephan, Inge 176 Sterne, Laurence 49, 53, 76, 113 Stiedenroth, Ernst 165 Stopp, Frederick J. 223 Strack, Friedrich 155 Strich, Fritz 51, 196, 198 Strohm, Stefan 180

Strotmann, Rainer 178 Sturma, Dieter 51, 94, 111 Sulzer, Johann Georg 163 Szondi, Peter 11 Taylor, Charles 93, 94, 102, 103, 126, 142 Terras, Rita 55 Thadden, Elisabeth von 12, 59, 94, 197 Theophrast 66 Thieberger, Richard 46 Thiel, Udo 112, 115 Thomé, Horst 17, 227 Thulstrup, Niels 124 Thüring von Ringoltingen 209-213, 215f., 218 Tieck, Ludwig 214, 216, 219 Tietz, Johann Daniel 103 Titzmann, Michael 11, 17, 128 Todorov, Tzvetan 61 Trevelyan, Humphry 32 Trunz, Erich 24, 159 Tümmler, Hans 160 Tuveson, Ernest 113 Unseld, Siegfried 37 Vaget, Hans Rudolf 30, 31 Vandenrath, Johannes 105 Veit, David 61 Verra, Valerio 62, 188, 220 Vico, Giovanni Battista 199 Vincent, Deirdre 234 Voigt, Christian Gottlob 122f., 182 Volckmann, Silvia 230 Voltaire 231, 240 Voßkamp, Wilhelm 21, 39 Wachsmuth, Andreas Bruno 4, 30, 56, 77, 187 Wagner, Fritz 209 Walch, Johann Georg 163 Walker, Susan 191 Walzel, Oskar 14 Warning, Rainer 52, 65, 76 Watt, Ian 10, 162 Wegner, Max 191 Weigel, Sigrid 136, 176 Weinhandl, Ferdinand 77 Weininger, Otto 128, 129 Weissberg, Liliane 176 Wellbery, David E. 66, 127 Wernz, Corinna 187 Wieland, Christoph Martin 66, 69 Wiethölter, Waltraud 38, 57, 89, 204, 222

Personenregister Wild, Reiner 231 Willems, Marianne 18, 160 Winnett, Susan 128 Wittkowski, Wolfgang 159 Wöbkemeier, Rita 82 Wolf, Norbert Christian 76 Wölfel, Kurt 149 Wolff, Christian 75, 167, 238 Wolff, Hans M. 44 Wolffheim, Elsbeth 126 Wolters, Gereon 128 Woltmann, Karoline von 131 Woolf, Virginia 178 Worbs, Michael 128 Wunder, Heide 179

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Wuthenow, Ralph-Rainer 12, 144, 145 Wyder, Margrit 131 Zabka, Thomas 59 Zachariä, Friedrich Wilhelm 211, 212, 218 Zantop, Susanne 162 Zantwijk, Temilo von 2 Zaunstöck, Holger 217 Zedler, Johann Heinrich 162 Zehe, Horst 145 Zehm, Edith 53 Zeidler-Johnson, Elisabeth 133, 136 Zelter, Carl Friedrich 36, 53 Zima, Peter V. 17, 183 Zimmerli, Walter Ch. 133

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Abb. 1: Matthäus Merian d.Ä.: Isebels Tod (1625) Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin

294

Abb. 2: Klytia (um 40 n. Chr.?) Abguß aus Goethes Sammlung (Original British Museum, London) Klassik Stiftung Weimar, Museen

295

Abb. 3: Johann Heinrich Meyer: Ödipus löst das Rätsel der Sphinx (1802) Staatliche Kunstsammlungen Weimar

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Abb. 4: Holzschnitt zur Historia und Geschicht von Melusina Das Buch der Liebe. Frankfurt/M. 1587, f. 262v.