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German Pages 326 Year 2018
Miriam Gutekunst Grenzüberschreitungen – Migration, Heirat und staatliche Regulierung im europäischen Grenzregime
Kultur und soziale Praxis
Miriam Gutekunst (Dr. phil.) ist Kulturanthropologin. Sie lehrt und forscht am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Migration und das europäische Grenzregime, Politiken und Bürokratien, Geschlechterverhältnisse sowie (post-)koloniale Verflechtungen. Außerdem beschäftigt sie sich mit der Praxis des Schreibens in Forschung und Lehre sowie Fragen eingreifender Wissenschaft.
Miriam Gutekunst
Grenzüberschreitungen – Migration, Heirat und staatliche Regulierung im europäischen Grenzregime Eine Ethnographie
Diese Arbeit wurde im Jahr 2016 von der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda-Weiler-Stiftung für feministische Frauenforschung e.V., D-53894 Mechernich, www.gerda-weiler-stiftung.de, sowie dem Oskar-Karl-Forster-Stipendium der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Miriam Gutekunst, Rabat, 2012 Satz: Tomislav Helebrant Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4249-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4249-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Danksagung | 9 1 1.1 1.2 1.3 1.4
Zwischen Migrationskontrolle und Schutz von Ehe und Familie | 13
Forschungsgegenstand und theoretische Verortung | 17 Die Geschichte von Asija und Anes: das Forschungsdesign | 21 Die geopolitische Eingrenzung ›Marokko – Deutschland‹ | 25 Aufbau der Arbeit | 28
2 Zur Methodologie: das Regieren der Migration durch Heirat ethnographieren | 33
Warum eine regimetheoretische Perspektivierung? | 33 2.1 2.1.1 Das Regieren der Migration als gouvernementaler Politikstil | 36 2.1.2 Der Blick der Autonomie der Migration | 39 2.1.3 Das Regieren der Migration durch Heirat als Forschungsgegenstand und analytische Perspektive | 43 2.2 Vielfache Differenzierungs- und Hierarchisierungsprozesse im doing border | 46 2.2.1 Geschlechteranalytische Perspektiven: doing gender while doing border | 46 2.2.2 Ein dekolonialer, ethnographisch-intersektionaler Blick | 54 2.3 Operationalisierung und Methodik einer ethnographischen Regimeanalyse | 59 2.3.1 Grenze als Methode: Lokalisierungen, Materialisierungen, Erfahrungen | 59 2.3.2 Grenze als Netzwerk: zur Konstruktion des Forschungsfelds | 63 2.3.3 Grenze als soziales Verhältnis: situative Aushandlungen und Konflikte | 66 2.3.4 Grenze(n) der Forscherin: die eigene Situiertheit in einer multiskalaren Forschung | 71
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Die Heiratsurkunde | 81
3.1 Individuelle Beweg/gründe im Kontext neoliberaler Globalisierung in einem postkolonialen Staat | 83
3.1.1 Hafida: (Un-)Abhängigkeit, Sexualität und gesellschaftliche Ausgrenzung | 85 3.1.2 Rachid: eine Jugendliebe, Männlichkeit(en) und ein fehlender Sozialstaat | 88 3.1.3 Badria: das Streben nach Bildung, Traditionen und die Ablösung von der Familie | 93 3.1.4 Samah: romantische Liebe, Konsum und der Nutzen von Bildungsabschlüssen | 98 3.1.5 Mehdi: Europa, die Möglichkeiten des Internets und der Wunsch nach Stabilität | 103 3.1.6 Migration durch Heirat als widerständige Strategie? | 107 3.2 Die staatliche Regulierung der Institution Ehe in Marokko | 111 3.2.1 Alles halal? Die Rolle der Religion im Heiratsrecht | 113 3.2.2 Sex vor der Ehe? Der enquête de police und Sexualpolitik | 117 3.2.3 Zu Besuch beim adul: die Eheschließung | 119 3.2.4 Binationale Eheschließungen und der marokkanische Nationalstaat | 122
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Der Sprachnachweis | 129 Die konflikthafte Legitimation der Sprachnachweispflicht | 129 4.1 4.1.1 Das Integrationsparadigma und das Prinzip des ›Fördern und Fordern‹ | 134 4.1.2 Die Problematisierung von ›Zwangsehen‹ und das Frauenschutzargument | 143 4.2 Ein neuer umkämpfter Markt für die ›Ware Deutsch‹ | 149 4.2.1 Die ›Vorintegrationskurse‹ in Zentrum und Peripherie | 149 4.2.2 Die Prüfungslizenz: Auseinandersetzungen um das Recht zu prüfen | 151 4.2.3 Marktnischen: eine private Sprachschule in Casablanca | 154 4.3 Der Export des ›Fördern und Fordern‹: das Integrationsparadigma in Marokko | 157 4.3.1 Das Goethe-Institut: zwischen Prävention, Hilfe und Informationsangebot | 157 4.3.2 Die ›Vorintegrationskurse‹: Eigenverantwortung und ›Hausfrauisierung‹ | 161 4.3.3 Die Privatschulen: Umdeutung, Ablehnung und ethnisierte Deutungshierarchien | 165 4.4 Ein- und Ausschlüsse: umkämpfte Praktiken der Vorsortierung | 170 4.4.1 Ausschlüsse: Alphabetisierung und Bildung als Selektionskriterien | 170 4.4.2 Einschlüsse: Aktivierung neuer Arbeitskraft | 174 4.4.3 Verzögerung statt Immobilität: Temporalisierung als Regierungsweise | 177 4.5 Der Prüfungstag: Externalisierungen | 182
4.5.1 Die Vorbereitung: Stabilisierung der Machtverhältnisse | 182 4.5.2 Die Prüfung: Handlungsspielräume zwischen Solidarität und Kontrolle | 185 4.5.3 Die Ergebnisse: bestanden oder nicht bestanden, bleiben oder gehen? | 191
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Das Visum | 195 Das Visumverfahren: Überwachung, Kontrolle und Verwaltung | 197 5.1 5.1.1 Zugangsbeschränkungen: die Vorbereitung des Besuchs im Konsulat | 197 5.1.2 Das Konsulat: Architekturen und Akteure eines Mikrokosmos | 202 5.1.3 Erster Check am Schalter: Stabilisierung der Subjektpositionen | 205 5.1.4 (Um-)Wege des Antrags: Herstellung digitaler Datenkörper | 208 5.1.5 Zweiter Check in der Ausländerbehörde: die Grenzen des Intimen | 211 5.1.6 Die ›gleichzeitige Ehegattenbefragung‹: Praktiken der Wahrheitsfindung | 215 5.1.7 Die Entscheidung: Erteilung oder Verweigerung der Einreiseberechtigung | 220 5.1.8 Techniken der Verunsicherung | 221 5.2 Schein oder nicht Schein? Praktiken der Kategorisierung und Klassifikation | 223 5.2.1 Zwischen Gesetz und Praxis: Handlungsspielräume und situiertes bürokratisches Wissen | 223 Doing race, class, gender, age while doing border: 5.2.2 intersektionale ›Tatbestandsmerkmale‹ | 229 5.2.3 Distanzierungen: der situierte Blick entsandter Mitarbeiter_innen | 240 5.3 Das Konstrukt ›Scheinehe‹ und die staatliche Regulierung binationaler Eheschließungen im 19. und 20. Jahrhundert | 250 5.3.1 Die Erschaffung der ›Scheinehe‹ und Heiratspolitik bis 1933 | 251 5.3.2 Schein oder Schutz? Die strafrechtliche Verfolgung ab 1933 | 254 5.4 Situative Aushandlungen: die Handlungsmacht der Antragsteller_innen | 257 5.4.1 Yasin und Mona: »Warum das alles?« | 258 5.4.2 Nour und Burkhard: »Muss ich mein Herz zur Ausländerbehörde geben?« | 267 5.4.3 Grenzspektakel als Form der (Selbst-)Disziplinierung | 272 6 Multiple Grenzüberschreitungen im Regieren der Migration durch Heirat | 275
6.1 Neue Akteure, neue Orte: die Externalisierung des Grenzregimes | 276 6.2 Differenzielle Inklusionen: die Wirkmächtigkeit der Nützlichkeitslogik | 278 6.3 Vergeschlechtlichung und Heteronormierung von Bewegungen | 280
6.4 Der verzögerte Einreiseprozess als Transmigration | 284 6.5 Re-/Destabilisierungen: umkämpfte Institution Ehe | 286 6.6 Grenzüberschreitung für wen? Das Potenzial ethnographischer Regimeanalysen | 289 6.7 Epilog: Die Geschichte von Asija und Anes | 293
Literatur | 297
Danksagung Das vorliegende Buch ist das Ergebnis eines langen Prozesses, der sich über insgesamt sechs Jahre zog. Auch wenn der eigentliche Schreibprozess in der letzten Phase einer Doktorarbeit ein recht einsamer ist und ich als alleinige Autorin genannt bin, wäre diese Schrift nie ohne all die Menschen entstanden, die mir im Laufe dieses Projekts begegnet sind, die mich begleitet, unterstützt, inspiriert, herausgefordert, mit mir diskutiert, nachgedacht und gestritten, mir die richtigen Fragen zum richtigen Zeitpunkt gestellt und wichtige Impulse gegeben haben. An dieser Stelle möchte ich ihnen danken. Die Zeit in Marokko hat meinen Blick auf die Welt stark geprägt. Ich habe so viel Neues gelernt, Selbstverständlichkeiten hinterfragt, komplexe Zusammenhänge verstanden, eigene Bilder und Grenzen im Kopf bearbeitet. Dafür bin ich vor allem den Menschen in Marokko dankbar, die sich mir geöffnet, sich auf Gespräche und Diskussionen mit mir eingelassen haben, die mir ihre Lebenssituation und die gesellschaftlichen Verhältnisse in Marokko erklärt haben. Ich hoffe, dass es mir gelingt diese Perspektiven weiterzutragen und andere dafür zu sensibilisieren, dass es nicht für alle Menschen selbstverständlich ist, durch die Welt zu reisen und über Bewegungsfreiheit zu verfügen, und dass unser Wohlstand in Europa auf Kosten anderer entstanden ist und erhalten wird. Allen voran seien hier die Protagonist_innen dieser Studie zu nennen. Einige von ihnen habe ich über mehrere Jahre durch den gesamten Einreiseprozess bis nach Deutschland begleitet. Sie haben mir Einblicke in ihre Alltage, Sichtweisen und Paarbeziehungen gegeben. Leider müssen sie an dieser Stelle ebenfalls anonym bleiben, da sie auch nach der Einreise unter behördlicher Beobachtung stehen und ihr Aufenthalt prekär ist. Ihnen wünsche ich, dass sie ihre Zukunftspläne in Deutschland trotz all der Hürden umsetzen und das gute Leben führen können, auf das sie so lange hingearbeitet haben. Neben jenen, deren Namen ich hier zur Wahrung ihrer Anonymität nicht nennen kann, waren weitere wertvolle Begegnungen und wichtige Gesprächspartner_innen im Rahmen meiner Forschung in Marokko: Bouchra Elouahabi, Fatima Maghnaoui, Touria Tajeddine und die anderen Frauenrechtsaktivistinnen der Union de l’Action Féminine; Fenna Allal und ihre Eltern; Abdellatif Bousseta und Fadoua Chaara von der Deutschabteilung der Universität Abdelmalek Essâadi in Tanger; Hassan Habibi und Rachida Zoubid von der Universität Hassan II in Casablanca.
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Auch gilt mein Dank den Institutionen und ihren Mitarbeiter_innen, die mir ermöglicht haben, in ihrem Arbeitsalltag zu forschen, wie dem Goethe-Institut, der Deutsch-Marokkanischen Gesellschaft Nord, den privaten Sprachschulen in Marokko, besonders Clemenceau, dem ÖSD (Österreichisches Sprachdiplom), dem Konsulat sowie der Ausländerbehörde. Ich hoffe, dass meine Analysen und Ergebnisse eine Diskussion anregen und für die Situation der Betroffenen sensibilisieren. Ich würde gerne dazu in Austausch treten. Durch den gesamten Prozess der Dissertation haben mich außerdem meine beiden Betreuerinnen Irene Götz und Sabine Hess begleitet, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Sie haben mich über die Jahre hinweg nicht nur in meinem Forschungsvorhaben bestärkt und mich inhaltlich beraten, sondern mich auch in den Kosmos der Wissenschaft eingeführt und mir den Zugang zu wichtigen Netzwerken und Kontexten ermöglicht. Mein Dank gilt ebenfalls folgenden Zusammenhängen, in denen für meine Arbeit relevante Diskussionen und Debatten stattfanden: meinen Kolleg_innen vom Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München; dem internationalen Promotionsprogramm »Transformationsprozesse in europäischen Gesellschaften«; dem Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, besonders dem Gender&Migration-Knoten; den Laboren für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung in Göttingen und München; dem Doktorand_innen-Kolloquium von Irene Götz; der Heinrich-Böll-Stiftung (sowohl für die finanzielle Förderung als auch für die Kontakte, Räume und Inhalte); dem International Migration Institute (IMI) der Universität Oxford, besonders den Organisator_innen und Teilnehmer_innen des Workshops »Moroccan Migrations« 2014 in Fès; dem Forschungsschwerpunkt »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte« der Universität Innsbruck; dem wunderbaren Team des Transformations Blogs sowie den Studierenden meiner Seminare und der Exkursion nach Spanien und Marokko. Dabei gibt es Kolleg_innen und Freund_innen, die ich ebenfalls namentlich nennen möchte, weil der enge Austausch mit ihnen mich bereichert hat und einige von ihnen mit mir durch die Höhen und Tiefen der Promotionsphase gingen. Letztlich machten sie alle Etappen meines Dissertationsprojektes auf unterschiedliche Weise zu einer wunderbaren Zeit: Julika Bäumer, Natalie Bayer, Riadh Ben Ammar, Avital Binah-Pollak, Theresa Bittermann, Svenja Dehner, Jeanette Ehrmann, Maxi E inenkel, Meike Fehlinger, Angela Firmhofer, Andreas Hackl, Hannes Haile, Federica Infantino, Markus Kollotzek, Daniel Kunzelmann, Lydia Lierke, Michel Massmünster, Seraina Müller, Katharina Natter, Simona Pagano, Olga Reznikova, Lisa Riedner, Stephan Scheel, Oliver Schnuck, Christoph Sorg, Kristina Schuldt, Julia Sophia Schwarz, Martina Schwingenstein, Katalin Tóth und Judith Welz. Ein wichtiger Wegbegleiter während dieses Forschungsprojekts war außerdem Bilal Gharafi, den ich während meines ersten Forschungsaufenthalts in Tanger kennenlernte. Er war damals als Deutschlehrer tätig. Er unterstützte mich von Beginn an in meinem Vorhaben und eröffnete mir so viele Kontexte und Perspektiven in Marokko. Mein Dank gilt auch seinem Bruder Mustapha Gharafi. Die Freundschaft mit
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den beiden und die gemeinsam verbrachte Zeit möchte ich nicht missen. Weitere enge Begleiter_innen während der Zeit in Marokko waren: Myriem Choukrallah, mit der ich mir eine Wohnung in Rabat teilen durfte und mit der ich stundenlang über die Widersprüche und Herausforderungen meiner Forschung reflektierte, aber auch über so viel mehr; Fatimazohra Benkassem, in der ich eine feministische Mitstreiterin und Freundin gefunden habe; Mohammed Sabri, der mich durch seinen Umgang mit den Schüler_innen und seine didaktische Herangehensweise immer wieder beeindruckte und mit dem ich so gut über das Leben philosophieren kann. Ein besonderer Dank geht an Maria Schwertl, die ich als Wissenschaftlerin, Kollegin und Freundin sehr schätze, und die bis zum Schluss große Teile dieses Buches gelesen und gefeedbackt hat. Dass Nina Reggi, Alex Rau und ich uns zusammenschlossen, um uns in unseren Promotionsprojekten intensiv zu begleiten und zu unterstützen (beide haben auch das gesamte Skript gelesen!), hat zu ungeahnten Synergieeffekten, gemeinsam durchlebten Extremsituationen und einem feministischen Denkzusammenhang geführt, der auch nachhaltig fortbestehen wird. Mit wem sonst kann ich so grandios gemeinsam denken und theoretisieren, lachen und feiern. Alex Rau ist als sehr enge Freundin und lange Zeit Mitbewohnerin und (Büro-)Kollegin eine besondere Weggefährtin geworden, deren Gedanken, Analysen, Wissen, Einfühlungsvermögen und Sensibilität für Machtverhältnisse ich in jedem Moment schätze – ob in der Diskussion unserer Texte, bei gemeinsamen Unternehmungen, in emotionalen Krisenzeiten, oder bei einem Glas Rotwein auf dem Balkon in der Kidler18. Meine Eltern Karin und Joachim Gutekunst, mein Bruder Simon Gutekunst und meine Großmütter Emilie Berger und Marie Gutekunst haben mir ermöglicht den Weg der Wissenschaft zu gehen und dafür gesorgt, dass es für mich einen Ort gibt, an den ich jederzeit zurückkehren kann, um Kraft zu schöpfen, aber auch kreativ und produktiv zu sein. Dafür möchte ich auch ihnen von Herzen danken.
1 Zwischen Migrationskontrolle und Schutz von Ehe und Familie »Ehe und Familie sind unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.« Artikel 6 (1), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland »Heiratsfähige Männer und Frauen haben ohne jede Beschränkung auf Grund der Rasse [sic!], der Staatsangehörigkeit oder der Religion das Recht, zu heiraten und eine Familie zu gründen. […] Die Familie ist die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat.« Artikel 16 (1 & 3), Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Es steht nicht nur im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: das Grundrecht auf Schutz von Ehe und Familie. Dieses Grundrecht macht den sogenannten ›Ehegatten-/Familiennachzug‹1 zu einer der wenigen Möglichkeiten für Menschen aus ›visumspflichtigen Drittstaaten‹, legal in die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einzureisen. Trotzdem erklärte Innenminister Thomas de Maizière (CDU) am 6. November 2015 im Deutschlandradio, dass syrischen Geflüchteten in Zukunft Folgendes »gesagt« werde: »Ihr bekommt Schutz, aber den sogenannten subsidiären Schutz – das heißt zeitlich begrenzt und ohne Familiennachzug« (Steiner 2015). Der Aufschrei 1 Innerhalb des Grenzregimes wird der ›Ehegattennachzug‹ neben dem Nachzug von Kindern als eine Form des ›Familiennachzugs‹ oder der ›Familienzusammenführung‹ verstanden. So wird im Aufenthaltsrecht der ›Ehegatten-‹ als ›Familiennachzug‹ in dem Abschnitt »Aufenthalt aus familiären Gründen (§§ 27–36)« geregelt (Aufenthaltsgesetz 2016). Diese Gleichsetzung von Ehe und Familie deutet bereits darauf hin, dass die eheliche Gemeinschaft als Grundlage für die Familiengründung im Sinne von Nachwuchs naturalisiert und normalisiert wird. Deswegen verwende ich den Begriff ›Ehegatten-/ Familiennachzug‹ als die rechtliche, migrationspolitische Kategorie und setze es in Anführungszeichen, um auf den Konstruktionscharakter dieses Begriffs hinzuweisen.
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des Koalitionspartners SPD und der Opposition war damals groß. Gerade im Herbst 2015, nachdem im Sommer hunderttausende Menschen das Mittelmeer überquert und die europäischen Außengrenzen überwunden hatten, wurden Stimmen aus den konservativen sowie rechten Lagern laut, Migration stärker zu kontrollieren und zu begrenzen (vgl. Hess et al. 2017). Den ›Familiennachzug‹ auszusetzen, war aus dieser Perspektive ein Versuch, Ordnung in die Migrationsbewegungen zu bringen. Sonst sei die Zahl der Menschen nicht mehr beherrschbar, so Hans-Peter Uhl (CSU) in einem Interview mit der Zeitung Die Welt: »Wir sehen uns mit einer ungeheuren Menge an Einwanderern konfrontiert. Diese Menge als solche ist schon kaum noch zu bewältigen. Lassen wir nun auch noch den Familiennachzug zu, wie ihn die derzeitige Rechtslage erlaubt, dann müssen wir die aktuellen Zuwandererzahlen möglicherweise mit einem Faktor drei oder vier multiplizieren.« (Alexander et al. 2015)
Mit dem Inkrafttreten des Asylpakets II im März 2016, das schließlich die zweijährige Aussetzung des ›Familiennachzugs‹ für Geflüchtete mit subsidiärem Status2 enthielt, ging auch eine Weisung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an alle Entscheider_innen, bei syrischen Geflüchteten wieder die Einzelfallprüfung einzuführen. Und so wurde im Juli 2016 bereits mehr Antragsteller_innen aus Syrien der subsidiäre Schutz (13.288) anstatt der Flüchtlingsschutz (10.152) zuerkannt und ihnen damit auch das Recht auf ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ verwehrt (vgl. Gutekunst/ Muy 2016). Während lange Zeit die Hoffnung bestand, nach der zweijährigen Frist würde sich die Situation wieder entspannen und Geflüchtete mit subsidiärem Status könnten ihre Ehepartner_innen, Kinder, Geschwister und Eltern wieder nachholen, verschärfte sich die Gesetzeslage 2018. Zunächst wurde die Aussetzung im Bundestag um vier weitere Monate verlängert und schließlich eine Obergrenze von 1000 Personen pro Monat sowie eine Härtefallregelung ab August eingeführt. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung wird diese Änderung unter der Kategorie »Wir ordnen die Zuwanderung« (Bundesregierung 2018: 14) aufgelistet. Der ›Ehegatten-/Familiennachzug‹, um den es in dieser Studie gehen wird, ist seit Jahrzehnten eine wichtige Migrationspraxis für Menschen aus ›Drittstaaten‹, um legal in die Bundesrepublik sowie andere Mitgliedsstaaten der Europäische Union einzureisen – wie auch gegenwärtig für Angehörige syrischer Geflüchteter. Diese Möglichkeit der legalen Einreise in Anspruch zu nehmen, ist auch eine Reaktion auf Verschärfungen der allgemeinen Einreisebedingungen und einer zunehmenden Schließung der Grenzen. Schon in den 1970er Jahren wurde dieser Zusammenhang deutlich: 2 Subsidiärer Schutz bedeutet, dass weder Flüchtlingsschutz noch Asylberechtigung gewährt werden, sondern lediglich eine Aufenthaltserlaubnis für ein bis drei Jahre. Eine Niederlassungserlaubnis ist erst nach fünf Jahren möglich, »wenn weitere Voraussetzungen, wie etwa die Sicherung des Lebensunterhalts sowie ausreichende Deutschkenntnisse, erfüllt sind«, wie es auf der Seite des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) heißt (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016).
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Nach dem Anwerbestopp nutzten Menschen, die als ›Gastarbeiter‹ nach Deutschland gekommen waren, verstärkt ihr Recht auf ›Ehegatten-/Familiennachzug‹, um ihre Angehörigen und Verwandten nach Deutschland nachzuholen. Durch die neuen Einreisebestimmungen war es plötzlich nicht mehr möglich zwischen Deutschland und ihrem Herkunftsland hin- und herzureisen (vgl. Berriane 2003: 25 f.). Der ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ wurde so zu einem der wenigen legalen Migrationswege. Dieser Anstieg des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ verstärkte gleichzeitig das staatliche Interesse auch diese Migrationspraxis zu regulieren. Zusätzliche Kriterien und Einschränkungen wurden eingeführt. Schon 1965 hatte Deutschland die Wartezeit auf einen mindestens einjährigen Aufenthalt in Deutschland angehoben, bevor Partner_innen regulär einreisen konnten. Außerdem mussten Antragsteller_innen damals bereits ein festes Arbeitsverhältnis und ausreichend Wohnraum vorweisen (vgl. Karakayali 2008: 161). Als nun Ende der 1970er Jahre nach dem Anwerbestopp der ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ extrem zunahm, reagierte die Regierung wieder mit Verschärfungen: 1980 wurde die Visumspflicht für nachziehende Familienagehörige eingeführt und ab 1981 mussten Migrant_innen mindestens acht Jahre in Deutschland gelebt haben und seit drei Jahren verheiratet sein, um ihre Partner_innen in die Bundesrepublik zu holen (vgl. ebd.). Durch diese Regelungen waren viele Familienangehörige, die diese Bedingungen nicht erfüllen konnten, gezwungen, irreguläre Wege zu nutzen, um bei ihren Partner_innen bleiben zu können: Zum Beispiel reisten sie mit einem Touristenvisum ein und blieben, nachdem dieses abgelaufen war, also nach drei Monaten. Der Soziologe Serhat Karakayali weist darauf hin, dass damals bereits das Interesse deutscher Behörden deutlich wurde, das »gate of entry« des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ zu schließen (vgl. ebd.: 162). 1987 griff schließlich das Bundesverfassungsgericht ein und erklärte, dass diese Wartezeiten bis zu drei Jahren verfassungswidrig seien, nicht vereinbar mit Artikel 6 des Grundgesetzes, also dem Schutz von Ehe und Familie (vgl. Bundesverfassungsgericht 1987). Gerade in den letzten Jahren – bereits vor dem Sommer der Migration 2015 – hatte der ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ erneut eine besonders starke Politisierung und Problematisierung erfahren und wurde ein spezifisches Ziel neuer restriktiver Maßnahmen und Kontrollen – nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen und nordamerikanischen Staaten (vgl. Block 2016; D’Aoust 2013). Am deutlichsten wurde diese Entwicklung in Deutschland, als die Bundesregierung 2007 im Rahmen der Reformierung des Zuwanderungsgesetzes eine Sprachnachweispflicht für Ehepartner_innen aus ›Drittstaaten‹ einführte sowie das Mindestalter von ›nachziehenden Ehegatten‹ auf 18 Jahre hochsetzte (vgl. Auswärtiges Amt 2015a). Von Menschen, die in Deutschland mit einer Niederlassungs- oder Aufenthaltserlaubnis leben, aber keine Staatsbürgerschaft haben, wird außerdem verlangt, dass sie über ausreichenden Wohnraum verfügen sowie weitere Voraussetzungen erfüllen, »abhängig vom Status des bereits in Deutschland lebenden Ausländers« (ebd.). Gerade um die Legitimität der Sprachnachweispflicht ist seitdem ein Konflikt zwischen unterschiedlichen Akteuren – wie Einzelkläger_innen, dem Bundesverwaltungsgericht, dem Europäischen Gerichtshof, migrantischen Vereinen, Menschenrechtsorganisati-
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onen, Politiker_innen und der Bundesregierung – entfacht. Dieser bewegt sich zwischen dem individuellen Recht auf Schutz von Ehe und Familie einerseits und dem Interesse einer stärkeren Regulierung und Kontrolle von Migration (und Integration) andererseits. Und so berufen sich auch im Kontext der Einschränkungen des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ für syrische Geflüchtete Kritiker_innen wie das Forum Menschenrechte, ein Netzwerk von mehr als 50 deutschen Menschenrechtsorganisationen, auf dieses Grundrecht, während sich Befürworter_innen auf die Notwendigkeit, Migration zu begrenzen, beziehen (vgl. Forum Menschenrechte 2016). Diese politischen Entwicklungen im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ verdeutlichen das Spannungsfeld, in dem diese Migrationspraxis sowie deren staatliche Regulierung stattfinden: Einerseits das Recht auf Schutz von Ehe und Familie und andererseits das Interesse, Migration zu kontrollieren und zu regulieren. Warum aber stehen Ehe und Familie unter gesellschaftlichem sowie staatlichem Schutz? In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird die Familie auch als »natürliche Grundeinheit der Gesellschaft« bezeichnet. Doch dass Menschen sich heute nach wie vor mehrheitlich in ehelichen Gemeinschaften und Kleinfamilien organisieren, ist auf eine lange Geschichte staatlicher und gesellschaftlicher Regulierungen zurückzuführen. Der Staat hat ein Interesse daran, diese kleinsten Einheiten einer Gesellschaft aufrechtzuerhalten und zu fördern, da sie den Ort der sozialen Reproduktion darstellen. Bereits vor der Gründung der Nationalstaaten bildeten die Familie und die damit einhergehende Hausgemeinschaft den Ort der Ökonomie. Der Philosoph Michel Foucault schreibt, Jean-Jacques Rousseau zitierend: »Das Wort ›Ökonomie‹ bezeichnet ursprünglich die ›weise Regierung des Hauses zum gemeinschaftlichen Wohl der ganzen Familie‹.« (Foucault 2000: 49) Die Familie gilt innerhalb eines Nationalstaats als wichtige autonome Fürsorgestruktur, die nicht nur sich selbst erhält, ohne auf die Unterstützung des Staates angewiesen zu sein, sondern auch die Reproduktion der Gesellschaft im Sinne von Nachwuchs sowie der Regeneration der Arbeitskraft sichert. Die Institution Ehe bildet dabei die Grundlage sowie den ersten Schritt für die Gründung einer Familie und ist auch deshalb von großem bevölkerungspolitischem Interesse. Foucault beschreibt in seiner »Geschichte der Gouvernementalität« wie spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Familie zum Instrument für die Regierung der Bevölkerung wurde, »weil man, sobald man bei der Bevölkerung hinsichtlich des Sexualverhaltens, der Demografie, der Kinderzahl oder des Konsums etwas erreichen will, über die Familie gehen muss« (Foucault 2000: 60). In Diskursen um Demographie und den Wohlfahrtsstaat kommt der heteronormativen Kleinfamilie eine wichtige Bedeutung für den Erhalt einer Gesellschaft und als unabhängige ökonomische Einheit zu. Besonders in Zeiten der Neoliberalisierung des Nationalstaats wird die Entität Familie dabei zum »Garant« für ökonomische Versorgung sowie soziale Absicherung für die einzelnen Familienmitglieder. Die Kulturanthropologinnen Sabine Hess und Ramona Lenz weisen ebenfalls darauf hin, dass der Umbau des Sozialstaats mit einer »Reprivatisierung einst staatlich erbrachter Leistung zurück in den Schoß der Kleinfamilie« einherging (Hess/Lenz 2001b: 133). Die Rechtswissenschaftlerin
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Sarah van Walsum spricht in diesem Zusammenhang von einer Privatisierung des Sozialen: »a political programme of promoting the nuclear family as an atomized caring and at the same time controlling and disciplining private institution« (van Walsum 1994: 207). Van Walsum sieht gleichzeitig Parallelen zwischen den Metaphern der Nation und der Familie als imaginierte Gemeinschaften, »artifically defined but pretending naturality« (ebd.: 208): »They claim a degree of harmony which belies the actual differences, conflicts and power structures that they contain. Both have important implications for the identity of an individual, for the appeal he or she can make upon others and, conversely, the claims others can place upon him or her. As a result, both also carry a strong emotional component.« (Ebd.)
In Verschränkung mit Migration und Mobilität über staatliche Grenzen hinweg werden die Diskurse und Rationalitäten um Ehe und Familie komplexer und widersprüchlicher. Hier treffen die bestimmte Gruppen exkludierende Logik des Nationalstaats als Einheit, in der Volk, Sprache, Territorium und Kultur zusammenfallen (vgl. Götz 2011: 119), und das Interesse an Familien zur Sicherung der sozialen Reproduktion (vgl. Winker 2011: 336) konflikthaft aufeinander. Die Sozialwissenschaftlerin Rutvica Andrijasevic weist darauf hin, dass Migrationspolitiken nur in Zusammenhang mit der über Geschlecht und Sexualität konstruierten Nation zu verstehen sind: »Sexuality and gender play a constitutive role in the formation and definition of the nation insofar as the reproduction of nationhood and citizenship remain premised on heterosexuality and heteromasculinity.« (Andrijasevic 2009: 390) Der ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ führt einerseits zur Bildung heteronormativer ehelicher Gemeinschaften, die als Grundlage für die Familiengründung gelten, und damit zum Erhalt und Wachstum der Bevölkerung beiträgt. Gleichzeitig wird der Zuzug von ›Fremden‹ über diesen Weg – je nach Herkunft der Migrierenden – als Gefährdung der vermeintlichen ›kulturellen Homogenität‹ der Mehrheitsgesellschaft gewertet. Dabei werden gerade migrantische Frauen, denen reproduktive Tätigkeiten zugeschrieben werden, als »Importeure fremder Kulturen und Wertvorstellungen« (Hess/ Lenz 2001a: 156) gesehen. In diesem politischen Feld verschränken sich Heirats- und Migrationsregime und teils widersprüchliche Perspektiven, Logiken und Interessen treffen konflikthaft aufeinander.
1.1 F orschungsgegenstand und theoretische V erortung Diese Widersprüche, Konflikte und Spannungen im Kontext der staatlichen Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ bilden den Ausgangspunkt dieser Studie. Der Forschungsgegenstand ist sowohl die Praxis der Migration durch Heirat als auch damit einhergehend das Regieren der Migration durch Heirat. Der Begriff ›Migration durch Heirat‹ stellt einen Versuch dar, sowohl die Bezeichnung als ›Heiratsmigration‹ als auch die politische Einwanderungskategorie des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹
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zu hinterfragen und nicht als gegeben hinzunehmen. Stattdessen verstehe ich diese Praxis der Einreise vielmehr als ein »Produkt der Grenze« (Hess et al. 2018: 266), als ein Produkt von Konflikten und Aushandlungen um Mobilität und deren Kontrolle. Diese Begriffssetzungen verdeutlichen auch den konstruktivistischen Ansatz dieser Studie. So bricht der Begriff ›Migration durch Heirat‹ die normalisierende Verbindung von Migration und Heirat in dem Begriff ›Heiratsmigration‹ sowie in migrationspolitischen Kategorien wie der des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ auf und beschreibt vielmehr eine Praxis, die von Menschen genutzt wird, die sich die Institution der Ehe aneignen, um das Begehren nach Mobilität und einem ›besseren Leben‹ zu erfüllen, zunächst einmal unabhängig davon, ob das Paar sowieso eine Eheschließung geplant hätte oder nicht. Die Institution Ehe wird innerhalb des Grenzregimes zu einer Migrationsstrategie, Migration wird durch Heirat möglich. Das Konzept des ›Regierens der Migration durch Heirat‹, das ich in dieser Arbeit auch als analytische Perspektive verstehe, wie ich später noch detaillierter ausführen werde, impliziert dabei zwei Ebenen: Zum einen wird die Praxis der Migration durch Heirat – also des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ in migrationspolitischen Kategorien gesprochen – gesteuert und kontrolliert, also regiert. Zum anderen wird die Institution Ehe im Regieren der Migration selbst aufgegriffen und dadurch zu einem heteronormierenden sowie Geschlechterverhältnisse stabilisierenden Filter von Bewegungen der Migration. Migration wird also durch Heirat regiert. Gleichzeitig wird auch das, was Ehe und Familie sein soll, durch die Logiken des Grenzregimes geformt und normiert.3 Trotz Quantität und gesellschaftlicher Relevanz und Aktualität dieses Feldes gibt es bisher – neben dem Verband binationaler Partnerschaften und Familien (iaf) – kaum Lobbyverbände, die sich für die Rechte dieser Gruppe einsetzen sowie nur verhältnismäßig wenig Forschung zum Thema, zumindest aus einer kritischen migrations-/grenzregimetheoretischen Perspektive. Elenor Kofman sieht den Grund für dieses Desinteresse an ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ darin, dass diese Migrationspraxis immer als der Arbeitsmigration nachgeordnet angesehen wurde und mit der Vorstellung von Frauen verbunden war, welche die Rolle der ›nachziehenden Ehegattin‹ einnehmen und von ihrem Mann abhängig sind (vgl. Kofman 2003: ix). Mit dieser Wahrnehmung der Migration durch Heirat wird Migrant_innen, insbesonders Frauen, die diesen regulären Migrationsweg nutzen, die Handlungsmacht sowie dieser Migrationspraxis die Relevanz für soziale Transformation abgesprochen. In der Volkskunde_Europäischen Ethnologie_Kulturanthropologie wurde das Feld der ›Migration und Heirat‹ seit den 1980er Jahren vor allem aus einer interkulturellen oder lebensweltlich-biographischen Perspektive erforscht.4 In der feministischen Migrationsforschung entstanden wichtige Arbeiten zum Thema, die eben gera3 Ausführlicher zu dem Konzept des ›Regierens der Migration durch Heirat‹ siehe Kapitel 2.1.3 Das Regieren der Migration durch Heirat als Forschungsgegenstand und analytische Perspektive. 4 Für einen Überblick vgl. Gutekunst 2013: 13 ff.
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de die Handlungsmacht und Migrationsstrategien von ›Heiratsmigrantinnen‹ sowie deren Hintergründe und Motivationen zum Erkenntnisinteresse hatten, um genau den von Kofman thematisierten viktimisierenden Diskurs zu durchbrechen, in dem migrantische Frauen immer nur als ›Ehefrauen‹, als ›abhängig‹ und ›passiv‹ sichtbar werden (vgl. Binah-Pollak 2016; Constable 2004; George 2005; Lauser 2004; Palriwala/Uberoi 2008; Ruenkaew 2003). Dabei wurde auch mit der üblichen Unterteilung in Heirats- und Arbeitsmigration gebrochen (vgl. Piper/Roces 2003). Außerdem sind zum Forschungsstand noch eine ganze Reihe an politik- und rechtswissenschaftlichen Arbeiten zu nennen, die sich ebenfalls mit der staatlichen Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ aus einem gouvernementalitäts- oder staatstheoretischen Ansatz heraus auseinandersetzen (vgl. Block 2016; Bonjour/de Hart 2013; D’Aoust 2013; Messinger 2012; Wray 2009). In Abgrenzung zu einer kulturalistischen Herangehensweise sowie in Anschluss an die Studien, die Handlungsmacht und Strategien von migrierenden Frauen in ihren Analysen zentral setzen, sowie die rechts- und politikwissenschaftlichen Arbeiten, die vor allem die staatliche Regulierung der Migration untersuchen, richte ich in dieser Studie den Fokus sowohl auf Politiken und Institutionen des Regierens der Migration durch Heirat als auch auf Strategien, Subjektivitäten und Widerständigkeiten von Menschen, die das Einreiseverfahren des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ durchlaufen. Diese beiden Ebenen fasse ich jedoch nicht in Dichotomien wie Mikro und Makro oder Individuum und Struktur, sondern verschiebe den Blick vielmehr auf Auseinandersetzungen, Aushandlungen und Konflikte im Alltag zwischen diesen unterschiedlichen Akteuren, sowohl Migrant_innen als auch Akteuren des Regierens der Migration. In Anlehnung an die kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (vgl. Hess/Kasparek 2010; Transit Migration Forschungsgruppe 2007) gehe ich davon aus, dass Politiken und Grenzen nichts Fixiertes sind, sondern im Sinne eines doing policy beziehungsweise doing border dynamisch und prozesshaft und sowohl von Migrant_innen als auch von anderen Akteuren des Regierens in Alltagspraktiken mitgestaltet und ausgehandelt werden. Die kritische Migrations- und Grenzregimeforschung hat sich bislang primär mit dem Regieren der Migration im Kontext von Flucht, irregulärer sowie Arbeitsmigration beschäftigt (vgl. Heimeshoff et al. 2014; Hess/Kasparek 2010). Auf die Praxis der Migration durch Heirat und die Verschränkung des Grenzregimes mit der Institution Ehe wurde noch nicht explizit der Fokus gelegt. Trotzdem zeigen Studien im Bereich von border control und Visumsvergabe (vgl. Infantino 2014b; Scheel 2017) sowie zu border struggles, Transit und Migrationsrouten (vgl. Kastner 2014; Tsianos/Kuster 2013: 59), gerade von Migrantinnen, die zum Beispiel zunächst über Sexarbeit oder Care-Arbeit mobil werden (vgl. Andrijasevic 2010; Hess 2005), dass die Institution Ehe im Grenzregime sowohl als Instrument des Regierens als auch als Migrationsstrategie durchaus eine wichtige Rolle einnimmt. Mit dieser Arbeit möchte ich des Weiteren zu aktuellen Debatten um geschlechteranalytische Perspektivierungen in der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung beitragen. Gerade im Feld von ›Migration und Heirat‹ bestand die The-
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matisierung von Geschlecht bisher primär darin, den Fokus auf Frauen und deren Handlungsmacht und Strategien in der Migration zu richten. Auch in anderen Bereichen der Arbeitsmigration wie der Sexarbeit oder Domestic und Care work wurden diese als spezifisch ›weibliche‹ Migrationen erforscht. Mittlerweile entstehen immer mehr Arbeiten, die vor allem die (Wieder‑)Herstellung, das Gemachtwerden und Gewordensein von Geschlecht und Sexualität innerhalb des Grenzregimes – sowohl diskursiv als auch in alltäglichen Praktiken – in den Fokus der Analyse stellen (vgl. Anderson/Andrijasevic 2009; Hess 2013; Lubhéid 2002; Tsianos/Kuster 2013). An dieses konstruktivistische Verständnis von Geschlecht möchte ich anknüpfen: Mir geht es bei einer genderanalytischen Perspektivierung in dieser Arbeit weniger darum, den Fokus speziell auf Frauen zu richten, zumal dabei die Männer, die diesen Migrationsweg nutzen (30 Prozent), unsichtbar bleiben würden, sondern vielmehr darum, Prozesse des doing gender, also die Konstruktion und Konstitution von Geschlecht, im Regieren der Migration durch Heirat zu untersuchen. Folgende Fragen leiteten mich in der Durchführung dieser Forschung an: Welche Akteure sind am Regieren der Migration durch Heirat beteiligt und in welcher Form? Zu welchen Verbindungen, Konflikten und Synergien kommt es zwischen diesen Akteuren? Welche Diskurse, Praktiken, Politiken, Materialitäten und Institutionen werden im Regieren der Migration durch Heirat wirkmächtig und vor allem wie geschieht dies? Was sind die Effekte? Des Weiteren stelle ich folgende Fragen an das Feld: Wie werden Grenze, Mobilität und Ehe in Begegnungen zwischen Migrant_innen und Akteuren des Regierens ausgehandelt und umkämpft? Welche Normen und Rationalitäten werden dabei (wieder) hergestellt, stabilisiert und auch durchbrochen? Welche Effekte und Auswirkungen hat die verstärkte staatliche Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ auf die Situation von Menschen, die diesen Migrationsweg nutzen? Wer sind die ›nachziehenden Ehegatten‹ und insbesondere wie werden sie dazu gemacht? Welchen Anrufungs-, Bezeichnungs-, Kategorisierungsprozessen sind sie ausgesetzt und wie gehen sie damit um? Zu welchen Subjektivierungen und Aneignungen, aber auch Kämpfen, widerständigen Praktiken und Bewegungen des Fliehens und Entgehens kommt es? Um diese Fragen zu beantworten wurde ein ethnographischer Ansatz gewählt, der auf Auseinandersetzungen, Konflikte und Aushandlungen fokussiert, die in Institutionen und Behörden zwischen Akteuren des Regierens sowie Menschen, die das Einreiseverfahren durchlaufen, in alltäglichen Situationen stattfinden. Diese Perspektive ermöglicht die Herstellung von Politiken, die zumeist auf einer abstrakten Makroebene verortet wird, auf einer Alltags- und Subjekt-Ebene zu beobachten und zu analysieren. Die ethnographische Forschung wurde primär an unterschiedlichen Orten in Marokko, aber auch in Deutschland durchgeführt.
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1.2 D ie G eschichte von A sija und A nes : das F orschungsdesign 4. November 2014. Es ist früher Abend und wir sitzen in einem Café mit Blick auf das Meer an der Strandpromenade in Mohammedia, einer kleinen Stadt zwischen Rabat und Casablanca. Asija 5 trägt wie immer ihre rote, schmale Kunststoffbrille und ein buntes Kopftuch. Jedes Mal, wenn eine von uns einen Witz macht und wir lachen, schlägt sie mit mir ein. Vor uns stehen ein Milchkaffee und ein Orangensaft. Asija hat extra noch zwei kleine Kuchen mitgebracht. »Asija, ich habe eine Überraschung für dich!«, unterbreche ich sie. Sie schaut mich fragend an. »Letzte Woche habe ich in München einen Mann getroffen und er hat mir das hier für dich gegeben«, erkläre ich ihr. Ich hole die kleine Schachtel mit der goldenen Schleife aus meinem Rucksack und gebe sie ihr. Sie schaut skeptisch und erklärt mir verwundert, dass sie doch nur Anes in München kenne. Als sie den Deckel öffnet, entdeckt sie zwei Anhänger darin: ein goldenes A und ein Amulett, das aussieht wie eine Sonne, mit einem Kreis aus Perlen und in der Mitte arabischer Kalligraphie. Sie schaut mich an und fragt: »Ist das von Anes?« Nun lacht sie. Sie erzählt, dass sie von unserem Telefonat gewusst habe. Sie hatte ihm meine Nummer gegeben, weil die beiden Fragen zum Visum hatten. Aber Anes habe nichts davon gesagt, dass er mir etwas für sie mitgeben würde. Ich überreiche ihr auch gleich noch die 200 Euro, die er mir ebenfalls mit auf den Weg gegeben hat, da Überweisungen nach Marokko immer gebührenpflichtig sind. Asija wirkt erfreut und traurig zugleich. Sie beginnt von den letzten Wochen zu erzählen. Wie schlimm es war, als der Antrag für ein Besuchsvisum abgelehnt wurde und dass sie nicht mehr wüssten, was sie tun sollen. Sie verstehe nicht, warum Deutschland sie nicht einreisen lasse. Sie würde doch nichts Schlechtes machen, sie möchte nur mit Anes zusammen sein. Sie habe viel geweint in letzter Zeit. Sie warte nun schon so lange. Sie kennen sich seit eineinhalb Jahren und sprechen seitdem jeden Tag miteinander. »Ich lebe nicht in Marokko, ich lebe mit Anes«, sagt sie. Immer wenn er von der Arbeit zurückkommt, schalte er Skype an und sie blieben den ganzen Abend zusammen online. Sie sei dabei, wenn er zu Abend isst oder fern sieht. Vor Kurzem sei er zu Freunden nach Köln gefahren und selbst dort habe er sie dazu geschaltet. Sie wisse nicht mehr, was sie tun sollen, und sie habe Angst. Ihr schießen Tränen in die Augen und sie entschuldigt sich im gleichen Moment. Sie habe zu Anes gesagt, dass sie sich eine Sache von Herzen wünsche: Ihn einmal zu berühren. Sie möchte einfach neben ihm sein, so wie sie jetzt neben mir ist, und ihn berühren. Wir sitzen später noch zusammen auf dem Sofa bei ihr zuhause im Wohnzimmer und skypen mit Anes, der sich zu diesem Zeitpunkt in seiner Wohnung in einem Vorort von München befindet. Die beiden sprechen untereinander Arabisch, Anes und ich Deutsch und Asija und ich Französisch. Sie fragt ihn, was auf dem Amulett stehe. Er antwortet: »Bismillah« – im Namen Gottes. Er fragt, was es bei uns heute 5 Alle Personen, die in dieser Arbeit nur beim Vornamen genannt werden, wurden anonymisiert. Auch einige der Wohnorte der Protagonist_innen wurden durch andere Ortsnamen ersetzt.
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zum Abendessen gebe und wie es ihrer Familie gehe. Anes kennt im Gegensatz zu mir Asijas Mutter, Schwestern und Brüder nur über Skype. Er erzählt, dass er beim Standesamt war, um nun ein Heiratsvisum zu beantragen, aber es sei sehr kompliziert und sie bräuchten wieder viele Dokumente. Ob ich nicht einfach bei der Familie in Mohammedia bleiben und Asija meinen Pass geben könne, fragt Anes mit einem Augenzwinkern. Wir malen uns aus, wie es wäre, Asija in meinem Rucksack beim Rückflug heimlich mitzutransportieren. Ich ziehe mich nun zurück, lasse die beiden für sich und mich wieder von den arabischen Bollywood-Serien berieseln, die hier den ganzen Abend laufen. Während die beiden skypen, sprechen sie manchmal auch gar nicht und Asija blickt einfach minutenlang in die Kamera. Gegen halb zwölf verabschiedet sie sich von Anes und bringt mir eine Decke. Wir machen den Fernseher aus und schlafen. 27. November 2014. Drei Wochen nach meinem Besuch in Mohammedia bin ich wieder mit Anes in einem türkischen Restaurant im Bahnhofsviertel in München verabredet. Er hat für uns Linsensuppe und Iskender Kebab bestellt. Ich habe dieses Mal eine Tasche von Asija im Gepäck, die ich kurz vor meiner Abreise nach Deutschland noch bei ihr in Mohammedia abgeholt hatte. Als ich ihn frage, wie es ihm geht, antwortet er: »Nicht so gut.« Es mache ihm zu schaffen, dass Asija nicht an seiner Seite sei und sie jeden Tag nur über Skype kommunizierten. Ich übergebe ihm die Tasche. »Soll ich jetzt aufmachen?«, fragt er und hat wieder ein Leuchten in den Augen. Er packt zunächst die blaue Mappe aus, in der sich die Dokumente befinden, die sie für die Beantragung des Heiratsvisums brauchen. Asija hatte sich beeilt noch alle Unterlagen vor meiner Abreise zusammen zu bekommen, um sie mir mit nach Deutschland zu geben. Anschließend zieht er eine weitere Tüte aus der Tasche, die mehrmals mit Tesafilm zugeklebt ist. Als er hineinschaut, fängt er an zu lachen. Ich frage, was darin sei, doch er grinst nur und meint: »Das kann ich nicht sagen.« Als nächstes packt er eine silberne Kette aus, auch mit einem A-Anhänger. Asija hat diesen Anhänger über Jahre getragen, jetzt hat sie ihn mit dem goldenen A von ihm getauscht. Er hängt sie sich um den Hals. In einem weiteren Päckchen befinden sich ein Schlüsselanhänger sowie ein Parfüm mit dem Namen »Pure Oudi«. Wir probieren es aus und der Duft löst bei mir sofort Erinnerungen an die Souks – die Märkte – in den marokkanischen Städten aus. Anes riecht diesen Duft vielleicht zum ersten Mal, er war noch nie in Marokko. Und Asija war noch nie in Deutschland. Sie kennen sich nun schon seit fast zwei Jahren und haben sich noch nie berührt. Aber wie und warum sind Asija und Anes in diese Situation geraten? Dass sie seit fast zwei Jahren eine Beziehung führen, die sich auf virtuellen Kontakt beschränkt und sie nun trotzdem ihre Heirat in die Wege leiten? Dass ich als Forscherin meine Reisen dazu nutze, um Dokumente, Geschenke und Geld zwischen Marokko und Deutschland hin- und her zu transportieren? Und warum erzähle ich diese Geschichte zu Beginn dieses Buches? Kennengelernt haben sich die beiden im Internet – auf einer Dating-Plattform für muslimische Nutzer_innen. Asija sagt, dass sie sich auf dieser Seite nicht registriert habe, um zu chatten, sondern wirklich um jemanden zu finden, den sie heiraten könne. »Ich bin niemand, der oft rausgeht und zuhause habe
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ich Internet und auch Zeit«, erklärt sie mir. Schon nach einer Woche hat sie online Anes getroffen. Kurz darauf haben beide ihr Postfach geschlossen, um keine weiteren Anfragen mehr zu erhalten. Das ist mittlerweile zwei Jahre her und seitdem treffen sich die beiden täglich, oft stundenlang – allerdings nicht physisch an einem Ort, sondern nur virtuell. Asija sitzt in Marokko vor ihrem Laptop, Anes in Deutschland. Ihr Antrag auf ein Besuchsvisum für Asija nach Deutschland war erfolglos. Der Grund für ihre Einreise sei nicht ausreichend gewesen, so das Konsulat. Für ein Paar, bei dem ein_e Partner_in nicht nach Europa einreisen kann, würde dies bedeuten, dass der oder die andere nach Marokko reist, um sich zu sehen. So war es bei allen anderen Protagonist_innen dieser Studie der Fall. Anes und Asija sind jedoch mit gleich zwei Grenzregimen konfrontiert, die es ihnen unmöglich machen, sich physisch an einem Ort zu treffen, die sie beide immobilisieren. Anes lebt zwar seit über zehn Jahren in Deutschland, besitzt aber nur seine irakische Staatsbürgerschaft. Mehrere Male hat er bereits versucht, ein Visum für Marokko zu beantragen, doch auch das wurde ihm ohne Begründung verwehrt. Das heißt, die einzige Möglichkeit, die ihnen bleibt, um sich in Deutschland zu treffen, wenn Asija nicht auf irregulärem Wege einreisen möchte, ist zu heiraten. Das Beispiel von Anes und Asija macht deutlich, dass die Praxis der Migration durch Heirat sowie deren staatliche Regulierung sich nicht verstehen lassen, indem nur Fragen nach Migration und Grenzen gestellt werden. Auch die Institution Ehe muss dabei in den Blick genommen werden: eine Institution, die bestimmte Formen und Praktiken von romantischer Liebe, Heterosexualität, Paarbeziehungen und Geschlechterrollen normalisiert und naturalisiert. Anes und Asija nutzen die Institution Ehe, um gemeinsam an einem Ort sein und ihre Vorstellung von einer heteronormativen Zweierbeziehung in Deutschland leben zu können. Dabei erfüllen sie fast alle Kriterien eines romantischen Eheideals: Sie besitzen die gleiche Religion, sind beide gläubig, verkörpern eine heterosexuelle Beziehung, er kann sie finanzieren und ist älter als sie. Trotzdem überschreiten sie eine territoriale Grenze, deren Überwindung für die beiden aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft nicht vorgesehen ist. Heirat wird hier zur Migrationsstrategie, zu Mobilitätskapital, um Grenzziehungen und Ungleichheiten im Zugang zu Mobilität zu überwinden. Für Asija und Anes ist die Grundlage für eine Partnerschaft ohnehin eine religiöse Eheschließung, doch wird hier die standesamtliche Heirat trotzdem auch zu einem Mittel zum Zweck. Asija und Anes haben mich als Forscherin mit ihren Migrations- und Heiratsprojekten selbst immer wieder in meinem Denken und meinen Kategorisierungen vor Herausforderungen gestellt – die Gleichzeitigkeit von Brüchen mit und der Erfüllung von Normen riefen bei mir zunächst scheinbare Widersprüche und Konflikte hervor: einerseits das Überschreiten nationalstaatlicher Grenzziehungen durch die Suche eines Partners beziehungsweise einer Partnerin im Internet und damit auch der Bruch mit normativen Vorstellungen eines romantischen Kennenlernens und einer Nahbeziehung, andererseits das Ausleben und die permanente Herstellung von romantischer Liebe on- und offline – wobei ich als Forscherin am Ende selbst daran beteiligt war – mit dem Ziel einer klassischen heteronormativen Ehe nach islamisch-re-
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ligiösen Regeln. Bei keinem Paar, das ich begleitet habe, wurde die Verschränkung der Institution Ehe mit dem Grenzregime so deutlich. Ihre Situation ist kein Einzelfall, Migration durch Heirat ist eine gängige Praxis, innerhalb des Grenzregimes Bewegungsfreiheit zu erlangen. Ein Ziel dieses Buches ist es, durch das Verstehbarmachen der Geschichte von Asija und Anes und anderer Protagonist_innen zu zeigen, dass in diesem Feld sowohl Grenzregime als auch die Institution Ehe, vor allem in ihrer Verschränkung, produktiv sind und Subjekte erschaffen. Es geht in dieser Studie also nicht nur darum, wer die sogenannten ›nachziehenden Ehegatten‹ sind, sondern vielmehr, wie sie dazu gemacht werden. Um dieser Frage nachzugehen, ist es nicht nur wichtig, die Hintergründe, Biographien und Strategien dieser Menschen zu kennen, sondern auch auf die Auseinandersetzungen und Konflikte mit Akteuren des Regierens zu blicken, in denen Anrufungs- sowie Subjektivierungsprozesse stattfinden, aber auch Bewegungen des Fliehens und Entgehens zu beobachten sind. Für die Erforschung dieser Multiperspektivität ist ein methodologischer Turn hin zu ethnographischen Grenzregimeanalysen hilfreich. Bei diesem von der Transit Migration Forschungsgruppe entwickelten Forschungsdesign handelt es sich um ein methodologisches Konzept, das Grenze im Sinne eines doing border als »ein dynamisches Konflikt- und Aushandlungsverhältnis« (Hess/Tsianos 2010: 248) analysiert. Der Begriff des Regimes ist dabei – dem Soziologen Guiseppe Sciortino (2004) folgend – als ein »mehr oder weniger ungeordnetes Ensemble von Praktiken und Wissen-Macht-Komplexen« (Karakayali/Tsianos 2007: 13) zu verstehen. Eine Regimeanalyse bricht mit der Vorstellung eines klaren Subjekt-Objekt-Verhältnisses zwischen Migrant_innen und Akteuren der Migrationskontrolle und rückt vielmehr die Auseinandersetzungen, Konflikte und Kämpfe zwischen diesen in den Blick, die in Form von Regulationen von Migration produktiv werden (vgl. ebd.: 14). Das ›Regieren der Migration‹ bezeichnet – an Foucaults Konzept der Gouvernementalität anknüpfend – »einen neuen gouvernementalen Politikstil, der auf Steuerung und Aktivierung beruht anstatt auf repressiver Kontrolle« (Andrijasevic et al. 2005: 347). Das Regieren der Migration besteht weniger in einer totalen Kontrolle oder gar reinen Verhinderung von Mobilität (wie es die Metapher der »Festung Europa« oftmals suggeriert), sondern zeigt sich vielmehr als, ebenfalls unter Bezugnahme auf Sciortino, »Etablierung antizipativer Strategien gegen die flexiblen, instabilen, temporären Taktiken des Grenzübertritts« (Hess/Tsianos 2010: 250). Migrationspolitiken werden also in einer ethnographischen Grenzregimeanalyse aus einem sozialkonstruktivistischen Ansatz heraus und in ihrer Wechselwirkung mit Bewegungen der Migration untersucht (vgl. ebd.: 253). Die von mir im Rahmen meiner Doktorarbeit durchgeführte ethnographische Grenzregimeanalyse ist folgendermaßen aufgebaut: Startpunkt bildete eine Sprachschule in Tanger, einer Stadt im Norden Marokkos, wo ich Menschen traf, die dort entweder Deutsch lernten, um später ein Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ nach Deutschland zu beantragen, oder die in die Organisation und Durchführung der Deutschkurse für ›nachziehende Ehegatten‹ involviert waren. Mich leiteten da-
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bei zunächst die aktuellen Auseinandersetzungen um die Sprachnachweispflicht im bundesdeutschen Kontext sowie die geopolitische Eingrenzung ›Marokko-Deutschland‹ an. Durch die Interviews und Gespräche in der Sprachschule wurde ich auf neue Akteure und Institutionen, sowie Diskurse und Politiken aufmerksam, die Teil des Regierens der Migration durch Heirat sind. Im Sinne eines tracing und tracking (vgl. Marcus 1995) weitete sich die Forschung nicht nur geographisch – in unterschiedliche Städte in Marokko sowie in Deutschland als transnationales Forschungsfeld – aus, sondern ich bewegte mich auch, der Idee des studying through (vgl. Shore/Wright 1997: 14) folgend, durch unterschiedliche Institutionen – Sprachschulen, Goethe-Institute, Konsulate, Ausländerbehörden, Standesämter, Gerichte et cetera –, um im Sinne von Wright und Shore die Mehrschichtigkeit des Regierens zu erforschen (vgl. ebd.). Auch Asija habe ich im Goethe-Institut Casablanca kennengelernt. Ich bin ihr sowohl in ihren privaten Alltag gefolgt, zu ihrer Familie und ihrem Wohnort, als auch in Institutionen und Behörden. Ich war nicht nur im Goethe-Institut in den Deutschkursen und am Prüfungstag dabei, als sie den Deutschtest hatte, sondern habe im Konsulat geforscht, wo sie ihren Antrag eingereicht hat, sowie in der Ausländerbehörde in München, wohin ihr Dossier schließlich weitergeleitet und ihr Partner interviewt wurde. Auch stand ich in Kontakt mit dem Standesamt und dem Oberlandesgericht, die in die Eheschließung in Deutschland involviert waren. Dieses tracing and tracking ermöglicht, nicht nur die individuellen Migrationsprojekte und -strategien zu erforschen, sondern den Blick auf die Auseinandersetzungen, Konflikte und Aushandlungen zwischen Migrant_innen und Akteuren der Migrationskontrolle zu richten. Insgesamt bin ich über drei Jahre unterschiedlichen Akteuren in Marokko und Deutschland gefolgt. Eine ethnographische Grenzregimeanalyse, die Aushandlungen und Konflikte um Politiken, Grenze und Mobilität durch eine Vielzahl von Akteuren in den Blick nimmt, eröffnet neue kritische Perspektiven auf diese spezifische Migrationspraxis und deren Kontrolle und leistet damit nicht zuletzt auch einen wichtigen Beitrag zur aktuellen politischen Debatte.
1.3 D ie geopolitische E ingrenzung ›M arokko –D eutschland ‹ Marokko und Deutschland bilden eine geographische Eingrenzung der im Rahmen dieser Studie durchgeführten Forschung. Bisher neigten Studien im Feld ›Migration und Heirat‹ dazu, sich auf einen spezifischen ›ethnokulturellen‹ Raum zu konzentrieren und im klassischen Verständnis von Ethnographie, die ›ethnokulturellen‹ Muster der Migration herauszuarbeiten. In dieser Studie soll aufgrund der Gefahr eines methodologischen Nationalismus sowie Kulturalismus, wie sie »ethnic group research designs« (Glick Schiller 2008) zumeist mit sich bringen, der Fokus der Ethnographie trotz der geographischen Eingrenzung nicht auf Marokko und ›seiner Bevölkerung‹ liegen, sondern vielmehr auf dem Grenzregime selbst und den damit einhergehenden transnational aufgespannten Aushandlungen, Konflikten und Bewegungen. Trotz-
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dem musste für die Realisierung dieses ethnographischen Forschungsprojekts eine geographische Eingrenzung vorgenommen werden. Dass die Wahl auf Marokko fiel, hing sowohl mit praktischen Gründen zusammen wie bereits vorhandenen Netzwerken und Kontakten, als auch mit geopolitischen Spezifika, die bestimmte Effekte mit sich bringen und die Teil des Erkenntnisinteresses dieser Studie sind: Zunächst sind Menschen aus als ›muslimisch-arabisch‹ kategorisierten Staaten noch einmal von spezifischen rassistischen, anti-muslimischen Diskursen betroffen, wenn sie in Berührung mit dem europäischen Grenzregime kommen. Auch wird dieser Gruppe durch die Kategorisierung Marokkos als ›visumspflichtiger Drittstaat‹ ein untergeordneter Platz in der globalen Hierarchie im Zugang zu Mobilität zugewiesen. Sowohl der orientalistische Blick auf ›die Anderen‹ als auch die Hierarchisierung innerhalb des Grenzregimes stehen unter anderem in Zusammenhang mit der kolonialen Vergangenheit. So ist es für die Analyse in dieser Studie auch relevant, dass es sich bei Marokko um einen postkolonialen Staat handelt und dadurch die dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse eng verwoben sind mit jenen in Europa und Deutschland: Marokko war formal keine Kolonie, sondern ein sogenanntes ›Protektorat‹. Es war im Jahr 1912, als das französisch-spanische Protektorat offiziell errichtet wurde.6 Auch Deutschland war unter Kaiser Wilhelm II. Anfang des 20. Jahrhunderts bei der kolonialen Aufteilung Marokkos beteiligt, verlor jedoch 1905 den Anspruch auf einen Zugang zu Marokko gegenüber Frankreich (vgl. Becker/Gruben 2014). Auch waren es die Reichswehr sowie deutsche Fabrikanten, die 1921 an Spanien Senfgas-Bomben – eine der erste chemischen Waffen – lieferten, um den Widerstand der Menschen im nördlichen Rifgebirge aus der Luft niederzuschlagen (vgl. Oltmer 2007). Die koloniale Besetzung Marokkos durch Spanien und Frankreich bestand vor allem in der Zerstörung bestehender Strukturen und der Etablierung eines neuen umfassenden Administrationsapparats, wodurch die gesamte Bevölkerung – auch zuvor unabhängige Gruppen – in die Staatsform und damit einhergehenden Regierungsweisen eingeschlossen wurden. Auch die Verbreitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse und der Ausbau der Infrastruktur waren Ergebnis der kolonialen Herrschaft und führten zu einer starken Land-Stadt-Mobilität. Die Idee der Verwaltungsform des ›Protektorats‹ – was paradoxerweise etymologisch den Begriff des ›Schutzes‹ (protéger = schützen) im Namen trägt – war: »complete control, but no direct rule« (Miller 2013: 90). Um diese die lokale Bevölkerung unterdrückende Regierungsform durchzusetzen, war – wie auch in anderen kolonisierten Territorien weltweit – eine Wissensproduktion über das ›unzivilisierte‹ und ›rückständige‹ Marokko notwendig. Als Legitimation wurde die Vorstellung herangezogen, dass ohne die Unterstützung der Protektoratsmächte Marokko nicht in der Lage sei, zu einem modernen Staat zu werden (vgl. ebd.: 118). Damit ging auch die Konstruktion der Figur der ›unterdrückten, muslimischen Frau‹ 6 Die spanische Zone bestand aus der Westsahara im Süden sowie einem Bereich nördlich des Rifgebirges, während der Rest und damit der Großteil des Landes unter französischer Verwaltung stand. Die Hafenstadt Tanger im Norden wurde zur internationalen Zone erklärt.
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einher, die vor dem ›gefährlichen, muslimischen Mann‹ beschützt und befreit werden müsse (vgl. Mernissi 1987: 7). Diese zu dieser Zeit produzierten rassistischen Diskurse über die ›Anderen‹ sind bis heute im Grenzregime wirkmächtig, wie sich später in den Kapiteln zu den Institutionen des Goethe-Instituts sowie des Konsulats zeigen wird. Die Kulturwissenschaftlerin Assia Benadada beschreibt die französische und spanische Kolonisierung Marokkos als einen Schock für die Bevölkerung, der zu einem kollektiven Bewusstsein geführt habe, sich der kolonialen Herrschaft zu widersetzen (vgl. Benadada 1999: 2). 1956 erlangte Marokko die Unabhängigkeit, doch das Land sowie seine Beziehungen zu Europa sind bis heute von dieser Zeit geprägt. Der europäische Kolonialismus und die damit einhergehenden weltweiten Umwälzungen sind sowohl für kolonisierte als auch kolonisierende Gesellschaften bis heute konstitutiv. Die Geschichte Afrikas und Europas – sowie Deutschlands und Marokkos – sind eng miteinander verflochten genauso wie aktuelle Beziehungen zwischen den Kontinenten von der gemeinsamen kolonialen Vergangenheit vorstrukturiert werden (vgl. Hansen/Jonsson 2014). Diese Kräfteverhältnisse wirken sich auch auf Migrationspolitiken aus. Marokko wird oft als »Tor zu Afrika« bezeichnet und repräsentiert die Grenze zum ›Orient‹. Diese Studie bricht mit diesen Grenzziehungen. Zwar lassen sich sicher Unterschiede auf den jeweiligen Seiten des Mittelmeers finden, doch aufgrund der verflochtenen Geschichten sowie der gemeinsamen Erfahrungen durch Kolonialismus, Kapitalismus und Globalisierung lassen sich hier auch viele Gemeinsamkeiten und Parallelen finden, immer verwoben mit ungleichen Machtverhältnissen und Herrschaftsstrukturen. Gerade auch Heiratsrituale und -praktiken – ein Phänomen, das zumeist als rein ›privat‹ und ›kulturell‹ gesehen wird – unterscheiden sich einerseits in Marokko selbst regional und weisen gleichzeitig weltweit ähnliche Muster auf. Auch das Heiraten ist nicht ausschließlich auf Religion oder Kultur zurückzuführen, sondern ist vor allem auch durch staatliche Regulierung geprägt. Auf diese These wird im Laufe des Buches noch näher eingegangen. Ein weiterer Faktor für die geopolitische Eingrenzung ist der Umstand, dass der transnationale Raum zwischen Marokko und Deutschland durch unterschiedliche Migrationsbewegungen und -erfahrungen in der Vergangenheit geprägt ist. Marokko war eines der Länder, aus denen Deutschland in den 1960er Jahren Arbeiter_innen anwarb. Das Anwerbeabkommen wurde 1963 unterschrieben und markiert den Beginn von Migrationsbewegungen zwischen diesen beiden Ländern. 2013 wurde in Deutschland mit einer Reihe von kulturellen Veranstaltungen das 50‑jährige Jubiläum der marokkanisch-deutschen Beziehungen unter der Schirmherrschaft des marokkanischen Königs Mohammed VI. gefeiert. Die Mehrheit der marokkanischen Migrant_innen, die in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland eintrafen, kamen ursprünglich aus dem Norden Marokkos, besonders der Region Oriental, zu der unter anderem die Städte Nador und Berkane gehören (vgl. Berriane 2003). Bis heute gibt es verstärkt enge Beziehungen und Mobilität – auch ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ – zwischen dem Norden Marokkos und vor allem deutschen Städten im Ruhrgebiet (vgl. Pott et al. 2014). Diese Ausführungen zur Migrationsgeschichte zwischen Marokko und Deutschland sollen jedoch nicht die Vorstellung reproduzieren, dass
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es sich bei ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ immer um eine Kettenmigration handeln müsse. Viele der Menschen, die sich in solchen transnationalen Beziehungen befinden, gerade aus den urbanen Zentren Marokkos, haben ihre_n Partner_in unabhängig von diesen Verbindungen zu Marokkaner_innen in Deutschland gefunden, sondern vielmehr im Internet oder während touristischer oder beruflicher Aufenthalte des_der deutschen Partner_in in Marokko. Zuletzt sei auch auf die quantitative Relevanz Marokkos hingewiesen. So befindet sich Marokko nach dem Migrationsbericht von 2014 in der Kategorie ›Familiennachzug‹ an neunter Stelle aller ›Drittstaaten‹, aus denen die meisten Migrant_innen über den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ in die Bundesrepublik einreisen und von allen afrikanischen Staaten an erster Stelle (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2015). Jedes Jahr werden circa 1.500 Visa zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ von Marokko nach Deutschland ausgestellt. Hinzu kommen diejenigen, die sich um ein Visum bemühen, dieses jedoch abgelehnt wird, sowie Personen, die diesen Weg der Einreise nutzen möchten, aber die Deutschprüfung nicht schaffen. Ich sehe in der Eingrenzung auf Marokko vor allem die Herausforderung, die diskursive Herstellung Marokkos innerhalb des Grenzregimes zu analysieren sowie die geographischen und politischen Implikationen für die Heirats- und Migrationsprojekte der Protagonist_innen.
1.4 A ufbau der A rbeit Den roten Faden dieses Buches bilden die Auseinandersetzungen und Konflikte zwischen Menschen aus Marokko, die das Einreiseverfahren des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ durchlaufen und Akteuren der Migrationskontrolle, die alle am Regieren der Migration durch Heirat beteiligt sind und damit an der (Wieder-)Herstellung und Stabilisierung, aber auch Veränderung von Diskursen, Politiken und Praktiken des Grenzregimes. Diesen Aushandlungen wird entlang dreier politischer Instrumente der staatlichen Regulierung dieser Migrationspraxis gefolgt: der Heiratsurkunde, dem Sprachnachweis und dem Visum. Bevor ich zu den empirischen Kapiteln komme, werde ich zunächst auf die theoretische sowie methodologische Perspektivierung dieser Studie eingehen. Wie Pankreiter und Kraler es auf den Punkt bringen: Theorien sind nicht nur explikativ, sondern leiten auch den Forschungsprozess an (vgl. Kraler/Parnreiter 2005). Die theoretische Rahmung bringt also bestimmte Implikationen für den Forschungsprozess mit sich, die ich in diesem Kapitel ausführen und damit auch transparent machen möchte. Ich werde dabei zum einen noch einmal ausführlicher auf den Perspektivwechsel in dem Forschungsfeld ›Migration und Heirat‹ eingehen, der durch den Einsatz des Konzepts des Regimes möglich wird, und zum anderen den Blick der Autonomie der Migration als Perspektive und Methode einführen. Anschließend werde ich in diesem Kapitel herausarbeiten, was eine geschlechteranalytische sowie intersektionale Perspektivierung in der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung für ein traditionelles
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Forschungsfeld einer frauenbezogenen Migrationsforschung wie das der ›Migration und Heirat‹ bedeuten kann und warum ich diese für wichtig halte. Zuletzt werde ich den Forschungsprozess, die Entstehung des Feldes, sowie die Methodik dieser Studie darlegen. Es folgen drei empirische Kapitel: ›Die Heiratsurkunde‹, ›Der Sprachnachweis‹, ›Das Visum‹. Bevor Menschen aus ›visumspflichtigen Drittstaaten‹ mit dem europäischen Grenzregime in Berührung kommen und zum Beispiel ein Visum beantragen, machen sie unterschiedliche Lebenserfahrungen und durchlaufen bereits andere Institutionen und Behörden. Die Analyse dieses Kontexts ist Teil des Kapitels ›Die Heiratsurkunde‹. Durch die Fokussierung bisheriger Forschungen auf die Zeit nach der Einreise beziehungsweise auf die Aufnahmeländer wird dieser Bereich oft vernachlässigt, hat sich jedoch während meiner Forschung in Marokko als konstitutiv für das weitere Migrationsverfahren herausgestellt. Gerade um herauszuarbeiten, wie Menschen zu ›nachziehenden Ehegatt_innen‹ gemacht werden, möchte ich zunächst von einigen Protagonist_innen die individuellen Beweg/gründe hinter ihren Heirats- und Migrationprojekten aufzeigen und diese in den Kontext neoliberaler Globalisierung in einem postkolonialen Staat setzen. In der Analyse der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Marokko und die damit einhergehende Situation für junge Menschen zeigt sich, dass sowohl Heirat als auch Migration zu sozialer Mobilität führen können, und dass beide innerhalb des Grenzregimes zu widerständigen Praktiken werden. Auch der marokkanische Staat hat ein Interesse die Institution Ehe zu regulieren und zu kontrollieren. Dadurch dass zumeist keine Möglichkeit besteht, vor der Heirat nach Deutschland einzureisen, findet die Eheschließung fast immer in Marokko statt. Der bürokratische Prozess des Heiratens zeigt, dass die Institution Ehe in diesem Zusammenhang zu einem die ›nationale Einheit‹ stabilisierenden Instrument wird sowie zu einer Transnationalisierung des Nationalstaats beiträgt. Es folgt im nächsten Kapitel die Analyse eines weiteren politischen Instruments: der Sprachnachweis. Um die Umsetzung der Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ und die damit einhergehenden Aushandlungen und Konflikte in Marokko zu verstehen, müssen zunächst die Logiken und Rationalitäten in politischen Debatten um den Sprachnachweis in Deutschland analysiert und herausgearbeitet werden, die seit 2007 gilt und vor allem in vergeschlechtlichten sowie ethnisierten Diskursen um ›Integrationsverweigerung‹ und ›Parallelgesellschaften‹ sowie um die Bekämpfung von ›Zwangsehen‹ verhandelt wird. Den Effekten der Sprachnachweispflicht vor Europas Grenzen folgend stellt sich heraus, dass seit der Einführung zunächst ein neuer, umkämpfter Markt für die ›Ware Deutsch‹ entstanden ist, an dem sowohl Goethe-Institute, private Sprachschulen, als auch Einzelakteure beteiligt sind. In Institutionen in Marokko lassen sich auf lokaler Ebene Diskursverschiebungen beobachten: So ist das ›Integrationsparadigma‹ in den Deutschkursen im Goethe-Institut, aber auch in anderen Sprachschulen omnipräsent und wird tagtäglich thematisiert, ausgehandelt und (wieder) hergestellt, wobei sich dieses gerade in den sogenannten ›Vorintegrationskursen‹ mit einer Form der ›Hausfrauisierung‹ verschränkt. Wie wirkmächtig die Nützlichkeitslogik im Zusammenhang mit der Sprachnachweis-
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pflicht wird, zeige ich in den beiden darauffolgenden Kapiteln, in denen ich sowohl die durch den Sprachnachweis produzierte Vorsortierung sowie Aus- und Einschlüsse, als auch die Aneignungen und widerständigen Strategien der Menschen, die das Verfahren durchlaufen, analysiere. Insbesondere am Prüfungstag im Goethe-Institut materialisiert sich die Externalisierung des Grenzregimes in unterschiedlichen Praktiken und Objekten, wie ich in diesem Kapitel abschließend ausführen werde. Die Analyse der Sprachnachweispflicht und damit einhergehender Prozesse zeigt, dass der Sprachnachweis als politisches Instrument im Sinne des Prinzips des ›Fördern und Fordern‹ vor allem zur Machtausübung in Form von Disziplinierung sowie Aktivierung herangezogen wird. Bestimmte Gruppen, die innerhalb des Grenzregimes als ›unnütz‹ kategorisiert werden, werden durch die Sprachnachweispflicht von diesem Migrationsweg ausgeschlossen. Ein Großteil besteht zwar den Sprachtest, jedoch wird der Migrationsprozess über dieses Instrument extrem verzögert und ihnen während dem Verfahren spezifische Subjektpositionen zugewiesen und an ihre Eigenverantwortung für eine ›gelungene Integration‹ appelliert. In einem weiteren empirischen Kapitel geht es schließlich um das Visum, ebenfalls ein Instrument der staatlichen Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹. Zunächst werde ich das Visumsverfahren beschreiben, das bestimmte Techniken, Materialitäten und Praktiken der Kontrolle und Überwachung mit sich bringt, die Eingriffe in die Intimsphäre der Antragsteller_innen und biopolitische Zugriffe auf Wissen über diese ermöglichen: von der Kamera im Hof des Konsulats und das Fingerprint-Gerät am Schalter über einzureichende Dokumente und das Einspeisen in transnationale Datenbanken bis hin zu Befragungen und Überprüfungen. Dabei wird über Techniken der Verunsicherung Macht ausgeübt. Ob ein Visum vergeben wird oder nicht, hängt dabei nicht nur von Gesetzen und offiziellen Regulationen ab, sondern vielmehr auch von dem situierten bürokratischen Wissen und Alltagspraktiken von Behördenmitarbeiter_innen, nach denen Paarbeziehungen problematisiert und entweder als ›Scheinehe‹ oder als ›schützenswerte Ehe‹ kategorisiert werden. Dabei wird auch herausgearbeitet, zu welchen Ein- und Ausschlüssen dieses Wissen führt. In diesem Verfahren wird der_die Sachbearbeiter_in nicht nur zur_m ›Wächter_in der Grenze‹, sondern auch der ›schützenswerten Ehe‹. Die Konsulatsmitarbeiter_innen werden ebenfalls zu regierten Subjekten, wobei Entsandte durch ihre eigene Distanz zu den Antragsteller_innen hegemoniales Wissen, das Machtverhältnisse und Hierarchien aufrechterhält, reproduzieren und stabilisieren. Um diese Praktiken der Kontrolle und Überwachung im Zusammenhang mit dem ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ verstehbar zu machen sowie die Normalisierung des Konstrukts ›Scheinehe‹ zu hinterfragen, möchte ich das Verfahren an dieser Stelle durch eine kleine Genealogie des Konstrukts ›Scheinehe‹ in dem Zusammenspiel von Ehe, Mobilität und Staatsbürgerschaft einordnen und kontextualisieren. In diesen Praktiken der Kontrolle und Überwachung im Konsulat, die bis in die Intimsphäre der Antragsteller_innen reichen, finden sowohl Subjektivierungsprozesse im Sinne von Fremd- und Selbstregulierungen, aber auch situative Aushandlungen und Konflikte zwischen Antragsteller_innen und Akteuren des Regierens sowie widerständige Praktiken und Bewegun-
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gen des Entziehens und Fliehens statt. Am Beispiel zweier Antragsteller_innen, deren Beziehung problematisiert und weiteren Überprüfungen unterzogen wurde, zeige ich auf, wie sich diese widerständig gegenüber diesen hegemonialen Anrufungen und Regierungstechniken verhalten, sich diese aneignen, mit diesen brechen und sich diesen entziehen. Im Fazit werde ich die Ergebnisse der Analyse noch einmal diskutieren und in größere Zusammenhänge stellen sowie an aktuelle kultur- und sozialwissenschaftliche Debatten anknüpfen.
2 Zur Methodologie: das Regieren der Migration durch Heirat ethnographieren In diesem Kapitel werde ich aufbauend auf den bisherigen Forschungen im Feld ›Migration und Heirat‹ die methodologische Perspektivierung dieser Studie darlegen und diskutieren, warum ein regimetheoretischer Ansatz gewinnbringend ist und mit welchem Erkenntnisinteresse dieser einhergeht. Außerdem soll die aus diesem Ansatz resultierende Methodik sowie die Entstehung und Konstruktion des multiperspektivischen, multiskalaren sowie multilokalen Forschungsfelds dargestellt und der Forschungsprozess in seinen unterschiedlichen Aspekten reflektiert werden.
2.1 Warum eine regimetheoretische P erspektivierung? In dem Feld ›Migration und Heirat‹ sind vor allem zwei wissenschaftliche Bereiche für die vorliegende Studie relevant:7 Zum einen politik- und rechtswissenschaftlich verortete Forschungen, die den Fokus insbesondere auf Politiken und Regulationen in diesem Feld richten (vgl. Block 2016; Bonjour/de Hart 2013; D’Aoust 2013; Messinger 2012; Wray 2009), und zum anderen soziologische und kulturanthropologische Studien, in denen die Hintergründe, Motivationen, Praktiken und besonders auch die Handlungsmacht sogenannter ›Heiratsmigrantinnen‹ analysiert werden (vgl. Binah-Pollak 2016; Constable 2004; George 2005; Lauser 2004; Palriwala/Uberoi 2008; Piper/Roces 2003; Ruenkaew 2003), wobei der Fokus bisher fast ausschließlich auf Frauen lag.8 Letzteren Studien ist gemein, dass zwischen einer Mikro- und einer Makro-Ebene unterschieden wird, im Sinne einer individuellen – sprich migrantischen – sowie einer strukturellen – sprich politisch-ökonomischen – Ebene. Dabei wird zu7 Des Weiteren wäre der Bereich der Interkulturellen Kommunikation zu nennen und klassisch ethnologischen Studien, von denen ich mich mit meiner Herangehensweise jedoch abgrenze. Für einen Überblick vgl. Gutekunst 2013: 13 ff. 8 Eine Ausnahme bildet die ethnographische Studie »When women come first« von Sheba George, die sich mit dem Nachzug von Männern aus Indien zu ihren Frauen in die USA und damit einhergehenden neuen Geschlechterdynamiken beschäftigt (vgl. George 2005).
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meist das empirische Material für die Analyse der Perspektive der Migrant_innen erhoben, deren Praktiken als Reaktion auf eine Struktur konzeptualisiert werden, und das Politische und Ökonomische die Bedingungen, den Kontext des Handelns der Individuen bilden. Die Ergebnisse und Überlegungen aus diesen Forschungen werden auch in die vorliegende Studie einfließen und liefern wichtige Erkenntnisse. Jedoch soll mit der Unterteilung in ein ›Oben‹ – als statisch und determiniert – und ein ›Unten‹ – als antizipativ und reaktiv – gebrochen werden. Diese Binarismen oder divides zwischen Mikro und Makro möchte ich in dieser Studie nicht als selbstverständlich voraussetzen und forschend hinterfragen, wie es auch Maria Schwertl in Anlehnung an Bruno Latour und die Actor-Network-Theory fordert (vgl. Schwertl 2013b: 107). In Anschluss an Überlegungen von Michael Burawoy, der in der Einleitung des Sammelbands »Global Ethnography« über die Frage nachdenkt, wie sich das »Globale« ethnographieren lässt, gehe ich auch davon aus, dass globale Kräfte ebenfalls in sozialen Prozessen und alltäglichen Praktiken produziert werden (vgl. Burawoy 2000: 29). George Marcus schreibt im Zusammenhang mit seinem Konzept der multi-sited ethnography dazu, dass makrotheoretische Konzepte und Narrative von Weltsystemen zwar in einer solchen Forschung eine wichtige Rolle spielten, aber nicht einfach als kontextuelle Architekturen, die Subjekte rahmten: »Just as this mode investigates and ethnographically constructs the lifeworlds of variously situated subjects, it also ethnographically constructs aspects of the system itself through the associations and connections it suggests among sites.« (Marcus 1995: 96) Konkret bedeutet das für diese Studie, dass die zumeist als Makrostruktur konzeptualisierte rechtlich-politische Ebene in Nahaufnahmen praxeologisch auf ihren konstruierten Charakter hin erforscht und damit das doing policy, die Herstellung und Aushandlung von Politiken (vgl. Adam/Vonderau 2014; Shore/Wright 1997), in den Blick genommen wird. Dieser Ansatz wurde auch bereits in einigen politikwissenschaftlichen Studien verfolgt, die sich mit der staatlichen Regulierung von Migration durch Heirat beschäftigen (Alpes 2014; Infantino 2014b). Politiken verstehe ich dabei in Anlehnung an die Anthropology of Policy von Susan Wright und Cris Shore, die sich ebenfalls auf Konzepte von Foucault beziehen, als »not simply external, generalised or constraining forces, nor are they confined to texts. Rather, they are productive, performative and continually contested« (Shore/Wright 2011: 1). Diesem poststrukturalistischen Ansatz zu folgen, bedeutet Politiken in ihrer umkämpften und konflikthaften Herstellung zu betrachten, dabei eine Vielzahl von Akteuren und deren Beziehungen und Kräfteverhältnisse miteinzubeziehen und danach zu fragen, »wie sich bestimmte Vorstellungen und Politiken durchsetzen beziehungsweise naturalisiert werden, welche Elemente durch eine Politik miteinander in Beziehung gesetzt werden oder wie Staat(lichkeit) und Bürokratie in Mikro-Interaktionen erst hergestellt werden« (Gutekunst/Schwertl 2017: 88). Übertragen auf das Feld der Migration bedeutet dies den Blick nicht nur auf die Herstellung der Grenze ›von oben‹, sondern vor allem auch auf die border struggles zu richten – »those struggles that take shape around the ever more unstable line between the ›inside‹ and ›outside‹, between inclusion and exclusion« (Mezzadra/Neilson 2013: 13). Diese Herangehensweise bringt mit sich, die Herstel-
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lung und Aushandlungen von Politiken und Grenze durch Institutionen und Eliten immer auch in Wechselwirkung mit den Praktiken der Migration und den damit einhergehenden Dynamiken zu analysieren. In einigen Studien im Feld ›Migration und Heirat‹ wurden bereits sowohl die Perspektiven der Akteure der Migrationskontrolle als auch der Akteure der Migration in die Analyse miteinbezogen (vgl. Alpes 2013; Block 2016), letztere Perspektive jedoch vor allem wiederum im Sinne von Reaktionen und Umgangsweisen mit Politiken und Regulationen. In dieser Arbeit werde ich die Praxis der Migration nicht nur als eine Reaktion auf staatliche Kontrollen und Regulationen verstehen, sondern vielmehr als eine produktive Kraft, die diese Migrationspolitiken und die Grenze im Sinne eines doing border als »ein dynamisches Konflikt- und Aushandlungsverhältnis unterschiedlichster lokaler, regionaler, nationaler und über- bzw. transnationaler Akteure« (Hess/Tsianos 2010: 248) hervorbringt und formt. Deshalb liegt der Fokus der Analyse vor allem auf den Aushandlungen, Konflikten und Auseinandersetzungen zwischen sowohl Akteuren der Migration als auch Akteuren der Migrationskontrolle. Dieses Aufbrechen der in vielen kulturwissenschaftlichen Studien üblichen Trennung von Mikro- und Makro-Ebene sowie das komplexe Zusammenspiel von Mobilität, dem Überschreiten von Grenzen und den Versuchen der Kontrolle und Regulation dieser Bewegungen im Feld ›Migration und Heirat‹, lassen sich am besten mit dem Konzept des Regimes als analytische Perspektivierung fassen. Dieses Konzept hat spätestens seit den 1970er Jahren vor allem in den politikwissenschaftlichen Governance Studies, aber auch in den Kulturwissenschaften Konjunktur, und wird unterschiedlich definiert und eingesetzt. In der Global Governance-Forschung wird damit vor allem auf die zunehmende Bedeutung suprastaatlicher sowie transstaatlicher Akteure und Institutionen innerhalb eines komplexen Mehrebenensystems reagiert (vgl. Hess et al. 2018). In dieser Studie soll der Regime-Begriff zum Einsatz kommen, wie er von der Transit Migration Forschungsgruppe (2007) verwendet wurde. Regime wird dabei nicht wie im alltäglichen Sprachgebrauch im Sinne totalitärer Herrschaft definiert, sondern – unter Bezugnahme auf den Soziologen Giuseppe Sciortino – als ein »mehr oder weniger ungeordnetes Ensemble von Praktiken und Wissen-Macht-Komplexen« verstanden, »deren Anordnung nicht von vorneherein gegeben ist, sondern das genau darin besteht, Antworten auf die durch die dynamischen Elemente und Prozesse aufgeworfenen Fragen und Probleme, zu generieren« (Karakayali/Tsianos 2007: 13 f.). Sciortino führt dazu aus: »It is rather a mix of implicit conceptual frames, generations of turf wars among bureaucracies and waves after waves of ›quick fix‹ to emergencies, triggered by changing political constellations of actors. The notion of a migration regime allows room for gaps, ambiguities and outright strains: the life of a regime is the result of continuous repair work through practices.« (Sciortino 2004: 32 f.)
Ein Regime setzt sich netzförmig aus unterschiedlichen Akteuren, Diskursen, Praktiken und Materialitäten zusammen. Der Fokus der Analyse eines Regimes liegt dabei
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immer auf den Aushandlungen, Auseinandersetzungen und Konflikten zwischen den Akteuren, die produktiv sind und soziale Verhältnisse – in diesem Fall Grenze und Regulationen – hervorbringen. Dieses Konzept bietet die Möglichkeit einer »Analyse des (oftmals transnationalen) Zusammenspiels verschiedener Institutionen und Kräfte (u. a. der Migration) in der Hervorbringung einer spezifischen historischen Situation« (Hess et al. 2018: 264). Damit bricht dieser Ansatz auch mit der Vorstellung eines klaren Subjekt-Objekt-Verhältnisses zwischen Migrant_innen und Akteuren der Migrationskontrolle (vgl. Karakayali/Tsianos 2007: 14). Diese regimetheoretische Perspektivierung ist auch eine Abgrenzung zu ökonomistischen oder systemischen Ansätzen in der Migrationsforschung (vgl. Tsianos 2010: 22). Hess und Karakayali betonen, dass in Forschungsfeldern, in denen vorher davon ausgegangen wurde, dass Migrationssysteme primär durch staatliche Politik bestimmt seien, »ermöglicht der Regime-Begriff eine Vielzahl von Akteuren in die Analyse miteinzubeziehen, deren Praktiken zwar aufeinander bezogen sind, nicht aber in Gestalt einer zentralen (systemischen) Logik« (Hess/Karakayali 2007: 48). Was den Regimebegriff so bedeutsam mache, sei, dass er es erlaube, »Regulationen als Effekte, als Verdichtungen von sozialen Handlungen zu verstehen und sie nicht funktionalistisch vorauszusetzen« (ebd.).
2.1.1 Das Regieren der Migration als gouvernementaler Politikstil Der Regimebegriff bietet ein passendes methodologisches Framing, um die »neue Kunst des Regierens der Migration« (Andrijasevic et al. 2005: 347) zu erforschen. Dabei handelt es sich um »einen neuen gouvernementalen Politikstil, der auf Steuerung und Aktivierung beruht anstatt auf repressiver Kontrolle« (ebd.). Seit den 1990er Jahren haben sich die Migrationspolitiken der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union weg von nationalstaatlicher Migrationskontrolle hin zu einem Migrationsmanagement auf europäischer Ebene entwickelt und nach und nach immer mehr supra-, sowie nicht- und halbstaatliche Akteure in das Regieren der Migration miteinbezogen (vgl. ebd.: 348). Das Konzept des Regimes kann diesem zunehmenden Verlust9 beziehungsweise dem Wandel nationalstaatlicher Souveränität Rechnung tragen und die Differenzierung und Heterogenisierung des Regierens berücksichtigen. Diese Dezentrierung des Staates und die Betonung der Netzförmigkeit des Regierens knüpft an die gouvernementalitätstheoretischen Überlegungen Michel Foucaults an, wonach Gouvernementalität für einen »Komplex aus Regierungstechniken und Denkweisen« 9 Mit dem Verlust der Souveränität des Nationalstaats ist keinesfalls gemeint, dass der Nationalstaat dadurch keine Souveränität mehr hätte, sondern es geht vielmehr um eine Differenzierung und Heterogenisierung von Souveränität, die nicht mehr auf nationalstaatliche limitiert ist, die sich jedoch auch in jedem Feld des Regierens anders verhält. Gerade seit dem ›Sommer der Migration‹ 2015 ist – vor allem im Feld Flucht und Asyl – vielmehr wieder ein Erstarken der Nationalstaaten innerhalb Europas zu beobachten. Welche Rolle der Nationalstaat im der staatlichen Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ spielt, werde ich ebenfalls in dieser Studie aufzeigen.
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steht, »der sich mit dem Auftauchen moderner (biopolitischer) Staatlichkeit allmählich durchgesetzt und in dieser erst institutionalisiert hat« (Saar 2007: 30). Erst durch die Perspektive des Regierens wird »ein Zusammenhang zwischen der Entstehung von nützlichem Wissen und der ›technologisch‹ hergestellten, regulierenden Verwaltbarkeit von Individuen und Bevölkerungen in einem gegebenen Territorium sichtbar gemacht« (ebd.). Gupta und Sharma betonen, dass das Konzept der Gouvernementalität einen Weg eröffnet, »of approaching how rule is consolidated and power is exercised in society through social relations, institutions, and bodies that do not automatically fit under the rubric of ›the state‹« (Gupta/Sharma 2006a: 277). Nach Foucault ist Macht dabei dezentral, produktiv und kontingent, er versteht darunter: »die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegenseitig isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern.« (Foucault 2014: 93)
Durch die regimetheoretische Perspektivierung rückt diese »relationale, vielschichtige, partizipative und flüchtige Form der Organisation von Macht« (Dimitrova et al. 2012: 24) in den Fokus der Analyse. Die Produktivität des Regierens besteht darin, »Zirkulationen zuzulassen, zu gewährleisten, sicherzustellen« (Foucault 2004: 52). Mobilität über staatliche Grenzen hinweg ist also nicht als »Scheitern« von Versuchen der Kontrolle zu verstehen, sondern vielmehr als der Logik des Regierens inhärent. »Das Grenzregime zielt nicht […] auf hermetische Abschottung, sondern macht die Zirkulation zum Gegenstand der flexiblen Steuerung migrantischer Subjektivitäten«, so Hess und Tsianos (2010: 248). Diese flexible Steuerung besteht nicht allein in Ausschlüssen, sondern vielmehr in hierarchisierenden und selektiven Einschlüssen, in »differenziellen Inklusionen« (Mezzadra/Neilson 2013).
Macht und Subjekt im Grenzregime Regierung bedeutet dabei immer auch Biopolitik, wie Yann Moulier Boutang in Anlehnung an Foucault betont (vgl. Moulier Boutang 2007: 173): Die Bevölkerung ist sowohl »letztes Ziel«, als auch »Zweck und Instrument der Regierung« (Foucault 2000: 61). Das Regieren zieht sich sowohl in »aufsteigende[r]« als auch in »absteigende[r] Kontinuität« nicht nur durch den Staat, Institutionen und Familien, sondern auch durch das Individuum selbst und seine_ihre Lebensführung (vgl. ebd.: 48). Foucault schreibt zum Verhältnis von Subjekt und Macht und damit dem Regieren, das er als Machtausübung im Sinne eines »auf Handeln gerichtetes Handeln« (Foucault 2005: 287) definiert:
38 | Grenzüberschreitungen »Diese Machtform gilt dem unmittelbaren Alltagsleben, das die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie in ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben. Diese Machtform verwandelt die Individuen in Subjekte. Das Wort ›Subjekt‹ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist. In beiden Fällen suggeriert das Wort eine Form von Macht, die unterjocht und unterwirft.« (Ebd.: 275)
Die Erschaffung des Subjekts findet also auf zwei Ebenen statt: Zum einen durch Unterwerfung gegenüber bestimmten Anrufungen und Regeln, gleichzeitig »konstituiert sich das Subjekt als eine agierende, selbstbestimmte Instanz in seiner Freiheit der Selbstgestaltung« (Wiede 2014: 4). Foucault betont, dass Machtausübung als das Regieren »von Menschen durch andere Menschen« immer auch Freiheit implizierte: »Macht kann nur über ›freie Subjekte‹ ausgeübt werden, insofern sie ›frei‹ sind – und damit seien hier individuelle oder kollektive Subjekte gemeint, die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen« (Foucault 2005: 287). Es handelt sich also um eine Gleichzeitigkeit von Anrufung sowie Annahme der Anrufung als ein »wechselseitig konstituierender Akt« (Wiede 2014: 5). In Anrufungs- und Bezeichnungsprozessen werden über spezifische Diskurse und Praktiken Individuen subjektiviert. Übertragen auf das Regieren der Migration bedeutet das auch, dass die Aushandlungen, Konflikte und Kämpfe an der Grenze Subjekte erst hervorbringen. Zugespitzt formuliert: »Die Grenze ist eine Subjektmaschine.« (Karakayali/Karakayali 2009) In dieser Studie geht es weniger darum, wer ›nachziehende Ehegatten‹ sind, sondern vielmehr darum, wie Menschen dazu gemacht werden und wie sie sich selbst dazu machen; wie sie sich subjektivierende Anrufungen und Bezeichnungen während des Einreiseverfahrens aneignen, sich diesen widersetzen oder ambivalent dazu verhalten. Es wird danach gefragt, wie das Subjekt der ›nachziehenden Ehegattin‹ oder des ›nachziehenden Ehegatten‹ im Regieren der Migration erschaffen wird und mit welchen Zuschreibungen, Eigenschaften und Kategorien dieses verknüpft wird. Mit diesem konstruktivistischen Ansatz sollen auch andere Kategorisierungen und Subjektformen, die in der staatlichen Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ wirksam werden, analysiert werden. Ausschließlich auf das Regieren der Migration zu blicken birgt die Gefahr die Vorstellung zu reproduzieren, Migration sei vollkommen regierbar (vgl. Karakayali/Tsianos 2010: 377). Hess und Tsianos kritisieren an der Gouvernementalitätsforschung, dass diese zwar zum Ziel habe, mit kulturalistischen Herangehensweisen zu brechen und vielmehr Regierungsrationalitäten und Machttechnologien sowie Subjektivierungsprozesse in den Fokus zu rücken, jedoch dabei »Kultur« scheinbar lediglich durch »Diskurs« ersetzt habe und Akte des »Durchbrechens neoliberaler Subjektivitäten« (Stephenson/Papadopoulos 2006: 21, zit. n. Hess/Tsianos 2010: 248) sowie Praktiken der Dissidenz, des Fliehens, des Entgehens der Verhältnisse kaum
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Beachtung fänden (vgl. Hess/Tsianos 2010: 248). Erst das Zusammendenken mit den Praktiken der Migration verdeutlicht die Effekte und die Produktivität des Regierens der Migration. Auch Hess, Kasparek und Schwertl weisen darauf hin, dass es durch die Border Studies zwar eine neue Sensibilität für die (Wieder‑)Herstellung von Grenze im Sinne eines doing border gebe, wodurch die Multidimensionalität, Multilokalität sowie die Mikrophysiken der Grenze in den Blick geraten. Jedoch würden dabei die Handlungsmacht der Migrant_innen sowie Spannungen und Kämpfe zwischen Grenzschutz und Grenzüberschreitungen – die border struggles – ausgeblendet werden (vgl. Hess et al. 2018: 265 f.).10 Die Diskurse und Praktiken der Kontrolle und Regulation von Migration sollten auch immer in ihrer Wechselwirkung mit Bewegungen der Migration untersucht werden. Auch Foucault schlägt als Ausgangspunkt für die Analyse des Regierens »den jeweiligen Widerstand gegen die verschiedenen Formen von Macht« vor, »als chemischen Katalysator, der die Machtbeziehungen sichtbar macht und zeigt, wo sie zu finden sind, wo sie ansetzen und mit welchen Methoden sie arbeiten« (Foucault 2005: 273). Bei diesen Widerständen handele es sich um transversale Kämpfe, die politische sowie ökonomische Eingrenzungen durchbrechen (vgl. ebd.). Diese Perspektive, Migration als eine widerständige, soziale Bewegung gegen verschiedene Formen von Macht zu verstehen, wird durch den Blick der Autonomie der Migration möglich.
2.1.2 Der Blick der Autonomie der Migration Nimmt man die Perspektive der Migration ein, wird deutlich, dass es sich bei diesen Bewegungen nicht um beliebig zu steuernde »Ströme« handelt, sondern Migration eine relative Autonomie innehat, »ein Moment der Selbstständigkeit gegenüber politischen Maßnahmen […], die sie zu kontrollieren beabsichtigt« (Andrijasevic et al. 2005: 347). Das Regieren der Migration besteht also nicht in einer absoluten Regulierbarkeit, sondern vielmehr in Versuchen der Kontrolle. Oder etwas metaphorischer ausgedrückt: »Migration ist nicht an- und abstellbar wie ein Wasserhahn.« (Bojadžijev/Karakayali 2007: 211) Auf dieser Erkenntnis beruht die These der Autonomie der Migration. Dieser zu folgen bedeutet nicht einem »methodologischen Individualismus« (Tsianos 2010: 23) zu verfallen und allein die individuellen Migrationsprojekte und ‑praktiken zu beforschen. Die Autonomie der Migration ist nicht mit der Autonomie der Migrant_innen gleichzusetzen (vgl. Bojadžijev 2011: 139), wie Kritiker_innen diesem Ansatz oft entgegenhalten. Vielmehr wird Migration als soziale Bewegung und politische Praxis konzipiert und migrantische Subjekte damit als wichtige Akteure der Grenze verstanden, die mit der Verfolgung und Umsetzung ihrer Migrationsprojekte zu sozialem Wandel beitragen. Yann Moulier Boutang versteht den Ansatz der Autonomie der Migration außerdem »vielmehr [als] eine Methode, ein heuristisches Modell, und nicht die Antwort auf eine Frage« (Moulier Boutang 2007: 169). So spricht Sandro Mezzadra auch von 10 Siehe auch Kritik von Hess et al. 2014: 13 f.
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dem »Blick der Autonomie der Migration« (Mezzadra 2011), der Forschungen anleitet und dadurch widerständige Praktiken, Solidarisierungen, Organisierungen, Kollektivierungen, Netzwerke und Kämpfe in die Analyse miteinbezieht. Diese Bewegungen der Migration werden immer in ihrer Wechselwirkung mit Machtverhältnissen, Bedingungen und dem Regieren gedacht: »Weil die MigrantInnen nicht angetreten sind, Strukturen zur reproduzieren, sondern ihr Leben zu verbessern, weil sie Teil verschiedener ›Umstände‹ sind und weil jedes Migrationsprojekt anders aussieht. Die Umstände der Migration verändern sich also durch die Projekte, mit denen die MigrantInnen, als gesellschaftliche Subjekte, diese Umstände aufs Neue reproduzieren und in diesem Prozess verändern.« (Karakayali/Tsianos 2007: 16)
Bei dem Blick der Autonomie der Migration handelt es sich also um eine spezifische Perspektive, einen Standpunkt, der ermöglicht, die Praktiken der Migrant_innen in die Analyse miteinzubeziehen, jedoch nicht im Sinne von individualistischen Studien, sondern im Sinnes eines »komplexen Verständnis[ses] von Subjekten und Gesellschaft in ihrer globalen Dimension mit einer essentiellen Pluralität von Handlungsfähigkeiten, Diversität von Kämpfen sowie emanzipatorischen Vorstellungen«, wie es Manuela Bojadžijev formuliert (2011: 141). Im Folgenden soll das Konzept der Autonomie der Migration vorgestellt sowie geklärt werden, wie aus dieser Perspektive die Praxis der Migration durch Heirat zu verstehen ist. In den Debatten um das Konzept der Autonomie der Migration in Italien und Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts, war das von Yann Moulier Boutang veröffentlichte Werk »De l’esclavage au salariat: Économie historique du salariat bridé« (1998) ausschlaggebend. Darin legt er dar, warum aus einer postoperaistischen Perspektive Migration als soziale Bewegung und als die Gesellschaft aktiv verändernd, zu verstehen ist und wie die Mobilität der Arbeitskraft im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kapitalismus steht: Es wird davon ausgegangen, dass die Mobilität der Menschen der Mobilität des Kapitals und der Regulierung durch den Staat vorausgeht (vgl. Mezzadra 2011). Dieses Verständnis von Bewegungen impliziere eine wechselseitige Determinierung, so Moulier Boutang: »Kapital tritt dort in Erscheinung, wo eine bestimmte Quantität von Bevölkerung verfügbar ist, oder wo eine Bewegung dieser Bevölkerung sie für die Arbeit verfügbar macht.« (Moulier Boutang 2007: 170) Dabei bezieht sich das Regieren nicht einfach auf das Verwalten von Waren und Objekten, sondern auf die »Bevölkerung als Ganzes«: »Das heißt, wenn das Recht auf Arbeit nicht mit dem Recht auf Leben einhergeht – mit dem Recht darauf, Kinder aufzuziehen, Familie und Verwandte bei sich zu haben, an einem Ort zu bleiben und sich dort begraben zu lassen, wo man gelebt hat – handelt es sich um eine Form von Apartheid.« (Ebd.: 170) Während ökonomistische Ansätze in der Migrationsforschung davon ausgehen, dass sich Migration ›von oben‹ regulieren und steuern ließe, bezieht der Ansatz der Autonomie der Migration die Subjektivitäten der Migrant_innen mit ein, die sich nicht auf ihre Arbeitskraft reduzieren lassen, wie es die Vorstellung des homo oeconomicus suggeriert (vgl. Bojadžijev/Karakayali 2007: 211).
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Das Konzept der Autonomie der Migration bezieht sich dagegen auf die Annahme einer eigensinnigen Kontinuität von Mobilität. Bojadžijev thematisiert eine dabei auftretende Dialektik: Geht man davon aus, dass die Grundlage des Kapitalismus die Mobilität von Arbeitskräften ist, ist die »Mobilität die Quelle der Ausbeutung«. Gleichzeitig bedeutet Mobilität die »Flucht aus Verhältnissen von Ausbeutung und Unterdrückung« (Bojadžijev 2011: 142). Autonomie gehe somit auch immer mit Heteronomie einher (vgl. ebd.: 143).
Migration als widerständige Praxis sichtbar machen Was bedeutet diese Theoretisierung für die Analyse von Migration? Migration wird in Anschluss an einen Transnationalismus-Ansatz nicht als ein Projekt Einzelner verstanden, sondern als ein Prozess, der in soziale Netzwerke verwoben und Teil einer globalen Bewegung ist. Der Fokus liegt auf Praktiken der Subjekte, weil sich gezeigt hat, dass Menschen über einen gewissen Handlungsspielraum verfügen, auch wenn sie von Ausbeutung, Unterdrückung und Ausschluss betroffen sind. Durch den Blick der Autonomie der Migration werden Organisierungen und alternative Netzwerke und Routen sichtbar (vgl. Bojadžijev 2011: 110). Es wird von einer Eigensinnigkeit von Migrationsprozessen ausgegangen und diese als soziale Phänomene verstanden. Dabei wird Mobilität auch zur Widerstandspraxis. Dieser Widerstand findet seinen Ausdruck, indem Migrierende »sich verweigern, sich den Verhältnissen entziehen, mit Konventionen brechen, flüchten, aufbrechen, weggehen, moderieren, überbringen und vielleicht auch tatsächlich sich in Form kollektiver Organisationen wehren« (Bojadžijev 2011: 141). Migration ist als ein eigener Kontext zu verstehen, der auf Netzwerken und gegenseitiger Solidarität aufbaut und neue Konzepte und Lebensformen der Kommunikation und Kooperation hervorbringt (ebd.). Isabell Lorey betont im Anschluss an die These der Autonomie der Migration, dass genau diese »neuen Lebensformen, die aus der Bewegung des Entgehens und der Verweigerung in sozialen Kämpfen entstehen« als »prozesshafte Konstituierung« zu verstehen sind und nicht als »statische, festsetzende Konstitution« (Lorey 2011c: 115). Mit dem Begriff der Konstituierung meint sie »das Vermögen derjenigen, die Ordnungen entgehen, Neues zu gründen, neue soziale Praktiken zu erfinden, sich neu zusammenzusetzen, sich zu einer Macht zu konstituieren, um Herrschaftsverhältnisse aufzubrechen und intervenierend zu kämpfen« (ebd.: 115 f.). Ist der analytische Fokus ausschließlich auf Ausschlussmechanismen gerichtet, gehe die Wirkmacht der »politischen Handlungsfähigkeit derjenigen« verloren, »die kategorial erfasst und reguliert werden sollen und die diesen Kategorien entgehen und sich ihnen entziehen« (ebd.: 112). Auch in dieser Studie soll der Blick in Anschluss an Lorey auf die »Bewegungen der Konstituierung und des Entgehens« gerichtet werden und die Subjektivierungsformen, Erfahrungsweisen und Alltagspraxen Formen des Regierens gegenübergestellt und in ihrer Wechselwirkung beforscht werden. Die Soziologin Encarnación Gutiérrez Rodríguez weist in diesem Zusammenhang auf die Unterscheidung zwischen »Konstruktion als Bezeichnungsrahmen, als Akt der Anrufung« hin, sowie der »Konstitution als der materialisierenden Wirkkraft der Konstruktion
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auf der Ebene des Subjekts« (Gutiérrez Rodríguez 1999a: 5). Der konstruktivistische Perspektivwechsel in den Sozial- und Kulturwissenschaften habe vor allem dazu geführt, auf die Konstruktion von Subjekten zu blicken, jedoch die Konstituierung von Subjekten aus den Augen zu verlieren, die nicht bei jedem Individuum gleich verlaufe: »Dies hängt nicht nur von der Kontingenz der Verhältnisse selbst ab, in denen das Subjekt als einzigartig geschaffen und erfahren wird, sondern insbesondere auch von den Herrschaftsverhältnissen, in denen er oder sie eingebettet ist.« (Ebd.: 4) Dadurch würden Subjektivitäten ausgebildet, die gemeinsame strukturelle gesellschaftliche Merkmale aufwiesen, »die jedoch auf der Grundlage ihrer historischen und biographischen Kontingenz über hierarchische Beziehungen und ungleiche Arbeits- und Produktionsverhältnisse gekennzeichnet sind« (ebd.: 5). Erst durch diese Perspektivierung geraten die unterschiedlichen Positionierungen sowie die Handlungsmacht der Subjekte in den Blick und es wird deutlich, dass es auch zwischen den Menschen, die diesen Migrationsweg nutzen, Differenzen und Herrschaftsverhältnisse gibt. Den Blick der Autonomie der Migration einnehmend werde ich also einerseits das Erkenntnisinteresse auf Subjektivierungsprozesse richten, aber gleichzeitig auch nach Widerständigkeiten und Verweigerungen sowie Effekten der Subjektivierungsweisen und der Situiertheit von Subjekten innerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse fragen. Einen rein gouvernementalitätstheoretischen Ansatz kritisierend, betonen Hess und Tsianos: »Subjektivitäten werden […] nicht in hegemonialen ›Anrufungen‹ allein erzeugt. Sie entstehen zugleich in Praktiken des Fliehens vor hegemonialisierten Subjektivierungsweisen, die durch repressive Regime der Repräsentation […] zählbar, planbar und regierbar gemacht werden (sollen)« (Hess/Tsianos 2010: 248). Die Autonomie meint also keine totale Unabhängigkeit von Konsitutionsbedingungen, wie Lorey schreibt, »kein Jenseits von Macht und Herrschaft« (2011c: 115). Migrationen seien vielmehr deshalb autonom, weil sie »sich transversal zu ihnen bewegen und dabei das staatliche Migrationsregime verändern« (Karakayali 2008: 256). Aus dieser Perspektive der Autonomie der Migration ist die Europäisierung sowie die Gouvernementalisierung der Migrationspolitiken also auch eine »Antwort und Reaktion auf die turbulenten Dynamiken der Migration in Europa« (Karakayali/Tsianos 2007: 11). Migration ist nicht einfach Objekt des Regierens, sondern soziales Verhältnis sowie dynamische Kraft (ebd.: 13). Die analytische Perspektivierung durch das Konzept des Regimes ermöglicht also die beiden eingangs vorgestellten Ansätze – rechts- und politikwissenschaftliche Studien, die den Fokus auf die Regulierung von Migration legen, sowie soziologische und kulturanthropologische Migrationsstudien, die vor allem auf individuelle Lebenswelten und Praktiken von Migrant_innen blicken – zusammenzubringen. Die regimetheoretische Perspektive beinhaltet sowohl gouvernementalitätstheoretische, konstruktivistische als auch postoperaistische, materialistische Ansätze. Grenze lässt sich dadurch als umkämpftes soziales Verhältnis erforschen, in dem die Verschränkung mit der Institution Ehe nochmals eigene und spezifische Konfigurationen von Praktiken, Kämpfen und Auseinandersetzungen um Mobilität und deren Kontrolle hervorbringt. Gerade die postoperaistische Perspektive, die sich aus der These der Auto-
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nomie der Migration ergibt, erachte ich für die Analyse der staatlichen Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ als wichtig. Diese ermöglicht den hegemonialen Diskurs um Migration durch Heirat als etwas Privates und Kulturelles, nur Frauen betreffend, als eine Folge von männlicher Migration etc. zu durchbrechen und die Migrant_innen sowohl in ihrem eigenen Begehren nach Konsum, Kapitalakkumulation und Lohnarbeit als auch in ihrer Verwertung in Form von Bereitstellung kostenloser sozialer Reproduktion sowie flexibler lebendiger Arbeit sichtbar zu machen.
2.1.3 Das Regieren der Migration durch Heirat als Forschungsgegenstand und analytische Perspektive Anknüpfend an diese theoretischen und methodologischen Überlegungen wird in dieser Arbeit sowohl die Praxis der Migration durch Heirat als auch das Regieren der Migration durch Heirat zum Forschungsgegenstand dieser Studie gemacht. Gleichzeitig dient das Konzept des Regierens der Migration durch Heirat auch als analytische Perspektive, die sowohl das hier verwendete Forschungsdesign als auch die Analyse des empirischen Materials gelenkt hat. Wie bereits in der Einleitung angedeutet, impliziert dieses Konzept drei unterschiedliche Ebenen, die im Rahmen dieser Studie in ihrer Verwobenheit beforscht sowie analysiert werden: I. Migration durch Heirat als Migrationspraxis und Produkt der Grenze, II. das Regieren der ›Migration durch Heirat‹ als Steuerung und Regulierung dieser Migrationspraxis, III. das Regieren der Migration durch Heirat als Regieren der Migration durch das Aufgreifen der Institution Ehe. Im Gegensatz zu vielen bisherigen Studien, die ›Heiratsmigration‹ oder ›Ehegatten-/ Familiennachzug‹ positivistisch fassten, das heißt als gegebene Migrationsform voraussetzen, verstehe ich diese Praxis vielmehr als ein Produkt des Grenzregimes. Ich interessiere mich für die Politiken der Herstellung dieser Migrationspraxis sowie die Aushandlungen und Kämpfe um diese. Die migrationspolitische Kategorisierung, die damit einhergeht, ist der ›Ehegatten-/Familiennachzug‹. Was Vicki Squire in ihrem Band »The Contested Politics of Mobility« (2011) für irreguläre Migration konzipiert, lässt sich auch auf die migrationspolitische Kategorie des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ übertragen. Squire plädiert dafür den Fokus darauf zu richten, wie Bewegungen von Menschen zu Objekten, aber auch Subjekten von Politiken werden, »how struggles around migration and its control interrelate as distinctive dimensions of a politics of mobility« (Squire 2011: 5). ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ erforsche ich, ebenfalls Squires Ausführungen zu Irregularität folgend, als »stake within, as well as a product of, emergent struggles around mobility« (ebd.). Das heißt: Würde sich jeder Mensch frei über territoriale Grenzen hinweg bewegen können, würde ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ als rechtliche Kategorie nicht existieren. Erst durch die Problematisierung von Migration, die verstärkte Regulierung
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und Kontrolle und die damit einhergehende Hierarchisierung von Mobilitäten, wird ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ als migrationspolitische Kategorie erschaffen und zum Gegenstand des Regierens gemacht. Auch wird in den Diskursen um ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ deutlich, dass damit vor allem Migration aus dem Globalen Süden in Länder des Globalen Nordens bezeichnet wird, wodurch die Hierarchisierungs- sowie Differenzierungsprozesse hinter dieser Kategorisierung bereits deutlich werden. Im Kontext von Mobilität aufgrund von Ehe oder Partnerschaft zum Beispiel innerhalb der Europäischen Union wird dagegen nicht von ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ gesprochen, sind Unionsbürger_innen doch nicht verpflichtet zu heiraten, um zu einem_r Partner_in in einen anderen EU-Mitgliedsstaat zu reisen. Diese Erschaffung von ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ zeigt sich besonders in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik: Bevor das Anwerbeabkommen beendet und die Einreisebestimmungen verschärft wurden, gab es vielfältige Möglichkeiten der Einreise und des Aufenthalts (vgl. Bojadžijev 2008: 117). Pendelmigration sowie transnationales Familienleben waren vor dem Stopp des Anwerbeabkommens noch sehr viel üblicher. Auch wurden bereits über die Vermittlung von Anwerbeverträgen an Familienmitglieder, Verwandte und Freund_innen in der Herkunftsregion oder über Touristenvisa diese nach Deutschland geholt. Bis zum Anwerbestopp 1973 war es schlicht nicht immer nötig, auf die rechtliche Form des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ zurückzugreifen und erst danach etablierte sich diese als wichtigste legale Migrationsstrategie (vgl. ebd.). Der ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ ist ein »Produkt der Grenze« (Hess et al. 2018: 266) und damit von Differenzierungs- und Hierarchisierungsprozessen im doing border sowie von globalen Kämpfen und Auseinandersetzungen um Mobilität. Werden Kategorien, die von Institutionen vorgegeben werden, wie in diesem Fall ›Ehegatten-/ Familiennachzug‹, unhinterfragt in Forschungsdesigns übernommen und deren Herstellung, Aushandlung und Produktivität nicht in die Analyse einbezogen, besteht verstärkt die Gefahr, Bestehendes und Selbstverständliches zu reifizieren. Aus diesem Grund werde ich in dieser Arbeit den Blick vielmehr auf die (Wieder‑)Herstellung, Verwendungen und Deutungen der migrationspolitischen Kategorisierung des ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ innerhalb der in die Umsetzung der Migrationspolitiken involvierten Institutionen richten, aber auch auf die Strategien von Migrant_innen selbst, wie sie mit dieser Kategorisierung umgehen, sich diese aneignen oder sich dieser auch wieder entziehen. Um der Gefahr der Reifikation hegemonialer Kategorisierungen zu begegnen und mit diesen zu brechen, schlagen die Kulturwissenschaftlerinnen Barbara Lemberger und Katrin Lehnert eine »Beschreibung der Un-Ordnung« vor, die in ethnographischer Tradition von Praktiken und Konfliktfeldern ausgeht (vgl. Lehnert/Lemberger 2015). So wird es durch eine ethnographische Herangehensweise, die die komplexen Alltagssituationen und -interaktionen sowie die heterogenen Heirats- und Migrationsprojekte hinter der migrationspolitischen Kategorie ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ nachzeichnet, möglich, »die den Kategorien inhärente Un-Ordnung sichtbar zu machen« (ebd.: 108).
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Der Begriff ›Migration durch Heirat‹ bricht mit der normalisierenden Verbindung von Migration und Heirat in der üblichen Bezeichnung als ›Heiratsmigration‹ und beschreibt vielmehr eine Praxis von Menschen, die sich die Institution der Ehe aneignen, um das Begehren nach Mobilität und einem ›besseren Leben‹ zu erfüllen. Die Protagonist_innen dieser Studie eignen sich die Institution Ehe überhaupt erst an, weil Migration anders nicht möglich ist. Dies geschieht zunächst einmal unabhängig davon, ob das Paar sowieso früher oder später eine Eheschließung geplant hätte oder nicht. Die Institution Ehe wird innerhalb des Grenzregimes zu einer Migrationsstrategie, Migration wird durch Heirat überhaupt erst möglich. Es ist das Grenzregime selbst, innerhalb dessen Heirat an Mobilität geknüpft und damit für die Immobilisierten zu einem ›Mittel zum Zweck‹ wird. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Migration durch Heirat als ein Produkt des Regierens der Migration sowie als einer Migrationsstrategie, untersuche ich diese auch immer mit, wenn ich die analytische Perspektive des Regierens der Migration durch Heirat einnehme. Der These der Autonomie der Migration folgend bestehen diese beiden Ebenen der Politiken des Regierens der Migration durch Heirat sowie die Bewegungen der Migration nie getrennt voneinander, sondern immer nur in ihrer Wechselwirkung. Der Regimeansatz versteht »die Regierung der Migration selbst [als] ein[en] Effekt der Bewegungen und Widerstände der Migration« (Andrijasevic et al. 2005: 360). Oder wie es Brigitta Kuster und Vassilis Tsianos ausdrücken: »Migration comes first. Movement comes before its control.« (Tsianos/Kuster 2013: 35) Daraus ergeben sich folgende Fragen: Warum nutzen Menschen die Praxis der Migration durch Heirat? Wie – durch welche Taktiken und Strategien – eignen sie sich die Ehe und damit einhergehend Mobilität an? Welche Effekte und Auswirkungen hat die staatliche Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ auf die Situation von Menschen, die diesen Migrationsweg nutzen? Wer sind die Menschen hinter der Kategorie ›nachziehende Ehegatten‹ und vor allem wie werden sie zu diesen gemacht? Welchen Anrufungs-, Bezeichnungs-, Kategorisierungsprozessen sind sie ausgesetzt und wie gehen sie damit um? Zu welchen Subjektivierungen und Aneignungen, aber auch widerständigen Praktiken und Bewegungen des Fliehens und Entgehens kommt es? Wie wird Grenze, Mobilität und Ehe in Begegnungen zwischen Migrant_innen und Akteuren der Migrationskontrolle ausgehandelt und umkämpft? Welche Normen und Rationalitäten werden dabei (wieder) hergestellt, stabilisiert und auch durchbrochen? Die Kategorisierung der Praxis der Migration durch Heirat aus ›Drittstaaten‹ in Mitgliedsstaaten der Europäischen Union als ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ ist bereits ein erster Schritt in dieser Regulierung und Steuerung. Doch diese geht mit weiteren Techniken und Praktiken der Kontrolle einher, die in dieser Arbeit untersucht werden. Diese Ebene führt zu der Frage, wie Migration durch Heirat gesteuert und reguliert wird? Welche Akteure sind am Regieren der Migration durch Heirat beteiligt und in welcher Form? Zu welchen Verbindungen, Konflikten, Synergien kommt es zwischen diesen Akteuren? Welche Diskurse, Politiken, Materialitäten, Praktiken und Institutionen werden im Regieren der Migration durch Heirat produktiv und vor
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allem wie geschieht dies? Was sind die Effekte? Wie reagiert das Regime auf die Aneignung der Institution Ehe und die damit einhergehende Mobilität von Menschen? Wie wird dabei wiederum vorsortiert, hierarchisiert und differenziert? Zuletzt wird die Institution Ehe im Regieren der Migration gleichzeitig selbst aufgegriffen und damit zu einem Filter für Bewegungen der Migration. Die Ehe ist eine historisch gewachsene Institution, die nach bestimmten Normen und Regeln Alltagshandeln strukturiert und ordnet. Aus der analytischen Perspektive des Regierens der Migration durch Heirat wird über die Institution Ehe Migration nach spezifischen Rationalitäten und Logiken geordnet und reguliert. Migration wird also durch Heirat regiert. Ich möchte danach fragen, welche Effekte die Verschränkung der Institution Ehe mit dem Grenzregime auf Bewegungen der Migration hat? Welche spezifischen Hierarchisierungs- und Differenzierungsprozesse gehen damit einher? Inwieweit hat die Institution Ehe, die in ihrem Gewordensein Heteronormativität und Geschlechterasymmetrien impliziert, auch heteronormierende und traditionelle Geschlechterordnungen stabilisierende Effekte auf die Bewegungen der Migration? Und zuletzt auch, welche Effekte hat die Migration auf die Institution Ehe? Also wie wird die Institution Ehe durch Migration regiert?
2.2 V ielfache D ifferenzierungs - und H ierarchisierungsprozesse im doing border Migration durch Heirat wurde in der bisherigen Literatur mit einigen Ausnahmen vor allem als weibliche Migration behandelt und ging mit einem Fokus auf Frauen in der Migration einher. So wichtig diese Arbeiten waren, möchte ich mit dieser Forschung diesen Bias brechen und habe, anstatt das Sample von vorneherein über Geschlecht einzugrenzen, vielmehr mit einem sensiblen Blick während der ethnographischen Forschung auf Momente, Situationen und Prozesse der Anrufung, Herstellung und Aushandlung von Geschlecht innerhalb des Grenzregimes geachtet. Diese offene Herangehensweise beinhaltet ebenfalls, Geschlecht zu dezentrieren und auf weitere Differenzkategorien sowie Ungleichheits- und Machtverhältnisse zu blicken, die sowohl die Praxis der Migration durch Heirat als auch das Regieren der Migration durch Heirat mitkonstituieren. So wurde in dieser Studie der Blick – über die Herstellung der Grenze hinaus – auf multiple Differenzierungs- und Hierarchisierungsprozesse gerichtet, die mit der Mobilisierung und Immobilisierung von Menschen einhergehen. Für diese Herangehensweise bedarf es sowohl geschlechteranalytischer, intersektionaler als auch postkolonialer Perspektiven.
2.2.1 Geschlechteranalytische Perspektiven: doing gender while doing border Mit dem Einsetzen eines verstärkten ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ nach dem Anwerbestopp von 1973 wurde auch der Blick der Wissenschaft verstärkt auf Frauen in
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der Migration gerichtet (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999b: 26). Während sich Wissenschaft und Medien zuvor lediglich mit migrantischen Männern als Arbeitskräfte beschäftigten, wurden nun auch Frauen in der Migration sichtbar. Diese wurden jedoch zunächst vor allem als ›Hausfrauen‹ und ›Mütter‹ wahrgenommen und als ›defizitär‹ und ›rückständig‹ konstruiert sowie deren Mobilität lediglich als Reaktion auf die Migration des Mannes beschrieben (vgl. Huth-Hildebrandt/Lutz 1998: 164 ff.). Die Forschung zu und mit Migrantinnen ging mit einer Viktimisierung sowie einem Paternalismus gegenüber migrantischen Frauen einher (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999b: 26). Die Mobilität von ›Gastarbeiterinnen‹, die von 1960 bis 1973 bereits angeworben wurden und selbst in der Industrie tätig waren, wie die Historikerin Monika Mattes aufzeigt, blieb dagegen unsichtbar (vgl. Mattes 1999). Das Bild der Migrantin war das der ›nachziehenden Ehegattin‹, sie wurde als passiv und abhängig gesehen (vgl. Palriwala/Uberoi 2008: 25). Diese Sichtweise verstärkte sich im Zusammenhang mit Frauen, die aus muslimisch geprägten Kontexten kamen, wobei die meisten Studien gerade Ende der 1970er Jahre zu Frauen aus der Türkei angefertigt wurden. Die Soziologin Helma Lutz spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »Orientalisierung« der Migrantin (vgl. Lutz 1989). Dieses Bild der ›unterdrückten muslimischen Migrantin‹ hat sich bis heute gehalten und wird auch im Kontext der Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ wirkmächtig, wie ich später zeigen werde. Seit den 1980er Jahren entwickelte sich eine feministische Migrationsforschung, die mit den hegemonialen Vorstellungen von Migrantinnen brach, indem sie die Handlungsmacht und Autonomie der Frauen in den Blick rückte sowie die Komplexität ihrer Lebensentwürfe und Hintergründe (vgl. FeMigra 1994; Gutiérrez Rodríguez 1999b; Karrer et al. 1996; Morokvaśic 1984; Niesner et al. 1997; Schöning-Kalender 1990). Diese Forschungen trugen dazu bei, dass die Migration von Frauen nicht länger nur als Reaktion auf oder als Produkt von Entscheidungen von Männern verstanden wurde, sondern sie in ihrer Rolle als handelnde Akteurinnen sichtbar wurden. Forschungsfelder sind hier zum einen Migration in Bereichen der Sexarbeit (vgl. Andrijasevic 2010; Le Breton 2011; Neuhauser 2015) sowie der Care und Domestic Work (vgl. Hess 2005; Lutz 2007; Schwarz 2015), aber auch in dem Forschungsfeld ›Migration und Heirat‹ entstanden wichtige Arbeiten, die die Handlungsmacht von ›Heiratsmigrantinnen‹ zum Erkenntnisinteresse erklärten (vgl. Constable 2004; Lauser 2004; Ruenkaew 2003; Williams 2010) und dabei auch die gängige Unterscheidung in entweder Heirats- oder Arbeitsmigration in Frage stellten (vgl. Piper/Roces 2003). An diese Studien und deren Perspektive der Handlungsmacht möchte ich mit meiner Forschung anschließen, jedoch den Gender Bias im Sinne eines Fokus auf Frauen zunächst methodologisch auflösen. Ich werde die These, dass es sich bei Migration durch Heirat um eine weibliche Migration handele, was zum Beispiel im Fall von Marokko rein statistisch (ca. 70 Prozent Frauen, 30 Prozent Männer) durchaus zutrifft, noch einmal aufbrechen und vielmehr danach fragen, wie wird Migration durch Heirat innerhalb des Grenzregimes zu weiblicher Migration gemacht? An diesem Herstellungsprozess wirken Studien, die den Fokus ausschließlich auf Frauen legen, durchaus mit, da – so wichtig diese Studien sind – die Gefahr besteht, dadurch
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binäre Konstruktionen von Geschlecht sowie Heteronormativität wiederum festzuschreiben. Im Gegensatz zu der feministischen Kritik am – auch in der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung nach wie vor vorherrschenden – »malestream«, wo Geschlecht entweder gar nicht berücksichtigt oder »die Geschlechterfrage als partikulares Phänomen behandelt« wird, »das keine theoretische Relevanz für die allgemeine Gesellschaftsanalyse zu haben scheint« (Gutiérrez Rodríguez 1999a: 22), ist im Feld ›Migration und Heirat‹ vielmehr eine Überbetonung von Geschlecht im Sinne von weiblicher Migration vorzufinden – sowohl in der Wissenschaft als auch in der öffentlichen Debatte. Auch Hess und Binder weisen daraufhin, dass manche Themen und Akteursgruppen »überdeterminiert« seien, entlang zweier Differenzierungskategorien – wie Geschlecht und Ethnizität – untersucht zu werden, wobei die herausgehobenen Kategorien meist deduktiv festgestellt werden (vgl. Binder/Hess 2011: 47). Anders als Forschungen im Feld ›Migration und Heirat‹, die bereits als Ausgangspunkt zumeist Frauen, oder aber auch Männer (vgl. George 2005), aus einem spezifischen regionalen Kontext wählten, die über eine Heirat migrieren, war Geschlecht während des Forschungsprozesses dieser Studie keine Kategorie, die die Forscherin von Anfang an – zum Beispiel in der Auswahl des Samples oder in der Eingrenzung des Feldes – anleitete. Der Ausgangspunkt der Studie waren die Politiken des Regierens der Migration durch Heirat. Gendersensibel war der Blick vielmehr dahingehend, dass ich darauf achtete, wann und vor allem wie sich Akteure auf die Kategorien Geschlecht oder Sexualität beziehen und damit einhergehend vergeschlechtlichte Bilder und Wissen (re)produzieren, welche Bedeutung diesen zugeschrieben wird, und wie diese wiederum in sozialen Interaktionen und Auseinandersetzungen verhandelt werden. Diese Vorgehensweise ermöglicht das doing, die praxeologische Konstruktion und Herstellung vergeschlechtlichter Kategorisierungen in den Blick zu bekommen.
Konstruktivistische Annäherungen an Geschlecht und Grenze In der Frauen- und Geschlechterforschung erhielt das konstruktivistische Verständnis von Geschlechterdifferenz spätestens Ende der 1980er Jahre Einzug in die Debatten. Anknüpfend an die These Simone de Beauvoirs zur Gewordenheit der Frau – »Man ist nicht als Frau geboren, man wird es« (de Beauvoir 1951) –, wurde nun nach den Konstruktions- und Konstitutionsmodi weiblicher, vergeschlechtlichter Subjektivitäten gefragt: »Nicht mehr, was ist eine Frau ist die Frage, sondern: Wie wird sie konstruiert? Durch wen? Unter welchen Bedingungen? Zu welchen Zwecken?« (Villa 2011: 54) Es geht darum, die unhinterfragten Selbstverständlichkeiten in Bezug auf die Geschlechtszugehörigkeit von Individuen sowie die binäre Einteilung der Geschlechter in Mann und Frau, die soziale Ordnungen und Handeln prägen, zu hinterfragen und zu denaturalisieren (vgl. Wetterer 2008: 122). 1987 veröffentlichten die US-amerikanischen Soziolog_innen Candace West und Don H. Zimmermann den programmatischen Artikel »Doing Gender« in der Zeitschrift Gender and Society. Unter doing gender verstehen sie eine »ongoing activity embedded in everyday in-
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teraction« (West/Zimmerman 1987: 130). Ihnen geht es darum, die Konstitution von Geschlecht in Interaktionen aufzuzeigen: »Our object is to explore how gender might be exhibited or portrayed through interaction, and thus be seen as ›natural‹, while it is being produced as a socially organised achievement.« (Ebd.: 129) Sie betonen, dass es zwar Individuen seien, die Geschlecht machen, aber immer in Interaktion mit anderen und institutionell verortet (vgl. ebd.: 136). Das doing gender geht mit einem machtvollen, normativen Geschlechterwissen einher, das historisch gewachsen und bis heute im Alltag wirkmächtig ist. Diese praxeologische Herangehensweise an Geschlecht ist auch eine kulturanthropologische und war von Anfang an anschlussfähig für Forschungsbereiche der volkskundlichen Frauen- und Geschlechterforschung mit ihrem Fokus auf Alltagspraktiken und Interaktionen (vgl. Lipp 2001). Hess und Lenz weisen darauf hin, dass es gerade ethnographische Betrachtungen sind, mit deren Hilfe »kontextabhängig analysiert werden [kann], unter welchen Bedingungen Geschlecht wie angerufen, zugeschrieben und zur Praxis gebracht wird« (Hess/Lenz 2001b: 19). Eine weitere Dimension des doing gender ist die der Herstellung und Stabilisierung von Heteronormativität, die von der Annahme von Zweigeschlechtlichkeit ausgehend Heterosexualität als normal und natürlich festschreibt. West und Zimmerman betonen, dass bevor nach einer heteronormativen Logik sexuelles Begehren zu einer anderen Person überhaupt erst hergestellt werden kann, nachdem deren Geschlecht identifiziert wurde (vgl. West/Zimmerman 1987: 144 f.). Mit dem Konzept der Heteronormativität wird Heterosexualität »als ein zentrales Machtverhältnis, das alle wesentlichen gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche, ja die Subjekte selbst durchzieht« (Hartmann/Klesse 2007: 9) theoretisiert. Diese Normalsetzung von heterosexuellem Begehren geht mit der Konstruktion von Homo- und Bisexualität sowie von transgender und ‑sexuellen Körpern als abweichend, unnatürlich und anormal einher. Heteronormativität impliziert also nicht nur Differenzierungs-, sondern auch Hierarchisierungsprozesse und ist eine produktive Kraft in der Herstellung sozialer Ordnungen. Hartmann und Klesse weisen darauf hin, dass die hegemoniale Normalsetzung heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit nicht nur das Sexualleben reguliert, sondern »die fundamentale Bedeutung heterosexualisierter Geschlechterbeziehungen für gesellschaftliche Prozesse und Institutionen« (ebd.) markiere. Die Ehe stellt dabei eine der zentralen Institutionalisierungen von Heteronormativität dar und bringt – auch in Zeiten der »Homo-Ehe« – heteronormierende Effekte mit sich. María do Mar Castro Varela schreibt dazu: »Ehe ist nach wie vor Machtsymbol. Mit Hilfe ihrer Privilegierung wird unter anderem die Zwangsheterosexualität stabilisiert.« (Castro Varela 1999: 36) Diese Studie zeigt, wie über den Fokus auf das doing gender auch die Konstruktion von Geschlecht in einer ethnographischen Grenzregimeanalyse empirisch untersuchbar gemacht werden kann. Das Konzept des doing gender ist analytisch anschlussfähig an das praxeologische Verständnis von Grenze im Sinne eines doing border als »dynamisches Konflikt- und Aushandlungsverhältnis« (Hess/Tsianos 2010: 248), in dem ebenfalls in Interaktionen und Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen
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Akteuren Mobilitätsrechte verhandelt werden. Hess und Tsianos verstehen Grenzen als »Heterotopien der Mobilität« (ebd.: 254), also im Sinne Foucaults als »Gegenräume«: »Ihre Realität besteht weniger aus etwas, was sie sind, als vielmehr aus dem, was sie reflektieren und sprechen: eine gesellschaftliche Ordnung.« (Ebd.) Über Prozesse der Mobilisierung und Immobilisierung von Subjekten werden innerhalb des Grenzregimes Macht- und Herrschaftsverhältnisse (wieder‑)hergestellt und ausgehandelt. Dabei werden durch Praktiken der Normalisierung und Naturalisierung sowohl die Kategorie Geschlecht als auch die Institution Grenze zu legitimen Markern für soziale Ordnungen und Hierarchien, wie ich in dieser Studie aufzeigen werde. Praktiken der Verschleierung oder auch Naturalisierung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen beziehungsweise Ein- und Ausschlüssen im doing border – unter anderem durch die (Wieder‑)Herstellung binärer Geschlechterverhältnisse und Heteronormativität sowie die (Re‑)Produktion von normativem Geschlechterwissen über Instrumente wie dem Sprachnachweis oder dem Visum –, lassen sich damit in einer ethnographischen Regimeanalyse untersuchen. Diese simultanen Konstruktions- und Konstitutionsprozesse von Geschlecht und Grenze bilden eine Perspektive, die sich im Folgenden durch die Analyse der Empirie ziehen wird. Mit diesem konstruktivistischen Ansatz schließe ich auch an andere Studien an, die die konflikthafte Herstellung von Geschlecht und Sexualität im Regieren der Migration und in der Aushandlung und Herstellung von Grenze analysiert haben – wie zum Beispiel die Arbeiten von Sabine Hess sowie Rutvica Andrijasevic und Bridget Anderson zum Anti-Trafficking-Dispositiv (vgl. Anderson/Andrijasevic 2009; Hess 2013) oder von Eithne Lubhéid sowie Brigitta Kuster und Vassilis Tsianos zu border crossings (Lubhéid 2002; Tsianos/Kuster 2013). Auch Johanna Neuhauser, Sabine Hess und Helen Schwenken fordern in einem programmatischen Artikel, dass das an die interaktionstheoretische feministische Theorie angelehnte Diktum des doing gender while doing migration auch auf das doing border übertragen werden sollte (vgl. Neuhauser et al. 2017: 188). Diesen methodologischen Perspektivwechsel halte ich gerade im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ für wichtig, der auch medial seit dem Aufkommen dieser Migrationsform als weibliche Migration verhandelt wurde und bis heute wird. Die damit einhergehenden stereotypen Vorstellungen der Migrantin als ›passive, nachziehende Ehefrau‹ machen nicht nur die Handlungsmacht von Frauen, die diesen Migrationsweg nutzen, unsichtbar, sondern auch Männer sowie alle, die von diesem Migrationsweg ausgeschlossen werden. Diese vereinfachenden, viktimisierenden Diskurse ermöglichen auch die Durchsetzung restriktiver Migrationspolitiken unter dem Deckmantel des ›Frauenschutzes‹. Hier lieferten bereits die Studien, die die Handlungsmacht der Migrantinnen in den Vordergrund stellten, wichtiges Potenzial für Kritik. Die Sichtbarmachung der Herstellung und Konstruktion von Geschlecht in den Politiken der staatlichen Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ kann dieses Potenzial noch vergrößern. In meiner Analyse werde ich also auf die Wechselwirkungen zwischen doing gender und doing border im Regieren der Migration durch Heirat eingehen und heraus-
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arbeiten, wie sich diese Prozesse gegenseitig konstituieren: Wo, wann und wie wird Gender im Regieren der Migration durch Heirat – in Diskursen, Praktiken und Institutionen – hergestellt und wirkmächtig? Welche Effekte bringt dieses doing gender für die Mobilität migrantischer Subjekte mit sich? Wie werden Individuen innerhalb des Einreiseverfahrens zu ›Frauen‹ und ›Männern‹ gemacht bzw. deren Vergeschlechtlichung verstärkt? Oder auch wie machen sie sich selbst dazu? Zu welchen Ausschlüssen sowie differenziellen Einschlüssen kommt es durch die (Wieder‑)Herstellung der Kategorie Geschlecht innerhalb des Grenzregimes?
Die Autonomie der Migration und vergeschlechtlichte Produktionsverhältnisse Die soziale Konstruktion von Geschlecht ist nicht unabhängig von kapitalistischen Arbeits- und Produktionsverhältnissen zu analysieren. So fragen West und Zimmerman: »What is the relationship between the production of gender at the level of interaction and such institutional arrangements as the division of labor in society?« (West/ Zimmerman 1987: 140) Diese polit-ökonomische Perspektive auf Geschlechterverhältnisse lässt sich im Kontext der ethnographischen Grenzregimeanalyse am besten durch eine feministisch-marxistische Kritik und eine damit einhergehende Erweiterung der postoperaistischen Perspektive fassen. Piper und Roces plädieren in ihrer Studie »Wife or Worker« dafür, Heiratsmigration ebenfalls mit dem Feld der Arbeit zusammen zu denken, entweder im Sinne von Heirat als Ergebnis von arbeitsbezogener Migration oder der Eintritt in den Arbeitsmarkt von Frauen im Anschluss an eine transnationale Heirat (vgl. Piper/Roces 2003: 2). Sie problematisieren die Einteilung von Migrantinnen in entweder »Heiratsmigrantinnen« oder »Arbeitsmigrantinnen«, und lassen in ihrem Sammelband durch empirische Studien diese Grenzziehungen verschwimmen. Auch ich halte – in Verbindung mit der Perspektive des doing gender – die Kontextualisierung von Migration durch Heirat im Feld von Arbeits- und Produktionsverhältnissen für wichtig, vor allem auch um die durch die kapitalistische Arbeitsteilung hervorgebrachten Geschlechterverhältnisse mitzudenken. Durch das hegemoniale Bild der ›Heiratsmigrantin‹ als ›Hausfrau‹ und ›Mutter‹ sowie ›nachziehend‹ wird die normative Orientierung an einer männlichen Erwerbsbiographie bereits deutlich. Jedoch würde ich noch einen Schritt weitergehen und mich dabei dem Arbeitsbegriff feministisch-marxistischer Theoretikerinnen anschließen: Diese fassen unter Arbeit nicht nur Lohnarbeit, sondern auch unbezahlte Reproduktionsarbeit. Während Marx lediglich die wertschöpfende Arbeit im Sinne von Warenproduktion als produktiv versteht und damit nur die männlichen Arbeiter als Lohnarbeiter und Familienernährer sichtbar machte, sollten mit dem erweiterten Arbeitsbegriff auch Frauen und deren Arbeiten im vorwiegend häuslichen Bereich in die Analyse des Kapitals miteinbezogen werden. Mit diesem feministisch-marxistischen Perspektivwechsel wurde auch mehr Anerkennung und Wertschätzung der Reproduktionsarbeit eingefordert und deren ebenfalls werterzeugender Gehalt hervorgehoben (vgl. Haug 2014: 131).
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Weibliche Hausarbeit und reproduktive Tätigkeiten waren auch in der volkskundlichen Frauen- und Geschlechterforschung von Anfang an ein wichtiges Forschungsthema, um die Arbeit von Frauen sichtbar zu machen (vgl. Lipp 2001: 332). Die europäisch-ethnologische Arbeitsforschung beschäftigt sich ebenfalls seit einiger Zeit mit der gesellschaftlichen Einteilung von Tätigkeiten in Arbeit und ›Nicht-Arbeit‹, die im Postfordismus zunehmenden Entgrenzungen unterliegt (vgl. Götz 2015; Herlyn et al. 2009). Im Postfordismus erfährt Reproduktionsarbeit nach wie vor keine Anerkennung als produktive Arbeit im Sinne von Entlohnung, trotzdem kommt es zu einer Professionalisierung reproduktiver Tätigkeiten im Sinne von Wissens- und Gefühlsarbeit, wie Petra Schmidt und Irene Götz aufzeigen (vgl. Schmidt/Götz 2010) sowie zu einer Auslagerung an migrantische Arbeitkräfte, was Arlie Russell Hochschild mit dem Begriff der ›globalen Betreuungsketten‹ beschreibt (vgl. Hochschild 2000).11 Sabine Hess weist am Beispiel der Erwerbsarbeit von Au-pair-Frauen in Deutschland darauf hin, dass selbst mit der Kommerzialisierung der Hausarbeit, die auch mit einer Ethnisierung einherging, dieser Bereich nach wie vor als ›Nicht-Arbeit‹ gelte (vgl. Hess 2009: 206). In einer feministisch-marxistischen Analyse wird nicht allein von den Kategorien Geschlecht oder Gender ausgegangen, sondern es rücken vielmehr Geschlechterverhältnisse in den Blick, also die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, deren 11 Carola Lipp weist darauf hin, dass in der volkskundlichen Arbeitskulturforschung Frauen durch die Orientierung an Lohnarbeit lange Zeit nur als ›Randerscheinung‹ berücksichtigt wurden (vgl. Lipp 2001: 341). Auch Sabine Hess kritisiert, dass in der Arbeitssoziologie und -ethnologie der Fokus ebenfalls vor allem auf Entgrenzungsprozessen bezüglich der Veränderungen der Erwerbsarbeit lag und dadurch Haus- und Care-Arbeit eine »wenig erforschte Kehrseite der postfordistischen Arbeitskulturen« blieb (vgl. Hess 2009: 212). Feministinnen übten ebenfalls Kritik an den Überlegungen von Hardt und Negri, denen zufolge im Postfordismus »immaterielle« sowie »affektive Arbeit« durch das Kapital neu aufgegriffen und verwertet werde (vgl. Hardt/Negri 2002). Zwar werden durch dieses Konzept Formen von Reproduktionsarbeit sichtbar gemacht und in die Kapitalismusanalyse miteinbezogen, aber nur wenn diese in Form von Lohnarbeit auftreten (vgl. Schultz 2002). Auch die europäisch-ethnologische Arbeitsforschung arbeitet in Anschluss an Hardt und Negri mit diesen Konzepten, jedoch vor allem im Sinne der Subjektivierung von Arbeit und der damit einhergehenden Verwertung von Subjektivität, Kreativität und Emotionen (vgl. Herlyn et al. 2009). Mit den Folgen der Unsichtbarkeit und fehlenden Anerkennung und Wertschätzung von Haus- und Care-Arbeit im Sinne von Entlohnung und sozialen Sicherheitsleistungen, die sich unter anderem in vergeschlechtlichten Prekarisierungsprozessen materialisieren, beschäftigen sich aktuelle Forschungsprojekte im Fach wie das DFG-Projekt »Prekärer Ruhestand. Arbeit und Lebensführung von Frauen im Alter« von Irene Götz und Alex Rau sowie das Dissertationsprojekt »Beruflicher (Wieder-)Einstieg – Eine geschlechtertheoretische Betrachtung gegenwärtiger Beratungspraxen an der Schnittstelle zwischen Familie und Erwerbsarbeit« von Nina Reggi.
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Konstruktion sowie Verwobenheit mit sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen (vgl. Haug 2014). Geschlechterverhältnisse werden dabei auch immer als Produktionsverhältnisse verstanden, wobei das marxsche Verständnis von Produktion weiterentwickelt wurde und von zwei Produktionen ausgegangen wird: »denen des Lebens selbst, des eigenen und des der Kinder zum einen und der der Lebensmittel zum anderen, wobei letztere mit Profit organisiert werden und immer schneller und rationeller entwickelt werden« (ebd.: 13). Der marxistische Feminismus ist in enger Verbindung zum Operaismus zu denken, da beide Strömungen aus der Kritik am orthodoxen Marxismus heraus entstanden sind, wobei sich gerade in Italien marxistische Feminist_innen auch von den männlich dominierten operaistischen Kontexten ablösten, um feministische Kritik am Marxismus weiterzudenken. Als die wichtigsten Vertreterinnen der operaistischen Feministinnen – auch Autonomia-Feministinnen – sind Silvia Federici, Maria Dalla Costa und Selma James zu nennen. Ihnen ging es ebenfalls darum, die Zentralsetzung von Lohn als Kriterium für die Einteilung von Tätigkeiten in Arbeit oder Nicht-Arbeit im orthodoxen Marxismus zu hinterfragen (vgl. Dalla Costa/James 1972). Diese Sichtweise ist anschlussfähig und wichtig als Erweiterung für die These der Autonomie der Migration, die – den Überlegungen Yann Moulier Boutangs folgend – zunächst auch von der Arbeitskraft im Sinne von Lohnarbeit (›salariat‹) ausgeht und damit die Relevanz der Reproduktion von Leben, die zumeist von Frauen getragen wird, unsichtbar macht. So kritisiert Silvia Federici auch explizit Moulier Boutangs »De l’ésclavage au salariat« für die ausbleibende Berücksichtigung der Situation der Frauen (vgl. Federici 2004: 127). Eine weitere Parallele zwischen dem Ansatz der Autonomia-Feminist_innen und der These der Autonomie der Migration ist die Sichtbarmachung marginalisierter Gruppen als transformative Kräfte und politische Subjekte, im Falle ersterer der ›Hausfrauen‹, im Falle der Autonomie der Migration der Migrant_innen, die sich als Gruppen in diesem Feld überschneiden. ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ wird in Ländern des Globalen Nordens vor allem als ›unproduktive‹ sowie ›unqualifizierte‹ Einwanderung wahrgenommen, die eine Gefahr für die Integration sowie eine Belastung für den Sozialstaat darstellt und damit eigentlich ›unerwünscht‹ ist (vgl. Block 2016: 52 f.). In dieser Arbeit möchte ich danach fragen, wie sich vergeschlechtlichte Produktionsverhältnisse sowohl auf die Praxis der Migration durch Heirat als auch das Regieren der Migration durch Heirat auswirken, aber auch wie in diesem Feld – in der konflikthaften Herstellung von Grenze – vergeschlechtlichte Produktionsverhältnisse wiederum in Praktiken, Diskursen und Institutionen hergestellt und stabilisiert werden. Die Verknüpfung praxeologischer, konstruktivistischer mit materialistischen, postoperaistischen Perspektiven ermöglicht sowohl die Herstellung von Geschlecht im Regieren der Migration durch Heirat als auch die Geschlechterverhältnisse im Sinne von Produktionsverhältnissen in die ethnographische Analyse des Grenzregimes miteinzubeziehen und dieses komplexe Zusammenspiel damit empirisch fassbar zu machen. Auch Gutiérrez Rodríguez fordert, dass Prozesse der Vergeschlechtlichung immer sowohl in Beziehung zu historischen Ereignissen gestellt werden müss-
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ten wie denen des Kapitalismus, des Kolonialismus oder des Imperialismus als auch »mit gesellschaftlichen Verhältnissen und institutionalisierten kulturellen Praktiken, in denen hegemoniale Verständnisse in den Alltagsverstand übertragen und von den Subjekten performativ angeeignet und verkörpert werden« (Gutiérrez Rodríguez 2011: 89). Hierarchische Beziehungen sowie ungleiche Arbeits- und Produktionsverhältnisse werden jedoch nicht nur über Geschlecht hergestellt, sondern entlang mehrerer »Achsen der Differenz« (Knapp/Wetterer 2003), die es in einer ethnographischen Grenzregimeanalyse zu berücksichtigen gilt, wie ich im nächsten Kapitel aufzeigen werde.
2.2.2 Ein dekolonialer, ethnographisch-intersektionaler Blick Allein auf die Herstellung und Artikulation von Geschlecht im Regieren der Migration durch Heirat zu blicken, würde die Verwobenheit mit anderen Differenzierungsund Hierarchisierungsprozessen unsichtbar machen. Um Geschlecht zu dezentrieren und die Herstellung und Relationalität mit weiteren Differenzkategorien zu analysieren, ist ein intersektionaler Ansatz unerlässlich, gerade in einem Forschungsprojekt wie diesem, das sich unter anderem mit transnationaler Ungleichheit auseinandersetzt und in einem postkolonialen Kontext durchgeführt wurde. Im Gegensatz zu bisherigen Studien im Feld ›Migration und Heirat‹, die durch einen ethnokulturellen Bias ethnisierte sowie kulturalisierte Räume oftmals eher festschreiben als diese zu dekonstruieren, gehe ich von einem politischen Feld aus, innerhalb dessen multiple Differenzierungs- und Hierarchisierungsprozesse vonstatten gehen, die es in Alltagspraktiken und -situationen kleinteilig nachzuzeichnen gilt. Bereits die Hierarchisierung des Zugangs zu Mobilität innerhalb des europäischen Grenzregimes entlang von Staatsbürgerschaften, wobei in EU-Bürger_innen sowie ›Drittstaatsangehörige‹ unterschieden wird, folgt einer postkolonialen Ordnung, wie unterschiedliche Theoretiker_innen aufgezeigt haben (vgl. Gutiérrez Rodríguez/ Steyerl 2012; Ha 2012). Gutiérrez Rodríguez betont, dass die Unterscheidung zwischen EU‑Bürger_innen und Bürger_innen aus ›Drittstaaten‹ dabei für die »Tendenz nach territorialer Ausgrenzung nach außen und einer Vereinheitlichung nach innen« stehe, wobei Verschiebungen und Veränderungen von Grenzen innerhalb Europas durch Neubürger_innen unbeachtet blieben (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999b: 260). Auf diesen Prozess weist auch Sandro Mezzadra mit dem Konzept der »differenziellen Einschließung« hin: »Die Spannung zwischen einer utilitaristischen Haltung zur Migration (›Europa braucht die migrantische Arbeitskraft‹) und einer, die Aspekte der ›Sicherheit‹ in den Vordergrund stellt, bringt Migrationsbewegungen gegenüber eine Logik differenzieller Einschließung hervor, die dazu neigt, die koloniale Entgegensetzung von metropolitaner Bürgerschaft und ›kolonialen Untertanen‹ zu reproduzieren.« (Mezzadra 2009: 208)
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Ein Blick auf die Liste der durch die Europäische Union sowie der Bundesrepublik als ›visumspflichtige Drittstaaten‹ kategorisierten Länder verdeutlicht sowohl Kontinuitäten als auch Verschiebungen in den kolonialen Hierarchisierungen unterschiedlicher Regionen weltweit, die sowohl der Konstruktion der ›fremden Anderen‹ als auch dem ›Bruttoinlandsprodukt‹ sowie internationaler Arbeitsteilung folgt: So haben Angehörige von Staaten wie der USA, Kanada oder Australien trotz Kategorisierung als ›Drittstaat‹ die Möglichkeit ohne Visum für drei Monate in den Schengenraum einzureisen. Fast alle afrikanischen Staaten dagegen gehören zu den ›visumspflichtigen Drittstaaten‹. Diese Einstufung bedeutet keine Einreise ohne Visum. Zu letzterer Gruppe gehört auch Marokko (vgl. Auswärtiges Amt 2016). Was bedeutet nun eine postkoloniale Perspektivierung für die Analyse der staatlichen Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹? Mit der Aussage »[W]e are here because you were there« (Mercer 1994: 7) wies der Kunsthistoriker Kobena Mercer auf den Zusammenhang zwischen Migration und kolonialer Vergangenheit hin. Er sieht Einwanderung aus dem Globalen Süden nach Europa »as a reminder and a remainder of its historical past« (ebd.). Eine postkolonial-theoretische Perspektivierung geht darüber hinaus, den Fokus der Analyse auf den Zeitraum zu legen, in dem geographische Territorien wie Marokko von europäischen Kolonialmächten besetzt und ausgebeutet wurden. Diese Phase der gewaltvollen Besetzung und Ausbeutung bildet vielmehr einen Bestandteil sowie den Ausgangspunkt für postkoloniale Theorie. Dabei wird davon ausgegangen, dass keine Region weltweit den Effekten des Kolonialismus entgehen konnte (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 11). Ein Großteil des Globalen Südens war über Jahrhunderte kolonisiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren 85 Prozent der Erde durch die europäischen Kolonialmächte – in Form von Kolonien, Protektoraten und Dependancen – regiert (vgl. Castro Varela/Dhawan 2009: 9). Auch wenn mittlerweile die meisten Länder offiziell unabhängig sind, bleiben die Folgen der Ausbeutung und Besetzung und damit einhergehende Machtverhältnisse und Abhängigkeiten zwischen ehemaligen Kolonialmächten und Kolonisierten nach wie vor sichtbar und wirkmächtig und in viele Bereiche des Alltags eingeschrieben, wie ökonomische, rechtliche und administrative Systeme sowie Sprachen, Bildung und religiöse Orientierungen zeigen. Die Postkolonialtheoretikerinnen Nikita Dhawan und María do Mar Castro Varela schreiben, dass postkoloniale Theorie »als eine Perspektive verstanden werden [kann], die sich der Rekonstruktion des europäischen Imperialismus und Kolonialismus verschrieben hat und gleichzeitig die Kämpfe gegen diese spezifische Herrschaftsformation analysiert« (Castro Varela/Dhawan 2005: 10). Der Begriff ›postkolonial‹ entziehe sich der exakten Markierung, so die beiden Autorinnen. Die Vorsilbe ›post‹ weist jedoch sowohl auf die zeitliche Dimension nach der Kolonisierung – also ab dem Zeitpunkt der (offiziellen) Unabhängigkeit der ehemals kolonisierten Staaten hin, als auch auf die Fortführungen und Kontinuitäten des kolonialen Erbes sowie Formen von Neokolonialismus – also das, was darüber hinaus geht (vgl. ebd.: 114 f.). Dhawan und Castro Varela betonen, dass postkoloniale Theorie sowohl den Prozess der Kolonisierung als auch den einer kontinuierlichen De- und Rekolonisierung untersuche: »Die
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Perspektive auf den (Neo-)Kolonialismus beschränkt sich dabei nicht auf eine brutale militärische Besetzung und Ausplünderung geographischer Territorien, sondern umfasst auch die Produktion epistemischer Gewalt.« (Castro Varela/Dhawan 2005: 8) So ging die Kolonisierung mit einer umfassenden Wissensproduktion, der »Konstruktion und Fixierung der ausnahmslosen Anderen« einher, um die Überlegenheit und Souveränität Europas zu konstruieren und festzuschreiben, und bildet bis heute die Grundlage rassistischen Denkens und Handelns, das auch die Wissenschaft durchzieht (vgl. ebd.: 16). Eine postkoloniale Perspektivierung eines Forschungsfelds bedeutet also auch immer globale Ordnungen und Machtverhältnisse zu denaturalisieren und historisch gewachsene Macht/Wissen-Komplexe zu dekonstruieren. Um sowohl eurozentristische Epistemologien und Wissensbestände als auch internationale Arbeitsteilung und Neokolonialismus zu analysieren und zu kritisieren, kombiniert postkoloniale Theoriebildung poststrukturalistische mit marxistischen Ansätzen und ist damit auch anknüpfungsfähig an die Methodologie der ethnographischen Grenzregimeanalyse: »Postkoloniale Theorie gilt als die kontinuierliche Verhandlung dieser beiden scheinbar gegensätzlichen Erkenntnismodi.« (Castro Varela/Dhawan 2005: 8) Bei einer postkolonialen Perspektivierung besteht die Gefahr, dass die Interpretationen und Analysen den Eindruck vermitteln, als ob alle aktuellen Entwicklungen allein auf den jahrhundertelangen Kolonialismus und den Einfluss der Kolonialmächte zurückzuführen seien, die ehemals kolonisierten Regionen keine präkoloniale Geschichte hätten sowie die kolonisierten Subjekte keine Handlungsmacht. Dies ist nicht das Anliegen der postkolonialen Theorie. Gerade die unterschiedlichen Formen antikolonialen Widerstands sind Ausgangspunkt postkolonialer Analysen. Auch sollen präkoloniale Strukturen und Geschichte, wenn diese auch oft schwer nachzuzeichnen seien, wie Dhawan und Castro Varela hervorheben, immer mit untersucht werden (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 23 f.). Das Ausmaß der kolonialen Besetzung und Ausbeutung durch die europäischen Kolonialmächte war derart einzigartig in der Geschichte – sowohl zeitlich (über fünf Jahrhunderte), räumlich (Anfang des 20. Jahrhunderts 85 Prozent der Erde), als auch epistemisch (Kolonialismus ging mit umfassender Wissensproduktion einher) –, dass das koloniale Erbe bis heute mit sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen weltweit – sowohl in den ehemals kolonisierten als auch den kolonisierenden Staaten – verwoben ist und es unerlässlich ist diese mitzudenken, um aktuelle globale Verhältnisse und Ordnungen zu verstehen. Es gehe um eine transnationale Geschichtsschreibung und darum, Imperialismus als ein europäisches wie außereuropäisches Gesamtphänomen zu verstehen (vgl. ebd.: 24). Trotzdem blieb eine Auseinandersetzung mit postkolonialer Theorie gerade im deutschsprachigen Raum lange Zeit aus. Dies ist auch auf die bis heute anhaltende Unsichtbarmachung von Deutschlands Rolle im Kolonialismus und Versklavungshandel zurückzuführen. Durch eine postkoloniale Perspektivierung wird der eigene Standpunkt in globalen Verhältnissen sowie der Umstand deutlich, dass zum Beispiel afrikanische Geschichte – im Sinne von »Verflechtungsgeschichten« (Randeria/Römhild 2013: 17) – auch immer ein Stück europäische Geschichte ist und umgekehrt.
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Auch in der Volkskunde_Europäischen Ethnologie_Kulturanthropologie mit ihrem traditionellen Schwerpunkt auf europäische Gesellschaften steht eine postkoloniale Reflexion erst am Anfang, findet jedoch im Sinne einer kritischen Europäisierungsforschung zunehmend Beachtung (vgl. ebd.: 14). Diese Studie soll zu diesem Vorhaben einer »selbstreflexiven Wende post- und dekolonialer Kritik« (ebd.) im Fach Europäische Ethnologie_Kulturanthropologie einen Beitrag leisten. In Anschluss an eine postkoloniale Reflexion ist auch das Konzept der Intersektionalität hilfreich. Eine feministische postkoloniale Analyse bedeutet, im Kontext von Postkolonialismus auch Gender in seiner Verschränkung mit anderen Kategorien zu analysieren (vgl. Castro Varela/Dhawan 2009: 11). Differenzkategorien wie race bzw. Ethnizität, Klasse und Gender sind bereits in ihrem historischen Gewordensein strukturell miteinander verschränkt und bedingen sich gegenseitig: »All three divisions involve access to resources and processes of exclusion and inclusion, and at times oppression and domination. They all involve systems of representation concerning capacities and needs, both within everyday languages and embodied in offical documents and state practices and legislation.« (Anthias/ Yuval-Davis 1992: 12) Eine intersektionale Analyse ermöglicht in Anschluss an postkoloniale, rassismuskritische Perspektiven die Gleichzeitigkeit weiterer Kategorisierungen und Positionalitäten wie Geschlecht oder Klasse in ihrer wechselseitigen Konstitution und Verschränkung zu untersuchen (vgl. Binder/Hess 2011). Über den Ursprung des Konzepts der Intersektionalität gibt es unterschiedliche Erzählungen, die sich jedoch nicht widersprechen, sondern vielmehr von einer Gleichzeitigkeit zeugen, jedoch mit unterschiedlicher Intensität sichtbar wurden (ebd.). Zentral waren sicherlich die sowohl politischen als auch gesellschaftsanalytischen Forderungen Schwarzer Frauen, Women of color und migrantischer Wissenschaftlerinnen wie in den USA zum Beispiel das Combahee River Collective (»A Black Feminist Statement« von 1977), Kimberlé Crenshaw, Audre Lorde, Angela Davis oder bell hooks sowie im bundesdeutschen Kontext beispielsweise die Autorinnen des Buchs »Farbe bekennen« (1986) May Ayim, Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz oder die feministischen Migrantinnen von FeMigra (»Wir, die Seiltänzerinnen«, 1994), die am weißen bürgerlichen heteronormativen Feminismus Kritik übten, sich darin nicht repräsentiert und anerkannt sahen und die Relevanz anderer Ungleichheitsmechanismen wie race, class und sexuality betonten. Dabei war der Anspruch nicht eine einfache Addition der Machtungleichheiten und Differenzkategorien vorzunehmen, sondern vielmehr eine eigene Theoretisierung der Interdependenzen zu entwickeln, die ihre Subjektpositionen und Lebensverhältnisse hervorbringen (vgl. Binder/Hess 2011: 27). Gutiérrez Rodríguez betont, dass es Feministinnen in den USA wie Kimberlé Crenshaw vor allem darum gegangen sei, die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen ausgehend von »der Gegebenheit der vorgefundenen Gesellschaftsbedingungen« sichtbar zu machen (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2011: 78). Theoretikerinnen in der Bundesrepublik dagegen seien weniger an der Anerkennung multipler Identitäten interessiert gewesen,
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Auch die Kämpfe für die Berücksichtigung von Klassenverhältnissen in feministischen Bewegungen und die damit einhergehende klassenanalytische Perspektive auf Gesellschaft in der ersten und zweiten Frauenbewegung sind in diesem Zusammenhang zu nennen (vgl. Binder/Hess 2011: 22 f.; Roßhart 2016). Eine große Gefahr des intersektionalen Ansatzes ist die Festschreibung und Essenzialisierung von Kategorien und damit die Unsichtbarmachung anderer Machtverhältnisse und vor allem der Handlungsmacht von Subjekten, sozialen Kämpfen und Praktiken des Entziehens und des Fliehens vor Kategorisierungen und Klassifikationen (vgl. Lorey 2011c). Die Kulturanthropologie_Europäische Ethnologie mit ihrer ethnographischen Akteursperspektive, der induktiven Herangehensweise und einem praxeologischen Ansatz ermöglicht jedoch, Kategorien nicht im Vorfeld festzulegen, sondern vielmehr über die Beobachtung und Analyse alltäglicher Praktiken herauszuarbeiten, wie hier bestimmte Kategorien, Normen und Verhältnisse dynamisch und situativ hergestellt, ausgehandelt und konstitutiv werden. »Eine derartige intersektionale induktive Forschungsperspektive stellt strukturalistische Intersektionalitätsansätze vom Kopf auf den Fuß.« (Binder/Hess 2011: 47) Subjekte werden dadurch einerseits als Produkt ihrer Positionalität, also von gesellschaftlichen Machtund Herrschaftsverhältnissen, sichtbar und gleichzeitig als handelnde Akteure, die ihre eigene Subjektposition und ‑konstitution sowie die Verhältnisse bis zu einem gewissen Grad und je nach Ressourcen selbst mitbestimmen und -formen. So schreiben Binder und Hess zur ethnographischen Herangehensweise an intersektionale Analysen, wonach »Kultur und Gesellschaft als prozesshafte Phänomene« (Binder/Hess 2011: 48) verstanden werden: »Aus dieser Perspektive wird Intersektionalität zum Werkzeug, welches das Verständnis von Herrschafts- und Machtverhältnissen zu komplizieren sowie zu differenzieren vermag. Ist doch eine der zentralen Problematisierungen in der Debatte, wie – jenseits einfacher binärer Oppositionen von Opfer/Täter, Privilegierung/Unterlegenheit, Macht/Ohnmacht, Handlungsoption oder -restriktion – Formen von Ungleichheit und Macht, die durch Institutionen, Repräsentationen und Praxen gefügt, gefestigt oder verflüssigt werden, zu beschreiben sind – und in feministisch emanzipativer und/oder queerer normalitätskritischer Weise verschoben werden können.« (Ebd.: 39)
Gerade auch der praxeologische Ansatz der ethnographischen Regimeanalyse ermöglicht Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht als etwas Gegebenes, Determiniertes und Fixiertes zu betrachten und damit auch Differenzkategorien festzuschreiben und zu essenzialisieren, sondern diese gerade in ihrer Dynamik, Brüchigkeit, Konstitution und permanenten Herstellung in Praktiken und Diskursen multiskalar zu unter-
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suchen. Im Rahmen dieser Studie werde ich mit dem Fokus auf das doing border auch danach fragen, wie diese, aber auch weitere Differenzkategorien in Alltagspraktiken sowie in Diskursen von unterschiedlichen Akteuren in ihren Verschränkungen und Wechselwirkungen immer wieder hergestellt, aber auch durchbrochen und verändert werden. Zu welchen Differenzierungs- und Hierarchisierungsprozessen kommt es in Situationen, Aushandlungen und Interaktionen innerhalb des Grenzregimes und welche Zuschreibungen, Anrufungen und Bezeichnungen werden dabei (re‑)produziert? Welche Umgangsweisen und Handlungsmöglichkeiten für regierte Subjekte gehen damit einher? Und wie materialisieren sich diese Differenzkategorien in Handlungen, Subjektivitäten und Im/mobilitäten? Welche (post‑)kolonialen Praktiken, Diskurse und Ordnungen werden dabei wirkmächtig oder durchbrochen?
2.3 O perationalisierung und M ethodik einer ethnographischen R egimeanalyse Für die Erkenntnisgewinnung ethnographischer Forschung ist zentral, wo wir wie forschen, worauf wir unseren Blick richten, welcher Methoden wir uns bedienen und wie wir selbst als Forscher_innen dabei situiert sind. Hess und Tsianos problematisieren, dass die fehlende Sichtbarkeit und Thematisierung der Bewegungen der Migration in Forschungsprozessen und Interpretationen zumeist nicht nur ein Problem der Theorie sei, »sondern vielmehr ein Manko der Operationalisierung der Forschung und ein Problem der Methodologie, verstanden als die perspektivische und situative Praxis der Wissensgenerierung« (Hess/Tsianos 2010: 244). Im folgenden Kapitel werde ich darlegen, wie ich den methodologischen Ansatz der ethnographischen Grenzregimeanalyse in dieser Studie operationalisiert habe und welches methodische Vorgehen damit einherging.
2.3.1 Grenze als Methode: Lokalisierungen, Materialisierungen, Erfahrungen September 2012, europäische Außengrenze in Algeciras. Ein großer Teil der spanischen Grenzstadt ist Hafen. Er zieht sich die gesamte Bucht entlang und ist einer der Größten Europas. Für viele Menschen ist Algeciras vor allem Transitstadt. Sie gehen den kürzesten Weg vom Busbahnhof zum Hafen, um die Fähre nach Marokko zu nehmen, oder in die entgegengesetzte Richtung. Nur ein kleiner Teil des Hafens ist für Personenverkehr ausgerichtet. Eine Straße führt vorbei an Containern der Guardia Civil zwischen einem Gebäude, wo Tickets verkauft werden und einem großen Parkplatz hindurch zum Hauptgebäude, wo ebenfalls Fährgesellschaften um Passagiere werben sowie das Boarding auf die Schiffe stattfindet: Links die Rolltreppe hoch geht es zum Check-in für Tanger, rechts für Ceuta. Europäische Außengrenze sind hier nicht nur Zäune, Flutlichter, Überwachungstechnik und Grenzbeamt_innen, sondern auch Alltag und Normalität. Und vor allem ist Grenze auch Mobilität. Tagtäg-
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lich passieren hier Menschen die Meerenge von Gibraltar: Tourist_innen, Geschäftsleute, Verwandte, die ihre Angehörigen besuchen, Pendler_innen, das Personal der Schiffe, marokkanische Grenzbeamt_innen, die auf der Fähre die Pässe kontrollieren und stempeln. Doch vor allem sind hier Ware und Fracht mobil. Während der Personenverkehr nur einen vergleichsweise winzigen Teil des Hafens einnimmt – was sich auch räumlich manifestiert, und besonders deutlich auf fotografischen Aufnahmen aus der Vogelperspektive wird –, werden hier vor allem Container umgeladen beziehungsweise be- und entladen. So zieht sich von der Küste ein riesiges Industriegebiet bis ins Landesinnere. Auf der marokkanischen Seite wurde in den letzten Jahren ein neuer Industriehafen gebaut mit einer direkt angeschlossenen steuerfreien Zone: Tanger-Med. Eine wichtige Verbindung zwischen Afrika und Europa für den kapitalistischen Weltmarkt. Was von dieser Seite der Grenze unsichtbar bleibt, ist zum einen wer irregulär das Meer überquert, da diese Menschen aufgrund der umfassenden Überwachung Orte wie den Hafen meiden, und zum anderen wer die Grenze von Afrika nach Europa nicht passiert. Im Herbst 2012 steige ich selbst in die Fähre von Algeciras nach Tanger. Während ich die letzten Male als Touristin diese Route genommen hatte, bin ich an diesem Tag das erste Mal als Forscherin unterwegs. Ich gehöre dabei zu denen, die die Grenze ohne Hindernisse übertreten können: mit einem dunkelroten deutschen Pass, dem »mächtigsten« Pass der Welt laut »Visa Restriction Index« (Timmler 2016), musste ich nicht einmal ein Visum beantragen, um nach Marokko einzureisen. Diese globale Ungleichheit im Zugang zu Mobilität und das eigene Privileg rein rechtlich Bewegungsfreiheit zu genießen, wird mich in den nächsten Jahren in Gesprächen und Begegnungen mit Menschen in Marokko immer wieder begleiten. Im Hafen von Tanger angekommen, ändert sich die Perspektive auf die Grenze. Die Stadt ist geprägt sowohl von Mobilität als auch von Immobilität zwischen Europa und Afrika. Viele Menschen haben enge Beziehungen nach Spanien und in andere europäische Länder: Verwandte, Freund_innen, Liebesbeziehungen, Internetfreundschaften. Andere machen transnationale Geschäfte durch Import-Export, wie zum Beispiel in den spanischen, ebenfalls steuerfreien Enklaven Ceuta und Melilla. Viele sprechen mehrere Sprachen fließend und am Hafen loggt sich das Handy immer wieder in ein spanisches Mobilfunknetz ein. Blickt man Richtung Norden, zeichnet sich am Horizont die Silhouette von Spanien ab. An klaren Tagen lassen sich sogar die Windräder auf den grünen Hügeln, die Konturen der weißen Häuser von Tarifa sowie der Fels von Gibraltar erkennen. Tanger ist geprägt von diesem Blick. Auf den Hügeln, über die sich die Stadt legt, befinden sich immer wieder Plätze, die auf das Meer in Richtung Spanien ausgerichtet und gleichzeitig beliebte Aufenthaltsorte sind: So hat man am Plaza de Torros nicht nur einen freien Blick auf den Hafen, sondern auch auf die spanische Küste. Ein weiterer gut besuchter Ort ist ein Platz am Hügel Richtung Café Haffa, wo Menschen zwischen Gräbern der alten Phönizier sitzen: Männer und Frauen, vor allem auch viele junge Pärchen, die sich unterhalten oder ihren Gedanken nachhängen. Auf eine ähnliche Stimmung trifft man im Café Haffa, wo die Gedanken und Träume noch durch den Konsum von Haschisch verstärkt werden.
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Doch die Mehrheit der jungen Leute in Tanger war noch nie auf der anderen Seite der Meerenge von Gibraltar. Durch Europas restriktive Einreisebestimmungen ist es nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung möglich regulär einzureisen. Trotzdem gibt es diesen Wunsch nach Europa zu gehen, oft auch nur um zu reisen und zu sehen, was sich hinter dieser Silhouette am Horizont verbirgt. So erinnert sich ein Freund, der in Tanger aufgewachsen ist, wie sie schon als Kinder im Hafen gespielt und versucht haben, sich auf die Fähren zu schmuggeln. Manche sind sogar das Risiko eingegangen mit Schlauchbooten die Strecke über das Wasser zu überwinden, einige erfolgreich, andere sind dabei ums Leben gekommen. Bei einem Workshop in der Deutschabteilung der Universität Tanger im März 2016 argumentiert ein Studierender für offene Grenzen: Was verboten sei, würde den Anreiz noch viel größer machen, Grenzen zu überwinden, erklärt er. Grenzen sind mehr als territoriale Demarkationslinien. Es handelt sich vielmehr um Räume, die mit unterschiedlichen Bedeutungen und Imaginationen aufgeladen sind und sich auch territorial weiter strecken. Grenzen sind Aushandlungsräume, an denen eine Vielzahl von Akteuren beteiligt sind und sich auf unterschiedliche Weise lokalisieren und materialisieren. Die soziale Institution der Grenze ist nichts Gegebenes, sondern konstituiert sich in border struggles – in den Spannungen und Konflikten zwischen den Praktiken der Grenzsicherung und -kontrolle einerseits und Grenzübertritten andererseits (vgl. Mezzadra/Neilson 2013: 3). Dabei ist die Vorstellung einer Mauer oder eines unüberwindbaren Zauns irreführend, da Grenzen zumeist nicht auf Exklusion ausgerichtet, sondern porös sind und die Durchlässigkeit und damit Mobilität Teil der Institution Grenze ist (vgl. ebd.: 7). Grenze wird räumlich weit vor der eigentlichen territorialen Linie gemacht und ausgehandelt. Mezzadra und Neilson schlagen vor Grenze als Methode zu verstehen, die einen Forschungsprozess erfordere, »der den vielfältigen Kämpfen und Verhandlungen stets Rechnung trägt und auf sie reagiert; […] [der] versucht, die verschiedenen Formen von Mobilität zu verstehen, die unterschiedliche Räume durchqueren, sich überschneiden und damit gerade den Raumbegriff in seiner Konstitution zunehmend heterogen und komplex machen« (Mezzadra/Neilson 2008).
Der ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ ist ebenfalls ein Produkt dieser Aushandlungen und Konflikte innerhalb der Institution Grenze. Um diese Praxis zu erforschen, übertrat ich selbst die europäische Außengrenze und habe damit Grenze erfahren, dabei immer aus einer spezifischen Subjektposition heraus. Ich hatte mich bewusst dafür entschieden vor Europas territorialen Grenzen zu diesem Feld zu forschen, um die Effekte von Politiken und Regulationen bereits vor dem eigentlichen Übertritt der Grenze sichtbar zu machen und der aktuellen Entwicklung hin zu einer Vorverlagerung und Externalisierung des Grenzregimes nachzugehen (vgl. Cuttitta 2010: 26). Auch Hess und Tsianos betonen, dass um Grenze zu erforschen, eine reine Forschung vom Schreibtisch nicht ausreiche. Dabei würde immer die Gefahr bestehen Programmatiken zu reproduzieren. Erst im eigenen Erfahren und in der eigenen Situiertheit
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der Forscherin könne die Konstitution der Grenze erforschbar werden, wobei es auch oft das Zufällige und Ungeplante sei, was zu neuen Einsichten und Perspektiven führe (vgl. Hess/Tsianos 2010: 252 ff.). Meine erste Anlaufstelle in Tanger war die Deutsch-Marokkanische Gesellschaft (DMG Nord). Eine Institution, die mit dem Goethe-Institut kooperiert und an der unter anderem Deutschkurse angeboten werden, in denen auf die A1‑Prüfung vorbereitet wird. Hier hatte ich sowohl die Möglichkeit mit Menschen zu sprechen, die selbst Deutsch lernen, weil sie ein Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ nach Deutschland beantragen möchten, als auch mit Personen, die an der Organisation und Durchführung dieser Kurse beteiligt sind. Das Regime ist nichts Abstraktes, eine Makroebene, sondern lokalisierbar und verräumlicht und materialisiert sich im Alltag immer wieder an unterschiedlichen sites (vgl. Marcus 1995). Die Grenze – als »totales soziales Verhältnis und, im Sinne eines doing border, als Praxis« – sei »immer nur ›konkret‹, in ihren verschiedenen Lokalisierungen und Schauplätzen […] zu ergründen« (Hess/Tsianos 2010: 255). Dieses Verständnis knüpft an Überlegungen zu einer global ethnography (vgl. Burawoy 2000; Marcus 1995; Tsing 2005) an, die ebenfalls globale Kräfte, Entwicklungen und Systeme an konkreten sites und deren Verbindungen ethnographiert und dabei Dichotomien wie lokal und global oder Lebenswelt und System aufbricht (vgl. Marcus 1995: 98). Manuela Bojadžijev und Regina Römhild heben hervor, dass es bei diesen methodischen Ansätzen der global ethnography nicht darum gehe, »das Globale in lokalen Verhältnissen zu konstatieren oder es theoretisch auszuarbeiten, sondern darum, es empirisch untersuchbar zu machen« (Bojadžijev/Römhild 2014: 20). Nach einigen Wochen in Tanger ergab sich die Möglichkeit mit einem der Kursteilnehmer_innen und seinem Deutschlehrer Bilal G. an einem Samstag zur ›Start Deutsch 1‹-Prüfung nach Rabat zu fahren. Bilal G. wurde zu einer wichtigen Schlüsselperson in meiner Forschung und eröffnete mir viele Gespräche, Begegnungen und neue Perspektiven – sowohl auf die Situation in Marokko und der Stadt Tanger, als auch auf mein Forschungsthema. Er stand in einem freundschaftlichen, solidarischen Verhältnis zu seinen Schüler_innen und schaffte auch Vertrauen zu mir, indem er mich mit ihnen in Kontakt brachte. Außerdem war er bei den Gesprächen oft dabei, manchmal auch als Übersetzer, wenn jemand kein Französisch konnte, sondern nur Darija – was vor allem bei den nicht-alphabetisierten Schüler_innen der Fall war, die oftmals nie oder nur kurz zur Schule gegangen sind. Noch vor Sonnenaufgang holten mich die beiden in meiner Wohnung in Tanger ab und wir fuhren mit einem Kleinwagen Richtung Süden. Die Prüfung begann um acht Uhr. Als wir am Goethe-Institut in Rabat ankamen, waren bereits viele Menschen vor Ort. Es war ruhig. Sie standen oder saßen auf dem Boden vor dem Gebäude. Kaum jemand lachte und nur selten wurde gesprochen. Den Vormittag über fanden – wie immer einmal im Monat – Tests in den Bereichen ›Hören‹, ›Lesen‹, ›Schreiben‹ und ›Sprechen‹ statt. Am Nachmittag gegen 15 Uhr trat schließlich eine Mitarbeiterin des Goethe-Instituts nach draußen und hängte die Listen mit den Ergebnissen an eine
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Säule sowie an die Hauswände. In diesem Moment sprangen alle auf, rannten zu den Listen und suchten ihre Nummer darauf.12 Obwohl ich mich räumlich zunächst von der territorialen europäischen Außengrenze entfernte, indem ich Akteuren des Forschungsfeldes nach Rabat folgte, bewegte ich mich gleichzeitig wieder auf die europäische Außengrenze zu. Es waren die Listen mit den Ergebnissen der Deutschprüfung auf der Säule vor dem Goethe-Institut, in denen sich wieder Grenze materialisierte und lokalisierte. Die Zahlen und Buchstaben entschieden nicht nur darüber, ob die Menschen bestanden hatten oder nicht, sondern damit auch, ob sie bald zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin ziehen und damit nach Deutschland einreisen konnten oder nicht.
2.3.2 Grenze als Netzwerk: zur Konstruktion des Forschungsfelds Der Tag der Deutschprüfung in Rabat war auch mein erster Kontakt mit dem Goethe- Institut, einem der Hauptakteure im Feld des Regierens der Migration durch Heirat. Das zweite Goethe-Institut sowie die Sprachabteilung sind in Casablanca. Auch das deutsche Konsulat befindet sich in Rabat, ein weiterer wichtiger Ort für all jene, die über den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ nach Deutschland einreisen möchten und die dort, nachdem sie geheiratet und die Deutschprüfung bestanden haben, das Visum beantragen. So plante ich meinen nächsten längeren Aufenthalt in der marokkanischen Hauptstadt und pendelte mehrmals die Woche mit dem Zug eine Stunde nach Casablanca, da ich dort die Möglichkeit hatte, an den sogenannten ›Vorintegrationskursen‹ teilzunehmen sowie bei den Prüfungstagen dabei zu sein. Nach und nach stieß ich auf immer mehr Akteure, die in diesem Feld aktiv sind: wie zum Beispiel andere Sprachschulen und private Deutschlehrer_innen, Übersetzer_innen, rechtliche Berater_innen, weitere Institutionen wie marokkanische Behörden, sowie im Bereich der Deutschprüfungen den ÖSD (Österreichisches Sprachdiplom). An welchem Schauplatz des Grenzregimes man mit der Ethnographie beginnt, bevor man Verbindungen und Wegen folgt, ist zunächst relativ beliebig, da eine regimetheoretische Perspektive impliziert, dass die Heterogenität und Komplexität von Regimen sich in den kleinsten Situationen und kleinsten Teilen des Regimes finden lassen, wie Maria Schwertl in Anlehnung an Marilyn Strathern betont (vgl. Schwertl 2013a; Strathern 1991). Die Eingrenzung des Forschungsfelds dieser Studie war zu diesem Zeitpunkt lediglich ein geographisches, ansonsten wollte ich im Sinne eines tracing und tracking (vgl. Marcus 1995: 106 f.) sowohl Akteuren, als auch Konflikten, Bildern, Diskursen und Objekten folgen, um nach und nach eine Vorstellung von den unterschiedlichen Akteuren sowie Materialitäten, Diskursen, Praktiken und Institutionen zu bekommen, die Teil des Regierens der Migration durch Heirat sind, sowie von den Verbindungen zwischen diesen. Dabei folgte ich einem radikal konstruktivistischen Verständnis von Forschungsfeld, wie es unter anderem George Marcus 12 Diese Szene habe ich damals fotografisch festgehalten. Das Bild ist auf dem Buchcover zu sehen.
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vorgeschlagen hat: Das Feld liegt mir nicht einfach vor und ich greife als Forscherin nur darauf zu, betrete es, verlasse es, wie es nach einem klassischen Feldverständnis als einem geographisch eingegrenzten, fixen Ort verstanden wird, sondern ich selbst bin Teil des Feldes und daran beteiligt dieses zu konstruieren (vgl. ebd.: 96). Bei einer ethnographischen Grenzregimeanalyse handelt es sich um »eine erkenntnistheoretisch angeleitete Praxis der Konstruktion von Elementen und Akteuren und um ihr In-Beziehung-Setzen in einem von den Forschenden selbst imaginierten, konstruierten Raum« (Hess/Tsianos 2010: 253). Ein Grenzregime ist auch als ein Netzwerk zu verstehen. Maria Schwertl weist darauf hin, dass ein Regime zu beforschen, nicht allein bedeute, »Staat und Politik zu analysieren, sondern ein dezentraleres, multi-skalares, das heißt netzwerkartigeres, Regieren/Regiertwerden, welches sich in Aushandlungen vollzieht« (Schwertl 2013b: 108). Dieses Netzwerk setzt sich aus unterschiedlichen Akteuren zusammen, die alle auf bestimmte Weise in Verbindung stehen, direkt oder indirekt, virtuell oder kopräsent, in Form von Kooperationen oder Konflikten. Es finden hier permanent Aushandlungen statt. So stand das Goethe-Institut immer in E‑Mail-Kontakt mit dem Konsulat, in den privaten Sprachschulen waren wiederum Lehrer_innen tätig, die auch im Goethe-Institut gearbeitet hatten, Übersetzer_innen waren darauf angewiesen im Konsulat registriert zu sein und dolmetschten gleichzeitig für marokkanische Behörden bei Interviews mit binationalen Paaren, die heiraten möchten, Konsulat und Goethe-Institut standen wiederum in Kontakt mit dem Auswärtigen Amt und Institutionen der Europäischen Union und so weiter. All diesen Verbindungen und Kräfteverhältnissen bin ich nachgegangen und werde diese im Laufe dieses Buches näher aufzeigen und analysieren. Um dieses multiskalare Feld zu erforschen, kann weder ausschließlich ein studying up, noch ein studying down betrieben werden, sondern es ist vielmehr ein studying through und sideways notwendig, um die Vielschichtigkeit des Regierens greifbar zu machen. Dieses Konzept des studying through haben Cris Shore und Susan Wright (1997) geprägt, die ebenfalls dafür plädieren ein Feld als einen politischen und sozialen Raum zu konzeptionalisieren, der sich in Machtrelationen und Formen des Regierens artikuliert. Mit studying through bezeichnen sie eine Methode, mit der es möglich wird, Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Ebenen sozialer Prozesse und Handlungen zu erkennen und deren Konstitution und Funktion in den jeweiligen sites auf lokalem, nationalen sowie globalen Level zu analysieren: »tracing ways in which power creates webs and relations between actors, institutions and discourses around time and space« (Shore/Wright 1997: 14). Shore und Wright weisen darauf hin, dass die Verbindungen zwischen diesen Akteuren – sie sprechen von »policy connections« – nicht automatisch bedeuten müssen, dass diese Personen sich kennen oder ein »moralisches Universum« teilen, sondern durchaus in anderen Formen auftreten können (vgl. ebd.). Innerhalb der in das Verfahren involvierten Institutionen zu forschen war ein wichtiger Bestandteil dieser Forschung, da diese einen Ort darstellen, wo Politiken gemacht und verhandelt werden.
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Die seit den 1990er Jahren diskutierte Multilokalisierung und Transnationalisierung ethnographischer Forschung geht auch mit Veränderungen in der zeitlichen Organisation von Feldforschung einher. Kontinuierliche Langzeitforschung an einem Ort ist für viele aktuelle Fragestellungen, Forschungsgegenstände und die Beschaffenheit der beforschten Felder in der Europäischen Ethnologie_Kulturanthropologie nicht mehr produktiv, aber auch nicht mehr notwendig, so Gisela Welz: »Die Temporalisierung der Feldforschung in der Kulturanthropologie reagiert […] auf die Temporalisierung sozialer Praktiken der Akteure oder Institutionen.« (Welz 2013: 52) Sowohl Mitarbeiter_innen von Institutionen, als auch Menschen, die diese durchlaufen, um nach Deutschland einzureisen, halten sich nur zeitlich begrenzt an bestimmten sites auf. Während es mir für mehrere Wochen möglich war eine Personengruppe in ihrem Alltag in den ›Vorintegrationskursen‹ im Goethe-Institut zu begleiten, war ich sonst mit einer Dispersität und Deterritorialität des Forschungsfelds konfrontiert. So bewegte ich mich nicht nur zwischen verschiedenen Ebenen des Regierens, sondern auch räumlich an vielen verschiedenen Orten und damit im Sinne »sequenzieller Forschung« (ebd.: 48) für verhältnismäßig kurze Zeitabschnitte. Zwar zog sich die Forschungsphase insgesamt über drei Jahre und es bestehen nach wie vor Kontakte ins Feld – wie in jeder ethnographischen Untersuchung, in der Beziehungen zu Menschen aufgebaut werden und vielleicht sogar kollaborativ zusammengearbeitet wird. Jedoch bedeutete dies nicht drei Jahre an einem Ort zu verbringen, sondern ich war als Forscherin sehr mobil. Insgesamt verbrachte ich sieben Monate in Marokko. Die Zeit zwischen den Aufenthalten nutzte ich um das Material auszuwerten, Fragestellungen zu schärfen, neue Fragen zu formulieren und aufgekommene Diskurse und Themen nachzurecherchieren, um schließlich wieder tiefer in das Feld einzusteigen. Gleichzeitig war ich über soziale Medien, E‑Mail und Internettelefonie permanent in Kontakt mit Akteuren. Auch die Anthropologin Helena Wulff beschreibt die Zeit der off-fieldwork ähnlich und kommt zu der Feststellung, dass die Forscherin währenddessen zwar physisch nicht im Feld ist, aber mental (vgl. Wulff 2002: 122; zit. n. Welz 2013: 49). Diese Art des temporalisierten Forschens wird in Zeiten von global ethnography und multi-sited ethnography immer üblicher. Es waren die Akteure des Forschungsfelds selbst, die mich immer wieder an andere und neue Orte in Marokko führten: nach Nador und Berrechid, nach Mohammedia und in periphere Viertel der großen Städte; zum Familiengericht und adul in Salé, zur Universität in Casablanca und zu privaten, unabhängigen Sprachschulen. Im Falle dieser Studie waren die Protagonist_innen zwar zunächst immobilisiert im Sinne von physischer Bewegung über die europäischen Außengrenzen, jedoch führte bereits die Vorbereitung der Ausreise zu einer verstärkten Mobilisierung im Sinne von Fahrten zum Deutschkurs in die nächste Stadt oder das Stadtzentrum, zum Konsulat, das sich nur in Rabat befindet, oder zum marokkanischen Außenministerium oder Justizgericht. Am Ende brachte mich meine Forschung sogar wieder zurück nach München ›vor die eigene Haustür‹: Das Goethe-Institut in Marokko ist in ständigem Kontakt mit der Zentrale in München, es werden Empfehlungen geschickt
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und Mitarbeiter_innen des marokkanischen Instituts fahren für Fortbildungen in die Zentrale nach München. Bezieht sich ein Visumsantrag auf den Nachzug zu einem_r Partner_in, der_die im Landkreis München ansässig ist, wird die Akte in die Ausländerbehörde in der Poccistraße geschickt. Und schließlich setzten mich auch die Menschen in Marokko mit ihrer_m Partner_in in Kontakt, wenn diese_r in München lebte, wie zum Beispiel im Fall von Asija und Anes. Das Feld spannte sich nach und nach zu einem netzwerkartigen, transnationalen Raum auf, in dem ich mich als Forscherin in ständiger Bewegung befand und in dem ich Verbindungen folgte – nicht nur auf geographischer, sondern auch auf virtueller Ebene.
2.3.3 Grenze als soziales Verhältnis: situative Aushandlungen und Konflikte Es ist 7:30 Uhr, als ich mit dem Taxi am Konsulat in Rabat vorfahre. Es ist kalt an diesem Morgen und regnet in Strömen. Vor dem Eingang hat sich schon eine Schlange gebildet. Alle drängen sich unter das schmale Dach, das an der Mauer angebracht ist. Wer nicht mehr darunter passt, zwängt sich zu zweit oder zu dritt unter einen Regenschirm. Neben mir steht ein junger Mann. Er spricht mich auf Deutsch an und beklagt die Kälte. Wir kommen ins Gespräch. Ich frage ihn, ob er ein Studentenvisum beantragen möchte. Für mich ist das in diesem Moment das Naheliegendste, aufgrund seines Alters und da sein Deutsch nahezu fließend ist. Er erzählt, dass er in Deutschland frisch verheiratet sei. Er habe auch schon einmal ein Studentenvisum beantragt, aber das sei abgelehnt worden. Mit der Schule habe er etwas länger gebraucht, weil er einen Unfall hatte und über zwei Jahre aussetzen musste. Als er wieder gesund war, habe er weitergelernt und Abitur gemacht. Anschließend habe er an der Universität Germanistik studiert und danach noch eine Ausbildung zum Informatiker gemacht. Eigentlich wollte er aber nach der Schule in Deutschland studieren. Jetzt habe er im Internet eine Frau aus Deutschland kennengelernt – auf Jappy.de. Sie lebe in Berlin. Das Visum sei eigentlich schon beantragt, aber heute habe er noch eine Befragung im Konsulat, genauso wie seine Frau in Deutschland. Er glaube eigentlich nicht, dass es Probleme geben werde und dass er schon in zwei Wochen in Deutschland sein werde. Als ich später im Hof des Konsulats sitze, führt ihn ein Mitarbeiter zum Tor, wo es zu den Büros der anderen Mitarbeiter_innen des Konsulats geht. Er winkt kurz und verschwindet in dem Gebäude. Es sind diese Begegnungen zwischen Vertreter_innen der Institutionen und Behörden des Grenzregimes und den Menschen, die über den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ nach Deutschland einreisen möchten, die sowohl das empirische Vorgehen als auch die Verschriftlichung dieser Studie strukturieren. Versteht man Grenze als ein umkämpftes soziales Verhältnis, das in alltäglichen Situationen, Aushandlungen und Konflikten hergestellt und gemacht wird, lassen sich Rationalitäten, Logiken und Diskurse des Grenzregimes genau in diesem Aufeinandertreffen untersuchen und herauslesen. Der Regimeansatz geht eben nicht davon aus, »dass deren Urheber Staaten, Eliten oder generell gesprochen ›oben‹ sind, sondern dass Regulationen Produkte von
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Aushandlungen zwischen den verschiedensten Akteuren sind« (Schwertl 2013b: 109). Ich möchte methodisch den Überlegungen von Maria Schwertl folgen, die als Ergänzung zur ethnographischen Grenzregimeanalyse und damit als Zugang zu globalen Regimen Situationen vorschlägt. Ihr Situationsbegriff orientiert sich dabei sowohl an der Actor-Network-Theory, der Situationsanalyse nach Adele Clarke (2012) sowie der Ethnomethodologie. Die ANT habe zum Anliegen Binaritäten wie zwischen Text und Kontext oder Mikro und Makro aufzulösen. So werde Makro als eine Aneinanderreihung von Mikro verstanden und der forschende Blick auf Situationen beziehungsweise Aneinanderreihungen von Situationen gerichtet, wobei Netzwerke als Werkzeug verstanden würden, um etwas darzustellen. Dabei würden jedoch »Aspekte der Macht und über die Situation hinausgehende Logiken oder über den Fall hinauswirkende Handlungen« ein Manko darstellen (vgl. Schwertl 2013b: 107 f.). Den Fokus auf Situationen hat die ANT mit der Ethnomethodologie gemeinsam, die vor allem untersucht, mit welchen »Methoden« Handeln im Alltag als sinnvoll interpretiert und strukturiert wird und geht davon aus, dass gesellschaftliche Ordnungen situativ und im Alltag hergestellt werden (vgl. ebd.: 111). Adele Clarke geht von der sozialen Konstruiertheit von Situationen aus und betrachtet soziale oder strukturelle Aspekte nicht als Erklärung für Situationen, sondern vielmehr »verfestigt in Text, Architektur oder andere Objekten und Akteuren als Teil der Situation« (ebd.: 112). Schwertl kommt zu dem Schluss, dass den unterschiedlichen Ansätzen folgend Situationen einen Anfangs- und Endpunkt hätten, von der Kopräsenz von Akteuren geprägt seien, da diese die Situation erst herstellten, wobei normalisierte Ordnungen und Regelungen Effekte auf diese Aushandlungen haben. Auch die Soziologin Katherine Braun definiert in Anlehnung an Clarke Situationen nicht einfach als Kontexte von Interaktionen, sondern vielmehr als »heterogene Gefüge, in denen unterschiedliche Arrangements von Zeiten und Räumen mit ihren diversen gouvernementalen Logiken […] und Subjektivierungseffekten […], Praktiken und Sinnbezügen aufeinandertreffen und in ihrer gesamten Beschaffenheit und Konnektivität zum Gegenstand der Analyse werden« (Braun 2016: 209). Nicht-menschliche Akteure sowie materielle Kultur fungierten dabei als framing (vgl. Schwertl 2013b: 117). Schwertl plädiert für einen Zugang über Situationen, da dieser ermöglicht, dass sich Situationen sowie Logiken und Programmatiken nicht nur nebeneinander darstellen, sondern dadurch gegenseitig kommentieren lassen (vgl. ebd.: 123). Zwar betont Schwertl, dass es sich bei dem Zugang über Situationen vielmehr um eine Repräsentationsmethode als eine Forschungsmethodik handele (vgl. ebd.: 109), jedoch erfordere die Darstellung von Situationen im Text auch das Vorhandensein spezifischen Materials und Daten. Während meiner Forschungsphase habe ich bereits bewusst über Feldnotizen Situationen festgehalten und möglichst detailreich beschrieben: Räume, Architekturen, Gegenstände, Personen, Geräusche, Bewegungen et cetera. Nur mit Hilfe eines ausführlich geschriebenen Tagebuchs lassen sich die Situationen später im Text rekonstruieren. In diesen Situationen werden auch Subjektivierungsweisen sichtbar. Schwertl unterscheidet die Analyse programmatischer Subjektivierungen von jenen »Aushandlungen von Subjektpositionen« und einem »›Becoming‹ im Sinne des Gemacht-
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werdens, aber auch des Sich-selbst-zu-etwas-Machens«, die in Situationen sowie Situationsketten vollzogen werden (vgl. Schwertl 2015: 161). Dabei sind Subjektivierungsprozesse nicht als totalitär zu verstehen. Die Frage, wie sich Subjekte tatsächlich konstituieren, lässt sich in einer ethnographischen Grenzregimanalyse nicht beantworten, sondern bedarf vielmehr tiefgehender biographischer Interviews oder einer intensiven Begleitung über einen längeren Zeitraum.13 Trotzdem kann untersucht werden, wie und wann Menschen in Situationen innerhalb der Institutionen angerufen und bezeichnet werden und wie sie sich dazu verhalten und damit umgehen. Um diese subjektiven Umgangsweisen mit institutionellen Anrufungen und Bezeichnungen innerhalb des Einreiseverfahrens nachzuzeichnen, ist es außerdem notwendig, die Institutionen wiederum zu verlassen und Menschen in ihren Alltag zu folgen. So werden nicht nur situative Aushandlungen sichtbar, sondern auch Effekte auf individuelles Handeln, Deutungsweisen und Selbstnarrationen. Außerdem können solidarische Netzwerke und Verbindungen zwischen Menschen, die das Verfahren durchlaufen, nachvollzogen werden. Es kursieren hier Wissen und Objekte wie Deutschbücher, Informationsbroschüren, To-do-Listen, Prüfungszeugnisse, etc. Auch diesen Verbindungen bin ich aus einem Blick der Autonomie der Migration heraus gefolgt, um die Praktiken der Migration, die das Grenzregime umkämpfen und formen, sichtbar zu machen.
Grenze als Macht/Wissen-Komplex Diskurse und Wissensformen des Grenzregimes sind in diesen Situationen in Behörden und Institutionen ebenfalls wirkmächtig und werden in diesen ausgehandelt und hergestellt. Wie machtvoll Wissen innerhalb des Grenzregimes ist, macht die umfassende Förderung von Auftragsforschung durch Regierungen und Privatwirtschaft im Bereich der Migration deutlich, die vor allem im Zuge der Europäisierung des Grenzregimes seit den 1990er Jahren deutlich zunimmt (vgl. Hess/Kasparek 2010; Kraler/ Parnreiter 2005). In Anschluss an Foucaults Konzept des Macht/Wissen-Komplex gibt es »kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert« (Foucault 2015: 39). Im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ ist 2013 die sogenannte ›Heiratsmigrationsstudie‹ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unter dem Titel »Die Integration von zugewanderten Ehegattinnen und Ehegatten in Deutschland« (Büttner/Stichs 2013) erschienen. Noch bevor diese überhaupt veröffentlicht wurde, zog ein Journalist bereits Ergebnisse daraus heran, um die Sprachnachweispflicht zu legitimieren, worauf ich später noch genauer eingehen werde. Um das innerhalb des Grenzregimes wirkmächtige Wissen – im Sinne verfestigter Diskurse – zu untersuchen, verfolge ich zwei methodische Ansätze, die sich ergänzen: Zum einen das Konzept des follow the metaphor (vgl. Marcus 1995) und zum anderen 13 Ein gutes Beispiel für eine solche Studie zu Subjektivierungsweisen ist »Intellektuelle Migrantinnen. Subjektivitäten im Zeitalter von Globalisierung« (Gutiérrez Rodríguez 1999).
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die symptomatische Diskursanalyse (vgl. Hess/Tsianos 2010). Ersteres bedeutet Metaphern und Diskursen multilokal zu folgen und zu beobachten, wie es an unterschiedlichen sites zu Aushandlungen und Verschiebungen dieser kommt. »When the thing traced is within the realm of discourse and modes of thought, then the circulation of signs, symbols and metaphors guides the design of ethnography.« (Marcus 1995: 108) Für diese Studie bedeutete dies, dass ich zum Beispiel den bundesdeutschen Debatten um die Sprachnachweispflicht und dem damit einhergehenden Integrationsparadigma nicht nur nach Marokko, sondern auch in unterschiedliche Institutionen gefolgt bin. Dabei konnte ich beobachten, wie diese Vorstellung von (Vor-)Integration in situativen Aushandlungen immer wieder reproduziert, aber auch umgedeutet und verhandelt wurde. Auch bei der symptomatischen Diskursanalyse handelt es sich um eine Art follow the metaphor, jedoch immer bei den Akteuren und ihren Praktiken beginnend. Hess und Tsianos verstehen darunter, in Anlehnung an die symptomatische Lektüre nach Louis Althusser, »eine im Feld ethnographisch zu praktizierende Lese- und Textarbeit an Dokumenten, Archivmaterialien und Diskursen, die unmittelbar mit den von der Feldforschung hervorgerufenen Spannungen und Irritationen zu reflektieren und zu dokumentieren sind, damit es der Forscherin gelingt, die diskursiven Anteile des Grenzregimes zu analysieren und dementsprechend die Fragestellung zu perspektivieren« (Hess/Tsianos 2010: 251).
In Anknüpfung an Dorothy Smiths institutionelle Ethnographie (1998) handle es sich um eine »dichte, schnelle, ambulante Analyse von diskursivierten ›relations of ruling‹«, womit »textvermittelte und textgestützte Systeme der ›Kommunikation‹, des ›Wissens‹, der ›Information‹, ›Regulation‹ und der ›Kontrolle‹« gemeint seien (ebd.: 251 f.). Auch Sabine Eggmann empfiehlt Spannungen und Irritationen im Feld als Ausgangspunkt für Diskursanalysen zu nehmen (vgl. Eggmann 2013: 62). Während meiner Forschungsaufenthalte in Marokko bedeutete dies neben dem Schreiben von Forschungstagebüchern und Erinnerungsprotokollen auch immer wieder nachzurecherchieren, was gesagt wurde und Narrationen und Metaphern zu folgen, um die Diskurse zu verstehen: Ich beschäftigte mich mit marokkanischen und deutschen Gesetzestexten, Webseiten der Institutionen wie dem Konsulat, dem Goethe-Institut oder marokkanischen Behörden und Ministerien, marokkanische und deutsche Medien, Unterrichtsmaterialien, wissenschaftliche Literatur und empirische Studien, aber führte auch weitere Interviews und Gespräche mit Expert_innen, um Kontexte und Hintergründe nachvollziehen zu können. Vor dem Hintergrund der Wirkmächtigkeit von Diskursen innerhalb des Grenzregimes sollte außerdem danach gefragt werden, welches Wissen die Forscherin selbst mit einer Studie produziert und in welcher Form dieses Teil des Grenzregimes werden könnte oder auch bereits ist. Gerade das (informelle) Wissen, die Strategien und Taktiken von Migrant_innen sichtbar zu machen, kann zum Beispiel Akteuren der Grenz- und Migrationskontrolle in ihrer Verfolgung von ›Missbrauch‹ in die Hän-
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de spielen. Brigitta Kuster und Vassilis Tsianos sprechen in diesem Zusammenhang auch von einem »information and control continuum«, an dem auch Migrant_innen mitwirken: »[They are] not its opposite even though they are its opponents.« (Tsianos/ Kuster 2013: 69) Auch die wissenschaftliche Kritik an Viktimisierungsprozessen und einer zunehmenden Humanitarisierung des Grenzregimes kann dazu führen, dass zwar machtvolle Repräsentationen dekonstruiert werden, die innerhalb von Migrationspolitiken zur Legitimation von Restriktionen herangezogen werden. Doch gleichzeitig kann diese zur Folge haben, dass einer Gruppe von Betroffenen ihr Recht auf Schutz entzogen wird. Die Frage, ob gerade Regierungswissen produziert wird und welche Auswirkungen dieses mit sich bringen könnte, sollte in einer ethnographischen Grenzregimeanalyse immer wieder gestellt werden. Das forscherische Begleiten der Menschen, die das Einreiseverfahren durchlaufen, ging auch über deren Begegnungen mit dem Grenzregime und Situationen in Behörden und Institutionen hinaus und erstreckte sich bei einigen Protagonist_innen über drei Jahre. Dabei war auch das ›Dazwischen‹ für meine Analysen relevant, vor allem auch um deren Innensichten und Alltage sowie Heirats- und Migrationsprojekte zu verstehen. Dieses Begleiten ging sogar so weit, dass ich zum Beispiel neben Aylin, die ich aus dem Goethe-Institut kannte und die ich auch ins Konsulat begleitete, zufällig im Flugzeug saß, als sie das erste Mal Marokko verließ, um sich mit ihrem Partner in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Aylin ist an dem Tag, als ich sie am Gate in Casablanca treffe, auffallend schick gekleidet mit einem bodenlangen, bunten Kleid und einem orangenen Ledergürtel mit einer goldenen Schnalle um die Taille, darüber eine Jeansjacke und ein gemustertes Kopftuch. An den Armen trägt sie eine große silberne Uhr sowie glitzernde Armbänder und Ringe. Auf ihren Handrücken zeichnet sich das dunkle Muster von Hennatattoos ab. In der Warteschlange vor dem Boarding klingelt immer wieder ihr Telefon, mal ruft ihre Mutter an, dann ihr Mann, der sich in Deutschland schon mit dem Auto auf den Weg zum Flughafen macht. Aylin ist aufgeregt, ihren Mann nun wieder zu sehen. Es ist ihr erster Flug im Leben. Gleichzeitig ist sie traurig, Marokko und ihre Familie zurückzulassen: »Tareq oder die Familie, das ist eine schwierige Entscheidung«, sagt sie. Im Flugzeug sitzen wir nebeneinander, Aylin beobachtet mit ernster Miene die Anweisungen der Stewardess. Als wir abheben und die Häuser unter uns immer kleiner werden, sagt sie: »Bye, bye, Marokko, beslama!« Während des Flugs packt sie einen Koran aus, liest ein paar Seiten und murmelt vor sich hin. Jedes Mal, wenn sie aus dem Fenster blickt, sagt sie: »Wow!« Als wir nach zwei Stunden die Wolkendecke durchbrechen und sich am Boden wieder Felder und Gebäude abzeichnen, ist sie überrascht, wie die Häuser angeordnet sind. Sie ist erleichtert, als das Flugzeug gelandet ist und bedankt sich mit einem lauten »Hamdullillah!«. Wir gehen von Bord und auf die erste Passkontrolle zu, die wir einfach passieren können. Bei dem nächsten Check ist vor uns ein junger schwarzer Mann, dem viele Fragen gestellt werden. Aylin schaut mich an und sagt: »Pour moi aussi!« Auch diese Kontrolle passiere ich einfach, der Beamte klappt nur kurz meinen roten Pass auf und schickt mich
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weiter. Als Aylin an der Reihe ist, mustert er den Pass genauer und fragt sie etwas auf Deutsch. Sie fragt noch einmal nach, aber versteht es wieder nicht. Ich komme dazu und er fragt mich: »Was macht sie hier?« Ich: »Sie ist hier verheiratet: Familienzusammenführung.« Er gibt ihr ihren Pass zurück und wir laufen weiter. Als wir den Gepäckwagen mit ihren vielen Koffern vollgepackt haben, schieben wir langsam auf den Ausgang zu. Nach der Schiebetür folgen noch zwei Trennwände, bevor man die Empfangshalle betritt. Sie packt mich immer wieder am Arm und lacht. Die Aufregung überträgt sich nun auch auf mich. Als wir rauskommen, steht dort ein junger Mann mit einem Strauß roter Rosen in der Hand. Sie rennt auf ihn zu, sie lachen beide und fallen sich um den Hals und küssen sich immer wieder auf die Wangen. Nach einer langen Umarmung begrüßt Tareq mich und bedankt sich noch einmal, dass ich Aylin begleitet habe. Sie zieht eine Rose aus dem Strauß und drückt sie mir in die Hand. Wir verabschieden uns. Es sind geteilte Erfahrungen und Erlebnisse, also gemeinsam verbrachte Zeit – wie dieser Flug –, die mir ermöglicht haben, Manifestierungen des Grenzregimes aus anderen Subjektpositionen heraus nachzuvollziehen, komplexe Innensichten und Subjektivierungsweisen zu verstehen sowie widerständige Praktiken und Brüche mit Kategorisierungen und Klassifikationen zu erkennen. Es sind diese Berührungspunkte der Menschen mit dem Grenzregime und die damit einhergehenden situativen Aushandlungen, in denen sich sowohl Machtverhältnisse und Hierarchien als auch die Autonomie der Migration zeigen.
2.3.4 Grenze(n) der Forscherin: die eigene Situiertheit in einer multiskalaren Forschung Als ich um 19:15 Uhr wieder am Bahnhof in Rabat eintreffe, bin ich mit meinen Gedanken noch bei Nour. Ich habe mit ihr zusammen den Tag verbracht. Sie wohnt in einer kleinen Stadt im Landesinneren zwischen Casablanca und Rabat. Ich hatte am Mittag den Zug genommen und wir saßen stundenlang in einem Café, etwas außerhalb vom Stadtzentrum. Es war das erste Mal, dass wir ohne Zeitdruck reden konnten und sie hatte sich mir sehr geöffnet. Sie ist im Moment in einer schwierigen Situation, weil sie und ihr Mann jeweils einen Brief erhalten haben, dass sie an einer ›gleichzeitigen Ehegattenbefragung‹ im Konsulat und der Ausländerbehörde teilnehmen müssen. Nour hat Angst davor und betonte mir gegenüber immer wieder, wie viel ihr ihr Mann und das Visum für Deutschland bedeuten. Sie hatte mir von ihrer schwierigen Vergangenheit erzählt, von Gewalterfahrungen in der ersten Ehe, davon, wie ihr der Zugang zu Bildung immer wieder verwehrt wurde und dass sie sich wünsche, einmal im Leben Glück zu haben. Während ich auf der Rolltreppe vom Gleis zur Bahnhofshalle den Nachmittag Revue passieren lasse, sehe ich bereits A., mit dem ich zum Abendessen verabredet bin. Er ist eine der Personen, die sich im Konsulat mit den Visumsanträgen zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ beschäftigen. Wir begrüßen uns und verlassen das Bahnhofsgebäude. Ich fühle mich müde und erschöpft von dem intensiven Nachmittag mit
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Nour und brauche etwas Zeit, um mich auf mein neues Gegenüber einzustellen. Wir entscheiden uns für ein italienisches Restaurant gleich in der Nähe. Durch die rustikalen Holzmöbel, den Steinofen und die rot-weiß karierten Tischdecken sowie die vor allem Französisch sprechenden Gäste deutet nichts mehr darauf hin, dass wir uns gerade in Marokko befinden. Mir wird bewusst, dass ich mich nun wieder in einer anderen Welt befinde. Nachdem wir uns über Neuigkeiten ausgetauscht haben, spreche ich den Fall von Nour an, an die ich auch während unseres Gesprächs immer wieder denken muss. Er hat kein Verständnis für die Beziehung und ist überzeugt davon, dass es sich bei einer Paarkonstellation mit einem Altersunterschied von über 20 Jahren um keine ›schützenswerte Ehe‹ handele. Wir diskutieren kontrovers über die Legitimität von Beziehungen und Eheschließungen, jedoch bleiben unsere Standpunkte weit voneinander entfernt. Tage wie dieser stellten während meiner Forschung immer wieder eine große Herausforderung dar. Mir war es wichtig in dieser Studie unterschiedliche Perspektiven einzufangen und darzustellen: sowohl die der Institutionen und der darin arbeitenden Personen, als auch die derjenigen, die das Verfahren selbst durchlaufen. Diese Herangehensweise führte dazu, dass ich mich ständig in sehr gegensätzlichen Kontexten bewegte, wie auch an diesem Tag: Erst verbrachte ich Zeit mit einer Anfang 20‑jährigen marokkanischen Frau, die aus einer Kleinstadt im Süden Marokkos kommt, in prekären Verhältnissen aufgewachsen ist, nur sechs Jahre zur Schule gehen konnte, in ihrer Jugend bereits viel Gewalt erfahren hat und jetzt Schwierigkeiten hat, ein Visum nach Deutschland zu bekommen. Mit ihr halte ich mich in einem einfachen Café außerhalb des Stadtzentrums auf. Anschließend treffe ich einen Mitte 50‑jährigen Mann mit deutscher Staatsangehörigkeit, Diplomatenstatus, Akademiker, der Stationen auf der ganzen Welt durchlaufen hat, und in der Position ist, über genau diese Visumsanträge und damit Schicksale, wie das von Nour, zu entscheiden. Mit ihm esse ich in einem Restaurant zu Abend, das nur für Expatriates und die marokkanische Oberschicht erschwinglich ist. Ein anderer Tag, an dem ich diesen Konflikt zu spüren bekam, war, als ich tagsüber von einem Interviewpartner zu seiner Familie nach Sebata eingeladen wurde, eines der ärmsten Viertel in Casablanca. Seine fünfköpfige Familie teilt sich eineinhalb Zimmer und eine kleine Küche, ein Bad gibt es nicht. Als ich abends zurückkam, kehrte ich noch kurz nach Hause zurück, um meine Kleidung zu wechseln und traf schließlich wieder einige Mitarbeiter_innen des Konsulats im Dhow, einem schicken Fischrestaurant, das sich auf einem Schiff befindet, das in der Marina am Fluss Bouregreg zwischen Rabat und Salé liegt. Wieder kamen wir auf mein Forschungsvorhaben zu sprechen. Als meine Bedenken an der aktuellen Migrationspolitik mit dem Kommentar »Es ist nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen!« abgetan wurden, vermied ich die direkte Konfrontation für den Rest des Abends. Einen Forschungsansatz wie den der ethnographischen Grenzregimeanalyse ernst zu nehmen und umzusetzen, stellt die Forscherin – verglichen mit klassischen stationären oder reinen studying down- oder studying up-Forschungen – vor unterschiedliche neue Herausforderungen. Immer wieder bewegte ich mich zwischen sehr
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unterschiedlichen, auch konträren Kontexten, die von mir als Forscherin Flexibilität sowie emotionale Arbeit verlangten. Hess und Tsianos heben sowohl Momente der Irritation oder Empathie als auch Betroffenheit oder andere Gefühle als wichtigen Bestandteil einer ethnographischen Grenzregimeanalyse hervor, der einen reflektierten, kritischen, auch postkolonialen Umgang erfordere (vgl. Hess/Tsianos 2010: 257). Durch den permanenten Ortswechsel ist außerdem Übersetzungsarbeit notwendig, sowohl auf einer kulturellen, diskursiven – im Sinne von Logiken, Rationalitäten, Codes et cetera – als auch auf einer sprachlichen Ebene. Marcus führt dazu aus: »[T]he persuasiveness of the broader field that any such ethnography maps and constructs is in its capacity to make connections through translations and tracings among distinctive discourses from site to site.« (Marcus 1995: 100 f.) Andere Sprachen zu lernen und zu beherrschen als Forscherin wird dabei umso wichtiger; multi-sited bedeutet auch multilingual (vgl. ebd.: 101). Ich führte Gespräche und Interviews vor allem auf Deutsch, Englisch und Französisch. So konnte ich in deutschen Institutionen in Marokko sowie mit Übersetzer_innen und Sprachlehrer_innen auf Deutsch sprechen, in marokkanischen Behörden und Universitäten nutzte ich vor allem Französisch, mit Personen, die das Verfahren durchlaufen variierten die Sprachkenntnisse zwischen sehr guten bis einfachen Englisch- und/oder Französischkenntnissen, Basis-Deutschkenntnissen, die sich im Laufe der Forschung verbesserten, sowie manchmal ausschließlich Arabischkenntnisse, vor allem bei nicht-alphabetisierten Frauen und Männern oder Angehörigen aus der Familie. Während ich die ersten drei Sprachen fließend beherrsche, konnte ich mir Darija – das marokkanische Arabisch – lediglich parallel während der Forschungsphasen aneignen und war am Ende in der Lage einfache alltägliche Gespräche zu führen und Themen in Dialogen herauszuhören. War ich in Familien eingeladen, wurde ich immer wieder auf diese Basiskenntnisse zurückgeworfen. Auch wenn ich mit nicht-alphabetisierten Frauen zusammenarbeitete, war ich auf Darija angewiesen beziehungsweise auf Freund_innen und Familienangehörige, die übersetzten. Trotzdem gingen auch viele Informationen verloren und die Forschung wäre sicher eine andere geworden, wenn ich fließend Arabisch gesprochen hätte. Das multiskalare Forschen geht jedoch nicht nur mit dem Bewegen zwischen sehr unterschiedlichen Orten und Kontexten einher, sondern zwingt die Forscherin auch zwischen verschiedenen Rollen zu wechseln: In einem Moment hatte ich die Rolle der empathischen Freundin inne, die zuhört und die Ahnung zu haben scheint, wie die deutsche Migrationspolitik und das Leben in Deutschland funktionieren und deswegen zu einer wichtigen Informationsquelle wird. Kurz darauf schlüpfe ich – manchmal tatsächlich zunächst in Form von Kleidung – in die Rolle der kompetenten Forscherin, der man gleichzeitig alles genau erklären muss, weil sie ja Ethnologin ist und keine Ahnung hat von einem juristischen Fachgebiet wie dem ›Ehegatten‑/ Familiennachzug‹, wie mir im Konsulat immer wieder vermittelt wurde. Was Rolf Lindner für das studying down als »die Angst des Forschers vor dem Feld« (Lindner 1981) und Warneken und Wittel für das studying up als »die neue Angst des Forschers vor dem Feld« (Warneken/Wittel 1997) beschrieben haben, bekommt in einer ethno-
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graphischen Grenzregimeanalyse, wie sie hier durchgeführt wurde, noch einmal eine neue Komponente. Die bekannten Hürden einer Feldforschung und Rollenkonflikte als Forscherin, Freundin, Informantin, Unterstützerin, Wissenschaftlerin, et cetera werden in einer multiskalaren Forschung noch einmal verstärkt und multipliziert, da man sich nicht nur in einem Milieu bewegt, sondern ständig zwischen verschiedenen wechselt und dadurch auch selbst Verbindungen schafft. Die Erwartungen und kulturellen Codes – im Sinne davon, welches Verhalten denkbar und welches unmöglich ist (vgl. Reckwitz 2012: 136) – waren in den Institutionen wie dem Konsulat oder dem Goethe-Institut andere als in den Interaktionen mit Menschen, die das Einreiseverfahren durchlaufen und verlangten von mir als Forscherin ein hohes Maß an Anpassung und des Sich-Einlassens.
Vertrauen und Forschungsethik Vor allem wurden diese Ungleichheiten und Machtverhältnisse noch einmal hinsichtlich des Vertrauens zu den unterschiedlichen Interviewpartner_innen deutlich. Auch hier muss jedoch zwischen der Ebene der Institutionen und der Personen, die das Verfahren durchlaufen, unterschieden werden. Institutionen wie das Konsulat oder das Goethe-Institut haben andere Möglichkeiten der Regulation von Zugängen und Transparenz. So wusste ich bereits von anderen Forscher_innen, dass es geradezu unmöglich wäre, eine offizielle Forschungsgenehmigung für deutsche Konsulate zu erhalten. Ich bekam am Ende jedoch über einen informellen Weg Zugang. Ein Mitarbeiter ermöglichte mir mehrmals ins Konsulat zu kommen, in seinem Büro Interviews mit ihm sowie einer anderen Mitarbeiterin zu führen, das Konsulat zu besichtigen und Abläufe erklärt zu bekommen sowie ohne Probleme Antragsteller_innen zum Schalter zu begleiten. Trotzdem wurden mir auch immer wieder Grenzen aufgezeigt: So bekam ich keinen Einblick in bestimmte Dokumente und Berichte, manche Fragen wurden nicht beantwortet, er entschied, mit wem ich sprechen durfte und dass ich nichts aufnehmen, sondern nur mitschreiben dürfe. Institutionen verfügen über machtvolle Mechanismen und Regulationen, Prozesse und Daten vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Trotzdem erhalten Forscher_innen – vielmehr noch als Journalist_innen – immer wieder Einblicke. Vor allem in informellen Situationen werden Informationen herausgegeben, die eigentlich nicht offiziell bekannt sind. Hier stellt sich die Frage, wie mit diesen Informationen als Forscherin umgegangen wird? Geheimhaltung, Intransparenz und der Entzug vor Kontrolle durch Wissenschaft und Öffentlichkeit in staatlichen Institutionen schaffen auch Räume, die sich dem Recht und Gesetz entziehen und in denen diskriminierendes Handeln aus diesem Grund verstärkt möglich ist. So entsteht für die Forscherin dabei eine Verantwortung einerseits gegenüber den Personen, die Informationen bereitstellen und sich öffnen, und andererseits gegenüber der Gesellschaft und den Betroffenen, diese Mechanismen transparent zu machen. Dieses Dilemma ist nur schwierig zu lösen. Auch Hess und Schwertl betonen, dass »[o]ftmals in multiskalar aufgespannten Feldern nicht mehr eindeutig bestimmbar [ist], was eine ›ethische‹, ›verantwortungsbewusste‹ Positionierung sein könnte« (Hess/Schwertl 2013: 32). Im Fall dieser Forschungsarbeit habe
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ich mich aus einer gesellschaftlichen Verantwortung heraus dafür entschieden, das Material und die Aussagen aus dem Konsulat zu verwenden. Meine Verantwortung gegenüber meinen Informant_innen innerhalb der Institutionen nehme ich insofern wahr, dass ich die Aussagen so gut wie möglich anonymisiere. Bei dieser Entscheidung spielt auch eine Rolle, dass Mitarbeiter_innen dieser Institutionen, besonders in leitenden Positionen, ebenfalls Verantwortung tragen, sowohl für die Auswirkungen ihrer Arbeit als auch für die Weitergabe von Informationen an Forscher_innen. In der Zusammenarbeit mit Menschen, die gerade das Einreiseverfahren durchlaufen und permanent Überprüfungen und Kontrollen ausgesetzt sind, spielt Vertrauen noch einmal eine andere Rolle. So stellte sich auch relativ bald heraus, dass ich Gespräche und Interviews nicht aufnehmen konnte, weil die Angst zu groß war, dass diese Aufnahmen gegen sie verwendet werden könnten. Das qualitative Interview war in diesem Feld nicht nur eine Technik der Forscherin, sondern vor allem auch eine Technik des Grenzregimes, um Menschen zu überprüfen, zu kontrollieren und Daten über sie zu sammeln. So arbeitete ich sehr viel mit Erinnerungsprotokollen und Forschungstagebüchern. Auch war es problematisch den ersten Kontakt zu Betroffenen innerhalb von Institutionen herzustellen. Später erfuhr ich von einer Übersetzerin und Rechtsberaterin, dass sie während meiner ersten Wochen im Goethe-Institut einen Anruf erhalten hatte, wo von einer »Spionin aus Deutschland« die Rede war und sie um Rat gebeten wurde, ob man mir vertrauen könne. Auch eine andere Teilnehmerin des Deutschkurses, mit der ich mich regelmäßig austauschte, erklärte mir, dass sie sich am Anfang nicht sicher war, ob ich vielleicht vom Konsulat sei. Doch das Misstrauen wurde weniger, als die Deutschprüfungen bestanden waren und ich mich mit den Personen außerhalb des Goethe-Instituts, auch in ihrem vertrauten, privaten Umfeld treffen konnte. Ich unterstützte einige auch aktiv in ihrem Ausreiseprozess: Beschaffte Informationen über das Konsulat oder andere Institutionen in Deutschland, führte Telefonate, fragte direkt im Konsulat nach, wenn es Unsicherheiten gab, war Ansprechpartnerin für Fragen zur Deutschprüfung. Meine eigene politische Positionierung und kritische Haltung gegenüber aktuellen europäischen Migrationsund Grenzpolitiken setzte ich während der Forschung je nach Kontext bewusst ein oder ließ sie unausgesprochen. Wie groß dieses Misstrauen jedoch tatsächlich war, erfuhr ich noch einmal, als ich nicht mehr damit rechnete. Ich besuchte wieder Nour in einem kleinen Dorf in Süddeutschland, wo sie zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Wochen mit ihrem Mann lebte. Ich war an diesem Tag eigentlich entspannt, weil ich das Gefühl hatte, dass das Visumsverfahren nun abgeschlossen, sie in Deutschland ist und keine Angst mehr hat. Doch als wir am Ufer eines Sees saßen, sagte sie plötzlich: »Immer Fragen, Fragen, Fragen … für was, Miriam? Für die Polizei?« In diesem Moment wurde mir nicht nur wieder bewusst, wie schwierig meine eigene Rolle als Forscherin in diesem Feld war, sondern auch, dass Grenze nicht mit dem Übertritt der territorialen Außengrenze überwunden ist. Das Grenzregime zieht sich auch in das Innere Europas, es durchzieht Körper, Alltage und Beziehungen in Deutschland. Der Aufenthalt der jungen Frau ist für die nächsten drei Jahre an die Eheschließung mit ihrem Mann
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gebunden und bringt sie sowohl in ein Abhängigkeitsverhältnis als auch eine prekäre Situation.
Forschen im Globalen Süden als postkoloniale Praxis? »Tu écris beaucoup. J’ai vu ça. Tu deviens une grande écrivaine. Mais tu sais rien sur l’histoire du Maroc. Rien!« / »Du schreibst viel. Ich habe das gesehen. Du wirst eine große Schriftstellerin. Aber du weißt nichts über die Geschichte Marokkos. Nichts!« Vor einem Café in Tanger im September 2012
Wofür steht die Reflexion der eigenen Rolle und der Herausforderungen für die Forscherin an dieser Stelle? Von unterschiedlichen Seiten wurde an der gängigen Praxis der Selbstreflexion in der Europäischen Ethnologie_Kulturanthropologie kritisiert, dass diese oft lediglich der Legitimation der eigenen Forschung und des wissenschaftlichen Schreibens diene (Reznikova 2016). Doch wie kann eine Reflexion der eigenen Situiertheit und Positionalität aussehen, die produktiv für eine kritische Wissensproduktion ist? Mit kritischer Wissensproduktion meine ich damit, dass durch die Forschung und Analyse Normen und hegemoniale Diskurse hinterfragt, Machtverhältnisse und Ungleichheiten sichtbar gemacht, damit kritisierbar und destabilisiert werden können. Zunächst halte ich es für wichtig, die Entstehung und Situiertheit von Wissen transparent zu machen, um sich in Anschluss an die Writing-Culture-Debatte sowie konstruktivistische Ansätze gegen das Postulat der Objektivität und eines Anspruchs auf Wahrheit zu positionieren (vgl. Abu-Lughod 1993). Dadurch wird auch eine kritische Lektüre der eigenen Ergebnisse und Repräsentationen befördert. María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan betonen, dass kritische Theorie von der Debatte lebe: »Thesen werden präsentiert und sogleich angegriffen und hinterfragt. Es ist in den Zwischenräumen der Dispute, wo sich unserer Ansicht nach Möglichkeiten des Widerstands bieten und sich neue Politikformen finden lassen – und nicht in den zu ›Wahrheit‹ gefrorenen Argumenten dieser Autorin oder jenen Autors.« (Castro Varela/Dhawan 2005: 9) Daran anschließend ist es sowohl ein kulturanthropologisches als auch feministisches Anliegen, sich den eigenen Standpunkt bewusst zu machen und zu reflektieren, um Machtverhältnisse und Unterdrückungsmechanismen im eigenen Handeln sichtbar zu machen und dementsprechend auch bewusst anders zu agieren (vgl. Binder 2014). Ich gehe außerdem davon aus, dass die Selbstreflexion bis zu einem bestimmten Grad dem Erkenntnisinteresse dienen kann, da die Forscherin selbst Teil des Forschungsfeldes, in diesem Fall des Grenzregimes, ist, Verbindungen schafft und sich in ihr bestimmte Ungleichheitsstrukturen und Techniken des Grenzregimes artikulieren. Das Forschen von Wissenschaftler_innen aus dem Globalen Norden in Ländern des Globalen Südens kann als eine Fortschreibung kolonialer Praxis verstanden werden, die ungleiche Machtverhältnisse reproduziert: Gerade in einem Land
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wie Marokko, das als eines der ›Sichersten‹ der nordafrikanischen Staaten gilt, tummeln sich weiße, westliche Forscher_innen und Journalist_innen, die Wissen über die ›Anderen‹ produzieren, besonders im Feld Migration. Gleichzeitig ist die Anzahl an Forscher_innen aus dem Globalen Süden, die europäische Gesellschaften zum Forschungsgegenstand haben, deutlich geringer. Sie tun dies oftmals aus den Herkunftsländern, weil sie durch restriktive Visabestimmungen und fehlende finanzielle Förderung immobilisiert sind, und weil sie um Sprecher_innen-Positionen viel mehr kämpfen müssen. Besonders vor Augen gehalten wurde mir diese machtvolle, postkoloniale Praxis der weißen Wissensproduktion über ›Andere‹, als ich vor einem Café in Tanger saß und die letzten Stunden in meinem Forschungstagebuch verschriftlichte, als ein älterer Mann vor mir stehen blieb und mit lauter Stimme auf Französisch sagte: »Du schreibst viel. Ich habe das gesehen. Du wirst eine große Schriftstellerin. Aber du weißt nichts über die Geschichte Marokkos. Nichts!« Meine eigene Forschungspraxis und Positionalität als weiße, europäische Akademikerin ist unter anderem ein Produkt postkolonialer Ordnungen und Kontinuitäten. Die eigene Herkunft spielt eine große Rolle in der Herstellung der Machtposition ›Andere‹ zu definieren und zu repräsentieren. Hinzu kommt sicherlich das Begehren und eine Faszination der Forscherin gegenüber dem ›Anderen‹, dem ›Fremden‹, das mich zumindest während meiner ersten touristischen Reise nach Marokko begleitet hat und im Laufe des Forschungsprozesses immer wieder reflektiert werden musste. In den ersten eigenen Texten und Forschungstagebucheinträgen über die Reisen nach Marokko lassen sich im Rückblick eine Exotisierung der Stadt Tanger als Ort der Freiheit herauslesen sowie die Fortschreibung eines neuen Orientalismus durch die Konstruktion der »immobilen Anderen« (Lenz 2010: 72). Den eigenen weißen Blick zu dekonstruieren und zu dekolonisieren ist ein fortlaufender Prozess. Forschen im Globalen Süden beruht unausweichlich auf postkolonialen Machtverhältnissen und reproduziert globale Ungleichheiten. Die südafrikanische Anthropologin Zodwa Radebe bezeichnet die Dekolonisierung der Anthropologie sogar als ein unmögliches Unterfangen und betont, dass die Fähigkeiten von Anthropolog_innen nicht zur Unterstützung »unterdrückter Gruppen« und der Verbesserung ihrer Lebensumstände beitragen würden, sondern vielmehr das Berufsfeld erhalten und zu Anerkennung in der intellektuellen, akademischen Welt beitragen würden: »In fact, the insistence on studying the oppressed is the continuation of colonialism […] Maybe the first shift should be on the anthropological subject of study, from the ›other‹ to the ›self‹.« (Radebe 2016) Dieses Plädoyer von Radebe ist vor allem eine Kritik an der klassischen Anthropologie, der alten Völkerkunde; die Volkskunde_Europäische Ethnologie hatte sich in der Geschichte vor allem mit der ›eigenen‹ Gesellschaft, zumindest innerhalb Europas Grenzen, auseinandergesetzt. Shalini Randeria und Regina Römhild weisen jedoch darauf hin, dass es auch die disziplinäre Einteilung der Völkerkunde als die Erforschung der ›Anderen‹ und die Volkskunde als die Erforschung des ›Eigenen‹ ist, die gerade diese machtvolle Dichotomisierung wiederum aufrechterhält (vgl. Randeria/Römhild 2013: 16). Doch auch die klassische Migrations- und Integrationsforschung war und ist nach wie vor
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in Form von kulturalistisch-differenzialistischen Forschungsdesigns und essenzialisierenden Fragestellungen an der Produktion sowie der Problematisierung der ›Anderen‹ beteiligt (vgl. Hess 2011) und trägt zu der »wirkungsvolle[n] Aufspaltung der kolonialen Raumordnung in ›Eigenes‹ und ›Fremdes‹« (Randeria/Römhild 2013: 17) bei. In dieser Studie wurde mit Marokko ebenfalls in einem ehemals kolonisierten Land geforscht. Das Dilemma einer weißen Wissensproduktion über die ›Anderen‹ lässt sich an dieser Stelle nicht mehr auflösen. Aus einer postkolonialen Kritik ist die Legitimität des Forschungsprojekts sicher radikal zu hinterfragen. Trotzdem möchte ich auf einige Perspektiven hinweisen, die doch dafür sprechen, dieser Forschungspraxis nachzugehen und auch über Europas Grenzen hinaus zu forschen: Zunächst ist die Intention dieser Studie nicht, eine Ethnographie Marokkos und ›seiner‹ Bevölkerung anzufertigen, sondern vielmehr eine Ethnographie des Grenzregimes, die ich für wichtig halte, um die Effekte aktueller Migrationspolitiken nachvollziehen zu können und damit kritisierbar zu machen. Auch können dadurch Perspektiven sichtbar gemacht werden, die sonst nicht gesehen und gehört werden. Der Forschungsgegenstand ist nicht primär Migrant_innen und deren Lebenswelten, sondern vielmehr das Grenzregime, von dem sie als handelnde Akteure Teil sind, in das jedoch auch die Forscherin involviert ist. Eine aktuelle Entwicklung ist die zunehmende Delokalisierung der europäischen Außengrenze in ›Drittstaaten‹. Um dieses Phänomen zu erforschen, ist eine Möglichkeit, diesen Wegen und Pfaden vor Europas Grenzen zu folgen. Dabei produzierte ich nicht einfach wie in klassischen Forschungen ein Wissen über Migrant_innen, sondern setzte mich auch mit deutschen und europäischen Institutionen in Marokko auseinander, die Teil des Grenzregimes sind. Gerade in Interviewsituationen mit Vertreter_innen der Institutionen und Behörden wie dem Konsulat drehten sich Machtverhältnisse zwischen Interviewerin und Interviewten im Sinne eines studying up zumeist um oder wurden uneindeutiger. Selbst in Forschungssettings mit jenen, die das Einreiseverfahren durchlaufen und sich aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft und ihrem sozioökonomischen Hintergrund – in Relation zu der machtvollen Position der Forscherin – zunächst in einer benachteiligten Position befinden, werden klassische postkoloniale Ungleichheiten und Machtverhältnisse oft durchbrochen. Die Soziologinnen Marsha Henry und Suruchi Thapar-Bjökert weisen darauf hin, dass eine Konstruktion der Beforschten als ›unterlegen‹ und ›passiv‹ ebenfalls zu einer Fortschreibung kolonialer Bilder führen kann und dass sie selbst in ihrer Forschungspraxis festgestellt haben, dass weder für sie selbst noch für die Forschungsteilnehmer_innen gefestigte stereotype Rollen existierten, in denen der_die Forscher_in Macht ausübt: »[P]ower can also be exercised by participants. We suggest that researchers can also be objectified, manipulated and exploited, especially when they are not positioned as part of a dominant group or culture.« (Thapar-Björdert/Henry 2004: 364) Ohne Machtverhältnisse relativieren zu wollen, die wie bereits beschrieben zunächst sehr offensichtlich erscheinen und dies auf einer strukturellen Ebene auch sind, möchte ich auch auf situative Brüche und Umdeutungen in diesen Konstellationen zwischen Forscherin und Beforschten hinweisen. So waren es auch oft meine Interviewpartner_innen, die meine Verfüg-
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barkeit aktiv nutzten: um Informationen über das Leben in Deutschland, aber auch vor allem über das Visumsverfahren, zu erhalten; um Deutsch zu üben; um sich Rat zu holen und das Erlebte zum Beispiel in Behörden zu verarbeiten; oder um Geld und Geschenke zu verschicken und zu transportieren. Zwei Frauen, zu denen ich ein relativ enges Verhältnis aufgebaut hatte, brachen direkt den Kontakt ab, sobald sie in Deutschland waren. Eine andere ging auf Distanz, nachdem ich mich kritisch gegenüber der Idee geäußert hatte, dass sie eine Freundin ins Goethe-Institut schicken wolle, um für sie die Prüfungen durchzuführen. Dabei ging es mir weniger um einen vermeintlichen Betrug als vielmehr ein zu hohes Risiko für sie aufgedeckt zu werden. Um der Gefahr einer weißen Wissensproduktion im Möglichen entgegenzuwirken und Perspektiven und »Theorie aus dem Süden« (Comaroff/Comaroff 2012) ernstzunehmen, stand ich kontinuierlich in Austausch mit marokkanischen Wissenschaftler_innen, diskutierte meine Beobachtungen und ersten Analysen mit Freund_innen und Interviewpartner_innen, die dort aufgewachsen sind, und arbeitete in der Analyse und Verschriftlichung mit Literatur aus dem marokkanischen Wissenschaftskontext. Mit dieser Studie geht es mir nicht darum Wahrheiten niederzuschreiben, sondern vielmehr in den Worten der marokkanischen Soziologin Fatima Mernissi: »to induce readers to doubt their prejudices and stereotypes […] not to fortify your certitudes but to destroy them« (Mernissi 1987: 94).
3 Die Heiratsurkunde In diesem Kapitel stehen die Hintergrundkontexte der Menschen, die das Einreiseverfahren des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ durchlaufen, im Mittelpunkt der Analyse sowie die dem Grenzregime vorgelagerten bürokratischen Prozesse des transnationalen Heiratens, die vor allem durch die Heiratsurkunde als politisches Instrument strukturiert werden. Bevor Menschen aus ›visumspflichtigen Drittstaaten‹ mit dem europäischen Grenzregime in Berührung kommen und zum Beispiel ein Visum beantragen, machen sie unterschiedliche Lebenserfahrungen in heterogenen gesellschaftlichen Verhältnissen und durchlaufen bereits andere Institutionen und Behörden. Subjekte werden nicht erst durch das Grenzregime erschaffen, sondern werden darüber hinaus normiert und geformt. Die Soziologin Katherine Braun kritisiert aus einer dekolonialen Perspektive an der europäischen Migrations- und Grenzregimeforschung, dass zumeist europäische Entrechtungs- und Klassifizierungsregime ins Zentrum der Analyse gestellt und dabei Migrantinnen auf einer »geschichtslosen tabula rasa« angesiedelt würden (vgl. Braun 2016: 210). Es sei jedoch wichtig, die Herkunftskontexte von Migrant_innen – vor dem Hintergrund der »heterogenen Simultanitäten von Zeiten, Orten und Bezugsräumen« (ebd.) – zu beleuchten, um deren Alltagspraktiken und Lebensrealitäten zu verstehen. Durch die lang anhaltende eurozentristische Fokussierung auf die Zeit nach der Einreise beziehungsweise auf die Zielländer, wurde die Rolle der Herkunftsstaaten in Migrationsprozessen oft vernachlässigt (vgl. Flahaux/de Haas 2016) und hat sich jedoch während meiner Forschung in Marokko als konstitutiv für das weitere Einreiseverfahren herausgestellt. Da die meisten der Menschen in Marokko, die zu ihrer_ihrem Partner_in nach Deutschland migrieren wollen, keine Möglichkeit haben, vor der Heirat einzureisen, findet die Eheschließung in Marokko statt. Auch der marokkanische Staat hat ein Interesse daran, die Institution Ehe zu regulieren und zu kontrollieren. Dieses Kapitel zeigt, dass das Regieren der Migration durch Heirat schon weit vor der ersten Begegnung mit Akteuren des europäischen Grenzregimes beginnt. Über das politische Instrument der Heiratsurkunde wird bereits vorsortiert, wer überhaupt heiraten kann und unter welchen Umständen, und damit auch, wer überhaupt das Einreiseverfahren des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ in Anspruch nehmen kann. Auch dabei werden in Anrufungs- und Bezeichnungspraktiken Subjektivierungsprozesse wirksam. Während es sich bei der Heiratsurkunde lediglich um ein Dokument handelt, das durch den formalen Akt der Eheschließung erworben werden kann, geht damit
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gleichzeitig ein Prozess einher, an dem unterschiedliche staatliche und nicht-staatliche Akteure beteiligt sind. Dabei zeigt sich wieder, dass es nicht einfach der Staat ist, der die Praxis des Heiratens steuert und reguliert, sondern diese in Aushandlungen und Konflikten vonstatten geht und Handlungsräume für Widerständigkeiten und eigensinnige Praktiken entstehen. Die Protagonist_innen dieser Studie eignen sich die Heiratsurkunde an und setzen diese für ihre Heirats- und Migrationsprojekte ein, deuten diese um und passen sie an. Sowohl Akteure des Regierens als auch der Migration verfügen in dem Prozess des (Ver‑)heiratens über Handlungsmacht und können je nach verfügbaren Ressourcen eingreifen. Um herauszuarbeiten, wie Menschen zu ›Heiratsmigrant_innen‹ gemacht werden und sich selbst dazu machen, möchte ich zunächst von einigen Protagonist_innen dieser Studie die individuellen Beweg/gründe ihrer Heirats- und Migrationprojekte vor dem Hintergrund der politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen in Marokko aufzeigen. Diese sind auch als ein Prozess neoliberaler Globalisierung in einem postkolonialen Staat zu verstehen. Der Begriff neoliberale Globalisierung meint dabei zunächst »ökonomische Entgrenzungen, die die sozialen Ausgleichfunktionen moderner Nationalstaaten unterminieren« (Gertel/Breuer 2012: 30). Die kulturwissenschaftliche Globalisierungsforschung hat deutlich gemacht, dass die Effekte ökonomischer Globalisierungsprozesse keineswegs allein aus einer ökonomischen Perspektive erklärt werden können, sondern diese alltagsweltliche Kontexte modifizieren sowie kulturelle Entwicklungen anstoßen (vgl. Hess/Lenz 2001b: 11). Gerade in postkolonialen Staaten sind die Effekte der Ausbreitung des globalen Kapitalismus nicht auf den Bereich der Wirtschaft und deren Regulation zu beschränken (Gupta/ Sharma 2006a: 280). Der Sozialwissenschaftler Koenraad Bogaert beschreibt die Umstrukturierung im Rahmen neoliberaler Globalisierung in Marokko wie folgt: »Government in Morocco privileges the desires of private capital at the expense of some of the pressing social needs such as youth unemployment, the crisis in education, (urban) poverty and the poor quality of public health care.« (Bogaert 2011: 279) Wie sich diese globalen sowie lokalen Entwicklungen auf die Situation der Protagonist_innen dieser Studie auswirken, werde ich im Folgenden aufzeigen. Mit individuellen Beweg/gründen meine ich sowohl die Beweggründe im Sinne von Motivationen für die Heiratsprojekte als auch die Gründe, dieses mit einem Migrationsprojekt, also physischer Bewegung, zu verbinden. Dabei wird deutlich, dass sowohl Heirat als auch Migration zu widerständigen Strategien werden können, um die eigene Lebenssituation zu verändern und sich – wenn auch nur zu einem bestimmten Grad – aus gesellschaftlichen Verhältnissen zu befreien. Anschließend werde ich darlegen, wie und warum der marokkanische Staat die Heirat, vor allem von binationalen Paaren, kontrolliert und reguliert. Die Eheschließung ist für binationale Paare bereits mit regulierenden Praktiken wie ersten Befragungen und Überprüfungen verbunden, die von unterschiedlichen Akteuren durchgeführt werden wie Gerichten oder dem adul, der in Marokko die Eheschließung durchführt. Dabei wird auf Gesetze und Paragraphen zurückgegriffen, in denen sich sowohl normatives Geschlechterwissen als auch der Erhalt nationaler Identität manifestieren. Die Regu-
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lierung binationaler Eheschließungen steht hier in engem Zusammenhang mit der Stärkung und Stabilisierung des marokkanischen Nationalstaats.
3.1 I ndividuelle B eweg /gründe im K ontext neoliberaler G lobalisierung in einem postkolonialen Staat Sie betritt den Raum und sagt auf Deutsch: »Hallo.« Sie lacht dabei und nimmt nacheinander mit jeder_m der Anwesenden Blickkontakt auf. Ihre Erscheinung sticht hervor: Unter der relativ kurzen Djellaba, trägt sie Leggings mit Leopardenmustern. An ihren Händen hat sie große goldene Ringe, genauso wie an ihren Ohren. Ihre Stimme ist tief und rasselt ein wenig. Sie würde gerne einen Deutschkurs absolvieren, um das Niveau A1 zu erreichen, erklärt der Deutschlehrer, der sie hereingebracht hat. Wir sitzen im Büro des Direktors der Deutsch-Marokkanischen Gesellschaft Nord (DMG Nord) in Tanger. Die DMG Nord ist ein Partnerinstitut des Goethe-Instituts und bietet neben kulturellen Veranstaltungen auch Sprachkurse an. Hafida, die Frau, die Deutsch lernen möchte, spricht nur Amazigh, die Sprache der indigenen Bewohner_innen der Region, und Darija, das marokkanische Arabisch, sowie ein paar Worte Deutsch und Englisch. Sie ist mit einem österreichischen Mann verheiratet und möchte mit ihm nach Europa gehen. Auch für den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ nach Österreich ist es notwendig, Deutschkenntnisse auf A1‑Niveau nachzuweisen. Das Problem sei, dass sie nicht zur Schule gegangen ist und nie gelernt hat zu schreiben, sagt der Deutschlehrer. Der Direktor wendet sich ihr mit einem Lächeln zu und fängt an Fragen zu stellen: »Wo hast du ihn denn kennengelernt? Ist er reich? Bist du reich?« Sie antwortet auf Darija, während der Deutschlehrer übersetzt: Sie habe ihn am Strand kennengelernt, er arbeite gerade am Hafen Tanger-Med im Hochbau und ihr Vater werde für den Sprachkurs zahlen. »Sie ist ein nettes Mädchen. Dieser Mann hat Glück«, sagt der Direktor in die Runde und in meine Richtung: »Ich habe immer viele Fragen. Ich stelle sie, weil es mich interessiert, ob sie wirklich aus Liebe zusammen sind oder ob sie gezwungen wurde zu heiraten. Aber sie ist wirklich ein nettes Mädchen.« Sie sprechen noch über die Preise für den Alphabetisierungskurs und vereinbaren einen Termin für die nächsten Tage, gemeinsam mit ihrem Mann, um die Details festzulegen. Später sitze ich noch mit dem Deutschlehrer und einem anderen Mitarbeiter der DMG Nord zusammen, beide leben seit vielen Jahren in Tanger und sind dort aufgewachsen. Als ich die Begegnung mit Hafida erwähne, fangen beide an laut zu lachen. Sie hätten sie schon öfter gesehen, bevor sie zum Institut gekommen ist. Sie sei bekannt in der Stadt und sie hätten sie schon viele Male in unterschiedlichen Diskotheken getroffen. Sie arbeite als »Prostituierte«, erklären sie mir. »Das kann keine Liebe sein«, bekräftigen beide. Die Frage, ob es sich bei den Paaren tatsächlich um Liebe handelt, wird im Kontext transnationaler Eheschließungen nach Europa sehr oft aufgeworfen. Sie wurde immer wieder an mich herangetragen, wenn ich von meinem Forschungsprojekt in unterschiedlichen Umfeldern erzählt habe, sowohl in Deutschland als auch in Ma-
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rokko. Sie wird aber auch in Institutionen gestellt, wie hier in der DMG Nord, und kann zum Beispiel im Konsulat zentral für die Vergabe des Visums werden. Dabei ist der Diskurs stark vergeschlechtlicht: Während bei Frauen vor allem die Frage aufgeworfen wird, ob sie aus eigenem Willen die Ehe eingegangen sind oder dazu gezwungen wurden, wird bei Männern davon ausgegangen, dass sie mit der deutschen Frau nur aus ökonomischen Interessen zusammen seien oder um auf legalem Weg nach Europa einreisen zu können. Im Fall von Hafida kommt außerdem noch die Vorstellung hinzu, dass sie als »Prostituierte« keine ernsthafte Beziehung eingehen könne. Die individuellen Migrations- und Heiratsprojekte sowie Lebensrealitäten der Menschen, die in einer solchen Paarbeziehung leben und die ich begleitet habe, zeigen jedoch, dass die Motivationen, Narrationen, Subjektivitäten und Imaginationen durchaus heterogener und komplexer sind und mit den homogenisierenden Einteilungen wie ›Liebesehe‹, ›Scheinehe‹, ›Zwangsehe‹ et cetera brechen. Die Anthropologin Lila Abu-Lughod sieht in dem Erzählen individueller Geschichten ein machtvolles Werkzeug, hegemoniale Kategorisierungen und Homogenisierungen zu hinterfragen (vgl. Abu-Lughod 1993: 13). So erheben die folgenden Porträts keinen Anspruch auf Repräsentativität, vielmehr sollen sie die Heterogenität innerhalb der Gruppe der sogenannten ›nachziehenden Ehegatten‹ verdeutlichen und wurden ausgewählt, um einen Eindruck von den diversen Heirats- und Migrationsprojekten zu vermitteln. Auch geht es hier nicht darum, die Motivationen und Ziele zu messen oder in einen kausalen Zusammenhang mit anderen Faktoren zu stellen. Es ist ein Anliegen diese individuellen Geschichten zu erzählen, da das Thema Heirat in Verbindung mit Islam und Ländern der MENA-Region14 im westlichen Diskurs – vor allem medial, aber auch in der Anthropologie und ethnographischen Arbeiten (vgl. Abu-Lughod 1993: xvi) – zumeist vereinfacht und stereotypisiert dargestellt wird. Dieses hegemoniale Wissen über Partner_innen-Wahl und Heiratsverhalten wird auch in Regierungsweisen innerhalb des Grenzregimes wie im Konsulat wirkmächtig. Die folgenden Porträts zeigen außerdem, wie Menschen in Marokko bereits bevor sie in Berührung mit dem europäischen Grenzregime kommen – in der eingangs beschriebenen Situation ganz konkret durch das Betreten des Gebäudes der DMG Nord, das durch den Sprachnachweis Teil des Grenzregimes wird – Regulierungsprozessen ausgesetzt sind und ihre Lebensrealitäten durch spezifische gesellschaftliche Verhältnisse geprägt sind. Ich werde in diesem Kapitel die Geschichten von einigen wenigen der Menschen, die ich begleitet habe, erzählen. Bei der Auswahl habe ich darauf geachtet, dass eine gewisse Breite an intersektionalen Subjektpositionen vertreten ist. Andere Personen und ihre Geschichten haben an einem anderen Ort in diesem Buch ihren Platz gefunden und werden in andere Kontexte gestellt. Nun zurück zu Hafida, die sich wegen dem Sprachnachweis an die DMG Nord gewendet hat.
14 MENA = Middle East and North Africa.
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3.1.1 Hafida: (Un-)Abhängigkeit, Sexualität und gesellschaftliche Ausgrenzung Hafida wurde 1984 in einem Dorf in der Nähe von Khénifra im Atlas-Gebirge geboren. Mit 14 Jahren hatte sie schon einmal geheiratet, einen marokkanischen Mann. In ihrem Dorf heirateten viele der Mädchen in dem Alter, erklärt sie mir während eines Interviews. Es war ein Mann aus dem Dorf, aber er lebte in Spanien. Dadurch war sie alleine mit seiner Familie. Das sei für sie eine schlimme Zeit gewesen. Nach zwei Jahren ließ sie sich scheiden und zog wieder zurück zu ihrer eigenen Familie. Doch sie hielt es zuhause nicht lange aus und beschloss alleine nach Tanger zu gehen. Hafida habe ich an diesem Tag in der DMG Nord in Tanger kennengelernt und nur für kurze Zeit begleitet. Nach ein paar Wochen ist sie nicht mehr zum Alphabetisierungskurs erschienen. Sie hatte die Hoffnung aufgegeben, dass sie es schaffen würde, diese fremde Sprache zu lernen, wie mir ihr Deutschlehrer später berichtete. Er war bei unseren Treffen immer als Übersetzer dabei. Sie hat nie explizit über ihre Arbeit gesprochen oder sich als Prostituierte bezeichnet. Jedoch erzählte sie, dass sie jede Nacht in Diskotheken unterwegs sei, sobald ihr Mann, der zu diesem Zeitpunkt auch in Tanger lebte, wieder auf Geschäftsreisen ist. Ihr Auftreten und die Art und Weise, wie sie mit ihrem Umfeld interagiert, lässt darauf schließen, dass sie keine Angst hat und es gewohnt ist zu kommunizieren, aber auch sich zu verteidigen und für sich selbst einzustehen. Als wir gemeinsam im Café sitzen, weist sie Männer, die betteln oder etwas verkaufen wollen, bestimmt ab, während sie einer Frau und ihrem kleinen Kind ein paar Dirhams gibt und sich kurz mit ihr unterhält. Es ist auffällig, dass sie immer sehr bunt und figurbetont gekleidet ist und dicke goldene Ringe an den Fingern und Ohren trägt. Während eines der Interviews, das wir in einem Unterrichtsraum der DMG Nord führten, ging sie zwischendurch ans Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Der Deutschlehrer verlegte den Alphabetisierungskurs irgendwann nach draußen in Cafés, weil sie sich in der DMG Nord nicht wohl fühlte und währenddessen rauchen wollte. Mit ihrem Verhalten und Erscheinungsbild bricht Hafida immer wieder mit gesellschaftlichen Erwartungen an sie als junge Frau und damit einhergehenden Geschlechterrollen. Die Anthropologin Mériam Cheikh hat zur Bedeutung von Intimität, Sexualität und Tauschgeschäften in Marokko gearbeitet. Für ihre Forschung hat sie zwei Jahre lang in Wohngemeinschaften mit jungen Frauen in Casablanca und Tanger gelebt, die ihr Einkommen über sexuelle und intime Dienstleistungen erwirtschaften. In Marokko werde im hegemonialen Diskurs zwischen »Mädchen des Hauses« (bint ad-dar) und »Mädchen der Straße« (bint zanqa) unterschieden (vgl. Cheikh 2014). Erstere hielten sich an Konventionen und Regeln, letztere würden damit brechen: Sie flirten mit dem anderen Geschlecht, gehen in Diskotheken und Bars, sie trinken Alkohol und rauchen und haben sexuelle Erfahrungen vor der Ehe. Sexuelle Dienstleistungen werden vor diesem Hintergrund als eine von der Norm abweichende Tätigkeit wahrgenommen und moralisch verurteilt. Den Frauen werden »echte« Gefühle und »authentische« Beziehungen zu Männern abgesprochen (vgl. ebd.). Die-
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se Wahrnehmung wurde auch im Gespräch mit den beiden Mitarbeitern der DMG Nord über Hafida und ihre Beziehung deutlich. Offiziell ist Prostitution in Marokko nach Artikel 498 des Code Pénal verboten (vgl. Ministère de la Justice 2015), wird aber geduldet. Cheikh zeigt in ihrer ethnographischen Studie, dass es bei dem Geschäft der Sexarbeit jedoch nicht nur um den Tausch von sexuellen Dienstleistungen gegen Geld gehe, sondern auch darum sich zu amüsieren. Obwohl sich die meisten Frauen aus einer prekären Situation und aus ökonomischen Zwängen heraus für diese Tätigkeit entschieden, gingen die Bedeutungen und Ansprüche an diese Form der Lohnarbeit über die Existenzsicherung hinaus (vgl. Cheikh 2014). Für eine junge Frau, die keinen Bildungsabschluss und keine Unterstützung durch die Familie hat, gibt es in einer marokkanischen Großstadt nicht viele Möglichkeiten ein Einkommen zu erwirtschaften, das zum Leben reicht. Die legale Arbeit in den Fabriken im Umland der Großstädte, die zumeist zu internationalen Konzernen gehören und in den Freihandelszonen liegen, ist schlecht bezahlt, sehr prekär und das Gehalt zumeist nicht genug, um selbst die Miete für ein Zimmer zu bezahlen. Auch die Kulturanthropologinnen Sabine Hess und Ramona Lenz beschreiben das Phänomen, dass es zwar in Billiglohnländern vor allem die weibliche Arbeitskraft sei, die von transnationalen Konzernen nachgefragt werde, jedoch handele es sich dabei insbesondere um unregulierte und niedrigentlohnte Zeit-Arbeitsverhältnisse, deren Entlohnung zumeist nicht einmal zur Sicherung der Existenz ausreichten (vgl. Hess/Lenz 2001b: 18). Frauen sind bis heute in Marokko sehr viel stärker von Prekarisierungsprozessen betroffen als Männer und ihre Rechte sind fragil und von Krisen abhängig. So waren auch Frauen die ersten Opfer des wirtschaftlichen Abschwungs Mitte der 1980er Jahre (vgl. Sadiqi 2008: 451). Trotz dieser ökonomischen Zwänge werde die Realisierung persönlicher Bedürfnisse und Wünsche von den Frauen in das Geschäft mit sexuellen Dienstleistungen integriert, so Cheikh (2014). Dazu gehöre auch sich dem Stillstand auf der sozialen Leiter und den Grenzen der eigenen Möglichkeiten zu verweigern, sich Zugang zu einem üblichen Lebensstandard in einer Gesellschaft zu verschaffen, die Teil der wirtschaftlichen Globalisierung ist, als Individuum anerkannt zu werden und die Möglichkeit zu haben zu konsumieren – vor allem auch Produkte, die Außenwirkung hätten, so Cheikh, wie zum Beispiel modische Kleidung, Kommunikationstechnologien oder Kosmetika (vgl. ebd.: 6). Die Frauen wüssten, dass sie all dies in Form von Geschenken von Männern bekommen könnten. Die Beziehungen zu ihren Klienten beschränkten sich oft nicht nur auf das kurze Geschäft mit dem Sex, sondern werden zu engeren, manchmal länger andauernden Beziehungen, wie ihre Studie zeigt. Cheikh hat beobachtet, wie jede Nacht zur Chance wird einen ›guten Mann‹ zu finden. Auch die Frauen, die in der Sexarbeit tätig sind, hätten den Traum von Sicherheit und sozialem Aufstieg, sei es durch eine ›gute‹ Heirat und/oder Migration in ein anderes Land (vgl. Cheikh 2014). Für Hafida eröffnet die Begegnung mit ihrem Mann Stefan ebenfalls neue Türen. Sie hat ihn zwei Jahre vor unserem Treffen kennengelernt. Er ist Anfang 40 und kam
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mit einem anderen österreichischen Mann nach Marokko, der mit einer Freundin von ihr verheiratet war, erzählt sie. Sie wurden einander vorgestellt und Stefan habe zu seinem Freund gesagt: »Dieses Mädchen gefällt mir.« Und er habe geantwortet, dass das kein Mädchen nur für Spaß sei, sondern dass Hafida etwas Seriöses wolle. Kurz darauf beschlossen die beiden zu heiraten, erinnert sich Hafida. Sie feierten nicht groß und es gibt keine Bilder oder Videos. Ihr Mann ist eigentlich Koch, arbeitet aber jetzt bei einem Unternehmen für Hochbau am Hafen Tanger-Med. Als ich ihn einmal in der DMG Nord treffe, sagt er über sie: »Ich habe mich sehr gefreut, dass ich sie kennengelernt habe. Normalerweise habe ich keine Zeit für sowas, aber Marokko hat mich einfach gefangen.« Bei einem Treffen diskutieren Hafida und ich darüber, ob es gut ist, gleich zu heiraten, wenn man gerade erst zusammengekommen ist. Ihre Theorie ist, dass eine Frau und ein Mann bereits nach einem Monat entscheiden könnten, ob sie heiraten und für immer zusammenbleiben können. Man müsse nur vorher miteinander schlafen und alle Punkte des anderen entdecken. Vielleicht möge man den Duft des anderen nicht und dann entdecke man das erst nach der Heirat, so Hafida. Aus der Perspektive von Hafida ist die schnelle Heirat kein Problem, solange man bereits mit dem_der Partner_in Sex hatte. Mit der Betonung des Dufts des Anderen weist sie auf ein Element der hegemonialen Vorstellung romantischer Liebe hin. Diese Haltung bricht mit dem normativen Verständnis von Sexualität in Marokko, wonach Geschlechtsverkehr ausschließlich innerhalb der ehelichen Gemeinschaft stattfinden sollte, was auch gesetzlich festgeschrieben ist (vgl. Ministère de la Justice 2015). Dass Sexualität im Alltag gerade bei jungen Menschen jedoch schon lange auch entgegen dieser Normen gelebt wird, darauf weist ebenfalls Cheikh hin und dies wurde auch in Gesprächen deutlich, die ich in Marokko mit sehr unterschiedlichen Personen über das Thema Sexualität geführt habe. Durch das ansteigende Heiratsalter sowie einem Wandel in der Vorstellung von Beziehungen zum anderen Geschlecht wird Sexualität auch außerhalb der Ehe gelebt, aufgrund der gesellschaftlichen sowie rechtlichten Sanktionen jedoch vor allem im Geheimen (vgl. Cheikh 2014). Hafida lebt mit ihrem Mann zu dieser Zeit gemeinsam in einer Wohnung, etwa eine halbe Stunde vom Stadtzentrum von Tanger entfernt. Mit Blick auf das Meer, wie sie betont. Sein Arbeitgeber kommt für die Miete auf. Sie erklärt mir, sie habe zuhause immer unter Druck gelebt und mit Stefan fühle sie Freiheit. Sie mache, was sie will. Und deswegen fühle sie sich wohl mit ihm. Aus ihrer Perspektive fährt sie auch nicht primär nach Österreich, wenn sie das Visum bekommen hat, sondern zu ihrem Mann. Sie wird dann oft unterwegs sein, weil ihr Mann viel reise und sie mit ihm kommen wolle. Er arbeite in Häfen auf der ganzen Welt und verbringe dann immer wieder mal ein Jahr woanders. Sie wolle immer mitkommen, weil sie Angst habe, dass er sonst eine andere Frau finden werde. Er hat auch zwei Töchter in Österreich. Mit denen hat sie einmal telefoniert, aber nur kurz: »Hallo. You’re ok?«, beschreibt sie ihre Konversation und lacht dabei. Als ich sie frage, ob sie denkt, dass ihr Leben mit Stefan in Österreich besser wird als ihr Leben hier in Tanger, antwortet sie, dass sie nicht wisse, was das Schicksal bringen werde, aber bis jetzt sei alles gut. Sie stellt sich
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Österreich wie Marokko vor, einfach ein Land. Sie hat schon ein Foto gesehen und das habe ähnlich wie in ihrem Dorf ausgesehen: Viel Natur, nichts Neues oder Besonderes. Sie kenne das schon aus ihrer Kindheit. Ihr Mann lebt in der Nähe von Salzburg. Die Ergebnisse von Mériam Cheikhs Ethnographie lassen die Situation von Hafida besser verstehen. Ihr österreichischer Mann bedeutet für sie nicht nur eine ›gute‹ Heirat, sondern auch Migration in ein anderes Land, das mehr Möglichkeiten als Marokko aus ihrer Sicht eröffnet. Trotzdem behält sie sich eine gewisse Unabhängigkeit vor. Sie betont, wie wichtig es für sie ist, dass sie immer noch machen kann, was sie will und abends ausgehen kann, wenn ihr Mann verreist ist. Bei einer Begegnung mit ihrem Partner, erzählte er mir, dass Hafida darauf bestehe den Deutschkurs selbst zu bezahlen. Eine ähnliche Beobachtung hat Cheikh gemacht: Erst wenn sich die Frauen ganz sicher seien, dass sie eine ›gute‹ Wahl getroffen haben, würden sie ihre hart erkämpfte Unabhängigkeit ein Stück weit aufgeben und sich wieder mehr in klassische Geschlechterrollen begeben, in denen eher dem Mann materieller Besitz zusteht (vgl. Cheikh 2014). Im Kontext von Migration durch Heirat wird die Abhängigkeit auch dadurch noch einmal verstärkt, dass ihr Aufenthaltsstatus in Österreich an die Ehe mit ihm gebunden sein wird. Lassen sie sich scheiden, muss sie zurück nach Marokko. Als ich mit einer Frauenrechtsaktivistin über die Aussage von Hafida diskutiere, ihr Mann bedeute für sie Freiheit, ist ihre Erklärung: »Sie ist nicht mehr von vielen Männern, sondern nur noch von einem Mann abhängig.« Diese Gleichzeitigkeit von vergeschlechtlichter Abhängigkeit und Freiheit ist eine Eigenschaft, die sich durch fast alle Migrations- und Heiratsprojekte zieht. Dabei werden traditionelle, ungleiche Geschlechterverhältnisse immer wieder aufgebrochen und neu verhandelt, aber auch restabilisiert, sowohl durch gesellschaftliche und staatliche Regulierungen als auch durch die Protagonist_innen selbst.
3.1.2 Rachid: eine Jugendliebe, Männlichkeit(en) und ein fehlender Sozialstaat Besonders für den Mann sei es schwierig nach Deutschland zu kommen, sagt Rachid. Die Frau arbeite und sorge für einen. Man selbst sei wie ein Baby, müsse alles lernen, die Abschlüsse würden nicht anerkannt werden, man müsse erst noch studieren. »Eigentlich will der Mann für die Frau sorgen, die Frau auf dem Rücken tragen und alles für sie tun«, sagt er. Aber in Deutschland könne man das nicht. Für die Frauen in Marokko sei es leichter nach Deutschland zu gehen. Sie könnten einfach mit ihrem Mann schlafen, Kinder kriegen und sich um die Familie kümmern, so Rachid. Aber der Mann müsse »arbeiten, arbeiten, arbeiten«. Seine Frau Anaan strenge sich an, alles vorzubereiten: Sie hat eine Wohnung gemietet, ein Bett gekauft, »alles neu«. »Wie die Vögel, die ein Nest bauen«, sagt Rachid auf Französisch. Rachid kenne ich aus einem der ›Vorintegrationskurse‹ im Goethe-Institut. Seine Frau Anaan ist 21 und kommt aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Bonn. Als sie später einmal zu Besuch in Marokko ist und sie einen Tagesausflug nach Rabat machen, habe ich die Möglichkeit, auch sie bei einem Kaffee im Hotel Balima kennenzu-
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lernen. An diesem Tag sieht Rachid anders aus als sonst im Deutschkurs. Er hat die kurzen, dunklen Haare mit Gel gestylt und trägt Lederjacke und Sonnenbrille. Seine Frau ist ein Stück kleiner als er, hat lange, braune Haare und bei unserem Treffen eine gehäkelte Mütze darüber. Die beiden kennen sich schon seit vielen Jahren. Anaan ist in Deutschland geboren und hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Ihre Eltern kommen aus Marokko. Das erste Mal hatten die beiden 2006 Kontakt. Er war damals 18 und sie 14. Ihre Familie hat ein Haus gleich neben seiner Familie, das sie allerdings nur im Sommer bewohnen. Dadurch dass er in dieser Zeit immer gearbeitet hat oder verreist war, hat er Anaan lange Zeit nicht getroffen. Er habe immer nur gewusst, dass diese Familie in Deutschland lebt und war davon ausgegangen, dass deren Tochter weiß sei und blonde Haare habe. Sie lachen beide, als er das erzählt. 2006 hat Anaan ihn bei MSN-Messenger hinzugefügt. Rachids Schwester hatte ihr seinen Kontakt gegeben. Sie haben angefangen zu chatten und schon nach ein paar Tagen auch die Kamera benutzt. Sie konnte damals nur schlecht Arabisch, deswegen haben sie nicht geredet, sondern mehr geschrieben. Er konnte auch irgendwann ein paar Worte Deutsch wie »Ich liebe dich!«. Das ist Akkusativ, sagt er und lacht. Er ist damals noch auf das Gymnasium gegangen. Sie haben ständig gechattet, manchmal bis morgens um vier. Dann ist er in die Schule, hat dort geschlafen und danach haben sie wieder gechattet. Sie seien damals Freunde – »des amis« – gewesen und hätten nicht ausgesprochen, dass sie verliebt waren. Aber eigentlich seien sie schon wie »Verliebte« – »des amoureux« – gewesen, denn sie waren die ganze Zeit in Kontakt, erzählt Rachid. Und wenn einer von beiden mal nicht online war, hat der andere gleich nachgefragt. Und dass sei nur bei Verliebten so, betont er. Im Sommer 2007 ist sie wieder nach Marokko gekommen und sie haben sich das erste Mal real gesehen. »Und dann stand sie plötzlich vor mir!«, berichtet Rachid von dem Moment. Er sei so perplex gewesen, dass ihm die Worte gefehlt hätten. Auch sie sei am Anfang sehr schüchtern gewesen, sagt sie. Sie vermuten beide, dass das unter anderem daran gelegen habe, dass Anaans Eltern zu diesem Zeitpunkt sehr skeptisch gewesen seien, dass sie sich für einen marokkanischen Mann interessiert. Rachid denkt, dass die Eltern Angst gehabt hätten, dass er sie zwingen würde, mit ihm zu schlafen, um dann auf eine Heirat zu bestehen und nach Deutschland ausreisen zu können. Er habe gehört, dass das tatsächlich manchmal passieren würde. Denn eine deutsche Frau sei in Marokko wie eine »offene Tür« nach Europa, wie ein »Visum«. Anaan erzählt, dass die Skepsis ihrer Eltern mit der Zeit verging, als sie ihnen die Frage stellte, ob ihnen denn ein deutscher Mann lieber gewesen wäre und ihr Vater Rachid auch selbst kennenlernte. Aber ihren Eltern sei es sehr wichtig, dass sie nicht miteinander schlafen vor der Hochzeit, erzählt mir Anaan, als Rachid gerade nicht zuhört. Sogar jetzt, wo sie schon formal verheiratet sind, sollen sie noch keinen sexuellen Kontakt haben, sondern erst, wenn das große Fest war und sie im weißen Kleid gewesen sei. Für Rachid und Anaan sei das in Ordnung. Rachid wolle das für seine Schwestern auch nicht, wobei seine Familie viel lockerer in dieser Hinsicht sei, sagt sie. Für sie sei das eine Frage des Respekts. Wenn sie jetzt in Marokko ist und Rachid bei ihr übernachtet, liegen sie
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mit den Füßen am Kopf des anderen und ihre Mutter schläft daneben. Eine ähnliche Einstellung gegenüber Sexualität vor der Eheschließung wurde von einigen Protagonist_innen dieser Studie vertreten. Andere wiederum machen sexuelle Erfahrungen, bevor sie heiraten, auch wenn sie diese aufgrund der gesetzlichen Lage und Sanktionen aus dem Umfeld zumeist geheim halten müssen. Früher hatte Rachid immer den Traum zu reisen, sagt er, als wir nach einem der Deutschkurse noch zusammensitzen. An erster Stelle sei Kanada gewesen, dann kam Deutschland, dann die USA, dann die Schweiz. Doch mittlerweile denke er anders: »Ich möchte mit Anaan zusammen in Marokko leben und sie will das auch, aber es geht nicht.« Wie solle er hier seine Frau empfangen mit einem Gehalt von 3000 Dirhams15? Er ist Automechaniker von Beruf. Kurz vor dem Abitur brach er die Schule ab und machte eine zweijährige Ausbildung. Diese schloss er als bester Schüler ab und konnte deswegen mit den vier anderen Besten noch eine Zusatzausbildung am ISTA-IE in Casablanca machen. Das Abitur hat er noch nachgeholt. Seine Freundin habe ihn immer motiviert die Ausbildung zu machen und der Beste zu werden. Dank ihr habe er das geschafft, sagt Rachid. Er hat zwei Diplome gemacht, um abgesichert zu sein, falls sie eines Tages nach Marokko zurückkehren. Seine Frau Anaan ist ausgebildete Frisörin, doch sie würde in Marokko noch weniger verdienen, sagt er. Man zahle hier in Marokko vielleicht zehn Dirhams für einen Haarschnitt. Auch sei es schwierig eine Wohnung zu finden. Hier könne man sich für das Gehalt vielleicht ein Zimmer leisten, etwas zu essen und dann nimmt man noch einen Kredit auf. Aber mit Kindern gehe das nicht. Der marokkanische Staat helfe nicht mit Kindern, so Rachid. Wenn er hart arbeitet und dafür ein gutes Gehalt bekommt, wolle er auch keine Hilfe vom Staat, aber mit 3000 Dirhams schaffe er es nicht. Sie müssten also nach Deutschland gehen. Die sozioökonomische Situation von Rachid ist sowohl Produkt postkolonialer Verhältnisse als auch der Neoliberalisierungsprozesse, die Marokko seit einigen Jahrzehnten prägen. Nach der Unabhängigkeit 1956 war Marokko wirtschaftlich in einem desaströsen Zustand und es dauerte einige Zeit, bis die Wirtschaft sich erholte. Die Ölkrise 1973 sowie der weltweite wirtschaftliche Abschwung trafen Marokko und andere ehemals kolonisierten Länder sehr viel stärker als zum Beispiel die europäischen Staaten (vgl. de Haas 2009). In den 1980er Jahren kam es aufgrund der extrem steigenden Preise für Grundnahrungsmittel zu den émeutes du pain – den ›Brot-Aufständen‹. Die marokkanische Regierung hatte begonnen unter der Beobachtung der Weltbank die hohen Staatsschulden umzustrukturieren, was wiederum auf Kosten der breiten Bevölkerung ging und Proteste auslöste. Fatima Mernissi sieht in diesen ökonomischen Abhängigkeiten gegenüber westlichen Staaten und Institutionen einen Grund für die Krisen in vielen arabischen Ländern: »[T]he International Monetary Fund’s intervention in fixing the price of our bread does not help us keep a sense of a distinct national identity. What are the boundaries of the sovereig15 = circa 300 Euro, in Marokko liegt das Durchschnittsgehalt bei circa 450 Euro.
Die Heiratsurkunde | 91 nity of the Muslim state vis-à-vis voracious, aggressive transnational corporations? These are some of the components of the crisis that is tearing the Muslim world apart, along, of course, definite class lines.« (Mernissi 1987: xvi)
Die zunehmende Privatisierung sämtlicher ökonomischer und sozialer Bereiche durch König Hassan II. seit den 1990er Jahren führte zwar zu einem verstärkten Wirtschaftswachstum – insbesondere durch ausländische Investitionen –, aber gleichzeitig vergrößerte sich die Kluft zwischen einer gutbezahlten Oberschicht und einer unterbezahlten Unterschicht (vgl. Miller 2013: 208). König Mohammed VI., der 1999 an die Macht kam, forcierte diese Neoliberalisierung. Dabei kam es auch zu einem Abbau des Sozialstaats. Sozialleistungen wurden ebenfalls in der neoliberalen Logik zunehmend privatisiert. Der Soziologe Asef Bayat beobachtet diese Entwicklung auch in anderen arabischen Staaten: »Market forces have drastically undermined the principle of equity, that is, equal access to life-chances.« (Bayat 2010: 37) In diesen Ländern habe sich ein Zwei-Klassen-System sozialer Versorgung gebildet, in dem qualitativ hochwertige, aber teure soziale Dienstleistungen dem Verfall der staatlichen Sicherheitssysteme entgegenstehen (vgl. ebd.). Dies zeigt sich in Marokko vor allem in den Bereichen Bildung, Kinderbetreuung und Gesundheitsversorgung. Rachid gehört zu der Gruppe junger Menschen, die zwar Zugang zu Bildung hat, jedoch nicht ihrer Ausbildung entsprechend entlohnt wird, sodass er sich auch private soziale Dienstleistungen nicht leisten kann. Für ihn ist es deshalb nicht vorstellbar in Marokko eine Familie zu gründen. Aus seiner Perspektive entsteht durch seine eigene prekäre und die privilegierte Situation seiner Frau, die deutsche Staatsbürgerschaft hat und eine feste Stelle in Deutschland, ein Konflikt, da er die klassische Rolle des Mannes nicht erfüllen kann: für die Frau zu sorgen und der ›Stärkere‹ zu sein. Wenn sie in Marokko lebten, was sich beide gut vorstellen könnten, würde er zwar vielleicht mehr verdienen als sie, aber es wäre überhaupt schwer Arbeit sowie eine Wohnung zu finden und das Gehalt würde nicht reichen, um eine Familie zu ernähren. Also nimmt er zunächst in Kauf den Anspruch, den er an sich als Mann hat, aufzugeben und Verantwortung an Anaan abzugeben, in dem er nach Deutschland geht. Dort wird sich zunächst seine Frau um alles kümmern und er muss von vorne anfangen: die Sprache neu lernen und wahrscheinlich auch noch einmal eine Ausbildung machen. Rachid hat konkrete Vorstellungen von der Rolle des Mannes in seiner Beziehung zur Frau. Dabei greift er auf ein historisch gewachsenes normatives Geschlechterwissen männlicher Dominanz zurück, nach dem der Mann über der Frau steht. Die Soziologin Raewyn Connell wies in ihrem Werk »Der gemachte Mann« darauf hin, dass durch normative Geschlechterverhältnisse eben nicht nur das Subjekt Frau erschaffen werde, sondern auch das Subjekt Mann. Die stereotypen Bilder in einer Gesellschaft, was ein ›echter‹ Mann sei, bezeichnet Connell als ›hegemoniale Männlichkeit‹, die nicht nur die Beziehung zur Frau, sondern auch zwischen den Männern strukturiere (vgl. Connell 2015). Bei diesen Männlichkeitsvorstellungen handelt es sich um Bilder, die global zirkulieren und sich auch in kapitalistischen Produktionsverhältnissen im Sinne des Mannes als Erwerbsarbeiter und damit Versorger materialisieren (vgl.
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ebd.: 40). Wie normative Geschlechterverhältnisse gelebt werden, ist auch von der sozioökonomischen Situation abhängig. Prekäre Arbeitsbedingungen können, wie auch die Geschichte Rachids zeigt, traditionelle Geschlechterrollen aufbrechen. Der marokkanische Soziologe Abdessamad Dialmy kommt in seiner Studie »Vers une nouvelle masculinité au Maroc« (2009) zu dem Ergebnis, dass die junge Generation von Männern in Marokko durch Arbeitslosigkeit und finanzielle Schwierigkeiten dazu gezwungen ist, bestimmte als Teil männlicher Identität geltende Eigenschaften aufzugeben und neu zu verhandeln. Dialmy nennt das Beispiel, dass viele Männer in ihren Frauen die besseren Verwalterinnen des Haushaltsbudgets sehen und diese Aufgabe abgeben. Auch führe dies dazu, dass viele als weiblich geltenden Eigenschaften wie Zärtlichkeit oder Freundlichkeit nun auch als männliche Qualitäten angesehen werden würden. Unter diesen jungen Männern gelte Männlichkeit nicht mehr als etwas Statisches, sondern als prozesshaft und verhandelbar (vgl. Dialmy 2009: 33). Von der negativen Erfahrung, durch eine transnationale Heirat von der Partnerin – die oft auch den Deutschkurs finanziert – abhängig zu sein und damit nicht einer hegemonialen Vorstellung von Männlichkeit zu entsprechen, haben mir mehrere – vor allem junge – Männer berichtet. Diese Abhängigkeit und Gefühle von Minderwertigkeit sind immer wieder Thema und Aushandlungsgegenstand zwischen den Partner_innen. Auch wenn Rachid das Risiko eingeht in Deutschland »wieder wie ein Baby« zu sein, wie er sagt, ist es ihm wichtig, zumindest die große Hochzeitsfeier bezahlen zu können. Dafür hat er sogar parallel zum Deutschkurs noch eine zusätzliche Ausbildung im Call-Center gemacht und wird dort nach der Deutschprüfung sechs Monate in Vollzeit arbeiten, um seiner Frau den »großen Tag im weißen Kleid«, wie Anaan sagt, zu ermöglichen. Zwar stabilisiert Rachid durch seine Narration hegemoniale Männlichkeit, indem er immer wieder darauf hinweist, wie er diesen Idealen nicht gerecht wird, doch gleichzeitig durchbricht er diese in seinen Alltagspraktiken. Deutschland sei wie ein Karton, den man nicht öffnen kann, sagt Rachid und macht in dem Moment mit den Händen eine Bewegung, als ob er diesen Karton in der Hand halten würde, hebt ihn hoch und betrachtet ihn. Er könne nur durch ein kleines Loch hinein schauen. Das sei Anaan, die ihm viel erzählt. Mit dieser Metapher drückt Rachid noch einmal seine neue Abhängigkeit gegenüber seiner Partnerin aus. Im März 2013 haben sie standesamtlich geheiratet und sich dann wieder mehrere Monate nicht gesehen. Es sei schwer nur zu chatten und gleichzeitig 4000 Kilometer zwischen sich zu haben, sagt Rachid. Anaan erzählt, dass er ihr immer wieder Lieder schreibe, eines heiße »Come with me«. Er macht Rap-Musik und hat eine Hiphop-Band mit vier anderen Männern und einer Frau. Er kennt auch deutsche Rapper wie Sido und Kool Savas. Nach der großen Hochzeitsfeier im September, die sie gerade gemeinsam vorbereiten, gehen sie zusammen nach Deutschland. Rachid hat Angst davor, was ihn dort erwarten wird. Aber er sagt, er erfahre es erst, wenn er dort den ersten Schritt gemacht hat.
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3.1.3 Badria: das Streben nach Bildung, Traditionen und die Ablösung von der Familie Wir blicken alle drei in die Handykamera und ich drücke ab. Azia, Badria und ich haben nach dem Deutschkurs einen Spaziergang zur großen Moschee Hassan II. in Casablanca gemacht und sie hatten mich gebeten Fotos zu machen. Jetzt schauen wir uns das Selfie an und müssen lachen, weil wir alle drei einen so ernsten Gesichtsausdruck haben. Wir blicken hinunter zum Wasser, wo die Wellen gegen die Mauer schlagen, die den Moscheevorplatz umrandet. Badria fragt mich, ob ich schwimmen könne. Ich bejahe und frage zurück. Sie meint, dass sie es könne, aber dass sie, seitdem sie Kopftuch trage, nicht mehr richtig schwimmen war, nur manchmal mit Kleidung. Das Kopftuch begleitet sie, seit sie sieben ist. Auch Azia trägt eines, allerdings erst seit ein paar Jahren, wie sie betont. Sie gehe noch ab und zu schwimmen, aber früh am Morgen, wenn noch niemand am Strand sei. Badria habe ich ebenfalls in einem der Deutschkurse im Goethe-Institut in Casa blanca kennengelernt. Sie war damals immer sehr ruhig und hat sich selten gemeldet. Richtig ins Gespräch gekommen sind wir erst, als wir uns später nach der bestandenen A1‑Prüfung noch einmal getroffen haben und sie mich mit zu der privaten Sprachschule Clemenceau genommen hat, an der sie weiter Deutsch bis zum Niveau B116 gelernt hat. Sie sagt, dass sie B1 auch erst in Deutschland hätte lernen können, aber da sie noch Zeit hatte bis das Visum bewilligt wurde, hat sie gleich in Marokko weitergemacht. Badria ist 20, ihr Mann 40 Jahre alt. Er ist »de la famille«, »aus der Familie«, wie sie betont. In Deutschland möchte sie Zahnmedizin studieren, wie ihre Freundin Ceylin, die ebenfalls ein Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ beantragt, um zu ihrem Mann zu ziehen, und die sich mit ihr gemeinsam auf die B1‑Prüfung vorbereitet. Aber Badria ist es auch wichtig, für ihren Mann zu sorgen: Er esse sehr viel, sagt sie und lacht dabei. Sie habe schon herausgefunden, dass man in Frankfurt eine Tajine-Form und einen Couscous-Teller kaufen kann. Sie könne ein bisschen kochen, aber sie übe auch viel im Moment, entweder mit ihrer Mutter oder mit Büchern. Badria sieht ihre Rolle in ihrer Beziehung zu ihrem Ehemann als Hausfrau und Mutter. Durch diese Narration, aber auch durch Praktiken wie das aktive Erlernen von Fähigkeiten zu kochen, reproduziert sie selbst traditionelle Geschlechterrollen. Diese Einstellung widerspricht sich für sie jedoch nicht mit dem Streben nach Bildung und dem Wunsch später zu studieren. Diese Gleichzeitigkeit von traditionellen Geschlechterrollen und Bildungsaufstieg habe ich auch bei anderen Protagonistinnen dieser Studie beobachten können. Die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi zeigt in ihrem Buch »Beyond the veil« (1987), wie es nach der Unabhängigkeit Marokkos, vor allem in den 1960er und 1970er Jahren, zu einer umfassenden staatlichen Förderung von Bildung kam, wodurch Schulen und Universitäten auch für die breite Bevölkerung zugänglich wurden. Dadurch verstärkte sich die Land-Stadt-Mobilität 16 B1 entspricht der dritten Stufe auf der sechsstufigen Kompetenzskala des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen.
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und es bildete sich eine neue urbane Mittelschicht heraus (vgl. Mernissi 1987: xxi). Es waren insbesondere Frauen, die von diesem neuen Bildungsaufstieg profitierten. »They took advantage of improved health standards, massive access to schooling in urban areas, generalized paid work, and an increasing participation in the labor force which were all needed for the economic development of the newly independent countries to broaden their horizons beyond the domestic sphere«, so die marokkanische Geschlechterforscherin Fatima Sadiqi (2008: 457). Der Grund für die explizite Förderung von Frauen war dabei auch, sie als Arbeitskräfte zu gewinnen. Das größte Ziel der Unabhängigkeitsbewegungen in den kolonisierten Ländern, auch in Marokko, war die Befreiung von der Herrschaft der Kolonialmächte. Dies betraf unterschiedlichste Bereiche. Dabei wurde auch die Befreiung der Frau als eine Bedingung für die Befreiung der arabisch-muslimischen Gesellschaft aus der demütigenden Vormachtstellung des Westens gesehen, wie Mernissi darlegt. Dieser Zusammenhang wurde unter anderem mit einer kapitalistischen Logik begründet: Eines der wichtigsten Elemente der Vorherrschaft ehemaliger Kolonialmächte sei ihre Produktivität gewesen. Als ein Grund dafür wurde der Umstand ausgemacht, dass in diesen Ländern auch Frauen in die Produktionssphäre integriert seien. Aus diesem Grund gab es nach der Unabhängigkeit ein politisches Interesse, Frauen ebenfalls in die Produktionsprozesse miteinzubziehen. Bildungsreformen wurden initiiert und Frauen in Klassenzimmer, Büros und Fabriken gebracht (vgl. Mernissi 1987: 13 ff.). Auch in der Geschichte Marokkos war der Zugang zu Universitäten und zu Wissen lange Zeit ein Privileg der Eliten, und dabei vor allem der männlichen Eliten.17 Die Ermöglichung des Zugangs zu Bildung für eine breitere Bevölkerung nach der Unabhängigkeit18 hatte dementsprechend weitreichende Folgen. Es wurden neue Klas17 Zwar wurde 859 nach Christus in Fes eine der ersten Universitäten der Welt – damals in Form einer Medersa und einer Moschee – von einer Marokkanerin namens Fatima al-Fihri gegründet, jedoch gehörte sie als Tochter eines reichen Kaufmanns einer kleinen Elite an und die von ihr geschaffene Bildungseinrichtung ging über in den Besitz der Sultane, http://www.alfihri.eu/, 6. Oktober 2016. 18 Wichtig ist hier zu betonen, dass die koloniale Verwaltung Marokkos als Protektorat und die damit einhergehenden Umstrukturierungen von 1912 bis 1956 mit einer Stabilisierung und Verstärkung asymmetrischer Geschlechterverhältnisse einhergingen. Mit der kolonialen Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse wurde gleichzeitig das Modell der ›bürgerlichen Kleinfamilie‹ verbreitet und im Zuge dessen patriarchale Geschlechterrollen stabilisiert. So führte die ökonomische Umstrukturierung mit der Einführung von Lohnarbeit und monetären Zahlungsmitteln sowie der Mobilisierung vor allem männlicher Arbeiter in die Stadt, in Fabriken und Minen zur Zerstörung bestehender Gemeinschaften und Lebensformen wie der Großfamilie sowie auch zu der Aufteilung der Wirtschaftssphäre in produktive sowie reproduktive Tätigkeiten, wobei erstere durch die Entlohnung aufgewertet und letztere durch ausbleibende Entlohnung abgewertet wurden (vgl. Bourdieu 2000: 80 ff.). Gerade in urbanen Räumen verbreitete sich nach und nach das Ideal der ›bürgerlichen Kleinfamilie‹ mit dem Mann in der Rolle
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senverhältnisse geschaffen, die dazu führten, dass auch traditionelle Geschlechterrollen sowie vergeschlechtlichte Grenzziehungen aufgebrochen wurden (vgl. Mernissi 1987: xxii). Durch den Zugang zu Bildung für Frauen, war es nicht mehr nur eine Heirat, die zu sozialem Aufstieg führen konnte, sondern auch Bildung. Mernissi betont, dass Bildung für Frauen in Nordamerika und Europa im Vergleich keinen so rasanten und revolutionären Effekt hatte, wie für Frauen zum Beispiel in Marokko. Der Zeitfaktor sei ein anderer gewesen. Viele der Frauen in dieser Zeit hätten noch nicht-alphabetisierte Mütter gehabt. Der Zugang zu Bildung habe direkte und extreme Effekte auf die Selbstwahrnehmung der Frauen, ihre reproduktiven und sexuellen Rollen sowie ihre Möglichkeiten für sozialen Aufstieg (vgl. ebd.: xxv). In den 1980er Jahren bildeten Frauen bereits 18 Prozent des Universitätslehrkörpers (vgl. ebd.: x xviii). Diese umfangreiche Förderung der Bildung von Frauen sowie deren Entdeckung als Produktivkraft gingen jedoch nicht damit einher ihnen auch gleiche Rechte zuzusprechen und sie bei der Reproduktionsarbeit zu entlasten und zu entlohnen, wie Mernissi kritisiert (vgl. Mernissi 1987: 165). Genauso wie in Ländern des Globalen Nordens wurden Frauen »doppelt vergesellschaftet«: »einerseits [in] der öffentlichen Sphäre der Produktion und andererseits [in] der privaten Sphäre der Reproduktion bzw. Familie« (Villa 2011: 54). Mernissi hebt hervor, dass die Veränderung der Geschlechterverhältnisse, insbesondere die Emanzipation der Frau, immer auch eine Frage der Verteilung von Ressourcen und damit eine ökonomische Frage darstelle. In Anknüpfung an die Überlegungen der italienischen Theoretikerin Mariarosa Dalla Costa betont sie, dass Kapitalismus mit seiner modernen Verwaltung von menschlichen Ressourcen und Dienstleistungen, immer noch eine vorkapitalistische Armee von nicht entlohnten Arbeiterinnen – Hausfrauen – aufrechterhalte, die die unbezahlte Reproduktionsarbeit leiste (vgl. Mernissi 1987: 165). Eine Gesellschaft, die beschließe, die Frauen zu befreien, müsse ihnen nicht nur Bildung und Arbeit anbieten, sondern auch Verantwortung für die Versorgung der Kinder sowie Arbeiter_innen übernehmen (vgl. ebd.). Sie kritisiert an der kapitalistischen Logik, auch Frauen in die Produktionsprozesse einzubeziehen, außerdem, dass dies auch damit einhergehen müsse, ihnen die gleichen Rechte und Privilegien wie Männern zuzugestehen (vgl. ebd.: 9). Auch Asef Bayat stellt für die arabischen Länder fest, dass sich der Zugang zu Bildung für Frauen zwar verbessert habe, aber die vorangegangenen Einstellungen und Normen Frauen immer noch auf ihre Zuständigkeit für (unbezahlte) reproduktive Tätigkeiten festschreiben würden (vgl. Bayat 2010: 29). So kam es auch in Marokko zu einer doppelten Vergesellschaftung, die häufig dazu führt, dass Frauen nach einem erfolgreich abgeschlossenen Studium und sehr gebildet, trotzdem mit der des Versorgers und Lohnarbeiters, der Frau in der Rolle Hausfrau und Mutter, des ehelichen Glücks sowie dem Wunsch nach zwei oder drei Kindern (vgl. Therrien 2009: 57). Mariarosa Dalla Costa und Selma James heben hervor, dass die Unterdrückung der Frau nicht mit dem Kapitalismus begonnen hätte, mit der Etablierung dieser Wirtschaftsform ungleiche Geschlechterverhältnisse und die Ausbeutung der Frauen als Frauen jedoch intensiviert worden seien (vgl. Dalla Costa/James 1972: 4).
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Heirat keiner Erwerbsarbeit nachgehen, sondern die Fürsorgearbeit in den Familien übernehmen oder die doppelte Belastung von Produktions- und Reproduktionsarbeit tragen. In den Erzählungen der weiblichen Protagonistinnen dieser Studie – wie auch bei Badria – kam diese Gleichzeitigkeit immer wieder auf: das Streben nach Bildung und Erwerbsarbeit einerseits und die Identifikation mit der Rolle als Ehefrau im Sinne der Mutter und Hausfrau andererseits. Diese vergeschlechtlichten Rollenbilder, die Badria vertritt und lebt, sind auch die, mit denen sie aufgewachsen ist und die sie vorgelebt bekommen hat. Zwar hält sie an diesen einerseits fest, doch gleichzeitig bricht sie durch ihr Handeln und die Verbindung ihres Heirats- mit einem Migrationsprojekt auch immer wieder mit diesen. In der neuen Sprachschule, in die sie geht, um Deutsch auf B1‑Niveau zu lernen, ist Badria im Vergleich zu ihrem Verhalten im Goethe-Institut wie ausgewechselt. Sie verbringt dort viel Zeit mit den anderen Frauen und Männern, die auch B1 lernen, um sich für ein Studentenvisum zu bewerben. Sie kommuniziert und erzählt viel und macht Scherze. Nach dem Unterricht gehen wir meistens noch mit ein paar Leuten etwas essen oder spazieren, wie an dem Tag, als wir zu dritt die große Moschee besichtigen. Doch an einem Morgen, als ich wieder in die Schule komme und gerade Pause ist und alle auf dem Balkon sitzen, Tee trinken und sich unterhalten, fällt mir sofort auf, dass sie wieder sehr ruhig ist und einen traurigen Blick hat. Als wir später gemeinsam zum Essen gehen, frage ich sie, was los sei. Sie erzählt, dass sie gerade viele Probleme mit ihrer Familie habe. Letzte Woche hat sie ihr Visum bekommen und muss jetzt innerhalb der nächsten drei Monate ausreisen. Sie möchte eigentlich einfach die B1‑Prüfung noch hier machen und dann direkt zu ihrem Mann ziehen, den sie ja im April schon standesamtlich geheiratet hat. »Mein Mann wartet«, sagt sie auf Deutsch. Aber ihr Vater mache Druck und bestehe darauf, dass sie erst noch die große Hochzeitsfeier macht, bevor sie nach Deutschland geht. Das Problem sei aber, dass ihr Mann keinen Urlaub mehr nehmen könne. Sie weiß nun nicht, was sie machen soll. Ihre Freundin Azia läuft neben uns und weiß schon Bescheid. Sie sagt, dass das große Hochzeitsfest die Tradition in Marokko und dass Badrias Vater sehr konservativ sei. Zu diesem Ereignis werden alle Verwandten und Nachbar_innen eingeladen. Wenn sie kein Fest mache, würden alle denken, dass sie nicht verheiratet sei und alleine nach Deutschland reise. Sie rät Badria, ihrem Vater noch einmal zu erklären, was das Visum für sie bedeutet und dass man nicht einfach ein Neues machen lassen kann. Badria hätte gerne ein großes Hochzeitsfest gemacht, sagt sie, aber wenn es zeitlich nicht gehe, sei es ihr wichtiger, rechtzeitig auszureisen. Bereits ihre Verlobung wurde groß gefeiert. Bei einer Gelegenheit zeigte sie mir Bilder von dem Fest: Sie hatten zu dem Anlass hundert Gäste eingeladen. Auf den Fotos sitzt das frisch verlobte Paar auf einem Sofa vor einer mit Ornamenten gemusterten, gefliesten Wand, während sich unterschiedliche Familienmitglieder abwechselnd mit ihnen ablichten lassen. Beide tragen traditionelle Gewänder. Nach unserem Gespräch verabschiedet sich Badria an diesem Tag eilig. Ihr Vater hatte angerufen und gefragt, wo sie sei.
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Auf den ersten Blick würde Badria vielleicht in die stereotype Vorstellung der ›unterdrückten muslimischen Frau‹ passen, die gegen ihren Willen oder ›arrangiert‹ mit einem älteren Mann aus der Familie verheiratet wurde und nun nach Deutschland gehen muss, um dort Hausfrau und Mutter zu werden. Tatsächlich ist Badria praktizierende Muslima, wie viele junge Menschen in Marokko. Auch plant sie die traditionelle Rolle der Frau in der Familie als Hausfrau und Mutter einzunehmen und folgt damit den Geschlechternormen, mit denen sie aufgewachsen ist. Doch ihre individuelle Geschichte, ihr Alltagshandeln, ihre Selbstnarrationen und Deutungsweisen zeigen die Brüche und Uneindeutigkeiten gegenüber dieser stereotypisierenden Vorstellung ihres Lebensentwurfs auf. Die Religionswissenschaftlerinnen Stefanie Knauss und Daria Pezzoli-Olgiati weisen darauf hin, dass das binäre Geschlechtersystem, das in vielen religiösen Kontexten – wie auch in der hegemonialen Auslegung des Islam in Marokko (vgl. Dialmy 2009; Mernissi 1987) – oft vermittelt und aufrechterhalten wird, zwar Verhaltensweisen, Identifikationsmuster sowie Wissensformen in allen Sphären des Lebens präge. Diese Geschlechternormen jedoch auch von religiösen Frauen immer wieder herausgefordert werden würden (vgl. Knauss/Pezzoli-Olgiati 2015: 10). Badria reproduziert zwar einerseits traditionelle Geschlechterrollen, jedoch bricht sie gleichzeitig mit diesen: Sie lernt noch vor der Ausreise Deutsch auf B1‑Niveau und möchte in Deutschland studieren. Dieser Wunsch deutet bereits darauf hin, dass sie nicht nur Hausfrau und Mutter sein will, sondern das Erlernen des Niveaus B1 bereits vor der Einreise als eine Taktik interpretiert werden kann, um die eigene Situation innerhalb bestehender sozialer Ordnungen zu verändern und mit gesellschaftlichen Erwartungen bis zu einem gewissen Grad zu brechen. Das Leben mit ihrem Mann, von dem sie immer nur positiv erzählt hat, bedeutet für sie auch die Loslösung von ihrer Familie, die sie – vor allem ihr Vater – stark kontrolliert und unter Druck setzt, sich an bestimmte Traditionen, wie die große traditionelle Hochzeitsfeier, zu halten. Am Beispiel ihrer Geschichte wird die Unterscheidung der Eheschließung als formalem Akt, der durch die Heiratsurkunde geschlossen wird, und des Heiratens als Prozess, zu dem auch Traditionen wie Feste, Rituale und Kleidung gehören19, deutlich. Ihrer Familie sind diese Traditionen aufgrund der damit verbundenen gesellschaftlichen Anerkennung sehr wichtig. Badria legt ebenfalls Wert darauf, diese Traditionen zu erfüllen. Jedoch stellt sie die standesamtliche Eheschließung und die damit einhergehende Möglichkeit eines Visums nach Deutschland über die Rituale und Feste. Deswegen kommt sie mit ihrer Familie in einen Konflikt, der ihren Wunsch nach Deutschland zu gehen noch verstärkt. Zwei Monate später sitze ich mit Badria und Ceylin wieder auf dem Balkon in der Sprachschule. Badria geht es nicht gut, weil sie am nächsten Tag die B1‑Prüfung haben wird. Sie wirkt zwar auf mich entspannt, sagt aber, dass sie, sobald sie alleine sei, anfange nachzudenken und Angst bekomme. Sie habe die ganze Nacht nicht geschlafen und ihrer Freundin Ceylin ständig Nachrichten geschrieben. Aber sie habe 19 Zu kulturellen Aspekten des transnationalen Heiratens siehe die Forschungen von Barbara Waldis zu europäisch-maghrebinischen Hochzeitsfesten (vgl. Waldis 2000).
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jetzt zumindest eine Lösung für ihr Problem mit ihrer Familie gefunden, berichtet sie mit einem Lächeln im Gesicht. Ihr Mann wird am 4. August nach Marokko kommen, am 7. August werden sie die Hochzeitsfeier machen und am 10. August werden sie zusammen nach Deutschland fliegen. Auch ihre Freundin Ceylin erzählt, sie habe ihren Flug schon für den 21. Juli gebucht, um zu ihrem Mann zu ziehen. Sie wolle Marokko aber gar nicht verlassen und von ihrer Familie weggehen. Badria entgegnet: »Ich möchte nach Deutschland gehen!« Wegen der Konflikte und Probleme mit ihrer Familie sei sie froh, dass sie Marokko verlassen könne. »Ich habe sehr viel Spaß mit meinem Mann«, sagt sie wieder auf Deutsch.
3.1.4 Samah: romantische Liebe, Konsum und der Nutzen von Bildungsabschlüssen Für Samah hat es etwas Positives und etwas Negatives nach Deutschland zu gehen. Einerseits freut sie sich darauf eine neue Erfahrung zu machen, einen neuen Lebensstil kennenzulernen und eine neue Sprache zu lernen. Das fände sie sehr wichtig. Gleichzeitig weiß sie, dass sie nur ihren Ehemann in Deutschland haben wird. Er sei ihr Mann, ihre Mutter und ihre Schwester zugleich. Wenn sie Probleme mit ihrer Beziehung haben werde, sei sie ganz auf sich allein gestellt und es sei keine Familie da, zu der sie gehen kann, sagt sie bei einem unserer Treffen. Das habe sie ihrem Mann auch gesagt, dass sie davor Angst habe. Außerdem sei es kalt in Deutschland, das möge sie auch nicht. Aber sie könne von ihrem Mann nicht verlangen nach Marokko zu kommen. In Deutschland hat er für sein Masterstudium ein Stipendium von 400 Euro im Monat und einen Minijob. Wenn er in Marokko leben würde, verdiene er nach dem Studium vielleicht maximal 13 000 Dirhams und sie mit ihrer License – zu vergleichen mit einem Bachelorabschluss – in Wirtschaftswissenschaften vielleicht 8000 Dirhams. In Deutschland sei es viel einfacher Arbeit zu finden und die Löhne seien auch höher. »Für mich ist es besser, wenn ich mein Leben hier für ihn aufgebe«, sagt Samah. Er könne dort sein Studium fertig machen und sie strenge sich an, Deutsch zu lernen, zu ihm zu kommen und dann auch zu studieren. Sie möchte auch arbeiten. Sie vertritt die Meinung, dass man als Hausfrau und Mutter eine »Last für den Staat« sei. In ihrem Deutschkurs im Goethe-Institut hätten alle ein bisschen Angst, ob es gelingen wird nach Deutschland einzureisen. Denn Deutschland sei im Moment eines der ökonomisch stärksten Länder, so Samah. Während Marokko alles importiere und der Wert für regionale Produkte wie Milch sehr niedrig sei, exportiere Deutschland vor allem. Außerdem bewertet sie es positiv, dass der Staat in Deutschland immer präsent sei. Zwar seien die Steuern sehr hoch und man müsse sehr viel abgeben, aber dafür sei man auch abgesichert. Sie nennt als Beispiel das Arbeitslosengeld: Wenn sie und ihr Mann arbeiteten und ich keine Arbeit hätte, würde ich trotzdem etwas abbekommen. Das findet sie gut, sagt Samah. Als ich das erste Mal im Goethe-Institut in Casablanca einen der A1‑Deutschkurse besuche, ist Samah die Erste, die auf mich zukommt und sich mit mir unterhält. Sie ist
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sehr offen, fragt viel und spricht fließend Englisch und Französisch. Ihr Wissen über Deutschland deutet bereits darauf hin, dass sie Bildung genossen hat. Sie hat Abitur und einen Bachelorabschluss in Wirtschaftswissenschaften. Zu dem Zeitpunkt, als wir uns das erste Mal gesehen haben und sie den Deutschkurs besucht hat, hat sie in einer europäischen Firma für Solarpanele als Telefonistin gearbeitet. Sie musste Geld verdienen, da sie von ihrer Hochzeit noch 20 000 Dirhams Schulden hatten. Wenn sie in diesem Callcenter jeden Werktag von 8 bis 18 Uhr arbeitet, was während dem Deutschkurs nicht möglich war, verdient sie im Moment 4000 Dirhams. Einen Job, der ihrer Qualifikation als Wirtschaftswissenschaftlerin mit Bachelor-Abschluss entspricht und in dem sie auch mehr verdienen würde, hat sie nicht gefunden. Samah ist Teil einer urbanen Mittelklasse, die die Ressourcen aufbringen kann, um Zugang zu universitärer Bildung zu bekommen. Jedoch fehlen in Marokko die entsprechenden Jobs für Akademiker_innen. Jede Woche gibt es Demonstrationen von arbeitslosen Akademiker_innen vor dem Parlament in Rabat (vgl. Miller 2013: 230). Während die offizielle Arbeitslosenquote in Marokko insgesamt bei circa zehn Prozent liegt – wobei davon mit 30 Prozent vor allem junge Menschen zwischen 15 und 24 aus dem urbanen Milieu betroffen sind –, ist die Quote bei Personen mit höherem Bildungsabschluss besonders hoch: Diese lag 2010 offiziell bei 18 Prozent (vgl. Conseil Économique et Social 2011: 23). Asef Bayat thematisiert in seinem Buch »Life as politics« (2010) ebenfalls das Phänomen der hohen Arbeitslosigkeit unter Akademiker_innen, das er auch in anderen arabischen Staaten beobachtet: »Although higher education has contributed considerably, especially during the 1960s and 1970s, to upward mobility of many lower-class individuals, the growing ›intellectual unemployment‹ in the region points to the fact that knowledge by itself does not necessarily bring material well-being for many people.« (Bayat 2010: 35) Die Förderung des Zugangs zu Bildung durch den Staat sei auch ein Versuch gewesen mit einem wissensbasierten Kapitalismus Schritt zu halten, jedoch waren Industrie und Infrastruktur in diesen Ländern nicht dafür ausgelegt, diesen neuen qualifizierten Arbeitskräften auch Jobs anzubieten. Bayat sieht deshalb den Bedarf nach einem neuen Verständnis von »Wissensgesellschaft« in dieser Region (vgl. ebd.). Die Call-Center-Industrie, die insbesondere von europäischen Firmen betrieben wird, als eine der größten Outsourcing-Branchen, boomt in Marokko und greift auf die vielen qualifizierten Arbeitskräfte zurück, für die dieser Bereich zwar schnelles Geld verspricht, jedoch zumeist unter sehr prekären und flexibilisierten Arbeitsbedingungen (vgl. Elaalaoui 2012). Samah ist zwar zufrieden mit ihrer Lebenssituation in Marokko und legt Wert auf die Nähe zu ihrer Familie, trotzdem sieht sie in einer Verlagerung ihres Lebensmittelpunkts zu ihrem Mann nach Deutschland eine Verbesserung ihres Lebensstandards. Ihr Blick auf Deutschland scheint auch durch ihr wirtschaftswissenschaftliches Studium geprägt zu sein, da sie genau über die ökonomische Situation in Deutschland informiert ist und bereits die neoliberale Logik der eigenen Verantwortung verinnerlicht hat, dem Staat nicht zur Last zu fallen. Gleichzeitig weiß sie auch, dass es ein Absicherungssystem gibt, das sie auffangen würde, wenn es ihr nicht gelingen sollte, für sich selbst finanziell zu sorgen.
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Ihren Mann, Ahmed, hat sie vor drei Jahren kennengelernt. Sie hatte mit ihrer Cousine einen Ausflug in einen kleinen Ort am Meer gemacht. Ahmed war dort auch mit einem Freund unterwegs und hatte ihre Cousine nach Samahs Facebook-Namen gefragt. Sie haben sich geschrieben und bald wieder getroffen. Am Anfang sei sie nicht verliebt gewesen, erinnert sich Samah. Sie habe ihn sehr klein gefunden und er habe nicht ihren Vorstellungen entsprochen. »Aber man hat mir gesagt, dass er ein guter Mann ist.« Und als sie sich dann öfter trafen und sie gemerkt habe, wie er mit ihr umgeht, habe sie sich immer mehr verliebt. Wie eingangs in diesem Kapitel erwähnt, wird Paaren, die eine transnationale Eheschließung zwischen Marokko und Deutschland eingehen, oft in ihrem Umfeld, aber auch in Institutionen, die Liebe als Grund für ihre Beziehung abgesprochen. Es gehe ausschließlich um ökonomische Interessen und den Mobilitätsvorteil. Auch wird die ›romantische Liebe‹ – vor allem auch im Zusammenhang mit der Institution Ehe – oft als westliche Erfindung konstruiert, genauso wie die ›Liebesehe‹ im Sinne einer Gefühlsgemeinschaft. Es ist eine verbreitete Annahme, dass die romantische Liebe – als ein Konzept der Moderne (vgl. Giddens 1992; Luhmann 1986) – erst durch europäischen Kolonialismus in arabische Gesellschaften eingeführt wurde und erst in diesem Kontext mit der Institution Ehe in Verbindung gebracht wurde, so der Anthropologe Michael Oghia (2015: 282). Die Sozialwissenschaftlerinnen Nicola Piper und Mina Roces kritiseren ebenfalls, dass Frauen aus Niedriglohnländern, die Männer aus wohlhabenderen Ländern heiraten, nachgesagt werde, dass sie nur oder insbesondere aus ökonomischen Gründen heirateten. Dabei gebe es viele Frauen, die aus nicht-ökonomischen Gründen eine solche Ehe eingehen, »such as out of a sense of adventure, the desire to escape narrow family relations, because of a failed relationship back home, and purely love« (Piper/Roces 2003: 11). Aber was bedeutet ›Liebe‹, besonders ›romantische Liebe‹ in diesem Kontext? Auffällig war bei den Begegnungen mit den Protagonist_innen dieser Studie wie auch mit Samah, dass nur selten die Geschichte von der ›Liebe auf den ersten Blick‹ erzählt wurde. Zumeist verging einige Zeit des Kennenlernens, bis sich herausstellte, dass der_die Partner_in eine ›gute Wahl‹ sei und sich dazu entschlossen wurde ein Paar sein zu wollen. Sich zu verlieben wurde nicht als zentrales Moment, sondern vielmehr als ein Prozess beschrieben. So war es auch bei Samah der Fall. War die Entscheidung für eine Beziehung mit einer anderen Person getroffen, wurde jedoch permanent in unterschiedlichen Praktiken ›romantische Liebe‹ hergestellt: Sei es durch Geschenke (besonders am Valentinstag), Liebesbekundungen per SMS oder Whatsapp, gemeinsame Ausflüge an romantische Orte, nächtelange Skype-Gespräche, das Schreiben von Liedern und Gedichten oder durch das Posten von Fotos mit dem_der Partner_in auf Facebook und entsprechenden Kommentierungen, nicht nur von den Protagonist_innen selbst, sondern auch von Freund_innen. »Damit Liebe soziale Wirklichkeit wird, muss sie erkennbar und verstehbar sein, zum einen für die Liebenden selbst, zum zweiten aber auch für andere, die mit ihnen interagieren«, so die Soziologin Stephanie Bethmann (2013: 12). So wird auch bei diesen Paaren Liebe in Interaktionen mit anderen überhaupt erst sichtbar.
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Fatima Mernissi schreibt in ihrem Buch »L’Amour dans les pays musulmans«, das 1984 das erste Mal veröffentlicht und 2009 und 2012 neu aufgelegt wurde, über die Werke des arabischen Gelehrten Ibn Hazm Al-Andalusi (vgl. Mernissi 2009). Der Autor philosophiert vor allem über die Liebe und prägte den Begriff ulfa. Sein zentrales Werk wurde 1941 das erste Mal ins Deutsche übersetzt und ist 1961 unter dem Titel »Das Halsband der Taube: Von der Liebe und den Liebenden« im Inse-Verlag erschienen (vgl. Al-Andalusi 1961). Ausschlaggebend für Fatima Mernissi ihre Abhandlung zu dem Werk von Ibn Hazm neu aufzulegen, war die Beobachtung, wie Mernissi in ihrem Vorwort ausführt, dass sowohl bei Amazon als auch bei Google sein Buch in arabischen Ländern wieder verstärkt nachgefragt werde und sie Hinweise bekommen habe, dass junge Menschen in Marokko seine Schriften wieder verstärkt konsumierten. Ibn Hazm definiert Liebe als ulfa, was übersetzt bedeutet »sich an jemanden zu binden« (vgl. Mernissi 2008). Dabei gehe es darum, so Mernissi, den_die Partner_in dazu zu bringen, dass er_sie dem_r Anderen soweit vertraut, dass er_sie ihm_ihr erlaubt ihm_ihr näher zu kommen. Die »Liebe auf den ersten Blick« diskreditierte Ibn Hazm, da dabei Liebe (hub) mit Begehren (hawa) verwechselt werde. Es gehe bei Ibn Hazms Liebeskonzept darum eine stabile Beziehung aufzubauen (vgl. ebd.). Ich habe die Schriften von Ibn Hazm nicht mit den Protagonist_innen dieser Studie diskutiert und ich weiß nicht, ob sie diese kennen. Jedoch zeigen diese, dass das Konzept der romantischen Liebe auch in der arabischen Geschichte weit zurückgeht (vgl. Oghia 2015). Auch konnte ich in Narrationen der Protagonist_innen herauslesen, dass viele von ihnen ein Verständnis von Partnerschaft oder Liebe im Sinne von ulfa hatten. So ging es selten um die Liebe auf den ersten Blick oder sexuelles Begehren, sondern vielmehr darum, dass der_die Partner_in Respekt mitbringt, Verantwortung übernimmt, man mit ihm_r Spaß hat, man füreinander sorgt, gut reden kann, sich Freiheiten zustehen lässt et cetera. Auch Oghia kam in seiner Studie zu aktuellen Deutungsweisen von romantischer Liebe bei jungen Menschen im Libanon zu dem Schluss, dass ein zentrales Narrativ der Definition von romantischer Liebe das der Bindung im Sinne eines gemeinsamen Alltags sowie der Bildung einer Gemeinschaft war (vgl. ebd.). Doch bei einigen Protagonist_innen dieser Studie wurde Liebe auch anders gedeutet: Gerade Hafida stellte insbesondere das körperliche Begehren als wichtigstes Kriterium für die Partnerwahl heraus und auch Naima legte zwar auch Wert auf die oben genannten Eigenschaften, jedoch war für sie das Facebook-Foto ihres zukünftigen Ehemannes – und damit zunächst physische Anziehung – ausschlaggebend, dass sie sich dafür entschied ihn zu kontaktieren. Es gibt unterschiedliche Deutungsweisen von ›Liebe‹. Diese Aushandlungen und die Herstellung von Liebe sind jedoch fester Bestandteil der meisten dieser Beziehungen und es handelt sich keineswegs um eine westliche Erfindung: Zum einen gibt es auch in muslimischem Ländern Konzepte von Liebe, die historisch gewachsen sind. Zum anderen zirkulieren diese Ideen und Bilder seit Jahrhunderten und gerade in Zeiten der Digitalisierung weltweit. Auch junge Menschen in Marokko, besonders aus der urbanen Mittelklasse, konsumieren tagtäglich Texte, Musik und Videos aus der ganzen Welt, die auch Bilder von ›roman-
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tischer Liebe‹ transportieren und – auch in Marokko – in Form von Produkten und Waren kommodifizert werden. Auf die Konsumierbarkeit von ›romantischer Liebe‹ vor dem Hintergrund kapitalistischer Gesellschaften hat die Soziologin Eva Illouz ebenfalls hingewiesen (vgl. Illouz 2003). Auch marokkanische Popsänger_innen und Fernsehproduzent_innen greifen diese globalisierten Bilder von romantischer Liebe auf und stellen diese mit her. Mittlerweile sind Samah und Ahmed verheiratet. Eigentlich lebt er in Mainz. Seine Eltern sind aus Marokko, aber er ist in Deutschland geboren. Die Familie hat ein Haus am Meer in der Nähe von Casablanca, wo sie nur im Sommer hin zurückkehren. Er ist 23 Jahre alt, ein Jahr älter als Samah. Er absolviert einen technischen Studiengang und arbeitet nebenbei in einem Burrito-Stand. Im Moment wohnt er noch bei seinen Eltern in Mainz, wo auch Samah erst einmal einziehen wird. Aber er hält bereits nach einer eigenen Wohnung in Frankfurt Ausschau. »Ein Zimmer, Küche, Bad«, beschreibt sie ihre Vorstellung. Sie erkundigt sich auch bei mir, ob man so etwas für 300 Euro in Frankfurt finden könne. Ahmed habe vor kurzem schon etwas Passendes gefunden, aber sie hätten drei Monatsmieten im Voraus verlangt und das könnten sie nicht bezahlen. Samah sagt, dass es ihr wichtig sei, dass sie in eine andere Stadt ziehen. Sie möchte keine Probleme mit den Eltern und fordert von Ahmed, dass er Verantwortung übernimmt, arbeiten geht und Geld verdient, um später auch für ihre Familie sorgen zu können. Ihr sei es ein Anliegen, dass ihre Heirat zu Unabhängigkeit führe. Diese Selbstständigkeit versteht sie vor allem als Ablösung von der Familie und nicht von ihrem Ehemann. Immer wenn ich Samah getroffen habe, war sie sehr gestylt. Als sie mir an einem Samstag das Stadtviertel Maârif in Casablanca zeigt, wo sie am Wochenende immer mit ihren Freundinnen unterwegs ist, hat sie ihre langen, dunkelbraun gefärbten Haare wellig geföhnt, die Augen dunkel geschminkt und viel Make-up im Gesicht. Sie trägt eine braune Strumpfhose mit einem etwas längeren T‑Shirt darüber und »imitierte« – wie sie betont – Stiefel der Marke UGC. Wir gehen an dem Tag zusammen in eine Art Shoppingcenter. Sie will bei jedem Schmuckladen anhalten, weil sie Schmuck liebe, wie sie immer wieder betont. Wenn wir Schuhe oder Handtaschen im Schaufenster anschauen, weiß sie genau, um welche Marke es sich handelt. Als Ahmed sie das letzte Mal in Casablanca besucht hat, waren sie auch zusammen an diesem Ort. Sie hätten zusammen Parfüms von »echten« Marken ausprobiert, erzählt sie. Und am Ende hätten sie alle Düfte mit sich herumgetragen. Sie lacht, als sie die Situation beschreibt. Für sie ist es wichtig einen bestimmten Lebensstandard zu pflegen. Dazu gehört der Konsum von Kleidung, Kosmetik und anderen Schönheitsprodukten, sowie einem Freizeitprogramm wie regelmäßig mit Freundinnen Café trinken zu gehen oder Ausflüge zu machen und zu reisen. Was ihre zukünftige Wohnung angeht, ist sie gleichzeitig bescheiden und es ist ihr wichtiger, dass sie und ihr Mann unabhängig von den Familien werden und auf eigenen Beinen stehen. Samah steht für eine urbane Mittelklasse in Marokko mit den nötigen Ressourcen, sich verwirklichen zu können. Sie wollen Teil der globalisierten Welt sein und hegen deswegen auch bestimmte materialistische Wünsche.
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3.1.5 Mehdi: Europa, die Möglichkeiten des Internets und der Wunsch nach Stabilität »Kennst du das Lied von Louis Ferré: Avec le temps tout s’en va?«, fragt mich Mehdi, als wir an einem Nachmittag im Frühjahr 2014 in einem Café an der Corniche, der Strandpromenade von Casablanca sitzen. Übersetzt heißt der Liedtitel: Mit der Zeit vergeht alles. Mehdi erzählt viel und gerne von der Vergangenheit und betont immer wieder, dass früher alles besser war: das Bildungssystem, die Reisefreiheit, der Idealismus, der Arbeitsmarkt. Er ist Anfang 40. Ein ruhiger, etwas kräftigerer Typ, mit großen Augen. Er trägt meistens eine schwarze Leder-Cappy. Im Deutschkurs im Goethe-Institut saß er immer etwas abseits und beteiligte sich kaum am Unterricht. Wenn Mehdi redet, spricht er sehr langsam und leise in einem perfekten Französisch. Er habe nie im Leben daran gedacht, eines Tages einmal Deutsch zu lernen, erzählt er. Früher hatte er den Traum nach Europa zu gehen. Mit 17. 1990 hatte er sich eine internationale Jugendkarte machen lassen und sich ein Interrailticket gekauft. Aber seine Familie wollte ihn nicht gehen lassen und hatte ihn gebeten, erst Abitur zu machen und zu studieren. Also ist er geblieben, hat die Schule abgeschlossen und sich anschließend in der Universität eingeschrieben. Allerdings sei er immer abwesend gewesen. Sein Bruder hatte ihn dazu ermutigt, seinen Abschluss zu machen und nicht nach Europa zu gehen. »Ohne Abschluss bist du eine Person zweiter Klasse«, sagte er zu ihm. Mittlerweile habe sein Bruder seine Meinung geändert bezüglich Europa, weil sich ihr Land so stark verändert habe. Zu dieser Zeit hätten die Jugendlichen noch nicht den Wunsch gehabt, nach Europa zu gehen. Aber dann Mitte der 1990er Jahre habe das angefangen, da der Unterschied zwischen den Lebensstandards in Europa und in Marokko immer mehr auseinandergingen. Die jungen Leute hätten gesehen, dass die Menschen in Europa viel mehr Vorteile hatten als sie. 1990, als er reisen wollte, sei es noch einfach gewesen ein Visum zu bekommen. Ein paar Jahre später konnte man nicht mehr so einfach die staatlichen Grenzen überqueren. Auch das Bildungssystem in Marokko und der Arbeitsmarkt seien immer schlechter geworden, erzählt Mehdi. In Europa habe man mehr Rechte und auch mehr Absicherung für die Gesundheit. Heute denkt Mehdi, dass es vielleicht besser war, dass er damals nicht nach Europa gereist ist. Vielleicht wäre er auf die schiefe Bahn geraten, sagt er. Die sich verändernde Situation in den 1990er Jahren, die Mehdi beschreibt und die Sichtweise auf seine Biographie prägt, rührt von zwei parallel laufenden Entwicklungen: zum einen die zunehmende Neoliberalisierung und Prekarisierung in Marokko und zum anderen die Etablierung des Schengenraums, die mit einer Liberalisierung der Bewegungsfreiheit innerhalb der europäischen Außengrenzen einherging sowie mit einer Schließung derer nach außen. Obwohl die Liberalisierung der Märkte und die damit einhergehenden Freihandelsabkommen mit Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bis heute zu einem enormen Wirtschaftswachstum führten, blieb die marokkanische Wirtschaft fragil und abhängig von Konjunkturen auf dem globalen Weltmarkt, vor allem auch von ausländischen Investoren (vgl. Miller 2013: 231). Die damit einhergehende ökonomische sowie soziale Polarisierung der marokkanischen
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Gesellschaft setzt Mehdi immer ins Verhältnis mit den Lebensstandards in Europa, die er für besser befindet und die es bis zur Finanzkrise 2008 im Schnitt auch waren und in mitteleuropäischen Ländern wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland oder auch den skandinavischen Ländern nach wie vor sind. Es muss kurz nachdem Mehdi sich gegen seine Reise nach Europa entschieden hat gewesen sein, als auch Italien und Spanien 1990 und 1991 Visa für marokkanische Staatsangehörige einführten (vgl. de Haas 2009). 1995 probierte Mehdi erneut nach Europa zu reisen, dieses Mal auf irregulärem Wege. Der Bruder seiner Adoptiv-Schwester lebte zu der Zeit in Italien und hatte viele Marokkaner_innen nach Italien geholt, indem er Aufenthaltsgenehmigungen fälschte. Normalerweise hätte das um die 6000 Euro gekostet, aber von Mehdi verlangte er kein Geld. Der Plan war, dass er über Tunesien nach Libyen reist und dann das Schiff von Tripolis nach Tanger nimmt, damit er einen Einreisestempel bekommt und so beweisen kann, dass er die Grenze schon einmal überquert hatte. Dann hätte es so ausgesehen, als ob er bereits in Italien gewesen wäre. Zuvor hat er seinen Pass noch erneuern lassen, sodass er keinen Stempel mehr darin hatte. Als er jedoch in Tunis war, hatte er vom Tod seines Vaters erfahren, alles abgeblasen und ist zurückgekehrt. Sein Vater war für ihn eine sehr wichtige Person und er erzählt viel von ihrer gemeinsamen Zeit. Er war ausgebildeter Frisör und hat später als Händler gearbeitet und Fisch in ihrer Garage verkauft. Mehdi hat insgesamt vier Brüder und eine Schwester, er ist der Jüngste. Vier davon sind schon verheiratet und leben teilweise im Ausland. Im Moment wohnt er noch mit seiner Mutter und einem seiner Brüder zusammen in Sabata, einem quartier populaire – eine Art Arbeiterviertel – in Casablanca. Ihm fällt es schwer seine Mutter zurückzulassen, weil sie sehr krank ist. Sie hatte vor einigen Jahren einen Schlaganfall und kann seitdem nicht mehr sprechen. Am Anfang war sie auch gelähmt, aber das Körpergefühl sei wiedergekommen. Seine Mutter sei eine fleißige Frau gewesen, erzählt er. Sie hat ihr ganzes Leben als Schneiderin gearbeitet, fünf Jungen und ein Mädchen großgezogen und hat sich immer um alles gekümmert. Jetzt könne sie nichts mehr machen. Man könne nur noch mit ihr kommunizieren, wenn man sie kenne und ihr Zeit gebe. Als seine Frau aus Deutschland da war, sei sie mit ihr spazieren gegangen und sie hätten sich sehr gut verstanden. Mehdis Biographie ist geprägt durch die Veränderungen der Beziehungen zwischen Marokko und Europa. Die Einführung der Visumspflicht war aus seiner Perspektive auch der Beginn einer Verschlechterung der Lebensverhältnisse in Marokko und der Entfernung der Lebensstandards auf den jeweiligen Seiten der Straße von Gibraltar. Dieser Wandel seines Umfelds, den er als Verschlechterung, als Abstieg wahrnimmt, war für Mehdi begleitet durch Schicksalsschläge in seiner Familie. Seine Frau hat er durch sein Hobby kennengelernt: Onlinespiele. Mehdi verbringt Tage und Nächte vor dem Computer und spielt mit Menschen aus der ganzen Welt. 2010 hat er gegen sie auf Gametwister.com Rommé gespielt: Eins gegen eins. Normalerweise sehe man nur die Flagge, also das Herkunftsland, sowie das Pseudonym, erklärt er mir. Manchmal kommuniziere man auch gar nicht und spiele nur. Doch mit
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ihr habe er irgendwann angefangen zu chatten, weil es Unstimmigkeiten zwischen den offiziellen Regeln und der Programmierung des Onlinespiels gab. Irgendwann haben sie auch über persönliche Dinge gesprochen, haben zu MSN Messenger gewechselt, sich öfter unterhalten und auch Fotos geschickt. Sie war damals 32 und hatte eine 12‑jährige Tochter aus ihrer letzten Ehe. Zwei Jahre später kam sie dann das erste Mal nach Marokko und sie beschlossen zu heiraten. Sie hätten ganz klein gefeiert. Die Digitalisierung und die Nutzung von Kommunikationstechnologien im Alltag haben in den letzten zwei Jahrzehnten drastisch zugenommen. Der Soziologe John Urry sieht das Schlüsselmoment dieser Entwicklung in den Jahren 1989/90 (vgl. Urry 2007). Während vor den 1990er Jahren Briefe, Postkarten, oder teure Ferntelefonate die einzigen Möglichkeiten waren, um über größere Distanzen hinweg zu kommunizieren, haben die Erfindung des Internets sowie die Einführung des ersten Mobiltelefons zu einem extremen Wandel in der weltweiten Kommunikation und der Wahrnehmung von Nähe und Distanz geführt (vgl. ebd.: 161). Diese zunehmende Digitalisierung und Herstellung weltweiter virtueller Nähe durch Kommunikationstechnologien prägt auch den Alltag in Marokko und ging zeitgleich einher mit einer zunehmenden Versicherheitlichung der Grenzen sowie der verstärkten Kontrolle der Einreise aus ›Drittstaaten‹ (vgl. Gutekunst 2016), wie auch Mehdi an seinem eigenen Leben aufzeigt. Es handelt sich um zwei simultane Prozesse: Einerseits ist es seit der Erfindung des Internets und der Verbreitung des Mobiltelefons nie einfacher gewesen Menschen aus der ganzen Welt kennenzulernen und zu treffen. Digitale Technologien wie Dating-Seiten, soziale Netzwerke und andere Plattformen, die anbieten in Kontakt mit anderen Menschen zu treten und virtuell auf Reisen zu gehen, lassen die Welt grenzenlos erscheinen. Andererseits gibt es eine Entwicklung hin zu einem strengen Migrationsmanagement, in dem bestimmten Bevölkerungsgruppen die Einreise erschwert bis hin zu verweigert wird. Diese Gleichzeitigkeit hat auch Effekte auf die Praxis der Migration durch Heirat. Auf den ersten Blick scheint es sich hier um gegensätzliche Entwicklungen zu handeln: eine grenzenlose virtuelle Mobilität und gleichzeitig physische Immobilisierung. Das Beispiel von Mehdi und auch anderen Protagonist_innen dieser Studie zeigen jedoch, dass diese Im/mobilitäten sich gegenseitig bedingen und dass die virtuelle Mobilität die Bedeutung von Migration durch Heirat als Migrationsstrategie für Menschen in Marokko erhöht, um physische Immobilisierung innerhalb des Grenzregimes zu überwinden. Viele junge Menschen in Marokko haben aufgrund ihrer prekären Situation die Idee das Land zu verlassen, und nach Europa oder an einen anderen Ort zu migrieren. Diese Einstellung sei ein fester Bestandteil der Jugendkultur in Marokko, so die Ethnologin Ines Braune (2008: 222). Das Internet spielt eine wichtige Rolle in der Umsetzung dieser Migrationsprojekte. Es bietet nicht nur die Möglichkeit sich über Politik und das Leben anderswo zu informieren und virtuell zu reisen, es ermöglicht eben auch eine Partnersuche außerhalb der eigenen Landesgrenzen ohne selbst physisch mobil zu werden. Viele der Paare, die ich im Rahmen meiner Forschung getroffen habe, haben sich wie Mehdi im Netz kennengelernt: Dabei gibt es sehr unterschiedliche virtuelle Räume, um in Kontakt zu treten. Asija und Anes, die ich zu Beginn
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dieses Buches vorgestellt habe, haben sich auf Muslima.com kennengelernt, einer muslimischen Dating-Webseite mit dem Slogan: »Find your Muslim life partner!« Asija begründete ihre Suche nach einem Partner im Netz mit dem Argument, dass sie niemand sei, die gerne ausgehe und dass sie zuhause Internet habe und viel Zeit. Skout dagegen, wo Khalid unterwegs ist, hat einen breiteren Fokus: »From friendships to romance« steht in der offiziellen Beschreibung der App.20 Mehdis Hobby dagegen sind Onlinegames. Andere der Interviewpartner_innen haben sich auf Facebook oder klassischen Dating-Webseiten wie Jappy.de oder Badoo.com getroffen. In den letzten 20 Jahren ist das Internet ein wichtiger Raum für Marokkos Jugend geworden, um mit Menschen in der ganzen Welt in Kontakt zu treten, wie Braune in ihrem Buch »Aneignung des Globalen« (2008) aufzeigt. Im Fall der Protagonist_innen dieser Studie eröffnet der virtuelle Raum nicht nur die Möglichkeit ein_e potentielle_n Partner_in zu treffen, sondern auch Menschen mit einer anderen Staatsbürgerschaft, die in anderen Gegenden der Welt wohnen, zu denen die Mehrheit von Marokkos Jugend aufgrund von Migrationsregimes keinen Zugang hat (vgl. Bayo 2016). Braune betont ebenfalls, dass es im Cyberspace eben keine Visabestimmungen gebe (vgl. Braune 2008: 225). Die aktive oder auch passive Partnersuche in der virtuellen Welt von Dating-Seiten und sozialen Netzwerken wird auch zu einer Migrationsstrategie. Die Anthropologen Daniel Miller und Don Slater kommen in ihrer Studie zu Effekten und der Nutzung des Internets in Trinidad Tobago ebenfalls zu dem Schluss: »Since already many Trinidadians know of others who have found partners this way, the Internet has quickly become a specific option for those in search for love, with the additional implication of leaving for another country through marriage.« (Miller/Slater 2001: 69) Das langfristige Ziel ist für alle Paare physische Mobilität, also gemeinsam in Deutschland zu leben. Vor den 1990er Jahren wäre eine solche Fernbeziehung sehr viel schwieriger gewesen, zumindest die Kommunikation über die Distanz hinweg. Gleichzeitig war das Reisen sehr viel einfacher. Im Kontext von Migration durch Heirat führt die Digitalisierung und die damit einhergehende Partnersuche im Netz jedoch zu einer verstärkten Handlungsmacht der Menschen, die migrieren wollen (vgl. Gutekunst 2016). Mehdis Frau arbeitet im Bereich Security bei einer Firma, die Autoteile herstellt. Er hofft, dass er in Deutschland auch als Security-Mann arbeiten kann, wenn er noch eine kleine Ausbildung macht. Er hat in Marokko bereits in diesem Bereich gearbeitet, erst im Institut français, dann in einem Labor. Bei letzterem hat er nur Nachtschichten gemacht, irgendwann ging das auf seine Gesundheit und er musste kündigen. Zu dem Zeitpunkt, als ich Mehdi kennenlerne, hat er bereits seit über einem Jahr keine Arbeit mehr. Alle seine Bewerbungen waren erfolglos. Die Arbeit in Marokko sei sehr schlecht bezahlt, betont er. Während man in Deutschland zehn Euro pro Stunde bekomme, zahlten sie in Marokko nur den Mindestlohn von 2000 Dirhams im Monat oder noch weniger. Er verfällt in diesem Moment wieder in Melancholie und trauert
20 http://www.skout.com/, 24. April 2018.
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den alten Zeiten nach, als das Abitur noch etwas wert gewesen sei und man noch Arbeit gefunden hätte. Die Begegnung mit seiner Frau bedeutet für Mehdi nicht nur, das Land verlassen und in Europa, wo er schon so oft hinwollte, ein neues Leben zu beginnen und Arbeit zu finden, sondern auch überhaupt heiraten und eine eigene Familie im Alter von 40 Jahren gründen zu können. Die Gleichzeitigkeit der Wirkmächtigkeit gesellschaftlicher Ideale von Ehe und Familie, die mit traditionellen Geschlechterrollen einhergehen, und die zunehmende Prekarisierung, führen zu einem Anstieg des Heiratsalters. Während in den 1960er Jahren das Heiratsalter bei Männern im Schnitt noch bei 24 Jahren und bei Frauen bei 17 Jahren lag, stieg es bis 1999 auf 31 beziehungsweise 27 Jahre an (vgl. Cheikh 2009: 175 f.). Dieser Anstieg ist auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen. Sowohl Männer als auch Frauen berichteten mir von den Schwierigkeiten bis hin zur Unmöglichkeit in der heutigen Zeit in Marokko zu heiraten. Hält ein Mann um die Hand einer Frau an, ist es in bestimmten Milieus gesellschaftlich nicht anerkannt, wenn der Antragsteller noch kein festes Gehalt und ausreichend Ressourcen hat, um für die Frau und Familie zu sorgen. Mériam Cheikh macht als dominante Ideologie der Geschlechterverhältnisse in Marokko die Erwartung an die Rolle des Mannes aus, der die Frau versorgt (vgl. ebd.: 174). So hatten auch andere meiner Interviewpartner wie Rachid, den ich zu Beginn dieses Kapitels porträtiert habe, die feste Vorstellung, dass er als Mann »die Frau auf dem Rücken tragen« und für sie sorgen müsse. Die ökonomische Situation zwingt Paare und Familien, die in Marokko leben, jedoch wiederum, hierarchische Geschlechterverhältnisse und damit einhergehendes normatives Geschlechterwissen neu zu verhandeln. Auch durch den Zugang zu Bildung verzögert sich der Eintritt in die Lohnarbeit, der für die Männer die Bedingung ist, um überhaupt heiraten und Familie gründen zu können. Mehdi hat genug von der Stadt. »Ich suche die Ruhe«, sagt er. Deswegen freue er sich auch auf Deutschland. Seine Frau wohnt in einem Dorf in der Nähe von Köln. Dort gebe es viel Wald und schöne Seen. »Ich suche den Frieden.« Mehdi hat viele Enttäuschungen in der Vergangenheit erlebt. Er hat wichtige Menschen verloren, ist frustriert, weil er keine Arbeit findet und er beobachtet, wie sich die Situation in seinem Land eher verschlechtert als verbessert. Obwohl er Abitur hat, fließend Französisch spricht und ein umfangreiches Wissen über Geschichte, Politik und Kultur hat, war er immer nur befristet und prekär beschäftigt. Seine Frau gibt ihm Hoffnung, das »Chaos« in seinem Leben hinter sich zu lassen und ein ruhiges, stabiles Leben führen zu können.
3.1.6 Migration durch Heirat als widerständige Strategie? Die Porträts einiger Protagonist_innen dieser Studie zeigen, dass hinter den individuellen Beweg/gründen unterschiedlichste und komplexe Biographien und Subjektivitäten stehen, die das Produkt lokaler Verhältnisse sowie neoliberaler Globalisierungssprozesse sind. Die Lebenssituationen aller Protagonist_innen – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – sind durch eine zunehmende Prekarisierung im Sinne
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von Niedriglöhnen, Arbeitslosigkeit, fehlender sozialer Absicherung sowie physischer Immobilisierung in Richtung Globaler Norden geprägt. Dass für Kapital, Waren und Dienstleistungen einerseits Grenzen geöffnet werden, während »andererseits die Grenzregime um die Wohlstandsburgen herum gegen unerwünschte Menschenbewegungen hochgerüstet« werden, bezeichnen Hess und Lenz als ein »wesentliches Strukturmerkmal neoliberaler Globalisierungen« (Hess/Lenz 2001b: 15). Der Status als Ehefrau beziehungsweise Ehemann ist nach wie vor gesellschaftlich anerkannt und von den meisten der Protagonist_innen dieser Studie ein wichtiges Lebensziel. Für Frauen in Marokko kann allein die Heirat in diesem Kontext zu sozialem Aufstieg führen und als widerständige Strategie gegenüber ihren Lebensverhältnissen gedeutet werden, wie an den Beispielen von Hafida und Badria deutlich wurde. Für sie bedeutet eine Ehe soziale Absicherung sowie Selbstständigkeit entweder im Sinne der Ablösung von der Familie oder auch – im Fall von Hafida – von ihrer Tätigkeit im Bereich der Sexarbeit. Oft ist eine Heirat jedoch nicht möglich, sei es aufgrund der Stigmatisierung von Frauen aufgrund ihrer Sexualität oder einer vorangegangen Scheidung oder für Männer, weil sie gesellschaftliche Vorstellungen von Männlichkeit, besonders auf einer materiellen Ebene, nicht erfüllen können. Vor diesem Hintergrund ist es auch die transnationale Partnersuche, die Heirat überhaupt erst möglich macht. Heirat wird quasi durch Migration möglich. Jedoch bringt die Heirat wiederum vergeschlechtlichte Abhängigkeiten gegenüber dem_der Partner_in mit sich, die durch die innerhalb des Grenzregimes produzierte Ungleichheit entlang von Staatsbürgerschaft sogar noch einmal verstärkt wird. Es ist diese Gleichzeitigkeit von Abhängigkeit und Freiheit, von Mobilität und Immobilität, von Veränderung und Stabilisierung sowohl von Klassen- als auch Geschlechterverhältnissen, die die Praxis der Migration durch Heirat mit sich bringt. Obwohl einige der Protagonist_innen mit ihrer_m Partner_in gerne in Marokko leben würden, um in der Nähe ihrer Familie zu sein oder auch einfach, weil sie sich ›zuhause‹ fühlen, ist es für sie keine Option, da es ihre ökonomische Situation nicht zulässt und die Migration nach Deutschland einen besseren Lebensstandard ermöglicht. Die Migration durch Heirat wird hier zu einer widerständigen Strategie, um die eigene Lebenssituation zu verbessern, sei es durch besseren Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt sowie soziale Absicherung in Deutschland, aber auch Bewegungsfreiheit durch ein Schengenvisum. Die Verbindung von Heirats- und Migrationsprojekt ermöglicht außerdem für einige die Verwirklichung des Wunsches eine Familie zu gründen, was sich in Marokko viele nur unter sehr prekären Umständen leisten können. Aus feministischer Perspektive stellt sich die Frage, ob der Widerstand gegen eine normative Ordnung wie die des Grenzregimes durch die Aneignung einer anderen normativen Ordnung wie derjenigen der Institution Ehe als widerständig interpretiert werden kann. Folgt man queerfeministischen Debatten stellt die Interpretation von Heirat als Widerstand – handelt es sich nicht um eine ›Schein-‹ oder ›Schutzehe‹ als subversiver Akt (vgl. Castro Varela 1999: 36) – zunächst einen Widerspruch dar. Piper und Roces halten die radikale westlich-feministische Kritik an der Institution
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Ehe, die Frauen rechtlich als auch sozio-ökonomisch benachteiligt, jedoch für ethnozentrisch (vgl. Piper/Roces 2003: 10 f.). Zwar stimmen sie zu, dass die Institution Ehe Geschlechterungleichheiten zum Beispiel aufgrund von Unterschieden in der Bezahlung sowie im Zugang zum Arbeitsmarkt sowie die finanzielle Abhängigkeit von Frauen gegenüber ihren Ehemännern verstärke, jedoch würde dabei von monoethnischen Eheschließungen ausgegangen werden. Diese Art von Kritik könne nur von gebildeten westlichen Mittelklasse-Feministinnen kommen, so Piper und Roces: »The picture of the disadvantaged, exploited wife might look rather different in the context of certain international marriages. Foreign wives can benefit from international marriages in a way in which same-nationality wives do not. This is to a large extent related to the socioeconomic situation in these women’s countries of origin, which is often at the root of the decision to migrate abroad. It is hardly ever outright poverty that makes these women opt for labor and/or marriage migration, but more often deadlock work experience or the stigma of being separated or divorced from a previous husband.« (Piper/Roces 2003: 11)
Sie fordern im Kontext von Eheschließungen in einem transnationalen Kontext weiter zu denken und auch andere Perspektiven mit einzubeziehen (ebd.). Die Anthropologin Saba Mahmood hat darauf aufmerksam gemacht, dass Handlungsmacht nicht nur bedeutet, mit Normen zu brechen, um zu Handeln, sondern auch sich Normen anzueignen, um zu Handeln: »In this sense, agentival capacity is entailed not only in those acts that resist norms but also in the multiple ways in which one inhabits norms.« (Mahmood 2005: 15) Positive als auch negative Konzepte von Freiheit bildeten schon immer ein konstitutives Element feministischer Praxis und Debatten. Mahmood nennt als Beispiel die 1970er Jahre, als weiße Mittelschicht-Feministinnen forderten, die Institution der Kleinfamilie aufzulösen, da diese die Quelle der Unterdrückung der Frauen darstelle. In Reaktion darauf argumentierten afro-amerikanische Feministinnen wie Angela Davis (1983) oder Audre Lorde (1984) für die Freiheit Familien gründen zu dürfen, was ihnen durch die lange Geschichte von Versklavung, Genoziden und Rassismus und die damit einhergehende Zerschlagung ihrer Gemeinschaften und sozialen Netzwerke verweigert wurde. Diese Debatten erweiterten feministische Interpretationen von Selbstverwirklichung erfolgreich, indem andere Differenzkategorien wie Klasse und Ethnizität in die Überlegungen zu individueller Autonomie miteinbezogen wurden (vgl. Mahmood 2005: 13): »If we recognize that the desire for freedom from, or subversion of, norms is not an innate desire that motivates all beings at all times, but is also profoundly mediated by cultural and historical conditions, then the question arises: how do we analyze operations of power that construct different kinds of bodies, knowledge, and subjectivities whose trajectories do not follow the entelechy of liberatory politics?« (Ebd.: 14)
Wenn man die Fähigkeit Veränderung sowohl in der Welt als auch im Subjekt als selbst historisch und kulturell spezifisch verstehe, könne die Bedeutung und das Kon-
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zept von Handlungsmacht nicht von vorneherein festgelegt werden, »but must emerge through an analysis of the particular concepts that enable specific modes of being, responsibility and effectivity« (Mahmood 2005: 14). Die vorausgegangenen Porträts sowie die Kontextualisierung der Situationen, Erfahrungen und Sichtweisen in gesellschaftliche Verhältnisse stellen einen Versuch dar, auch Handlungsmacht im Kontext der Protagonist_innen dieser Studie neu zu denken und mit westlichen, weißen Diskursen um junge Menschen – und gerade Frauen – aus muslimischen Ländern zu brechen. Vor dem Hintergrund der »Gefahr der Romantisierung von Widerstand« (Abu-Lughod 1990) ist es jedoch wichtig, die mit diesen widerständigen Praktiken gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen einhergehenden De- und Restabilisierungsprozesse von Machtverhältnissen mitzudenken. Der Begriff des Widerstands ist ein beliebtes Konzept sowohl in der Völkerkunde/Ethnologie (vgl. ebd.) als auch in der Volkskunde_Europäischen Ethnologie (vgl. Stadlbauer 2014; Warneken 2006). Abu-Lughod versteht das Konzept als eine analytische Brille oder, in Anlehnung an Foucaults Machtverständnis, als eine Diagnose von Macht (vgl. Abu-Lughod 1990: 42): »With the shift in perspective I am advocating, asking not about the status of resistance itself but about what the forms of resistance indicate about the forms of power that they are up against, we are onto new ground. […] [W]e can begin to ask what can be learned about power if we take for granted that resistances, of whatever form, signal sites of struggle.« (Ebd.: 47)
In Europa wird die Heirat zwischen Personen aus einem muslimischen und einem europäischen Land im hegemonialen Diskurs zumeist als Befreiung aus traditionellen Strukturen beschrieben. Tatsächlich bedeutet die transnationale Heirat für einige – nicht für alle – das Ausbrechen zum Beispiel aus der Kontrolle durch die Familie – wie im Fall von Badria – oder der marokkanischen Gesetzgebung, die Geschlechterungleichheit festschreibt, wie ich im nächsten Kapitel weiter ausführen werde. Jedoch sind die Heirat und damit einhergehende Ideale wie traditionelle Geschlechterrollen auch oft ihre eigene Überzeugung. Das Begehren nach einem besseren Leben und der damit einhergehende Wunsch nach Migration widerspricht dabei keinesfalls der Aufrechterhaltung des eigenen muslimischen Glaubens oder/und traditionellen Vorstellungen von Ehe und Familie, die auch normative Geschlechterverhältnisse und ‑rollen reproduzieren. Vielmehr werden diese gesellschaftlichen Ideale und Traditionen sich im Migrationsprozess angeeignet, aber auch angepasst, umgedeutet und modifiziert. Mit der Umsetzung der Heirats- und Migrationsprojekte werden traditionelle Geschlechterrollen und ‑bilder sowohl aufgegriffen und verfestigt, aber gleichzeitig auch herausgefordert, aufgebrochen und neu verhandelt. Davon sind sowohl Männer als auch Frauen betroffen. Für viele Männer führt die Migration durch Heirat dazu, dass sie hegemoniale Männlichkeit im Sinne des Versorgers und des ›Stärkeren‹ nicht mehr erfüllen können. Auch bei den Frauen ergeben sich neue Möglichkeiten im Zugang zu Lohnarbeit sowie Bildung. Doch gerade für Frauen kann die transnationale Heirat durch die Positionierung innerhalb des Grenzregimes und die damit einherge-
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henden Rechte beziehungsweise Entrechtungen die Abhängigkeiten und Hierarchien zu ihrem europäischen Partner auch wiederum verstärken. So kommt es durch die Praxis der Migration durch Heirat zu widersprüchlichen Effekten der De- und Restabilisierung hierarchischer Geschlechterverhältnisse. Ein Phänomen, dass auch Hess und Lenz vor dem Hintergrund von Globalisierungsprozessen und damit einhergehender neoliberaler Umstrukturierungen beobachten (vgl. Hess/Lenz 2001b). Die Anthropologin Ruba Salih weist darauf hin, dass die Handlungen und Erfahrungen marokkanischer Frauen, die migrieren, eben auch reifizierte Dichotomien wie modern versus traditionell oder angepasst versus widerständig, die oft mit dem binären Gegensatz zwischen nördlich und südlich des Mittelmeers gleichgesetzt werden, herausfordern (vgl. Salih 2000: 77). Normative Vorstellungen von Geschlechterrollen, Liebe, Ehe und Familie sind immer auch ins Verhältnis zu Globalisierungsprozessen sowie kapitalistischen Produktionsverhältnissen zu setzen und nie allein auf lokale Kontexte zurückzuführen. Ideen, Konzepte und Bilder zirkulieren weltweit und werden in dynamischen Kräfteverhältnissen transnational ausgehandelt (vgl. Appadurai 1996), so auch Vorstellungen von ›romantischer Liebe‹, einer ›guten‹ Heirat oder der ›Kleinfamilie‹. Die Protagonist_innen sind Teil einer globalen Gesellschaft, die nach Konsum strebt und deren Alltag zunehmend digitalisiert ist. Sie verhalten sich durch die Praxis des transnationalen Heiratens nicht nur gegenüber sozio-ökonomischen Verhältnissen sowie der physischen Immobilisierung innerhalb des Grenzregimes widerständig, sondern auch immer wieder gegenüber hierarchischen Geschlechterverhältnissen und traditionellen Geschlechterrollen. Diese werden jedoch in staatlichen Regulierungsprozessen – sowohl durch marokkanische Behörden als auch Akteure des europäischen Grenzregimes – wiederum festgeschrieben und restabilisiert, wie ich im Folgenden aufzeigen werde.
3.2 D ie staatliche R egulierung der I nstitution E he in M arokko Es ist viel los an diesem Morgen im Familiengericht von Rabat-Salé: Die meisten Türen der Räume stehen offen und es warten Menschen davor. Die Zuständigkeiten reichen von Eheschließung über Adoption bis hin zu Erbrecht. Das Familiengericht ist in Marokko einer der Orte, wo die Moudawana, das marokkanische Familienrecht umgesetzt wird. Auch der Gerichtssaal ist heute für alle zugänglich und die Sitzreihen sind voll besetzt. Es findet gerade eine Scheidung statt. Wenn es bei einem Prozess zu Problemen käme, werde nach marokkanischem Recht die Verhandlung öffentlich gemacht, erklärt mir Naima im Vorbeigehen. Immer wieder begrüßt sie jemanden. Sie kennt viele der Mitarbeiter_innen aus der Zeit, als sie noch als Sekretärin für einen Anwalt gearbeitet hat. Ihre Vertrautheit mit dem Ort zeigt sich auch daran, dass sie – in schwarzer Hose, Bluse und Chucks an den Füßen, die ebenfalls schwarz gefärbten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden – sehr zielstrebig und schnell durch das Gebäude läuft.
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Heute ist sie in eigener Sache zum Familiengericht gekommen. Wir stehen vor einem Zimmer, wo neben der Tür ein Schild mit der Aufschrift »couples mixtes«21 angebracht ist. Davor stehen zwei – vermutlich – Paare, jeweils ein Mann und eine Frau, und warten. Im Büro sitzen drei Frauen an großen Schreibtischen mit Stapeln von Akten. Sie sind für die Dossiers marokkanischer Staatsangehöriger zuständig, die mit einer Person mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit eine Ehe eingehen möchten. Bei ihnen laufen alle Dokumente zusammen, die notwendig sind, um als binationales Paar in Marokko heiraten zu können. Auch Naimas Anliegen ist es, die Hochzeit mit Moritz, ihrem Freund aus Deutschland, den sie über Facebook kennengelernt hat, in die Wege zu leiten. Sie ist aufgeregt, weil sie an so viel denken muss, und sie hat Angst, dass sie etwas falsch machen oder vergessen könnte. Dass sie so viele Kontakte im Gericht hat, kommt ihr dennoch zugute. Der Begegnung mit dem europäischen Grenzregime im Rahmen des Verfahrens des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ ist das Durchlaufen eines anderen Rechtssystems vorgelagert, dem marokkanischen Heiratsrecht, sowie der Besuch von Behörden in Marokko. Dadurch, dass der oder die marokkanische Partner_in zunächst nicht nach Deutschland einreisen kann, sind die Paare gezwungen unter marokkanischem Recht zu heiraten, um anschließend mit dem Vorlegen der Heiratsurkunde und weiteren Dokumenten ein Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ zu beantragen. Doch der marokkanische Staat hat ein Interesse daran, diese Eheschließungen mit ›Ausländer_innen‹ zu kontrollieren und zu regulieren. Die Eheschließung ist – wie auch in anderen Staaten weltweit – mit einem bürokratischen System verbunden, dass die Paare verpflichtet, unterschiedliche Kontrollinstanzen zu durchlaufen und dabei verschiedene Dokumente vorzuweisen, bevor sie heiraten können. Um von einem sogenannten adul – einem islamischen Rechtsgelehrten, der für die Eheschließung in Marokko zuständig ist – verheiratet zu werden, muss eine Erlaubnis des Generalstaatsanwalts des Königs – dem Procureur du Roi – vorgelegt werden. Diese Genehmigung händigt das Familiengericht aus, allerdings müssen dort zuvor unterschiedliche Dokumente eingereicht – wie Meldebescheinigungen, Ehefähigkeitszeugnisse, Führungszeugnisse sowie Geburtsurkunden – und zwei Befragungen durchlaufen werden und zwar auf dem Kommissariat sowie im cour d’appel22 . All dies ist notwendig, um schließlich vom adul eine Heiratsurkunde ausgehändigt zu bekommen. Ich werde im Folgenden die bürokratischen und rechtlichen Hürden darstellen, die für Paare im Fall einer binationalen Eheschließung entstehen, und aufzeigen, wie diese Gesetze und Regularien im Alltag marokkanischer Behörden umgesetzt werden. Außerdem werde ich durch die Geschichte von Naima verdeutlichen, zu welchen situativen Aus21 Ins Deutsche übersetzt heißt »couples mixtes« »gemischte Paare«. Diese Bezeichnung ist aufgrund der Bedeutung während des Nationalsozialismus und im Kontext von Rassenlehre nicht mehr üblich, da dadurch die Vorstellung reproduziert wird, hier »vermischten« sich zwei unterschiedliche Herkünfte. Man spricht heutzutage vielmehr von »binationalen Paaren«, um auf die unterschiedlichen Staatsbürgerschaften hinzuweisen. 22 Vergleichbar mit dem deutschen Oberlandesgericht.
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handlungen und Konflikten es hier kommt und wie Gesetze und Recht gedeutet und verhandelt werden.
3.2.1 Alles halal? Die Rolle der Religion im Heiratsrecht Eine der Bedingungen, um unter marokkanischem Recht heiraten zu können, ist, dass der Ehemann muslimisch und die Ehefrau, wenn nicht dem Islam, zumindest einer der Schriftreligionen zugehörig ist. Dieses Kriterium ist in Artikel 39/4 der Moudawana, dem marokkanischen Familienrecht, geregelt (vgl. Ministère de la Justice 2010). Dass hier zwischen den Geschlechtern ein Unterschied gemacht wird, ist darauf zurückzuführen, dass der Mann auch in Marokko in der Geschichte hierarchisch höher gestellt wurde als die Frau und davon ausgegangen wurde, dass dieser als Familienoberhaupt Religion und Identität an die Kinder weitergibt und damit erhält (vgl. Dialmy 2009: 13).23 Die Ideologie der Unterwerfung der Frau und die damit einhergehende Ungleichheit der Geschlechter werden im Kontext der marokkanischen Gesetzgebung religiös begründet. In Marokko herrschten – wie auch in Europa – bereits vor der Herrschaft der französischen und spanischen Kolonialmächte patriarchale Verhältnisse. Fatima Mernissi betont in ihren Arbeiten immer wieder, dass Patriarchat ein Querschnittsthema aller Gesellschaften sei, auch der westlichen Länder. Patriarchale Strukturen und Geschlechterungleichheiten seien sowohl in der Geschichte des Christentums als auch in der des Islams verankert (vgl. Mernissi 1987: 8).24 Bei diesen religiös begründeten und Frauen benachteiligenden Geschlechterbildern handele es sich jedoch ihrer Meinung nach um eine Interpretationsweise des Islam, die in Marokko über die Jahrhunderte die Gesellschaft prägte. So wurde die Literatur, in der diese Interpretationen niedergeschrieben wurden, auch ausschließlich von Männern verfasst. Vor dem Hintergrund der Situiertheit dieses Wissens seien Geschlechterun23 Auch die Vergabe der marokkanischen Staatsangehörigkeit folgt dieser vergeschlechtlichten Logik. Im Code de la nationalité von 1958 war es ausschließlich Männern vorbehalten, die marokkanische Staatsangehörigkeit an ihre Kinder weiterzugeben, während Frauen, wenn sie ein Kind mit einem nicht-marokkanischen Mann hatten, ihre Staatsangehörigkeit nicht weitergeben konnten, selbst wenn sie auf marokkanischem Territorium lebte. 2007 wurde diese Regelung geändert und nun ist es nach Artikel 6 des Code de la nationalité auch Frauen möglich, ihre marokkanische Staatsangehörigkeit an ihre Kinder weiterzugeben, allerdings nur unter der Bedingung, dass der Vater muslimischen Glaubens ist. Für Ehepartner_innen marokkanischer Staatsangehöriger ist es nach Artikel 10 des Code de la nationalité nur Frauen gestattet nach fünfjährigem Aufenthalt in Marokko die Staatsangehörigkeit ihres Mannes anzunehmen; nicht-marokkanische Männer haben keine Möglichkeit die Staatsangehörigkeit zu erwerben. 24 In ihrem Buch »Beyond the veil« zeigt sie auf, wie sowohl die Sexualitäts-Theorien von Freud als auch des Imam Ghazali zu ähnlichen Ergebnissen kämen, nämlich dass Frauen die soziale Ordnung (auf Arabisch fitna) störten, wobei ersterer mit der Passivität und letzterer mit der Aktivität weiblicher Sexualität argumentiere (vgl. Mernissi 1987: 44).
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gleichheit produzierende Theorien immer als Spiegel der Werte und Normen einer Gesellschaft und nicht als objektive und ahistorische Theorien zu sehen (vgl. ebd.: 35). Die Religionswissenschaftlerin Daria Pezzoli-Olgiati versteht Religion als ein »komplexes, vielschichtiges Kommunikationsnetz, in dem die Ebenen der Kommunikation und die dominierenden Medien spezifisch eingesetzt werden können, auch im Gegensatz zueinander« (Pezzoli-Olgiati 2009: 790). So könnten auch Fragen nach geschlechtsspezifischen Normen und Grenzziehungen innerhalb religiöser Symbolsysteme nicht als feste, programmatische These formuliert werden, sondern vielmehr als Arbeitshypothese, die den Blick auf Selbst- und Fremddefinitionen von Individuen und Gruppen lenke (vgl. ebd.). Dass der Islam auch im Sinne der Befreiung der Frau interpretiert werden kann, zeigt zum einen, dass auch die nationale Unabhängigkeitsbewegung in Marokko Argumente zur Befreiung der Frau über islamische Logiken einbrachte (vgl. Mernissi 1987: 13).25 Zum anderen gibt es auch aktuell feministische Bewegungen, die den Islam trotz ihrer Kritik an der aktuellen Politik und dem Herrschaftssystem als Grundlage der Gesellschaft verstehen (vgl. ebd.: 18).26 Der Religionswissenschaftler Hans Kippenberg vertritt die These, dass Religion nie der alleinige Grund für Konflikte und Machtverhältnisse sei, sondern dieser religiösen Inanspruchnahme immer Auseinandersetzungen und Hierarchisierungen auf anderen Ebenen vorgelagert seien und Religion vielmehr zum Instrument werde, diese zu legitimieren und zu rechtfertigen (vgl. Kippenberg 2008: 23). Obwohl viele Bereiche 25 Die Kulturwissenschaftlerin Fatima Sadiqi schreibt zu den Anfängen feministischer Bewegungen in den Unabhängigkeitskämpfen: »The history of women’s movements in the Maghrib goes back to the pre-colonization and the colonization periods during which male leaders of the Islam (Reform) movement such as Allal Al-Fassi (Morocco), Ibn Badis (Algeria), and Tahar Haddad (Tunisia) argued for women’s emancipation within the cultural/religious value systems of Maghribi societies. These leaders linked social development and modernization with women’s education. These views instigated many women of the 1930s and 1940s to start claiming their rights through pioneer women’s organizations such as Akhawat Al-Safa (Sisters of Purity) in Morocco, Association Féminine Musulmane Algérienne (Algerian Muslim Women’s Association) in Algeria, and L’Union des Femmes Tunisiennes (Tunisian Women’s Union).” (Sadiqi 2008: 457) 26 Während zumeist davon ausgegangen wird, dass die Unterlegenheit der Frau fester Bestandteil des Islams sei, sei es im Gegenteil die potentielle Gleichheit der Geschlechter, die dem Islam zugrunde liege, so Mernissi: »The existing inequality does not rest on an ideological or biological theory of women’s inferiority, but is the outcome of specific social institutions designed to restrain her power: namely, segregation and legal subordination in the family structure. […] The democratic glorification of the human individual, regardless of sex, race, or status, is the kernel of the Muslim message.” (Mernissi 1987: 19) Auch muslimische Feminist_innen sowie queere Muslim_innen kritisieren seit vielen Jahren die patriarchale Auslegung des Koran (vgl. Queer Muslims 2014). Trotzdem gibt es auch säkulare Bewegungen, die die Trennung von Staat und Religion fordern, auch gerade linke Aktivist_innen wie Frauenrechtsaktivist_innen.
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wie zum Beispiel Wirtschaft und Handel im Laufe der Zeit der religiösen Gesetzgebung entzogen wurden, sind Ehe und Familie als Institutionen nach wie vor durch islamisches Recht in der Moudawana geregelt (vgl. Mernissi 1987: 12). Als der König Hassan II. 1993 eine königliche Kommission bildete, um das Familienrecht zu reformieren, wurden nur ulemas, islamische Gelehrte, in den beratenden Kreis miteinbezogen. Von Aktivist_innen dagegen wurden die damals umgesetzten Änderungen – im Gegensatz zu den Reformierungen der Moudawana von 2004 – nie wirklich als Reform anerkannt (vgl. Therrien 2009: 59). Für Naimas Freund bedeutet das, dass er zum Islam konvertieren muss, um sie heiraten zu können. Das ist bereits in Deutschland möglich oder in Marokko. Naima lege persönlich keinen Wert darauf, dass er konvertiert, wie sie betont. Für sie sei es wichtig, dass ihr Mann ehrlich zu ihr und kein Lügner sei, egal welcher Religion er angehöre. Trotzdem solle er sich mit »ihrer« Religion auseinandersetzen, da sie aus einer muslimischen Familie komme. Er hat bereits angefangen den Koran zu lesen und sich über den Islam zu informieren. Er sei noch Anfänger, sagt Naima, aber sie lebten auch einen »Islam light«. Es gehe ihr nicht darum, dem anderen vorzuschreiben, wie er sich zu verhalten und was er zum Beispiel anzuziehen habe, sondern darum, dass er die Grundidee des Islams verstanden habe. Der marokkanische Staat ist hier strenger. Die Behörden verlangen nicht nur eine offizielle Bestätigung, dass der deutsche Partner zum Islam konvertiert ist, sondern es wird auch Grundwissen abgefragt. Diese Überprüfung wird im cour d’appel durchgeführt, das sich in Salé im gleichen Gebäude wie das Familiengericht befindet. Naima und Moritz wurden dazu in das Büro eines Richters geführt. Eigentlich hätten sie eine_n Übersetzer_in bezahlen müssen, aber Naima konnte in letzter Sekunde noch eine Rechtsanwältin finden, die sie kannte, die Englisch konnte und das Dolmetschen übernommen hat. Es seien unterschiedliche Fragen gestellt worden, berichtet Naima danach, aber vor allem in Bezug auf seine religiöse Überzeugung. Er wurde zum Beispiel aufgefordert, die fünf Säulen des Islams zu nennen und gefragt, ob er regelmäßig bete. Zum Abschied habe der Richter noch gesagt, dass er für sie hoffe, dass sie eine »echte Ehe« eingingen, für immer zusammenblieben und sich liebten, denn nur dann helfe Gott ihnen. Das habe ihr sehr gut gefallen, sagt Naima dazu. Dass die Religion in Marokko so stark in der Gesetzgebung und im Recht verankert ist, hat mehrere Gründe. Die Einführung der Shar’ia im Sinne einer islamischen Gesetzgebung geht weit zurück in der Geschichte Marokkos. Im 8. Jahrhundert setzten arabische Herrscher den Islam in Marokko durch. Shar’ia (= Weg) bezeichne jedoch zunächst nur die Pflicht jedes Einzelnen in sämtlichen Lebensbereichen, wie Mernissi betont (1987: 21). Sie kritisiert, dass im Westen die Shar’ia oft als feststehendes Gesetz aus der Zeit des Propheten Mohammeds verstanden werde und weist darauf hin, dass dahinter vielmehr ein komplexes Regelwerk stehe, dass sich mit der Zeit gewandelt habe: »The shar’ia had to confront the daily realities of the increasingly numerous and culturally diverse members of the umma. Schools of law were gradually created and specialists of law
116 | Grenzüberschreitungen appeared. They endeavoured to extrapolate and interpret the divine principles in order to meet the earthly needs of the believer in his day-to-day-life.« (Ebd.: 21 f.)
Während der Kolonialzeit wurde die Identifikation mit dem Islam durch die Auflehnung nationalistischer Unabhängigkeitsbewegungen gegen die Kolonialmächte noch einmal verstärkt und ist in einem postkolonialen Staat wie Marokko zu einem wichtigen Bestandteil nationaler, aber auch panarabischer Identität geworden (vgl. Mernissi 1987: 23). Nach der Unabhängigkeit Marokkos etablierten die nun herrschenden Eliten den Islam in den soziolegalen Institutionen durch ein Familienrecht, das auf islamischem Recht beruhte und Frauen stark benachteiligte (vgl. Sadiqi 2008: 457). Religion wurde seitdem von politischen Eliten genutzt, um Gesetze, die Frauen unterdrücken und patriarchale Strukturen aufrechterhalten, zu legitimieren, wie der Soziologe Abdessamad Dialmy aufzeigt (2009). Dabei diene der Islam primär dem Machterhalt politischer und sozialer Eliten in Marokko, die sich quasi überschneiden. Viele der NGOs und zivilgesellschaftlichen Gruppen, die eben jene diskriminierenden Gesetze kritisieren und dagegen kämpfen, argumentieren jedoch ebenfalls nicht säkular, sondern plädieren für eine Neuinterpretation und Kontextualisierung islamischer Texte (vgl. Dialmy 2009: 16). Religion ist in Marokko ein politisches Feld, dass umkämpft und keinesfalls mit eindeutigen Positionen verbunden ist. Alle Protagonist_innen dieser Studie bezeichnen sich – wie auch Naima – als muslimisch, auch wenn sie ihren Glauben auf unterschiedliche Weise praktizieren und auslegen. Diese individuelle Ausübung der Religion zeigte sich in der Gestaltung des Tagesablaufs und der Häufigkeit des Betens oder auch – besonders bei den Frauen – in der Kleidung. Das Fasten während des Ramadans war für alle Protagonist_innen ein selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebens.27 Dennoch sind die Glaubenspraxis im Alltag und die individuellen Interpretationen oftmals weit davon entfernt, was die Umalas – die offiziellen Islamgelehrten – vorgeben, so Dialmy (2009: 20 f.). Dass ihr_e Partner_in muslimisch ist, war der Mehrheit der Gesprächspartner_innen ebenfalls wichtig. Während in Bezug auf die Nationalität noch eine relative Offenheit vorhanden war, war für viele die muslimische Zugehörigkeit eine Bedingung für ein Eheschließung oder zumindest die Auseinandersetzung mit ›ihrer‹ Religion, wie es bei Naima der Fall war. Die breite Einigkeit und Zustimmung gegenüber dem Islam ist unter anderem auch auf die koloniale Vergangenheit Marokkos sowie aktuelle globale Machtverhältnisse zurückzuführen. So wird Religiosität in vielen anderen 27 Diese persönliche Identifizierung mit dem Islam trifft selbstverständlich nicht auf die gesamte Bevölkerung zu. Gerade in aktivistischen Kreisen sind auch säkulare und atheistische Positionen verbreitet, wenn auch nicht die Norm. So gibt es auch eine Bewegung, MALI (Mouvement Alternatif pour les Libertés individuelles), die als Protestaktionen gemeinsame Mahlzeiten während des Ramadans organisiert, wobei sich dieser Protest vor allem gegen die gesetzliche Vorschrift richtet und für die Forderung nach individueller Freiheit steht, http://www.bladi.net/manger-pendant-ramandan.html, 6. August 2016.
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postkolonialen Ländern nach wie vor auch als antikoloniale Haltung gegenüber westlicher Dominanz und einem damit einhergehenden »secular imperative« (Dhawan 2013: 123) sowie im Kontext von Islam gegenüber anti-muslimischem Rassismus verstanden. Die nationale Identität im Sinne einer Identifikation mit dem Islam ist auch hier nicht einfach ›von oben‹ erzwungen, sondern durchzieht die Subjekte, die diese mit herstellen, sich dieser gegenüber aber auch flexibel verhalten, diese umdeuten und modifizieren.
3.2.2 Sex vor der Ehe? Der enquête de police und Sexualpolitik Es folgt eine weitere Befragung auf dem Kommissariat: der enquête de police. Naima hatte schon davon gehört und war entsetzt, dass dort auch die Frage gestellt werde, ob sie schon Sex gehabt hätten. »Das ist meine persönliche Geschichte. Wir werden Nein sagen«, sagt sie zu mir. »Wenn wir die Wahrheit sagen, werden wir in Probleme geraten.« Als sie mir dann einige Wochen später von dem Termin berichtet, muss sie lachen: »Es war so witzig!« Sie haben ihren Freund mehrere Male gefragt, ob sie schon Sex gehabt hätten und immer wieder mit der Frage »Wirklich nicht?« nachgehakt. Auch sie wurde gefragt. Natürlich hätten sie nicht die Wahrheit gesagt, sonst hätten sie vielleicht direkt wieder gehen müssen. Ansonsten hätten die Polizisten primär persönliche Fragen gestellt, wie zum Beispiel, wie sie sich kennengelernt haben, welcher Arbeit sie nachgehen, wie sie ihre gemeinsame Zeit verbringen. Außerdem musste Moritz angeben, ob er bereits Straftaten begangen habe. Das hätten sie auch im Computer kontrolliert. Ähnliches berichteten mir andere Interviewpartner_innen. Alle waren vorher informiert, dass sie auf die Frage nach sexuellen Erfahrungen vor der Ehe mit Nein antworten müssten. Nur Hafida hatte Probleme. Von ihr wurde verlangt, dass sie eine ärztliche Bescheinigung vorlegt, dass sie noch Jungfrau ist. Es ist schwierig einzuschätzen, warum ausgerechnet sie nach einem ›Beweis‹ ihrer Jungfräulichkeit gefragt wurde, ob es mit ihrem Habitus oder mit ihrer Beziehung zu einem nicht-marokkanischen Mann zu tun hatte. Am Ende war es kein Problem für sie diese ärztliche Bescheinigung zu bekommen, obwohl sie bereits Geschlechtsverkehr hatte. Sie fand einen Arzt, der ihr gegen Bezahlung ein solches Dokument ohne Untersuchung ausstellte. Trotzdem zeigt dieser Fall, wie viel Spielraum die Beamt_innen hier in ihrer Arbeit haben und wie tief der marokkanische Staat in die Intimsphäre der Paare eingreift. Doch warum wird die Frage nach sexuellem Kontakt vor der Ehe überhaupt gestellt? Nach Artikel 490 des marokkanischen Strafgesetzbuchs sind außereheliche sexuelle Beziehungen verboten: »Mit einer Inhaftierung von einem Monat bis zu einem Jahr, werden alle Personen unterschiedlichen Geschlechts bestraft, die nicht verheiratet sind und zusammen sexuelle Beziehungen haben« (Ministère de la Justice 2015: 182; eigene Übersetzung). Offiziell gilt also für jedes Paar (egal ob binational oder nicht), dass eigentlich beide Partner_innen keinen Geschlechtsverkehr vor der Ehe haben dürfen. Normalerweise fragen marokkanische Behörden nicht nach einem
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ärztlichen Zertifikat, aber ganz selten kommt es noch vor, dass der Ehemann oder seine Familie nach einer Bestätigung fragen. Bei Männern werden sexuelle Beziehungen zu Frauen vor der Ehe oder der Besuch von Sexarbeiterinnen toleriert. Wenn Frauen dagegen sexuelle Erfahrungen vor der Ehe machen oder sogar ihre ›Jungfräulichkeit‹ verlieren, kann dies, wird es im Umfeld bekannt, zu gesellschaftlicher Stigmatisierung führen (vgl. Cheikh 2014) und zu Schwierigkeiten, später einen Mann zu finden. Sex vor der Ehe werde bei Frauen mit Prostitution gleichgesetzt, so Dialmy (2009: 14). ›Jungfräulichkeit‹ wird hier zur Aushandlungsbasis innerhalb eines patriarchalen Wertesystems (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999b: 212). Die Soziologin Sanaa El Aji hat sich in einer empirischen Studie ebenfalls mit Sexualität und Ledigkeit in Marokko beschäftigt. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einer Feminisierung der Ehre in dem Sinne, dass der Körper der Frau zum Träger traditioneller Werte gemacht wird und gesellschaftliche Normen im Bereich der Sexualität über diesen ausgehandelt werden (vgl. El Aji 2017). Die individuellen Haltungen gegenüber Sexualität sowie die gelebten Praktiken von jungen Menschen in Marokko zeigen jedoch, dass Gesetze sowie gesellschaftliche Sexualmoral und die Lebensrealitäten weit auseinanderliegen. Tatsächlich gibt es viele junge Frauen und Männer, die sich aus religiöser Überzeugung bewusst nicht auf sexuelle Beziehungen vor der Heirat einlassen, wie auch einige der Protagonist_innen dieser Studie. Oft ist auch der Druck aus der Familie gerade auf Mädchen und junge Frauen so groß, dass Sexualität vor der Ehe für sie nicht in Frage kommt. Doch es gibt auch immer mehr junge Menschen, die sich nicht an die Gesetze und Normen halten. Mériam Cheikh weist darauf hin, dass die Heirat in Marokko seit drei Jahrzehnten stark zurückgehe und das Heiratsalter steige, was auch Einfluss auf die Reproduktion habe, die damit auch nur innerhalb ehelicher Gemeinschaften erlaubt ist. Sie zeigt auf, wie sich die neue Generation von einer Moral, die Sexualität nur in der Ehe verortet und mit Fortpflanzung verknüpft, distanziert und damit außereheliche, sexuelle Beziehungen ermöglicht (vgl. Cheikh 2014). Damit sei die Ablösung der Intimität von häuslicher Reproduktion zum Sinnbild individueller Freiheit sowie Emanzipation geworden (vgl. ebd.). Dieser Wandel hin zu einer zunehmend auch außerhalb der Ehe gelebten Sexualität geht mit Konflikten und ambivalenten Gleichzeitigkeiten einher, da sowohl die Gesetzgebung als auch die gesellschaftliche moralische Haltung den Transformationen in den Alltagspraktiken entgegenstehen. Ein Beispiel für die Paradoxien, die damit einhergehen sei der »Kuss von Nador«, so Cheikh: Als im Oktober 2013 eine junge Frau und ein junger Mann ein Bild von einem Kuss auf Facebook hochladen, gibt es einen großen Aufschrei und die beiden werden direkt verhaftet. Cheikh sieht dieses Ereignis als paradigmatisch für den Umgang mit Sexualität in Marokko, da hier deutlich werde, dass das Problem nicht sei, dass sie sich geküsst, sondern, dass sie es öffentlich gemacht hätten. Dass es besser sei, geheim zu halten, was nicht den Normen und der Moral entspricht, sei eine alte, ebenfalls islamisch begründete Tradition (vgl. Cheikh 2014). El Aji bezeichnet den gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität
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in Marokko als Heuchelei, »hypocrisie« (El Aji 2017). Die Journalistin Leila Slimani spricht von einer »institutionalisierten Lügenkultur« (vgl. Slimani 2017). Sexualität wird also von jungen Menschen außerhalb ehelicher Gemeinschaften durchaus gelebt, ist aber tabuisiert und nicht sicht- und sprechbar. Dies führt dazu, dass nicht verheiratete Paare Strategien entwickeln müssen, sich ungestört zu treffen. Für marokkanische Staatsangehörige ist es auch verboten, mit einer Person des anderen Geschlechts ein Hotelzimmer zu buchen, liegt keine Heiratsurkunde vor. Naima berichtete, wie schwierig es jedes Mal war, wenn ihr Freund sie in Marokko besuchen kam, ein Apartment zu finden und dass sie gezwungen waren hohe Preise zu zahlen, da kaum ein_e Wohnungsbesitzer_in einem nicht verheirateten Paar ein Apartment vermietet (vgl. Therrien 2009: 61). Nach Artikel 490 ist auch das Zusammenleben unverheirateter Paare verboten. Therrien hat die Erfahrung gemacht, dass es zwar selten tatsächlich zu Verhaftungen käme, jedoch zu Verwarnungen durch die Polizei (vgl. ebd.). Auch ich hörte von Freund_innen in Marokko öfter von Konflikten mit Nachbar_innen oder sogar der Polizei, sobald zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts, die nicht aus der gleichen Familie sind, sich alleine in einer Wohnung befinden. Naima und ihr Freund fanden trotzdem immer eine Lösung, wenn auch kostspielig und in Stadtvierteln etwas außerhalb des Zentrums. Der Umstand, dass sie etwas Illegales tun, wird auf den Preis aufgeschlagen. In der Medina seien die Wohnungen günstiger, aber niemand vermiete an ein unverheiratetes Paar, erklärt Naima. Das letzte Mal hätten sie 60 Euro am Tag bezahlt. Der Vermieter habe gemeint, dafür hätten sie ihre Ruhe und sie könne jeder Zeit kommen und gehen. Das sei in Marokko nicht selbstverständlich, so Naima. Wenn sie nun verheiratet seien, sei das kein Problem mehr. Auch ist es durch die gesellschaftliche Tabuisierung von Sexualität besonders schwierig an Informationen über Verhütung und Geschlechtskrankheiten zu kommen. Naima und auch andere Frauen erzählten mir, dass man über die Pille sage, dass diese schädigend sei und man keine Kinder mehr bekommen könne. Über Geschlechtskrankheiten war Naima informiert und bat ihren Partner auch, einen Test machen zu lassen, bevor sie das erste Mal bei ihm übernachtete. Sexualität verlagert sich absolut ins Private und erfährt nur nach und nach durch Proteste und Bildungsarbeit unterschiedlicher Gruppen und Organisationen eine Politisierung. Die Kluft zwischen Gesetz und Alltagspraktiken geht weit auseinander in Marokko. Die rechtlichen Vorgaben werden umgangen, umgedeutet und verhandelt. Trotzdem haben die Gesetze und Regularien, die unter anderem über die Institution Ehe durchgesetzt werden, disziplinierende Effekte.
3.2.3 Zu Besuch beim adul: die Eheschließung Bevor wir das Familiengericht verlassen, möchte Naima den adul treffen, der ihre Eheschließung durchführen soll, sobald sie die Bestätigung der Polizei sowie des Procureur du Roi erhalten hat. Auch ihn kennt sie noch aus der Zeit, als sie als Sekretärin eines Anwalts gearbeitet hat. Er begrüßt uns mit Handschlag und bringt uns über den
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Hinterhof in ein Büro, wo er noch einmal genau aufschreibt, welche Dokumente sie benötigt. Naima ist zufrieden, weil sie bereits alle Unterlagen beisammen hat und der adul ihr zusichert, dass alles schnell gehen werde und bis zum 1. April, wenn Moritz kommt, alles für die Eheschließung bereit sein werde. Bei dem adul handelt es sich um einen Notar, der nach Islamischem Recht die Ehe durchführt. In Marokko gibt es keine Trennung zwischen ziviler und religiöser Heirat. Der Beruf des adul war lange Zeit nur Männern vorbehalten, seit 2012 können auch Frauen den Beruf ausüben (vgl. Bladi 2012). Der Beruf erfordert ein Doktorat in islamischem Recht. Um das Familiengericht in Salé herum haben sich viele adule mit einem Büro angesiedelt. Grundsätzlich sind diese jedoch in der ganzen Stadt verteilt und jedes Viertel hat seine eigenen Büros. Naima und ich machen uns nach dem Besuch im Familiengericht noch auf die Suche nach einem solchen Büro in der Umgebung und werden schnell fündig. Wir werfen erst einen Blick durch das Fenster und werden hereingewunken. Wir befinden uns nun in einem kleinen Raum. Tritt man durch die Tür, steht man direkt im Büro vor einem großen Schreibtisch mit Stapeln von Unterlagen und einem Computer. An der Wand befinden sich Bänke für die Hochzeitsgäste, wie mir später erklärt wird. Vor dem Schreibtisch stehen zwei weitere Stühle und dahinter sitzen drei Männer mittleren Alters. Zwar sind sie sehr höflich und erkundigen sich nach unserem Anliegen, als ich jedoch erkläre, dass ich eine Forschung zu »couples mixtes« mache, reagieren sie mit Zurückhaltung und fragen, ob ich vom Konsulat oder einer anderen deutschen Institution komme. Erst als ich mehr über mein Forschungsvorhaben erzähle und wir ins Gespräch kommen, werden sie offener und bieten uns Tee an. Irgendwann fangen sie an von den Herausforderungen zu erzählen, die bei Trauungen von binationalen Paaren aufkommen und erachten meine Forschung schließlich doch für wichtig. Vor allem gebe es administrative Probleme, zum Beispiel wenn der ausländische Partner noch verheiratet sei oder kein sauberes Führungszeugnis habe. Besonders schwierig werde es aber dann, wenn die Paare zum Konsulat gehen, erzählt einer der Männer. Er berichtet von einem Fall, den er begleitete, wo die Frau älter war als der Mann und das Visum abgelehnt wurde. Er sei sich sicher, dass dies am Altersunterschied gelegen habe. In Marokko sei es seiner Meinung nach kein Problem, wenn die Frau älter als der Mann sei, aber für das Konsulat sei es das schon. Naima sagt dazu: »Das ist nicht gerecht.« Mir werden noch ein paar Fragen zu deutschem Heirats- und Familienrecht gestellt. Er fragt mich, ob es richtig sei, dass es in Deutschland gesetzlich erlaubt sei, mit mehreren Frauen Beziehungen zu haben, während man verheiratet ist. Ich erkläre, dass das auf jeden Fall keine Straftat sei. Naima ist entsetzt, dass es nicht unter Strafe stehe, wenn ihr zukünftiger Ehemann noch eine Freundin neben ihr hätte. In Marokko könne eine Frau ihren Mann anzeigen, wenn er eine Geliebte habe und Ehebruch begehe, und er würde direkt ins Gefängnis wandern.28 Ich werde auch gefragt, ob es in Deutschland noch Personen gebe, die gegen binationale Eheschließungen seien. Wir einigen uns darauf, 28 Nach Artikel 491 des marokkanischen Strafrechts steht Ehebruch unter Strafe und wird mit bis zu zwei Jahren Haft geahndet, sobald eine Anzeige durch eine_n der Ehepart-
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dass es das wohl in jedem Land gebe und sie erzählen, dass es in Marokko manchmal sogar ein Problem sei, wenn eine junge Frau jemanden aus einer anderen Familie, einer anderen Stadt oder ein Berber eine Araberin heirate. Während wir uns unterhalten haben die drei Männer die ganze Zeit den Code de la Famille – das Gesetzbuch zum Familienrecht – vor sich liegen. Als wir über die Gleichheit von Mann und Frau sprechen, zitiert einer von ihnen Artikel 24, in dem steht, dass die Frau selbst entscheiden kann, ob sie heiraten möchte, sie könne nach Artikel 25 dieses Recht aber auch an ihren Vater oder den nächsten männlichen Verwandten delegieren.29 Sie fragen mich auch, ob die Heirat von Minderjährigen in Deutschland legal sei und wie es sei, wenn eine minderjährige Frau schwanger werde. Er halte es für wichtig, dass es zwischen Marokko und Deutschland in diesem Bereich der binationalen Eheschließungen eine Konvention gibt, so wie mit Frankreich. Die französischen Dokumente müssten noch nicht einmal legalisiert werden, während die aus Deutschland, selbst, wenn sie auf Französisch übersetzt sind, noch von einem anerkannten Übersetzer ins Deutsche übersetzt und legalisiert werden müssten. Hier zeigt sich, dass die Heirat binationaler Paare durchaus ein Politikum darstellt und Teil internationaler Beziehungen und Aushandlungen zwischen Staaten ist. Außerdem wird in diesem Gespräch deutlich, dass durch die Heirat der binationalen Paare zwei unterschiedliche Rechtssysteme aufeinander treffen, die auf beiden Seiten Fragen und Unverständnis auslösen, konflikthaft aufeinandertreffen und in den Alltagen der Behörden ausgehandelt werden. Besonders für nicht-marokkanische Partner_innen, die kein Arabisch sprechen, ist die Eheschließung beim adul eine Herausforderung, da sie die auf Arabisch verfasste Heiratsurkunde nicht verstehen können. Diese enthält jedoch einige Paragraphen, die beachtliche Folgen besonders für die nicht-marokkanische Ehefrau haben können. Eine Interviewpartnerin mit deutscher Staatsangehörigkeit, Mona, erzählte zum Beispiel, dass sie darauf bestehen und sich selbst darum kümmern musste, einen Dolmetscher zu haben, der ihr jeden Satz ins Französische übersetzte, bevor sie die Heiratsurkunde unterschrieb. Sie bestand auch darauf, dass einige Paragraphen noch hinzugefügt wurden, wie zum Beispiel, dass sie das Recht hat allein mit ihren Kindern aus- und einzureisen und über den Wohnort selbst zu entscheiden. Auch die Rechtsanwältin Fadéla Sebti empfiehlt in diesem Zusammenhang in die Heiratsurkunde hinzuzufügen, dass im Falle einer geographischen Entfernung die Fürsorgepflicht an die Mutter weitergegeben wird, da dies nach Artikel 178 sonst gesetzlich nicht möglich sei (vgl. Therrien 2009: 65). Nach dem marokkanischen Familienrecht obliegt das Fürsorgerecht zunächst immer dem Vater. Auch wenn viele Paragraphen mit der Reform der Moudawana von 2004 im Sinne der Gleichheit der Geschlechter geändert wurden, sind Männern nach wie vor bestimmte Rechte und Privilegien vorbehalten, ner_innen vorliegt: http://adala.justice.gov.ma/production/legislation/fr/penal/Code %20Penal.htm, 25. April 2018. 29 http://adala.justice.gov.ma/production/legislation/fr/Nouveautes/Code%20de%20la%20 Famille.pdf, 25. April 2018.
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während die Frau infantilisiert werde (vgl. Mernissi 1987: x xvii). Der_die nicht-marokkanische Partner_in unterliegt also mit dem Unterschreiben der Heiratsurkunde dem marokkanischen Rechtssystem. Auch wird er_sie durch das Durchlaufen der Befragungen und Kontrollinstanzen, um die Bedingungen für eine Eheschließung zu erfüllen und eine Heiratsurkunde zu erhalten, bereits mit den gesellschaftlichen Normen und Regularien konfrontiert, die vom marokkanischen Staat vorgegeben werden und das Alltagsleben in Marokko prägen.
3.2.4 Binationale Eheschließungen und der marokkanische Nationalstaat Die staatliche Regulierung binationaler Eheschließungen geht in der Geschichte Marokkos weit zurück und muss vor dem Hintergrund (post‑)kolonialer Verhältnisse betrachtet werden. Binationale Paare – oder »couples mixtes« im Französischen – waren nicht immer erwünscht in Marokko. Während der Zeit des Protektorats waren es die Kolonialmächte, die Beziehungen marokkanischer Männer mit spanischen und französischen Frauen durch Verbote und strenge Überwachung zu verhindern versuchten (vgl. Sebti 2013). Zwischen europäischen Männern und marokkanischen Frauen wurden ebenfalls kaum Eheschließungen vollzogen, jedoch gab es in den großen Städten viele Frauen aus der Region, die den Kolonialherren als Prostituierte zur Verfügung standen (vgl. Rabinow 1977: 27). Ann Stoler hat in ihren Studien zur Produktion und Disziplinierung von Sexualität und Begehren während der Kolonialzeit aufgezeigt, dass über Sexualpolitik in den Kolonien auch eine Rassifizierung der kolonisierten Körper stattfand und diese ein wichtiges Instrument der Herrschaftsstabilisierung darstellte (vgl. Stoler 2002). Nach der Unabhängigkeit 1956 regte sich in der marokkanischen Bevölkerung Widerstand gegen Eheschließungen zwischen Marokkaner_innen und Europäer_innen. Ihnen wurde der Vorwurf gemacht, mit ihren Beziehungen gegen die Unabhängigkeit des marokkanischen Nationalstaats zu agieren und die Herrschaft der Kolonialmächte aufrechtzuerhalten, vor allem diejenigen, die mit französischen Staatsbürger_innen verheiratet waren, wie die Anthropologin Catherine Therrien in ihrer Studie zu binationalen Paaren in Marokko aufzeigt (vgl. Therrien 2009: 55). Das Verständnis von Marokko als nationaler Gemeinschaft geht auf die Kolonialzeit zurück (vgl. Miller 2013: 120 ff.). Zuvor bildete vielmehr die Religion des Islam das bindende Glied der kolonisierten Bevölkerung, was auch zu Plänen der Protektoratsmacht führte, Marokko zu de-islamisieren (vgl. ebd.: 126 f.). Es waren schließlich die 1930er Jahre, in denen sich nationalistische Bewegungen radikalisierten und die Idee einer marokkanischen Nation vorantrieben: »Nationalist rhetoric of the 1930s was the medium for redrawing old boundaries and mapping out new ones.« (Miller 2013: 131) Die Idee der Nation als einer »vorgestellten Volksgemeinschaft mit einem festgelegten Territorium, einer nationalen Kultur, Sprache und Geschichte« (Götz 2011: 97) diente den Unabhängigkeitsbewegungen »als machtvoller Motor der Entfaltung und Verschweißung antikolonialer Kräfte« (Castro Varela/Dhawan 2005: 17) sowie als »in Blut und Zorn geschaffenes Bindemittel«, wie es Frantz Fanon in »Die Verdammten
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dieser Erde« ausdrückt (2014 [1961]: 76 f.).30 Jeder Nationsbildungsprozess im Sinne eines »Prozesses der Implementierung der Nation als imaginierter Gemeinschaft auf der Basis imaginierter Gemeinsamkeiten mit einer weithin anerkannten und von den Massen subjektiv angeeigneten identifikativen und handlungsleitenden Kraft« (Götz 2011: 93) ist mit der Erfindung von Traditionen (vgl. Hobsbawm/Ranger 1983) verbunden. So kam es auch in Marokko zu dieser Zeit zu der Erfindung marokkanischer Kultur: »The signs and practices associated with traditional Moroccan cultural life were appropriated to reinforce the image of a politicized collectivity.« (Miller 2013: 131) In diesem Zusammenhang wurde auch das Freitagsgebet zu einer Pflicht eines_r jeden Bürger_in. Bestimmte Kleidung wurde zum nationalen Brauch gemacht, wie die jallaba und der tarbush für Männer und die haïk für Frauen. Lokale Feste wurden zu Nationalen umgedeutet. Der Sultan, der von den Kolonialmächten – abgesehen von seiner religiösen Autorität – entmachtet wurde, wurde zum nationalen Symbol erhoben (vgl. ebd.). Auch die Selbstbezeichnung als ›arabisch‹ war ein Akt dieses Widerstands gegen die Kolonialmächte und vereinigte viele Länder wie Marokko und Ägypten gegen die westliche Dominanz (vgl. Mernissi 1987: 16). Mernissi betont, dass es sich dabei nicht um einen ethnischen, sondern einen politischen Anspruch handelte (vgl. ebd.). Nach der Unabhängigkeit wurde die arabisch-muslimische nationale Identität Marokkos auch in der Verfassung von 1962 festgeschrieben: Artikel 1: Marokko ist ein arabisches und muslimisches Land; Artikel 2: Islam ist die offizielle Staatsreligion; Artikel 3: Die arabische Sprache ist die offizielle und nationale Amtssprache (vgl. Mernissi 1987: 17). Die Institution der Familie stellt auch im marokkanischen Nationalstaat eine wichtige Einheit dar, über die Bevölkerung regiert und auch nationale Identität aufrechterhalten wird. Therrien bezeichnet die Familie als »fundamental unit of the country’s social and economic organization« (Therrien 2012: 135). Gesetze und Recht, die die Familie betreffen, sind in der Moudawana, auf Französisch auch code de la famille, festgeschrieben. Dieses Gesetzbuch wurde erstmalig kurz nach der Unabhängigkeit 1957 verabschiedet. Es stellt den wichtigsten Rechtsbereich in Marokko in dem Sinne dar, als dass am meisten Personen davon betroffen sind: alle marokkanischen Staatsangehörigen sowie mit diesen verheiratete andere Staatsangehörige, sowohl im Inland als auch im Ausland (vgl. Therrien 2009: 59). Die Eheschließung 30 Dieser marokkanische Nationalismus ist auch vor dem Hintergrund der Unabhängigkeitskämpfe nicht zu romantisieren und kritisch zu betrachten. Dhawan und Castro Varela kritisieren an nationalistischen Bestrebungen postkolonialer Staaten: »Die Früchte der Befreiung waren letztendlich weder für alle gedacht noch für alle erreichbar.« (Castro Varela/Dhawan 2005: 19) So hätten die antikolonialen Kämpfe im Namen der Nation für viele Gruppen nicht zu einer Verbesserung ihres Status geführt, wie für Frauen, Arbeiter_innen sowie die Landbevölkerung (ebd.). Auch der marokkanische Nationalismus beruht auf der exludierenden Idee der Nation und produziert wiederum Ausschlüsse und Gewalt, wie zum Beispiel gegenüber Migrant_innen aus Subsahara, die in Marokko leben (vgl. GADEM 2006).
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ist danach auch der einzige legale Weg, um als Paar offiziell anerkannt zu werden: sowohl rechtlich, als auch religiös und kulturell (vgl. ebd.). Vor diesem Hintergrund wird die Eheschließung mit einem_r Partner_in, die_der weder ›marokkanisch‹ oder ›arabisch‹ noch ›muslimisch‹ ist, zur Bedrohung für diese symbolischen Grenzziehungen: »When an outsider enters a group, social cohesion comes into play, and a whole system of social controls (normative and legislative) is deployed to preserve the group’s identity.« (Therrien 2012: 136) Die Ablehnung binationaler Beziehungen kann auch als eine Form von Mixophobie interpretiert werden – ein Begriff, der von Pierre-André Taguieff (2001 [1987]) geprägt wurde und nach ihm eine »unbeugsame Angst vor dem Gespenst der Vermischung« (Taguieff 2001: 5; Übersetzung durch Autorin) beschreibt, die auf der Vorstellung eines essentiellen Unterschieds zwischen Kulturen beruht, die es zu bewahren gilt. Die Haltung gegenüber binationalen Paaren in der Gesellschaft hat sich seit der Phase unmittelbar nach der Unabhängigkeit stark gewandelt hin zu einer positiveren Einstellung. Trotzdem ist – je nach Hintergrund des_der Partner_in – nach wie vor eine gewisse Skepsis weit verbreitet. Die Journalistin Asmaa Chaidi schreibt 2012, die »gemischten Heiraten« hätten sich diversifiziert sowie demokratisiert in Marokko (vgl. Chaidi 2012). Auch wenn binationale Paare mehr Akzeptanz erfahren und auch rein quantitativ mehr geworden sind, bilden sie jedoch immer noch eine Minderheit in Marokko und werden oft nach wie vor als störend und gefährdend für den sozialen Zusammenhalt der marokkanischen Gesellschaft angesehen (vgl. Therrien 2009: 56). Therrien hat marokkanische Literatur und Medienberichte über binationale Paare analysiert und kommt zu dem Fazit, dass diese vor allem in negativem Licht dargestellt werden (vgl. Therrien 2012: 134 f.). Auch ich habe in Gesprächen in Marokko die Erfahrung gemacht, dass eine Heirat mit einer_m deutschen Staatsbürger_in zumeist nur dann positiv eingeschätzt wird, wenn die Person einen marokkanischen Hintergrund hat, also die Eltern oder Großeltern aus Marokko kommen, und muslimisch ist. Wenn dies nicht der Fall ist, werden die marokkanischen Partner_innen oft verdächtigt, die Heirat nur aus ökonomischen Gründen und für eine Aufenthaltsgenehmigung einzugehen. Der Mann einer Freundin sagte zu mir bei einem gemeinsamen Mittagessen in Tanger: »Du musst diese Forschung gar nicht machen. Ich weiß, warum sie einen Deutschen heiraten: aus wirtschaftlichen Gründen. Ich habe noch nie von einem alten deutschen Mann und einer alten marokkanischen Frau gehört, die zusammen leben und glücklich sind.« Hier ist es wichtig zu betonen, dass in diesem Kontext – anders als in deutschen Institutionen wie dem Konsulat, wie ich später aufzeigen werde – vor allem Frauen unterstellt wird, nur zum eigenen Vorteil einen deutschen Mann zu heiraten. Dass marokkanische Männer ausländische Frauen heiraten, ist mehr akzeptiert. Dies hängt auch wiederum mit der Vorstellung zusammen, dass der Mann Religion und Identität an die Kinder weitergibt (vgl. Dialmy 2009: 13). Mittlerweile werden auch Frauen Ehen mit ausländischen Männern zugestanden, jedoch stehen sie zumeist unter größerem Rechtfertigungsdruck, wie in den Interviews mit den Protagonist_innen dieser Studie deutlich wurde.
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Die Transnationalisierung des Nationalstaats Von Seiten des marokkanischen Staats werden binationale Paare nicht mehr grundsätzlich abgelehnt, sondern die Heirat ermöglicht, aber nur unter bestimmten Bedingungen und nach dem erfolgreichen Durchlaufen von Überprüfungen und Befragungen, wie ich in diesem Kapitel aufgezeigt habe. Über diese behördlichen Praktiken und Gesetze im Zusammenhang mit binationalen Eheschließungen – wie der Konversion des_der nicht-marokkanischen Partner_in zum Islam oder einer anderen Schriftreligion, den Befragungen und Überprüfungen der Beziehung und des Sexuallebens der Partner_innen oder der Akt der Eheschließung beim adul – werden bestimmte Bilder und Ideale von Ehe und Familie, aber auch von nationaler Identität und Religion vermittelt und die Paare verpflichtet, sich an diese gesellschaftlichen Normen und Regeln des marokkanischen Staats zu halten. Während binationale Paare lange Zeit als Gefährdung der nationalen Einheit und Unabhängigkeit des marokkanischen Staates gesehen wurden, kann der derzeitige staatliche Umgang mit binationalen Eheschließungen vielmehr als ein Versuch der Stärkung und Stabilisierung des Nationalstaats interpretiert werden. Diese Tendenz passt in das größere Bild einer expansiven Migrations- und Diasporapolitik Marokkos. Der marokkanische Staat bewegt sich dabei zwischen Kontrolle und Umwerben der marokkanischen Bürger_innen, die im Ausland leben (vgl. de Haas 2009). Einerseits bleiben Staatsangehörige, auch wenn sie außerhalb Marokkos leben, nach dem Staatsbürgerschaftsgesetz Untertanen des marokkanischen Königs, es bleibt also eine autoritäre Beziehung bestehen, was sich zum Beispiel in Debatten um das Wahlrecht zeigt. Diese Haltung führte auch lange Zeit zu einer Politik der Bindung an Marokko, zum Beispiel durch die Entsendung von Lehrer_innen in europäische Länder, um die arabische Sprache sowie nationale Ideologien an die dort lebenden Marokkaner_innen zu vermitteln. Gleichzeitig wurden in den 1990er Jahren die Vorteile einer sozialen und wirtschaftlichen Integration der Diaspora im Ausland entdeckt und festgestellt, dass die vorangegangene Bindungspolitik und die Versuche, der Integration im Ausland entgegenzuwirken, vielmehr kontraproduktiv gewesen waren (vgl. ebd.). Marokkanische Migrant_innen werden seitdem als wichtige Akteure für Marokkos Entwicklung gesehen, die – auch ohne eines Tages wieder zurückzukehren – durch ihr Engagement für ihr Herkunftsland wie zum Beispiel in Form von Investitionen und Rücküberweisungen an Familie und Freund_innen oder sogar durch politische Beteiligung in den Zielländern sowohl zur wirtschaftlichen Entwicklung als auch zum positiven Image des marokkanischen Staats beitragen würden (vgl. ebd.). Wie wichtig diese Transnationalisierungsbestrebungen für den marokkanischen Nationalstaat heute sind, zeigt sich auch in der Gründung eines »Ministeriums für Auslandsmarokkaner_innen und Migration« (»Ministère Chargé des Marocains Résidant à L’étranger et des Affaires de la Migration«), das im Jahr 2014 eröffnet wurde. Auf der Homepage heißt es, dass die Dienstleistungen dieses Ministeriums extra umstrukturiert und anders definiert wurden, um auf die Bedürfnisse »unserer Mitbürger_innen im Ausland« – »nos concitoyens à l’étranger« – einzugehen und in der
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Lage zu sein, dementsprechend schnell und effizient handeln zu können. Außerdem stehen auf der Internetseite Informationen zu den Bereichen Kultur, Soziales, Rechtliches, Investitionen, Partner_innen sowie Kompetenzen zur Verfügung (vgl. Royaume du Maroc 2014). Die Anthropologin Ruba Salih betont im Kontext der Migration marokkanischer Frauen nach Europa ebenfalls die Bedeutung der Herkunftsstaaten und ihrer Diasporapolitik durch die Förderung doppelter Staatsbürgerschaft sowie transnationaler Beziehungen (vgl. Salih 2000: 80). Die zunehmende politische, soziale und wirtschaftliche Einbindung von Migrant_innen sei von den Herkunftsstaaten forciert, um diese auch außerhalb der staatlichen Grenzen in die nationale politische Gemeinschaft zu integrieren (vgl. ebd.). Vor diesem Hintergrund einer Diasporapolitik zwischen Umwerben und Kontrolle wird auch das transnationale Verheiraten zu einem Instrument der Stärkung des marokkanischen Staats und seiner Diaspora. Die binationalen Eheschließungen können sowohl zur Migration marokkanischer Staatsbürger_innen führen als auch zur Bindung anderer Staatsangehöriger – nämlich der Ehemänner und Ehefrauen – an Marokko und marokkanisches Recht über die Heiratsurkunde. Diese Heiratspolitiken sind in internationale Beziehungen sowie ökonomische und kulturelle Machtverhältnisse zwischen Nationalstaaten und anderen Kräften eingebunden. Durch die Regulierung binationaler Eheschließungen durch den marokkanischen Staat kann dieser auch mitbestimmen, wer heiraten darf und wer nicht, und damit wer das Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ beantragen kann und wer nicht. Die Eheschließung in Marokko ist die Voraussetzung, um überhaupt über eine Heirat migrieren zu können. Damit hat der marokkanische Staat nicht nur die Möglichkeit Eheschließungen zu verweigern (zum Beispiel, wenn der nicht-marokkanische Mann nicht zum Islam konvertiert oder ihnen Geschlechtsverkehr vor der Eheschließung nachgewiesen wird 31), sondern auch Menschen in Überprüfungen und Befragungen in den in das Verfahren involvierten Institutionen den marokkanisch-nationalstaatlichen Regeln und Normen gemäß wiederum zu disziplinieren. So nimmt der marokkanische Staat auch indirekt Einfluss auf die staatliche Regulierung der Migration. Diese Rolle und Machtposition postkolonialer Staaten wird aus einer eurozentristischen Sichtweise oft übersehen und unsichtbar gemacht und wurde in dieser Arbeit erst durch das tracing und tracking der Akteure der Migration deutlich. Die Politikwissenschaftlerin Nora El Qadim formuliert die postkoloniale Kritik, Akteure des Globalen Südens nicht länger nur als Objekte, sondern als Subjekte von Politiken des Globalen Nordens zu verstehen (vgl. El Qadim 2014). Die Untersuchung von Migrationspolitiken zu dekolonisieren bedeute, auch auf die Handlungsmacht staatlicher Akteure in den sogenannten ›Herkunftsländern‹ zu blicken, wodurch die Aufmerksamkeit auch auf Aushandlungsräume gerichtet werde, in denen staatliche Akteure des Globalen Südens die Dominanz des Globalen Nordens herausforderten (vgl. ebd.: 242). Die Analyse der staatlichen Praxis des Verheiratens in Marokko und 31 Dass dieser Fall eintritt, ist nicht sehr wahrscheinlich, aber in Foren wird davon berichtet, dass es dann zumindest Verzögerungen gibt, quasi Sperrfristen.
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die damit einhergehenden Kontrollen und Regulierungen stellt einen Versuch dar, auf diese Handlungsmacht aufmerksam zu machen und europäische Akteure und Institutionen zu dezentrieren. Ist die Eheschließung unter marokkanischem Recht durchgeführt, muss die Heiratsurkunde wieder vom Gericht sowie dem marokkanischen Außenministerium bestätigt sowie von einer beim Konsulat registrierten Person ins Deutsche übersetzt und im Konsulat legalisiert werden. Dies erfordert wiederum diverse Fahrten in die Hauptstadt Rabat sowie Gebühren wie für die Übersetzung und die Legalisierung. Zusammen mit dem Nachweis von Deutschkenntnissen auf A1‑Niveau kann nun ein Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ beantragt werden. Dort treffen sie auf die nächsten bürokratischen Hürden, weitere Befragungen und Überprüfungen und Sachbearbeiter_innen, die aus einem anderen Rechtssystem und damit einhergehenden Diskursen und Praktiken heraus agieren. Jedoch lassen sich dabei auch viele Parallelen finden, wie im Laufe der Analysen in dieser Studie noch deutlich wird. Naimas Eheschließung verzögerte sich am Ende doch noch einmal um einige Wochen. Ihre Großmutter verstarb, kurz vor dem offiziellen Termin beim adul. Eigentlich müsse man traditionell nach dem Tod eines Angehörigen 40 Tage trauern und dürfe auch keine Hochzeit feiern, erklärt mir Naima. Sie habe aber lange nachgedacht und sich trotzdem dafür entschieden, da es nichts an ihrer Trauer geändert hätte. Außerdem sei ihr Partner bereits angereist gewesen und hätte Schwierigkeiten gehabt, so schnell wieder Urlaub zu bekommen. Also haben sie die Eheschließung beim adul ein paar Tage später trotzdem durchführen lassen. Sie zeigt mir Bilder von dem Ereignis, als wir uns wiedersehen. Es sei ein sehr schöner Tag gewesen. Neben ihrem Mann waren nur ihre Mutter und ihr Bruder anwesend. In ein paar Wochen ist noch eine große Hochzeitsfeier geplant. Das sei immer ihr Traum gewesen. Bevor Naima das Visum beantragen kann, muss sie sich zunächst zum Deutschkurs im Goethe-Institut anmelden und die ›Start Deutsch 1‹-Prüfung ablegen. Ihren Job hat sie dafür gekündigt, weil sie sich auf das Lernen der Sprache konzentrieren möchte. Ihr Partner wird den Kurs finanzieren.
4 Der Sprachnachweis Im folgenden Kapitel stehen die Aushandlungen und Konflikte um den Sprachnachweis als einem weiteren politischen Instrument der staatlichen Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ im Fokus. Ausgehend von der bundesdeutschen Debatte um die Sprachnachweispflicht, die seit 2007 für ›nachziehende Ehegatten‹ aus ›Drittstaaten‹ gilt und vor allem über das Argument der Integration sowie der Bekämpfung von ›Zwangsehen‹ legitimiert wird, bin ich diesem neuen Gesetz nach Marokko gefolgt. Es zeigt sich, dass durch die Einführung der Sprachnachweispflicht ein neuer Markt für die ›Ware Deutsch‹ entstanden ist, an dem eine Vielzahl von Akteuren beteiligt ist und in dem Kräfteverhältnisse einer ethnisierten Hierarchie folgen. Innerhalb des Goethe-Instituts ist das Integrationsparadigma, wie ich danach zeigen werde, omnipräsent und verschränkt sich mit einer vergeschlechtlichten Anrufung der Frauen als ›Hausfrauen‹. In den Privatschulen dagegen verweigern einige Deutschlehrer_innen das Konzept der Integration oder eignen es sich an und deuten es um. Anschließend werde ich darauf eingehen, welche Ein- und Ausschlüsse die Sprachnachweispflicht mit sich bringt, wie eine Nützlichkeitslogik durch den erforderlichen Nachweis von Deutschkenntnissen an Bedeutung gewinnt und wie die Menschen, die das Einreiseverfahren durchlaufen, sich dieses Instrument trotzdem zu eigen machen. Zuletzt werde ich darstellen, wie sich die Externalisierung des Grenzregimes, die durch die Sprachnachweispflicht vonstatten geht, am Prüfungstag schließlich in unterschiedlichen Praktiken und Objekten materialisiert und welche Handlungsspielräume sich dabei sowohl für Prüfungsteilnehmer_innen als auch für Prüfer_innen ergeben.
4.1 D ie konflikthafte L egitimation der S prachnachweispflicht »Beim Ehegattennachzug (zu Deutschen sowie zu in Deutschland lebenden Ausländern) gilt für beide Ehegatten grundsätzlich ein Mindestalter von 18 Jahren. Damit soll der Nachzug sehr junger Frauen und Mädchen, die zwangsverheiratet wurden, verhindert werden. Zudem müssen künftig einfache deutsche Sprachkenntnisse vor der Einreise nachgewiesen werden, um insbesondere den nachziehenden Frauen die Integration in Deutschland zu erleichtern.« (Bundesregierung 2008)
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2007 wurde das »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern«, das 2005 verabschiedet wurde, reformiert. Die zentralen neuen Regelungen für den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ waren die Heraufsetzung des Mindestalters auf 18 Jahre sowie die Pflicht vor der Einreise Sprachkenntnisse auf A1‑Niveau nachzuweisen, um ein Visum beantragen zu können. Mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 und dessen Reformierung 2007 wurde nicht nur Integration gesetzlich verankert, sondern zum ersten Mal Spracherwerb und Integration auch an aufenthaltsrechtliche Bedingungen geknüpft. Der Besuch der ›Integrationskurse‹ in Deutschland war nun an Aufenthaltsstatus und soziale Leistungen gebunden (vgl. zur Nieden 2009: 132), das Bestehen des Deutschtests auf A1‑Niveau im Herkunftsland an die Einreise für ›Drittstaatsangehörige‹, die über den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ ein Visum beantragen. Eine Mitarbeiterin der Zentrale des Goethe-Instituts in München, die an der Entwicklung des Sprachtests für ›nachziehende Ehegatten‹ beteiligt war, sieht in der Einführung der Sprachnachweispflicht den Versuch der Forderung Otto Schilys nachzukommen, Zuwanderung zu begrenzen und zu ordnen, wie aus einem Interview in der Zentrale des Goethe-Instituts im Sommer 2014 hervorging. Darin betont sie, dass sie damals auch gesehen habe, wie viele Menschen jedes Jahr »quasi ungeregelt, ungeordnet« über den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ zuziehen: »Und wir waren ja auch mit den Integrationskursen da ordentlich bei der Sache, dass man das regeln wollte, dass eine ungesteuerte Integration ohne Möglichkeit Sprachkenntnisse zu erwerben zu Ende gehen sollte.« Otto Schily (SPD) hatte bereits 1998, damals in der Funktion des Bundesinnenministers, mit der Aussage »Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten« in einem Interview im Tagesspiegel eine Debatte um die Begrenzung von Einwanderung angestoßen und war maßgeblich an dem Gesetzesentwurf des Zuwanderungsgesetzes von 2005 beteiligt (vgl. Münz 1999). Der ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ gilt dabei als besonders ungeordnet und unkontrolliert sowie eigentlich als unerwünscht – im Vergleich zur Einwanderung von Fachkräften. Bei einer Tagung der Innen- und Justizminister in Brüssel legte Schily 2001 Einspruch ein, als die EU‑Kommission einen Vorschlag für eine Ausweitung des Familienbegriffs im Kontext des ›Familiennachzugs‹ zu Flüchtlingen einbrachte. Er begründete seinen Einwand mit der dadurch einhergehenden Zunahme dieser Einreiseform: »Wir wollen keine Ansprüche schaffen, die uns in unseren Möglichkeiten einschränken, dort Zuwanderung zuzulassen, wo es in unserem Interesse liegt«, sagte Schily (vgl. Vestring 2000). Bis zur Einführung des Zuwanderungsgesetzes von 2005 stand der ›Ehegatten-/ Familiennachzug‹ kaum auf der politischen Agenda der Bundesrepublik. Während im Zuwanderungsgesetz von 2005 die Regelungen des ›Ausländergesetzes‹ von 1990 bezüglich des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ quasi eins zu eins übernommen wurden, richtete sich der Fokus in der Folge zunehmend auf diesen Einreiseweg nach Deutschland. In ihrer Analyse der Politiken des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ von 2005 bis 2010 spricht die Politikwissenschaftlerin Laura Block in diesem Zusammenhang von einem »restrictive turn« (Block 2016: 42), der auch in anderen europäischen
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Staaten sowie in Nordamerika zu beobachten ist (vgl. D’Aoust 2013: 258). Block führt die neue Fokussierung auf diese Migrationsform in der Bundesrepublik auf folgende Entwicklungen zurück: Zum einen wechselte 2005 die Regierungszusammensetzung von Rot-Grün auf Schwarz-Rot, EU‑Richtlinien zur Familienzusammenführung von 2003 wurden implementiert und Integration wurde mit dem Zuwanderungsgesetz zum ersten Mal rechtlich verankert. Gleichzeitig hatten die Niederlande eine solche Sprachnachweispflicht bereits 2005 eingeführt und Frankreich diskutierte zu der Zeit ebenfalls über ein solches Gesetz (vgl. Block 2016: 177). Die Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ stand von Anfang an in der Kritik und wurde von Verbänden und migrantischen Vereinen als diskriminierend eingestuft, da die Regelung nicht für alle ›Drittstaaten‹ gelten sollte, wie die Analyse der Soziologin Birgit zur Nieden zeigt (vgl. zur Nieden 2009: 125). Türkische Verbände planten eine Verfassungsklage gegen das Zuwanderungsgesetz. Bernd Mescovic von der Organisation Pro Asyl äußerte dazu in einem Artikel im Tagesspiegel: »Die Regelungen zum Familiennachzug, wonach etwa Türkinnen deutsche Sprachkenntnisse nachweisen müssen, Japanerinnen aber nicht, verstößt gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes.« (AFP 2007) Staatsbürger_innen aus den USA, Australien, Brasilien, Honduras, Israel, Japan, Kanada, Korea und Neuseeland sind »aufgrund langjähriger und enger Beziehungen« vom Sprachnachweis offiziell befreit, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen hervorgeht. Als Begründung gibt die Bundesregierung in ebendiesem Schreiben an: »Bei den Betroffenen ist die Integration in die deutsche Gesellschaft erfahrungsgemäß meist unproblematisch und Zwangsheiraten stellen in der Regel kein Problem dar.« (Bundesregierung 2014a) Eine Klage als Verein war jedoch damals nicht möglich, da diese nur von Einzelpersonen, also einer_m betroffenen Ehepartner_in, hätte durchgeführt werden können, aber nicht von den Verbänden selbst. Wie bereits bei der Einführung der verpflichtenden ›Integrationskurse‹ 2005 wurde auch mit der Reformierung 2007 der »Zwang Deutsch zu lernen« in Frage gestellt sowie die Verpflichtung Deutsch bereits vor der Einreise lernen zu müssen (vgl. zur Nieden 2009: 125 f.). In den folgenden Jahren kam es jedoch zu Einzelklagen und diese zeigten nach und nach nicht nur auf nationalstaatlicher, sondern sogar auf europäischer Ebene Wirkung. Bereits 2008 hatte ein Paar – er mit deutscher und sie mit türkischer Staatsangehörigkeit – gegen die Sprachnachweispflicht geklagt, da die in der Türkei lebende Frau aufgrund ihres abgelegenen Wohnorts, fehlender Alphabetisierung sowie der zeitlichen Belastung durch die Betreuung ihrer Kinder nicht in der Lage gewesen sei, Deutschkenntnisse auf A1‑Niveau vorzuweisen. Das Bundesverwaltungsgericht entschied im Herbst 2010, dass die Sprachnachweispflicht nicht rechtswidrig sei, sondern vereinbar sowohl mit Artikel 6 des Grundgesetzes zum Schutz der Ehe und Familie als auch mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Achtung des Privat- und Familienlebens und der Richtlinie zur Familienzusammenführung der Europäischen Union (vgl. Bundesverwaltungsgericht 2010). 2012 klagte eine Frau aus Afghanistan. Sie wollte zu ihrem Ehemann mit afghanischer und deutscher Staats-
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angehörigkeit ins Bundesgebiet ziehen. Ihr war es nicht möglich in Afghanistan den Sprachnachweis zu erbringen, da sie ebenfalls nicht alphabetisiert war. Das Bundesverwaltungsgericht entschied, dass es einem »Deutschen«, einer Person mit deutscher Staatsangehörigkeit, nicht zuzumuten sei, seine Ehe im Ausland zu führen. Aus diesem Grund könne eine Ausnahme bei der Sprachprüfung gemacht werden, wenn es dem Partner oder der Partnerin nicht möglich sei, innerhalb eines Jahres im Herkunftsland die Sprache zu erlernen (vgl. Bundesverwaltungsgericht 2012). Ein Jahr später leitete die EU‑Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland mit der Begründung ein, der Sprachtest verstoße gegen die EU‑Richtlinie zur Familienzusammenführung (vgl. Senol 2013). Im Mai 2014 spitzte sich die Kritik weiter zu: Der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshof Paolo Mengozzi stellte in seinem Schlussantrag zur Klage von Naime Dogan, einer türkischen Staatsangehörigen, die in der Türkei wohnhaft war und mit ihrem Ehemann in Deutschland leben wollte, aber ebenfalls nicht alphabetisiert war, einen weiteren Rechtsbruch heraus. In dem Antrag erklärte der Generalanwalt, dass das Erlernen der deutschen Sprache vor der Einreise neben dem Unionsrecht, auch nicht mit dem Assoziierungsabkommen mit der Türkei vereinbar sei (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union 2014a). Am 10. Juli 2014 urteilte der Europäische Gerichtshof schließlich, dass der Sprachnachweis zumindest für Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit, die in Deutschland wohnhaft sind und mit einer Partnerin oder einem Partner aus der Türkei im Bundesgebiet leben wollen, verfassungswidrig sei (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union 2014b). Die regierenden Parteien gingen in die Defensive. Am gleichen Tag erklärte Stephan Mayer, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion: »Wer gegen die Entstehung von Parallelgesellschaften in unserem Land ist, wird in solchen Sprachnachweisen auch weiterhin den Schlüssel zum Integrationserfolg sehen. Kern des Spracherfordernisses vor einem Familiennachzug ist es, Zwangsehen zu verhindern. Nur wer sich in Grundzügen in deutscher Sprache verständigen kann, kann hiergegen Hilfe in Anspruch nehmen. Gerade die Betroffenen, in der Mehrzahl Frauen, sollten selbst ein Interesse daran haben, in ihrer sozialen und sprachlichen Kompetenz gestärkt zu werden, wenn sie hier dauerhaft leben wollen. Insofern ist das Urteil zuallererst aus Sicht der Betroffenen bedauerlich.« (Mayer 2014)
Auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel ging in die Verteidigungshaltung: Dass Sprachkenntnisse eine zentrale Voraussetzung seien, um ein eigenes, selbstständiges Leben führen zu können, das stehe völlig außer Frage, argumentierte sie in Hinblick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (vgl. Bundesregierung 2014b). Im August 2014 beschloss die Bundesregierung schließlich, auch in Zukunft an dem Sprachnachweis festzuhalten, auch wenn es sich um türkische Ehepartner_innen handele. Ausnahmen würden lediglich bei sogenannten ›Härtefällen‹ gemacht. Ein ›Härtefall‹ liege dann vor, wenn es dem Partner oder der Partnerin nicht zumutbar ist, einen Deutschkurs zu besuchen, zum Beispiel aufgrund zu großer räumlicher Entfernung, oder wenn trotz Bemühungen die Prüfung innerhalb eines Jahres nicht bestanden
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wird. Der Sprachnachweis habe sich als »vorgelagerte Integrationsmaßnahme« bewährt, so die Bundesregierung (vgl. Deutsche Presseagentur 2014). Wieder wurde im April 2015 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet, da die Umsetzung des EuGH-Urteils im Fall Dogan für unzureichend gehalten wurde (vgl. Kocaman 2015). Am 9. Juli 2015 schließlich entschied der Europäische Gerichtshof erneut, dass zumindest türkische Staatsbürger_innen von dem Sprachnachweis ausgenommen werden müssen. Seitdem können Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit, die in Deutschland leben, ihre Ehepartner_innen nach Deutschland holen, ohne, dass diese einen Sprachtest bestehen müssen (vgl. Senol/Evangelischer Pressedienst 2015). Die Sprachnachweispflicht ist also keinesfalls von allen Seiten akzeptiert, sondern vielmehr von unterschiedlichen Akteuren umkämpft. Die Konflikte und Auseinandersetzungen verlaufen hier sowohl zwischen Migrant_innen, die hier als Einzelkläger_innen oder organisiert in Vereinen und Verbänden auftreten und nicht-staatlichen Organisationen, die sich für Menschenrechte und gegen Diskriminierung einsetzen wie Pro Asyl oder der Verband binationaler Familien und Partnerschaften (iaf), als auch staatlichen Akteure wie der Bundesregierung und Politiker_innen sowie EU‑Institutionen wie dem EuGH, wobei die Bündnisse und Allianzen hier zu neuen Konstellationen führen, wie besonders im Zusammenhang mit dem Argument der Bekämpfung von Zwangsverheiratungen deutlich wird. Dabei zeigt sich ebenfalls die seit den 1990er Jahren zunehmende Europäisierung der Migrationspolitiken (vgl. Andrijasevic et al. 2005). In diesem Feld handelt die Bundesregierung auch nationalstaatliche Autonomie aus: Trotz der Kritik des Bruchs mit der EU-Richtlinie zur Familienzusammenführung durch die Sprachnachweispflicht, hält die Bundesregierung daran fest, wenn auch mit Einschränkungen und Zugeständnissen, und übt damit weiterhin im Bereich des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ nationalstaatliche Souveränität aus. Wie die Reaktion von Stephan Mayer (CSU) zeigt, argumentieren nicht alle Befürworter_innen der Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ so offensichtlich über das Ziel der Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung, vielmehr werden dabei vor allem zwei Bedrohungsszenarien mobilisiert: Die Gefahr der ›Integrationsverweigerung‹ und die damit einhergehende Entstehung von ›Parallelgesellschaften‹ sowie die Notwendigkeit des Schutzes junger Frauen vor ›Zwangsverheiratung‹. Auch Block kommt in ihren Analysen der politischen Debatten um die Sprachnachweispflicht zu dem Schluss, dass dabei insbesondere Diskurse um ›Zwangsehen‹ sowie um ›Parallelgesellschaften‹ wirkmächtig sind, die stark kulturalisiert werden (vgl. Block 2016: 234 ff.). Im Folgenden werde ich aufzeigen, in welchem politischen Kontext die Einführung der Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ 2007 in Deutschland vonstatten ging, welche Diskurse, Narrationen und Bilder in diesem Zusammenhang neben dem Interesse der ›Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung‹ mobilisiert wurden und welche Akteure an deren Aushandlungen beteiligt sind. Meine Argumentation stütze ich dabei auf empirische Analysen anderer Wissenschaftler_innen,
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Medienberichte, Statements von Politiker_innen, Positionspapiere, Gesetzestexte sowie ein Interview mit einer Mitarbeiterin der Zentrale des Goethe-Instituts, die in leitender Funktion die Einführung der Sprachnachweispflicht miterlebt hat und an der Entwicklung des Sprachtests beteiligt war.
4.1.1 Das Integrationsparadigma und das Prinzip des ›Fördern und Fordern‹ Die Einführung der Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ 2007 – als auch der ›Integrationskurse‹ zwei Jahre zuvor – war von einer Debatte um eine gescheiterte Integration sowie die Entstehung von ›Parallelgesellschaften‹ begleitet. Auch die Mitarbeiterin der Zentrale des Goethe-Instituts erinnert sich, dass es zu dieser Zeit eine verstärkte Diskussion um eine zunehmende »Ghettoisierung« in deutschen Großstädten gab. Besonders im Zusammenhang mit dem ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ wurde und wird nach wie vor die Vorstellung von ›Parallelgesellschaften‹, die durch diese Art des Zuzugs verstärkt würden, immer wieder wirkmächtig (vgl. Block 2016: 240 ff.). So äußerte zum Beispiel Reinhard Grindel von der CDU im Bundestag im April 2007: »Familiennachzug, das war bisher oftmals Umsiedlung in eine Parallelgesellschaft.« (Grindel 2007: 9554) Die Kulturwissenschaftler_innen Sabine Hess und Johannes Moser zeigen in dem Sammelband »no integration?!« auf, wie die Debatte um das neue Zuwanderungsgesetz mit dem Postulat des Scheiterns des Multikulturalismus sowie alarmistischen Bildern und Narrationen der Desintegration und Segregation wie »Parallelwelten«, »Ghettos«, »migrantischer Jugendkriminalität«, »Ehrenmorde« und »Zwangsehen« einherging (vgl. Hess/Moser 2009: 12). Immer wieder kam dabei Heinz Buschkowsky zu Wort, der ehemalige Bürgermeister des Berliner Stadtteils Neukölln, dessen Buch »Neukölln ist überall« (2012) später zum Bestseller wurde. Auch Wolfgang Kaschuba konstatiert 2007 eine veränderte Wahrnehmung von Migrant_innen, wobei diese zunehmend als »Fremde« dargestellt würden, »die unsere Gesellschaften offenbar kulturell wie materiell bedrohen« (Kaschuba 2007: 65). Dabei werde auch immer lauter über migrantische »Parallelgesellschaften« geklagt, »die sich abseits der europäischen Zivilgesellschaften in eigenen sozialen Räumen organisieren« (ebd.). Es ist dieses Bedrohungsszenario einer ›Ghettoisierung‹, das auch im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ mobilisiert wird. Danach blieben Migrant_innen ›unter sich‹ – vor allem wenn diese aus einer ›arabisch-muslimischen‹ Kultur kommen – wobei Räume der Abschottung und kulturellen Differenz entstünden, von denen eine Gefahr für die Mehrheitsgesellschaft ausgehe. Integration wird in diesem Diskurs der Vorstellung von ›Parallelgesellschaften‹ entgegengestellt. Der Begriff der ›Parallelgesellschaft‹ unterstelle eine freiwillige Abschottung, so der Soziologe Stephan Lanz (2009: 107). Auch die Ergebnisse der Studie von Block zeigen deutlich: Mitglieder der sogenannten ›Parallelgesellschaften‹ werden als ›integrationsunwillig‹ und ›integrationsunfähig‹ gesehen. Diese gescheiterte Integration wurde in den von ihr geführten Interviews mit Politiker_innen primär auf fehlende Sprachkenntnisse sowie die
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Bildungsferne der Mitglieder von ›Parallelgesellschaften‹ zurückgeführt. Außerdem zeigen die Aussagen, so Block, dass ›Parallelgesellschaften‹ vor allem im urbanen Raum verortet werden und ihre Interviewpartner_innen Bezüge zu Berlin, vor allem Neukölln, sowie Duisburg-Marxloh herstellten (vgl. Block 2016: 241). Die Sozialwissenschaftler_innen Marianne Pieper und Vassilis Tsianos sehen in dem Diskurs um ›Parallelgesellschaften‹ auch einen Ausdruck der »Spannbreite des Integrationsbegriffs«: Zum einen würden Prozesse der Exklusion und Fragen der sozialen Ungleichheit thematisiert, zum anderen gehe es um die Problematisierung eines Mangels an gemeinsam geteilten Werten und Normen: »Beide Semantiken sind über den Referenzpunkt verknüpft, dass die räumliche Ausgrenzung oder die ›Absonderung‹ einer sozialen Gruppe den Zusammenhalt in der Gesellschaft zerstöre. Auf Dauer dürfe nicht ein bestimmter Teil der Bevölkerung außerhalb der staatlichen Gemeinschaft stehen, da sonst der ›soziale Friede‹ bedroht sei.« (Pieper/Tsianos 2011: 123)
Die Sozialwissenschaftler_innen Alana Lentin und Gavan Titley kommen zu dem Schluss, dass in den Debatten um gescheiterte Integration und die Entstehung von ›Parallelgesellschaften‹ immer wieder Migrant_innen für komplexe soziale Probleme und politisch-ökonomische Krisen verantwortlich gemacht wurden. Die Lösung wurde dabei im neoliberalen Sinne in der individuellen Eigenverantwortung, sich anzupassen und zu integrieren, gefunden (vgl. Lentin/Titley 2011: 3).
Von einer migrantischen Forderung zum Prinzip des ›Fördern und Fordern‹ Im Rahmen dieser Debatten wurde immer wieder in Frage gestellt, ob das Angebot an Integrations- und Sprachkursen genutzt werde, wenn dieses auf Freiwilligkeit beruhe. So sagt zum Beispiel auch eine Mitarbeiterin der Zentrale des Goethe-Instituts zur Einführung der Sprachnachweispflicht 2007: »Und da war ja klar, wenn das nicht verpflichtend wird, dann machen die Leute das nicht. Also dann kam die Formel Fördern und Fordern.« In diesem Kontext wurde zumeist ausgeblendet, dass Integration und Spracherwerb lange Zeit migrantische Forderungen waren, die jedoch über Jahrzehnte keine Beachtung fanden und zu Selbstorganisierungen führten. Die Sozialwissenschaftlerin Birgit zur Nieden merkt an, dass in den heutigen Debatten um ›Integration‹ und deren enge Verknüpfung mit Kenntnissen der deutschen Sprache, »die Spuren der historischen Entwicklungen, Diskussionen und Ereignisse häufig nicht mehr sichtbar« seien (vgl. zur Nieden 2009: 124). Auch wenn der Integrationsbegriff erst 2005 gesetzlich verankert wurde, handelt es sich dabei um eine alte Forderung der Arbeitsmigrant_innen, die während der sogenannten ›Gastarbeiterära‹ in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren in die Bundesrepublik kamen. Diese Gruppen verstanden ›Integration‹ vor allem im Sinne des Rechts auf Teilhabe und Partizipation und entwickelten selbst Praktiken der Selbsteingliederung (vgl. Hess/Moser 2009: 14; Bojadžijev 2008). Sprache war dabei ein wichtiger Bestandteil dieser Forderungen nach Integration und gesellschaftlicher Teilhabe. In der sogenannten ›Gastarbeiterära‹ gab es für die Arbeiter_innen kaum Möglichkeiten die deutsche Sprache zu ler-
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nen und wenn dies der Fall war, dann lediglich das wichtigste Vokabular für die Arbeitsabläufe (vgl. zur Nieden 2009: 127 f.). Von staatlicher Seite ging man davon aus, dass die ›Gastarbeiter‹ das Land ohnehin wieder verlassen würden und deshalb keine Sprachkenntnisse notwendig seien. Zu dieser Zeit wurde bereits von migrantischer Seite sowie teilweise von Betriebsräten und Gewerkschaften gefordert, Sprachunterricht anzubieten, um auch Arbeiter_innen dabei zu unterstützen, ihre eigenen Interessen und Rechte besser durchsetzen zu können. Es waren schließlich insbesondere Wohlfahrtsverbände, Privatleute oder die Migrant_innen selbst, die Deutschkurse organisierten und anboten, wie zur Nieden aufzeigt (vgl. ebd.).32 Bis 2003 vereinte der Sprachverband Deutsch e. V. viele unterschiedliche Träger, die Deutsch als Fremdsprache anboten und vom Ministerium für Arbeit und Sozialordnung finanziell gefördert wurden, um speziell »ausländische Arbeitnehmer« zu unterstützen. Dazu gehörten Volkshochschulen, Sprachschulen, migrantische Vereine, Goethe-Institute, Wohlfahrtsverbände und Beratungsstellen (vgl. ebd.: 130). Zur Nieden schreibt, dass das Interesse an den Sprachkursen sehr hoch war und das Budget des Sprachverbands stetig anstieg (vgl. ebd.: 131). Diese Entwicklung verdeutlicht, dass für den Spracherwerb kein Zwang notwendig war, sondern es sich vielmehr um eine Forderung sowie ein Bedürfnis von Menschen handelte, die nach Deutschland eingewandert waren. Dass diesen Forderungen und Bedürfnissen nach Integration nicht begegnet wurde, ist sicher auch auf die lange ausbleibende Anerkennung Deutschlands als ›Einwanderungsland‹ zurückzuführen (vgl. Götz 2011: 16; Hess/ Moser 2009: 13 ff.). Die politische Inanspruchnahme und Institutionalisierung des Integrationsparadigmas sowie die Verpflichtung zum Spracherwerb im Sinne des 32 Nach dem Anwerbestopp wurden die für diese Initiative eingesetzten staatlichen Mittel nun für die Sprachförderung in Deutschland im Sinne einer zusätzlichen Qualifizierung umgeschichtet. In diesem Rahmen wurde auch der Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e. V. gegründet – »zur Koordinierung der Träger und zur Entwicklung von Programmen für einen sinnvollen, an den Bedürfnissen der ›ausländischen Arbeitnehmer‹ beziehungsweise den Anforderungen der Arbeitssituation ausgerichteten Sprachunterricht« (zur Nieden 2009: 128). Als ab Mitte der 70er Jahre Familien nachgeholt wurden, kamen auch viele Kinder und Jugendliche, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht in Deutsch unterrichtet wurden und deren Eltern oft auch kaum die deutsche Sprache gelernt hatten. Die Recherchen von zur Nieden ergaben, dass es vor allem der Sprachverband Deutsch e. V. war, der damals Sprach- und Ausbildungsprogramme für migrantische Jugendliche im Programm hatte sowie migrantische Selbstorganisationen, die sich um neue Vereine und Schulen bemühten und damit den Bedürfnissen dieser neuen jungen migrantischen Gruppe entgegenzukommen. Gleichzeitig wurden Deutschkenntnisse nun zunehmend ein Kriterium, um einen Arbeitsplatz zu bekommen, während gleichzeitig der Bedarf an ausgebildeten Arbeitskräften wuchs (vgl. zur Nieden 2009: 130). In dieser Zeit gab es bereits erste politische Debatten um die »soziale Integration« der Einwander_innen und wurde auch Thema von Sozialer Arbeit und Pädagogik (vgl. ebd.: 124).
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Prinzips des ›Fördern und Fordern‹ durch das Zuwanderungsgesetz von 2005 und 2007 können jedoch auch als eine Reaktion auf diese Forderungen und Kämpfe gelesen werden, wie zum Beispiel Manuela Bojadžijev in ihrer historischen Studie »Die windige Internationale« (2008) argumentiert. Das neue Prinzip der Integrationspolitik – das ›Fördern und Fordern‹ – wurde Anfang der 2000er Jahre zu einem generelleren Leitmotiv deutscher Sozialpolitik und vor allem im Zusammenhang mit der Hartz‑IV-Reform wirkmächtig, die am 1. Januar 2005, im gleichen Jahr wie das Zuwanderungsgesetz, in Kraft trat (vgl. Lehnert 2009). Auch hier ging es im Sinne des »aktivierenden Sozialstaats« (vgl. Lessenich 2008) zum einen um Hilfe zur Selbsthilfe – also zu fördern – und gleichzeitig um Verpflichtung und Sanktionierung – also zu fordern. Dabei wird den Erwerbslosen – analog zu Migrant_innen – unterstellt, sich nicht zu bemühen und Integration zu verweigern – im Falle ersterer in den Arbeitsmarkt, im Falle letzterer in die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Wie Lehnert betont, wird durch das Prinzip des ›Fördern und Fordern‹ ein bedürftiges, defizitäres – im Falle der Einwanderungsdebatte migrantisches – Subjekt erschaffen, das Fürsorge und Unterstützung durch den Staat braucht und dadurch immer auch stigmatisierende Bevormundung erfährt (vgl. Lehnert 2009: 112). So wurde innerhalb der Debatten um die Sprachnachweispflicht auch oft über die Perspektive der Betroffenen argumentiert, wie zum Beispiel Stephan Mayer (CDU/ CSU): »Gerade die Betroffenen, in der Mehrzahl Frauen, sollten selbst ein Interesse daran haben, in ihrer sozialen und sprachlichen Kompetenz gestärkt zu werden, wenn sie hier dauerhaft leben wollen. Insofern ist das Urteil zuallererst aus Sicht der Betroffenen bedauerlich.« (Mayer 2014) Auch die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte am 8. Juli 2014 kurz nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs und kurz vor der Veröffentlichung der Heiratsmigrationsstudie des BAMF vorab Zahlen aus der Studie (vgl. Büttner/Stichs 2013), die zeigen sollten, dass die Mehrheit der ›nachziehenden Ehegatten‹ dem Test positiv gegenüber stehen würden. Dazu äußerte sich der damalige Präsident des BAMF, Manfred Schmidt, folgendermaßen: »Die Studie zeigt für mich, dass die Kritik an den Sprachtests offensichtlich an den Interessen der Betroffenen vorbeigeht.« (Preuß 2014) Dass dafür nur Menschen befragt wurden, die bereits zugewandert waren und damit den Test bestanden hatten, wurde in dem Artikel nur kurz erwähnt (vgl. Gerber 2014).33 Die Legitimation des Sprachnachweises durch das Eigeninteresse der Betroffenen ermöglicht eine Moralisierung dieses Gesetzes: 33 Die Gespräche, die von mir im Rahmen dieser Studie geführt wurden, zeigen differenziertere Einschätzungen: Auch Personen, die die Prüfung bestehen und keine Schwierigkeiten haben die Sprache zu lernen, kritisierten den Sprachnachweis, zumindest vor der Einreise sowie für die Frauen und Männer, die nicht alphabetisiert sind oder die nicht arbeiten gehen, sondern zuhause bleiben wollen. Am Beispiel des in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Artikels wird zudem deutlich, dass vermeintlich objektive statistische Zahlen je nach Auffassung und Intention unterschiedlichste Interpretationen zulassen.
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Schafft man den Sprachnachweis ab, handelt man nicht im Sinne der Betroffenen und untersagt ihnen Unterstützung und Hilfe. Diese Argumentation trägt zur Erschaffung des bedürftigen, defizitären migrantischen Subjekts bei, das in diesem Kontext zumeist auch noch vergeschlechtlicht subjektiviert wird, nämlich als ›nachziehende Frau‹. So heißt es auf der Seite der Bundesregierung: »um insbesondere den nachziehenden Frauen die Integration in Deutschland zu erleichtern« (Bundesregierung 2008). Integration wird zwar auch als rechtlich-politische Teilhabe von Migrant_innen verstanden, aber vor allem im Sinne der neuen Leitvokabel des ›Fördern und Fordern‹ als soziokulturelle Pflicht von Migrant_innen und Fürsorgeaufgabe des Staates (vgl. Lanz 2009: 105). So heißt es auf der Seite des Bundesministeriums des Innern zum Thema Integration und der Leitlinie des ›Fördern und Fordern‹: »Ziel ist es, alle Menschen, die dauerhaft und rechtmäßig in unserem Land leben, in die Gesellschaft einzubeziehen und ihnen die damit verbundenen Rechte zu gewähren sowie Pflichten aufzuerlegen. Bei der Integration geht es darum, dass wir zusammen leben und nicht nebeneinander her.« (Bundesministerium des Innern 2015)34 Auch der damalige Bundesinnenminister Schäuble argumentierte in einem Interview zur Einführung der Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ am 18. März 2007, dass der ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ nicht zum »Integrationshindernis« werden dürfe (vgl. Schäuble 2007). Er bezog sich dabei insbesondere auf die Türkei als Herkunftsland, das die größte Kategorie des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ darstellt. Dieser Umstand ist auf die deutsch-türkische Migrationsgeschichte sowie die damit einhergehenden engen sozialen Netzwerke, aber auch auf die Kategorisierung als ›visumspflichtiger Drittstaat‹ zurückzuführen. Schäuble sagt in dem Interview, dass jeder Mensch das Recht habe zu heiraten, wen immer er will und »aus welchem Kontinent auch immer«: »Aber wenn in einer so bemerkenswerten Größenordnung nicht Ehepartner, die hier auch aufgewachsen sind – es können ja auch Kinder mit Migrationshintergrund sein – sondern aus dem Heimatland der Eltern oder Großeltern, dann spricht eine Vermutung dafür, die wird auch nicht wirklich von den Vertretern der Verbände widerlegt, dass diese Art von Ehegattenwahl und dieser Teil von Familiennachzug in Wahrheit ein Integrationshindernis ist. Denn dahinter steckt natürlich die Gefahr – und das ist ja das Problem, wir haben größere Integrationsdefizite bei den Migranten der zweiten und dritten Generation als in der ersten Generation. Und wenn wir das beheben wollen, wenn wir die Integrationsdefizite abbauen wollen, müssen wir darauf achten, dass der Ehegattennachzug nicht zum Integrationshin-
34 Das Prinzip des ›Fördern und Fordern‹ und die damit einhergehenden aufenthaltsrechtlichen Sanktionen spiegeln sich auch in der Verlagerung der Zuständigkeiten für ›Sprach- und Integrationskurse‹ zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Anfang der 2000er Jahre wider, das dem Innenministerium unterstellt ist und zuvor ausschließlich für die Überprüfung von Asylanträgen zuständig war (vgl. zur Nieden 2009: 132).
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Diese Aussage von Schäuble reiht sich ein in einen Diskurs um eine ›gescheiterte Integration‹, in dem Migrant_innen als ›defizitär‹ und ›integrationsunwillig‹ markiert werden. Die Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ kann so als »vorgelagerte Integrationsmaßnahme« und dringende Notwendigkeit verhandelt werden: Die Idee im Rahmen des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ ist es sogar, die Menschen bereits bei der Integration zu unterstützen, ihnen »die Integration zu erleichtern« (Bundesregierung 2008), bevor sie überhaupt in Deutschland ankommen. Zur Nieden konstatiert, dass die Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ den Tenor des Zuwanderungsgesetzes von 2005 noch einmal verstärke: »Integration ist eine individuelle Leistung, die von bestimmten Migrantinnen und Migranten zu erbringen ist, bevor ihnen Rechte oder Möglichkeiten, wie zum Beispiel ein sicherer Aufenthaltsstatus, eingeräumt werden.« (zur Nieden 2009: 126) Die Fixierung auf die fehlenden Sprachkenntnisse konstruiere Migrant_innen als »Mängelwesen«, so zur Nieden, »die etwas lernen müssen und eine Bringschuld gegenüber der Gesellschaft hätten« (ebd.: 127). Im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ wird davon ausgegangen, dass diese Migrationsform grundsätzlich auf Dauer angelegt ist (vgl. Block 2016: 241). Während für Migrant_innen, die für eine Ausbildung, das Studium oder für eine Erwerbstätigkeit nach Deutschland einreisen, angenommen wird, dass diese aufgrund ihrer Tätigkeit bereits »in die öffentliche Sphäre integriert« seien, werden die Beweggründe von ›nachziehenden Ehegatten‹ als privat angesehen und daraus gefolgert, dass bei dieser Gruppe »spezifische Integrationsschwierigkeiten« vorzufinden seien, wie aus der sogenannten »Heiratsmigrationsstudie« des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge hervorgeht (vgl. Büttner/Stichs 2013: 4). Die Defizitunterstellung ist in Zusammenhang mit dem ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ also besonders wirkmächtig.
Kulturalisierung und Vergeschlechtlichung des Integrationsdiskurses Durch die wiederholte Bezugnahme auf den türkischen beziehungsweise muslimischen Kontext findet dabei auch eine Kulturalisierung des Diskurses um den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ als ›Integrationshindernis‹ statt (vgl. Block 2016: 252). Betroffen sind nicht alle Einwander_innen, sondern eine bestimmte Gruppe mit einem spezifischen kulturellen Hintergrund, der als ›different‹ zur ›deutschen‹ beziehungsweise ›westlichen‹ Kultur gesehen wird. Sowohl in Statements von Politiker_innen wie Wolfgang Schäuble (CDU) oder Stephan Mayer (CSU), Frauenrechtler_innen wie Seyran Ateş35 als auch von Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts werden zumeist entweder die Türkei oder die Maghreb-Staaten als Beispiele für die Problematisierung des Nachzugs von ›Ehegatten‹ herangezogen. Die Türkei ist quantitativ tatsächlich das Land mit dem größten Nachzug. An nächster Stelle stehende Länder wie Russ35 Siehe zu konkreten Aussagen von Seyran Ateş Kapitel 4.1.2.
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land, Indien, Kosovo oder Thailand 36 (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2015) werden hingegen selten als Beispiele für eine misslungene Integration benannt. Hier greifen nach wie vor orientalistische Vorstellungen der dichotomen Entgegensetzung von ›Okzident‹ und ›Orient‹ (vgl. Said 1977),37 die mittlerweile in den ›Westen‹ und den ›Rest‹ (vgl. Hall 1994) oder auch spätestens seit 9/11 in den ›Westen‹ und den ›Islam‹ als das differente ›Andere‹ übersetzt wurden. Die Historikerin Yasemin Shooman folgert, dass »[w]ährend sich orientalistische Diskurse an einem externen Anderen abarbeiten, fokussiert der aktuelle antimuslimische Rassismus jedoch das Andere im Inneren der heutigen europäischen Migrationsgesellschaften« (Shooman 2012: 54). Die Diskussion um das Scheitern der Integration und der Entstehung von ›Parallelgesellschaften‹ war schon lange mit einem anti-muslimischen Rassismus verknüpft, sodass das Beispiel der Einwanderung aus der Türkei oder den Maghreb-Staaten in dieses Bild der ›arabisch-muslimischen Ghettos‹, wie das von Buschkowsky beschriebene Neukölln oder alarmierende Berichte aus anderen Großstädten passt, und auch anschlussfähig an die Debatten um Überfremdung und Islamisierung ist (vgl. Shooman 2012: 57). Lentin und Titley zeigen in ihren Analysen, dass sich spätestens seit den Anschlägen des 11. September 2001 und dem folgenden war on terror Politiker_innen und Medienmacher_innen zunehmend auf die »Krise des Multikulturalismus« und die unüberwindbare Differenz zwischen Kulturen beziehen, um politische Initiativen im Zusammenhang mit Integration, Sicherheit und Einwanderung zu rechtfertigen (vgl. Lentin/Titley 2011: 2). Diese Verknüpfung von Integrationsverweigerung und Islam sowie die damit einhergehende Kulturalisierung der Debatten um den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ werden in dem zitierten Interview mit Wolfgang Schäuble im Deutschlandfunk noch einmal deutlich, in dem es nicht nur um die Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ ging, sondern auch um die Bedrohung durch internationalen Terrorismus und den Dialog mit der muslimischen Gemeinschaft. Er betont dabei, dass sich die Muslime an die Regeln halten sollten, »wie wir hier in Deutschland und Europa leben«. Dazu gehörten »pluralistische Diskussionen, auch streitige Diskussionen, also 36 Auch Frauen aus Thailand und ehemaligen sowjetischen Staaten, die Männer aus Deutschland heiraten, werden viktimisiert. Hier wird ein Diskurs um ›Katalogbräute‹ wirkmächtig, wobei die Ehemänner stereotyp als ›unattraktiv‹ gesehen werden und davon ausgegangen wird, dass diese in Deutschland keine Frau gefunden hätten. Die Frauen werden primär als ›Opfer‹ eines Abhängigkeitsverhältnisses zum Mann gesehen (vgl. Block 2016: 236). Dieser Opfer-Täter-Diskurs wurde von Migrationsforscherinnen immer wieder kritisiert und empirisch widerlegt beziehungsweise ausdifferenziert (vgl. Constable 2004; Lauser 2004; Ruenkaew 2003). 37 Den Begriff des Orientalismus hat Edward Said in seinem Werk Orientalism (1977) geprägt und bezeichnet die jahrhundertelange Wissensproduktion über den ›Orient‹, wobei die Menschen des ›Orient‹ als die Anderen, als ein Gegenbild zu den Europäer_innen erschaffen wurden und damit die Überlegenheit letzterer institutionalisiert wurde (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 32).
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öffentliche Kommunikation. Das ist Demokratie«, so Schäuble (2007). Demokratie und Pluralismus werden als ›westliche‹ Werte markiert, genauso wie Gleichberechtigung und Emanzipation von Frauen, wie Schäuble anschließend im Zusammenhang mit dem ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ noch einmal betont: Die Sprachkenntnisse vor der Einreise seien auch deswegen »richtig«, »weil die Chancen insbesondere von Frauen, die aus Anatolien hier her kommen durch den Ehegattennachzug, hier sich zu integrieren und damit die Chance für die Kinder, die sie vielleicht in Zukunft hier bekommen, viel schlechter sind, wenn sie überhaupt kein Deutsch können« (Schäuble 2007). Wenn sie schon ein Mindestmaß an Deutschkenntnissen nach Deutschland mitbringen würden, sei »die Chance, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau, wie sie in Deutschland selbstverständlich ist, auch gelebt wird viel größer als ohne ein solches Mindestmaß an Deutschkenntnissen« (ebd.). In diesem Zitat wird deutlich, dass die Kontroverse um den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ und das Scheitern der Integration auf zwei Ebenen stark vergeschlechtlicht wird: Zum einen werden die ›nachziehenden‹ Frauen als Opfer patriarchaler Verhältnisse gesehen und dabei auch die Unterdrückung der Frau und Geschlechterungleichheit kulturalisiert und als Problematik der ›Anderen‹ dargestellt, wie das Zitat von Schäuble, aber auch Aussagen anderer Politiker_innen sehr deutlich machen (vgl. Block 2016: 236 ff.). Dieser vergeschlechtlichte Diskurs verstärkt sich in der Diskussion um ›Zwangsehen‹, auf die ich im Folgenden detaillierter eingehen werde. Zum anderen werden die ›nachziehenden‹ Frauen als besondere Bedrohung für das Scheitern der Integration, quasi als ›dreifache Integrationsverweigerinnen‹ gesehen, weil sie sich nicht nur – wie die Männer – in ihrer ethnokulturellen Gemeinschaft abschotten, sondern ebenso innerhalb von Haus und Familie, und diese Haltung schließlich auch an ihre Kinder weitergeben. Beispielhaft sei hier eine weitere Aussage der Mitarbeiterin der Zentrale des Goethe-Instituts genannt: »Dass ein junger Türke, der in Deutschland geboren ist, aber seine Frau aus Ostanatolien holt, dass die dann mit Null Kulturkenntnissen, mit Null Sprachkenntnissen hier herkommen, ihre Kinder natürlich weiter in Türkisch erzieht, die Kinder dann erst in der Grundschule mit Deutsch in Kontakt kommen und von da an eigentlich schon benachteiligt sind.« Diese Vorstellung der Weitergabe der Nicht-Integration an die Kinder durch fehlende Sprach- und Kulturkenntnisse ist in diesen Debatten um ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ wirkmächtig. In Zeiten des Hypes um mehrsprachige Kindererziehung und der neoliberalen Verwertung von Multilingualität wird die Erziehung der Kinder in einer Fremdsprache hier als Gefahr für die Integration wahrgenommen. Die positive Wertung des mehrsprachigen Aufwachsens von Kindern scheint nur für bestimmte Gruppen von Migrant_innen zu gelten. Genauso wie Integration nicht von Menschen jeder Herkunft eingefordert wird, werden manche Sprachen stärker akzeptiert als andere und somit auch nur bestimmte ethnisierte Gruppen angehalten beziehungsweise ›gezwungen‹ die Sprache Deutsch zu lernen. Die ›Wertigkeit‹ von Sprachen folgt dabei einer postkolonialen Ordnung sowie einer Verwertungslogik: Während die Beherrschung und Verwendung europäischer Sprachen wie Englisch, Französisch oder
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Spanisch im europäischen Kontext als Zeichen für Kosmopolitismus angesehen und deren Sprecher_innen bei fehlenden Deutschkenntnissen mit »Bildungs-Samthandschuhen« (Valentino 2016) angefasst werden, symbolisieren Sprachen wie Arabisch oder Türkisch Abschottung und ›gescheiterte Integration‹. Der Soziologe Rodolfo Valentino bezeichnet diese Hierarchisierung auch als Sprachrassismus (Valentino 2016). Die CSU trieb diese Logik im Dezember 2014 auf die Spitze, als in einem Leitantragsentwurf zum Parteitag gefordert wurde: »Wer dauerhaft hier leben will, soll dazu angehalten werden, im öffentlichen Raum und in der Familie deutsch zu sprechen.« (Schmidt 2014) Sprache wird in diesem Zusammenhang auch zu einem wichtigen Marker für die ›kulturelle‹ Integration. Diese Vorstellung beruht auf der Konstruktion der »deutschen Nation als Sprach- und Kulturgemeinschaft« (Götz 2011: 119). Die Vorstellung einer nationalen Einheit von Volk, Sprache, Kultur und Geschichte bildet seit dem 19. Jahrhundert das Fundament ›deutscher Identität‹ (vgl. ebd.). Zu dieser Zeit waren unterschiedliche Akteure damit beschäftigt, ein »nationales Erbe« zu finden und zu erfinden, so die Europäische Ethnologin Irene Götz. Sprache galt »in der Tradition Humboldts, Herders oder auch Jacob Grimms als das dem jeweiligen Volk ureigenste Mittel, das die Wirklichkeit nicht nur repräsentiert, sondern die Wahrnehmung derselben vorstrukturiert« (vgl. ebd.: 122). Besonders während des Nationalsozialismus wurde die Bedeutung der Sprache als vereinendes Merkmal einer Nation und damit eines »Volks« als Legitimation für politische Aktionen herangezogen. Götz betont, dass sich in gewisser Weise die Vorstellung, nach der primär die »Muttersprache« die Volkszugehörigkeit ausmacht, bis heute im Alltagswissen erhalten habe (vgl. Götz 2011: 123). Deutsch zu lernen wird demnach als zentraler Bestandteil der Integration angesehen, während die Weitergabe der Muttersprache an die Kinder als ›Integrationshindernis‹ gilt, besonders im Zusammenhang mit Frauen aus einem ›muslimischen Kontext‹. Die Soziologinnen Christine Huth-Hildebrandt und Helma Lutz weisen darauf hin, dass in Diskussionen um Kulturdifferenzen es gerade der private Raum sei, der als »Zelle der Kultur der ›Anderen‹« gelte – jener Bereich also, in dem sich die Familie aufhält und der in der vergeschlechtlichten Bipolarität ›öffentlich‹ versus ›privat‹ den Frauen zugeschrieben wird (vgl. Huth-Hildebrandt/Lutz 1998: 162). Dass hier vor allem die ›nachziehenden Frauen‹ als verstärkte Gefahr für das Scheitern der Integration gesehen werden – obwohl auch 30 Prozent der Menschen, die über diesen Weg nach Deutschland kommen, Männer sind – ist auf die Vorstellung der Rolle der Frau als Trägerin und Vermittlerin der nationalen sowie ethnokulturellen Gemeinschaft und Identität zurückzuführen. Die Soziologinnen Floya Anthias und Nira Yuval-Davis zeigen in ihrem Sammelband »Woman – Nation – State«, wie sich einerseits die unterschiedlichen Rollen der Frauen in den Beziehungen zwischen Gemeinschaften und dem Staat und gleichzeitig die Beziehungen zwischen Gemeinschaften und dem Staat entlang der Rollen der Frauen konstituieren (vgl. Anthias/Yuval-Davis 1989: 1). Im Zusammenhang mit der Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ und der Konstruktion der Migrantinnen als ›besondere
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Gefahr‹ für die Integration werden folgende von den Autorinnen herausgearbeiteten Rollenvorstellungen wirkmächtig beziehungsweise indirekt problematisiert: erstens ihre Aufgabe der biologischen Reproduktion und damit dem Erhalt einer Gemeinschaft im Sinne von Nachwuchs; zweitens ihre Rolle als Bewahrerinnen der Grenzziehungen ethnischer/nationaler Gruppen durch ›intraethnische› Eheschließungen; und drittens die Weitergabe der ›Identität‹ in der Erziehung an ihre Kinder (vgl. ebd.: 8 ff.). Diese Rollenvorstellungen erklären, warum Migrantinnen quasi als ›dreifache Integrationsverweigerinnen‹ gesehen werden, die nicht nur sich selbst in ihrer Gemeinschaft sowie im Haus abschotten, sondern auch ihre Kinder. Auch die Kulturanthropologin Ramona Lenz hat am Beispiel Zyperns aufgezeigt, wie gerade Migrantinnen in ihrer Rolle als Trägerinnen und Bewahrerinnen von ethnischer und nationaler Identität von griechisch-zypriotischen Nationalist_innen als Gefahr für das nationale Projekt, als »silent invasion« konstruiert werden (vgl. Hess/Lenz 2001a: 155 f.). Die Vorstellung der Rolle der Migrantin als Mutter und Vermittlerin wird jedoch auch im positiven Sinne gedeutet und macht sie zu einer wichtigen Zielscheibe für Integrationspolitik: Denn die Frau kann, wenn sie denn integriert ist, auch zur Multiplikatorin werden. Huth-Hildebrandt und Lutz zeigen, wie es bereits in den 1970er Jahren in der Migrationsforschung eine Diskussion um eine »doppelte Isolation« migrantischer Frauen gab – aufgrund der ablehnenden Haltung des ›fremden‹ Umfelds sowie der Unterdrückung durch den Ehemann –, während sie in den 1980er Jahren zur »Adressatin einer staatlichen, auf Modernisierung der Migrantenfamilien ausgerichteten Integrationspolitik« wurde (Huth-Hildebrandt/Lutz 1998: 166 f.). Im Nationalen Integrationsplan von 2007 ist auch von Migrantinnen als »zentrale Stützen und Motoren für eine aktive Integrationspolitik« die Rede. Mit der Mutterrolle komme ihnen »eine Schlüsselstellung für die Integration der nächsten Generation« zu (Bundesregierung 2007: 18). Um migrantische Frauen für die eigens definierte Integrationspolitik zu gewinnen und regierbar zu machen, müssen sie jedoch erst als ›Gefahr‹ und sich verweigernde Subjekte erschaffen werden. Und so überwiegt in den Debatten zur Sprachnachweispflicht im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ die Vorstellung der ›dreifachen Integrationsverweigerin‹ einerseits, sowie des Opfers patriarchaler Verhältnisse andererseits. Letztere verschärft sich noch einmal durch die Verknüpfung mit einem Diskurs um die Bekämpfung von ›Zwangsverheiratungen‹.
4.1.2 Die Problematisierung von ›Zwangsehen‹ und das Frauenschutzargument Für Feministinnen habe die Integrationsdebatte eine doppelte Überraschung mit sich gebracht, so die Sozialwissenschaftlerin Esra Erdem. Zum einen sei Gleichberechtigung plötzlich als »grundlegender Wert der deutschen Gesellschaft« verhandelt worden, zum anderen entstand ein großes politisches Interesse für die Situation von Migrantinnen, ein Feld, dass trotz langjährigem Engagement in der Praxis auf parteipolitischer Ebene lange Zeit keine Beachtung gefunden habe (vgl. Erdem 2009:
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188). Es war der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU), der als einer der Ersten 2005 die Heraufsetzung des Mindestalters – in seiner Forderung auf 21 Jahre – und die Einführung der Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ auf die politische Agenda setzte, um ›Zwangsehen‹ zu verhindern. Schünemann sagte dazu: »Gerade Frauen bleiben auch wegen der mangelnden Sprachkenntnisse fast ausschließlich in ihrer Familie und haben keinen Kontakt zu Deutschen. Wenn aber das Nachzugsalter heraufgesetzt wird und Deutschkenntnisse vorhanden sich [sic!], können die Frauen besser am Alltagsleben in Deutschland teilnehmen. Dadurch können wir verhindern, dass Parallelgesellschaften entstehen.« (Averesch 2005)
Der Vorschlag wurde bei der Innenministerkonferenz im Juni 2005 aufgenommen und beschlossen. Der Verband binationaler Partnerschaften und Familien (iaf), sowie die Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen Niedersachsen und andere Akteure stellten in Frage, ob das Ziel ›Zwangsehen‹ zu verhindern tatsächlich durch die vorgeschlagenen Maßnahmen erreicht werden könnte. Der Verband binationaler Familien und Partnerschaften (iaf) stufte den Einsatz deutscher Innenminister für die »Emanzipation ausländischer Frauen« als »wenig glaubhaft« ein, wie auch die vorgelegten Zahlen, und vermutete dahinter vielmehr das Interesse restriktivere Einreisebestimmungen durchzusetzen (vgl. Spohn/Stöcker-Zafari 2005). Die migrationspolitische Sprecherin der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen Niedersachsen Georgia Langhans kritisierte, dass »eine deutliche Diskrepanz zwischen den konservativ-liberalen Ankündigungen und dem, was tatsächlich für die Opfer getan wird«, bestehe (Langhans 2005). Auch Terre des femmes setzte sich für Proteste gegen die geplanten Änderungen im Zuwanderungsgesetz ein. Die Organisation hatte bereits seit längerem auf die entstehenden Zwangs- und Abhängigkeitsverhältnisse für nicht-deutsche Frauen in einer Ehe mit einem Mann mit deutscher Staatsbürgerschaft hingewiesen, die jedoch vor allem durch aufenthaltsrechtliche Bestimmungen entstünden, wodurch sich Machtasymmetrien verstärkten (vgl. Terre des femmes 2007). Lösungsansätze für diese Problematik werden nicht in der Einführung einer Sprachnachweispflicht gesehen, sondern vielmehr in der Herabsetzung der Ehebestandszeit, einer Verlängerung des Rückkehrrechts für Frauen sowie der Ausweitung des Angebots von Beratungsstellen und Frauenhäusern (vgl. ebd.). Doch es waren nicht die Stimmen kritischer Verbände und Organisationen, die in einem vom Bundesministerium des Innern (BMI) 2006 veröffentlichten Evaluierungsbericht des Zuwanderungsgesetzes berücksichtigt wurden. Zwar wurde auch der Verband binationaler Partnerschaften und Familien (iaf) zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ in einem Praktiker-Erfahrungsaustausch angehört, jedoch wurde den Empfehlungen der beiden anderen in diesem Rahmen befragten Institutionen – der Ausländerbehörde sowie dem Auswärtigen Amt – am Ende wohl mehr Gewicht eingeräumt (Bundesministerium des Innern 2006). So heißt es in dem Evaluierungsbericht:
Der Sprachnachweis | 145 »Die bisher in der Diskussion zur Bekämpfung von Zwangsehen vorgeschlagenen Regelungen greifen erst, wenn die Zwangssituation und damit eine massive Menschenrechtsverletzung bereits eingetreten ist. Das Bundesministerium des Innern favorisiert daher ein präventives Konzept zur Bekämpfung von Zwangsehen, wie es mit der Einführung eines Mindestalters von 21 Jahren und dem Nachweis einfacher Deutschkenntnisse verfolgt wird.« (Bundesministerium des Inneren 2006)
Auch das Thema ›Scheinehe‹ kam in diesem Zusammenhang auf die Agenda und es wurde festgehalten, dass hier ebenfalls »gesetzgeberischer Handlungsbedarf« bestünde – in Form einer Heraufsetzung der Ehebestandszeit (vgl. Bundesministerium des Innern 2006: 111), also entgegengesetzt zu den Forderungen von Verbänden und Organisationen, die sich für die Situation migrantischer Frauen einsetzen. Unter diesen Umständen wurde 2007 das Zuwanderungsgesetz reformiert und damit die Sprachnachweispflicht sowie ein Mindestalter von 18 Jahren eingeführt, was mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 28. August 2007 wirksam wurde. Obwohl der Zusammenhang zwischen der Sprachnachweispflicht und der Verhinderung von ›Zwangsehen‹ bis heute nicht belegbar ist (vgl. Dağdelen et al. 2011: 2), wird das Argument der Bekämpfung von ›Zwangsehen‹ in diesem Kontext immer wieder angeführt und damit die Sprachnachweispflicht als ›Frauenschutz‹ ausgegeben – sowohl von Frauenrechtlerinnen als auch von konservativen Politikern, die hier in neuen »ungewohnte[n] Arbeitsbündnissen« (Hess 2013: 185) an einem Strang ziehen. Besonders präsent in diesem Diskurs ist die Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ateş.38 In einem Interview am 7. Juli 2014 in der Süddeutschen Zeitung zur Sprachnachweispflicht, die von Anfang an, aber gerade in den Jahren 2014/15 zunehmend in der Kritik stand, sagt sie: »Der Wille von Zwangsverheirateten ist ja schon in ihrer Heimat übergangen worden. Umso wichtiger ist es, dass sie in einer fremden Umgebung mit einer fremden Sprache Möglichkeiten bekommen, sich zu wehren. […] Erst wenn sie eigenständig sprechen, können sie Hilfe in Anspruch nehmen.« (Ateş 2014) Sie betont außerdem, dass sie sich bei ihren Aussagen insbesondere auf das türkische Milieu beziehe. Auch Block kommt in ihren Analysen zu dem Schluss, dass der Schutz weiblicher Opfer eine zentrale Rahmung der Debatte um die 38 Ich hebe hier besonders die Aussagen von Seyran Ateş hervor, da ihr – genauso wie Necla Kelek – in der Debatte um Integration eine besondere Glaubhaftigkeit und Expertise aufgrund ihres türkisch-migrantischen Hintergrunds zugeschrieben wird beziehungsweise Frauen wie sie sich auch selbst ihre »politische Autorität« über die »Authentizität« ihrer autobiografischen Darstellungen ableiten, was aus einer Kritik an der feministischen Standpunkttheorie heraus zu hinterfragen wäre (vgl. Erdem 2009: 193). Auch waren diese beiden Akteurinnen in diesen Debatten als migrantische Frauenrechtlerinnen am Sichtbarsten im medialen Diskurs. Das »Wahrheitsregime«, das hier produktiv wird, hat nicht nur »die Macht, Stimmen zum Verstummen zu bringen«, sondern auch »migrantische Stimmen zu authentifizieren, ihre Reichweite millionenfach zu erhöhen und ihnen Glaubwürdigkeit und Autorität zu verleihen« (Ha 2009: 63 f.).
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Sprachnachweispflicht darstellt (vgl. Block 2016: 236 ff.). In dieser Vorstellung werde die Unterdrückung der Frau vor allem in muslimischen Familien verortet und dort von Verwandten und zukünftigen Ehemännern ausgeübt, indem besonders junge Frauen (aus dem Herkunftsland) aufgrund der in ihrer Kultur vorherrschenden patriarchalen Geschlechternormen zu Heiraten gezwungen würden. Außerdem zeigen die Aussagen von Politiker_innen, dass ›Zwangsverheiratungen‹ sowohl als Symptom für eine scheiternde oder gescheiterte Integration gesehen werden, als auch als eine Praxis, welche Integration hemmt: »[I]n other words, it is viewed as both a cause and an effect of integration deficits.« (Block 2016: 236) Das Thema ›Zwangsehe‹ ist ebenfalls mit Diskussionen um die erreichten Grenzen der Belastbarkeit, das Scheitern des Multikulturalismus sowie der Integration bestimmter Gruppen von Migrant_innen, die als muslimisch verortet werden, verbunden und gewann in den späten 1990er Jahren sowie nach 9/11 im öffentlichen Diskurs besonders an Bedeutung (vgl. Block 2016: 72; Razack 2004).39 Im bundesdeutschen Kontext trug zum Beispiel die Soziologin Necla Kelek40 2005 mit ihrem Bestseller »Die fremde Braut« zur Festigung dieser stereotypen und viktimisierenden Vorstellung weiblicher Migration bei, obwohl sie unter anderem aufgrund der nicht nachvollziehbaren Datengrundlage ihrer Studie stark in der Kritik stand (vgl. Beck-Gernsheim 2004: 76 ff.). Patriarchat und Geschlechterungleichheit werden dabei kulturalisiert und dem ›muslimischen Anderen‹ zugeschrieben, während Gleichberechtigung und Emanzipation als ›westliche‹ Werte und Errungenschaften gelten. Durch die Thematisierung von ›Zwangsehen‹ innerhalb der Debatten um die Sprachnachweispflicht entsteht das machtvolle Argument der Ermächtigung und Befreiung der ›unterdrückten muslimischen Frau‹ durch das Erlernen der Sprache. Dabei wird auf die unangetastete Logik der Förderung von Handlungsfähigkeit durch Spracherwerb zurückgegriffen (vgl. Salgado 2014: 9), hier im Sinne der Befähigung der ›zwangsverheirateten‹ Frau, sich aus ihrer Ehe zu befreien. Nikita Dhawan und María do Mar Castro Varela weisen darauf hin, dass der Diskurs der Emanzipation und Befreiung der Frau überhaupt erst das Subjekt erschaffe, das befreit werden soll (vgl. Castro Varela/Dhawan 2004). Diese Rhetorik des Schutzes und der Befreiung der ›anderen Frau‹ hat eine lange Geschichte und wurde bereits in der Kolonialzeit genutzt, um Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren. »[W]eiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern«, spitzte die indische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak (1988: 93) diesen Mechanismus zu. Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 verschränkte sich diese Form des Frauenschutzes mit einer 39 Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim zeigt in ihrem Buch »Wir und die Anderen« ausführlich auf, wie das Bild der Migrantin als Opfer Anfang der 2000er in bundesdeutschen Debatten zunehmend mit dem Islam verknüpft wurde und muslimische Frauen als Opfer von ›Ehrenmord‹, ›Zwangsheirat‹ und ›Unterdrückung‹ stilisiert wurden (vgl. Beck-Gernsheim 2004: 74 ff.). 40 Necla Kelek trat auch immer wieder als Unterstützerin von Thilo Sarrazin auf (vgl. Kelek 2009).
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anti-muslimischen Haltung und die ›muslimische Frau‹ rückt seither als besonders schützenswertes Subjekt in den Fokus (vgl. Razack 2004: 129; Abu-Lughod 2002).41 Die Thematisierung der Kategorie Gender im Sinne einer Repräsentation migrierender Frauen als Opfer und der Forderung nach deren Schutz, um restriktive (Migrations‑) Politiken zu legitimieren, ist kein Phänomen, das lediglich im Kontext der staatlichen Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ zu beobachten ist. Auch im Zusammenhang mit Anti-Trafficking-Politiken im europäischen Grenzregime werden weibliche Vulnerabilität und das Argument des ›Frauenschutzes‹ für die Legitimation restriktiver Maßnahmen genutzt (vgl. Anderson/Andrijasevic 2009; Ginal/Bahl 2012; Hess 2013). Hess zeigt in ihrer ethnographischen Arbeit zur Wirkmächtigkeit eines Anti-Trafficking-Dispositivs im europäischen Grenzregime auf, wie ein »als Opferschutz codierte[s] Maßnahmenbündel den migrantischen Frauen-Körper zur zentralen Zielscheibe diverser hochtechnologisierter und vernetzter Wissenspraktiken des Migrations- und Grenzregimes bis hinunter zur lokal agierenden NGO macht« und sich dabei gegen das Leben von Frauen in der europäischen Peripherie richtet (Hess 2013: 195 f.). Die diskursive Wirkung des Anti-Trafficking-Dispositivs bestehe in restriktiveren Migrationskontrollen, einer Selektionspolitik und einer damit einhergehenden Kriminalisierung und Entrechtung irregulärer Migrantinnen (vgl. ebd.: 196). Der viktimisierende Diskurs um den Schutz ›zwangsverheirateter Frauen‹ und die damit einhergehenden restriktiven Migrationspolitiken stehen in Kontinuität mit anderen vergeschlechtlichten Regierungsfeldern des europäischen Grenzregimes.42
41 Diese Rhetorik wurde sogar für die Legitimation militärischer Einsätze wie in Afghanistan herangezogen, wie die Anthropologin Lila Abu-Loghud in ihrem Text »Do Muslim Women Really Need Saving?« herausarbeitet (Abu-Lughod 2002). Doch bereits in den 70er Jahren, als viele türkische Frauen nach dem Anwerbestopp zu ihren Männern in die Bundesrepublik zogen, existierte das Bild der muslimischen Frau als Opfer ihrer Kultur, des Islams sowie der damit einhergehenden patriarchalen Verhältnisse, in denen die Frau nicht arbeiten darf. Die Sozialwissenschaftlerin Mirjana Morokvaśic argumentiert, dass durch diese viktimisierende Vorstellung die prekäre Beschäftigung von migrantischen Frauen legitimiert werden konnte, da Arbeit selbst unter ausbeuterischen Bedingungen als Befreiung der Frauen aus unterdrückenden Verhältnissen konstruiert werden konnte – quasi als eine »Wohltat der modernen Gesellschaft«, wie es Morokvaśic ausdrückt (1984: 889). Auch Miriam Ticktin zeigt in ihrem Artikel »Sexual Violence as the Language of Border Control«, wie ein Diskurs um sexuelle Gewalt gegen Frauen ethnisiert wird und über eine anti-muslimische Rhetorik dem französischen Staat ermöglicht, bestimmten Staatsbürger_innen gleiche Rechte zu verweigern (vgl. Ticktin 2008). 42 Auch das ›Ereignis Köln‹ (Dietze 2016) folgt einer ähnlichen Logik, in diesem Fall als Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt gegenüber deutschen Frauen: Über die Ethnisierung von Sexismus, was Gabriele Dietze auch als Ethnosexismus bezeichnet, und die Konstruktion des ›gefährlichen migrantischen Mannes‹ aus Nordafrika, vor dem die Frau, in diesem Fall die weiße Frau, geschützt werden muss, wurden restriktive Maßnah-
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Die Tendenz des Aufgreifens feministischer Argumente wie die des Schutzes von Frauen und anderer vulnerabler Körper in der Durchsetzung restriktiver Migrationspolitiken – ob in Form von Maßnahmen gegen ›Frauenhandel‹ oder gegen ›Zwangsverheiratungen‹ – ist Teil einer neuen Praxis des Regierens im europäischen Grenzregime, die Hess auch als »Vermenschenrechtlichung des Grenzregimes« (Hess 2013: 194) und William Walters als »the Birth of the Humanitarian border« (Walters 2011) bezeichnen. Sich auf die Logik des humanitären Diskurses einzulassen, bedeute dabei auch immer, einen viktimisierenden Politikansatz zu wählen und Migrant_innen zu ›Opfern‹ zu machen (vgl. Hess 2013: 194 f.). Didier Fassin folgend bedeutet humanitaristisches Regieren: »Humanitarian government can be defined as the administration of human collectivities in the name of a higher moral principle that sees the preservation of life and the alleviation of suffering as the highest value of action.« (Fassin 2007: 3) Im Kontext der Politiken um den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ wird zwar nicht über den Schutz von Menschenleben argumentiert, wie zum Beispiel im Zusammenhang mit der Seenotrettung im Mittelmeer oder Einsätzen in Kriegsgebieten, jedoch wird sich ebenfalls auf ein »höheres moralisches Prinzip« – nämlich das des Schutzes der ›nachziehenden Ehegattinnen‹ – berufen, um deren »Leiden zu mildern«, das als das Ergebnis der patriarchalen Verhältnisse ihrer ›Kultur‹ und damit einhergehender Unterdrückung und Verheiratung gesehen wird. Die höchst vergeschlechtlichte Konstruktion des Subjekts der ›Heiratsmigrantin‹ als Opfer patriarchaler Verhältnisse über die Mobilisierung des Diskurses um ›Zwangsehen‹ dient dabei vor allem der Legitimation sowie der Moralisierung der migrationspolitischen Verpflichtung bereits vor der Einreise Deutschkenntnisse auf A1‑Niveau nachzuweisen. Das Prinzip des ›Fördern und Fordern‹, das Debatten um Integration und die Sprachnachweispflicht im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ anleitet, impliziert also sowohl einen humanitaristischen als auch einen disziplinierenden Impetus, der sich zwischen Hilfe und Fürsorge sowie Verpflichtung und Sanktionierung bewegt. Was passiert nun, wenn dieses Prinzip und das damit einhergehende Integrationsparadigma in ›Drittstaaten‹ wie Marokko exportiert werden? Bevor ich darauf eingehe, wie diese Politiken in Marokko ausgehandelt werden und welche Konsequenzen diese mit sich bringen, zeige ich zunächst noch auf, welche ökonomischen Effekte die Einführung des Sprachnachweises mit sich brachte und wie ein neuer Markt für die ›Ware Deutsch‹ entstanden ist.
men wie ein Abschiebeabkommen mit Marokko sowie die Einstufung der Maghrebstaaten als ›sichere Herkunftsstaaten‹ legitimiert.
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4.2 E in neuer umkämpfter M arkt für die ›Ware D eutsch ‹ »[M]igration has become business, big business.« (Sørensen/Gammeltoft-Hansen 2013: 2)
Es war im September 2007, als die Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts Marokko aus dem Sommerurlaub zurückkamen und ein Schreiben aus der Zentrale in München sowie eines von der deutschen Botschaft vorlagen. Darin wurde verkündet, dass es eine neue Prüfung für ›nachziehende Ehegatten‹ gebe, deren Bestehen die Voraussetzung für die Beantragung eines Visums sei. Diese Deutschprüfung für das Niveau A1 gab es zu diesem Zeitpunkt bereits, jedoch wurde sie kaum nachgefragt. Jetzt mit der Verpflichtung zum Sprachnachweis für ›nachziehende Ehegatten‹ war der Andrang plötzlich groß. Während zuvor insbesondere Studierende, Akademiker_innen und Fachkräfte die Deutschkurse des Goethe-Instituts nachgefragt hatten, gab es nun eine neue Gruppe von Klient_innen: Menschen, die einen Partner oder eine Partnerin in Deutschland haben. Und so löste die Einführung der Sprachnachweispflicht zunächst die Entstehung eines neuen Markts für die ›Ware Deutsch‹ aus. Die Gesetzesänderung sprach sich schnell herum und es kamen tagtäglich Menschen, die das Sprachzertifikat brauchten, um ein Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ zu beantragen, wie mir von Mitarbeiter_innen berichtet wurde. Für das Goethe-Institut bedeutete dies nicht nur mehr Kurse, sondern auch eine zusätzliche Prüfung – ›Start Deutsch 1‹ – anzubieten. Der Sprachnachweis für ›nachziehende Ehegatten‹ ist ein Beispiel dafür, wie Gesetzesänderungen im Kontext von Migrationspolitiken zur Entstehung neuer Märkte führen können. In den letzten Jahrzehnten sind zusätzliche Möglichkeiten entstanden im Feld von Migration und Flucht Profit zu generieren: einerseits mit dem Wunsch von Menschen zu migrieren und andererseits mit dem Versuch von Regierungen Migrationsströme zu regulieren, so die Sozialwissenschaftler_innen Nyberg Sørensen und Thomas Gammeltoft-Hansen (2013). Sie zeigen in dem Sammelband »The Migration Industry and the Commercialization of International Migration«, dass diese Migrationsindustrien eng mit Migrationsregimen verwoben sind. Restriktivere Einreisebestimmungen befördern zum Beispiel das Geschäft für die Unterstützung bei legaler Einreise oder auch bei irregulärem Grenzübertritt (vgl. Sørensen/Gammeltoft-Hansen 2013: 8). Auch die Einschränkung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ durch die Einführung der Sprachnachweispflicht hatte zur Folge, dass mit der neuen Nachfrage nach Deutschkursen in ›Drittstaaten‹ auch Angebote entstanden.
4.2.1 Die ›Vorintegrationskurse‹ in Zentrum und Peripherie Die Kurse für ›nachziehende Ehegatten‹ werden – der Idee folgend, Integration schon vor der Einreise zu erleichtern – als »Vorintegrationskurse« bezeichnet. In den ersten Jahren sprach man noch von sogenannten »LU‑Kursen«, wobei die beiden Großbuchstaben für »lernungewohnt« stehen. In diesen Kursen werden die Teilnehmer_innen auf die ›Start Deutsch 1‹-Prüfung vorbereitet. Sie dauern 15 Wochen, finden drei Mal
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pro Woche statt und umfassen drei Niveaus (A1A, A1B, A1C), die jeweils 1750 Dirhams43 kosten. Die Einführung des Sprachzertifikats schaffte eine Möglichkeit für zusätzliche Einnahmen, wobei für die Kurse auch Lehrer_innen erforderlich waren, die mit diesen Gruppen zurechtkommen und arbeiten können. Im Vergleich zu den Kursen für Studierende, die sich auf die B1‑Prüfung vorbereiten, sind die ›Vorintegrationskurse‹ sehr heterogen in ihrer Zusammensetzung: In einem Kurs sitzen oft Teilnehmer_innen, die nicht oder nur bedingt Lesen und Schreiben können, nie oder nur kurz die Schule besucht haben und für die Deutsch die erste Fremdsprache ist. Gleichzeitig sind Frauen und Männer dabei, die einen Bachelor- oder Masterabschluss haben, die bereits in einem Arbeitsverhältnis standen und mindestens Französisch oder noch andere Fremdsprachen beherrschen. Deutschlehrer_innen des Goethe-Instituts berichteten, dass sie am Anfang große Probleme gehabt hätten, diese Kurse zu geben und das Unterrichten unter diesen Umständen sehr anstrengend gewesen sei. Aus der Zentrale des Goethe-Instituts in München wurde Unterrichtsmaterial geschickt, besonders für die Alphabetisierung, womit zu diesem Zeitpunkt niemand im Goethe-Institut wirklich Erfahrung hatte. Doch zu den Goethe-Instituten in Rabat und Casablanca kam nur ein Teil der landesweit Betroffenen: diejenigen, für die die Distanz vom Wohnort nicht zu groß war, um drei Mal in der Woche den Weg auf sich zu nehmen. Gerade im Norden und im Süden Marokkos wandte man sich zunächst an private Sprachschulen. In Nador zum Beispiel, eine Stadt mit rund 150 000 Einwohner_innen an der Mittelmeerküste im Norden, stieg die Nachfrage nach Deutschkursen im Herbst 2007 ebenfalls extrem an. Die meisten der Marokkaner_innen, die in Deutschland verheiratet sind und die Prüfung ablegen müssen, um ein Visum zu beantragen, kommen aus dieser Region aufgrund der marokkanisch-deutschen Migrationsgeschichte und den damit einhergehenden nach wie vor bestehenden Netzwerken. Gleichzeitig ist die Alphabetisierungsrate dort niedriger verglichen mit den urbanen Zentren von Rabat und Casablanca. Als der Sprachnachweis 2007 eingeführt wurde, habe es in Nador nur ein Institut gegeben, das Deutschkurse angeboten hat: das Institut Descartes d’Informatique et de Langues (I.D.I.), erinnert sich der Direktor des Instituts in einem Interview. Von einem Tag auf den anderen seien plötzlich mehr als hundert Menschen zum Institut gekommen und hätten sich nach einem Deutschkurs erkundigt. Nach und nach wurden immer mehr Deutschschulen gegründet und bestehende Institute nahmen Deutschkurse mit in ihr Angebot auf. »Du kannst sogar aus einer Garage eine Schule machen«, berichtet die Sekretärin des I.D.I. von dieser Zeit. In der Folge kam es zu Wettbewerb und Konkurrenz: Andere neu eröffnete Schulen boten niedrigere Preise und kürzere Zeiträume für das erfolgreiche Lernen der Sprache und die Vorbereitung für die Prüfung an. Heute gibt es um die zehn Sprachschulen in Nador, die Deutschkurse anbieten. Während in den Städten – in Rabat und Casablanca –das Goethe-Institut zu Beginn die Monopolstellung für das Angebot der Sprachkurse inne hatte, gab es in der 43 = circa 160 Euro. Das marokkanische Durchschnittsgehalt liegt bei circa 450 Euro.
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Peripherie wie beispielsweise in Nador eine direkte Reaktion auf die plötzliche Nachfrage, was sogar die Gründung von neuen Kleinunternehmen zur Folge hatte. Diese Entwicklung nach der Einführung der Sprachnachweispflicht im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ verdeutlicht, wie Sprache als Kriterium für die Vergabe eines Visums kommodifiziert und damit zur Ware wird. Auch in Deutschland kam es zu ähnlichen Effekten mit der gesetzlichen Verankerung der ›Integrationskurse‹ im neuen Zuwanderungsgesetz von 2005: Es entstanden ebenfalls neue – insbesonders auch kommerzielle – Sprachschulen; während gerade migrantische Vereine und kleine Sprachschulen durch ein neues Abrechnungssystem des Unterrichtsbetriebs, das nun staatlich vorgegeben wurde, ihren Sprachkursbetrieb plötzlich nicht mehr aufrechterhalten konnten (vgl. zur Nieden 2009: 134). In diesem Zusammenhang wird auch von einer wachsenden »Integrationsindustrie« (Ha 2007: 2) gesprochen. Aufgrund der großen Nachfrage im Norden Marokkos organisiert das Goethe-Institut zwei bis drei Mal im Jahr Dienstreisen nach Nador, Oujda und El Hoceima, um dort die ›Start Deutsch 1‹-Prüfung abzunehmen. Bei einer Reise werden jedes Mal mehr als hundert Kandidat_innen geprüft. Jedoch unternimmt seit kurzem auch ein anderer Akteur Prüfungsreisen in die Region: der ÖSD (Österreichisches Sprachdiplom).
4.2.2 Die Prüfungslizenz: Auseinandersetzungen um das Recht zu prüfen Zu Beginn war das Goethe-Institut die einzige Institution in Marokko, die die Prüfung für ›nachziehende Ehegatten‹ abnehmen und das Zertifikat ausstellen konnte und hatte damit das Monopol inne. In vielen Ländern weltweit ist dies nach wie vor der Fall. Dieser Umstand wurde von Akteuren wie dem Verband binationaler Partnerschaften und Familien (iaf) kritisiert (vgl. Riedling 2013). Offiziell können auch die schweizerischen und österreichischen Pendants zum Goethe-Institut die Sprachprüfungen abnehmen, die für das Visum erforderlich sind; Bedingung ist die Zertifizierung durch den europäischen Verband ALTE (The Association of Language Testers in Europe). Der ÖSD (Österreichisches Sprachdiplom) hat in Marokko 2001 bereits die Lizenz für die B1‑Prüfung erworben, die für die Beantragung eines Studienvisums notwendig ist, und 2008 für die A1‑Prüfung. Der Leiter des ÖSD, ein Germanistik-Professor der Universität Fès, hatte sich gemeinsam mit einer Schule, dem Institut Mohamed Benabdallah, um die Lizenz bemüht, die Bestätigung durch die Zentrale in Wien erhalten und wurde von der deutschen Botschaft zunächst als Prüfer anerkannt. Bereits im Zusammenhang mit der B1‑Prüfung kam es damals zu Konflikten und einer Konkurrenzsituation, wie mir sowohl der Leiter des ÖSD, als auch Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts berichteten. Nach der Logik des Marktes werden ÖSD und Goethe-Institut zu Konkurrenten, sind die Prüfungen doch eine wichtige Einnahmequelle: Im Goethe-Institut wurde der Preis für die B1‑Prüfungen von 1500 Dirhams auch für die Sprachtests des A1‑Niveaus übernommen. Um zu vermeiden, dass Kandidat_innen nur wegen des Preises zum ÖSD gehen, wurden die Gebühren des Goethe-Instituts übernommen, betont der Leiter in einem Interview: »Damit es nicht heißt: Hier ist es teurer und hier ist es billiger.« Sie würden die Preise nur
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ändern, wenn es Veränderungen beim Goethe-Institut gebe. Aus seiner Perspektive müsste das Goethe-Instituts seine Institution nicht als Konkurrent fürchten: Er habe noch keine einzige Schule selbst kontaktiert und eine Zusammenarbeit angeboten. Die Leute würden von der guten Organisation hören und deshalb zu ihnen kommen. »Und das ist also unser Gewinn, die Objektivität, die Ernsthaftigkeit, alles, was man von einer Prüfung erwarten kann«, so der Leiter. Diese »Qualität« wird dem Leiter des ÖSD Marokko immer wieder abgesprochen. Von Anfang an sei er vor allem mit einem Vorwurf konfrontiert gewesen: »Wie kann man einem Marokkaner diese Verantwortung übergeben?« Auch hörte ich von Seiten des Goethe-Instituts immer wieder, dass in dem deutschen Kulturinstitut alles korrekt ablaufe, während man vom ÖSD jedoch viele Geschichten höre. Als Marokkaner könne er nicht objektiv sein, sondern sei parteiisch. Die Gefahr, dass er sich bestechen lasse, sei sehr groß. Diese Argumentation wird auch angeführt, wenn es darum geht, dass marokkanische Lehrkräfte nicht mit auf die Prüfungsreisen in den Norden Marokkos fahren dürfen. Der Leiter des ÖSD hat es sich zur Aufgabe gemacht, genau gegen dieses stereotype Bild des ›korrupten Marokkaners‹ anzukämpfen: Während unseres Interviews erzählt er die meiste Zeit von den Techniken, die er entwickelt hat, um Objektivität und Neutralität bei den Prüfungen zu garantieren – von der Software, die Prüfungsbögen und Sitzplätze per Zufall zuteilt, über die bis ins Detail durchdachte Einteilung der Räume bis hin zu technischen Geräten, die eigentlich nur in Moscheen erlaubt sind und den Handyempfang im Raum blockieren. Außerdem betont er, dass er bei jeder Prüfung persönlich anwesend sei: »Deswegen habe ich auch gesagt, das Goethe-Institut braucht sich gar nicht fürchten, dass wir ihnen den Markt abnehmen, weil unsere Kapazitäten sehr begrenzt sind und man kann die Qualität nicht sichern, wenn man ein größerer Betrieb wird.« Auf der Facebook-Seite des ÖSD Maroc werden von fast jeder Prüfung Bilder von der Prüfungssituation hochgeladen, auf denen Kandidat_innen an nummerierten Tischen zu sehen sind, die Prüfungsbögen ausfüllen, sowie die Aufsichtspersonen – der Leiter und eine zweite Person. Am 18. März 2016 postet der ÖSD Maroc auf Facebook ein Bild mit Text, auf dem zwei Fotos abgebildet sind, wo jeweils eine Gesäßtasche mit einem Geldbeutel darin zu sehen sind sowie eine Hand, die diesen aus der Tasche zieht, und mit violettem Hintergrund hervorgehoben »Warnung« geschrieben steht; außerdem der folgende Text: »Wir haben festgestellt, dass manche Deutschlehrer erhebliche Geldsummen von zukünftigen ÖSD-Prüfungskandidaten einkassieren und ihnen dafür Erfolg bei ÖSD-Prüfungen versprechen. Zum Schluss müssen die Kandidaten feststellen, dass sie die Prüfung nicht bestanden bzw. nur die Noten bekommen haben, die sie tatsächlich verdienten. Wir möchten hiermit der Öffentlichkeit versichern, dass es nur eine einzige Möglichkeit gibt, um das ÖSD-Sprachdiplom zu erwerben: die Prüfung selbst abzulegen und sie selbst zu bestehen. Das Prüfungszentrum ÖSD-MAROC warnt erneut alle Kandidaten vor solchen Betrügern und übernimmt keine Verantwortung für solche Betrugsfälle.«
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Die Anrufung und Markierung als ›Marokkaner‹ und die damit einhergehende Stereotypisierung als ›korrupt‹ und ›subjektiv‹ führen bei dem Leiter des ÖSD dazu, dass er sich Überwachungs- und Kontrolltechniken noch stärker aneignet beziehungsweise diese sogar selbst entwickelt und sich durch andere Strategien wie Statements und ›Beweisfotos‹ auf der Facebook-Seite von diesen Zuschreibungen abgrenzt. Diese Praktiken führen auch dazu, dass Solidarisierungen mit Prüfungskandidat_innen oder Strategien zum Bestehen der Prüfung erschwert werden. Der ÖSD führte am Anfang nur Prüfungen in Fès und Salé durch. Mittlerweile wird das Team in mehreren Städten in Marokko angefragt: in Saida, Berkane, Oujda, Marrakesch, Meknes und auch in Nador. Als ich mich mit dem Goethe-Institut auf einer Prüfungsreise in Nador befinde, erfährt eine der Mitarbeiter_innen, dass der ÖSD am Wochenende zuvor auch vor Ort war. Der Leiter des I.D.I. verspricht jedoch, so lange das GI nach Nador komme, würden sie auf keinen Fall zum Konkurrenten wechseln. Diese Auseinandersetzungen zwischen GI und ÖSD werden unter anderem auf der Webseite des Konsulats Marokko ausgetragen. Dort gibt es ein Dokument zum Download, in dem alle Informationen zum Nachweis von Deutschkenntnissen für ›nachziehende Ehegatten‹ aufgeführt sind, unter anderem auch ein Hinweis darauf, wo die Prüfung abzulegen ist. Über diesen Hinweis werden nicht nur potentielle Kund_innen auf die Prüfungsanbieter_innen aufmerksam, sondern damit wird auch bestätigt, dass die Prüfung anerkannt ist, um ein Visum zu beantragen: »Bei der Beantragung des Visums sind die Sprachkenntnisse durch ein Sprachzeugnis auf dem Niveau A1 eines nach den Standards der ALTE zertifizierten Prüfungsanbieters nachzuweisen, der über eine mit Entsandten besetzte Niederlassung verfügt. Dies ist in Marokko gegenwärtig unter anderem beim Goethe-Institut und ÖSD der Fall« (Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Rabat 2016). Zu Beginn war hier nur das Goethe-Institut aufgeführt, doch schon bald folgte der ÖSD. Im Frühjahr 2015 wurde die österreichische Institution wieder von der Seite genommen, wie der Leiter des ÖSD mir berichtet. Es kostete ihn anscheinend mehrere Monate, um wieder in dem Dokument aufgeführt zu werden, und er verlor in dieser Zeit einige Partnerschulen. Im Konsulat sei auch die Auskunft gegeben worden, dass Visumsantragsteller_innen mit einem Sprachnachweis des ÖSD noch einmal »einer eingehenden Prüfung« im Konsulat unterzogen würden. Seit Februar 2016 ist der ÖSD nun wieder im Dokument des Konsulats erwähnt, was unmittelbar über die Facebook-Seite des ÖSD publik gemacht wurde. Der Soziologe und Ökonom Stephen Castles schreibt zu dem Phänomen der Migrationsindustrien: »Once a migration gets underway, needs arise for a variety of special services. […] Facilitating migration is a major and largely legal international business.« (Castles 2004: 859) Jedoch geht es in diesem Kontext nicht nur um die Erleichterung von Migration durch das Angebot von Sprachkursen und Prüfungen, sondern gerade bei letzterem auch um die Externalisierung der Kontrolle und Regulation von Migration durch die ›Start Deutsch 1‹-Prüfung, wie ich später aufzeigen werde. Sowohl das Goethe-Institut als auch der ÖSD werden Teil des Grenzregimes und haben zusätzliche Einnahmen durch die Sprachnachweispflicht. Gleichzeitig sind die
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Verbindungen zu einem klassischen Akteur der Grenzkontrolle – dem Konsulat – sehr eng und es kommt zu neuen Kooperationen. Hier verschränken sich ökonomische Logiken einer Migrationsindustrie mit ethnisierten Hierarchisierungen der am Markt beteiligten Akteure und Praktiken der Migrationskontrolle.
4.2.3 Marktnischen: eine private Sprachschule in Casablanca Nur ein paar hundert Meter vom Goethe-Institut Casablanca entfernt, in der Rue Abdelkader Mouftakar, befindet sich die Schule Clemenceau. Ich hatte bereits von der Schule gehört beziehungsweise von dem dort unterrichtenden Lehrer Mohammed S., bevor ich sie das erste Mal besuche. Zum einen erzählten Kursteilnehmer_innen begeistert von ihm, zum anderen äußerten sich Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts kritisch über ihn. Badria, die ich aus einem der ›Vorintegrationskurse‹ kannte, nimmt mich eines Nachmittags im Frühjahr 2015 mit zu dieser Schule. Wir sind vor dem Goethe-Institut verabredet und ich bin davon ausgegangen, dass sie dort den Kurs zur Vorbereitung für die B1-Prüfung besuchen würde. Doch sie und ihre Freund_innen nehmen mich mit zu ihrer neuen Schule. Als wir dort im ersten Stock ankommen, begrüßt mich ein hagerer Mann mit längeren schwarzen Haaren, großen braunen Augen und einem freundlichen Gesicht. Er stellt sich als Mohammed S. vor und heißt mich willkommen. Sie seien hier wie eine Familie, sagt er gleich zu Beginn. Er führt mich direkt in eines der Zimmer, das voll von jungen Menschen sitzt, die gerade über Bücher und Hefte gebeugt sind und aufschauen, als ich den Raum betrete. Er stellt mir eine_n nach dem_der anderen vor. Es sind Studierende unter ihnen, die sich auf die B1‑Prüfung vorbereiten, um an einer Universität in Deutschland zu studieren. Außerdem sind Männer und Frauen dabei, die für die A1‑Prüfung lernen, um ein Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ zu beantragen, weil sie einen Partner oder eine Partnerin in Deutschland haben. Die meisten von ihnen waren vorher im Goethe-Institut. Khalil zum Beispiel will die B1-Prüfung machen. Im Goethe-Institut habe sich der Lehrer nicht angestrengt und es habe auch keinen Spaß gemacht, sagt er. Da ist er zu Clemenceau gegangen. Eine andere Teilnehmerin Siham, die zu ihrem Partner nach Deutschland einreisen möchte, hatten sie weggeschickt, weil sie nicht gut lesen und schreiben konnte. Auch Badria, die mich zur Schule gebracht hat, fühlt sich hier viel wohler als im Goethe-Institut. Sie betont immer wieder auf Deutsch: »Er ist ein guter Lehrer!« Mohammed S. hat selbst viele Jahre im Goethe-Institut gearbeitet, bis es zu einem Konflikt zwischen ihm und dem Leiter der Sprachabteilung kam. Es ging um Vorwürfe der Korruption und der Unzuverlässigkeit, was aus seiner Perspektive auf Missverständnissen beruhte. Außerdem hatte er Kursteilnehmer_innen des Goethe-Instituts Privatstunden gegeben, vor allem denjenigen, die Probleme im Kurs hatten und nicht mitgekommen sind. Unter der vorherigen Leitung führte er dieses zusätzliche Angebot noch in den Mittagspausen in den Räumlichkeiten des Goethe-Instituts durch. Als er schließlich nicht mehr im Goethe-Institut arbeitete, suchte er neue Orte. Er weichte erst auf Cafés aus und stieß schließlich auf die Schule Clemenceau. Bevor
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er dort als Lehrer tätig wurde, fand in den Räumlichkeiten nur Nachhilfe für Schüler_innen statt. Der Direktor betreibt diese Schule bereits seit 1983. Bis 2003 habe es auch schon einmal Deutschkurse gegeben, erzählt er in einem Interview. Damals habe es noch die Regelung gegeben, dass Lehrer_innen aus dem Goethe-Institut auch in anderen Schulen arbeiten dürften. Dies war später nicht mehr möglich. Mit Mohammed S. konnte der Direktor wieder Kurse für die Sprache Deutsch anbieten. Mohammed S. erzählt, es habe sich herumgesprochen, dass er nun in dieser Schule tätig sei und wer im Goethe-Institut Probleme habe, würde zu ihm kommen. Ihm gehe es nicht ums Geld, betont er mir gegenüber. Er habe immer versucht, die Schüler_innen so schnell wie möglich auf die Prüfung vorzubereiten. Das sei auch seine Methode bei Clemenceau. Ein Niveau bei Clemenceau kostet 1500 Dirhams, beim Goethe-Institut 1750 Dirhams. Wenn Schüler_innen aber gut seien, würde er es manchmal auch schaffen, sie innerhalb eines Monats vorzubereiten. Das sei im Goethe-Institut nicht möglich. Er wolle genau die Lücken schließen, die das Goethe-Institut nicht bedient, sagt Mohammed S. Dazu gehöre zum einen die Möglichkeit sich mit seiner Unterstützung auf die Prüfung auch in einem kürzeren Zeitraum vorbereiten zu können; aber auch, dass er sich für die, die Schwierigkeiten beim Erlernen der Sprache haben, besonders viel Zeit nimmt und eigene Methoden bei ihnen anwendet. Dabei stelle er nicht die Grammatik in den Vordergrund, sondern, dass sie kommunizierten und dadurch auch die Grammatik irgendwann lernten. Zum Beispiel sage er seinen A1-Schüler_innen Akkusativ und Dativ sollen sie erst einmal streichen, da sie das für die Prüfung nicht bräuchten. Das könnten sie dann in Deutschland lernen. Gerade sind sie dabei eine Bibliothek mit Computern, Büchern und DVDs aufzubauen, oft würden dafür aber die Mittel fehlen. »Ich will, dass meine Schüler in die Sprache eintauchen«, sagt er. Sein Traum sei ein Kulturzentrum. Er ist der deutschen Sprache sehr verbunden, da er selbst viele Jahre in Deutschland gelebt hat. Mohammed S. ist ein klassischer Akteur der Migrationsindustrie: Durch die Sprachkurse kann er sein eigenes transnationales Wissen, seine Netzwerke und Erfahrungen an zukünftige Migrant_innen vermitteln und damit kommerzialisieren (vgl. Sørensen/Gammeltoft-Hansen 2013: 9). Als er noch im Goethe-Institut arbeitete, hat er Theaterstücke geschrieben und mit Studierenden aufgeführt. Für sein erstes Stück hat er den Kurzfilm »Schwarzfahrer« von Pepe Danquart umgeschrieben. Während in dem Film die ganze Zeit die Frau spreche, habe er in dem Theaterstück die Marokkaner_innen sprechen lassen, erzählt er. Das zweite Stück sei entstanden, als er einen Student gefragt hatte, warum er Deutsch lerne. Der habe ihm so eine traurige Geschichte erzählt, dass er anschließend ein Theaterstück daraus machte. Er selbst hat auch Kurzgeschichten und Gedichte auf Deutsch geschrieben. Mohammed S. ist es wichtig in der Sprachschule auch Kultur zu vermitteln und sieht das Goethe-Institut im Gegensatz dazu als reine Sprachschule. Das Besondere an ihrer Schule sei, und das sagt nicht nur Mohammed S. immer wieder, sondern auch der Direktor, dass sie wie eine große Familie seien. Dass die Schule kein Ort sei, wo man nur lernt, sondern auch miteinander Zeit verbringt und über alles sprechen kann.
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Die Philosophie der Schule materialisiert sich auch in den Räumlichkeiten. Neben den einfach eingerichteten Unterrichtsräumen gibt es zwei Büros, eines für den Direktor und eines für die Sekretärin, wobei die Türen immer geöffnet sind. Zudem gibt es eine Küche, wo in den Pausen Tee gekocht wird. Von dort aus betritt man einen großen Balkon, der in einen Hinterhof hinausführt und grün eingewachsen ist. Dort stehen selbst bemalte Tische und Stühle. Eine große Plane schützt vor Sonneneinstrahlung und Regen. Fast immer, wenn man in die Schule kommt, sitzt dort jemand. Die Schüler_innen lernen dort, tauschen sich aus, trinken Tee, üben gemeinsam und feiern, wenn wieder jemand die Prüfung bestanden hat. Der Direktor erklärt mir, dass die gemeinsamen Pausen immer die Gelegenheit seien, um sich über Probleme auszutauschen und den Lehrern auch Fragen über Deutschland zu stellen. Schnelleres Lernen, eigene Methoden, eine Bibliothek, Kulturangebote und eine Atmosphäre, in der sich alle wohlfühlen, mitkommen und sich austauschen können – ein Angebot, mit dem die Schule Clemenceau dem Goethe-Institut auch Kund_innen abwirbt. Angebotslücken schließen und damit wettbewerbsfähig zu werden, entspricht dabei zunächst einer klassischen Marktlogik. Jedoch haben diese Praktiken in diesem Kontext auch ein widerständiges Moment, da die Kund_innen dieser Schule unter anderem die Menschen sind, die im Goethe-Institut die Sprachkurse nicht schaffen, wie zum Beispiel nicht-alphabetisierte Menschen. Jegliche Kooperationen mit dem Goethe-Institut in Bezug auf die ›Start Deutsch 1‹Prüfung, die auch seine Schüler_innen dort ablegen müssen, seien bisher gescheitert. Das sei ein Problem, sagt Mohammed S., weil sie nicht über Änderungen bei Prüfungen informiert würden. Deswegen denken sie jetzt über eine Zusammenarbeit mit dem ÖSD nach, erzählt er mir im Herbst 2014. Wenn das klappen würde, wären sie unabhängig vom Goethe-Institut. Einige Monate später führt der ÖSD die erste Prüfung in den Räumlichkeiten von Clemenceau durch. Mohammed S. plant zu diesem Zeitpunkt außerdem einen Kontakt zum Konsulat aufzubauen, um bei Fragen zu Visaangelegenheiten nachhaken zu können. Auch würde er gerne mit Jurist_innen und Anwält_innen zusammenarbeiten, die Kandidat_innen, welche die Deutschprüfung nicht schaffen, in rechtlichen Fragen unterstützen. Da könnten sie auch Rechtsberatung leisten. Die Schule baut nach und nach ihr eigenes Netzwerk von Akteuren auf, um vom Goethe-Institut unabhängig zu werden, und versucht Marktnischen zu finden und zu schließen. Mit der Einführung des Sprachnachweises für ›nachziehende Ehegatten‹ entstand auch ein neuer Markt für die ›Ware Deutsch‹, der an einen bereits vorhandenen Markt für Sprachprüfungen auf dem Niveau B1 anknüpfte. Dieser etablierte sich bereits in den 1990er Jahren, als eine Sprachnachweispflicht für Studierende aus ›visumspflichtigen Drittstaaten‹ eingeführt wurde, die über ein Studienvisum nach Deutschland einreisen möchten. Es handelt sich bei diesem Markt um ein Netz von Akteuren, die durch ökonomische Marktlogiken sowie ethnisierte Hierarchisierungen in ungleichen Kräfteverhältnissen zueinander stehen. Marokkanische Deutschlehrer_innen sind in diesem Feld mit Zuschreibungen wie der Korruption, fehlender Neutralität und Objektivität, Profitgier, mangelnder Kompetenz und Fähigkeiten konfrontiert,
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die praktische Auswirkungen auf deren Beschäftigungsverhältnisse haben. So sagte zum Beispiel eine der Lehrer_innen des Goethe-Instituts Rabat über die marokkanischen Lehrer_innen: »Das sind Geschäftsmänner.« Die Verbindungen und Auseinandersetzungen zwischen diesen Akteuren ziehen innerhalb des Grenzregimes unterschiedliche Effekte nach sich – sowohl für die Umsetzung der bundesdeutschen Gesetzgebung als auch für die Situation der Menschen, die über den ›Ehegatten‑/ Familiennachzug‹ nach Deutschland einreisen möchten. Mit der Durchführung der Prüfung durch das Goethe-Institut und den ÖSD werden diese Akteure auch in Migrationspolitiken involviert und Teil des Grenzregimes.
4.3 D er E xport des ›F ördern und F ordern ‹: das I ntegrationsparadigma in M arokko Im Sinne eines follow the conflict (Marcus 1995: 110) bin ich den Debatten um die Sprachnachweispflicht nach Marokko gefolgt und habe dort untersucht, wie dieses Gesetz vor Europas Außengrenzen umgesetzt wird. In den Goethe-Instituten ist zu beobachten, dass der Diskurs um ›Zwangsehen‹ kaum noch auftaucht im Zusammenhang mit dem Sprachnachweis, der Integrationsimperativ jedoch omnipräsent ist. Dieser verschränkt sich hier mit einer weiteren vergeschlechtlichten Diskursivierung: einer ›Hausfrauisierung‹. Außerdem zeigt sich, dass das Verständnis von ›Integration‹ je nach Subjektposition und Kontext – ob zum Beispiel im Goethe-Institut oder in Privatschulen – stark differiert. Durchläuft man im Sinne eines studying through (Shore/Wright 1997: 14) unterschiedliche Ebenen des Grenzregimes kommt es zu Diskursverschiebungen, die ich im Folgenden nachzeichnen werde.
4.3.1 Das Goethe-Institut: zwischen Prävention, Hilfe und Informationsangebot »Wir müssen etwas ändern, sonst haben wir so etwas wie Neukölln. Kennen sie das Buch von Buschkowsky? Das müssen sie mal lesen«, sind die ersten Worte, mit denen mich der Sprachabteilungsleiter des Goethe-Instituts in Casablanca begrüßt. Er freue sich sehr über mein Forschungsvorhaben, da das Thema doch wirklich unter den Nägeln brenne. Im Goethe-Institut Marokko scheint das alarmistische Werk »Neukölln ist überall« (2012) eine Art Hiobsbotschaft geworden zu sein, ein Aufruf schon vor den Außengrenzen Europas ein ganz spezifisches Szenario wie im Berliner Bezirk Neukölln in deutschen Städten zu verhindern: »Familien, die seit Generationen von Hartz IV leben, Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern, Jugendliche ohne Zukunftsperspektive, Parallelgesellschaften, Gewalt und Kriminalität« (Buschkowsky 2012) – und all das aufgrund einer gescheiterten Integrationspolitik. Immer wieder erwähnt der Leiter der Sprachabteilung das Buch des ehemaligen Bezirksbürgermeisters von Neukölln Heinz Buschkowsky. Bei einem Interview lag es auf dem Schreibtisch und er empfiehlt es Mitarbeiter_innen zur Lektüre. Einer der bekann-
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testen Protagonist_innen der bundesdeutschen Integrationsdebatte scheint auch in Marokko angekommen zu sein. Der Sprachabteilungsleiter kritisiert, dass viel mehr getan werden müsse für die Integration, das Goethe-Institut dafür jedoch nicht ausreichende Kapazitäten habe. Es könne nicht sein, dass man mit den Sprachkursen Geld verdiene und die Menschen dann einfach ahnungslos nach Deutschland schicke, betont er in einem Interview: »Das Goethe-Institut hat schließlich einen Integrationsauftrag. Was aus denen wird, das ist Kulturarbeit.« Er sieht Integration als »komplementären Bestandteil« von Sprachkursen: »Ich finde so ein Sprachkurs allein ist für ein Kulturinstitut eigentlich, das ist nicht unser Auftrag. Sprache vermitteln ist Kultur vermitteln und Kultur vermitteln ist wirklich diese – ganz praktisch – diese interkulturelle Vorbereitung.« Es reiche nicht, betont er, »wie im Buch zu sagen, so wird Weihnachten gefeiert«. Aber um mehr zu tun, fehle ihm auch das Personal. Sein Traum sei ein eigenes »Integrationsbüro«. Im Moment würden die Kursteilnehmer_innen in Marokko die Prüfung ablegen und dann in Deutschland verschwinden, so der Sprachabteilungsleiter, »in diesen Familien und das ist dann immer der Unterstützungsgedanke. Die hoffen auf Unterstützung von der Familie und vom deutschen Staat. Manche verschwinden nicht, sondern integrieren sich, je nach Ausbildung«. Mit dieser Aussage wird ein Zusammenhang zwischen der Integrationsbereitschaft und dem Bildungsgrad hergestellt – eine normative Logik, auf die im Integrationsdiskurs immer wieder Bezug genommen und wodurch Klasse mitproduziert wird. Ihn interessiere, wer das Klientel wirklich sei: Welche Wünsche, Motivationen, Träume und Phantasien sie hätten. Um seiner Idee eines »Integrationsbüros« ein Stück näher zu kommen, hat er bereits einen Lehrer eingestellt, der selbst in Marokko aufgewachsen ist und für längere Zeit in Deutschland gelebt hat. Man müsse mit ihnen über den ganzen Prozess bis zur Einreise reden, über »das interkulturelle Thema« und über »diverse Anlaufstellen in Deutschland«, so seine Vorstellung. Der Staat mache es sich leicht, so der Sprachabteilungsleiter, in dem er einfach diese Regel aufstelle und formal sage: »So, das ist die Eingangshürde und das ist formalisiert und wer das schafft, ist sozusagen auf dem Weg zur Integration.« Seiner Meinung nach seien das jedoch nur »oberflächlich« die »Minimalbedingungen«: »Das ist viel zu komplex in so eine für Moslems fremde und extreme Kultur wie Deutschland einzuwandern.« Wenn er die »deutsche Kultur« beschreibt, benutzt er immer wieder Wörter wie »aufgeklärt«, »zivilisiert«, »frei«, »fortschrittlich«, »aktiv« etc. Während er Marokko als »rückständig« und »anders«, die Menschen als »passiv« und »unterwürfig« bezeichnet. Diese Markierungen folgen orientalistischen Stereotypen, die bis heute wirkmächtig sind und eine sozialdarwinistische, postkoloniale Hierarchie der Über- und Unterlegenen reproduzieren. Auf meine Frage hin, warum die Sprache schon vor der Einreise gelernt werden müsse, antwortet er, dass eine gewisse Sprachroutine es doch auch »viel entspannter« mache, sich auf »das zusätzlich interkulturell Neue ein[zu]lassen«: »Aber entscheidend ist eigentlich, dass man jetzt über die Sprache hinaus auch schon im, sagen wir mal, im Heimatland in Anführungszeichen, dass man da einfach mehr und umfas-
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sender Bescheid weiß über das, was auf einen zukommt. Also ich denke jetzt gerade so an diese kulturellen Strömungen.« Aus seiner eigenen Erfahrung »als Christ in einem muslimischen Land« argumentiert er, dass die »Wertekontexte« in Marokko und Deutschland sehr unterschiedlich seien und man auf diese vorbereitet werden müsse. Das sehe man beispielsweise daran, dass es sich bei Deutschland um ein »aufgeklärtes Land« handele mit einer »relativen Freiheit der Meinungsäußerung, auch des Sich-Darstellens im Verhalten, im kulturellen, sozialen Verhalten und auch so Gewohnheiten sind andere, die Frauen sind anders gekleidet, man spricht viel offener, man sagt seine Meinung«. Das seien alles Hindernisse, die man erst einmal verstehen und auf die man vorbereitet werden müsse. Der Sprachabteilungsleiter zeichnet in seiner Darstellung ein Konfliktszenario zwischen muslimischen Migrant_innen und der westlich-christlichen Mehrheitsgesellschaft. Die Einteilung der Welt in ein »westlich-christliches« und ein »östlich-muslimisches« Wertesystem, die Shooman als konstitutiv für anti-muslimischen Rassismus sieht (vgl. Shooman 2012: 54), knüpft an die alte koloniale Vorstellung einer Gegensätzlichkeit zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹ an, die seit den Anschlägen vom 11. September 2001 und der anschließenden breiten Rezeption der Theorie des »Kampf der Kulturen« (1996) von Samuel P. Huntington verstärkt Konjunktur hat. In den Ausführungen des Sprachabteilungsleiters wird deutlich, wie sich das ›Andere‹ dabei auch immer in Relation zum ›Eigenen‹ konstituiert. Als Mitarbeiter in einer leitenden Funktion eines Kulturinstituts benutzt er im Sprechen häufig den Begriff der ›Kultur‹. Dieser wird jedoch nicht als ein prozessuales Bedeutungssystem verstanden, sondern essentialisiert und einem sozialen Kollektiv zugeschrieben: Nationale Kultur wird als eine »Art Besitzstand« festgeschrieben (Karakayali 2009: 96); wie auch immer wieder in den Debatten um die »deutsche Leitkultur« deutlich wird (Götz 2011). Der Sprachabteilungsleiter geht davon aus, dass viele kein Deutsch lernen würden, sollte die Sprachnachweispflicht abgeschafft werden: »Die werden dann da in Deutschland bei Menne hocken.« Er vertritt auch die Ansicht, dass nur das Fordern dazu führt, dass Betroffene die Sprache lernen und kein eigener Wille dahinter stehe. Seine folgenden Ausführungen bezieht er explizit auf Menschen, die aus Nador kommen: »Sie wissen ja, dass da so ein Heiratsmarkt ist. Und teilweise sind das ja so Leibeigene, die dann in Deutschland irgendwie da die Kinder machen – in Anführungszeichen – oder gebären und ansonsten Haushälterinnen sind.« Er führt weiter aus, dass es »so Tendenzen oder Meinungen« gäbe, »die sagen: Naja gut, die Männer, die holen sich halt so fügige Frauen – also Marokkaner, aber auch Deutsche – und dann werden die zuhause gehalten. Ja, also das muss man mal untersuchen.« Er sieht die Gefahr, dass Migrant_innen aus Marokko in ihren Familien bleiben, in ihrem »engen sozialen Kontext«, wie er es nennt. Dabei bezieht er sich auf die Vorstellung von ›Parallelgesellschaften‹, in denen sich Migrant_innen bewusst abschotten und die als ein Ort der Differenz und Gewalt gesehen werden. Auch die vergeschlechtlichte Figur der ›dreifachen Integrationsverweigerin‹ taucht hier auf. Dabei werden Migrantinnen wieder ausschließlich auf ihre Rolle als Hausfrauen, Mütter und Ehefrauen reduziert.
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Die Haltung des Sprachabteilungsleiters bewegt sich zwischen sozialpädagogischer Fürsorge und aufopferndem Engagement, der Unterstellung der Integrationsverweigerung und Abschottung sowie der damit einhergehenden Notwendigkeit zu ›fordern‹ im Sinne von Verpflichtung und auch Sanktionierung. In seiner Argumentation greift er auf ein essentialisierendes Verständnis von Kultur zurück und stellt dabei wiederholt eine Dichotomie zwischen Deutschland – als Europa, dem ›Westen‹ – und Marokko – als Afrika, der ›islamischen Welt‹ – her. Zwei Kulturen, die eigentlich unvereinbar seien, es sei denn, Migrant_innen werden gut vorbereitet und passten sich an. Es sind die gleichen Logiken und Narrationen wie in der bundesdeutschen Integrationsdebatte, die hier reproduziert werden. Aus Sicht des Sprachabteilungsleiters ist das durch die Sprachnachweipflicht eingeführte, nach Marokko exportierte Prinzip des ›Fördern und Fordern‹ sogar noch zu milde: Er wünscht sich hier sowohl mehr Förderung als auch mehr Forderung. Der Integrationsauftrag – der hier auch als Präventionsarbeit vor Europas Grenzen gedeutet wird, um bestimmten alarmistischen Szenarien vorzubeugen – wurde auch von anderen Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts vor Ort in Marokko sehr ernst genommen. Unter den Deutschlehrer_innen im Goethe-Institut ist das Integrationsparadigma fester Bestandteil des Unterrichtsalltags, jedoch wird es mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt. Der Lehrer Hicham beispielsweise steht den Kursteilnehmer_innen auf Initiative des Sprachabteilungsleiters hin einmal pro Woche für Fragen zur Verfügung. Er ist selbst in Marokko aufgewachsen und hat längere Zeit in Deutschland gelebt, wo er auch Integrationskurse gegeben hat. Im Goethe-Institut Marokko unterrichtete er zu diesem Zeitpunkt auch einen der ›Vorintegrationskurse‹. Seine Vorstellung von Integration unterscheidet sich jedoch von der des Sprachabteilungsleiters: In seinem Kurs, den ich auch selbst mehrere Wochen besuchte, hätten die Teilnehmer_innen, besonders die Frauen, viele Ängste, erklärt er. Er sieht seine Aufgabe als Lehrer darin, ihnen diese zu nehmen. Wenn er zum Beispiel das Wort »Test« verwende, würden viele gleich vor Aufregung alles falsch schreiben, sagt er. Er redet mit ihnen über ihre Unsicherheiten und versucht den Unterricht aufzulockern, in dem er viel mit ihnen lacht. Ihm ist es wichtig, dass der ›Vorintegrationskurs‹ kein Sprachkurs sei, sondern ein Integrationskurs: »Hier sind mittlerweile schon alle auf dem Weg nach Deutschland.« Das freue ihn. Es bringe nichts, nur die Sprache zu können. Sie bräuchten ein Bild von Deutschland. Dabei helfe er ihnen. »Klar haben sie einen Kulturschock, aber sie haben noch viel mehr Probleme. Ich bereite sie darauf vor, dass sie auch Schwierigkeiten haben können in Deutschland.« Die möglichen Schwierigkeiten kennt er bereits aus seiner eigenen Erfahrung sowie seiner Tätigkeit als Sprachlehrer in Deutschland. In den ›Integrationskursen‹ sei ihm aufgefallen, dass viele »Araber« Antidepressiva nehmen. Seine Erklärung ist, dass sie sehr sensibel und emotional seien und wenn sie in Schwierigkeiten gerieten, bekämen sie psychische Probleme. Auch hat er beobachtet, dass viele – verglichen mit ihrem sozialen Status in Deutschland – in Marokko im »Luxus« lebten. Wenn sie dann nach Deutschland kämen, könnten sich viele nur noch eine kleine Wohnung leisten und würden auch nicht mehr von der Familie ver-
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wöhnt werden. Er erinnert sich an eine Kursteilnehmerin, die ihm erzählte, dass sie auf keinen Fall auf dem Land leben könnte, sondern nur in der Stadt. Als sie zusammen recherchierten, wo ihr Mann in Deutschland genau lebt, stellte sich heraus, dass es sich dabei um ein kleines Dorf in Süddeutschland handelte. Hinzu kämen häufig Probleme mit dem Partner, wenn sie schließlich gemeinsam in Deutschland lebten. Auch für ihn bedeutet Integration »nicht nur Sprache lernen, sondern zu wissen, was von ihnen erwartet wird«, so Hicham. Er warnt vor einer Abhängigkeit zum Partner, der nicht alles machen könne: Ausländerbehörde, Einwohnermeldeamt, Krankenhäuser, Ärzte, Sprach- und Integrationsschulen et cetera. Dafür sei seiner Meinung nach auch das Portal »Mein Weg nach Deutschland«44 gut, das 2013 online ging und vom Goethe-Institut entwickelt wurde, nachdem eine Studie ergeben hatte, dass durchschnittlich 11 Monate zeitlicher Abstand zwischen dem ›Vorintegrationskurs‹ im Herkunftsland und dem ›Integrationskurs‹ in Deutschland liegen (vgl. Hammann 2011: 16). Dieses Portal – als ein weiteres Instrument der ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ – wird bereits in den Goethe-Instituten in den ›Drittstaaten‹ an die Kursteilnehmer_innen herangetragen und sie werden angehalten dieses zu nutzen, sobald sie die ›Start Deutsch 1‹-Prüfung bestanden haben und nicht mehr länger einen Sprachkurs besuchen. Auch Hicham setzt dieses Portal im Unterricht ein. Im Gegensatz zum Sprachabteilungsleiter betont der Deutschlehrer insbesondere den praktischen Aspekt von ›Integrationsförderung‹ im Sinne von Tipps und Informationen über den Alltag in Deutschland: ›Integration‹ als eine Art Informationsangebot. Er sieht seine Aufgabe jedoch auch darin den Kursteilnehmer_innen Ängste zu nehmen und auf Schwierigkeiten hinzuweisen, die in Deutschland auf sie zukommen können. Zwar spricht er hier nicht offen von Diskriminierung und Rassismus, doch die Beispiele, die er benennt, verdeutlichen, dass auch Hürden auf sie zukommen werden, die nicht ihr Verschulden sind. Diese Schwierigkeiten als ›Marokkaner‹ in Deutschland hat er teilweise auch selbst erfahren. Im Sprechen über Kursteilnehmer_innen werden diese von Deutschlehrer_innen gleichzeitig oft infantilisiert und die Kurse über paternalistische Argumentationen legitimiert. Was passiert also konkret in den sogenannten ›Vorintegrationskursen‹? Wie wird das Integrationsparadigma dort verhandelt und in der Praxis umgesetzt?
4.3.2 Die ›Vorintegrationskurse‹: Eigenverantwortung und ›Hausfrauisierung‹ »Die müssen integriert werden!«, sagt der Deutschlehrer zu mir auf dem Weg in den Unterrichtsraum. Kurz zuvor stand ich noch mit ihm und einer anderen Mitarbeiterin im Büro und wurde darauf hingewiesen, dass ich mich nicht wundern solle, in diesen Kursen säßen vor allem »Hausfrauen mit wenig Schulbildung«. Manchmal seien auch welche dabei, die studiert hätten, aber die würden meistens in andere Kurse wechseln. Als ich schließlich vor der Gruppe stehe, sehe ich unterschiedlichste Men44 http://www.goethe.de/lrn/prj/wnd/deindex.htm, 28. August 2016.
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schen vor mir: Tatsächlich sind nur zwei Männer unter den 17 Teilnehmer_innen, die alle relativ jung sind, zwischen 20 und 30, wie ich später erfahre. Die erste Frage, die mir von einer Teilnehmerin gestellt wird, ist: »Welche Probleme werden wir bei der Integration in Deutschland haben?« Der Deutschlehrer hatte mich als Forscherin aus München vorgestellt und seine Kursteilnehmer_innen aufgefordert, die Gelegenheit zu nutzen und sich bei mir über das Leben in Deutschland zu informieren. Die gleiche junge Frau, die mir diese Frage stellte, möchte später mit mir darüber sprechen, ob es stimme, dass man mit Kopftuch in Deutschland keine Arbeit finde. Doch ihr Lehrer unterbricht sie und wechselt das Thema. In diesem Raum wird kaum über mögliche Diskriminierung und Rassismus gegenüber Migrant_innen in Deutschland gesprochen, wie ich in den nächsten Wochen beobachten werde. Diese Praxis knüpft an ein Integrationsverständnis an, in dem von individuellen Defiziten der Migrant_innen ausgegangen wird, anstatt strukturelle Gegebenheiten zu thematisieren (vgl. Lanz 2009: 112). Die starke Problematisierung von Integration und die Betonung der Eigenverantwortung und Pflicht der Kursteilnehmer_innen für ihre Integration zu sorgen – also das Verständnis von Integration als individueller Leistung – war in den meisten ›Vorintegrationskursen‹ vorherrschend. Ich setze mich an einen der Tische zu den Teilnehmer_innen. »Heute geht es um Berufe«, so leitet der Lehrer das Thema der Kurseinheit ein. Das Lernziel der Übung bestehe darin, sich mit dem eigenen Beruf vorstellen zu können. Er nennt ein Beispiel: »Ich bin Deutschlehrer von Beruf.« »Was seid ihr von Beruf?«, fragt er in die Runde. Hände gehen nach oben und einige der Teilnehmer_innen nennen ihren Beruf: Khaled ist Informatiker. Oujidane ist Buchhalterin. Khadija ist Telefonistin. Rachid ist Mechaniker. Einige sind Studentinnen. Schließlich fragt eine der Frauen: »Kann ich sagen: Ich arbeite nicht?« Der Lehrer antwortet: »Nein, dann bist du Hausfrau.« Sie erwidert: »Nur jetzt arbeite ich nicht.« Der Lehrer wiederholt: »Dann sagst du: Ich bin Hausfrau.« Sie nickt und wiederholt: »Ich bin Hausfrau.« Nachdem jede_r seinen_ihren Satz gelernt hat, gehen alle im Unterrichtsraum umher und präsentieren einander. Als sich mir die Frau vorstellt, die nachgefragt hatte, was sie sagen solle, wenn sie nicht arbeitet, erklärt sie: »Ich bin Hausfrau. Aber nur jetzt.« Ich frage nach, was sie eigentlich mache und sie erzählt, dass sie vorher eine Ausbildung zur Informatikerin gemacht habe. Im Moment könne sie nicht regulär arbeiten, weil der Kurs zu viel Zeit in Anspruch nehme und sie drei Mal in der Woche aus einer anderen Stadt zum Goethe-Institut nach Casablanca anreise. Sie würde aber freiberuflich nebenher Apps programmieren. In den Gesprächen mit anderen Kursteilnehmerinnen wurde deutlich: Während einige Frauen sich als ›Hausfrau‹ bezeichneten und auch in dieser Rolle ihre Zukunft in Deutschland sahen, waren auch viele dabei, die bereits studiert, in einem Lohnarbeitsverhältnis standen und/oder auch Pläne hatten, in Deutschland an die Universität zu gehen oder eine Ausbildung zu beginnen. Fast keine der Frauen, aber auch der Männer im Deutschkurs, standen zu diesem Zeitpunkt in einem Lohnarbeitsverhältnis, da die Anwesenheit im Kurs sowie das Lernen der neuen Sprache so zeitintensiv waren, dass es für die meisten nicht möglich war, nebenbei noch einem regulären Job nachzugehen. Ceylin zum
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Beispiel hat gerade ihr Abitur gemacht und würde in Deutschland gerne Modedesign studieren. Dounia hat Jura studiert und einige Jahre in einer Kanzlei gearbeitet. Imane möchte erst einmal viel reisen, wenn sie in Deutschland ist und ihre Freiheit genießen. Und Asmaa freut sich darauf ihren eigenen Haushalt zu haben und möchte sich vor allem um die Kinder kümmern, sobald sie welche hat. Trotzdem werden die Frauen aus den ›Vorintegrationskursen‹ innerhalb des Goethe-Instituts als ›Hausfrauen‹ wahrgenommen und auch immer wieder so addressiert. Dies zeigte sich sowohl in Gesprächen mit Deutschlehrer_innen und anderen Mitarbeiter_innen als auch in den Beobachtungen der Interaktionen und Aushandlungen innerhalb der Kurse. Diese Kategorisierung der Frauen als ›Hausfrauen‹ und ›Mütter‹ geht zumeist mit einer Abwertung einher sowie einer Problematisierung in Hinblick auf ihre Einreise nach Deutschland und ihre zukünftige Integration. Auch in den Kursbüchern »Schritte« wird zumeist ein traditionelles Familienbild mit dem Mann in der Rolle des ›Ernährers‹ und der Frau in der Rolle der ›Mutter‹ und ›Hausfrau‹ vermittelt. An einem Tag wirft der Deutschlehrer eine Fotostory an die Wand und die Teilnehmer_innen müssen auf Deutsch beschreiben, was sie auf den Bildern sehen: Es ist ein junges Mädchen abgebildet, das ihre Eltern fragt, ob sie am Abend noch Zeit hätten, mit ihr zu spielen. Die Mutter antwortet, wie man später im Dialog vom Band hört, dass sie zu müde sei, da sie morgens immer das Frühstück mache, sie dann zur Schule bringe, anschließend im Supermarkt einkaufe und dann noch koche und putze. Auch der Vater erklärt, er sei zu müde, da er jeden Morgen um fünf Uhr aufstehe, zum Großmarkt fahre, dann den ganzen Tag im Laden stehe und am Ende des Tages noch die Kasse mache. Das Mädchen ist daraufhin traurig und geht mit ihren Hasen Poppel und Schnuffi spielen. Sie erzählt ihnen, dass sie auch viel zu tun habe: Sie gehe zur Schule, zum Tanzkurs und mache auch noch ihre Hausaufgaben. Was hier innerhalb der Sprachkurse passiert, kann als eine Form der »normative[n] Zurichtung« (Salgado 2014: 9) bezeichnet werden: Über das Vermitteln der Sprache werden auch bestimmte Bilder und Normen – wie in diesem Fall von der Frau als ›Mutter‹ und ›Hausfrau‹ und der heteronormativen Kleinfamilie – (re)produziert und an die Lernenden herangetragen. Das Portal ›Mein Weg nach Deutschland‹, das von einigen Deutschlehrer_innen in den ›Vorintegrationskursen‹ eingesetzt wird, vermittelt ebenfalls normatives Wissen. Das Projekt wird auf der Webseite wie folgt beschrieben: »Das Projekt hat das Ziel, den Übergang zwischen vorintegrativen Sprachlern-, Informations- und Beratungsangeboten im Ausland und Angeboten zur sprachlichen Erstförderung sowie weiteren Integrationsmaßnahmen des Bundes in Deutschland zu optimieren. Das Internetportal wird dementsprechend die im Rahmen der Vorintegration erworbenen Sprachund Landeskundekenntnisse verbessern und festigen. Weiterhin erwirbt diese besondere Lernergruppe durch Nutzung der Angebote des Portals unterschiedliche, für das Leben in Deutschland notwendige Kenntnisse wie zum Beispiel den Umgang mit verschiedenen Medien oder Orientierungswissen für ihre erste Zeit in Deutschland.« (Goethe-Institut 2013)
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Analysiert man die Inhalte der Seite wird deutlich, dass darüber nicht nur praktische Informationen für den Alltag in Deutschland vermittelt werden, sondern auch bestimmte Bilder, Werte und Normen – sowohl bezüglich des Lebens in Deutschland als auch der Ehe als Grundlage für eine Familie. So kommentiert eine Deutschlehrerin, die auch an dem Portal mitgearbeitet hat und mir die Webseite an einem Tag im Goethe-Institut Casablanca zeigt, dass die Seite speziell für ›nachziehende Ehegatten‹ konzipiert sei, was man zum Beispiel daran sehe, dass es keine Rubriken wie »Jugendleben« oder »Studium« gäbe, sondern eher Arbeit, Gesundheit, Familie, Einkaufen und so weiter. Auf einer weiteren Seite unter der Rubrik »Deutsch üben« werden Berufsfelder vorgestellt. Hier ist es auffällig, dass diese wiederum klassischen Geschlechterrollen folgen: Während in den Feldern »Deutsch im Büro«, »Deutsch im Handwerk« und »Deutsch für Wissenschaft und Technik« Männer abgebildet sind, sind zu »Deutsch für soziale Berufe«, »Deutsch im Bereich Dienstleistungen« und »Deutsch für Kulturberufe« zunächst Frauen zu sehen. Es werden also bereits bestimmte Vorbilder im Unterricht vermittelt, die den Kursteilnehmer_innen vergeschlechtlicht ihre Möglichkeiten in Deutschland aufzeigen. Die Pädagogin Rubia Salgado weist auf die Gefahr hin, in Integrationskursen nur bestimmte Arbeitskräfte auszubilden und plädiert dafür, dass jede_r die Möglichkeit haben sollte, jeden beruflichen beziehungsweise Bildungsweg zu gehen (vgl. Salgado 2015). Sie kritisiert auch die unangetastete Logik, dass Sprache automatisch zu Ermächtigung führe, da das Erlernen einer Sprache auch mit der Vermittlung von Normen und Inhalten verbunden sei und dadurch eine normative Zurichtung der Lernenden stattfände, die sowohl unterdrücken als auch ermächtigen kann. Dem Pädagogen Paolo Freire folgend betrachtet sie »Sprache in ihrem dialektischen Verhältnis zur Realität, das heißt sowohl als normative Instanz, die konstitutiv für den Erhalt von gegebenen Machtverhältnissen ist, als auch als Handlung und somit als realitätskonstituierend« (Salgado 2014: 9). Auch Dhawan betont aus einer postkolonialen Perspektive, dass Spracherwerb im Sinne von Bildung sowohl »als disziplinierende Macht« funktioniert, »aber auch emanzipatorisch wirken« kann (Dhawan 2014). Salgado stellt die Frage »Inwiefern werden normative Zurichtungen im Prozess des Lehrens und Erlernens der Mehrheitssprache Deutsch (re)produziert?« (Salgado 2014: 9) Im Falle der ›Vorintegrationskurse‹ wird ein normatives Wissen vermittelt, das die Kursteilnehmer_innen auf vergeschlechtlichte sowie ethnisierte Subjektpositionen zuweist. Sowohl in Anrufungs- und Bezeichnungspraktiken als auch in Interaktionen und über materialisiertes Wissen in Form von Texten und Bildern werden sie zum einen als Migrant_innen angerufen, die in der Pflicht stehen, sich eigenverantwortlich um ihre Integration zu bemühen. Zum anderen werden die Frauen auf ihre Rolle als ›Mutter‹ und ›Hausfrau‹ sowie damit einhergehend auf spezifische Aufgabenbereiche und Arbeitsfelder verwiesen. Dabei handelt es sich auch um eine Form der ›Hausfrauisierung‹. Das Konzept der ›Hausfrauisierung‹ verweist auf den Prozess vergeschlechtlichter Arbeitsteilung, wodurch Reproduktionsarbeit ins Haus verlagert, allein von Frauen und ohne Entlohnung verrichtet wird: »Die Hausfrauisierung ist die billigste Form, sich die Reproduktion der Arbeitskraft anzueignen, und hat zur
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Diskriminierung und Ausbeutung weiblicher Arbeit insgesamt (Haus- und Lohnarbeit) geführt.« (Carstensen/Groß 2006: 15) Innerhalb des Goethe-Instituts zeigt sich diese ›Hausfrauisierung‹ primär als ein vergeschlechtlichter Anrufungsprozess, mit dem die Kursteilnehmer_innen konfrontiert werden und der je nach Kapitalien und Subjektposition unterschiedliche Effekte mit sich bringt, wie ich im nächsten Kapitel aufzeigen werde. Doch der Prozess der ›Hausfrauisierung‹ im Kontext der Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ geht über diese diskursive Anrufung hinaus und schreibt sich auch nach der Einreise in Deutschland fort. So haben Karrer, Turtschi und Le Breton-Baumgartner auf den Effekt der ›Hausfrauisierung‹ allein durch ein »Visum, das an die Heirat gebunden ist« hingewiesen (Karrer et al. 1996: 121). Diese vergeschlechtlichte Anrufungspraxis hat auch Effekte auf die (Selbst-) Wahrnehmung von Männern, die circa 20 Prozent der Kursteilnehmer_innen im Goethe-Institut ausmachen, und laut Statistik rund 30 Prozent der gesamten Gruppe (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2015). Innerhalb des Goethe-Instituts werden Männer zunächst relativ selten markiert, in dem Sinne, dass deren Situation kaum problematisiert wird. Doch auch wenn Männer nicht explizit angerufen werden, wird durch die vergeschlechtlichte Anrufung der Frauen das Subjekt ›Mann‹ mitkonstruiert. Die Konstruktion der Frau als ›Hausfrau‹ und ›Mutter‹ in den Sprachkursen geht in den Logiken heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit einher mit der Konstruktion des Mannes als ›Familienernährer‹, die in manchen Übungen, wie der beschriebenen Lektion im Kursbuch, explizit wird. Als ich an diesem Tag aus dem Deutschkurs zurück ins Mitarbeiter_innen-Büro komme, erzähle ich, dass ich überrascht bin, weil es sich bei den Kursteilnehmer_innen auf keinen Fall, wie es vorher hieß, nur um ›ungebildete Hausfrauen‹ handele. Ich solle mich nur nicht täuschen lassen, nur weil die schick angezogen seien, wird mir entgegnet. Auch als ich später noch einmal mit einer Mitarbeiterin über die Vorstellungen der Teilnehmerinnen von ihrem Leben in Deutschland spreche, betont sie, dass diese naiv seien und wenn sie mir erzählten, dass sie Abitur haben, solle ich ihnen das nicht glauben, denn das heiße in Marokko noch nichts. Das Bild der ›Heiratsmigrantin‹ als ungebildet und allein in der Rolle der ›Mutter‹ und ›Hausfrau‹ ist wirkmächtig im Goethe-Institut und geht häufig an den komplexen Lebensrealitäten der Kursteilnehmer_innen vorbei. Wie wird das Integrationsparadigma nun in den privaten Schulen verhandelt?
4.3.3 Die Privatschulen: Umdeutung, Ablehnung und ethnisierte Deutungshierarchien »Hier wird ja auch keine Vorintegration geleistet«, kritisiert eine der Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts die Sprachschulen in Nador, als wir uns auf einer Prüfungsreise in den Norden befinden. Diejenigen, die zur A1‑Prüfung antreten, seien nicht gut vorbereitet, weil viele Mitarbeiter_innen an den Instituten keine Lehrer_innen seien. Sie hätten keine Ausbildung, sondern seien nur irgendwann mal in Deutschland gewesen oder könnten Deutsch. Die Qualität des Unterrichts sei sehr schlecht
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und trotzdem seien die Kurse »nicht gerade billig«. Für die Prüfung würden die Institute sogar noch einmal zusätzlich 200 Dirhams Einschreibungsgebühr verlangen. »Hier in Nador geht es nur ums Geld«, sagt sie. Natürlich würde auch das Goethe-Institut »Geld machen«, aber sie lieferten auch eine »gewisse Qualität«. Ihnen gehe es auch um die Leute. Wieder bezieht sich die Mitarbeiterin auf die Markierung der Marokkaner_innen als ›profitorientiert‹ und ›inkompetent‹, während sie sich selbst und ihre Kolleg_innen als ›sozial‹ und ›qualitätsorientiert‹ beschreibt. Der Austausch zwischen dem Goethe-Institut und den Sprachschulen beschränke sich auf die Kursbücher, die sie lieferten, und manchmal eine Fortbildung für die Lehrer_innen. Das seien hier in Nador keine richtigen Partnerschulen, da sie die Kriterien auch nicht erfüllten. Dazu bräuchten sie zum Beispiel festangestellte Lehrer_innen. Tatsächlich betonen auch die in den Schulen in Nador unterrichtenden Lehrer_innen selbst, dass sie hier keine Integrations-, sondern Sprachkurse anbieten würden. Einer der von mir interviewten Deutschlehrer sagte zu mir: »Wie soll ich etwas über Deutschland erzählen, wenn ich noch nie da war?« Vor einigen Jahren hatte er bereits Deutsch bis zum Niveau B1 gelernt und die Prüfung bestanden. Als er anschließend ein Visum für Deutschland beantragte, um dort zu studieren, erhielt er eine Ablehnung. Deshalb arbeite er jetzt in einer der Sprachschulen in Nador, dem I.M.A.I., wo es noch zwei weitere Lehrer_innen gibt. Für ihn sei es jedoch sehr wichtig, irgendwann einmal nach Deutschland zu reisen, wie er betont, am liebsten wäre ihm ein Praktikum. Er hoffe, dass ihn das Goethe-Institut dabei unterstützen werde. Im Sommer würde er noch einmal den Versuch unternehmen ein Besuchsvisum zu beantragen, denn er habe auch Tanten und Onkel dort. Aber das sei nicht leicht. Für ihn wird die Arbeit als Deutschlehrer und die Verbindung zum Goethe-Institut auch zu Mobilitätskapital – oder »motility« (Kaufmann et al. 2004) – sowohl auf sozialer Ebene für seine Karriere als auch physisch, um nach Deutschland einreisen zu können. So wie ihm erging es auch anderen Lehrer_innen der unabhängigen Sprachschulen. Die meisten von ihnen sprechen fließend Deutsch, waren jedoch noch nie in einem deutschsprachigen Land, da ihnen die Einreise verweigert wurde. Ein Lehrer einer anderen Schule in Nador machte eine ähnliche Erfahrung: Er hatte an der Universität in Fès Germanistik auf Lehramt studiert. Während des Studiums bewarb er sich um ein Studienstipendium nach Deutschland, das abgelehnt wurde. Als er ein paar Jahre später sein Studium abschloss und Jahrgangsbester wurde, hatten er und vier weitere Studierende ein Stipendium des Deutsch-akademischen Austauschdiensts bekommen. Während die anderen auch ein Visum erhielten, wurde seines erneut abgelehnt mit der Begründung, dass seine Rückkehr nicht garantiert sei. Anschließend machte er sein Referendariat an einem Gymnasium und bemühte sich wieder um ein Touristenvisum. Wieder wurde es ihm verwehrt, dieses Mal mit der Begründung, dass er nicht verheiratet sei, wie er berichtet. Er habe sich damals gewehrt und im Konsulat beschwert. Mit großer Verzögerung bekam er am Ende doch noch einen positiven Bescheid, nun konnte er jedoch aus zeitlichen Gründen nicht mehr fahren. Seiner Meinung nach sei eine Einreiseerlaubnis das Mindeste, was das Konsulat für sie tun
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könnte. Schließlich würden sie die deutsche Sprache kostenlos für sie verbreiten und für einen Deutschlehrer sei es sehr wichtig, einmal in Deutschland gewesen zu sein. »Wir vermitteln auch keine Integration, weil wir gar nicht wissen, was das ist«, sagt er. Die Vermittlung von ›Integration‹ wird hier auch an die Bedingung und Erfahrung geknüpft, in Deutschland gewesen zu sein, sowohl von Seiten des Goethe-Instituts als auch von den Sprachlehrer_innen in Nador selbst. Sie sind Vermittler_innen einer Sprache, in dessen ›Herkunftsland‹ die meisten von ihnen noch nie gewesen sind, weil sie selbst innerhalb des europäischen Grenzregimes immobilisiert werden. Bei einem gemeinsamen Mittagessen während der Prüfungsreise in Nador kommt die Frage auf, ob der Sprachnachweis für ›nachziehende Ehegatten‹ in nächster Zeit abgeschafft werde. Der Sprachabteilungsleiter antwortet, dass das ausgeschlossen sei, denn die Prüfung sei sehr wichtig. Einer der marokkanischen Lehrer antwortet gleich: »Ja, sehr wichtig für die Integration.« Es ist der gleiche Lehrer, der mir kurz zuvor erzählte, dass er keine Ahnung habe, was ›Integration‹ eigentlich sei. Der Sprachabteilungsleiter betont noch einmal die Gefahr, dass die Frauen nach Deutschland kämen und sich innerhalb der Familie isolierten. Ihre Kinder hätten dann in der Familie nur Amazigh gesprochen und lernten erst in der Schule Deutsch. Und das führe dann zu jenen Verhältnissen wie sie Herr Buschkowsky in seinem Buch über Neukölln beschreibe. Er fragt in die Runde, wer das schon gelesen habe und eine der Goethe-Institut-Mitarbeiterinnen meldet sich. Sie bekräftigt noch einmal, dass man nicht immer alles gut reden müsse und dass die Sprachbarriere wirklich zu Problemen führe. Auch hier wird den Lehrer_innen in Nador eine spezifische Funktion des Sprachnachweises vermittelt, nämlich als Präventionsinstrument für kulturelle Abschottung und Segregation in Deutschland, was als Gefahr und Bedrohung beschrieben wird. Die Beziehung zwischen dem Goethe-Institut und den privaten Sprachschulen in Nador hat sich bei meinen Recherchen als eine stark hierarchische herausgestellt. Auf Wünsche der Lehrer_innen vor Ort, die eigentlich im Sinne des Goethe-Instituts die deutsche Sprache verbreiten, wurde nicht eingegangen sowie Deutungs- und Sichtweisen der marokkanischen Lehrer_innen nicht ernst genommen. So haben Vertreter_innen des Goethe-Instituts entlang ethnisierter Deutungshierachien auch in dieser Situation die Definitionsmacht, was unter ›Integration‹ zu verstehen sei. Während der Prüfungsreise in den Norden Marokkos ging es auch immer wieder darum, wie das Goethe-Institut die Schulen unterstützen könnte. Gerade zu Beginn nach der Einführung der Sprachnachweispflicht gab es immer wieder Fortbildungen für Deutschlehrer_innen in Rabat und Casablanca, auch zusammen mit dem Institut français, wie einer der Lehrer aus Nador berichtet, der auch der Leiter der Sprachschule I.D.I. ist. Im Gegensatz zum Goethe-Institut hätten die Mitarbeiter_innen des französischen Instituts damals bereits mehr Erfahrungen mit ›Vorintegration‹ gehabt, weil es solche Kurse und Prüfungen dort schon früher gab. Sie schulten die Lehrer_innen der Deutschinstitute darin, welche Alltagsthemen diese umfasst. Auch stellt das Goethe-Institut die Bücher für Lehrer_innen: »Schritte 1 und 2« sowie das Prüfungsvorbereitungsbuch »Mit Erfolg zu Start Deutsch 1« zur Verfügung. Die Schüler_innen müssen die Bücher selbst kaufen, aus dem Prüfungsvorbereitungs-
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buch werden die Übungen für alle kopiert. Doch die Fortbildungen seien weniger geworden. Zudem fänden sie zumeist in Rabat sowie außerhalb der Schulferien statt, sodass Lehrer_innen, die auch im Gymnasium arbeiteten, nicht teilnehmen könnten, wie mir einer der Lehrer aus Nador erklärt. Mit vielem sind die Schulen in Nador also auf sich allein gestellt. Gerade im Bereich des ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ könnte das Goethe-Institut mehr machen, sagt einer der Lehrer des Instituts PIGIER: Bis vor zwei Jahren habe er auch die ›Start Deutsch 1‹-Kurse unterrichtet, aber das sei so anstrengend gewesen, dass er damit aufgehört habe. Er sei nicht dafür ausgebildet, jemandem das Alphabet beizubringen. Er sei sich sicher, dass die Frauen in ihren Familien von ihren Kindern einmal mehr lernen würden. Diese Argumentation bricht mit der Figur der ›dreifachen Integrationsverweigerung‹, der Vorstellung, dass es die Mütter sind, die mit ihren Kindern Deutsch sprechen müssen, damit diese sich integrieren würden. In Nador sind die Lehrer_innen mit einer höheren Quote von nicht-alphabetisierten Menschen konfrontiert, weshalb es auch spezielle Alphabetisierungskurse gibt. Trotzdem fehlen die Materialien und die Ausbildung dazu, wie die Lehrer_innen mitteilten. Die Idee der Sprachnachweis- und der damit einhergehenden ›Vorintegrations‹-Pflicht wird in den unabhängigen Sprachschulen auch kritisch gesehen: Als ich im Institut I.D.I. mit zwei Lehrern und der Sekretärin zusammensitze, während die Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts prüfen, zeigen sie Verständnis dafür, dass Studierende vor ihrer Ausreise »sehr gut« Deutsch lernen müssten, um sich dort zurecht zu finden. Für die marokkanischen Frauen, die zu ihrem Ehemann ziehen, sei das jedoch nicht so wichtig, erklärt die Sekretärin: »Für die Studierenden ist es wichtig, weil sie zur Universität gehen. Aber die Frauen des Familiennachzugs gehen direkt in die Küche.« Sie sagt, dass es hier noch normal sei, dass die Frau zuhause bleibe und sich um den Haushalt und die Kinder kümmere. Dies sei auch der Grund dafür, dass viele Frauen aus der Region einen Mann aus Deutschland heirateten. Selbst in Deutschland gebürtige Marokkaner suchten sich vorzugsweise eine Frau in Marokko, wo es für sie üblich sei, sich dem Mann zu fügen, den Haushalt zu machen und für die Familie zu sorgen, so die Sekretärin. Aus ihrer Perspektive seien die Frauen, die in Europa aufgewachsen sind, »viel entwickelter« und würden keinen Mann »unter ihrem Niveau« – im Sinne von Bildungsgrad – akzeptieren. Auch ein anderer Lehrer des Instituts PIGIER äußert sich kritisch zum Sprachnachweis und vertritt eine ähnliche Meinung. Er erinnert sich an das Jahr 2007, als der Sprachnachweis eingeführt wurde: »Für mich war das ein Schock!« Das habe er auch den Leuten des Goethe-Instituts mitgeteilt. Er findet die Vorgehensweise unmenschlich, denn man könne Paare nicht einfach wegen einer Sprachprüfung trennen. Er verstehe auch nicht den Sinn: Auch wenn die Marokkanerinnen diese Prüfung ablegen und ein paar Worte Deutsch könnten, würden sie in Deutschland trotzdem in ihren Familien bleiben und ihre Muttersprache sprechen. Die Sprachprüfung würde daran nichts ändern. Und die nötigen Wörter, um einkaufen zu gehen, würden sie schon lernen. In diesem Kontext wird die Sinnhaftigkeit des Sprachnachweises in Frage gestellt und stark kritisiert. Gleichzeitig wird in dieser Argumentation von den Vertreter_innen der privaten
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Sprachschulen die Rolle der Frauen, die den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ nutzen, als Hausfrauen und Mütter festgeschrieben und bereits im Vorfeld andere Lebenskonzepte in Deutschland ausgeschlossen. Während einige Lehrer_innen der unabhängigen Sprachschulen mit der Idee der Integrationsförderung und der Sprachnachweispflicht nichts anfangen können und diese sogar ablehnen, gibt es auch Lehrer_innen, die andere Vorstellungen von Integration haben: So sagt der Direktor der Sprachschule Clemenceau in Casablanca zum Beispiel, dass er es kritisch sähe, dass die Kursteilnehmer_innen, wenn sie in das Goethe-Institut gingen, sofort »in Deutschland seien«. Das mache ihnen Angst. In ihrer Schule dagegen würde man sie langsam daran gewöhnen, sodass sie sich, wenn sie in Deutschland ankämen, direkt integrieren könnten, so der Ansatz des Direktors. Er habe auch immer noch Kontakt zu seinen ehemaligen Schüler_innen. Eine Frau, die in der Schule A1 gelernt hatte, sei zu ihrem Mann nach Deutschland gezogen und habe dort mittlerweile ein Reisebüro eröffnet. Sie würde Reisen nach Marokko organisieren. Das sei doch die perfekte Integration, sagt er. Er erkundigte sich bei mir auch, ob es in Deutschland eine Organisation gebe, die neu angekommene Menschen vor Ort weiterhin begleite. Er betont, dass es ihm nicht um weitere Sprachkurse ginge. Vielmehr sei es hilfreich für den Integrationsgedanken, mit den Migrant_innen beispielsweise Konzerte oder Museen zu besuchen oder ihnen ein Praktikum anzubieten. Für Mohammed S., der dort als Lehrer arbeitet, bedeutet Integration vor allem die Sprache zu lernen: »Das ist der Schlüssel für die Integration.« Wenn die Deutschen sehen würden, dass Marokkaner sich für die Sprache interessierten, dann sei das »ein guter Schritt nach vorne«. Aber wenn man die Sprache nicht beherrsche, entstünden »Gruppen mit anderen Arabern in diesem Fall oder Ausländern und dann kommt es zu Hass gegen die Deutschen«. Die Deutschen hätten sie akzeptiert, indem sie ihnen das Visum gegeben hätten. Wenn sie sagen würden, »wir brauchen keine Marokkaner, dann wozu ein Visum und wozu kommen sie nach Deutschland«. Er knüpft damit wieder an das Bild von ›Parallelgesellschaften‹ und ›Abschottung‹ sowie die Bringschuld von Migrant_innen in Deutschland an und betont aber gleichzeitig: In den Kursen in ihrer Sprachschule gehe es jedoch erst einmal darum, auf die Prüfung vorbereitet zu werden. Die Analyse der Aushandlungen des Integrationsparadigmas im Goethe-Institut sowie in anderen Sprachschulen verdeutlicht, dass die Menschen, die die Deutschkurse besuchen, unterschiedlichen Diskursen, Anrufungen und Bezeichnungen ausgesetzt sind. Die Definition und Aushandlung von Integration folgt dabei ethnisierten Deutungshierarchien, wobei ein Diskurs hegemonial ist, der Integration im Sinne des Prinzips des ›Fördern und Fordern‹ versteht und mit ethnisierten sowie vergeschlechtlichten Bildern und Narrationen einhergeht. Gerade der Prozess der ›Hausfrauisierung‹ sowie die Aktivierung der Eigenverantwortung sind auf unterschiedlichen Ebenen sowohl im Goethe-Institut als auch in den privaten Sprachschulen besonders wirkmächtig. Gleichzeitig gibt es immer wieder Momente, wo sowohl von Kursteilnehmer_innen als auch von Lehrer_innen der hegemoniale Integrations-
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diskurs durchbrochen wird. Im folgenden Kapitel geht es darum, welche Effekte der Sprachnachweis und der damit einhergehende Integrationsimperativ für die Menschen mit sich bringen, die die ›Vorintegrationskurse‹ besuchen – mit dem Ziel, ein Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ zu beantragen.
4.4 E in - und A usschlüsse : umkämpfte P raktiken der Vorsortierung Am Beispiel zweier Protagonistinnen dieser Studie werde ich nun aufzeigen, wie es durch die Sprachnachweispflicht im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ sowohl zu Ein- als auch zu Ausschlüssen sowie zu einer Verzögerung des Migrationsprozesses kommt, welche Logiken und Rationalitäten dabei wirkmächtig werden und wie diese in Alltagspraktiken vollzogen werden. Außerdem werden innerhalb dieses Zeitraums des Wartens Momente der Solidarisierung, Aneignung und Kollektivierung der Menschen aufgezeigt, die das Einreiseverfahren durchlaufen.
4.4.1 Ausschlüsse: Alphabetisierung und Bildung als Selektionskriterien Eineinhalb Jahre ist es her, dass Siham geheiratet hat. Seitdem lernt sie Deutsch – Tag für Tag. Ihren Mann Johannes hat sie seit dem Tag ihrer Eheschließung vier Mal gesehen, wenn er zu Besuch kam. Sonst kommunizieren sie per Telefon. Johannes wohnt in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg. Siham lebt mit ihrer Familie in Casablanca. Die 29‑jährige investiert viel Zeit und Energie in das Erlernen der neuen Sprache: Vier Mal in der Woche nimmt sie ein Grand Taxi, um zu einer kleinen Privatschule in die Innenstadt zu fahren. Die Kurse dauern jeweils drei Stunden. Sobald sie zuhause ist, wiederholt sie das Gelernte und erledigt ihre Hausaufgaben. Dazu zieht sie sich in ein Zimmer zurück, das sich im obersten Stockwerk des Familienhauses befindet. Dort ist sie ungestört. Die Wände in diesem Raum sind mit Arbeitsblättern tapeziert. Auf einigen sind Gegenstände abgebildet, unter die Siham das jeweilige deutsche Wort geschrieben hat. Sie verwendet vor allem Großbuchstaben, die Größe der Schriftzeichen sowie Linien sind ungleichmäßig und zittrig und oft machen die Zeilen, sobald mehrere Wörter aneinandergereiht werden, einen steilen Bogen nach unten. Die Schrift erinnert an die einer Erstklässlerin. Und tatsächlich hat Siham erst mit dem Deutschkurs begonnen, schreiben zu lernen. Davor war sie nicht alphabetisiert, weder in arabischer noch lateinischer Schrift. Als sie im schulreifen Alter war, fragte sie ihre Mutter, ob sie zuhause bleiben könne. Diese willigte ein und seitdem hilft Siham ihrer Familie im Haushalt. Sie ist nie zur Schule gegangen. Die Sprachprüfung für ›nachziehende Ehegatten‹, die sie beim Goethe-Institut ablegen muss, um ein Visum für Deutschland beantragen und zu ihrem Mann ziehen zu können, wird die erste in ihrem Leben sein. Seit eineinhalb Jahren denkt sie an nichts anderes, im Kopf geht sie immer wieder die vielen erlernten Wörter durch und zeichnet mit dem Finger die Buchstaben nach, um nichts zu vergessen. Oft kann sie deswegen nachts nicht schlafen.
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Marokko hat von allen nordafrikanischen Ländern die niedrigste Alphabetisierungsrate: Diese lag 2012 bei 67,1 Prozent. Fast ein Drittel der marokkanischen Bevölkerung ist also nicht alphabetisiert und diese Zahlen beziehen sich auf die Alphabetisierung in arabischer Schrift. Unter den marokkanischen Frauen zwischen 15 und 24 liegt die Alphabetisierungsrate bei 74 Prozent und bei den Männern in diesem Alter bei 88,8 Prozent (vgl. UNICEF 2013). Frauen sind also aufgrund der Ungleichheit im Zugang zu Bildung noch einmal stärker davon betroffen. So finden sich auch unter der Gruppe, die einen Partner oder eine Partnerin in Deutschland haben und über den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ einreisen möchten, immer wieder Menschen, die nicht alphabetisiert sind. Als mir eine Mitarbeiterin das erste Mal von diesen Fällen berichtet, erzählt sie, dass diese meistens am Anfang nicht sagen würden, dass sie nicht lesen und schreiben können, fingen dann den Kurs trotzdem an und müssten irgendwann abbrechen. Dem werde nun vorgebeugt: Im Goethe-Institut Casablanca wurde ein Formular eingeführt, dass bei der Anmeldung auf Französisch, also in lateinischer Schrift, ausgefüllt werden muss: Name, Geburtsdatum und ‑ort, Adresse, mobile und feste Telefonnummer, E‑Mail-Adresse, Schulniveau, Muttersprache, Fremdsprachenkenntnisse. Wer dazu nicht in der Lage ist, kann sich nicht einschreiben und muss sich selbst darum kümmern, das Alphabet zu lernen. Auch Siham hatte sich zunächst im Goethe-Institut für einen ›Vorintegrationskurs‹ eingeschrieben. Das Formular gab es damals noch nicht und so saß sie für einige Sitzungen in einem Kurs, zusammen mit Teilnehmer_innen, von denen einige sogar studiert hatten. Eine andere Deutschlehrerin berichtete, dass eine hinsichtlich dem Bildungshintergrund so durchmischte Gruppe durchaus funktionieren könne, da die Solidarität meistens sehr stark sei und auch Nicht-Alphabetisierte Qualitäten mitbringen würden, von denen andere profitieren könnten. Zum Beispiel habe sie die Erfahrung gemacht, dass, wer nicht alphabetisiert sei, ein sehr ausgeprägtes Gedächtnis habe und Sprache vor allem über Bilder lerne. Wer ohne Lesen und Schreiben zu können durchs Leben gehe, müsse sich anderweitig helfen, sagt sie. Doch Sihams Lehrer war streng mit ihr und schon nach kurzer Zeit bat er sie, den Kurs zu verlassen und in einer anderen Institution das Alphabet zu lernen. Sie hatte Glück, sie fand die private Sprachschule Clemenceau, wo Mohammed S., der ehemalige Lehrer des Goethe-Instituts, mit viel Erfahrung und Geduld Menschen wie Siham das Alphabet beibringt und sie auf die ›Start Deutsch 1‹-Prüfung vorbereitet. Neben dieser Schule konnte ich keine andere Institution in Casablanca oder Rabat ausfindig machen, in der die Alphabetisierung in deutscher Sprache angeboten wird. Wird der Alphabetisierungskurs zum Beispiel im Institut français, dem französischen Kulturinstitut, gemacht, müssen die Teilnehmer_innen anschließend trotzdem wieder in der deutschen Sprache bei Null beginnen, was doppelte Kosten, sowohl zeitlich als auch finanziell, verursacht. Die Professorin und Übersetzerin Rachida Z., die auch Rechtsberatung für Menschen anbietet, die zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin nach Deutschland ziehen wollen, hat mir von Fällen von Nicht-Alphabetisierten erzählt, die in Deutschland verheiratet sind, aber nicht ausreisen können, weil sie nicht lesen und schreiben und so die Sprachprüfung nicht ablegen können. Bei meinen ersten Forschungsaufenthalten in
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Tanger habe ich selbst zwei Frauen getroffen, die ebenfalls nie zur Schule gegangen sind. Beide hatten einen Privatlehrer, um das Alphabet zu lernen. Bei einer der beiden Frauen, die zu diesem Zeitpunkt mit einem Österreicher verheiratet war, konnte ich einige Male beim Unterricht dabei sein. Ich saß neben ihr, als sie Buchstabe für Buchstabe übte, und konnte so ansatzweise verstehen, was es für eine Ende-20-Jährige, die noch nie einen Stift in der Hand gehalten hat, die nie eine Fremdsprache gelernt hat, die nur Darija – das marokkanische Arabisch – spricht und selbst in ihrer Muttersprache nicht alphabetisiert ist, was es für sie bedeutet, nun Deutsch lesen, schreiben und sprechen zu lernen. Nach einigen Wochen gab sie auf. Eines Tages die Prüfung zu bestehen, lag für sie in zu weiter Ferne. Außerdem hatte sie keine finanzielle Unterstützung für dieses Vorhaben und musste wieder arbeiten gehen. Lehrer_innen des Goethe-Instituts und von anderen Sprachschulen, die mit Nicht-Alphabetisierten gearbeitet haben, berichteten mir von deren Schwierigkeiten: sich an das Format des Unterrichts zu gewöhnen, sich drei Stunden lang zu konzentrieren und später geprüft zu werden, was teilweise mit einer enormen Prüfungsangst einhergeht. Im Migrationsbericht 2014 wird Marokko unter den Ländern aufgeführt mit »relativ hohen Bestehquoten« in der ›Start Deutsch 1‹-Prüfung. Diese lag im Goethe-Institut Marokko 2014 insgesamt bei 77 Prozent (2012 noch bei 84 Prozent), bei internen Prüfungen bei 83 Prozent (2012: 92 Prozent) und bei externen Prüfungen bei 76 Prozent (2012: 83 Prozent) (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2013, 2015). Diesen Daten kann nicht entnommen werden, wie groß der Anteil an Personen tatsächlich ist, die zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin ausreisen möchten, es aber nicht können, weil sie den Sprachnachweis nicht erbringen können. Auch lassen sich durch diese Zahlen keine Aussagen darüber treffen, wie sich der Zeitraum bis zur Ausreise durch die Sprachnachweispflicht verlängert. Es ist auch schwierig festzustellen, wie lange im Schnitt die Sprache erlernt wird, wie oft die Prüfung wiederholt wird oder wie viele die Prüfung nie antreten werden. Letztlich tauchen jene Fälle, auf die ich in Marokko gestoßen bin, in keiner Statistik auf und lassen eine Dunkelziffer an Menschen vermuten, die aufgrund des Sprachnachweises daran gehindert werden, überhaupt ein Visum zu beantragen und zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin zu ziehen. Durch den Sprachnachweis im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ findet eine Selektion statt. Das Erlernen der deutschen Sprache als Bedingung für die Einreise nach Deutschland, ermöglicht es, bestimmte Menschen, die innerhalb des neoliberalen Migrations- und Workfare-Regimes als »unbrauchbar« und »unproduktiv« kategorisiert werden (Lanz 2009: 111), von der Einreise abzuhalten. Hier greift ein »neoliberales Aktivierungsmodell« (Ronneberger/Tsianos 2007: 148), das eine »Selektion institutionalisiert, deren untere Grenze die soziale Eliminierung der ›Unfähigen‹ und ›Unnützen‹ darstellt« (Balibar 2008: 23; zit. n. Ronneberger/Tsianos 2007: 148). Auf einer Tagung des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften (iaf) und der Türkischen Gemeinde in Deutschland am 25. September 2008 in Berlin sprach der damalige innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag Dr. Hans-Peter Uhl klare Worte: »Wollen Sie die Masseneinwanderung von
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Analphabeten?« Es gebe ein »nationales Interesse, keine Analphabeten in Deutschland zu haben« (Deutscher Bundestag 2008). Auch eine der Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts Marokko stellt in einem Interview die Frage: »Möchten wir Analphabetinnen? Oder wollen wir junge Menschen, die etwas können?« Sie schätzte den Anteil von nicht-alphabetisierten Menschen unter den ›nachziehenden Ehegatten‹ auf 10 bis 15 Prozent. Während das Goethe-Institut in einer Broschüre mit dem Titel »Sprache und Integration« damit wirbt sowohl für »nachziehende Ehepartner« Kurse zur Alphabetisierung sowie für Deutschlehrkräfte Materialien zur Alphabetisierungsarbeit zu entwickeln und bereitzustellen (vgl. Goethe-Institut 2012), werden im Goethe-Institut Casablanca die Menschen, die in diese Kategorie fallen, weggeschickt. Nach der Einführung der Sprachnachweispflicht 2007 gab es auch Angebote für Alphabetisierung. Einige Lehrer_innen hatten sich dem angenommen, zwar tatsächlich ausgestattet mit Materialien aus der Zentrale, jedoch ohne Erfahrung und Ausbildung in diesem Bereich. Auch Praktikant_innen wurden öfter eingesetzt, um hier zu unterstützen. Doch mittlerweile wurde in Casablanca das Formular eingeführt, um Interessierte frühzeitig an andere Institutionen zu verweisen. Sowohl der Sprachabteilungsleiter als auch der Leiter des Goethe-Instituts betonen, dass die Alphabetisierung nicht ihre Aufgabe sei, sondern die des marokkanischen Staates. Für Siham, die nicht alphabetisiert ist, bedeutet der Sprachnachweis vor allem, noch länger von ihrem Mann getrennt zu leben. Wenn sie endlich in Deutschland ist, möchte sie erst einmal nicht arbeiten: den Haushalt machen, ein Baby bekommen, sich um ihren Mann und dessen Mutter kümmern, die im selben Haus lebt. Das Gehalt ihres Mannes reiche für beide zum Leben, erklärt sie mir. Sie ist überzeugt: Wenn sie erst in Deutschland bei ihrer ›deutschen‹ Familie sei, werde sie auch schnell die Sprache lernen. Die Erfordernis des Sprachnachweises ändert nichts an ihrem Lebenskonzept, Hausfrau und Mutter zu sein, das zunächst im hegemonialen Diskurs in die Kategorie der ›Integrationsverweigerung‹ und ›Abschottung‹ fallen würde. Auch aufgrund der fehlenden formalen Bildung würde sie als ›schwer integrierbar‹ eingestuft werden. Gleichzeitig war Siham eine der ersten, die in der Sprachschule Clemenceau auf mich zukam. Wir hatten gemeinsam im Seminarraum Prüfungstestblätter Korrektur gelesen und anschließend kam sie auf mich zu: »Trinken Sie Tee?« Mohammed S. bat sie das noch einmal zu wiederholen und sie sagte: »Möchten Sie Tee?« Sie hatte dabei immer direkten Blickkontakt mit mir und lachte. Anschließend ging sie in die Küche, um Tee zuzubereiten. Zwei von den jungen Männern schickte sie los, um Tee und Minze zu besorgen. Sie brachten auch Gebäck mit und wir saßen schließlich alle zusammen auf der Terrasse und unterhielten uns. Trotz Sihams geringer Deutschkenntnisse kam eine Unterhaltung zustande: Durch Gestik und Mimik, durch ein paar Worte Deutsch von ihr, durch ein paar Worte Darija von mir und schließlich durch die Übersetzung ihrer Freundinnen. Siham ist ein offener Mensch, interessiert an neuen Menschen und sie hat ihre eigenen Pläne für ihr Leben in Deutschland mit ihrem Mann, wozu für sie auch gehört langfristig die Sprache zu beherrschen. Da sie Schwierigkeiten hat in ihrer jetzigen Situation Deutsch zu ler-
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nen, zumindest in den geforderten Bereichen Lesen und Schreiben, und damit die Kriterien für eine Einreise nach Deutschlad nicht erfüllt, schränkt sie die Sprachnachweispflicht in der Umsetzung ihres Migrationsprojekts vielmehr ein, als dass sie sie ›fördern‹ würde. Rubia Salgado hebt in einem Interview hervor, dass Integration eigentlich etwas sehr vielfältiges und heterogenes sei, aber im Moment viele Lebensweisen nicht möglich seien (Salgado 2015). Darunter fallen auch Sihams Situation und Lebenspläne.
4.4.2 Einschlüsse: Aktivierung neuer Arbeitskraft Ceylin war A1 nicht genug. Nachdem sie den ›Vorintegrationskurs‹ im Goethe-Institut Casablanca erfolgreich mit der ›Start Deutsch 1‹-Prüfung abgeschlossen hatte, entschied sie sich dafür, direkt weiter zu lernen. Über Freundinnen stieß sie auf die Sprachschule Clemenceau, wo sie sich für einen weiteren Kurs anmeldete, um Deutsch auf B1‑Niveau zu lernen. Ihr Mann hatte ihr erzählt, dass die Integrationskurse in Deutschland nicht gut seien und das Niveau sehr niedrig. In Marokko dagegen könne man in einem Superintensivkurs zum Beispiel A2 in nur vier Wochen machen. Für sie sei es ohnehin kein Problem noch länger in Marokko zu bleiben, ihr Mann komme sie auch regelmäßig besuchen und so könnten sie noch gemeinsam den Ramadan in Marokko verbringen. Der ›Vorintegrationskurs‹ im Goethe-Institut fiel ihr relativ leicht, auch wenn sie immer wieder Angst vor den Prüfungen hatte. Sie ist 21 Jahre alt, hat Abitur gemacht, war für kurze Zeit an der Universität und hat sich dann für eine zweijährige Ausbildung im Bereich Unternehmensmanagement entschieden. Sie spricht bereits fließend Französisch. Als sie den Kurs im Goethe-Institut angefangen hat, unterbrach sie ihre Ausbildung und macht seitdem nichts anderes als Deutsch zu lernen. Wenn sie in Deutschland ist, möchte sie das einjährige Studienkolleg absolvieren, da das marokkanische Abitur nicht anerkannt werde. Anschließend würde sie gerne Zahnmedizin studieren. Ihre Schwester ist auch Zahnärztin. Ihr Traum wäre es, mit ihr eine gemeinsame Praxis in Marokko zu führen. Die Sprachnachweispflicht zieht nicht nur Ausschlüsse mit sich, sondern auch Einschlüsse. Die Mehrheit der Menschen, die den Sprachnachweis erbringen müssen, weil sie ein Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ beantragen wollen, bestehen die Prüfung, wenn nicht beim ersten, dann beim zweiten oder dritten Mal. Ein großer Teil der Kursteilnehmer_innen in den ›Vorintegrationskursen‹ hatte bereits Französisch als Fremdsprache gelernt und/oder Abitur, eine Ausbildung oder Studium hinter sich. Wer einen Schulabschluss hat, vielleicht sogar studiert und bereits andere Fremdsprachen gelernt hat und sowohl die arabische als auch die lateinische Schrift beherrscht (und das trifft bei vielen jungen Menschen in Marokko zu), wird keine Probleme haben, die ›Start Deutsch 1‹-Prüfung sogar beim ersten Mal zu bestehen. Wer dann auch noch in Casablanca oder Rabat und Umgebung lebt und ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung hat, kann sich sogar den ›Vorintegrationskurs‹ im Goethe-Institut leisten, wo die Bestehensquote der internen Prüfungen 2015 bei
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92 Prozent lag (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016: 116). Der Sprachnachweis sortiert nicht nur aus, sondern aktiviert die Kursteilnehmer_innen auch für den deutschen Arbeitsmarkt, wo Deutschkenntnisse zu den wichtigsten Kriterien gehören. Spätestens seit der Hartz-IV-Reform hat sich sozialpolitisch ein Integrationsparadigma durchgesetzt, nachdem Integration vor allem über Erwerbstätigkeit definiert wird und nach der Leitlinie des ›Fördern und Fordern‹ die Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu einem der wichtigsten sozialpolitischen Ziele erklärt wurde, auch wenn deren Umsetzung mit Prekarisierungsprozessen einhergeht (vgl. Lehnert 2009). Auch Irene Götz kommt zu dem Schluss, dass in Zeiten des Postfordismus – zumindest im hegemonialen Diskurs – der_die Migrant_in dann als »zugehörig« gilt, wenn er_sie aktivierbare_r Bürger_in sei und ökonomisch potente_r Selbstunternehmer_in (vgl. Götz 2011: 331). Dieses ökonomistische Integrationsparadigma wird auch in diesem Feld wirksam. Die »neue Kunst des Regierens der Migration« (Andrijasevic et al. 2005) ist eben nicht nur auf Abschottung und Ausschluss, sondern auch auf Inklusion und Zirkulation lebendiger Arbeitskraft, auf Subjektivierung und Aktivierung ausgelegt. Der Filter der Grenze, der sich hier in Form des politischen Instruments des Sprachnachweises artikuliert, erfüllt nicht nur die Funktion der Selektion und des Ausschlusses, sondern auch der Aktivierung und des Einschlusses. So wie Ceylin erging es auch anderen Teilnehmer_innen in den ›Vorintegrationskursen‹, die bereits feste Vorstellungen hatten, wo sie später arbeiten, welche Ausbildung sie gerne machen oder was sie gerne studieren würden. Auch unter den ›nachziehenden Ehegatten‹ befinden sich Menschen, die eine Bildungskarriere planen, und den Kurs auch nutzen, um diesem Plan ein Stück näher zu kommen. Ceylin, aber auch ihre Freundin Badria, gingen sogar soweit, dass sie in Marokko noch Deutsch bis zum Niveau B1 lernten, um dann, einmal in Deutschland, direkt das Studienkolleg besuchen zu können. Hier werden wieder nach einem neoliberalen Aktivierungsmodell vorhandene Kapitalien aktiviert und dabei auch multipliziert – immer nach dem Prinzip des ›Fördern und Fordern‹. Nach einer ökonomistischen Logik werden Menschen, die über den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ einreisen, dabei auch zu ›Humankapital‹ für den bundesdeutschen Arbeitsmarkt. In den Diskursen um ›Humankapital‹ geht es vor allem um »Qualität und Qualifizierung«: »Humankapital bedeutet in dieser Perspektive zunächst nichts anderes, als da[ss] Wissen und Fertigkeiten, der Gesundheitszustand, aber auch äußeres Erscheinungsbild, Sozialprestige, Arbeitsethos und persönliche Gewohnheiten als knappe Ressource anzusehen sind, die aufzubauen, zu erhalten und zu steigern Investitionen erfordern.« (Bröckling 2003: 18)
Die Verantwortung, das eigene ›Humankapital‹ zu steigern und zu optimieren, wird dem Individuum nach dem neoliberalen Universalprinzip der Selbstverschuldung dabei selbst zugeschrieben (vgl. ebd.: 21). Auch Integration wird in diesem Kontext primär als individuelle Leistung verstanden, die von Migrant_innen zu erbringen ist, um bestimmte Rechte, in diesem Fall das der Einreise, zu erhalten. Dabei ist die Idee der Selbstführung und der Eigenverantwortlichkeit sehr wirkmächtig, wie auch
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im Fall von Ceylin besonders deutlich wird, die das ›Geforderte‹ überschreitet und weiter in ihre Bildung investiert, ebenfalls bereits vor der Einreise. Der Sprachnachweis entspricht damit neuen Regierungstechnologien, die auf subtile Weise und dezentriert »auf Selbstlenkung und Selbstermächtigung setzen und die Gesellschaft als Einheit über die Aktivierung des Einzelnen herstellen« (Wiede 2014: 9). Innerhalb der Sprachkurse werden die Teilnehmer_innen auch über die Idee des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007) angerufen, wobei an ihre Eigenverantwortlichkeit appelliert wird, sich zu integrieren. Auch das Migrationsprojekt von Ceylins Mann war an die Vorstellung einer Karriere geknüpft, als er vor 14 Jahren über ein Studienvisum von Marokko nach Deutschland migriert ist. Mittlerweile besitzt er die deutsche Staatsangehörigkeit und spricht akzentfrei Deutsch. Er hat Wirtschaftsinformatik studiert und arbeitet bei einem internationalen Unternehmen. Als ich sie das erste Mal frage, wie sie sich kennengelernt haben, ist es Ceylin zunächst unangenehm und sie sagt nach einer Weile: »Au Maroc, c’est different. Mon mari, il est de ma famille.« (»In Marokko ist das anders. Mein Mann, er ist aus der Familie.«) Sie habe ihn schon länger gekannt und irgendwann sei er nach Marokko gekommen und habe mit ihren Eltern gesprochen. Anschließend wurde die Verlobung eingeleitet und kurze Zeit später auch die Heirat. Ceylin wäre lieber in Marokko geblieben, weil hier auch ihre Familie ist und sie Angst hat nach Deutschland zu gehen. Jedoch könne sich ihr Mann gut vorstellen, irgendwann nach Marokko zurückzukehren und hier ein Unternehmen aufzubauen. Jetzt sei das noch nicht möglich, weil das Leben in Marokko nicht einfach sei. Einem kulturalistischen Integrationsdiskurs folgend würde auch Ceylin wiederum eine Gefahr für die ›christlich-westliche‹ Mehrheitsgesellschaft darstellen: Sie ist religiös, praktiziert den Islam, ihr Mann ist auch Marokkaner und kommt sogar ›aus der Familie‹. Zudem sind die beiden Marokko sehr verbunden. Durch den hohen Bildungsgrad verändert sich hier jedoch die Bewertung dieses ›kulturellen‹ Bias. In einer Nützlichkeitslogik könnte Ceylin eines Tages zu den Hochqualifizierten gehören, was ihr Mann bereits tut, und die Verbindungen nach Marokko und die Zukunftspläne dort zu investieren und eine Existenz aufzubauen, wird in Zeiten des »Hype um Migration&Entwicklung« (Schwertl 2015) ebenfalls positiv bewertet. Hier zeigt sich, dass es bei der Steuerung und Begrenzung von Migration durch die Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ vor allem auch in der neoliberalen Verwertungslogik um eine Vorsortierung entsprechend des ökonomischen Potenzials und der Wettbewerbsfähigkeit von Migrant_innen am Arbeitsmarkt sowie einer Aktivierung zukünftiger Arbeitskräfte geht. Das »Gebot der Nützlichkeit« hat spätestens seit der Einführung der Green Card durch den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder Anfang 2000 wieder Einzug in die Migrationspolitik erhalten (vgl. Ronneberger/Tsianos 2009: 141) und zieht sich durch unterschiedlichste Initiativen und Programme. Bei diesen Ein- und Ausschlüssen wird Klasse permanent mithergestellt. Diese Nützlichkeitslogik scheint auf einen ersten Blick dem beschriebenen Prozess der ›Hausfrauisierung‹ entgegenzustehen, wird die ethnisierte ›Hausfrau‹ im hegemonialen Diskurs doch vielmehr zur Gefahr für die Integration konstruiert und
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deren Rolle als Arbeitskraft im Sinne reproduktiver Tätigkeiten nicht anerkannt. Wie sich diese beiden Logiken in der staatlichen Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ jedoch ergänzen und verschränken, werde ich im Fazit aufzeigen.
4.4.3 Verzögerung statt Immobilität: Temporalisierung als Regierungsweise »Tlata, jouj, …«, zählen alle und blasen die Kerzen auf dem Kuchen aus. Siham sitzt am Tisch und strahlt. Sie hat ihre Haare heute offen, ist geschminkt, trägt eine Bluse, eine schwarze, lockere Hose und Pumps. Immer wieder kommt jemand zu ihr, umarmt und küsst sie. Wir sind auf dem Balkon der Sprachschule Clemenceau. Der Deutschlehrer Mohammed S. ist auch da und hat erst an diesem Tag erfahren, dass Siham das Visum bekommen hat. Es sollte eine Überraschung sein. Sihams Schwestern und Nichten sind auch dabei. Sie filmen alles und machen Fotos. Ich sitze neben Ceylin und Badria, die am nächsten Tag ihre B1‑Prüfung hat und aufgeregt ist. Wiederholt wird Mohammed S. gelobt, welch ein besonderer Lehrer er sei und dass sie ohne seine eigenen speziellen Methoden die Prüfungen nie bestehen würden. Plötzlich fängt eine Frau, die neben Siham sitzt, an zu weinen. Auch sie hat große Schwierigkeiten Deutsch zu lernen, weil sie noch nie zur Schule gegangen ist und gerade erst das Alphabet gelernt hat. In den kommenden Tagen tritt sie zur ›Start Deutsch 1‹-Prüfung an. Alle trösten sie und reden ihr gut zu, dass sie bestehen werde. Siham hat es nach drei Jahren nun auch geschafft, jedoch ohne die Deutschprüfung. Seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. September 2012, das das Ergebnis einer Einzelklage einer afghanischen Frau war, gibt es eine Härtefallregelung für ›nachziehende Ehegatten‹, die zu einem_r Ehepartner_in mit deutscher Staatsangehörigkeit einreisen: »Die verfassungskonforme Auslegung des § 28 Abs. 1 Satz 5 gebietet es, von diesem Erfordernis vor der Einreise abzusehen, wenn Bemühungen um den Spracherwerb im Einzelfall nicht möglich, nicht zumutbar oder innerhalb eines Jahres nicht erfolgreich sind.« (Bundesverwaltungsgericht 2012) Für den Zuzug zu ›ausländischen‹ Ehepartner_innen ins Bundesgebiet, muss diese_r jedoch erst vorweisen, dass »dem in Deutschland lebenden Ehepartner die Herstellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft außerhalb des Bundesgebietes aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen objektiv nicht möglich oder aufgrund besonderer Umstände nicht zuzumuten ist«, wie aus einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2010 bereits hervorgeht (Bundesverwaltungsgericht 2010). Die Information, dass es diese Härtefallregelung gibt, wird im Goethe-Institut nicht explizit weitergegeben. Jedoch kommen immer wieder Kursteilnehmer_innen und fragen nach einer Bestätigung, dass sie den Kurs besucht oder durch die Prüfung gefallen sind, berichteten mir zum Beispiel die Sekretärin des Goethe-Instituts Rabat sowie der Leiter des ÖSD oder Mohammed S. von der Schule Clemenceau. Doch allein die Bestätigung, dass der Versuch unternommen wurde innerhalb eines Jahres Deutsch zu lernen, reicht nicht, wie Siham erfahren hat und wie auch Kritiker_innen der Härtefallregelung, die an eine Einzelfallprüfung gekoppelt ist, immer wieder anmerken.
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Als Siham einen Härtefallantrag im Konsulat stellt, wohin sie ihr Bruder begleitet, verlangt die Mitarbeiterin am Schalter ein Dokument, das beweist, dass sie nicht zur Schule gegangen ist – ein Dokument, das nicht leicht zu besorgen ist in Marokko. Während die Familie alle Kontakte nutzt, um an eine solche Bescheinigung zu kommen, schaltet ihr Mann in Deutschland bereits einen Anwalt ein. Dieser macht schließlich Druck im Konsulat, sodass Siham letztlich das Visum ohne den Sprachnachweis bekommt. Zum einen hatte sie das Glück, dass die Härtefallregelung auf sie zutraf, da ihr Mann deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Zum anderen wurde sie von ihrem Mann und ihrer Familie unterstützt. Jedoch bin ich auch Frauen begegnet, die auf solch ein Netzwerk nicht zurückgreifen konnten. Die Juristin Rachida Z. unterstützt immer wieder Klient_innen die Härtefallregelung durchzusetzen, zum Beispiel auch indem ein Arzt bestätigt, dass jemand gesundheitlich nicht in der Lage ist Deutsch zu lernen. Viele der Teilnehmer_innen der Deutschkurse wurden sowohl beim Lernen der Sprache als auch beim Organisieren der Dokumente und Behördengängen von ihren Partner_innen in Deutschland unterstützt. Aber auch zwischen den Teilnehmer_innen gab es Solidarität und es wurden die ›Schwächeren‹ mitgezogen. Während manche Lehrer_innen diese Unterstützung bestraften und an die individuelle Eigenleistung appellierten, gab es andere Lehrer_innen, die diese Hilfe guthießen oder zumindest tolerierten. Auch wenn die Einreise trotz der Sprachnachweispflicht für die Mehrheit gelingt, gehen das Erlernen der Sprache sowie die damit einhergehende Organisation der Dokumente und die zahlreichen Behördengänge mit einer extremen Verzögerung des Migrationsprozesses einher. Bei Siham nahm dieser Prozess drei Jahre in Anspruch, bis sie und ihr Mann auf die Härtefallregelung zurückgriffen. Der Leiter des ÖSD erzählte von Frauen, die die Prüfung über zehn Mal bei ihm abgelegt hatten, bis sie bestanden. Sie würden immer weiter lernen und so die Gesamtpunktzahl nach und nach steigern, bis sie es geschafft haben. Er habe nicht nur Respekt vor diesen Leuten, sondern auch vor den Lehrer_innen, die so geduldig sind und mit ihnen zusammenarbeiten. Bei anderen verzögert sich die Ausreise durch das Visum nur um wenige Monate. Diese Verlängerung des Zeitraums bis zur Einreise führt zu einer Erweiterung des Raums, in dem migrantische Subjekte regiert werden können. Unabhängig von der eigenen Subjektposition sind sie, wie bereits herausgearbeitet, in dieser Zeit unterschiedlichen – teilweise widersprüchlichen – Anrufungs- und Bezeichnungsprozessen – als ›Hausfrau‹ und ›Mutter‹, als ›zukünftiges Mitglied einer Leistungsgesellschaft‹, als ›Integrationsverweigerer‹, als ›Unternehmer ihrer Selbst‹, als ›kulturell Andere‹ et cetera – ausgesetzt, mit denen sie individuell unterschiedlich umgehen. Dabei fungiert das Integrationsparadigma als ein normatives Instrument der Anrufung und Hierarchisierung, das Ein- und Ausschlüsse mit sich bringt. Lentin und Titley bezeichnen »Integration« auch als eine »border practice, beyond and inside the territorial border« (Lentin/Titley 2011: 204). Die Grenze – hier vorverlagert in den ›Drittstaat‹ – schließt nicht nur aus, sondern auch ein. Mit dieser Inklusion werden Individuen hierarchisiert, wobei ihnen bestimmte Subjektpositionen und Rechte in-
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nerhalb des Systems zugewiesen beziehungsweise verweigert werden. Durch die Verzögerung des Migrationsprozesses finden ›neue‹, zusätzliche Prozesse des Ordnens, Kategorisierens und Klassifizierens statt. Temporalisierung wird hier zu einer Regierungsweise im europäischen Grenzregime, die auch in anderen Feldern wirkmächtig wird. Mezzadra und Neilson heben ebenfalls die Effekte der zeitlichen Dimension von Grenze hervor. Ausgehend von »detention centers« zeigen sie auf, dass es sich bei solchen Institutionen um »strategies of temporal delay« handele, die Bewegungen in den nationalen Arbeitsmarkt und die politische Ordnung stratifizierten (Mezzadra/Neilson 2013: 146). Der Sprachnachweis als ›vorgelagerte Integrationsmaßnahme‹ und der damit einhergehende Export des Prinzips des ›Fördern und Fordern‹ sind ebenfalls Regierungstechniken der zeitlichen Verzögerung des Einreiseprozesses und wirken sich weit vor den territorialen Grenzen auf die Mobilitäten, Möglichkeiten und Lebensrealitäten von Menschen aus.
Aneignungen und Umdeutungen von ›neuem‹ Raum und Zeit Die Verzögerung des Migrationsprozesses führt zum einen zu einer stärkeren Regulierung der Heirats- und Migrationsprojekte und damit zu einem tieferen Eingreifen in die Lebensverhältnisse der Menschen, die einreisen möchten. Gleichzeitig nutzen diese den ›neuen‹ Raum und die Zeit, um soziale Netzwerke und Unterstützungsstrukturen zu bilden sowie Strategien und Taktiken zu entwickeln, durch die sie ihre Ziele und Vorstellungen von ihrem zukünftigen Leben umsetzen können. Für Ouafaa zum Beispiel ist die Heirat nach Deutschland eine Chance ihr Leben zu verändern. Sie ist 43 Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in einem Haus in einem Viertel etwas außerhalb des Stadtzentrums von Tanger. Sie war noch nie in der Schule. Sie wollte als Kind nicht dorthin gehen, weil sie gehört hatte, dass man dort geschlagen werde. Sie war jedoch lange Zeit in der Koranschule und kann deswegen sehr gut Arabisch schreiben. Über ihre Tante, deren Familie in Deutschland lebt, hat sie einen Mann kennengelernt. Er hat bereits vier Kinder, ist aber geschieden. Sie möchte heiraten, weil sie selbstständig und unabhängig sein will, erklärt sie. Wenn ihre Mutter eines Tages sterbe, sei sie ganz alleine. In Deutschland habe sie mehr Sicherheit und Rechte. Sie könne zum Beispiel ins Krankenhaus gehen. Sie werde ein eigenes Haus haben, einen Mann, neben dem sie essen und schlafen kann. Im Moment sei sie nur mit dem Haushalt beschäftigt und der Betreuung der Kinder ihrer Schwester. In Deutschland möchte sie nicht arbeiten, sondern Hausfrau sein, mit den Kindern ihres Mannes Zeit verbringen und weiter Deutsch und Französisch lernen. Weil sie vorher in lateinischer Schrift nicht alphabetisiert war, macht sie nun einen Alphabetisierungskurs im Institut français und nimmt gleichzeitig Privatunterricht bei einer deutschen Lehrerin, die in Tanger lebt. Ihr nächstes Ziel ist es, den A1‑Kurs bei der DMG Nord in Tanger zu besuchen. Sie war dort bereits eingeschrieben, hatte jedoch große Probleme im Kurs. Von Lehrer_innen des Instituts wusste ich, dass sie im Unterrichtsraum Panik gehabt, manchmal sogar geweint habe. Trotzdem hat sie nun ihren Weg gefunden, sich die Sprache anzueignen, macht Fortschritte und sagt, dass es ihr Spaß mache. Diese Aneignung einer Sprache kann ein Moment der Poli-
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tisierung sein, wie Salgado (2015) betont, da sich so neue Sprecherinnenpositionen sowie Handlungsspielräume eröffnen. Auch für Yasin stellten die Beziehung zu seiner Frau in Deutschland sowie der Sprachkurs einen ›Bildungsaufstieg‹ dar. Bevor er mit ihr zusammenkam, hatte er die Schule abgebrochen, konnte nur Darija und ein paar Worte Französisch. Mit der Zeit verbesserten sich seine Sprachkenntnisse und er kam auch gut durch den ›Vorintegrationskurs‹ beim Goethe-Institut. Seine Frau schickte ihm regelmäßig Wörterbücher und Übungshefte. In den Goethe-Instituten wird Männern gegenüber durch die Vermittlung klassischer Familienbilder und Geschlechterrollen indirekt ein noch größerer Druck aufgebaut, sich auch – einmal in Deutschland – in den Arbeitsmarkt zu integrieren und in der Lage zu sein, die Rolle des ›Familienernährers‹ zu übernehmen. Die Option, Hausmann und Vater zu werden oder überhaupt keine Familie zu gründen, kommt in den Inhalten der Kurse nicht vor. Für Yasin verstärkt sich dieser Druck noch einmal, weil er in der Zeit bis zur Einreise sehr abhängig von seiner Frau ist: Sie unterstützt ihn nicht nur finanziell, sondern ist ihm auch in der Sprache überlegen. Er würde sich gerne revanchieren, was im Moment jedoch nicht möglich ist, weil er parallel zum Deutschkurs nicht arbeiten kann und seine Familie unter prekären Bedingungen lebt. Sein Traum wäre es, in Deutschland eine Ausbildung zum KFZ‑Mechaniker zu beginnen. Wie bei den meisten Protagonist_innen ist das Heirats- und Migrationsprojekt sowohl von Yasin als auch von Ouafaa an den Wunsch nach sozialem Aufstieg geknüpft – nicht nur im Sinne von Bildung, sondern auch finanziell sowie in Form von Sicherheit und Rechten. So wird der Sprachnachweis nicht nur genutzt, um ein Visum beantragen zu können, sondern auch dafür, die eigenen Ziele und Ideen umzusetzen. Nikita Dhawan weist darauf hin, dass obwohl Migrant_innen im Rahmen von verpflichtenden und an den Aufenthalt gebundenen ›Integrationskursen‹ unter Druck gesetzt würden, unter zwanghaften Bedingungen Deutsch zu lernen, könnten diese auch als ein »ermöglichendes Mittel« funktionieren, wie zum Beispiel um sich Zugang zum Arbeitsmarkt oder auch mehr Handlungsmacht zu verschaffen (Dhawan 2014). Dabei knüpft sie an Spivaks Konzept der »befähigenden Verletzung« an, womit sie »den Kolonisierungsprozess als grundsätzlich destruktiv [beschreibt], gleichwohl sei er aber mit der Eröffnung neuer Möglichkeiten einhergegangen« (ebd.). Durch eine solche Aneignung werde auch die Verletzung neu verhandelt (ebd.). Auch von den Protagonist_innen dieser Studie wird der Sprachnachweis angeeignet, aktiv genutzt und gleichzeitig neu verhandelt und umgedeutet. Die verstärkte Regulierung über die Verzögerung des Einreiseverfahrens durch die Sprachnachweispflicht wird in Kauf genommen, um sich durch das Erlernen der Sprache sowie die Aussicht auf ein Leben in Deutschland selbst zu ermächtigen. Diese Ermächtigung geht jedoch mit Erfahrungen von Diskriminierung, Demütigung, Druck und normativer Zurichtung einher. Von allen Teilnehmer_innen der ›Vorintegrationskurse‹, die ich begleitet habe, wurde es fast immer positiv bewertet, die Sprache Deutsch zu lernen und es wurde immer wieder betont, in Deutschland die Sprachkenntnisse weiter verbessern zu wol-
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len, um sich in ihrem zukünftigen Leben zurecht zu finden. Die gängige Vorstellung wie die des Sprachabteilungsleiters und auch anderer Akteure, dass man Menschen in ›Drittstaaten‹ zwingen müsste Deutsch zu lernen, bricht mit den Aussagen und dem Handeln der Protagonist_innen dieser Studie. Dass der Spracherwerb zunächst eine migrantische Forderung war und erst im Laufe der Zeit vor dem Hintergrund der Entdeckung der Integration als Pflicht und gleichzeitiges Kontrollinstrument zu einer staatlichen Forderung wurde (vgl. zur Nieden 2009), habe ich an anderer Stelle aufgezeigt. Die Tatsache, dass die meisten der Betroffenen es positiv bewerten Deutsch zu lernen, könnte man meinen, überschneidet sich mit den Zahlen der Heiratsmigrationsstudie, wonach die Mehrheit die Sprachnachweispflicht als positiv empfindet (vgl. Preuß 2014). Jedoch kamen in den von mir geführten Interviews auch kritische Stimmen auf bezüglich des Zeitpunkts – der Sprachnachweis muss bereits vor der Einreise erbracht werden – sowie der Verpflichtung aller ein bestimmtes Niveau vorzuweisen, um überhaupt das Visum beantragen zu können. So bezeichnete Samah, eine der Kursteilnehmer_innen, das Gesetz als übertrieben: Sie kann die Pflicht für jene Menschen nachvollziehen, die in Deutschland studieren möchten, aber sie finde das Gesetz nicht gut für Frauen, die ohnehin nur zuhause bei ihrem Mann bleiben wollen. Ihrer Meinung nach könnten sie doch dann in Deutschland die Sprache mit ihrem Mann lernen. Jamila und Loubna kritisieren explizit, dass sich dadurch das Zusammenleben mit dem Partner so sehr hinauszögere. Für Asija ist es ebenfalls nicht nachvollziehbar, warum sie die Sprache bereits vor der Einreise lernen müssten, während in Marokko Ausländer lebten, die kein Wort Darija sprächen. Ihre Schwester habe in Italien geheiratet, wo es keine Sprachnachweispflicht gebe, und sie spreche mittlerweile fließend Italienisch. Ilham hält die Sprachnachweispflicht ebenfalls für eine »schlechte Idee«: In Marokko gebe es viele Frauen und Männer, die weder lesen noch schreiben könnten und für die es unmöglich sei, Deutsch zu lernen. Sie selbst habe bereits solche Männer und Frauen getroffen. Deutschland würde sich verschließen und selektieren, was rassistisch sei. Auch in Reaktion auf das Zuwanderungsgesetz von 2005 und die damit einhergehende Einführung von verpflichtenden ›Integrationskursen‹, wurde von migrantischer Seite nie das Angebot an Sprachunterricht und Weiterbildungsmöglichkeiten kritisiert, im Gegenteil, dies wurde sogar begrüßt; in der Kritik standen vor allem der Zwang und die Bindung an Aufenthaltsrechte (vgl. zur Nieden 2009: 126). Auch Rubia Salgado von der Organisation maiz hat in ihrer langjährigen Erfahrung als Deutschlehrerin die Beobachtung gemacht, dass die meisten Migrant_innen Deutsch lernen wollen und motiviert sind. Sie setzt sich dafür ein, dass jeder Mensch das Recht haben sollte, die hegemoniale Sprache zu lernen, aber freiwillig und selbstbestimmt und damit ohne Zwang und Sanktionen (vgl. Salgado 2015). In diesem Kapitel wurde deutlich, dass die Sprachnachweispflicht keinesfalls einen Prozess mit sich bringt, der allein ›von oben‹ reguliert wird, sondern dieser wird permanent in Alltagssituationen sowohl von Akteuren der Migration als auch
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des Regierens der Migration ausgehandelt und umkämpft. Was passiert nun am Tag der Prüfung?
4.5 D er P rüfungstag : E xternalisierungen Durch die Bindung des Visums zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ an den Nachweis von Deutschkenntnissen wird das Goethe-Institut als »weltweit tätiges Kulturinstitut der Bundesrepublik Deutschland«, das den Auftrag diese Prüfungen durchzuführen angenommen hat, zu einem Akteur des Grenzregimes. Dies wird besonders deutlich am Prüfungstag – sowohl in der Vorbereitung und während der Prüfung als auch bei der Veröffentlichung der Ergebnisse. Es kommt hier zu einer Externalisierung des Grenzregimes auf mehreren Ebenen, wie ich im Folgenden aufzeigen werde.
4.5.1 Die Vorbereitung: Stabilisierung der Machtverhältnisse Vor der Sicherheitsschleuse am Eingang der Räumlichkeiten des Goethe-Instituts Casablanca hat sich heute eine Schlange gebildet. Es ist früh am Morgen: 7.30 Uhr. Um 8.30 Uhr beginnt offiziell die ›Start Deutsch 1‹-Prüfung. Jede_r muss die Tasche zunächst dem Sicherheitsmann reichen, der an der Sicherheitsschleuse steht, und anschließend durch das Tor hindurchtreten. Ich stelle mich auch an, obwohl ich bisher immer daran vorbeigewinkt wurde. Im Foyer sind zwei Mitarbeiter damit beschäftigt, die heutigen Prüfungsteilnehmer_innen zu empfangen. Es wurden zwei Tische aufgebaut, wo die Kandidat_innen ihre Anmeldebestätigung abgeben und ihren Pass vorzeigen müssen. Einer der Lehrer sieht sich zunächst den Pass genau an, anschließend schaut er seinem Gegenüber ins Gesicht und wieder auf das Foto auf dem Pass. Er runzelt meistens kurz die Stirn. Eine junge Frau bittet er sogar die Brille abzunehmen. Ich frage ihn, ob er schon einmal jemanden erwischt habe. Einmal wäre ihm das passiert: 2013. Da habe er es aber noch nicht bei der Passkontrolle, sondern erst bei der mündlichen Prüfung gemerkt. Der Teilnehmer habe so gut Deutsch gesprochen, auch Umgangssprache, dass er sich dachte, dass er auf jeden Fall schon einmal in Deutschland gewesen sein musste. Später haben sie herausgefunden, dass das Foto auf dem Pass ausgetauscht wurde. Der Kandidat hatte sich 5000 Dirhams zahlen lassen und für einen anderen die Prüfung abgelegt. Plötzlich kommt eine Mitarbeiterin aus den Büros auf uns zu. Sie läuft schnell und flüstert ihren beiden Kollegen jeweils etwas ins Ohr. Ernste Mienen. Einer der beiden erklärt mir: »Wir haben einen Verdacht!« Zwei Männer seien verdächtig. Einer der Sicherheitsmänner habe einen der beiden wieder erkannt und war sich nicht sicher, ob dieser die Prüfung nicht schon einmal gemacht habe. Die Mitarbeiterin habe das bereits überprüft und herausgefunden, dass er vor vier Jahren schon einmal für einen Kurs beim Goethe-Institut eingeschrieben war. Sie sollen ein besonderes Augenmerk auf die beiden werfen, aber wenn der Pass korrekt sei und sie sich anständig benehmen würden, könne man nichts machen.
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Die ›Start Deutsch 1‹-Prüfung wird in den Goethe-Instituten in Rabat und Casa blanca jeweils einmal im Monat angeboten. Zusätzlich gibt es noch Einzeltermine für interne Prüfungen. An diesen Prüfungstagen reisen Marokkaner_innen aus dem ganzen Land zu den Goethe-Instituten; wer aus dem Norden kommt, nach Rabat; wer aus dem Süden kommt, nach Casablanca. Kontrollpraktiken wie die Sicherheitsschleuse oder die Passkontrolle sind dort fest etabliert und letztere Bestandteil der Arbeit der Deutschlehrer_innen. Während einige Mitarbeiter_innen die Passkontrolle sehr ernst nehmen und diese Praxis professionalisieren, gibt es andere, die diese Aufgabe sehr kritisch sehen. So sagt eine der Prüferinnen aus dem Goethe-Institut Rabat: »Wir sind ja nicht das Konsulat oder die Polizei. Wenn sie das genauer wollen beim Konsulat, sollen sie jemanden schicken, der die Pässe kontrolliert.« Auch in Kursen für Deutsch als Zweitsprache in Deutschland, die bis 2003 von verschiedenen Trägern – unter anderem auch Goethe-Instituten – ausgerichtet wurden, Teil des Sprachverband Deutsch e. V. waren und vom Ministerium für Arbeit und Sozial ordnung Mittel erhielten, sollten Passkontrollen eingeführt werden, wie zur Nieden aufzeigt (2009: 130). Dabei ging es darum, dass nur Menschen aus bestimmten Herkunftsländern das Recht auf einen Platz im Kurs hatten, wie Angehörige aus ehemaligen Anwerbestaaten und der Europäischen Gemeinschaft. Jedoch verweigerten sich hier die Träger und Kursleiter_innen, da diese Praxis der Identitätsfeststellung für sie weder in ihrem Aufgaben- noch Kompetenzbereich lag. Durch diese Haltung der Verantwortlichen blieb der Zugang zu den Kursen relativ offen und flexibel – zum Beispiel auch für Menschen mit Duldung oder ohne Papiere (vgl. zur Nieden 2009: 131). Dies änderte sich jedoch mit dem neuen Zuwanderungsgesetz und der damit einhergehenden Übertragung der Koordination der »Integrationskurse« an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich mit der Überprüfung und Ablehnung von Asylanträgen beschäftigt war und dem Innenministerium unterstellt ist (vgl. zur Nieden 2009: 133). Nun gab es auch neue Regelungen bezüglich der Teilnahmeberechtigung, die an den Aufenthaltsstatus der Person gebunden war, sodass sowohl der Pass als auch das Visum dem Träger bei der Anmeldung vorgelegt werden mussten. Auch wurden eine Passkopie sowie bestimmte Anmeldungsformulare mit Daten an das BAMF weitergeleitet (vgl. ebd.). Passkontrollen von Kursteilnehmer_innen wurden also bereits in Goethe-Instituten im Inland sowie von anderen Trägern durchgeführt. In den Auslandsvertretungen des Goethe-Instituts sind diese seit der Einführung der Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ 2007 ebenfalls zum festen Bestandteil der Arbeit der Deutschlehrer_innen geworden, auch wenn diese Praxis teilweise kritisch bewertet wird. Wie auch zur Nieden betont, handelt es sich hier eigentlich um polizeiliche Kontrollpraktiken, die zunächst nichts damit zu tun haben, eine neue Sprache zu lernen (vgl. zur Nieden 2009: 135). Auch im Goethe-Institut Casablanca muss der Pass bei der Anmeldung nicht nur vorgezeigt, sondern auch zwei Kopien mit Unterschrift mitgebracht werden. Eine davon bleibt beim Goethe-Institut, die andere wird an das Konsulat weitergegeben, um zu überprüfen, ob der Pass und die Unterschrift übereinstimmen, wenn das Visum
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beantragt wird. Seit der Einführung des Sprachnachweises 2007 wurde die Überwachung dieses Prozesses in Austausch mit dem Konsulat immer weiter professionalisiert. In Reaktion auf Vorfälle von Betrug, die auch von anderen Goethe-Instituten weltweit oder vom Konsulat gemeldet wurden, werden seither neue Kontrollstrategien entwickelt. So wurde mir berichtet, dass beispielsweise im Goethe-Institut im Libanon ein_e Kandidat_in die ›Start Deutsch 1‹-Prüfung ohne jegliche Deutschkenntnisse antrat. Sie habe eine zweite Person mitgenommen und sie hätten einfach den jeweils anderen Namen auf den Antwortbogen geschrieben. Vor diesem ›Trick‹ wurden andere Goethe-Institute gewarnt. Kurz zuvor habe es auch einen ähnlichen Vorfall in Casablanca gegeben, den sie sofort dem Konsulat gemeldet hätten. Seitdem muss der Pass während der Prüfung auf dem Tisch liegen und erneut kontrolliert werden. Auch die Einführung der Kopien und Unterschriften sowie die Regelung, dass die Prüfung mit dem gleichen Pass geschrieben werden muss, mit dem später auch das Visum beantragt wird, ist ein Resultat aus diesem Wissensaustausch und wurde anlässlich eines Schreibens des Konsulats eingeführt. Es findet hier also ein transnationaler Austausch zwischen den Goethe-Instituten und der Zentrale in München als auch institutionenübergreifend mit dem Konsulat statt. In diesen Aushandlungen werden immer wieder neue Kontrollpraktiken und Strategien entwickelt, um ›Tricks‹ und ›Betrug‹ vorzubeugen und zu bekämpfen. Gleichzeitig wurde mir berichtet, dass im Goethe-Institut Kursteilnehmer_innen auch zu den Lehrer_innen manchmal offen sagen würden, dass sie zum Beispiel eine ›Scheinehe‹ eingingen. Zwar wird viel über die Paare und diese ›besondere Lerngruppe‹ im Goethe-Institut gemutmaßt und diskutiert, jedoch werden diese Fragen und Überprüfungen der Glaubwürdigkeit der Beziehungen eindeutig dem Konsulat zugeschrieben und hier auch keine Informationen diesbezüglich ausgetauscht, wie mir berichtet wurde. Die Kandidat_innen müssen zudem bei der Anmeldung eine Einwilligungserklärung unterschreiben, dass ihre im Rahmen der Prüfung eingegangenen Daten gespeichert und an die Zentrale des Goethe-Instituts weitergegeben werden dürfen, »zum Zwecke der Speicherung in die zentrale Kundendatenbank des Goethe-Instituts e. V. mit Sitz in München/Deutschland«. Mit der Unterschrift wird zugestimmt, dass die Daten für »Marktforschungs- sowie Werbe- und Marketingzwecke« sowie für Leistungsangebote des Goethe-Instituts verwendet werden dürfen. »Zum Zwecke der Echtheitskontrolle und dem Ausstellen von Ersatzbescheinigungen« sollen die Daten zehn Jahre im Prüfungsarchiv des Goethe-Instituts »gespeichert und genutzt« werden. Soweit es sich dabei um »Daten betreffend zum Nachzug von Ehegatten berechtigender Prüfungen« handele, dürfe die Zentrale auf Anfrage deutscher Behörden diesen die »Echtheit eines der Behörde […] vorgelegten Zeugnisses« bestätigen. Die Einwilligungserklärung ist auf Deutsch und Französisch verfasst und wird von jedem einfach unterschrieben, ohne dass er oder sie diese genau liest. Einer der Lehrer sagt zu mir während der Registrierung, sie würden das sowieso nicht verstehen und außerdem sei es von der Kultur her so, dass man einfach unterschreibe ohne zu lesen. Als ein junger Mann seinen Namen auf die Einwilligungserklärung schreibt, sagt der Lehrer zu mir: »Siehst du, wie schlecht er schreibt?« Die hegemonialen Sprachen Französisch
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und Deutsch werden in dieser Situation als selbstverständlich vorausgesetzt, sodass viele der Betroffenen mit sprachlichen Barrieren konfrontiert werden. In diesem Fall führt dies dazu, dass die Teilnehmer_innen mit ihrer Unterschrift einwilligen, dass ihre Daten weitergegeben werden, ohne dass sich die meisten darüber bewusst sind. Auch zum Beispiel die im Vorraum ausgehängten Listen mit der Raumeinteilung und den Zeitenplänen für die Prüfungselemente sind nur auf Französisch verfasst. Diese allgegenwärtige Sprachhierarchie konfrontiert die Kandidat_innen stets mit ihrem Sprachdefizit. Zuletzt muss jede_r angeben, ob er oder sie nach Österreich oder Deutschland gehen wird. Die meisten möchten nach Deutschland. Insgesamt sind es heute 36 Teilnehmer_innen; 5 Männer und 31 Frauen; davon kommen die meisten aus der Umgebung von Marrakesch, einige auch aus der Nähe von Agadir, El Jadida oder Safi. Bevor die Prüfung beginnt werden noch einmal alle Prüfer_innen ins Besprechungszimmer gebeten und die Prüfungsbögen ausgeteilt. Eine Mitarbeiterin erklärt, dass sie in München in der Zentrale war und ihr mitgeteilt wurde, dass ab sofort alle Prüfer_innen das Prüfungsprotokoll selbst ausfüllen und unterschreiben müssten, was vorher sie gemacht hatte. Sie beklagt, dass alles immer bürokratischer und aufwendiger werde: »Immer mehr Regeln, an die man sich halten muss.« Ihrer Meinung nach liege das nur an der ›Start Deutsch 1‹-Prüfung für ›nachziehende Ehegatten‹. Vorher sei das viel entspannter gewesen. Aber durch zunehmende Kritik an der Sprachnachweispflicht sowie die Klagen müsste nun alles viel genauer und strenger geregelt werden. Die Einführung der Erfordernis von Deutschkenntnissen hat auch den Prüfungs- und Arbeitsalltag im Goethe-Institut verändert: in Form von neuen Beobachtungs- und Überwachungspraktiken – sowohl zwischen Prüfenden und Geprüften, zwischen der Zentrale und den Auslandsinstituten, zwischen dem Konsulat und dem Goethe-Institut, als auch zwischen einer kritischen Öffentlichkeit in Deutschland und den Resultaten der Prüfungsarbeit in den Goethe-Instituten. Es handelt sich hier um ein multiples Beobachtungsregime, dem alle Beteiligten – und besonders die Prüfungsteilnehmer_innen – ausgesetzt sind. Bis die Prüfung beginnt, werden in den Ordnungs- und Kontrollpraktiken zunächst noch einmal Machtverhältnisse und Hegemonien gestärkt und stabilisiert.
4.5.2 Die Prüfung: Handlungsspielräume zwischen Solidarität und Kontrolle Haben die Kandidat_innen alle Unterlagen korrekt abgegeben, werden sie in die Räume eingeteilt, wo die erste Prüfung stattfindet. Es sind stets mindestens zwei Deutschlehrer_innen anwesend und in diesem Fall ich als Hospitantin. Eine der Lehrerinnen übernimmt die Einführung. Es werden alle aufgefordert ihre Handys auszuschalten und ihre Taschen nach vorne auf einen Tisch zu legen. Die Pässe müssen so neben den Prüfungsbogen auf den Tisch gelegt werden, dass die Lehrerin jederzeit einen Blick darauf werfen kann. Bevor die Prüfung beginnt, wird nun ein weiteres Mal kontrolliert, ob die Person, die dort sitzt auch tatsächlich die Inhaberin des Pas-
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ses ist. Die Lehrerin geht herum und vergleicht das Passfoto mit der Person, die vor ihr sitzt. Bei einer Frau bleibt sie stehen und fragt: »Bist das wirklich du?« Sie antwortet: »Muss ich jetzt das Kopftuch abnehmen?« Sie verneint und sagt zu mir später, dass man bei Frauen mit Kopftuch besonders aufpassen müsse. Bei einem anderen Kandidaten bleibt sie auch länger stehen und ist irritiert, weil im Pass als Augenfarbe Braun angegeben ist, er aber grüne Augen habe. Er sagt, dass das bestimmt von den Lichtverhältnissen abhänge. Sie lacht und geht weiter. Auch wenn die Lehrerin eine derjenigen ist, die eigentlich solidarisch mit den Teilnehmer_innen ist und sich bemüht, dass alle mitkommen, erledigt sie ihre Arbeit gewissenhaft und kontrolliert die Pässe im Detail. Dabei hat sie sich bereits spezifische Techniken angeeignet, wie sie vorgeht und vor allem, auf was sie achtet, wenn sie den Pass mit der Person abgleicht. Diese Techniken folgen genormten Ritualen der Identifizierung, indem die Kontrolle sporadisch durchgeführt und der Anfangsverdacht interaktiv getestet wird (vgl. Scheffer 1997: 184). Sie spricht die ganze Zeit auf Darija und erklärt mir zwischendurch auf Deutsch, dass dies die einzige Prüfung sei, wo es erlaubt ist, in der Muttersprache zu erklären: »Weil das Wichtigste ist, dass sie die Prüfung schaffen. Für sie ist das keine normale Prüfung. Für sie ist es die Zukunft.« Trotzdem gebe es immer wieder das Problem, wie mir auch von anderen Lehrer_innen berichtet wurde, dass auch Frauen anwesend sind, die kein Darija verstehen, sondern nur Amazigh. Auch werden die Prüfungen manchmal von Personen durchgeführt, die kein Darija sprechen und so sind die Kandidat_innen gezwungen alles auf Deutsch zu verstehen. Dies trifft insbesondere auf den Prüfungsreisen, zum Beispiel nach Nador zu, wo nur deutsche Lehrer_innen mitfahren dürfen. Als die Kandidat_innen ihren Namen auf den Prüfungsbogen schreiben, fällt mir auf, dass eine ältere Frau mit zwei Händen den Stift führt. Sie stellt der Lehrerin während der Prüfung auch immer wieder Verständnisfragen zum Aufbau der Prüfung. Ich erfahre später, dass sie kaum Darija versteht, sondern nur Amazigh. Sie kennen sich schon, weil sie die Prüfung bereits zum vierten Mal antritt. Sie ist 46 Jahre alt und kommt aus einem kleinen Dorf, 60 Kilometer von Agadir entfernt. Als sie das dritte Mal durchgefallen sei, hätten sie ihr empfohlen drei Mal in der Woche zu einem der Partnerinstitute nach Agadir zu gehen. Im ersten Teil der Prüfung wird das Hörverständnis getestet. Von einem CD-Player, der vorne im Raum auf einem Schränkchen steht, wird die Aufgabe vom Band abgespielt. Zunächst gibt es einen kurzen Testdurchlauf, ob die Lautstärke passt. Nach jedem Beispiel haben die Kandidat_innen fünf Minuten Zeit den Antwortbogen auszufüllen. Was nicht auf dem Antwortbogen steht, wird nicht gezählt. Der zweite Bereich der Prüfung umfasst Lesen und Schreiben und folgt direkt im Anschluss. Die letzte Aufgabe ist es einen Brief zu schreiben. Ich beobachte wieder die ältere Frau und sehe, dass sie tatsächlich während der gesamten Prüfung den Stift mit beiden Händen führt. Ihre Schrift ist klar leserlich, Satzzeichen benutzt sie keine. Das Thema des Briefs ist heute eine Partyeinladung. Es geht darum, dass der Deutschkurs zu Ende ist und man die Deutschlehrerin Frau Schmidt zu einer Party einlädt. Zu den zu integrierenden Punkten gehört unter anderem, ihr zu schreiben, was sie zur Party
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mitbringen soll. Die Lehrerin erklärt mir, dass es hier oft zu Verständnisproblemen käme, da man zum Beispiel in Marokko nie jemanden fragen würde, ob er etwas mitbringen kann, wenn man ihn oder sie einlädt. Das sei unhöflich, auch wenn trotzdem immer jemand etwas mitbringe. Um 9.55 Uhr sind die 45 Minuten vorbei und die Lehrerin sammelt die Prüfungsbögen ein. Im Mitarbeiterbesprechungszimmer werden schon die ersten Prüfungsbögen aus der anderen Gruppe korrigiert. Jede_r Prüfungsbogen wird von zwei Mitarbeiter_innen durchgesehen. Als Bewertungsgrundlage liegt ein Dokument mit Kriterien vor. Bei unklaren Fällen wird kurz gemeinsam diskutiert. Eine der beiden beschwert sich, dass sie so viele Fehler akzeptieren müssten, weil das die Prüfungsordnung so vorsehe. Die Ansprüche der ›Start Deutsch 1‹-Prüfung, die vorher schon existierte, aber kaum nachgefragt wurde, seien seit der Einführung der Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ 2007 immer niedriger geworden. Ihrer Meinung nach sei das kein A1‑Niveau mehr. Vor allem sehe man das an der Fehlertoleranz: Während man früher sowohl den mündlichen als auch den schriftlichen Teil bestehen musste, seien mittlerweile nur noch 60 Prozent der Gesamtpunktzahl notwendig. Sie vermutet hinter der Lockerung politische Motive: In den letzten Jahren sei der Druck immer größer geworden, die Sprachnachweispflicht abzuschaffen. Man sei auf hohe Bestehquoten angewiesen, um keinen Vorwürfen ausgesetzt zu sein. Sie habe auch schon im letzten Jahr gedacht, dass der Nachweis abgeschafft worden sei, wenn sie aus dem Sommerurlaub zurückkommt. Tatsächlich werden in den Debatten um den Sprachnachweis immer wieder die Bestehensquoten herangezogen, um den Sprachnachweis zu kritisieren. So schreibt Sevim Dağdelen von der Partei Die Linke, die eine der wichtigsten Akteure ist, die sich für die Abschaffung der Sprachnachweispflicht einsetzen, bereits im Dezember 2009 auf ihrer Homepage: »2008 erlangten noch 66 Prozent das Deutsch-Zertifikat. Die offiziellen Zahlen zu Bestehensquoten bei Sprachtests im Ausland vermitteln aber ein geschöntes Bild der Wirklichkeit!« Die Bundesregierung habe kein Interesse daran, realistischere Zahlen über die so genannten Durchfallquoten bei den Sprachtests zu ermitteln, heißt es weiter: »Sie will bei ihrer unhaltbaren Position bleiben, dass von den Sprachnachweisen keine Beeinträchtigung des Grundrechts auf Schutz von Ehe und Familie ausgeht.« (Dağdelen 2009) Hier werden nicht nur die niedrigen Bestehensquoten kritisiert, sondern auch die Glaubwürdigkeit der Statistiken angezweifelt. Für die Legitimation der Sprachnachweispflicht wird wiederum betont, dass es sich lediglich um Grundkenntnisse der deutschen Sprache handele und das Niveau sehr niedrig sei. So heißt es bereits auf der Seite der Bundesregierung: »Gefordert sind Sprachkenntnisse auf niedrigstem Niveau wie Antworten zu Fragen ›Haben Sie einen Schulabschluss?‹ oder ›Arbeiten Sie zur Zeit?‹« (Bundesregierung 2008) Einerseits ist es den Mitarbeiter_innen ein Anliegen, dass das Niveau der Prüfung gehalten wird und alles ›mit rechten Dingen‹ vor sich geht. Andererseits gibt es auch ein Bewusstsein für die Situation der zu Prüfenden im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ und sowohl Formen von Mitleid und Empathie als auch Unterstützung und Solidarität. So betonte auch die Mitarbeiterin, die sich während des Korrigie-
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rens noch kritisch darüber äußerte, dass die Bewertung »immer lascher« werde, bei einer Fortbildung gleichzeitig, dass bei dieser Prüfung gelte: »Im Zweifel für den Angeklagten.« Diese Prüfungsfortbildungen finden regelmäßig im Goethe-Institut für alle statt, die bei den Prüfungen mitarbeiten. Meistens hat eine Mitarbeiterin vorher eine Fortbildung in der Zentrale des Goethe-Instituts in München mitgemacht und gibt das Gelernte dann weiter. Bei dieser internen Fortbildung wird der Ablauf der Prüfung gemeinsam noch einmal dezidiert gemeinsam besprochen und erklärt, dass es um Validität (Werden tatsächlich Sprachkenntnisse geprüft?), um Fairness (Spielt der biographische Hintergrund sowie Geschlecht, soziale Herkunft, Behinderung etc. keine Rolle?) sowie um Zuverlässigkeit (Bewerten alle Prüfer_innen gleich?) gehe. Es sei wichtig, dass das Prüferverhalten sowie die Bewertung standardisiert seien, so die Anleiterin an dem Tag der Fortbildung. Sie sagt auch: »Denkt daran: Das ist die Prüfung für die Familienzusammenführung. Das ist eine politische Prüfung!« Sie dürfe es nicht so laut sagen, aber ihrer Meinung nach sei diese Prüfung »für Ehegatten missbraucht« worden: »Die hätten eine eigene Prüfung entwickeln müssen. Früher waren die Bewertungskriterien strenger, wurden aber immer mehr gelockert.« Sie empfiehlt den Prüfer_innen: »Wenn jemand 8,5 Punkte hat und er braucht 9 Punkte, dann findet man den Punkt.« Eine der Fortbildungsteilnehmer_innen stimmt zu und hebt hervor, dass an dieser Prüfung doch Schicksale hängen würden. Es gibt also sowohl einen Anspruch das Niveau der Prüfung aufrechtzuerhalten sowie die Anweisungen der Zentrale und des Konsulats korrekt umzusetzen und gleichzeitig eine Empathie gegenüber den Kandidat_innen, ein Bewusstsein für deren Situation und für die Bedeutung des Sprachnachweises für ihren weiteren Lebensweg. Diese ambivalente Haltung ist bei Mitarbeiter_innen unterschiedlich ausgeprägt und so werden Handlungsspielräume auch unterschiedlich genutzt. Besonders auffällig wird dies im mündlichen Teil der Prüfung. Ich gehe zusammen mit der Lehrerin und einem Kollegen, die vorher auch den schriftlichen Teil der Prüfung durchgeführt hatten, zurück in den Raum, wo nun die mündliche Prüfung stattfinden wird. Es sind insgesamt fünf Runden mit jeweils vier Kandidat_innen, die sich im Kreis um einen Tisch setzen. Wenn sie den Raum betreten, liegen bereits ihre Pässe auf einem der Plätze. Sie werden vorher eingesammelt und die Daten noch einmal eingetragen und abgeglichen. An der Frontseite sitzen die beiden Prüfer_innen mit jeweils einem Bewertungsbogen. Ich nehme etwas abseits auf einem Stuhl Platz. Die Lehrerin übernimmt wieder zunächst die Moderation. In diesem Teil der Prüfung wird zunächst nur Deutsch gesprochen: »Guten Tag! Herzlich Willkommen zur mündlichen Prüfung. Die Prüfung besteht aus drei Teilen. Wir beginnen mit ›Sich Vorstellen‹.« Während ich bei anderen Prüfer_innen erlebt hatte, dass sie sehr ernst sind und keinen Raum für offene Fragen geben, ist diese Prüferin sehr herzlich zu allen: Sie beugt sich etwas in die Richtung der Teilnehmerinnen, wenn sie erklärt, lächelt ab und zu und versucht, jede_n bei ihrem_seinem Vornamen zu nennen. Wenn es Fragen gibt, antwortet sie auch auf Darija. Ihr Kollege gibt ein Blatt herum, an dem sich die Kandidat_innen orientieren können: Name? Alter? Land? Wohnort? Sprachen? Beruf? Hobby? Sie müssen nicht
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auf alles eingehen. Die Prüferin stellt sich zunächst selbst vor, um ein Beispiel zu geben. Anschließend wird das Blatt im Uhrzeigersinn weitergegeben. Immer wenn sich jemand vorgestellt hat, fragt sie, ob sie bitte noch ihren Vor- oder Familiennamen buchstabieren sowie entweder ihre Haus- oder Telefonnummer sagen können. Als eine der Kandidat_innen ihren Vor- anstatt ihren Familiennamen buchstabiert, geben sie ihr trotzdem die volle Punktzahl. Teil 2 steht unter dem Motto »Um Informationen bitten und Informationen geben«. Es wird ein Stapel Kärtchen verdeckt in die Mitte des Tischs gelegt und jede_r zieht reihum eine Karte. Das Thema wird vorgegeben, zum Beispiel »Essen und Trinken« oder »Einkaufen«. In diesem Fall ist das erste Thema »Gesundheit«. Nun müssen Fragen gestellt werden zu dem Begriff, der sich auf dem Kärtchen befindet. Bei der ersten Kandidatin steht »Sport« auf der Karte. Die anderen Teilnehmer_innen dürfen diese nicht sehen. Sie überlegt lange und dreht sich schließlich zu ihrer Sitznachbarin links von ihr und fragt: »Ist Sport gesund?« »Ja«, antwortet diese. Manche Teilnehmer_innen haben Probleme, weil sie das Wort auf der Karte nicht kennen oder das Verb für die Frage, die sie stellen wollen, nicht finden. Für den mündlichen Teil gibt es jedoch die Anweisung, dass hier nur die Verständlichkeit der Frage gewertet werden darf, wie in der Prüfungsfortbildung vermittelt wurde. Als Anhaltspunkt wurde folgender Richtwert gegeben: Versteht es »der Opa oder die Oma auf der Straße«, gebe es die volle Punktzahl. »Stutzt man erstmal«, aber verstehe dann die Aussage, gebe es die halbe Punktzahl. Und wenn es »nicht verständlich« sei, gebe es null Punkte. Fehle zum Beispiel ein Artikel, sei das kein Problem. Die Anweisungen werden unterschiedlich umgesetzt von Prüfer_innen. Während manche geduldig warten und auch Teilnehmer_innen bestärken, wenn es in die richtige Richtung geht, sind andere sehr streng und brechen sofort ab, wenn es zu lange dauert, oder runzeln die Stirn, sobald etwas unklar ist. Nach einer zweiten Runde zu einem anderen Thema, beginnt nun Teil 3: »Bitten formulieren und darauf reagieren.« Wieder gibt es Kärtchen, aber keine vorgegebenen Themen. Dieses Mal sind keine Worte darauf, sondern Bilder. Wieder gibt die Prüferin ein Beispiel, zieht zunächst selbst eine Karte und fragt ihren Kollegen: »Mustafa, könntest du mir bitte eine Tasse Kaffee geben?« »Ja, gerne«, antwortet er. Die erste Kandidatin zieht eine Karte, auf der ein Rauchen-Verboten-Schild abgebildet ist. Sie überlegt lange und stellt schließlich die Frage: »Kann ich hier rauchen?« Die Antwort kann nicht gewertet werden, da sie eine Bitte formulieren sollte, wie ihr die Prüfer_innen erklären. Der Prüfer nimmt die Karte und gibt selbst das Beispiel, sodass der nächste Kandidat antworten kann: »Hier ist Rauchen verboten. Könnten Sie bitte ihre Zigarette ausmachen?« – »Ja, kein Problem.« Bei diesem Teil der Prüfung kommen immer wieder Verständnisprobleme auf, was auf den Karten abgebildet ist. Als die ältere Frau an der Reihe ist, die während der schriftlichen Prüfung den Stift mit zwei Händen geführt hatte, zieht sie eine Karte mit einer Pommestüte. Sie sitzt lange davor und blickt immer wieder fragend in die Runde. Irgendwann flüstert jemand »frites« und man erkennt an ihrem Blick, dass sie jetzt erst die Abbildung erkennt. Es ist gut möglich, dass sie noch nie eine Pommestü-
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te gesehen hat. Sie fragt leise: »Kann ich bitte frites haben?« Die Prüfer_innen geben ihr die volle Punktzahl. Sie sind beide sehr ermutigend den Teilnehmer_innen gegenüber, lassen auch mehrmalige Anläufe zu und sind relativ tolerant gegenüber Fehlern. Im Fall der älteren Frau betont die Prüferin immer wieder, wie mutig sie doch sei. Auch als eine Teilnehmerin auf eine Frage antwortet: »Ja. Ich …« und überlegt, wie sie den Satz weiterführen könnte, sagt die Prüferin: »Hanane! ›Ja!‹ Das reicht.« Sie sieht ein Problem darin, dass die Teilnehmer_innen oft die Prüfungsabläufe nicht verstehen. Aber das müssten sie im Unterricht lernen. Ein anderer Teilnehmer, Fouad, 23, steht plötzlich unter Druck und sagt nur, dass er gestresst sei. Sie lassen ihm Zeit und irgendwann formuliert er doch eine Bitte. Nach der zweiten Runde »Bitten formulieren« ist die mündliche Prüfung zu Ende und die Teilnehmer_innen verlassen den Raum. Die Prüfer_innen vergleichen nun die Bewertungsbögen und diskutieren, wenn es Unterschiede gibt. Wenn man als Prüfer_in nicht die volle Punktzahl vergeben hat, muss man einen Grund nennen. Die beiden Prüfer_innen sind in ihrer Bewertung wieder vergleichsweise tolerant, wie ich beobachten konnte. Während bei manchen eine normale Frage nicht als Bitte gilt, sehen andere wieder darüber hinweg. Auch heben die beiden Prüfer_innen das Problem von Unterschieden im Alltag in Marokko und Deutschland hervor. Der Prüfer spricht dann davon, dass die Kandidatin oder der Kandidat »eben Arabisch gedacht« habe. Sie haben Verständnis dafür, dass den Kandidat_innen zu bestimmten Themen und Inhalten der Zugang fehle, wie zum Beispiel im Fall der Aufgabenstellung eine Partyeinladung zu schreiben oder als die Pommestüte auf der Karte in der mündlichen Prüfung nicht erkannt wurde. Kritische Pädagog_innen stellen im Zusammenhang mit dem Unterrichten von Deutsch als Zweitsprache ebenfalls die Frage, wer überhaupt in der Lage ist zu verstehen und sich innerhalb der dominanten Strukturen selbst zu artikulieren, sodass sie oder er gehört wird (vgl. Salgado 2010: 5; Mechéril 2004). Salgado stellt ganz konkret die Frage: Wer ist in der Lage den Kern einer Aufgabenstellung in einer spezifischen Form der Kommunikation zu verstehen? Sie thematisiert auch die Herausforderung einen Kurs aus einer nicht-eurozentristischen epistemologischen Herangehensweise zu konzipieren (vgl. Salgado 2010: 5), was ebenfalls auf die Aufgabenstellungen der ›Start Deutsch 1‹-Prüfung zutrifft und immer wieder gerade von marokkanischen Lehrer_innen und Prüfer_innen kritisert wird. Die Prüferin betont, dass es auch »immer auf die Psyche der Teilnehmerinnen ankommt, ob sie Erfolg haben«: »Wir Lehrer haben auch viele Prüfungen gehabt. Wir wissen, wie das ist.« Sie ist der Meinung, dass man sich als Lehrer immer an die Stelle der Schüler denken müsse. Ist die Bewertung abgeschlossen, werden die Punkte in einen offiziellen Antwortbogen übertragen und zu den anderen Prüfungsunterlagen gegeben. Die Prüfer_innen haben einen relativ großen Spielraum in der mündlichen Prüfung, der sehr unterschiedlich genutzt wird. Als die Koordinator_innen der Prüfung einmal in meiner Anwesenheit feststellen, dass die Marokkaner_innen in den mündlichen Prüfungen immer besser seien als in dem schriftlichen Teil, stellen sie die rassistisch stereotypisierende These auf: »Plaudern können die Marokkaner. Das ist wohl angeboren.« Doch meine Beobachtungen zeigen, dass hier nicht nur von Seiten
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der Prüfer_innen mehr Handlungsspielraum vorhanden ist, sondern auch von Seiten der Teilnehmer_innen. Bereits in der schriftlichen Prüfung werden unterschiedliche Techniken angewandt, sich gegenseitig Ergebnisse und Antworten durchzugeben, vor allem mit vorher ausgemachten Handzeichen. Den Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts sind diese Tricks durchaus bekannt. Eine der Lehrer_innen nannte diese Praxis, sich über Handzeichen während des schriftlichen Teils Ergebnisse weiterzureichen, »Trick 4: Das Körperalphabet«. Jener Fall, der das erste Mal aus dem Libanon gemeldet wurde, als Namen auf den Prüfungsbögen getauscht wurden, war nach ihrer Kategorisierung »Trick 1«. Als Nummer 2 gelten ihrer Meinung nach »gefälschte Pässe«, indem zum Beispiel das Bild ausgetauscht wurde oder der Pass komplett »gefaked« war. »Trick 3« würde bedeuten, dass andere Personen zur Prüfung geschickt werden, die einem sehr ähnlich sehen wie zum Beispiel der Cousin oder Bruder, der vielleicht sogar in Deutschland lebt. »Da sind uns mit Sicherheit schon viele durch die Lappen gegangen«, sagt sie. Solche »Schummeleien« würden auch direkt dem Konsulat gemeldet werden. Die würden dann, falls der Verdacht erst nach der bestandenen Prüfung geäußert wurde, zum Beispiel noch einmal die Sprachkenntnisse der Person am Schalter prüfen oder sich vom Goethe-Institut Schreibproben schicken lassen. In der mündlichen Prüfung haben die Teilnehmer_innen selbst mehr Spielraum. Mir wurde erzählt, wie sie gerade, wenn sie neben einer Person saßen, die besondere Schwierigkeiten hatte, versuchen die Frage möglichst einfach, anstatt sehr offen zu stellen, sodass sie nur mit Ja oder Nein antworten müsse. In den Prüfungen wird jedoch auch immer wieder hospitiert und kontrolliert, ob alles nach den Regeln und Vorgaben abläuft. Eine koordinierende Mitarbeiterin, die auch die Prüfungsfortbildungen gibt, erklärt, dass es ihr sehr wichtig sei, dass sich alle an die Prüfungsordnung halten, weil es sonst zu Klagen kommen könnte. Deswegen auch die Schulungen. Es würden sich trotzdem immer wieder »falsche Routinen« einschleichen oder etwas vergessen werden, wie in der mündlichen Prüfung vor jeder Runde ein Beispiel zu geben. Mehrere Lehrer_innen berichteten mir jedoch auch von »Leichen im Keller«: dass Kandidat_innen, die große Probleme haben, die Prüfung zu bestehen, besondere Unterstützung erfahren und dass teilweise ein wenig nachgeholfen werde. Die Bekanntgabe der Ergebnisse wurde an diesem Tag bereits für 14.15 Uhr angekündigt. Das Goethe-Institut Marokko sei das einzige Institut weltweit, wo man das Zeugnis noch am gleichen Tag bekomme, erzählt mir eine Mitarbeiterin stolz.
4.5.3 Die Ergebnisse: bestanden oder nicht bestanden, bleiben oder gehen? Die beiden Sicherheitsmänner kommen nun mit Papierblättern in der Hand die Treppen herunter in die Eingangshalle, wo bereits alle Prüfungsteilnehmer_innen stehen und warten. Bei einigen sind auch die Familien oder Partner_innen dabei, die vorher nicht mit in die Räumlichkeiten des Goethe-Instituts durften und draußen warten mussten. Ich stehe mit Rachid zusammen, den ich bereits aus einem der Deutschkurse im Goethe-Institut kenne. Wir sind gerade dabei auf einer großen Deutschlandkarte,
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die dort in einem Schaukasten angebracht ist, die Stadt zu finden, wo seine Freundin lebt, als die beiden Männer mit den Ergebnislisten nach unten kommen. Rachid wirkt sehr entspannt und gelassen. Er ist sich sicher, dass er bestanden hat. »Parce que j’ai beaucoup travaillé«, sagt er. Kurz zuvor hatte seine Freundin wieder angerufen, ob er schon wüsste, ob er bestanden habe. Die Listen mit den Ergebnissen der Prüfung werden an den Wänden angebracht und einige setzen sich sofort in Bewegung, um ihre Nummer zu finden und zu sehen, ob sie bestanden haben oder nicht. Die ältere Frau, die aus Agadir kommt und die Prüfung zum vierten Mal gemacht hat, sitzt zusammengekauert in einer Ecke auf einem Gebetsteppich und rührt sich nicht. Nun gibt es Freudenschreie und Umarmungen, aber auch Tränen und Schweigen. Es wird viel telefoniert, manche verlassen das Gebäude direkt. Es haben an diesem Tag 5 von 36 Personen nicht bestanden. Diese Ergebnisse entscheiden nicht nur darüber, ob sie Deutschkenntnisse auf A1‑Niveau nachweisen können oder nicht, sondern auch, ob sie bald ein Visum beantragen und somit bald zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin nach Deutschland reisen können. Nun bewegt sich auch die ältere Frau langsam auf die Liste zu und hat kurz darauf ein Lachen im Gesicht und umarmt andere Frauen. Auch sie scheint bestanden zu haben. Rachid hat ebenfalls, wie erwartet, ein positives Ergebnis und ruft sofort seine Freundin an, um ihr die freudige Nachricht mitzuteilen. Nun strömen wieder alle, die bestanden haben, nach oben in das Foyer, um sich ihr Zeugnis abzuholen. Zunächst müssen sie noch eine »Einverständniserklärung« (= »Consentement relatif à la protection des données«) unterschreiben, dass ihre Daten an die deutsche Botschaft weitergegeben werden dürfen. Das Dokument ist in diesem Fall nur auf Französisch verfasst. Eine der Mitarbeiterinnen betont, dass sie dieses Dokument eigentlich gar nicht mehr verwenden dürften und es gerade ins Arabische übersetzt werde. Es heißt darin, dass die ›Start Deutsch 1‹-Prüfung von den deutschen Botschaften und Konsulaten als Nachweis für einfache Deutschkenntnisse im Rahmen des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹, wie es gesetzlich verankert ist, anerkannt werde. Mit der Unterschrift willigt der_die Kandidat_in ein, dass das G oethe- Institut die Erlaubnis hat, die relevanten Informationen bezüglich der Prüfung wie den Namen, das Ergebnis sowie die Nummer des Zeugnisses, an die Deutsche Botschaft Rabat für die Überprüfung im Rahmen des Visumsverfahrens zu übermitteln. Die beiden Mitarbeiter, die am Anfang die Pässe kontrolliert haben, geben nun die Mappen mit den Zeugnissen aus. Sie werden gebeten, die Daten noch einmal genau zu kontrollieren. Das sei wichtig für das Konsulat, wird mir erklärt, da es bereits bei einem kleinen Fehler passieren könne, dass ein Visum nicht ausgestellt wird. Außerdem wird den Prüfungsteilnehmer_innen, die bestanden haben, ein grünes Blatt Papier überreicht, auf dem Glückwünsche stehen, sowie der Hinweis, dass das Visum innerhalb der nächsten zwei Monate beantragt werden sollte. Es habe einen Vorfall gegeben, wo das Konsulat verlangt habe, dass die Prüfung noch einmal gemacht werde, weil der Zeitraum zwischen dem Prüfungstag und der Beantragung des Visums zu groß war. Eigentlich dürften sie das nicht, aber die seien dort »böse«. Eine letzte
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Mappe bleibt übrig und alle beginnen bereits abzubauen, als eine junge Frau in letzter Minute die Treppen hochgerannt kommt und noch ihr Zeugnis entgegennimmt. Mit der Bindung des Visums an den Nachweis von Deutschkenntnissen auf A1-Niveau geht eine Externalisierung des Grenzregimes einher, wobei das Goethe-Institut zu einem wichtigen Akteur der Migrationskontrolle wird. Diese Externalisierung des europäischen Grenzregimes findet seit einigen Jahren in unterschiedlichen Bereichen statt und meint sowohl eine Übertragung von Verantwortung für die Migrationsteuerung und -kontrolle an andere Akteure wie in diesem Fall das Goethe-Institut als auch eine Delokalisierung derselben in Form einer räumlichen Verschiebung der Grenzen insbesondere in das Territorium angrenzender ›Drittstaaten‹ (vgl. Cuttitta 2010: 27). Am Prüfungstag manifestiert sich diese Grenze auf unterschiedlichen Ebenen: Zum einen wird ein transnationales Netzwerk von unterschiedlichen Akteuren und Institutionen aktiv, zwischen denen Wissen und Daten über die zu regierenden Subjekte ausgetauscht werden. Dieser Prozess wird durch Einverständniserklärungen und Unterschriften immer wieder legitimiert. Dabei werden bestimmte Menschen durch die Verwendung hegemonialer Sprachen ausgeschlossen und ihnen wird das Recht, über ihre Daten selbst zu entscheiden, entzogen. Zum anderen werden Kontroll- und Überwachungstechniken auf einen Akteur wie das Goethe-Institut übertragen, das eigentlich im Dienste der Kultur- und Sprachvermittlung steht. Diese Techniken werden von Deutschlehrer_innen, die auch Prüfer_innen sind, angeeignet, praktiziert und verkörpert, aber auch immer wieder abgelehnt. Dadurch werden auch sie indirekt zu ›Grenzbeamt_innen‹, was am deutlichsten bei der Passkontrolle wird. Gleichzeitig zeigt die Empirie, dass es zwar Regeln und Vorgaben bezüglich der Durchführung der Prüfung gibt, aber gleichzeitig auch ein relativ großer Handlungsspielraum sowohl für die Prüfer_innen als auch für die Prüfungskandidat_innen entsteht, der sehr unterschiedlich genutzt wird. Mit der Bekanntgabe der Ergebnisse materialisiert sich die europäische Außengrenze auf jenen Listen, die in Papierform aufgehängt werden und darüber entscheiden, ob ein Visum beantragt werden kann oder nicht.
5 Das Visum Wenn Menschen, die über den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin nach Deutschland einreisen möchten, das Deutschzertifikat erhalten haben, besteht der nächste Schritt darin ein Visum zu beantragen. Um dieses weitere Verfahren der Visumsvergabe soll es in diesem Kapitel gehen. Die Visaabteilung der deutschen Botschaft ist in Marokko dem Konsulat zugeordnet und vertritt offiziell die Bundesregierung im Ausland in Fragen der Einreise. Dazu gehört die Aufgabe in Abstimmung mit der Ausländerbehörde in Deutschland Migrationspolitiken in der Praxis umzusetzen und zu regulieren, wer nach diesen Vorgaben einreisen darf und wer nicht. Konsulate sind dabei als Orte einer delokalisierten Grenze zu verstehen (vgl. Bigo/Guild 2005). Durch die Vergabe von Visa sind Sachbearbeiter_innen an der Herstellung und Sicherung von Grenze beteiligt (vgl. Alpes 2014: 246). Das Visum wird als politisches Instrument genutzt, um die Einreise nach Deutschland zu steuern und zu regulieren. Es materialisiert sich zumeist als Stempel oder Aufkleber im Reisepass und stellt eine Autorisierung dar, die Grenzen desjenigen Staates zu übertreten, der das Visum vergeben hat. Seitdem die innereuropäischen Grenzen geöffnet wurden, gilt dieses Visum im Falle der Vergabe durch einen Mitgliedsstaat für den gesamten Schengenraum (vgl. Infantino 2014a: 1). Neben Visa für ›Familiennachzug‹, die in Marokko den größten Anteil ausmachen, gibt es weitere Formen von ›Langzeitvisa‹ für Studium, Erwerbstätigkeit oder humanitäre Gründe,45 sowie ›Kurzzeitvisa‹ für Tourismus, Besuche oder geschäftliche Aufenthalte. In diesem Zusammenhang soll es vor allem um die Vergabe der Visa zum ‹Ehegatten-/Familiennachzug› gehen, die jedoch nicht ohne die anderen Formen der Einreise und die damit einhergehenden Kategorisierungen und Klassifikationen zu verstehen ist. Um im Konsulat Entscheidungen darüber treffen zu können, wer ein Visum ausgestellt bekommt und wer nicht, ist es notwendig zunächst die Antragsteller_innen zu beobachten, zu befragen und zu erfassen. Das Visum ist entsprechend mit einem umfassenden Apparat an Architekturen, Materialitäten, Techniken und Praktiken verbunden, der diese Beobachtungen, Befragungen und Erfassungen ermöglicht. 45 Im Jahr 2012 war die Erteilung der ›Aufenthaltserlaubnis‹ für marokkanische Staatsangehörige in Deutschland folgendermaßen aufgeteilt: familiäre Gründe: 1.527, Studium: 544, Erwerbstätigkeit: 49, humanitäre Gründe: 18 (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2013: 30).
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Über das Visum und die damit einhergehenden Praktiken und Materialitäten werden Subjekte regierbar gemacht, wie ich im Folgenden aufzeigen werde. Ich beschreibe zunächst das Visumsverfahren von der Vereinbarung eines Termins im Konsulat über die ersten Überprüfungen der Antragsteller_innen am Schalter bis hin zu der Entscheidung über den Antrag. Dabei fließen sowohl die Perspektiven der Antragsteller_innen als auch der Mitarbeiter_innen der involvierten Institutionen – dem Konsulat und der Ausländerbehörde – in die Rekonstruktion des Verfahrens mit ein. In diesem Kapitel arbeite ich vor allem Techniken, Architekturen, Materialitäten und Praktiken der Kontrolle, Überwachung und Vewaltung heraus, der Fokus liegt also auf der border work (Rumford 2006; Hess et al. 2014: 15). Wie werden Antragsteller_innen durch das Konsulat beobachtet, kontrolliert, überwacht und verwaltet? Wie wird dabei Macht ausgeübt? Wer ist daran beteiligt? Welche Situationen werden erschaffen, in denen Antragsteller_innen auf Akteure des Regierens treffen? Im nächsten Kapitel wird es um das Wissen und die Logiken gehen, auf dessen Grundlage Paare verdächtigt werden, eine sogenannte ›Scheinehe‹ und keine ›echte‹ Ehe zu führen, was zur Folge haben kann, dass sie kein Visum ausgestellt bekommen. Nach welchen Kriterien werden bestimmte Paarbeziehungen problematisiert, kategorisiert und klassifiziert? Um welche Wissensformen handelt es sich dabei? In diesem Teil geht es auch um die Mitarbeiter_innen des Konsulats als regierte Subjekte, die, in diesem Verfahren nicht nur zu ›Wächter_innen der Grenze‹, sondern auch zu ›Wächter_innen der Ehe‹ werden und deren eigene Situiertheit Schlüsse auf das situierte bürokratische Wissen ziehen lässt. Dem Ansatz der These der Autonomie der Migration folgend bleibt die Analyse jedoch nicht bei der border work stehen, sondern richtet ebenfalls den Blick auf die border struggles (Hess et al. 2014: 13 ff.; Mezzadra/Neilson 2013: 13). Im letzten Kapitel werden zwei Antragsteller_innen und ihre Partner_innen porträtiert, die verdächtigt wurden und sich zusätzlichen Befragungen und Überprüfungen unterziehen mussten. Ihre Geschichten, Subjektivitäten und Erfahrungsweisen werden entlang deren Begegnungen mit Akteuren des Regierens und damit einhergehenden situativen Aushandlungen erzählt. Dadurch zeige ich zum einen, wie die Kategorisierungen und Klassifikationen von Seiten der Behörden an den komplexen Lebensrealitäten vorbeigehen und zum anderen, zu welchen situativen Aushandlungen und Konflikten es während des Verfahrens kommt. Es wird deutlich, wie sich die Paare Zuschreibungen und Kategorisierungen entziehen oder sich diese aneignen und welche Strategien und Taktiken sie entwickeln, um Überprüfungen stand zu halten, wie sie sich gegenüber Anrufungs- und Bezeichnungsprozessen verhalten und schließlich in ihrem Fall doch erreichen, dass ihre Beziehung als ›schützenswerte Ehe‹ eingestuft wird.
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5.1 D as V isumverfahren: Ü berwachung , K ontrolle und V erwaltung »Denn eben die Taktiken des Regierens gestatten es, zu jedem Zeitpunkt zu bestimmen, was in die Zuständigkeit des Staates gehört und was nicht in die Zuständigkeit des Staates gehört, was öffentlich ist und was privat ist, was staatlich und was nicht staatlich ist.« (Foucault 2000: 66)
5.1.1 Zugangsbeschränkungen: die Vorbereitung des Besuchs im Konsulat »Wir wollen Ihnen die Einreise nach Deutschland so leicht wie möglich machen«, schreibt die Visaabteilung der Deutschen Botschaft Rabat auf ihrer Homepage. Es folgt ein Hinweis zu allen »relevanten Informationen zur Beantragung eines Visums sowie die Antragsformulare und Merkblätter als pdf-Datei zum Herunterladen« (Deutsche Botschaft Rabat 2014). Ich stehe mit Samah und Khadija vor dem öffentlichen Computer im Foyer des Goethe-Instituts in Casablanca. Sie haben gerade ihr Zertifikat für die A1‑Prüfung abgeholt und wollen sich nun informieren, wie sie ein Visum zum ›Familiennachzug‹ beantragen können. Sie haben unterschiedliche PDFs geöffnet und scheinen erleichtert, als ich zu ihnen stoße. Ich helfe ihnen das richtige Dokument zu finden. Der Text ist auf Französisch und listet auf, welche Dokumente für einen Visumsantrag vorgelegt werden müssen: »Veuillez présenter des documents suivants pour la demande de visa: 1. deux formulaires de demande de visa remplis en allemand de manière lisible et dûment signés 2. trois photos d’identité récentes remplissant les conditions biométriques 3. carte d’identité nationale CIN (original et deux photocopies) 4. passeport (original et deux photocopies) 5. une enveloppe suffisamment timbrée comportant votre adresse Documents complémentaires à fournir: Pour regroupement familial chez le conjoint • acte de mariage légalisé accompagné d’une traduction en langue allemande (original et deux photocopies respectives) • pour le cas où vous étiez déjà divorcé(e) avant ce mariage: l’acte de divorce légalisé accompagné d’une traduction en langue allemande (original et deux photocopies respectives) • pour le cas où l’un des fiancés est mineur: autorisation légalisée du tribunal pour le mariage du mineur accompagnée d’une traduction en langue allemande (original et deux photocopies respectives) • pour le cas où l’un des deux conjoints s’est marié par procuration: procuration pour le mariage accompagnée d’une traduction en langue allemande (original et deux photocopies respectives) • informations concernant le conjoint résidant en Allemagne: photocopie du passeport, le cas échéant: titre de séjour, certificat de résidence (photocopies respectives)
198 | Grenzüberschreitungen • preuve de vos connaissances en langue allemande du niveau A1 (original et deux photocopies) répondant au cadre de référence européen par un certificat de l’Institut Goethe ou ÖSD. Veuillez noter que lors de votre inscription à l’examen, vous devrez vous identifier avec le même passeport que celui avec lequel vous présenterez plus tard votre demande de visa» (Ambassade de la Republique fédérale d’Allemagne Rabat 2014)46
Obwohl Samah fließend Französisch spricht, ist sie unsicher, was genau von ihnen verlangt wird. Khadija tut sich noch schwerer, ihre Französischkenntnisse sind rudimentär. »Kann man dort auch anrufen?«, fragt mich Samah und beginnt nach einer Telefonnummer zu suchen. Sie habe Angst vor dem Konsulat; bei ihrer Cousine habe es fünf Monate gedauert, aber jetzt habe sie am Ende doch ein Visum bekommen. Die Marokkaner_innen seien träge und könnten nichts nachlesen, beschwert sich eine der Personen, die für Visaangelegenheiten zuständig ist, in einem Gespräch. Er verstehe auch nicht, warum die Antragsteller immer anrufen würden. Es gebe doch mittlerweile in jedem »Kaff« Internet und wenn man sich damit nicht auskenne, müsse man eben jemanden fragen. Die Marokkaner seien doch so hilfsbereit. Es sei zu aufwendig, die vielen Dokumente ins Arabische zu übersetzen. Er ist der Meinung, dass wer nach Deutschland wolle, wenigstens Französisch können müsse. Durch die Konzeption der Dokumente und Formulare auf Französisch und Deutsch wird von Seiten der deutschen Behörden (wie auch im Goethe-Institut) deutlich gemacht, dass es zentral ist andere Sprachen zu können, um zurechtzukommen: eigentlich schon Deutsch, aber mindestens Französisch. Um den vielen Anrufen ein Ende zu setzen, wurde 2013 ein Online-Terminverfahren eingerichtet. Auf der Homepage wird darauf hingewiesen, dass die Terminbuchung ausschließlich über dieses Online-System möglich ist: »Per Telefon, E‑Mail, Post oder Fax an die Botschaft gerichtete Terminanfragen oder Bitten, aufgrund besonderer Umstände ausnahmsweise einen früheren Termin zu erteilen, können nicht beantwortet werden.« Zwar gibt es nach wie vor eine Telefonnummer, doch im Eigenversuch und auch aus Berichten von anderen Antragsteller_innen stellte sich heraus, dass es sehr schwierig war, jemanden über diese Nummer zu erreichen. An dieser Stelle wird bereits schriftlich festgelegt, in welchen Fällen die kurzfristige Anfrage einer Visumserteilung legitim ist und in welchen nicht. Es heißt dort, dass Ausnahmen von der regulären Terminvergabe nur in »humanitären Notfällen (absolute Ausnahmefälle)« geprüft würden: »Kein Notfall in diesem Sinne sind die Teilnahme an einer geplanten Hochzeitsfeier, die Pflege eines erkrankten Verwandten, die bevorstehende Geburt eines Kindes, usw.« (Deutsche Botschaft Rabat 2014) Die Aufzählung der nicht legitimen Gründe deutet darauf hin, dass diese bereits von Antragsteller_innen vorgebracht wurden. 46 Diese Übersicht über die mitzubringenden Dokumente und Unterlagen wurde von der Autorin bewusst nicht vom Französischen ins Deutsche übersetzt. Für manche Antragsteller_innen stellt die französische Sprache ein ähnliches Hindernis dar wie vielleicht – je nach Französischkenntnissen – für viele Leser_innen dieser Arbeit.
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Mit der Zeit wurden die Wartezeiten immer länger, im September 2015 weist das Konsulat darauf hin, dass die Termine für die nächsten drei Monate ausgebucht seien. Mir wurde von marokkanischer Seite davon berichtet, dass man Termine nur noch über Kontakte auf informellem Wege bekomme, wofür man aber bezahlen müsse. Von diesem Markt für Termine im Konsulat wurde in den Medien auch von anderen Orten berichtet (vgl. Monitor 2015). So weist das Konsulat Marokko in diesem Zusammenhang darauf hin: »Vorsicht! Bei Missbrauch des Termin-Systems werden Sie für längere Zeit vom Verfahren ausgeschlossen und in eine Sperrliste eingetragen, z. B. wenn Sie Doppelbuchungen versuchen oder gefälschte Terminbestätigungen vorlegen. Dies dient der Verkürzung der Wartezeiten und liegt im Interesse der großen Mehrheit der ehrlichen Antragsteller.« (Deutsche Botschaft Rabat 2014) Der Versuch über Tricks doch an einen früheren Termin zu kommen, wird hier moralisiert und mit Sanktionen gedroht, zum Beispiel mit der Sperrliste. Zum Schluss heißt es: »Wenn Sie die vorstehenden Informationen gelesen und verstanden haben, können Sie unter dem nachfolgenden Link einen Termin buchen: […].« Samah hat ›verstanden‹. Trotzdem kommen bei ihr Fragen und Unsicherheiten auf. Dies liegt nicht am Zugang zu Internet oder fehlenden technischen Kenntnissen – sowohl Khadija als auch Samah haben Smartphones und nutzen diese aktiv in ihrem Alltag –, sondern vielmehr an der Angst etwas falsch zu machen, die durch die Sanktionsdrohungen auf der Homepage verstärkt wird. Diese Angst wird während des Verfahrens immer wieder hergestellt und von den meisten Antragsteller_innen internalisiert. Unbegründet ist ihre Angst nicht. Das Konsulat weist explizit darauf hin, dass bei einer falschen Angabe bei der Terminbuchung der Zutritt zum Konsulat verwehrt werde sowie, dass die Antragsteller_innen bei nicht vollständigen Unterlagen zurückgewiesen oder abgelehnt werden können. Wer nicht vertraut ist mit den Funktionen und Techniken des Internets und digitaler Geräte oder nicht fließend Französisch oder Deutsch spricht, steht noch einmal vor anderen Hürden. Durch die unbekannten Regeln, Abläufe und die eigene Sprache des Konsulats, mit denen zukünftige Antragsteller_innen konfrontiert sind und die Undurchsichtigkeit erzeugen, entstehen Überforderung und Verunsicherung. Auch nach welchen Kriterien hier über Visumsanträge entschieden wird, bleibt intransparent. Der Anthropologe Colin Hoag weist darauf hin, dass trotz der zumeist klar formulierten Vorgaben und Regeln Bürokratien bis zu einem bestimmten Grad immer undurchsichtig und unlogisch blieben. Es sei auch diese Undurchsichtigkeit, über die in Bürokratien und von Bürokrat_innen Macht ausgeübt werden könne (vgl. Hoag 2011: 82). Zwar waren die Antragsteller_innen in diesem Zusammenhang bereits mit dem deutschen und marokkanischen ›Behördendschungel‹ konfrontiert, als es um die Heirat in Marokko ging, aber nun hängt ihre Ausreise an dem erfolgreichen Durchlaufen des bürokratischen Visumsverfahrens. Ein Scheitern der Beantragung des Visums hätte weitreichende Folgen für ihre Lebens- und Zukunftsplanung. Während das Heiraten in Marokko eine Frage der Zeit war, geht es nun tatsächlich darum, ob sie ausreisen und bei ihrer_m Partner_in leben können oder nicht. Die Angst und Unsicherheit zu Scheitern und am Ende das Visum nicht zu bekommen, führen während des Verfah-
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rens immer wieder zu Handlungen, die aus der Perspektive der Konsulatsmitarbeiter_innen irrational oder unlogisch erscheinen, wie in diesem Fall der Wunsch der Antragsteller_innen anzurufen und sich zu versichern, ob man alles richtig verstanden habe. Samah hatte Zweifel, ob sie das Visum bekommen würde und stellte mir immer viele Fragen zum Ablauf im Konsulat. Durch ihre Cousine, die auch einen Mann in Deutschland geheiratet hatte und fünf Monate lang auf den Bescheid wartete, hatte sie bereits einen Einblick in das Verfahren bekommen. Ihre Sorge war, dass sie Probleme haben werde, weil ihr Mann noch studiert und nur in einem Minijob arbeitet; auch wenn seine Eltern für sie bürgten, er in Deutschland geboren sei und die deutsche Staatsangehörigkeit habe. Sie werde am Schalter auf keinen Fall sagen, dass sie weiter studieren möchte, sonst würden sie denken, dass sie nur wegen des Studiums einen Mann aus Deutschland geheiratet hätte. So hatten fast alle Protagonist_innen dieser Studie ihre Unsicherheiten und Fragen, die sie auch mir gegenüber immer wieder äußerten, als sie das erste Mal mit dem Konsulat in Kontakt traten: Ist es ein Problem, dass mein Mann Deutscher ist? Ist es ein Problem, dass meine Frau älter ist? Ist es ein Problem, dass ich keinen Schulabschluss habe? Ist es ein Problem, dass ich den Deutschtest schon vor fünf Monaten gemacht habe? Eine andere Frau, die ein Visum beantragte, sagte zu mir: »Es ist nicht schwierig zu warten. Was schwierig ist, ist die Unsicherheit, ob das Konsulat das Visum erteilen wird.« Wenn das Konsulat ihr am Ende das Visum gebe, sei das Warten kein Problem. Diese Gleichzeitigkeit von Intransparenz, wie im Konsulat über Visumsanträge entschieden wird, und einem informellen Wissen der Antragsteller_innen durch eigene Recherche, Austausch mit Freund_innen, Familie und anderen Antragsteller_innen darüber, welche Kriterien wichtig sein könnten, führt nicht nur zu Angst und Unsicherheit, sondern auch zu dem Bedürfnis, genauere Informationen zu erhalten, als auf der Webseite des Konsulats angegeben sind. Entsprechend wurden auch mir als Forscherin wiederholt Fragen gestellt und ich wurde beauftragt, bei meinen Interviews Informationen aus dem Konsulat zu beschaffen. Recht, Gesetz und Bürokratie geben hier keine klaren Regeln vor, sondern erschaffen vielmehr einen Aushandlungsraum, der von unterschiedlichen Akteuren – auch den Antragsteller_innen – genutzt wird, deren Logiken, Bedürfnisse und Vorstellungen jedoch konflikthaft aufeinandertreffen. So treffen hier das Unverständnis der Mitarbeiter_innen dafür, dass Antragsteller_innen anrufen, und homogenisierende, teils abwertende Zuschreibungen als »träge«, »nicht fähig nachzulesen« oder auch »hilfsbereit« sowie die Vorstellung, sie müssten Französisch können, auf die Fragen und das Wissen der Personen, die ein Visum beantragen möchten. Jedoch haben die Mitarbeiter_innen des Konsulats aufgrund ihrer Funktion als Bearbeiter_innen der Anträge in diesem Moment die Deutungshoheit, während Antragsteller_innen in einer Abhängigkeit zu ihnen stehen. Der Anthropologe Michael Herzfeld betont, dass Bürokrat_innen, die die Macht haben darüber zu entscheiden, wer dazugehört und wer nicht, diejenigen sind, »who retranslate the homogenous state back into social terms, and who control
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the definition of what is or is not the correct form« (Herzfeld 1992: 108). Diese hierarchische Beziehung zwischen Konsulatsmitarbeiter_innen und Antragsteller_innen wird in diesem Kontext durch eine postkoloniale Ordnung verstärkt: Marokkanische Staatsbürger_innen, denen eine hierarchisch untergeordnete Position innerhalb der globalen Ordnung im Zugang zu Mobilität zugewiesen wird, nehmen in einer deutschen staatlichen Institution ihr ›Recht‹ in Anspruch, aufgrund einer Ehe mit einer Person in Deutschland einzureisen. Doch erst nach der Beurteilung der Sachbearbeiter_innen wird sich entscheiden, ob sie dieses ›Recht‹ tatsächlich haben oder es ihnen aus unterschiedlichen Gründen entzogen wird. Diese Aushandlung beginnt mit der Buchung eines Termins im Onlinesystem. Dies ist der Moment, in dem das Verfahren und damit eine machtvolle Aushandlung beginnt. Dabei wird die Webseite zu einem wichtigen Akteur, der zwischen eine Mensch-Mensch-Begegnung, sei es am Telefon oder bei einem persönlichen Termin im Konsulat, tritt. Die Einforderung einer Vielzahl von Dokumenten ist ebenfalls eine wichtige Praxis im Konsulat, sie dient sowohl der Kontrolle als auch der Verwaltung. Der Anthropologe Matthew Hull hat aufgezeigt, dass Dokumente in Bürokratien nicht einfach Instrumente bürokratischer Organisation sind, »but rather are constitutive of bureaucratic rules, ideologies, knowledge, practices, subjectivities, objects, outcomes, even the organizations themselves« (Hull 2012: 251). Durch die aufwendige Organisation der Dokumente und Unterlagen verzögert sich der Ausreiseprozess wiederum und bietet mehr Möglichkeiten des Zugriffs auf die Antragsteller_innen. Folgende Dokumente sind einzureichen: drei biometrische Passfotos, Personalausweis, Reisepass, ein frankierter Briefumschlag, Heiratsurkunde, gegebenenfalls Scheidungsurteil, Passkopie, gegebenenfalls Aufenthaltsgenehmigung, Meldebescheinigung der_s Partner_in, Nachweis der Deutschkenntnisse auf Niveau A1 des Europäischen Referenzrahmens durch ein Zertifikat, davon jeweils zwei Kopien. Die Beschaffung dieser Dokumente ist sowohl mit finanziellem als auch zeitlichem Aufwand verbunden, denn Heiratsurkunden und Scheidungsurteile müssen zunächst legalisiert und schließlich noch von einer_m amtlich beglaubigten Übersetzer_in ins Deutsche übersetzt werden. Zur Legalisierung müssen die Dokumente zunächst marokkanischen Behörden – dem Gericht sowie dem Außenministerium, das sich ebenfalls nur in Rabat befindet – vorgelegt werden. Anschließend müssen die Unterlagen noch einmal von deutscher Seite – entweder vom Konsulat in Rabat oder einem der Honorarkonsule in Agadir oder Casablanca – für eine Gebühr von 25 Euro ein zweites Mal legalisiert, also überprüft und bestätigt werden, ob das Dokument den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Gerade für Antragsteller_innen aus der Peripherie Marokkos entstehen hier zusätzliche lange Fahrten und damit auch Kosten. Ein Interviewpartner aus Casablanca berichtete mir, dass er mehrmals um 5 Uhr am Morgen aufgestanden sei, um nach Rabat zu fahren oder im Hotel geschlafen hätte. Die Legalisierungen seien nur sechs Monate lang gültig, heißt es ebenfalls auf der Seite. Verzögert sich das Verfahren, kann es also dazu kommen, dass die Dokumente erneut organisiert werden müssen. Zu den Übersetzungen schreibt das Konsulat Folgendes: »Die Qualität der in Marokko tätigen Übersetzer ist sehr unterschiedlich, da deren Arbeit keiner Kontrolle
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durch eine unabhängige Stelle unterliegt. Aus der Erfahrung der Botschaft mit vorgelegten Übersetzungen wurde folgende Liste von Übersetzern oder Übersetzungsbüros entwickelt, die ständig überprüft wird: […].« Da die Übersetzungen ebenfalls eine Einnahmequelle darstellen, sind die Plätze auf der Liste der Übersetzer_innen begehrt. Die »Erfahrung der Botschaft«, wer als Übersetzer_in anerkannt wird, stellt ebenfalls ein intransparentes Kriterium dar. Gleichzeitig ist die Übersetzungsarbeit ein weiterer Baustein einer Migrationsindustrie, die durch migrationspolitische Restriktionen und Regulationen entsteht. Hat man schließlich alle Dokumente zusammen und einen Termin im Konsulat, heißt es für alle, die nicht in Rabat leben, wieder sehr früh aufzustehen, um in die Hauptstadt zu fahren und möglichst weit vorne in der Warteschlage vor dem Konsulat zu stehen. Genauso wie der Pass werden die Dokumente und Urkunden hier zur »Eintrittskarte« (Scheffer 1997: 192) in die Behörde, jedoch nur bei Vollständigkeit.
5.1.2 Das Konsulat: Architekturen und Akteure eines Mikrokosmos Das deutsche Konsulat in Rabat befindet sich in Souissi, einem Viertel, das vor allem aus Regierungsgebäuden, internationalen Institutionen und Villen besteht, die von der Elite als Wohnhäuser genutzt werden. Die breiten Straßen sind rechts und links mit hohen Mauern gesäumt, manchmal erhascht man einen Blick durch ein Tor auf einen prächtigen Garten oder einen glänzenden SUV in der Garageneinfahrt. Das Konsulat ist im Vorbeifahren kaum zu erkennen und trotzdem wissen alle Taxifahrer_innen, wo es sich befindet. Von der Straße sieht man lediglich einen relativ schmalen Eingang in einer Mauer und zu den Betriebszeiten, besonders früh am Morgen, eine lange Schlange davor. Links von dem Tor steht ein schmales Holzhäuschen als Sitzgelegenheit und Schutz für die Wachmänner und einem Schild mit dem Schriftzug Consulat d’Allemagne. Auf der rechten Seite ist ein Kasten mit Merkblättern angebracht, sowie ein Fenster, das nur geöffnet ist, wenn Betrieb ist. Als Aylin an diesem Morgen gegen halb acht mit einer Freundin aus dem Petit Taxi steigt, regnet es in Strömen. Ich bin mit ihr verabredet, um sie ins Konsulat zu begleiten und winke sie beide unter meinen Regenschirm. Es hat sich bereits entlang der Mauer des Konsulats eine Schlange gebildet. Ein Teil der Wartenden passt noch unter das schmale, etwa zehn Meter lange Dach, das aus der Mauer ragt und zumindest ein bisschen Schutz vor dem Regen bietet. Der Rest hilft sich mit Regenschirmen und Pappkartons aus. Sie sei zu spät dran, weil sie und ihre Freundin, die sie begleitet, zuerst kein Taxi gefunden hätten. Das Konsulat ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln schwierig zu erreichen und so sind die Antragsteller_innen auf ein Taxi angewiesen. Aylin ist um halb vier aufgestanden, um mit dem Bus von Casablanca nach Rabat zu fahren. Der Bahnhof ist von ihrem Wohnviertel so weit entfernt, dass die Busfahrt die beste Lösung gewesen ist. Sie ist etwas besorgt, weil die Kopie des Passes ihres Mannes nicht mehr rechtzeitig in Marokko angekommen ist. Gegen halb neun bittet sie ein Wachmann an das Fenster in der Mauer. Dahinter sitzt ein Mitarbeiter, der zunächst fragt, warum sie hier ist, ihren Termin prüft und anschließend die Dokumente
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auf Vollständigkeit prüft. Er gibt ihr zwei Formulare, die sie drinnen ausfüllen soll, und wir werden durchgewinkt. Ihre Freundin muss draußen bleiben, Begleitpersonen sind nicht erlaubt. Ich hatte vorher noch mit dem Konsulat abgeklärt, dass ich Aylin begleiten kann. Wir gehen vorbei an den Wachmännern durch den Torbogen und stehen vor einer Gittertür, die sogleich für uns geöffnet wird. Wir werden aufgefordert unseren Pass abzugeben, unser Gepäck, sowie metallene Gegenstände, die wir am Körper tragen, auf einen Tisch zu legen und durch die Sicherheitsschleuse zu gehen. Links von dem Durchgang befindet sich eine Kabine, wo man bei Verdacht, gefährliche Gegenstände bei sich zu haben, durchsucht werden kann. Bei Aylin piepst es nur kurz, sodass eine junge Frau in Uniform mit einem Stab ihren Körper noch einmal abfährt. Sie kommt von einer externen Sicherheitsfirma und ist für die Kontrolle am Eingang zuständig, wie mir erklärt wurde. Anschließend dürfen wir unsere Sachen wieder an uns nehmen. Der Moment des Zugangs zum Gebäude ist bereits die erste Hürde, die Antragsteller_innen überwinden müssen. Thomas Scheffer bezeichnet das »Einlaßregime« von Behörden auch als einen »obligatorischen Passagepunkt« (Scheffer 1997: 173). Auch handelt es sich dabei in Anlehnung an den Anthropologen Arnold van Gennep sowie an die Ausführungen des Politikwissenschaftlers Mark Salter um eine Form der »rites de passage« (Van Gennep 1960): Der Eintritt in das Konsulat kann auch als Übergang von der pre-liminalen zur liminalen Phase interpretiert werden, die sich beispielsweise in der Architektur des Konsulats materialisieren (vor/hinter der Mauer). Salter betont, dass sich die drei liminalen Phasen (pre-liminal, liminal, post-liminal) – übertragen auf die Grenze – in der Architektur, in einem »Beicht-Komplex« sowie einer umfassenden Dokumentation artikulieren (vgl. Salter 2005: 36). Er begreift diese drei Aspekte am Beispiel des Flughafens als aufeinanderfolgend. Im Falle des Konsulats kommt es vielmehr zu einer Gleichzeitigkeit dieser drei Aspekte, die sich immer wieder verändern, verschieben und auf unterschiedliche Art und Weise wirkmächtig werden. In dem der_die Antragsteller_in zunächst sein_ihr Anliegen formuliert, wird diese_r bereits kategorisiert: »Legalisierung von Dokumenten«, »Familiennachzug«, »Studienvisa«, »Kurzzeitvisa« et cetera. Diese Kategorisierung hat Einfluss auf die folgende Bearbeitung des Antrags sowie die Zuteilung zu einem spezifischen Schalter, die jedoch erst später stattfindet. Vor allem handelt es sich hier um eine »räumlich vermittelte Kontrolle des Zutritts« (Scheffer 1997: 173). Die hohe Mauer, das Fenster und das Tor darin, sowie das Sicherheitspersonal, vermitteln zunächst, dass dieser Ort nicht zugänglich ist für jede_n Passant_in. Erst durch mehrere Schritte können wir uns Zutritt verschaffen, wobei unsere Körper durch Techniken wie die Passkontrolle, die Sicherheitsschleuse, das Abtasten et cetera gesteuert und kontrolliert und als potentielle Gefahr behandelt werden. Erst als wir um einen weiteren Sichtschutz – eine Art metallenen Paravent – gelaufen sind, erblicken wir den Hof des Konsulats, der nur mit einer Plane überdacht ist. Hier befinden sich nicht nur die Schalter, wo die Unterlagen eingereicht werden, um ein Visum zu beantragen. Der Hof wirkt vielmehr wie ein eigener kleiner Mikrokosmos. In der Mitte stehen Bänke und Stühle, die schon fast alle besetzt sind. Es
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ist viel los an diesem Morgen. Gleich auf der linken Seite ist ein Tisch aufgebaut mit Thermoskannen, Gläsern und Süßigkeiten, die eine ältere kleine Frau verkauft. Sie hat auch den Schlüssel für die Toiletten, für deren Sauberkeit sie verantwortlich ist, wie ich später erfahre. Gleich daneben ist ein Fotostudio aufgebaut, in dem immer wieder mit einer großen Spiegelreflexkamera Passfotos gemacht werden. In einer Ecke ist ein Holzstand, in dem Kopiergeräte stehen. Auch hier hat sich bereits eine Schlange gebildet. An der gegenüberliegenden Wand haben sich zwei Schreiber ihren Arbeitsplatz eingerichtet. Ein Zettel weist darauf hin, dass, wer nicht schreiben kann, die Möglichkeit hat, den zahlungspflichtigen Dienst des Schreibers in Anspruch zu nehmen, der aber nicht mit dem Konsulat kooperiere. Zuerst muss Aylin die beiden Formulare ausfüllen. Das eine ist auf Deutsch, Französisch und Englisch, das andere nur auf Französisch. Zu meiner Verwunderung steuert sie direkt auf einen der Schreiber zu, anstatt zu den Schreibpulten zu gehen, um die Formulare selbst auszufüllen. Ich frage sie, warum sie das nicht selber mache, wo sie doch Französisch spreche, und sie meint nur, dass sie sicher gehen will, dass das Dokument am Ende keine Fehler habe. Der Schreiber, zu dem wir uns setzen, fragt, warum ich die Formulare denn nicht für Aylin ausfülle. Ich habe nichts dagegen, doch Aylin findet die Idee nicht gut und besteht darauf, dass der Schreiber diesen Job übernimmt. Er erklärt mir, dass es eigentlich am besten sei, wenn die Leute ihre Dokumente selbst ausfüllten, aber dass viele zu ihm kämen, entweder, weil sie nicht schreiben könnten oder weil sie Angst hätten, dass es danach nicht richtig sei. Im ersten Formular müssen persönliche Angaben wie Name, Geburtstag und Wohnort zur eigenen Person sowie zum Mann und den Eltern eingetragen werden. Aylin ist 1987 geboren, ihr Mann 1983. Er lebt in einer Kleinstadt in Süddeutschland. Der Schreiber fragt sie auch, ob sie ein Diplom hat. Sie hat nach dem Abitur eine zweijährige Ausbildung gemacht. Er trägt »Technikerin« ein. Eine Frage lautet: Wie ist ihr Lebensunterhalt gesichert? Sie erklärt kurz und er schreibt nur: »Durch meinen Mann.« Im zweiten Formular muss man durch eine Unterschrift versichern, dass man keinen Kontakt zu terroristischen Organisationen hatte und angeben, ob man schon in einem Land wie Afghanistan, Syrien, Irak, Iran, Bahrain oder Saudi-Arabien war. Als der Schreiber Aylin auf Darija erklärt, was im Formular steht und ihr die Fragen stellt, muss sie lachen und schüttelt den Kopf. Der Schreiber kreuzt jedes Mal »vrai« an. Aylin zahlt ihm dafür 20 Dirhams. Durch die Unsicherheit der Antragsteller_innen wird dem Schreiber nicht nur die Kompetenz des Schreibens an sich zugeteilt, sondern auch die Kompetenz die Formulare ›richtig‹ auszufüllen. Nun muss Aylin noch Kopien und Passfotos machen, wofür sie noch einmal 30 Dirhams ausgibt. Wir haben Glück und kommen relativ schnell an die Reihe. Hinter uns bildet sich eine Schlange. Wir frieren mittlerweile und haben nasse Füße, weil es immer noch in Strömen regnet und die Plane, die den Hof überdacht, nicht ganz dicht hält. Endlich hat Aylin alles zusammen und bekommt eine Nummer zugewiesen: 709. Auf der Anzeige über dem Schalter für Langzeitvisa, der sich gleich neben dem für die Legalisationen befindet, leuchtet in roten Buchstaben: 704. Wir setzen
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uns auf eine freie Bank und warten. Die Sitzfläche ist aus Metall und bitterkalt. Ich hätte gedacht, dass fünf Visumsanträge schneller entgegen genommen werden können. Bis Aylin an der Reihe ist, sind fast drei Stunden vergangen, seitdem wir den Hof betreten haben. Es ist es elf Uhr. Sie nimmt ihre Mappe mit den Unterlagen und geht zum Schalter. Ich bleibe auf der Bank sitzen, die Begleitung zum Schalter durch eine weitere Person ist nicht erlaubt. Das Warten stellt ebenfalls eine Praxis der Verwaltung im Konsulat, aber auch in anderen Behörden dar. Die Ethnologin Sandra Wasilewski hat in ihrer Ethnographie einer Ausländerbehörde aufgezeigt, wie die Situation des Wartens zu einer Verstärkung der ungleichen Machtverhältnisse zwischen Klient_innen und Sachbearbeiter_innen führt. Das Warten löst Gefühle der Abhängigkeit und Unterlegenheit aus und zwingt die Wartenden zu Passivität, da die Gründe für ihr Warten nicht eine freiwillige Entscheidung für eine Dienstleistung sind, sondern es um existenzielle Anliegen geht (vgl. Wasilewski 2011: 46). Diese zeitliche Dimension des Ablaufs im Konsulat und die damit einhergehende Verzögerung führt auch dazu, dass sich die Abhängigkeit von der Anweisung der Sachbearbeiter_innen verstärkt, da diese vorgeben, wer an der Reihe ist und wann was zu tun ist. Diese Zeiträume führen zu Momenten des Sortierens und Ordnens. Auch ist der Hof so panoptisch angeordnet, dass alle Antragsteller_innen mit einem Blick zu erfassen sind. Als ich an einem Vormittag mit einem Mitarbeiter durch den Hof laufe, blickt er einmal in die Runde der Wartenden und merkt sofort an, dass hier niemand sitze, der oder die ein Visum zum ›Familiennachzug‹ beantrage. Der Hof ist sowohl von einem Teil der Schalter aus einsehbar, als auch von der gegenüberliegenden Seite aus durch das Sicherheitspersonal. Außerdem sind im Hof rundum Kameras angebracht, die zwar nicht immer zu sehen sind, aber als Teil der Architektur Besucher_innen den Eindruck vermitteln, »panoptisch gesehen zu werden« (Lorey 2011a). Die Büros der entsandten Mitarbeiter_innen dagegen befinden sich im Hinterhaus und sind nicht einsehbar. Durch die Architektur des Konsulats sowie die Anordnung des Ablaufs und Technologien wie den Kameras wird der Hof zu einem Beobachtungs- und Überwachungsapparatus. Für die Antragsteller_innen ist dieser Zeitraum einerseits wiederum ein Moment des Sorgens und der Verunsicherung, gleichzeitig aber auch der Solidarisierung und Vernetzung mit anderen. So treffen Aylin und ich eine Bekannte aus dem ›Vorintegrationskurs‹ im Goethe-Institut, die an diesem Tag gekommen ist, um ihre Heiratsurkunde legalisieren zu lassen. Auch andere Protagonist_innen berichteten mir von neuen Bekanntschaften und Informationsaustausch im Konsulat.
5.1.3 Erster Check am Schalter: Stabilisierung der Subjektpositionen Die Sachbearbeiterin sitzt hinter einer Glasscheibe und spricht über ein Mikrofon mit der Antragstellerin, wie ich aus ein paar Metern Entfernung beobachten kann. Am unteren Rand befindet sich zwischen Scheibe und Ablage ein Spalt, über den Dokumente und Geld hindurchgereicht werden können. Die Politikwissenschaftlerin Federica In-
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fantino, die in europäischen Konsulaten in Marokko die Interaktionen am Schalter ethnographiert hat, weist darauf hin, dass die Architektur des Konsulats – sie spricht von »dispositifs architecturaux« – auch die Interaktion zwischen Antragsteller_in und Sachbearbeiter_in strukturierten (vgl. Infantino 2010: 6). Die Architektur und Materialität des Schalters erzeugt bereits eine gewisse Distanz zwischen Sachbearbeiterin und Antragstellerin. Während Erstere ein Büro hinter sich hat, steht die Klientin nach wie vor im Hof mit den Wartenden sowie der Infrastruktur im Hintergrund. Rechts vom Fenster ist ein Gerät angebracht, mit dem Fingerabdrücke abgenommen werden. Die Sachbearbeiter_innen sind immer Ortskräfte, das heißt, sie sind aus Marokko. Sie haben unterschiedliche Ausbildungen: Manche sind Jurist_innen, andere Germanist_innen. Einige haben schon für längere Zeit in Deutschland gelebt. Wenn sie im Konsulat arbeiten, bekommen sie interne Weiterbildungen vor Ort, aber auch einmal im Jahr in Berlin im Auswärtigen Amt. Diese Kenntnisse werden hier in der Begegnung am Schalter wichtig, wo es bereits zu einer Befragungssituation kommt: Die Sachbearbeiter_innen am Schalter haben die Aufgabe, den »ersten Eindruck« zu notieren, den die Antragstellerin oder der Antragsteller auf sie gemacht hat und stellen einige Fragen. Wenn das Paar zusammen das Konsulat betritt – was nicht immer der Fall ist –, würde man bereits sehen, ob etwas nicht stimme, erklärt mir ein Mitarbeiter, der nicht selbst am Schalter arbeitet; zum Beispiel, ob sie Hand in Hand hereinkämen, ob sie miteinander sprächen oder ob sie optisch zusammen passten. Außerdem werde die Plausibilität der »Eckdaten« geprüft. Es werden Fragen gestellt wie: Was arbeiten Sie? Wie war die Hochzeit? Manche hätten sich zum Beispiel noch nie gesehen und heirateten nur mit Vollmacht. Es würden Dinge notiert, die einem komisch erschienen, so der Mitarbeiter. Da die Personen am Schalter alle in Marokko aufgewachsen sind, wüssten sie, wenn ein Paar verdächtig sei. Auch andere Protagonist_innen dieser Studie erzählten mir von ihrer Begegnung am Schalter: Mehdi wurde von der Sachbearbeiterin am Schalter mit »Salam aleikum« begrüßt, wie er später berichtet. Zunächst werden Fragen auf Deutsch gestellt, um die Deutschkenntnisse noch einmal zu überprüfen. Die meisten wussten, dass sie im Konsulat erst auf Deutsch angesprochen werden. Viele verunsicherte das wiederum, weil sie nicht wussten, wie schwer die Fragen sein würden und wie lange die Sachbearbeiter_innen mit ihnen auf Deutsch sprechen würden. Für die Antragsteller_innen fühlt sich diese Situation wie ein zweiter Deutschtest an. Yasin zum Beispiel sagt, dass er Angst vor diesem Moment hätte: Selbst wenn er die Worte im Kopf haben werde, würden sie vielleicht nicht rauskommen. Erschwert wird diese Situation noch durch die Glasscheibe – der »miroir«, Spiegel, wie Yasin diese beschreibt – und das Mikrofon, über das kommuniziert wird. Sie hören die Stimme der Sachbearbeiterin also nur über Lautsprecher. Mir wurde berichtet, dass es dadurch bereits schwer sei, das Gegenüber akustisch zu verstehen. Dabei handelt es sich um eine weitere Form der Machtausübung, da der_die Antragsteller_in davon abhängig ist, dass der_die Mitarbeiter_in am Schalter laut und deutlich spricht. Als die Sachbearbeiterin die erste Frage stellt, versteht Mehdi kein Wort und fragt nur »What?«, wie er mir danach erzählt. Sie wiederholt die Fragen langsam: Wie heißen Sie? Wann sind sie geboren?
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Wo wohnen Sie? Wie alt ist Ihre Frau? Nun hat er keine Probleme mehr zu antworten. Mehdi betont in seinem Bericht vom Besuch im Konsulat, dass die Sachbearbeiterin ein Kopftuch getragen hätte, was bei ihm zunächst eine gewisse Vertrautheit hervorgerufen hätte. Anschließend wechselt die Sachbearbeiterin auf Darija und es werden tiefergehende Fragen zum Partner oder der Partnerin gestellt sowie deren Beziehung: Wo haben Sie die Frau kennengelernt? Mehdi lernte seine Frau auf einer Spieleplattform Game Twister im Internet kennen. Als er die Geschichte im Detail erzählen will, interessiert sich die Sachbearbeiterin jedoch nicht dafür. Sie will wissen, wie sie miteinander kommunizierten. Sie hat in diesem Moment die Deutungshoheit und kann selbst die Themen und Fragen setzen. Er erklärt ihr, dass er Facebook nicht mag und sie vor allem über den MSN Yahoo-Messenger Kontakt hielten. Danach blättert sie den Pass seiner Frau durch, den er im Original mitbringen konnte, weil sie gerade in Marokko war. Die Sachbearbeiterin stellt Fragen zu der Ein- und Ausreise seiner Frau und will wissen, wie oft sie sich gesehen hätten. Als nächstes fragt sie, ob er Familienmitglieder in Deutschland oder Europa habe. In diesem Fall habe er verneint, obwohl er Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins in Europa hat. Aber er wollte vermeiden, dass sie in diese Richtung weiter fragt, und die Antworten negativen Einfluss auf die Visumsvergabe hätten. Andere Antragsteller_innen, mit denen ich gesprochen hatte, wurden auch gefragt: Haben Sie Kinder? Möchten Sie einmal Kinder haben? Was möchten Sie in Deutschland studieren? Welche Ausbildung möchten Sie machen? Wenn die Unterlagen schließlich alle überprüft und vollständig sind, werden am Ende die Originale der Dokumente zurückgegeben und noch der Fingerabdruck genommen. Mit dem Fingerabdruck ist das Verfahren endgültig eröffnet und der Körper der_des Antragstellers_in ab jetzt immer identifizierbar. Scheffer sieht in der Abnahme des Fingerabdrucks den »Hauptbestandteil der erkennungsdienstlichen Behandlung« aufgrund dreier Eigenschaften: Einmaligkeit, weil die Papillarleisten eines jeden Menschen individuell unterschiedlich sind; Unveränderlichkeit, weil sich diese im Laufe des Lebens eines Menschen nicht verändern, sowie Klassifizierbarkeit, da die Fingerabdrücke sehr einfach in Datenbanken und ‑systeme einzupflegen und damit zu verwalten sind (vgl. Scheffer 1997: 180). Brigitta Kuster und Vassilis Tsianos weisen darauf hin, dass sich mit der Digitalisierung des Fingerabdrucks die Grenze in die Körper der Antragsteller_innen einschreibt, was dazu führt, dass sie die Grenze nicht mehr gänzlich überschreiten können, selbst wenn sie zum Beispiel den Schengenraum betreten: »[W]hat they do is to transgress the border at the same time as incorporating it. Only in this way they re-territorialise the border and they push it deeper into the European territory and they challenge the limits of Europe.« (Tsianos/ Kuster 2013: 71) Zuletzt bekommt der_die Antragsteller_in noch einen Stempel in den Pass mit dem Schriftzug: »Demandé le visa le 29 janvier 2014«. Darunter ist Platz für das Visum, das im Fall einer Antragsbewilligung eingeklebt wird. Während der ersten Begegnung am Schalter werden bereits mehrere Bereiche geprüft: Kann die Person tatsächlich Deutsch auf A1‑Niveau nachweisen? Was ist
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die Geschichte des Paares? Hat die Person andere Verbindungen nach Europa außer dem_r Ehepartner_in? Wie kommunizieren die Partner_innen? Wie oft haben sie sich gesehen? Abgesehen von einigen Standardfragen, variieren die Fragen. Mehdi hatte den Versuch unternommen, selbst Regie zu übernehmen, indem er zum Beispiel die Kennenlerngeschichte mit seiner Frau erzählen wollte, die er auch mir einige Monate zuvor bereits mit Begeisterung geschildert hatte. Doch die Sachbearbeiter_in interessiert sich in diesem Fall nicht dafür und wechselt zur nächsten Frage. Bei einer anderen Frage nach Verwandtschaft in Europa behält sich Mehdi vor, nicht die Wahrheit zu sagen, weil er den Verdacht hat, dass ihm das negativ ausgelegt werden könnte. Trotz des Machtverhältnisses am Schalter besteht ein gewisser Spielraum, der Aushandlungen zulässt. Wie Antragsteller_innen diesen Handlungsspielraum nutzen, darauf möchte ich später noch einmal am Beispiel von zwei Paaren genauer eingehen. Die Mitarbeiter_innen des Konsulats befinden sich hier in einer ambivalenten Rolle, die wiederum Unsicherheit auf der anderen Seite des Schalters produziert. Einerseits spüren die Antragsteller_innen eine erste Vertrautheit, da sie diese als Marokkaner_innen identifizieren, wie zum Beispiel durch das Kopftuch, wie Mehdi hervorhebt, oder durch die gemeinsame Sprache Darija. Andererseits treffen sie in einem Raum aufeinander, in dem durch die Architektur bereits eine Ungleichheit hergestellt wird, die durch den Einstieg in die Konversation in einer Fremdsprache der ausländischen Institution, der die Schaltermitarbeiter_innen im Gegensatz zu den Antragsteller_innen mächtig sind, noch einmal verstärkt wird. Diese Ungleichheit wird auch im Verlauf der darauffolgenden Fragen noch stärker, die von vielen als ein Überschreiten der Grenzen ihrer Privatsphäre empfunden werden, und in der die_der Sachbearbeiter_in die Rolle der Fragenden, die_der Antragsteller_in die Rolle der Antwortenden und Zeugnis ablegenden inne hat. Nach dem Verlassen des Konsulats heißt es nun erst einmal wieder Warten. Auf der Homepage steht dazu: »Für die Erteilung des Visums ist die Zustimmung der Ausländerbehörde (Wohnsitzbehörde) erforderlich. Sobald nach etwa zwei bis drei Monaten eine Entscheidung vorliegt, benachrichtigen wir Sie schriftlich. Telefonische Anfragen können wir aus Zeitgründen nicht beantworten.«
5.1.4 (Um-)Wege des Antrags: Herstellung digitaler Datenkörper Sind die Unterlagen vollständig und alle Daten – inklusive einem Fingerabdruck – erfasst, geht der Antrag nun seine eigenen Wege. Ein Exemplar in Papierform wird in die Visaabteilung des Konsulats gegeben, ein weiteres per Post an das Bundesverwaltungsamt in Köln geschickt, das den Antrag wiederum an die zuständige Ausländerbehörde in der Stadt, wo der_die Partner_in gemeldet ist, weiterleitet. Es dauert circa zwei bis vier Wochen, bis der Antrag in Papierform der Ausländerbehörde vorliegt. Mit dem Antrag gehen also auch die Daten der Antragsteller_innen nun ihre eigenen Wege. Bei dem Bundesverwaltungsamt handelt es sich um die »Schnittstelle zwischen Ausland und Deutschland«, wie mir in der Ausländerbehörde in München von einem
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Mitarbeiter erklärt wird. In dieser Institution würden die Unterlagen nicht überprüft werden, sondern das sei lediglich die »Poststelle«, so der Mitarbeiter. Das Bundesverwaltungsamt in Köln, 1960 gegründet, versteht sich, wie es auf der Homepage heißt, als »zentrale[r] Dienstleister des Bundes« und entlastet Behörden sowie Nichtregierungsorganisationen »von zeit- und kostenintensiven Routinearbeiten«: »Indem das BVA Aufgaben effizient zusammenfasst, leistet es einen wichtigen Beitrag zur Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung.« (Bundesverwaltungsamt 2016a) Auf meine Frage hin, warum die Unterlagen nicht einfach digitalisiert werden und man sich so Zeit sparen könnte, meint der Mitarbeiter der Ausländerbehörde, dass man »vom gemeinsamen System her« soweit noch nicht sei: »Wir können das elektronisch als PDF oder als Dokument nicht austauschen.« Trotzdem gibt es ein gemeinsames digitales System, an das sowohl die Ausländerbehörden als auch die deutschen Vertretungen angebunden sind: VISA-Online. Software und Datenbanken wie diese werden seit einigen Jahren zunehmend im Grenzschutz eingesetzt. Dabei handelt es sich, genauso wie bei Eurodac (speichert europaweit Fingerabdrücke irregulärer Migrant_innen), sowohl um Informations-, Kommunikations- als auch um Kontrolltechnologien (vgl. Tsianos/Kuster 2013: 5), die entweder auf nationaler oder transnationaler Ebene eingesetzt werden. Noch bevor die Unterlagen auf postalischem Weg das Bundesverwaltungsamt erreichen, trifft in der zuständigen Ausländerbehörde über die Software eine Benachrichtigung über den Eingang des Antrags ein, sobald dieser in dem System VISA- Online erfasst wurde. Diese Datei enthält bereits die »Grunddaten« – Angaben zur Person, die einreisen will, Angaben zur_m Ehepartner_in – sowie eine »kurze Stellungnahme« des Konsulats mit »Bemerkungen« zum Antrag. Als der Mitarbeiter der Ausländerbehörde mir den Prozess erklärt, nimmt er sich eine Akte als Beispiel zur Hand und liest vor: »Keine Fälschungsmerkmale bei den vorgelegten Urkunden«, »Wir haben schon das Sprachzertifikat«. An dieser Stelle würden jedoch auch »Zweifel an der Aufrichtigkeit der Ehe« vermerkt, erklärt er, also »Zweifel an den Eheabsichten, ob das Ehepaar wirklich eine aufrichtige, schützenswerte Ehe führen will oder ob das nur zum Schein eingegangen wird, um ein Aufenthaltsrecht zu vermitteln«. Die Notizen, die der_die Sachbearbeiter_in am Schalter aufgenommen hat und die oft Informationen über die Beziehung des Paares und deren Hintergründe enthalten, sind nun untrennbar mit den standardisierten Daten zu Identifikation und Aufenthaltsstatus verbunden und zirkulieren digitalisiert in einem transnationalen behördlichen Raum, wobei sie gleichzeitig die Grenze verkörpern. Weitere Informationen werden vom Konsulat aus zwei Datenbanken gezogen und ebenfalls an die Ausländerbehörde weitergeleitet: aus dem bundesweiten »Ausländerzentralregister« und dem »Schengener Informationssystem« (SIS). Dazu stellt das Konsulat wiederum eine Anfrage an das Bundesverwaltungsamt. Auf der Internetseite dieser Institution heißt es: »Im Schnitt richten die Auslandsvertretungen etwa alle 10 Sekunden eine Anfrage an das BVA, dies rund um die Uhr und an sieben Tagen in der Woche. Jährlich werden weit über 2 Milli-
210 | Grenzüberschreitungen onen Visumanträge im BVA bearbeitet, davon die überwiegende Zahl vollautomatisch innerhalb von wenigen Sekunden. Die Komplexität des deutschen Visumsverfahrens erfordert den Einsatz modernster Technik, um den hohen Anspruch an Effizienz und Verfahrenssicherheit zu erfüllen. Zu diesem Zweck setzen wir bspw. ein biometrisches Verfahren zur Lichtbilderkennung sowie ein alphanumerisches Suchverfahren ein. Mit dem Visumsverfahren leistet das BVA als Informationsdrehscheibe einen wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen, persönlichen und interkulturellen grenzüberschreitenden Austausch unter gleichzeitiger Wahrung nationaler und europäischer Sicherheitsinteressen.» (Bundesverwaltungsamt 2016b)
Hier wird vom Bundesamt selbst die Gleichzeitigkeit der Funktion der digitalen Technologien im Sinne von Kommunikation und Austausch als auch Kontrolle und Sicherheit betont. Die »Komplexität« des Visumsverfahrens wird zur Legitimation für den Einsatz der Technologien und die damit einhergehende digitale Erfassung, unter anderem biometrischer Daten, herangezogen. Mit der Antragstellung wird der erfasste Körper des_r Antragsteller_in nun Teil eines großen digitalen Informationssystems und seine_ihre Daten an unterschiedlichsten Orten eingespeist. Die Digitalisierung der Grenzkontrolle und -sicherung ist ein wichtiger Bestandteil der Machtausübung innerhalb des Grenzregimes. Kuster und Tsianos schreiben, dass die Grenzpolitiken, die durch das Sammeln von Daten zu einer Politik aus der Entfernung werden, zwei Funktionen haben: Es entsteht dadurch ein Netzwerk der Kontrolle, das sowohl Formen der Überwachung als auch die Bestrafung von Verstößen informatisiert (vgl. Tsianos/Kuster 2013: 6). Durch die digitale, aber auch materielle (in Papierform) Erfassung und Registrierung werden die Antragsteller_innen in den Worten Jaspir Puars zu »data bodies« (Puar 2007: 175).47 Während die Antragsteller_innen in diesem Moment immer noch physisch immobilisiert sind und sich nach wie vor in einem Zustand des Wartens befinden, wurden ihre ›Datenkörper‹ bereits mobil und bewegen sich unabhängig von territorialen Grenzen in einem transnationalen digitalen Raum. Der Ausländerbehörde werden vom Bundesverwaltungsamt die Daten aus dem »Ausländerzentralregister« sowie dem »Schengener Informationssystem« übermittelt. Es könne sich dabei sowohl um »positive« als auch »negative Speicherungen« zu »ausländischen Staatsangehörigen« handeln, so der Mitarbeiter der Ausländerbehörde im Interview. Diese Angaben seien immer standardisiert: Aufenthaltstitel, Art des Aufenthaltstitels, wann erteilt, wie lange gültig et cetera. »Negative Speicherungen« seien zum Beispiel: »Ausweisung, Abschiebung, Einreisebedenken wegen dem und dem oder negatives Asylverfahren«. Lägen solche »negativen Speicherungen« über eine_n Antragsteller_in vor, könne dies dazu führen, dass das Visum abgelehnt oder die Person sowie ihr_seine Partner_in weiteren Überprüfungen unterzogen werden. 47 Jaspir Puar verwendet den Begriff der Datenkörper im Zusammenhang mit racial profiling: »My reading thus elaborates the biopolitics of population that racializes and sexualizes bodies not entirely through their visual and affective qualities […] but rather through the date they assemble.« (Puar 2007: 175)
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Gebe es solche Speicherungen im schengenweiten System, also in einem anderen Land wie zum Beispiel ein »Betretensverbot« in Italien, könnten sie dem Antrag ebenfalls nicht einfach zustimmen, so der Mitarbeiter, sondern müssten mit den italienischen Behörden in ein sogenanntes »Konsultationsverfahren« treten. Auch dabei gibt es Unterstützung durch das Bundesverwaltungsamt, wie es auf deren Homepage heißt (vgl. Bundesverwaltungsamt 2016b). Nur wenn die Speicherung zurückgenommen oder nur auf Italien beschränkt werde, könne man über den Antrag positiv entscheiden. Ein paar Wochen später trifft der Visumsantrag in Papierform in der Ausländerbehörde ein. Die Gleichzeitigkeit von postalischer und digitaler Übermittlung der Informationen führt zu einer Ungleichzeitigkeit der Datenbewegungen. Dadurch dass die gesamten Daten – wie zum Beispiel PDFs – nicht digital kommuniziert werden können, kommt es zu einer Verzögerung des gesamten Prozesses. Die Ausländerbehörde selbst arbeite nur noch mit elektronischen Akten, alle Unterlagen würden eingescannt werden, so der Mitarbeiter. Nur im Falle der Visumsverfahren würden sie Papierakten vorübergehend anlegen, bis die Einreise erfolgt ist. Dann werde ebenfalls eine elektronische Akte kreiert: »Und dann wird dieser ganze Wissensvorgang digitalisiert und kommt in unsere elektronische Akte.« Die Politikwissenschaftlerin Irene Messinger bezeichnet Akten auch als »institutionalisierte Spuren«, in denen Absichten und Erwägungen der Verfasser_innen sichtbar werden (Messinger 2012: 20). Über VISA-Online werden schließlich auch die Stellungnahmen der Ausländerbehörden wieder zurück an die Konsulate gegeben. Die Entscheidung über den Antrag ist nun abhängig von der Einschätzung durch die Ausländerbehörde.
5.1.5 Zweiter Check in der Ausländerbehörde: die Grenzen des Intimen »Sehr geehrte Frau R., das Bundesverwaltungsamt Köln übermittelte mir nunmehr den Visa-Antrag Ihres Ehemannes. Lt. den vorliegenden Antragsunterlagen beabsichtigt ihr Ehemann, im Rahmen der Familienzusammenführung, dauerhaft zu Ihnen in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen. Damit eine entsprechende Bearbeitung des vorgenannten Antrages möglich ist, werden zusätzlich noch weitere Angaben und Unterlagen von Ihnen benötigt. Damit eine zeitnahe Bearbeitung des Antrages gewährleistet werden kann, bringen Sie mir die folgenden Unterlagen demnach bitte bis zum 15.03.2014 48 persönlich bei:
1. Nachweis über die Sicherstellung des Lebensunterhaltes (Beigefügte und von Ihrem Arbeitgeber ausgefüllte Arbeitgeberbescheinigung, Kopie ihres Arbeitsvertrages. Sowie Kopien ihrer Lohn/Gehaltsabrechnungen der letzten drei Monate, evtl. SGB II-Bescheid, Wohngeldbescheid etc.) 2. A ktuellen Nachweis über den Ihnen zur Verfügung stehenden Wohnraum (Kopie ihres vollständigen Mietvertrages, sowie die beigefügte, vom Vermieter aus-
48 Datum geändert.
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gefüllte Vermieterbescheinigung. Sofern Sie ein Eigenheim besitzen, legen Sie bitte ihren aktuellen Abgabenbescheid in Kopie bei.) 3. Ausgefüllten und unterschriebenen Fragebogen 4. Kopie ihres Reisepasses (einschl. der Ein- und Ausreisestempel) 5. Ggfl. Fotos von Ihnen und Ihrem Ehemann während ihrer gemeinsamen Aufenthalte/Urlaube in Marokko 6. Ggfl. Nachweis/Ausdrucke über ihre regelmäßigen Skype-Kontakte zu Herrn O.
Zudem bitte ich Sie folgende Fragen ausführlich schriftlich zu beantworten:
1. Wann, wie und wo genau haben sie sich kennengelernt? (War eine Dritte Person hieran beteiligt?) 2. Wie oft haben Sie ihren jetzigen Ehemann bisher in Marokko besucht? (sind hierüber Flugtickets vorhanden? Passstempel?) 3. W ie halten Sie momentan Kontakt zueinander aufrecht? (Telefon/Skype/Brief)
Für Rückfragen stehe ich Ihnen unter der o. a. Telefonnummer gerne zur Verfügung. Mit freundlichen Grüßen Im Auftrag W.«
Dieses Schreiben einer Ausländerbehörde in einer Kleinstadt in Deutschland an die Partnerin eines Antragstellers aus Marokko ist das Ergebnis der weiteren Überprüfung durch die Ausländerbehörde. Zunächst werden nur Unterlagen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie des Wohnraums angefragt. Allerdings gilt diese Regelung, die im Aufenthaltsrecht § 29 festgeschrieben ist, eigentlich nur für nicht-deutsche Staatsangehörige (vgl. Aufenthaltsgesetz 2015). Dass in diesem Fall von Frau R., die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, trotzdem ein Nachweis über die »Sicherstellung des Lebensunterhalts« sowie ein »Nachweis über den […] zur Verfügung stehenden Wohnraum« eingefordert wurde, deutet auf den Spielraum sowie die unterschiedliche Durchführung des Verfahrens der Ausländerbehörden hin. Auch eine andere Partnerin mit deutscher Staatsangehörigkeit berichtete mir, dass sie diese Unterlagen vorlegen musste, was bei ihr problematisch wurde, da sie Hartz IV empfängt. Hier findet eine Hierarchisierung entlang von Klasse statt. Unabhängig von der Staatsbürgerschaft werde der Partner oder die Partnerin immer von der Ausländerbehörde angeschrieben, um sicher zu gehen, dass der_die Ehepartner_in überhaupt erwartet wird, so der Mitarbeiter in der Ausländerbehörde München. Die zusätzlichen schriftlich zu beantwortenden Fragen zum Kennenlernen des Paares, zu Besuchen in Marokko und der Kommunikation sowie der Hinweis »gegebenenfalls« gemeinsame Fotos sowie Nachweise über regelmäßigen Kontakt einzureichen, deutet darauf hin, dass bei diesem Paar »Zweifel an der Aufrichtigkeit der Ehe« bestehen. In diesem Fall wird in Frage gestellt, dass es sich um eine ›echte‹ Ehe
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handelt, sondern vielmehr eine Eheschließung zum ›Schein‹ vermutet, also um der aufenthaltsrechtlichen Vorteile willen. Da diese Aufforderung eigentlich nach dem Persönlichkeitsrecht, das im Grundgesetz in Artikel 2 und in den Menschenrechten in Artikel 12 festgeschrieben ist, als rechtswidrig eingestuft werden kann und den Schutz der Privatsphäre gefährdet, ermöglicht die Anmerkung »gegebenenfalls« die Verantwortung wieder an den_die Antragsteller_in abzugeben. Laura Block weist darauf hin, dass sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als auch in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte in dem Artikel des Rechts auf Privatsphäre auch die Familie als zu schützender Bereich genannt wird. Trotzdem scheine im Zusammhang mit dem ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ ein gewisser »trade-off« vorzuherrschen: »Either the couples cooperate with the authorities and give up part of their privacy in order to (hopefully) be granted the right to reside together, or they protect their privacy but risk their family.« (Block 2016: 70) Auch der interviewte Mitarbeiter der Ausländerbehörde München beteuert, dass es eigentlich unzulässig sei, diese Art der Dokumente einzufordern. Aus der Perspektive der Antragsteller_innen sind gerade Fotos, aber auch Nachweise über Kommunikation jedoch mittlerweile eine gängige Praxis, um Glaubwürdigkeit zu vermitteln, und werden sogar häufig aus Eigeninitiative eingereicht. Durch die Unsicherheit und Angst, dass über den Visumsantrag negativ entschieden wird, wird der Aufforderung diese – von vielen als privat wahrgenommenen – Dokumente vorzulegen meist nachgegangen. So erhielt Samahs Partner ebenfalls ein Schreiben von der Ausländerbehörde, in der eigentlich nur auf Probleme mit der Anerkennung der marokkanischen Heiratsurkunde hingewiesen wurde. Bei ihr und ihrem Partner löste diese Anfrage wieder Angst aus, dass an ihrer Beziehung gezweifelt werde. Am Telefon fragte sie mich nach Rat und erzählte, dass ihr Partner eine DVD von der Hochzeit mit zum Termin in der Ausländerbehörde nehmen werde. Sie habe auch kein Problem damit, alle Whatsapp-, Skype- und Viper-Nachrichten einzureichen. »Ich habe nichts zu verstecken«, sagte sie im Telefonat. Auch von Mitarbeiter_innen des Konsulats wurde mir berichtet, dass Fotoalben häufig schon bei der ersten Antragstellung am Schalter unaufgefordert mitgebracht werden. Die Praxis Nachweise über Kommunikationsverläufe zu verlangen, wird von einem Konsulatsmitarbeiter als »normal« bewertet, die Daten bräuchten sie eben, sonst könne man die »Verbundenheit« nicht überprüfen: »Was wird da schon drin stehen außer ›Schatz, ich vermisse dich! Ich bin traurig, dass du nicht da bist!‹« In der Ausländerbehörde gibt es ähnliche Vorfälle. Ein Mitarbeiter erzählte von einem Ehepartner, der zur Befragung vorgeladen war und »mit hunderten Bildern angerückt« sei: »Die wollen dann auch zeigen: Schauen’s, da war ich. Und da in dem Urlaub. Und so haben wir uns kennengelernt. Denen es dann auch ganz wichtig ist. Und wo […] ich auch von meiner Wahrnehmung her sage: Ok, eigentlich könnten wir jetzt schon wieder aufhören.« Er glaube auch, »dass dieser Verdacht oder diese Sorge, die man da hatte, [dann] völlig unbegründet ist.« Die Vorlage dieser vermeintlichen ›Liebesbeweise‹ ist also sehr wirkmächtig und eine erfolgreiche Strategie, um einer positiven Entscheidung näher zu kommen.
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Doch auch hier gibt es Widerstand: So verweigerte der Bruder einer Antragstellerin im Konsulat, eine Videokassette von der Hochzeit vorzulegen, wozu sie aufgefordert wurden. Er war entsetzt und sagte: »Es gibt Datenschutz!« Sie hatten jedoch sowieso bereits einen Anwalt eingeschalten, da im Konsulat der Härtefallantrag nicht ernst genommen wurde. In Nador berichtete mir einer der Deutschlehrer, dass es einige Jahre zuvor Proteste vor dem spanischen Konsulat in Nador gegeben habe. Der Grund waren »intime Fotos«, die von Paaren verlangt wurden, um zu überprüfen, ob es sich um ›Scheinehen‹ handele. Er sei damals dazu von Nadorcity.com interviewt worden. Er fände es in Ordnung Fotos von der Verlobung zu zeigen, aber nicht aus dem Schlafzimmer oder auf denen man sich küsst. Er zog eine religiöse Begründung für die Überschreitung der Privatsphäre heran: Man könne das nicht verlangen in einer islamischen Gesellschaft; man zeige solche Fotos von seiner Frau in Marokko nicht her, dass sei zu intim und eine Frage des Respekts. Das spanische Konsulat in Nador wurde 2013 von dem spanischen Gerichtshof in Madrid angeklagt, weil sie einem Paar ›Scheinehe‹ vorwarfen und kein Visum ausgestellt hatten, obwohl diese einige Monate zuvor ein gemeinsames Kind bekommen hatten. Vorwürfe waren unter anderem, dass die Mitarbeiter_innen des Konsulats den Partner_innen sehr intime Fragen stellten und Fotos oder andere Aufzeichnungen ihrer Hochzeit verlangten, wie das Onlinemagazin Bladi.net berichtet (Bladi 2013). Auch der Verband binationaler Familien und Partnerschaften (iaf) weist in Stellungnahmen immer wieder auf das Überschreiten der Grenzen der Privatsphäre durch solche Überprüfungen hin (vgl. Spohn/Stöcker-Zafari 2005). In der Ausländerbehörde in Deutschland werden dem_der Partner_in von der_dem dortigen Sachbearbeiter_in wiederum ähnliche Fragen wie am Schalter im Konsulat – aber auch wie in den marokkanischen Behörden vor der Eheschließung – gestellt: Wie haben Sie sich kennengelernt? Wie kommunizieren Sie? Wie oft haben Sie sich gesehen? et cetera. Die gemeinsame Geschichte wird im Laufe des Verfahrens eingeübt, angepasst und normiert. Auch die Stellungnahme der Ausländerbehörde nach diesem Termin wird online über das Computersystem VISA-online übermittelt. Durch das Verlangen und das Einreichen von Fotos sowie Protokollen digitaler Kommunikationstechnologien wird die »Informatisierung der Körper« – »a relatively new phenomenon in which the human body appears to be redefined as an entity made of information« (van der Ploeg 2007: 44) – noch einmal verstärkt: Nun beruhen die Daten nicht mehr nur auf der Interaktion zwischen Antragsteller_innen und Vertreter_innen der Behörden sowie biometrischen Daten wie dem Passfoto und dem Fingerabdruck, sondern werden noch stärker – sowohl durch textliche als auch visuelle Informationen – individualisiert: bildlich durch Fotos der »gemeinsam verbrachten Zeit« und schriflich durch den Kommunikationsverlauf der Paare. Durch diese Dokumente wird dabei auch Intimität informatisiert. Die Politikwissenschaftlerin Anne-Marie D’Aoust spricht im Zusammenhang mit den Überprüfungen, denen die Paare ausgesetzt sind, auch von »Technologien der Liebe« (D’Aoust 2013). In den eingereichten Fotos würden sich ›echte‹ Gefühle materialisieren: »The materiality of ›love‹ (again, however one wants to define it) thus needs to be as much learned and
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recognized by the couple involved in the migration process, than by the various actors and administrative technologies involved in the evaluation process.« (Ebd.: 263) Ist die ›Aufrichtigkeit‹ der Ehe ›glaubwürdig‹ sowie die Echtheit der Dokumente überprüft, wird in der Ausländerbehörde positiv entschieden und das Visum erteilt. Bestehen noch immer Zweifel wird der nächste Schritt eingeleitet: die ›gleichzeitige Ehegattenbefragung‹.
5.1.6 Die ›gleichzeitige Ehegattenbefragung‹: Praktiken der Wahrheitsfindung Kommt es zu einer ›gleichzeitigen Ehegattenbefragung‹ werden beide Partner_innen zur gleichen Uhrzeit jeweils im deutschen Konsulat im Ausland und in einer Ausländerbehörde in Deutschland vorgeladen und interviewt. Es werden ihnen die gleichen Fragen gestellt. Anschließend werden die Antworten verglichen und auf Basis der Ergebnisse sowie des gesamten Dossiers eine Entscheidung getroffen. Laut einer Mitarbeiterin, die im Konsulat diese Befragungen durchführt, gehe es dabei darum, »die Ernsthaftigkeit einer auf Dauer angelegten Verbindung zu überprüfen«. Dafür gebe es verschiedene Anhaltspunkte, die ich später noch einmal näher ausführen werde. Von den circa 1000 Antragsteller_innen jedes Jahr würden im Schnitt circa 15 Prozent befragt werden, teilte mir die Mitarbeiterin mit. Das seien circa 160 Befragungen im Jahr. Bevor sie interviewt werden, müssten sie eine Einverständniserklärung unterschreiben. Sie könnten die Befragung auch verweigern, dann würde nur aufgrund der Aktenlage entschieden. Wenn zu viele Fragen offen blieben, werde der Antrag direkt abgelehnt. Auch hier wird durch mögliche Sanktionen Druck hergestellt, sodass Antragsteller_innen immer mit einer Ablehnung rechnen müssen, wenn sie sich weigern, eine solche Befragung über sich ergehen zu lassen. Am Tag der Befragung wird die Person in Marokko ins Konsulat eingeladen und der_die Partner_in in die Ausländerbehörde in Deutschland. Die Fragenkataloge werden vorab abgestimmt und sich gegenseitig zugeschickt. Die Fragen werden genau festgelegt. Zur Orientierung gebe es einen Satz von Fragen für alle Konsulate weltweit, die jedes Jahr etwas verändert und an örtliche Gegebenheiten angepasst werden, wurde mir erklärt. Als ich frage, ob ich mir diese Fragebögen anschauen könnte, wird sofort abgewinkt. Jedoch werden mir anschließend doch Beispielfragen genannt – auf deren Inhalte ich später noch einmal eingehen werde – und die Aussage getroffen, dass sich die meisten »aus der Natur der Sache« ergeben würden. In der Ausländerbehörde dagegen weist der interviewte Mitarbeiter darauf hin, dass die Fragenkataloge standardisiert seien und dass er vermute, dass diese sogar im Internet zu finden seien. Tatsächlich wird man in diversen Foren und Webseiten aktivistischer Gruppen schnell fündig.49 Er betont jedoch auch, dass diese Kataloge nicht einfach von oben 49 Siehe zum Beispiel: http://www.kanak-attak.de/ka/infopool/zahn.html, http://forum. konsulate.de/heirat-in-marokko-t-2427.html, http://www.maroczone.de/forum/archive/ index.php/t-44047.html, 26. September 2016.
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vom Auswärtigen Amt oder vom Innenministerium kämen, sondern es hätte sich »über die Zeit […] so ne gewisse Verwaltungspraxis gebildet«. Dabei würden Fragen zum Kennenlernen gestellt, »wie is des gewesen, haben sie Eheringe gemeinsam gekauft, was hat denn der Partner bei der Hochzeit getragen, kennt man die Familie des anderen, wird man da vorgestellt, hat man die Schwiegereltern kennengelernt«. Auch würde überprüft, ob jemand weiß, »was der Ehepartner für eine Ausbildung hat. Bisschen was einfach von seiner Vorgeschichte. Wo man dann einen Eindruck sich machen will, ob man zumindest in den wesentlichen Grundzügen seinen Partner kennt«. Inwieweit hier heteronormative sowie eurozentristische Diskurse und Vorstellungen von Ehe und Familie wirkmächtig werden, werde ich später genauer ausführen. An dieser Stelle geht es mir vielmehr darum, wie hier die Grenzen des Legitimen definiert und dadurch Intimität und Privatsphäre mitkonstruiert werden. Die gestellten Fragen zur gemeinsamen Geschichte der Paares, zum Zusammenleben, zu den Hobbies und Vorlieben fallen in einen Bereich, der von vielen Antragsteller_innen bereits als Privatsphäre wahrgenommen wird. Rein rechtlich bewegt man sich hier – genauso wie mit den Fotos und den Kommunikationsnachweisen – wieder in einem Graubereich. Zumal auch die Befragung nicht verpflichtend ist. Im Konsulat sagt einer der Mitarbeiter zu der ›gleichzeitigen Ehegattenbefragung‹, dass die Fragen schon in den »inneren Bereich einer Beziehung« gehen sollten, aber nicht in den »intimen Bereich«, denn die Würde des Befragten müsse gewahrt bleiben. Dass diese Grenzen eingehalten würden, sei für ihn selbstverständlich. Als ich den Mitarbeiter der Ausländerbehörde mit der Überschreitung der Grenzen des Intimen konfrontiere, stimmt er mir zu, dass man sich die Frage »Was geht das die Behörde an?« durchaus stellen könnte und es auch sein könne, »dass man sich hier auch ein bisschen am Rande bewegt von dem, wo man sagt, ja, darf das eine Ausländerbehörde oder darf das eine deutsche Auslandsvertretung eigentlich noch fragen«. Wobei er anschließend selbst definiert, wo für ihn die Grenzen liegen: Aus seiner Sicht seien zum Beispiel Fragen, wie sich das Liebesleben gestaltet, »völlig tabu«. Er findet: »Die Intimsphäre soll und muss gewahrt sein.« Gleichzeitig räumt er ein: »Aber das kann natürlich schon sein, dass natürlich eine Frage wie ›Wer hat den Heiratsantrag gestellt?‹ oder ›Wie haben Sie sich kennengelernt?‹, dass das jemand schon als seine Privatsphäre, als seine Intimsphäre betrachtet und sagt, das geht ja eigentlich die Behörde nichts an.« Er bestätigt also, dass die Grenzen dessen, was als Privat- oder Intimsphäre definiert wird, auch immer eine subjektive Einschätzung ist. Dennoch betont er noch einmal, dass man die Fragen stellen müsste, »weil man ja schon auch die Umstände, wie das Paar zueinander gefunden hat, irgendwie da beleuchten will. Jetzt nicht, was da noch alles passiert ist in dem Rahmen des Kennenlernens. Aber, dass man sagt: Ja, wir haben uns beim Tanzen in dem und dem Lokal getroffen oder so. Nicht wie es weitergegangen ist! Das natürlich nicht. Aber das kann natürlich ein Außenstehender möglicherweise schon als Eingriff in seine Privatsphäre empfinden. Ich finde, das bleibt aber auf einem Niveau, wo ich auch mit gutem Gewissen die Fragen stellen kann, wo man sagt: Ne, also es geht jetzt wirklich nicht um intime Details, wie das Liebesleben oder
Das Visum | 217 wie auch immer sich gestaltet, sondern einfach aus meiner Sicht eher die formalen Dinge, wie man sich kennengelernt hat. […] Aber Sie haben Recht, also es kann je nach eigenem Empfinden, schon so ein bissl die Intimsphäre berühren, also eigentlich ist es ja für eine Behörde nicht relevant.«
Aus der Perspektive des Mitarbeiters bedeutet ›Intimsphäre‹ also gleich ›Sexualität‹, das »Liebesleben«, wie er es ausdrückt. Dass auch die anderen Fragen bereits in die Intimsphäre reichen könnten, stuft er als subjektive Wahrnehmung ein und betont, dass er diese Kritik zwar verstehen könne, sich dies aber nicht vermeiden ließe. Er stellt also das Ziel den ›Missbrauch‹ des Rechts auf Schutz von Ehe und Familie zu bekämpfen über die Einhaltung von dem, was als ›intim‹ oder ›privat‹ gilt. Als Rechtfertigung zieht er außerdem die Erklärung heran, dass es eben nicht um die Inhalte der Antworten der jeweiligen Partner_innen gehe, sondern lediglich darum, ob diese übereinstimmten: »[S]timmen die Aussagen […] oder passen die Geschichten nicht zueinander?« Es gehe nicht darum, was sie erzählten, sondern ob sie das Gleiche erzählten. Wenn zum Beispiel der Zeitpunkt des Kennenlernens in den Erzählungen der Partner_innen um Jahre auseinanderliege, sei das ein Verdachtsmoment. Außerdem sagt er mit Nachdruck, dass zwar statistisch nicht erfasst werde, wie viele Befragungen durchgeführt werden, dass »keine Stricherllisten gemacht werden«, jedoch sei die Anzahl sehr gering. Sie hätten ein paar tausend Visumsverfahren im Jahr und in der Woche vielleicht maximal zwei Befragungen. Mehr könnten sie auch personell nicht leisten. Das sei wirklich nur in den Fällen, »wo man sagt: Das passt nicht. Das ist eine schräge Geschichte. Da ist die Konstellation wirklich so auffällig, da müssen wir hinschauen«. Davon bekäme wiederum die Hälfte nach der Befragung einen positiven Bescheid. Hier wird die geringe Anzahl von Betroffenen ebenfalls als Legitimation herangezogen, diese Befragungen in dieser Form und mit diesen thematischen Setzungen, die für viele als Eingriff in ihre Intimsphäre empfunden werden, durchzuführen. Während bestimmte Fragen wie zu Hobbies oder Vorlieben bei Essen, Urlaub et cetera von ihm als nicht ausschlaggebend bezeichnet werden, werden diese Fragen trotzdem gestellt. Da die Antragsteller_innen nicht wissen, wie am Ende entschieden wird, üben diese Fragen jedoch wieder enormen Druck aus und verunsichern durch die Grenzüberschreitung in die gefühlte Privatsphäre. Außerdem werden hier auch wiederum spezifische Informationen und Daten über die Antragsteller_innen dokumentiert und registriert, die noch einmal andere Bereiche der ›Privatheit‹ abdecken und langfristig weitere biopolitische Zugriffe ermöglichen können. Das Interview im Konsulat in Marokko, das ebenfalls Teil der ›gleichzeitigen Ehegattenbefragung‹ ist, wird in einem der Büros durchgeführt. Vom Hof des Konsulats aus geht es durch einen Garten in ein Rückgebäude, wo sich weitere Räumlichkeiten befinden. Die Befragten müssen sich zunächst ausweisen und unterschreiben, dass sie keine falschen Angaben machen werden. Haben die Prüferin und der_die Befragte Platz genommen, wird die Sprache überprüft. Meistens würden die Befragungen in Darija durchgeführt werden. Die Prüferin ist auch marokkanischer Herkunft und spricht Darija sowie Deutsch. Zwei Mal habe es schon den Fall gegeben, dass jemand
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nur Amazigh gesprochen habe, erzählt mir die Prüferin. In diesen Fällen würde der Termin abgebrochen und ein neuer Termin gemeinsam mit einem Übersetzer vereinbart werden. Die Antworten werden auf dem Fragebogen direkt festgehalten. Dieser ist auf Deutsch und wird von der Prüferin zumeist übersetzt, weil die Sprachkenntnisse der Befragten nicht ausreichen, um die Fragen zu verstehen oder sogar den Bogen in deutscher Sprache selbst auszufüllen, auch wenn sie bereits Sprachkurse bis Niveau A1 besucht und die Prüfung ›Start Deutsch 1‹ abgelegt haben. Die Prüferin übersetzt also die Fragen ins Arabische und notiert die Antworten auf Deutsch. Im Raum sind keine weiteren Personen außer der Prüferin und dem_der Befragten. Die Gespräche werden nicht aufgenommen. Begründet wird dieses Vorgehen damit, dass man für die Aufnahme eine Genehmigung von den Befragten bräuchte, was schwierig sei. Außerdem könne man kein vertrauensvolles Gespräch führen, wenn das Aufnahmegerät daneben stünde, rechtfertigt sich die Mitarbeiterin. Das sei ja wie bei der Polizei, fügt sie hinzu. Der Hinweis von meiner Seite, dass es bei dieser Art der Befragung doch schwierig sei, Objektivität zu garantieren, wird abgewiesen mit der Erklärung, dass es einfach um »gerichtsfeste Ergebnisse«, um »Fakten« gehe. Sie fragten auch mehrmals nach, um zu prüfen, ob sie immer gleich antworteten. Am Anfang seien die Befragten immer sehr aufgeregt, berichtet die Prüferin. Wenn sie ein schlechtes Gewissen hätten, seien sie besonders nervös. Manchmal fingen sie an zu schwitzen. Das Problem sei, dass die meisten von weit her angereist kämen. Manche seien bestens vorbereitet. Deshalb versuche man dann auch völlig unerwartete Fragen zu stellen. Wenn sie ihre Rolle gut spielten, merke man das tatsächlich nicht, gesteht sich die Prüferin ein. Sie wurde kurz vor dem Interview von ihrem Vorgesetzten als »gute Prüferin« gelobt, weil sie »gerichtsfeste Ergebnisse« liefere. Es gehe darum, wie man Lügen und Widersprüche aufdecken und Erkenntnisse gewinnen könne, so dieser Mitarbeiter, der während des Interviews dabei ist. Strategien und Techniken würden in internen Weiterbildungen vermittelt und schließlich bräuchte man auch einfach Erfahrung. Als ich nachfrage, was denn zum Beispiel »erfolgreiche Befragungstechniken« seien, erklärt mir dieser Mitarbeiter, dass er zum Beispiel einen Kollegen in einer Ausländerbehörde in Deutschland habe, der sehr clever sei. Zum Beispiel habe er eine deutsche Frau interviewt – in diesem Fall handelte es sich um eine individuelle Befragung und keine ›gleichzeitige Ehegattenbefragung‹ – und sie gefragt, wo ihr Mann denn im Moment sei. Sie habe gesagt: »In Marokko.« Sein Kollege habe daraufhin in den Computer geschaut und getippt und nochmal gefragt, ob er denn nicht schon in Deutschland sei. Dies würde bedeuten, dass dieser sich irregulär in Deutschland aufhält und sei damit ein Indiz, dass die Ehe nur aufgrund des Aufenthalts geschlossen wurde. Die Frau habe in dem Moment gedacht, dass er das in seinem Computer nachgeschaut habe, und es zugegeben. Solche Sachen lerne man da«, sagt er. Er selbst habe auch viele Interviews geführt und wisse einfach, wenn jemand lüge. Er erklärt mir seine Strategie an einem konkreten Beispiel aus seiner Zeit als Konsulatsmitarbeiter in einem Land in Südasien: Am Anfang schaffe man eine lockere Atmosphäre und plaudere ein wenig. Er habe die Lampe immer so ge-
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stellt, dass das Gesicht des Antragstellers gut beleuchtet ist. Das sei wichtig, betont er. Nachdem sie »geplaudert« hatten, habe er angefangen Fragen zu stellen. Als sich die ersten Widersprüche ergeben hätten, habe sich auf der Stirn des Befragten eine Schweißperle gebildet, die sei ihm über das ganze Gesicht bis zum Kinn gekullert und sei dann heruntergetropft. Es hätten sich immer mehr Widersprüche ergeben, und irgendwann habe der Befragte gemeint, dass er jetzt nichts mehr sagen werde. Der Mitarbeiter betont als Resultat aus dieser Geschichte noch einmal: »Man sieht doch, wenn die nervös werden. Wenn man genau hinschaut.« Er kommt zu dem Schluss – genauso wie kurz davor seine Kollegin –, dass sich körperlich ablesen lasse, wenn die Befragten nicht die Wahrheit sagten. Als ich entgegne, dass doch auch die Angst vor der Interviewsituation und den Folgen des Gesprächs zu dieser Nervosität führen könnten, sagt er, dass das stimme, aber dass er zu Beginn so eine lockere Atmosphäre schaffe, dass sie gar keine Angst mehr haben bräuchten. Es gehe darum, im Interview Erkenntnisse zu gewinnen und das lerne man in den Seminaren. Bei der ›gleichzeitigen Ehegattenbefragung‹ werde immer viel nachgefragt, denn um die Antworten mit denen des Partners zu vergleichen, müssten sie ganz genau sein, erklärt mir die Prüferin außerdem. Ist der Fragebogen ausgefüllt, können sie noch einmal alles lesen und bestätigen. »Die können schon ein bisschen lesen«, werden die Bedenken, dass die Befragten die Antworten auf Deutsch doch gar nicht lesen könnten, ausgeräumt. Die Fragen seien unmissverständlich, betont der andere Konsulatsmitarbeiter, der bei diesem Interview dabei ist. Die Prüfer_innen haben die Aufgabe, die ›Wahrheit‹ herauszufinden: Handelt es sich bei diesem Paar um eine ›echte‹ Ehe, wie sie angeben, oder ist diese nur ›Schein‹, also allein für den aufenthaltrechtlichen Vorteil für den_die marokkanische_n Partner_in geschlossen worden. In seiner Arbeit zu »Wahrheitsregimen« zeigt Foucault wie über Techniken der Beichte Wahrheit überhaupt erst hergestellt wird und sich konstituiert (vgl. Foucault 2014). Er bezeichnet das Geständnis als eine Form von Machtwissen, das spätestens seit dem Mittelalter zu einem der Hauptrituale wurde, in denen die Produktion von Wahrheit verortet ist. Dabei ist es nicht länger eine Autoritätsperson, die die Wahrheit festlegt, sondern das Individum selbst ist angehalten, ein Geständnis abzulegen und damit einen Diskurs »über sich selbst« zu halten. So ist das Geständnis auch wichtiger Bestandteil der Subjektwerdung. Foucault schreibt dazu: »Das Geständnis der Wahrheit hat sich ins Herz der Verfahren eingeschrieben, durch die die Macht die Individualisierung betreibt.« (Foucault 2014: 62) Welche Vorstellungen und Bilder von Ehe hier zur Wahrheit gemacht und essentialisiert werden, darauf werde ich im nächsten Kapitel eingehen. Was an dieser Stelle jedoch gezeigt wurde, sind die Techniken, durch die Befragungen überhaupt erst möglich und strukturiert werden: wie das Setting mit seinen räumlichen und materiellen Dimensionen. Während am Schalter über die Architektur (die Glasscheibe etc.) Distanz zwischen Antragsteller_in und Sachbearbeiter_in hergestellt wird – auch hier könnten in Anlehnung an Foucault Parallelen zum Beichtstuhl gezogen werden –, ist es jetzt vielmehr Nähe und vermeintliche Vertrautheit. Den Prüfer_innen wird eine gewisse psychologische Expertise zugeschrieben, die sie durch Seminare und Erfahrung erlernt haben und die ihnen eine objekti-
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ve Einschätzung scheinbar ermöglichen (»gerichtsfeste Ergebnisse«, »Fakten«). Diese Herstellung von ›Objektivität‹ und ›Präzision‹ dient ebenfalls der Legitimation der Befragungstechniken, der Techniken der Wahrheitsfindung. Die Prüferin hat das Recht das Dokument noch zu kommentieren, jedoch müsse sie damit rechnen, dass sie sich im Nachhinein dafür rechtfertigen müsse, wie sie erklärt. Die ausgefüllten Fragebögen gehen direkt zur Ausländerbehörde. Dort wird schließlich auch die Entscheidung getroffen. Es gibt noch eine weitere Form der Befragung, die jedoch nur maximal zwei Mal im Jahr durchgeführt wird, wie eine Mitarbeiterin erklärt – bei Verdacht auf ›Zwangsehe‹. Hier wird der Diskurs um ›Zwangsehen‹ wieder wirkmächtig, der auch die Debatten um die Sprachnachweispflicht mitrahmt. Dazu komme es nur, wenn der Verdacht bereits bei der Antragstellung durch den Schaltermitarbeiter geäußert werde, sagt die Mitarbeiterin, die auch die ›gleichzeitigen Ehegattenbefragungen‹ durchführt. Indizien seien dabei sichtbare Verletzungen am Körper der Frau oder wenn der Ehemann oder der Vater dabei wären. Die Frauen würden nichts sagen, ganz »scheu sein« und manchmal anfangen zu weinen. Die Schaltermitarbeiter versuchten dann nur mit der Frau zu sprechen und würden den männlichen Begleiter bitten, sich für einen Moment wegzusetzen. Wenn er sich weigerte, werde das notiert und die Ausländerbehörde eingeschaltet. Eine weibliche Ortskraft lädt die Antragstellerin daraufhin zu einem Gespräch ein, »von Frau zu Frau« und in »entspannter Atmosphäre«, wie es die Prüferin ausdrückt. Sie versucht in einer Befragung herauszufinden, ob es sich tatsächlich um eine erzwungene Ehe handelt, denn dann sei diese nach Artikel 6 keine »schützenswerte Ehe«, da diese auf »Freiwilligkeit« beruhen müsse. Sie erkläre der Antragstellerin, dass man ihr helfen und sie schützen wolle und dass man sie verstehe. Am Ende müsse sie ihre Entscheidung selbst aufschreiben, um handeln zu können. Aber diese Gespräche seien sehr schwierig, betont sie. Wird eine ›Zwangsehe‹ tatsächlich verhindert beziehungsweise der Antrag zurückgezogen, müsse die Antragstellerin die Konsequenzen selbst tragen. Sich um die Frauen zu kümmern sei nicht die Aufgabe des Konsulats, sondern »Angelegenheit eines fremden Staates«, also in diesem Fall Marokkos.
5.1.7 Die Entscheidung: Erteilung oder Verweigerung der Einreiseberechtigung Die Entscheidung über Visumsanträge wird nur von entsandten Mitarbeiter_innen getroffen, nicht von Ortskräften. Die entsandten Mitarbeiter_innen, die Kurzzeitvisa bearbeiten, hätten offiziell 30 Sekunden Zeit für einen Antrag, so einer der Mitarbeiter. Die Langzeitvisa für den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ werden stattdessen von dem Leiter der Visaabteilung, einem Mitarbeiter des höheren Diensts, bearbeitet. Das dauere länger, da viel Schriftverkehr mit der Ausländerbehörde in Deutschland sowie mit den Antragsteller_innen notwendig sei, wie mir erläutert wurde. Oft werden auch noch Unterlagen nachträglich verlangt, wie zum Beispiel ein Abiturzeugnis, ein
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Arbeitsvertrag oder Informationen über Erspartes, um zu überprüfen, ob tatsächlich kein wirtschaftlicher Grund vorliege, ein Visum zu beantragen. So könne man nachweisen, dass dieser eigentlich keinen Grund hätte das Land zu verlassen und das würde bedeuten, dass das Visum tatsächlich beantragt wurde, weil es sich um eine »richtige« Ehe handele, so einer der Mitarbeiter. Oder man könne überprüfen, wenn jemand schon einmal kriminell war, ob er sich geändert habe. Auf diese Logiken der Verdachtsmomente, die unter anderem entlang von klassenspezifischen Kriterien verlaufen, wie sich hier bereits andeutet, werde ich später noch einmal eingehen. Was hier deutlich wird, ist der große zeitliche und personelle Einsatz für diese Visumsanträge und die Menge an Daten, die dadurch erhoben und registriert wird, die »Komplexität des deutschen Visumverfahrens«, wie es auf der Homepage des Bundesverwaltungsamts heißt (Bundesverwaltungsamt 2016b). Insgesamt würden 15 bis 20 Prozent der Anträge für Visa zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ abgelehnt, so die Auskunft einer Mitarbeiterin des Konsulats. Darunter seien auch Ablehnungsgründe, die nicht auf Ergebnissen aus Befragungen beruhen, wie zum Beispiel Dokumentenfälschung oder zu wenig Einkommen des Partners oder der Partnerin, der_die in Deutschland mit einer Daueraufenthaltsgenehmigung lebt und keine Staatsbürgerschaft hat. Kommt es zu einer Ablehnung des Visums, haben die Antragsteller_innen noch die Möglichkeit vor das Bundesverwaltungsgericht zu ziehen und Einspruch zu erheben. In diesem Fall wird noch einmal ein_e Richter_in über die ›Echtheit‹ der ehelichen Lebensgemeinschaft urteilen (vgl. Jüschke/ Schoenes 2013: 589). Ein Mitarbeiter gab an, dass von 160 Fällen vielleicht bei zehn Fällen noch einmal die Ergebnisse vor Gericht mit den Ergebnissen des Konsulats verglichen würden und manchmal ließe sich doch noch eine Ernsthaftigkeit festellen. Als Beispiel nennt er den Fall, dass ein Kind komme. »Dann hat das Paar schon durch das Kind so viele Beziehungspunkte, dass sie zusammen bleiben müssen.« Er berichtet außerdem, dass vor Gericht oft die »Methoden der Erkenntnisgewinnung« kritisiert würden. Der Rechtsanwalt probiere, Dinge vorzubringen, um die Entscheidung anzugreifen. Manche sagten dann vor Gericht: »Die Frau, die mich gefragt hat, hat mich völlig überrumpelt.« Oder es hieße, der Interviewer sei böse gewesen. Oder sie stellten in Frage, ob man denn alles von seinem Partner wissen müsse. Sie würden jedoch »natürlich versuchen«, »dass die Leute, die nicht nach Deutschland gehören, auch nicht kommen«. An dieser Stelle wird die oftmals umstrittene Praxis der Befragung und Überprüfung durch die Aufgabe Migration zu steuern und zu kontrollieren legitimiert.
5.1.8 Techniken der Verunsicherung Die dichte Beschreibung des Visumsverfahrens hat gezeigt, dass von Beginn an mit der Terminbuchung im Onlinesystem bei den Antragsteller_innen Angst und Unsicherheit gegenüber dem Konsulat hergestellt werden. Ich spreche in diesem Zusammenhang von Techniken der Verunsicherung: der Aufbau von Sprachhürden (in Formularen und am Schalter), die Verwehrung von interpersonalem Kontakt durch die
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Auslagerung der Terminvergabe ins Netz (das Netz wird zum Interaktionspartner), die Verkomplizierung des Verfahrens (Vielzahl an Dokumenten, von unterschiedlichen Behörden, Übersetzungen und Legalisierungen), Befragungen, die Themen berühren, die als ›privat‹ und ›intim‹ empfunden werden, sowie kursierende Narrationen und Repräsentationen des deutschen Konsulats als besonders strenge und selektive Behörde. Diese Techniken der Verunsicherung sind Teil der Machtausübung innerhalb des Grenzregimes und führen Antragsteller_innen eine vermeintliche Ohnmacht und Abhängigkeit gegenüber der Behörde und deren Mitarbeiter_innen vor Augen und machen die Subjekte der Antragsteller_innen dadurch regierbarer. Diese Formen der Verunsicherung können auch als ein Prozess der Prekarisierung gelesen werden. Lorey weist ebenfalls darauf hin, dass Prekarisierung im Neoliberalismus nicht mehr die Ausnahme bildet, sondern normalisiert wird und dadurch »Regieren durch Unsicherheit« ermöglicht (Lorey 2011b). Die Produktion der Gefühle von Unsicherheit im Konsulat führen dazu, dass die Antragsteller_innen Zugriffe auf ihr Leben zulassen, gegen die sie unter anderen Umständen vielleicht Widerstand leisten würden (was einige trotzdem tun, entweder in einer gänzlichen Verweigerung oder durch Anpassungen). Die Techniken der Verunsicherung sind als eine Regierungsweise zu verstehen, die Räume der Kontrolle, Überwachung und Verwaltung der Subjekte eröffnen. Die Architektur des Konsulats, die Strukturierung des Verfahrens, sowie Technologien wie Kameras oder das Fingerabdruckgerät ermöglichen dabei die Antragsteller_innen zu beobachten und zu kontrollieren. Ihre Körper werden zu Objekten sowie Gradmessern. Außerdem werden über die unterschiedlichen Überprüfungen und Befragungen Daten über die Antragsteller_innen erfasst, registriert und – teilweise digitalisiert – in einem transnationalen behördlichen Raum verhandelt. Dabei wird auch permanent ausgehandelt, was ›privat‹ oder ›intim‹ und was ›öffentlich‹ ist, was ›staatlich‹ und was ›nicht-staatlich‹ ist. Foucault spricht in diesem Zusammenhang auch von Taktiken des Regierens, die diese Grenzen permanent neu ausloten (vgl. Foucault 2000: 66). Das Regieren bringt dabei jedoch nicht nur Kontrolle und Disziplinierung, sondern auch Handlungsmacht sowie widerständige Taktiken und Strategien hervor. Katrin Lehnert spricht im Kontext von Prekarisierung50 auch von einer »erzwungenen Freiwilligkeit«, da es sich um eine Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Ermächtigung handele (Lehnert 2009: 124). Es sind die Antragsteller_innen selbst, die sich das Visum aneignen, sich selbst verwalten, indem sie Dokumente und Fotos einreichen, in Interaktionen ›Geständnisse‹ am Schalter und in der Befragung ablegen, und damit auch selbst zur Informatisierung ihrer Körper sowie zur Produktion von Wahrheit beitragen. Wie werden nun Entscheidungen über Visumsanträge im Konsulat und in der Ausländerbehörde getroffen? Auf welcher Grundlage werden bestimmte Paarbeziehungen problematisiert? Und welches Wissen und welche Behördenpraxis stehen dahinter?
50 Lehnert bezieht ihre Überlegungen auf Prekarisierung im Kontext postfordistischer Arbeitsformen (Lehnert 2009).
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5.2 S chein oder nicht S chein? P raktiken der K ategorisierung und K lassifikation »All knowledge is a condensed node in an agonistic field of power.« (Haraway 1988: 577)
5.2.1 Zwischen Gesetz und Praxis: Handlungsspielräume und situiertes bürokratisches Wissen Mehrere Male hatte ich meiner Kontaktperson im deutschen Konsulat in Marokko an die offizielle E‑Mail-Adresse geschrieben und um ein Interview gebeten. Meine Anfragen blieben unbeantwortet. Erst als ich den ersten Tag wieder in Casablanca bin, klingelt mein marokkanisches Mobiltelefon und es meldet sich ein Mitarbeiter des Konsulats. Gerne könne ich vorbeikommen und Fragen zum ›Ehegattennachzugsverfahren‹ stellen. Im gleichen Atemzug erkundigt er sich, ob ich denn die Debatten um das Phänomen des »Bezness« kenne. Auf der Webseite 1001geschichte.de informierten sie sich manchmal, weil sie auch oft diese Fälle hätten. Ein großer Prozentsatz seien genau diese Ehen. ›Bezness‹ soll die Praxis von Männern – vor allem aus »orientalischen« Ländern, wie es auf der Webseite 1001geschichte.de heißt – beschreiben, die einer Frau aus Europa die »große Liebe« vorspielen, nur um ein Aufenthaltsrecht in Europa zu bekommen. Es handelt sich bei 1001geschichte.de um »Europas größte Plattform im Kampf gegen Bezness« und wird von einer Privatperson Evelyne Kern betrieben (vgl. Kern 2009). Sie sammelt auf dieser Webseite – mittlerweile mit einem Team – unter dem Titel »Wahre Geschichten« Fälle von Frauen, die »betrogen« wurden, und führt eine »Schwarze Liste«, wo Männer gemeldet sowie Auskünfte über diese angefragt werden können. Auf die genauen Inhalte und impliziten Bilder dieses Diskurses um ›Bezness‹ und dieser Webseite sowie deren Wirkmächtigkeit im Visumsverfahren werde ich später genauer eingehen. An dieser Stelle geht es mir um die Art des Wissens, die Wissensform, mit der im Konsulat gearbeitet wird sowie die Frage, wie dieses Wissen hergestellt wird, auf dessen Grundlage sogenannte ›schützenswerte Ehen‹ und ›Scheinehen‹ unterschieden und Entscheidungen über Visumsanträge getroffen werden. Ich werde also herausarbeiten, welche behördliche Praxis hinter der Bearbeitung der Visumsanträge steht. Der Hinweis des Konsulatsmitarbeiters auf diese Webseite deutet bereits darauf hin, dass diese Praxis zwar vorstrukturiert ist, wie ich im vorangegangenen Kapitel bereits aufgezeigt habe, aber trotzdem auch Handlungsspielräume eröffnet. Die Praxis ist damit bis zu einem gewissen Grad informell und wird von unterschiedlichen Akteuren wie Sachbearbeiter_innen auf lokaler Ebene im Arbeitsalltag ausgehandelt. Das Konsulat sowie die Ausländerbehörde, die in der Visavergabe zusammenarbeiten, wie im letzten Kapitel aufgezeigt wurde, haben im Kontext des ›Ehegatten‑/ Familiennachzugs‹ jedoch nicht nur die Aufgabe über die Visavergabe die Einreise zu steuern und zu kontrollieren – dazu zählen auch Studienvisa und Kurzzeitvisa –, sondern sind in diesem Zusammenhang auch dafür verantwortlich, den »Missbrauch« des Schutzes von Ehe und Familie nach Artikel 6 des Grundgesetzes zu bekämpfen.
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Sachbearbeiter_innen (»street-level bureaucrats«) des Konsulats agieren hier also nicht nur als Wächter_innen der Grenze (»border guards«), sondern auch als Wächter_innen der Institution Ehe (»marriage guards«). Der nächste Schritt in diesem Prozess besteht zunächst darin die Visumsanträge zu ordnen, zu kategorisieren und zu klassifizieren. Das Visum wird dabei zu einem wichtigen Instrument der Regulierung, das immer auch eine Form der Verwaltung darstellt. Die erste Kategorisierung besteht bereits in der Herstellung der Gruppe der Antragsteller_innen als ›Drittstaatsangehörige‹, die durch eine Heirat mit einer Person, die im Bundesgebiet lebt, nun ihr Recht auf Einreise in Anspruch nehmen möchten und deshalb ein Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ beantragen. Diese Kategorisierung materialisiert sich in den entsprechenden Formularen, die im Konsulat ausgefüllt werden sowie in der Zuteilung zu einer_m Sachbearbeiter_in. Um die Antragsteller_innen weiter kategorisieren und klassifizieren zu können, müssen verschiedene Informationen über diese gesammelt und dokumentiert werden. Bei der weiteren Bewertung der Anträge werden nun zwei Kategorien zentral: Handelt es sich um eine ›schützenswerte Ehe‹ oder eine ›Scheinehe‹? Hier stellt sich die Frage, wie zwischen einer sogenannten ›schützenswerten Ehe‹ und einer ›Scheinehe‹ unterschieden wird und wie diese überhaupt definiert werden. Die Frage der Definition einer ›Scheinehe‹ wurde sowohl auf EU- als auch auf Bundes- und regionaler Ebene behandelt: Am 4. Dezember 1997 wurde vom Rat der Europäischen Union die Entschließung über »Maßnahmen zur Bekämpfung von Scheinehen« verabschiedet. Darin wird eine ›Scheinehe‹ als eine »Ehe eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats oder eines sich in einem Mitgliedstaat legal aufhaltenden Angehörigen eines Drittstaats mit einem Angehörigen eines Drittstaats« definiert, »mit der allein der Zweck verfolgt wird, die Rechtsvorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Angehörigen dritter Staaten zu umgehen und dem Drittstaatsangehörigen eine Aufenthaltsgenehmigung oder -erlaubnis in einem Mitgliedstaat zu verschaffen.« (Rat der Europäischen Union 1997) Die Entschließung wird über Artikel K.1 Nummer 3 des Vertrags über die Europäische Union, die Entschließung zur Harmonisierung der nationalen Politiken im Bereich der Familienzusammenführung von 1993 sowie das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, in Artikel 12 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Artikel 16 der Universellen Erklärung der Menschenrechte sowie die Achtung des Familienlebens in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention begründet (ebd.). Bindend wurden diese Anweisungen durch die Richtlinie des Rates vom 22. September 2003 (vgl. Rat der Europäischen Union 2003). ›Scheinehe‹ wird auch in anderen Dokumenten und Weisungen darüber definiert, dass der einzige Grund für die Ehe der Zugang zu einer Aufenthaltserlaubnis ist. In Deutschland gibt es seit der Reform des Eheschließungsrechts vom 1. Juli 1998 eine gesetzliche Grundlage, um Eheschließungen mit der Begründung des Verdachts auf ›Scheinehe‹ zu verhindern (vgl. Eisfeld 2005: 230). Ansonsten beruht die Ermittlung von ›Scheinehen‹ vor allem auf dem Aufenthaltsgesetz § 27 Absatz 1a, wo es heißt:
Das Visum | 225 »Ein Familiennachzug wird nicht zugelassen, wenn 1. feststeht, dass die Ehe oder das Verwandtschaftsverhältnis ausschließlich zu dem Zweck geschlossen oder begründet wurde, dem Nachziehenden die Einreise in das und den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen, oder 2. tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme begründen, dass einer der Ehegatten zur Eingehung der Ehe genötigt wurde.« (Aufenthaltsgesetz 2016)
In anderen Dokumenten, die in Behörden zum Thema zirkulieren – wie der Weisung der Behörde für Inneres in Hamburg von 2004 (vgl. Behörde für Inneres 2004) oder der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz von 2009 des Bundesministeriums des Innern (Bundesministerium des Innern 2009) – werden ähnliche Punkte aufgeworfen. Und auch im Konsulat und der Ausländerbehörde sind in den Interviews und Erzählungen immer wieder ähnliche Definitionen und Merkmale aufgetaucht: So betont im Konsulat ein Mitarbeiter, dass es in der Einschätzung von Ehen – entgegen der Vorstellung von ›Scheinehen‹ als rein materialistische Interessensgemeinschaften im Vergleich zu Gefühlsgemeinschaften – aus juristischer Perspektive eben nicht um Liebe gehe. Vielmehr sei die Frage, ob eine Ehe nach Paragraph Artikel 6 schützenswert ist. Es gehe um freie Partnerwahl. Ob die Wahl aufgrund von Liebe, Schönheit oder Einkommen getroffen werde, sei irrelevant, so der Mitarbeiter. Er führt weiter aus, dass eine Scheinehe dann vorliege, wenn der Ehegrund ein ungesetzlicher sei, zum Beispiel wenn die Ehe ausschließlich aus dem Grund der Aufenthaltsgenehmigung heraus geschlossen wurde. Dann sei die Ehe nicht mehr durch Artikel 6 gedeckt. Eine »schützenswerte Ehe« sei es, wenn die Ehe auf Dauer angelegt sei, auf Freiwilligkeit beruhe sowie eine »gewisse Ernsthaftigkeit« bestehe, so der Konsulatsmitarbeiter. Ernsthaftigkeit bedeute zum Beispiel, dass man sich regelmäßig sehe, über den anderen informiert sei, gemeinsam in die Zukunft schaue und plane. Im Interview in der Ausländerbehörde wurde immer wieder die »Aufrichtigkeit« der Ehe als Maßstab hervorgehoben und ähnliche Kriterien wie in den Weisungen angeführt: »Wenn man jetzt Zweifel an der Aufrichtigkeit der Ehe hat, können hier [im Antragsdossier] auch schon Bemerkungen dabei stehen, dass man sagt: Hm, also wir haben hier Zweifel an den Eheabsichten, also ob das Ehepaar da wirklich eine aufrichtige, schützenswerte Ehe führen will oder ob das nur zum Schein eingegangen wird, um ein Aufenthaltsrecht zu vermitteln.« Die Aussagen zu der Definition einer ›schützenswerten Ehe‹ und einer ›Scheinehe‹ zeigen unter anderem, wie durch ein spezifisches Vokabular wie ›aufrichtig‹ oder ›schützenswert‹ eine Moralisierung der Eheschließung vonstatten geht und darüber – genauso wie durch Berufung auf Artikel 6 des Grundgesetzes – die eigene Arbeitspraxis immer wieder legitimiert wird. In Bezug auf die Definition der Kategorien ›schützenswerte Ehe‹ und ›Scheinehe‹ scheint hier zumindest das gleiche Vokabular, die gleiche Sprache verwendet zu werden. Trotzdem bleiben die Definitionen, die von oben vorgegeben werden, so vage, dass sich die Frage stellt, nach welchen Kriterien nun in der Praxis bestimmte Paare verdächtig werden, eine solche ›Scheinehe‹ eingegangen zu haben.
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Die Entschließung des Rats der Europäischen Union wird hier konkreter; so werden folgende weitere Faktoren genannt: »fehlende Aufrechterhaltung der Lebensgemeinschaft, das Fehlen eines angemessenen Beitrags zu den Verpflichtungen aus der Ehe, die Ehegatten sind sich vor ihrer Ehe nie begegnet, die Ehegatten machen widersprüchliche Angaben hinsichtlich ihrer jeweiligen Personalien (Name, Adresse, Staatsangehörigkeit, Beruf), die Umstände ihres Kennenlernens oder sonstiger sie betreffender wichtiger persönlicher Informationen, die Ehegatten sprechen nicht eine für beide verständliche Sprache, für das Eingehen der Ehe wird ein Geldbetrag übergeben (abgesehen von den im Rahmen einer Mitgift übergebenen Beträgen bei Angehörigen von Drittländern, in denen das Einbringen einer Mitgift in die Ehe gängige Praxis ist), es gibt Anhaltspunkte dafür, daß ein oder beide Ehegatten schon früher Scheinehen eingegangen sind oder sich unbefugt in einem Mitgliedstaat aufgehalten haben.« (Rat der Europäischen Union 1997)
Auch diese Kriterien wurden sowohl von Mitarbeiter_innen des Konsulats als auch der Ausländerbehörde immer wieder genannt und wiederholt. Hier werden also – im Vokabular der Behörden – sogenannte »Tatbestandsmerkmale« bestimmt: Zum einen über normative Vorstellungen einer ehelichen Gemeinschaft als einer »Lebensgemeinschaft« mit »Verpflichtungen«, in der man über den_die jeweils andere informiert ist, eine gemeinsame Geschichte hat und eine gemeinsame Sprache spricht; und zum anderen über (aufenthaltsrechtliche) »Straftatbestände« wie ein monetäres Geschäft hinter der Ehe, ein bereits vorangeganger »Missbrauch« der Ehe für den Zweck des Aufenthalts oder irreguläre Einwanderung. Aus der Perspektive der behördlichen Praxis zeigt sich jedoch, dass auch diese Vorgaben immer noch abstrakt bleiben und es einen großen Spielraum gibt, wie diese Definitionen konkret in Einzelfällen ausgelegt und angewendet werden. Es handelt sich hier also vielmehr um Handlungsrahmen als konkrete Handlungsanweisungen. Die Kluft zwischen offiziellen Anordnungen und der praktischen Umsetzung – »the gaps between formal and informal« (Hoag 2011: 83) – im Arbeitsalltag und der dadurch entstehende Handlungsspielraum sind eine zentrale Eigenschaft von Bürokratien. Recht ist deswegen aus rechtsanthropologischer Perspektive auch immer mehr als Gesetz und Paragraphen, sondern wird von unterschiedlichen Akteuren in Alltagspraktiken hergestellt, wie auch Silja Klepp in ihrer Ethnographie der Seegrenze am Beispiel des Flüchtlingsschutz herausarbeitet. Recht sei Gegenstand eines »ständigen Aushandlungsprozesses unterschiedlicher sozialer Praktiken, Akteure und Interessen. Einige Elemente der jeweiligen Rechtsordnung werden dabei reproduziert, andere fallen gelassen und wieder andere werden neu definiert und verändern sich mit den sich wandelnden Auffassungen von sozialer Ordnung.« (Klepp 2011: 85) Um den ›Missbrauch‹ des individuellen Rechts auf Schutz von Ehe und Familie aufzudecken, wie es in der Behördensprache heißt, ist es notwendig, die konkreten Beweg/gründe der Antragsteller_innen herauszufinden, zu ordnen und zu klassifizieren: Was hat den_die Antragsteller_in dazu bewogen, diese Ehe einzugehen? Und
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warum wird ein Visum auf ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ und damit die Einreise in den Schengenraum beantragt? Es geht darum Ordnung in die Unordnung der Beweg/ gründe zu bringen. Der Soziologe Christian Joppke spricht in diesem Zusammenhang von »the subjective science of intention measuring«: »And immigration officers are asked to measure what cannot be measured: intention. Because immigration officers are nevertheless forced to make a decision, a second set of ›hidden‹ immigration rules has been built up to inform such decisions.« (Joppke 1999: 125 f.; zit. n. Block 2016: 70) Um diesen Fragen nachzugehen und die Anordnungen umzusetzen, ist ein spezifisches Wissen notwendig. Colin Hoag spricht in Anlehnung an Donna Haraway (1988) in diesem Zusammenhang von »situiertem bürokratischem Wissen«: »vision as an embodied practice, reminding us that all gazes are from somewhere, and a specifically material somewhere at that. […] Visions from somewhere are not therefore universal knowledges; they are partial ones.« (Hoag 2011: 84) Dieses situierte bürokratische Wissen, auf das Sachbearbeiter_innen im Konsulat sowie in der Ausländerbehörde zurückgreifen, um Paarbeziehungen zu bewerten, werde ich im nächsten Kapitel herausarbeiten, und anschließend noch einmal speziell auf die Situiertheit dieses partiellen Wissens eingehen. Mitarbeiter_innen des Konsulats und der Ausländerbehörde selbst bestritten diese Situiertheit des Wissens keinesfalls, es wurde sogar immer wieder die Singularität sowie Situativität von Einschätzungen und Entscheidungen betont. Im Konsulat wurde mir mitgeteilt, dass es keine Statistiken gebe, weil das Einzelfallaufklärungen seien. Man könne keine Gruppen bilden, die abgelehnt werden, sondern man müsse jeden einzelnen Fall genau prüfen. Auf die Frage hin, wie die Beurteilung der Paare genau festgehalten wird, antwortete der Mitarbeiter der Ausländerbehörde, dass man »jetzt keine Regel draus machen« könne, weil das »wirklich unterschiedlich von Sachbearbeiter zu Sachbearbeiter« sei. Auch wurde immer wieder die Bedeutung von Erfahrung hervorgehoben: »Wenn man da genug Lebenserfahrung hat, checkt man solche Fälle nochmal.« Gerade die Ortskräfte, die am Schalter sitzen und die erste Einschätzung abgeben, könnten die Paare beurteilen: zum einen, weil sie selbst in Marokko aufgewachsen seien und zum anderen, weil sie bereits Erfahrung am Schalter gesammelt hätten. Zusätzlich gibt es für die Mitarbeiter_innen interne Weiterbildungen, vor Ort, aber einmal im Jahr auch in Berlin beim Auswärtigen Amt wie zum Beispiel Seminare zu Visumsbestimmungen oder auch zu Interviewführung, zu denen ich als Forscherin jedoch keinen Zugang bekommen habe. Die Verneinung von Statistiken, Kategorisierungen und Klassifikationen und die Betonung von Erfahrung und dem individuellen Standpunkt der Sachbearbeiter_innen erzeugen wiederum eine Undurchsichtigkeit, nicht nur für mich als Forscherin und die Öffentlichkeit, sondern auch für Mitarbeiter_innen der Institutionen. Dass diese Undurchsichtigkeit auch zu Unsicherheit bei den Mitarbeiter_innen führt, wurde in den Interviews besonders deutlich, wenn in Antworten auf bestimmte Fragen gezögert und nach Worten gerungen wurde, da nicht mehr auf standardisiertes Vokabular zurückgegriffen werden konnte. Hoag betont ebenfalls, dass die Regeln und Hierarchien solcher Institutionen
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meistens klar festgelegt sind. Bürokratien jedoch auf einer bestimmten Ebene immer undurchsichtig und unlogisch seien, sowohl für »Insider« als auch für »Outsider«: »This opacity empowers bureaucracies and bureaucrats – they become gatekeepers, with control over the flow of information and resources.« (Hoag 2011: 82) Besonders für die Antragsteller_innen bedeutet diese erzeugte Unsicherheit wiederum Abhängigkeit gegenüber den Sachbearbeiter_innen. Obwohl einerseits die Situiertheit des Blicks der Sachbearbeiter_innen im Sinne ihrer Herkunft und ihrer Erfahrung betont wird, wurde gleichzeitig auch immer wieder die Objektivität ihrer Beurteilung der Visumsanträge in den Gesprächen mit Mitarbeiter_innen der Institutionen hervorgehoben. So wurde auf meine Frage hin, ob die Beurteilung der Paarbeziehungen nicht sehr subjektiv sei, geantwortet, dass sich »bestimmte Fragen« doch »aus der Natur der Sache« ergeben würden und dass es »einfach um gerichtsfeste Ergebnisse, also um Fakten« gehe. Auch die Verwendung eines standardisierten sowie technisierten Vokabulars kann als Herstellung von Objektivität interpretiert werden. So wurden sowohl im Konsulat als auch in der Ausländerbehörde ähnliche Begriffe verwendet, um die Visumsanträge und die Personen und Beziehungen dahinter zu beschreiben, wie zum Beispiel »Aufrichtigkeit der Ehe«, »Ernsthaftigkeit«, »eheliche Gemeinschaft«, »Tatbestandsmerkmale«, »Rückkehrbereitschaft« et cetera. Ein Vokabular, das sich auch in den offiziellen Anweisungen findet. Die meisten dieser Begrifflichkeiten kommen aus dem juristischen Bereich. Die Umhüllung von Praktiken und Techniken des Regierens in eine rational-neutrale Sprache ist fester Bestandteil moderner Macht (Shore 2011: 171). Auch Colin Hoag sieht in der Herstellung vermeintlicher Objektivität eine Bürokratien immanente Praxis, die er wiederum in Anlehnung an Haraway als »god trick« (Haraway 1988) von Bürokratien bezeichnet: »the illusion of even, unmediated, and rational vision« (Hoag 2011: 82). Die Beurteilung und Einschätzung der Visumsanträge oszilliert also auch aus der Perspektive der Sachbearbeiter_innen zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Fakten und Erfahrung, zwischen offiziellen Anordnungen und informellen Praktiken, zwischen Generalisierungen und Einzelfallprüfungen. Hoag fordert in Anschluss an Haraway nicht nur über diese »Lücke«, sondern von der »Lücke« aus zu forschen und zu schreiben, die zwischen Bürokratien immanenten Binaritäten wie Subjektivität und Objektivität, oder auch legal versus illegal, formell versus informell, Politik versus Praxis entsteht (vgl. Hoag 2011: 84). »Therefore the challenge for students of bureaucracy, I contend, is to not only write about the gap, but to find ways to write from it, looking for those aspects of the bureaucratic ecology that complicate the legal realism of bureaucratic discretion.« (Ebd.: 84 f.) Indem ich im Folgenden den Fokus immer wieder auf diese Widersprüche und Vereinfachungen von Komplexität lege, also die Praktiken und Diskurse des Regierens im bürokratischen Alltag des Konsulats verkompliziere, möchte ich dieser Idee nachgehen. Die Internetseite 1001geschichte.de scheint dabei im deutschen Konsulat in Marokko eine der Quellen für Informationen darzustellen, um Paarbeziehungen einzuschätzen. Der Diskurs um ›Bezness‹ taucht immer wieder in Konsulaten, gerade in
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nordafrikanischen Ländern, auf und wirkt sich stark darauf aus, wer verdächtigt wird und wer nicht. Auch der Soziologe Stephan Scheel stieß in Gesprächen mit Konsulatsmitarbeiter_innen auf diesen Diskurs (vgl. Scheel 2017). Die Geschichten über Fälle von ›Bezness‹ werden Teil eines situierten bürokratischen Wissens. Im Folgenden werde ich darauf eingehen, welche weiteren Logiken, Theorien, Rationalitäten und Narrationen Teil jenes Wissens werden, durch das konkrete »Tatbestandsmerkmale« bzw. »Verdachtsmomente« für eine ›Scheinehe‹ scheinbar identifizierbar werden.
5.2.2 D oing race, class, gender, age while doing border: intersektionale ›Tatbestandsmerkmale‹ Es sind insbesondere drei vergeschlechtlichte sowie ethnisierte Figuren, die die Einschätzung von Visumsanträgen strukturieren und damit zum Verdacht auf ›Scheinehe‹ führen können: die der ‹marokkanischen Antragstellerin›, die des ›marokkanischen Antragstellers‹ und die der ›deutschen Partnerin‹. Wie diese Figuren diskursiv – auch in Relation zueinander – erschaffen, mit welchen Bildern und Stereotypen diese aufgeladen werden und wie hier mit der Herstellung von Grenze – im Sinne einer Hierarchisierung von Subjekten in der Disziplinierung ihrer Mobilität – auch Geschlecht, Klasse, Ethnizität, Alter sowie Heteronormativität mitkonstruiert werden, werde ich im Folgenden aufzeigen. Um diese Narrationen und Logiken herauszuarbeiten, greife ich vor allem auf Interviews mit Personen zurück, die sich mit diesen Anträgen beschäftigten.
Die ›marokkanische Antragstellerin‹ Nur die marokkanischen Männer würden Probleme machen. Die marokkanischen Frauen seien vernünftig oder einfach clever. Wenn sie das erste Mal am Schalter gefragt würden, wie sie zusammengekommen sind, hätten sie perfekte Antworten. Vielleicht liege das daran, dass sie so lange unterdrückt wurden, erklärt einer der Mitarbeiter des Konsulats in einem Gespräch. Während in der Ausländerbehörde in Ausführungen zu der Frage, wie es zu einer Entscheidung über einen Visumsantrag kommt, durchgehend das generische Maskulinum verwendet wurde, wird Geschlecht im Konsulat in der Einschätzung der Anträge permanent mitkonstruiert. Dabei wird auf ein Bild der Migrantin zurückgegriffen, die ›passiv‹, ›unschuldig‹ und auch wieder ›unterdrückt‹ ist. Diese Konstruktion der Frauen als ›passives Opfer‹ wird auch noch einmal in der Antwort eines Mitarbeiters auf meine Frage deutlich, warum Frauen nicht zugetraut werde, dass sie die Heirat nur für ein Visum eingehen. Seine Erklärung ist, dass er doch seine Tochter auch nie ins Ausland schicken würde. So würden auch die marokkanischen Familien lieber ihren starken Sohn als ihre Tochter wählen, um nach Deutschland zu gehen und zu arbeiten. Die Familie sei sehr wichtig in Marokko und entscheide alles für ihre Kinder, so der Mitarbeiter. Das merke man auch bei den marokkanischen Mädchen. Wenn man sich hier in Marokko mal mit einer Mitte 20‑Jährigen unterhalte, die verhalte sich wie in Deutschland eine 16‑Jährige. Die hätten ja auch nicht viel Schuldbildung, weil die Eltern sie vorzeitig von der Schu-
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le nähmen, führt er weiter aus. Die marokkanischen Frauen werden hier als ›rückständig‹ und ›defizitär‹ beschrieben, was in diesem Fall nicht als Produkt der Unterdrückung durch den Mann, sondern durch die patriarchale Familie gesehen wird. Hier werden auch die marokkanischen Frauen ins Verhältnis zu deutschen Frauen gesetzt und dadurch als weniger ›entwickelt‹ sowie weniger gebildet wahrgenommen. Bei diesem Vergleich handelt es sich um eine alte Tradition, wenn es darum geht: »who is more civilized than whom« (Mernissi 1987: 7). Die Figur der ›marokkanischen Antragstellerin‹ setzt sich zusammen aus den miteinander verschränkten stereotypen Bildern der ›passiven nachziehenden Ehegattin‹ sowie der ›unterdrückten muslimischen Frau‹. Gerade letztere viktimisierende Vorstellung knüpft an eine orientalistische Wissensproduktion an, die stark vergeschlechtlicht ist; nicht nur, dass der ›Orient‹ als feminin, irrational und primitiv im Kontrast zum maskulinen, rationalen und fortschrittlichen ›Westen‹ entworfen wurde (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 33), sondern auch im Sinne der Viktimisierung der kolonisierten Frau. Dieses Bild von der muslimischen Frau als ›Opfer patriarchaler Verhältnisse‹ und damit als ›schutzbedürftig‹ wurde auch durch die klassische Migrationsforschung der 1970er und 1980er Jahre stabilisiert. Encarnación Gutiérrez Rodríguez zeigt auf, wie die Figur der ›Orientalin‹, die im Spannungsverhältnis von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung entsteht, bereits in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit der 1980er und 1990er Jahre zum Inbegriff für »Frauenunterdrückung« wurde (Gutiérrez Rodríguez 1999b: 215). Dieses viktimisierende Bild wird nicht nur im Konsulat, sondern auch im Diskurs um die Sprachnachweispflicht wirksam, wenn der Schutz dieser Frauen vor ›Zwangsehen‹ gefordert wird. In diesen vergeschlechtlichten Diskursivierungen wird auch der ›marokkanische Antragsteller‹ mitkonstruiert.
Der ›marokkanische Antragsteller‹ Während Frauen nur als die den Männern ›Nachziehenden‹, ›Folgenden‹ gesehen werden ohne eigene Handlungsmacht, werden Männer in der Logik der »diskursiven Opfer-Täter-Binarität« (Andrijasevic 2009: 394) wiederum verdächtigt, die Ehe nur für das Aufenthaltsrecht einzugehen. Dies macht zum Beispiel die immer wieder auftauchende Narration deutlich, dass die marokkanischen Frauen die Männer heirateten, die zuvor über eine Heirat mit einer deutschen Frau eingereist seien. Diese Erzählung des »schleichenden Familiennachzugs« tauchte auch in den Analysen der Sozialwissenschaftlerinnen Anna Jüschke und Katharina Schoenes auf, wobei dieses Phänomen dabei besonders auf den türkischen Kontext bezogen wurde (Jüschke/Schoenes 2013: 601). Mit der Konstruktion der marokkanischen Frauen als ›passiv‹, ›schwach‹ und ›unterdrückt‹ findet also gleichzeitig die Erschaffung des marokkanischen Mannes als ›gefährlich‹ und ›patriarchal‹ statt: »Hinzu kommen die traditionellen familiären Strukturen, die der marokkanische Ehemann mitbringt. In Deutschland ist ja auch die Umwelt dagegen, in Deutschland kann man niemanden versklaven«, so der Mitarbeiter. Patriarchat und traditionelle familiäre Strukturen werden hier über die stereotype Erschaffung der Antragstellerin und des Antragstellers ethnisiert, indem
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sie als ›marokkanisch‹ beziehungsweise ›muslimisch‹ markiert werden. Über die Abgrenzung zu Deutschland wird diese Kulturalisierung noch einmal verstärkt. Gabriele Dietze bezeichnet eine solche Kulturalisierung von Patriarchat auch als Ethnosexismus im Sinne einer »Ethnisierung von Sexismus« (Dietze 2016: 95). Der Konsulatsmitarbeiter führt dazu weiter aus, dass jedoch auch Männer in der Partnerwahl nicht frei seien, da diese stark an das Einkommen gebunden sei. Er betont, dass es nicht sehr viele Wege nach Europa gebe und stellt daran anschließend die Frage: »Warum wählt man sich dann einen ausländischen Partner? Und warum heiratet man dann?« Seiner Meinung nach könne das am Einkommen oder auch den Verhaltensweisen des Anderen liegen, die man bei uns vielleicht nicht vorfände. Meistens sei der Grund für die Heirat im deutschen Ausland jedoch eine Aufenthaltsgenehmigung. Es sind vor allem die männlichen Antragsteller, die hier unter Generalverdacht gestellt werden, eine ›Scheinehe‹ einzugehen. Der Mitarbeiter führt dazu weiter aus, dass es eben gerade unter jungen Männern in Marokko eine hohe Arbeitslosigkeit gebe. Sie hätten die Versorgerfunktion und so suchten sie nach Geldquellen: »Zum Beispiel als Tagelöhner. Das soll möglichst schnell gehen. Oder sie machen sich eben auf die Suche nach einer ausländischen Partnerin, manchmal auch mit der Unterstützung der Familie.« Das passiere dann in Hotels, am Strand, im Internet – zum Beispiel über Jappy.de – oder eben über Verwandtschaft in Deutschland. Von marokkanischer Seite sei das einfach »Business«. Der ›marokkanische Mann‹ wird hier zwar auch als ›Opfer‹ gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen, in dem Sinne, dass er kaum Möglichkeiten hat Arbeit zu finden oder nach Europa zu reisen, wodurch er bestimmte männliche Ideale nicht erfüllen könne. Dabei führt er im Sinne des »intention measuring« konkrete Theorien an, warum jemand den Weg einer ausländischen Partnerin wählt: nämlich als »Geldquelle«, als Ersatz für Lohnarbeit. So wird auch die Rolle des Mannes als ›Familienernährer‹ oder ›Versorger‹ festgeschrieben. Die Umstände der prekären Situation sowie der Immobilität werden jedoch nicht in den Zusammenhang globaler Machtverhältnisse sowie neokolonialer Strukturen gestellt, sondern normalisiert und nicht in Beziehung zur eigenen Position gesetzt. Durch diese Naturalisierung werden diese Beweg/gründe nicht als legitime Gründe anerkannt, da der einzige Grund der Wunsch nach ehelicher Gemeinschaft sein darf. So sagt der gleiche Mitarbeiter daran anschließend, er könne die marokkanischen Männer sogar verstehen, »aber das können wir hier eben nicht durchgehen lassen. Das ist dann keine auf Dauer angelegte Ehe«. Die Vorstellung des ›marokkanischen Antragstellers‹ als ›patriarchal‹, Frauen unterdrückend, und ›kriminell‹, die Eheschließung nur für die Aufenthaltsgenehmigung eingehend, weist ebenfalls Kontinuitäten auf und ist fester Bestandteil des orientalisierenden Diskurses um ›Bezness‹. Auch Susanne Spindler (2006) und Paul Scheibelhofer (2011) weisen in ihren Studien auf die Kriminalisierung migrantischer, besonders muslimischer Männer hin, die »dabei als geleitet von Kultur, Tradition und Religion dargestellt und als Träger hypermaskuliner, archaischer, gewalttätiger Männlichkeit problematisiert« (Scheibelhofer 2011: 150) werden. Spätestens seit 9/11 ist der ›muslimische Mann‹ zum Sinnbild für Gefahr und Bedrohung gewor-
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den – meistens verbunden mit der Vorstellung der ›unterdrückten muslimischen Frau‹ – und migrantische Männer, die dem Islam zugeordnet werden, erfahren eine verstärkte Überwachung und Disziplinierung (vgl. Razack 2004: 130). Doch im ›Bezness‹-Diskurs verknüpft sich diese Fremdkonstruktion als ›Täter‹ und ›Betrüger‹ mit den orientalisierenden Zuschreibungen als ›sinnlich‹ und ›leidenschaftlich‹ – Eigenschaften, die für die weiße Frau als doppelte Gefahr gesehen werden. So erklärt eine Mitarbeiterin des Konsulats, die auch die ›gleichzeitigen Ehegattenbefragungen‹ durchführt, dass sich viele deutsche Frauen einsam fühlten, sie seien depressiv und die marokkanischen Männer machten ihnen Komplimente, »sie bezaubern, weil das können sie gut und das fehlt vielleicht in Deutschland«. »Sie schaffen es, dass sich die Frau in sie verliebt«, so die Mitarbeiterin. Das Bild des ›arabischen Mannes‹ als ›leidenschaftlich‹ und ›sinnlich‹, als Verführer sowie wortstark und poetisch ist ebenfalls ein orientalistisches Konstrukt, das an Vorstellungen aus dem Märchen ›1001 Nacht‹ anknüpft (vgl. Waldis 1998: 48). Auch medial wird dieses Bild des trügerischen »Prinz aus dem Orient« – wie eine auf arte ausgestrahlte Doku betitelt wurde – immer wieder vermittelt (vgl. Gutekunst 2013: 63).
Die ›deutsche Partnerin‹ In den Narrationen der Mitarbeiter_innen des Konsulats wird deutlich, dass nicht nur die marokkanischen Frauen viktimisiert werden, sondern auch die deutschen Frauen, die mit einem marokkanischen Mann eine Beziehung eingehen. Die orientalisierende Fremdkonstruktion des ›marokkanischen Antragstellers‹ hat auch wiederum Effekte auf die Erschaffung der ›deutschen Partnerin‹ als ›naiv‹ und auf dieses ›Schauspiel‹ hereinfallend. Der ›deutschen Partnerin‹ werden noch weitere Eigenschaften zugeschrieben: So wurde im Konsulat betont, dass die meisten deutschen Frauen, die Marokkaner heirateten, nicht arbeiteten, Hartz IV beziehen würden und »40 Kilo Übergewicht« hätten. Sie seien blind und außerdem seien auch Frauen manchmal »hormongesteuert«: »In diesem Fall treffen sie die Entscheidung eben mit dem Körper, wenn da ein gut aussehender junger Marokkaner an ihrer Seite ist. Das sind Frauen, die ihr ganzes Leben lang falsche Entscheidungen getroffen haben: die Schule abgebrochen, eine schlechte Ausbildung, Hartz IV. Und dann treffen sie eben auch eine falsche Entscheidung bei der Partnerwahl«, so ein Mitarbeiter. Diese Frauen hätten meistens Schwierigkeiten bei der Partnerwahl in Deutschland, weil sie zum Beispiel »nicht attraktiv«, »medikamentenabhängig« oder »geistig behindert« seien: »Die werden dann von den marokkanischen Männern über das Internet gefunden, zum Beispiel über Jappy.de.« Dann spielten sie die große Liebe vor und sobald sie in Deutschland seien, veränderten sie sich und das seien dann die Geschichten, die man auf 1001Geschichte.de fände. Sie hätten schon Briefe von deutschen Frauen bekommen, die Angst gehabt hätten, dass die »ganze Sippe« komme, »weil wenn die erstmal in der Mehrheit sind …«, so ein Mitarbeiter. Die Bewertung der Frauen, die eine Beziehung mit einem marokkanischen Mann eingehen, und die Beschreibung ihrer Lebensläufe zeigt bereits eine Form von Paternalismus, die sich während dem Visumsverfahren noch einmal zuspitzt, und zwar
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wenn die Frauen in der Ausländerbehörde in Deutschland vorgeladen werden. Von mehreren Mitarbeiter_innen wurde betont, dass die deutschen Frauen dann in der Ausländerbehörde in Deutschland säßen und man ihnen versuche zu erklären, dass ihr marokkanischer Ehemann schon in Deutschland kriminell war, abgeschoben wurde und sich bestimmt nicht geändert habe. »Aber man hat keine Chance, sie bleiben dabei«, so ein Mitarbeiter. Hier wird ein normatives Geschlechterwissen über das Subjekt ›Frau‹ herangezogen und damit reproduziert. Die Frauen werden als ›naiv‹ und ›irrational‹ konstruiert sowie entlang klassischer Geschlechterdichotomien mit Körperlichkeit assoziiert und sexualisiert. Die Infantilisierung der deutschen Frauen kreuzt sich über das Bild der ›Hartz‑IV-Empfängerin‹ mit der Konstruktion von Klasse. Die deutschen Frauen zu schützen, wird als wichtiges Anliegen der Mitarbeiter_innen formuliert. Die deutschen Frauen werden also nicht nur viktimisiert, sondern die marokkanischen Männer wieder mitkonstruiert und dabei kriminalisiert. So wurde im Konsulat auch großer Wert darauf gelegt zu betonen, dass es sich zumeist um ›einseitige Scheinehen‹ handele. Im Gegensatz dazu bildeten ›zweiseitige‹ Scheinehen, bei denen tatsächlich Geld fließe oder die Ehe zum Freundschaftsdienst werde, die Ausnahme. Eine ›einseitige Scheinehe‹ bedeute, »dass der Mann der Frau Gefühle vorspielt und die Frau das nicht merkt«, was auch als »Romeo-Prinzip« bezeichnet wird: eine Beziehung, wo »einer liebt« und der andere die Beziehung »zu anderen Zwecken« eingeht. Auch hier wird den deutschen Partnerinnen wieder Passivität zugeschrieben und eine klare Opfer-Täter-Dichotomie aufrechterhalten. Das »Scheinehebedrohungsszenario« von der »einseitigen Scheinehe« ist auch in den Interviews von Schoenes und Jüschke immer wieder aufgetaucht und es wurde die »Naivität und Gutgläubigkeit« der_des deutschen Partners_in hervorgehoben. Während diese zunächst geschlechtsneutral angeführt wurden, fand jedoch im Zusammenhang mit »muslimischen« oder »afrikanischen« Ländern wiederum eine Vergeschlechtlichung statt (Jüschke/Schoenes 2013: 597), also die deutsche Partnerin als Opfer und der ausländische Partner als Täter dargestellt. Auch Irene Messinger stieß auf diese Narrationen, »bei denen die handelnden Personen auf Geschlechterstereotype reduziert wurden: der (›ausländische‹) Mann sei der Aktive, der die Frau aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft ehelicht, während die Frau unter der Ehe leidet und in die Opferrolle gedrängt wird« (Messinger 2012: 153). Zu einer entgegengesetzten Konstruktion von ›Tatverdächtigen‹ ist Jill Alpes gekommen, die in Konsulaten in Kamerun beobachten konnte, dass hier vielmehr die kamerunischen Frauen als ›selbstsüchtig‹, ›faul‹ und ›habgierig‹ gelten und des Betrugs verdächtigt werden, während der zumeist französische Partner, der nur Liebe und Kinder wolle, als vulnerabel gelte (Alpes 2014: 246). Im Konsulat Marokko werden also sowohl die ›marokkanischen‹ als auch die ›deutschen‹ Frauen viktimisiert sowie der ›marokkanische Mann‹ kriminalisiert. Diese Vergeschlechtlichung geht immer einher mit einer Ethnisierung im Sinne einer Markierung der Gruppe als ›marokkanisch‹ oder ›deutsch‹ und der damit einhergehenden Zuschreibung von bestimmten Eigenschaften. Es verschränken sich hier also die Kategorien Ethnizität und Geschlecht und konstituieren sich wechselseitig.
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Unmarkiert bleibt der ›weiße Mann‹, der hier nach der alten Logik des maskulinistischen Schutzes (Dietze 2016: 98; Young 2003) entweder als Retter und Beschützer der Frauen auftritt – ob als Befreier von einer ›Zwangsehe‹ oder als Bewahrer vor einer ›Scheinehe‹ – oder als Ehemann, der seine ausländische Partnerin einschätzen kann und eine auf Dauer angelegte Ehegemeinschaft eingeht.
Heteronormative Vorstellungen von Liebe und Ehe Diese stereotypen Bilder von den Antragsteller_innen sowie der deutschen Partnerin werden mit heteronormativen Vorstellungen von ›romantischer Liebe‹ sowie ›ehelicher Gemeinschaft‹ verknüpft. Obwohl betont wird, dass es in der Beurteilung der Paare nicht um ›Liebe‹ gehe, konnte ich feststellen, dass in den Befragungen und Beurteilungen der Visumsanträge trotzdem immer wieder heteronormative Vorstellungen von einer ›romantischen Zweierbeziehung‹ herangezogen werden. Allein die ›Scheinehe‹-Logik, dass eine ›echte‹ Ehe nie aus ökonomischen Interessen geschlossen werde und nicht arrangiert sein dürfe, entspricht der bürgerlichen Vorstellung einer romantischen Liebesehe (vgl. Bethmann 2013: 10). In den Befragungen der Paare wird ebenfalls auf ganz konkrete Bilder und Muster zurückgegriffen, die den Logiken des Konstrukts ›romantischer Liebe‹ folgen: Handele es sich um eine ›richtige‹ Ehe, gehöre dazu ein umfangreiches Wissen über den_die Partner_in, hieß es sowohl in der Ausländerbehörde als auch im Konsulat: »Was ist die Lieblingsfarbe des Anderen? Hat er Hobbys? Welche Allergien hat er? Wohin fährt er gerne in den Urlaub? Raucht er? Wie viele? Was arbeitet der Andere? Wie viel verdient er?« Außerdem wurde das Wissen um die Familie des Anderen als wichtiges Kriterium immer wieder hervorgehoben: der Geburtsname der Mutter, wie viele Geschwister, wie viele davon verheiratet sind etc. Ein beliebtes Thema für weitere Fragen ist die Geschichte des Kennenlernens sowie der Prozess des Heiratens selbst: »Hat man gefeiert? Gibt es Ringe? Wie war der Heiratsantrag? Wie war die Feier? Hatte man Honeymoon? Wie lange ist der Andere nach der Hochzeit geblieben?« Abgesehen davon, dass es sich bei diesen Fragen um eurozentristische Sichtweisen auf die Praxis des Heiratens handelt, die selbst in Marokko regional sehr unterschiedlich sein kann, wird hier auch wiederum ein ›romantisches Eheideal‹ reproduziert, nach dem auch die erste Begegnung sowie der Akt der Eheschließung im Zeichen der Liebe als einem rein subjektiven Gefühl steht (vgl. Bethmann 2013: 20; Illouz 2011: 26 ff.). Zuletzt müsse man auch wissen, ob es einen Kinderwunsch gebe, der andere Kinder haben möchte, wie viele und ob Junge oder Mädchen sowie ob der_die Andere für einen da sei, wenn man krank ist und ob er_sie Sterbehilfe leisten würde, so einer der Mitarbeiter_innen des Konsulats. Dabei werden die heterosexuelle Paarbeziehung und die Ehe auch als Grundlage für Familiengründung und Fortpflanzung konstruiert. Die Vorstellung der Ehe, die auf die Ewigkeit ausgelegt ist, wird durch Fragen wie diese wiederum manifestiert. Diese und ähnliche Fragen tauchen auch in den Fragebögen, die für die ›gleichzeitigen Ehegattenbefragungen‹ genutzt werden und teilweise im Netz kursieren, immer wieder auf. Über diese Fragen werden normative Vorstellun-
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gen einer ›echten‹ Paarbeziehung hergestellt und stabilisiert, wobei sie sich an einem bürgerlichen Ideal romantischer Liebe orientieren. Vorstellungen von ›romantischer Liebe‹ beruhen auch auf Geschlechterdifferenz, wobei in der bürgerlichen Liebesehe sich diese vor allem in der geschlechtlichen Arbeitsteilung – der männlichen Erwerbsarbeit und der unbezahlten »Liebesarbeit« – manifestierte und mit der Erfindung bestimmter Geschlechtseigenschaften einherging (vgl. Bethmann 2013: 21). Auch sei die Inszenierung von Geschlechterdifferenz ein wesentlicher Bestandteil medialer und alltäglicher Darstellungen von Liebe, so Bethmann (2013: 22). Paarbeziehungen von Antragsteller_innen, in denen sich diese heteronormative Geschlechterungleichheit umdreht, also die Frau dem Mann ›überlegen‹ war, werden ebenfalls verstärkt verdächtigt, wie aus den Gesprächen mit Mitarbeiter_innen des Konsulats hervorging. Dabei waren insbesondere die Kategorien Alter – wenn die deutsche Partnerin älter als der marokkanische Antragsteller ist – oder Bildung – wenn die deutsche Partnerin ›gebildeter‹ ist als ihr marokkanischer Partner – zentral, wobei Letzteres im Zusammenhang mit Alter zusätzlich betont wurde.51 Auch Irene Messinger stellt in ihren Analysen zur Verfolgung von ›Scheinehen‹ in Österreich fest, dass der Altersunterschied zentral gesetzt wurde, um die Ungleichwertigkeit der Partner_innen hervorzuheben (vgl. Messinger 2012: 151). In der Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ durch das Konsulat werden diese Normen und Ideale von romantischer Liebe, Ehe und Familie mit hergestellt und stabilisiert. Schoenes und Jüschke sprechen von einer »ungeschriebenen Definition« der ehelichen Lebensgemeinschaft, die das Handeln der Rechtsanwender_innen präge, wobei der auslegungsbedürftige Begriff der »ehelichen Lebensgemeinschaft« im Sinne eines Ehezwecks interpretiert werde, der dem bürgerlich-romantischen Eheideal entspreche (Jüschke/Schoenes 2013: 595). Laura Block betont ebenfalls, dass in diesem Verfahren Ehenormen etabliert würden, indem (un)zulässige Beweggründe für eine Eheschließung festgelegt werden, und schließlich die Erfüllung dieser Normen bei als »verdächtig« konstruierten Paaren überprüft würde (Block 2016: 65).
Kulturalisierungen als Formen des Othering In den Aussagen, die aus dem Konsulat stammen, wurde jedoch auch deutlich, dass traditionelle Lebensformen – wie asymmetrische Geschlechterverhältnisse, Geschlechterrollen des Versorgers und der Mutter und Hausfrau oder die naturalisierende Verbindung von Ehe und Familie im Sinne von Kinder kriegen – in den Narrationen der Sachbearbeiter_innen kulturalisiert werden und damit auch gleichzeitig eine Abgrenzung gegenüber diesen stattfindet. So sagt einer der Mitarbeiter zum Beispiel, dass die traditionelle Gesellschaft in Bezug auf das Alter des Mannes toleranter sei oder dass Tatbestandsmerkmale seien können, wenn das Paar nicht zum traditionellen Verständnis einer Ehe der ländlichen Gesellschaft passe wie zum Beispiel, wenn die Frauen nicht muslimisch oder schon geschieden seien, Kinder hät51 Für eine tiefergehende Analyse der intersektionalen Verschränkung der Kategorien Geschlecht und Alter(n) siehe die Arbeiten von Alex Rau (2017).
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ten oder älter seien als der Mann. Bei solchen Tatbestandsmerkmalen würde weiter überprüft, so der Konsulatsmitarbeiter. Immer wieder wurde von ihm betont, dass es sich bei Marokko um eine traditionelle islamische Gesellschaft handele. Das würde bedeuten, dass Menschen im Familienverband lebten und wenn ein Partner oder eine Partnerin ausgewählt werde, müsse ein Konsens mit der Familie bestehen. Der gleiche Mitarbeiter erklärte ebenfalls das »traditionelle Muster einer Beziehung« in Marokko: Der Ehemann habe Bildung und sei älter, die Ehefrau sei hübsch und könne kochen. Wenn es davon starke Abweichungen gebe, dann werde ein Verdacht geäußert; zum Beispiel wenn die Frau erheblich älter sei, dann könne sie auch keine Kinder mehr bekommen. Dann müssten die Paare eben erklären, warum diese Konstellation gebilligt werde von der Familie. Was der Konsulatsmitarbeiter hier beschreibt, entspricht einem bürgerliche Eheideal, wird jedoch der marokkanischen Gesellschaft zugeschrieben. Durch die Kulturalisierung im Sinne eines Othering (Said 1977) findet in diesem Zusammenhang auch eine Abgrenzung von als ›traditionell‹ eingeordneten Lebens- und Liebesformen und damit einhergehenden Geschlechterverhältnissen statt, wodurch der ›Westen‹ als progressiv und gleichberechtigt konstruiert werden kann. Auch Saskia Bonjour und Betty de Hart kommen in ihrer Analyse der Politiken des ›Familiennachzugs‹ zu dem Schluss: »The realm of the intimate – family life – is where crucial boundary work is done; where the sharpest distinctions between ›us‹ and ›them‹ are drawn.« (Bonjour/de Hart 2013: 72) Zugleich wird die Beurteilung der Paarbeziehungen durch vermeintliche ›kulturelle Expertise‹ legitimiert, was sicher auch gegenüber mir als Forscherin eine Rolle gespielt hat. So bestand im Konsulat auch immer ein großes Interesse an meiner Arbeit. Jedoch wurde mir empfohlen, dass ich als Ethnologin doch nicht im Konsulat selbst forschen solle, da es hier um juristische Fragen ginge, sondern vielmehr in den Dörfern in Marokko, um dort zu beobachten, wie wer mit wem verheiratet wird. Die Konsulatsmitarbeiter_innen haben hier ein Bild der klassischen Anthropologie, die maßgeblich mit ihrem Blick auf ländliche Regionen, Traditionen und Rituale an der Konstruktion der ›Fremden‹ beteiligt war. Eine Anthropologie des Regierens der Migration wirft vielmehr einen kritischen Blick genau auf dieses Wissen, das bis heute wirkmächtig ist und unternimmt den Versuch dieses zu dekonstruieren und zu denaturalisieren. Dieser Ansatz und mein Interesse an juristischen Fragen irritierte die Konsulatsmitarbeiter_innen. Die Herausstellung der Bedeutung der Familie für die Antragsteller_innen – die soweit geht, dass davon ausgegangen wird, dass keine Entscheidung unabhängig von der Bestätigung durch die Familienmitglieder getroffen werden könne – ist ebenfalls eine Taktik, in orientalistischer Tradition die marokkanische Gesellschaft als ›rückständig‹ und ›traditionell‹ zu konstruieren. Dieses Bild steht der Erschaffung des ›Westens‹ als ›modern‹ und ›individualisiert‹ entgegen, das auch wiederum eng an die normative Vorstellung von ›romantischer Liebe‹ geknüpft ist (Bethmann 2013: 36 ff.). Balibar sieht in der Konstruktion des ›Westens‹ als individualistisch und dem ›Rest‹ als gemeinschaftlich lebend eine Artikulation des differentialistischen Rassismus:
Das Visum | 237 »Heute jedoch kommt das Thema vor allem in Gestalt des Vorranges des individualistischen Modells zum Ausdruck: als die implizit überlegenen Kulturen gelten diejenigen, die die ›individuelle‹ Initiative, den sozialen und politischen Individualismus, besonders hoch bewerten und fördern, im Gegensatz zu denjenigen Kulturen, die ihn hemmen und einengen. Die überlegenen Kulturen wären demnach diejenigen, deren ›Gemeinschaftsgeist‹ von nichts anderem als vom Individualismus gebildet würde.« (Balibar 1990: 133)
Auch wurde im Konsulat betont, dass sie »hier« soweit »wie bei uns vielleicht vor 50, 60 Jahren« seien. Einer der Mitarbeiter_innen führt länger aus, wie sich die Ehe im letzten Jahrhundert in Deutschland entwickelt hat und verortet den »Einzug der Liebe in die Ehe« in den 1960er Jahren. In Marokko werde dagegen »nach der Scharia entschieden«, »wie in allen anderen arabischen Ländern«, so der Mitarbeiter. Hier wird eine Expertise der Kultur, Gesellschaft und politischer Entwicklungen in Marokko vorgegeben und dabei das Land sowie seine Bewohner_innen als ›rückständig‹ und ›traditionell‹ konstruiert, dabei immer in Abgrenzung zu dem ›modernen‹, ›entwickelten‹ Deutschland beziehungsweise Europa. Gutiérrez Rodríguez weist darauf hin, dass basierend auf einem spezifischen zeitgeschichtlichen Verständnis »noch heute, obwohl nicht immer explizit, auf der binären Matrix von ›Moderne‹ und ›Vormoderne‹ operiert« werde. Dies sei insbesondere der Fall, »wenn Regierungstechniken der Kontrolle, Disziplinierung und Domestizierung der Bevölkerung in der kolonialen Logik der Differenz« operierten (Gutiérrez Rodríguez 2011: 91 f.). Eine weitere Form von Kulturalisierung beziehungsweise Ethnisierung zeigte sich im Konsulat in der Unterscheidung von ›marokkanisch-deutschen‹ und ›marokkanisch-marokkanischen‹ Paaren. Letztere würden sehr viel seltener befragt werden, denn bei diesen Paaren gebe es ebenfalls keine Probleme: »Sie haben die gleiche Sprache, die gleiche Kultur.« Irene Messinger stellt in ihren Analysen ebenfalls fest, dass »innerethnischen« Ehen eine größere Glaubwürdigkeit zugemessen werde (Messinger 2012: 227). Auch hier wird – wie in den marokkanischen Behörden – wieder ein differentialistischer Rassismus (Balibar 1990) wirkmächtig – was Taguieff auch als »Mixophobie« (Taguieff 2001) beschreibt –, der von der Unvereinbarkeit der Kulturen ausgeht. In der Ausländerbehörde in München dagegen wurden die Kategorisierungen und Theorien nicht kulturalisiert. Dies mag auch daran liegen, dass Sachbearbeiter_innen nicht Anträge aus bestimmten Ländern bearbeiten, sondern die Anträge in alphabetischer Reihenfolge des Nachnamens der Antragsteller_innen sortiert werden. Trotzdem erhalten sie die Einschätzungen aus den Konsulaten und arbeiten dadurch auch mit rassistischen Aussagen und Einschätzungen.
Die Wirkmächtigkeit von Klasse All diese sogenannten ›Tatbestandsmerkmale‹, nach denen Visumsanträge kategorisiert werden und die mit der Konstruktion von Geschlecht, Ethnizität, Alter und Heteronormativität einhergehen, greifen jedoch nur, wenn klassenspezifische Kriterien nicht erfüllt werden. Dementsprechend wurde im Konsulat betont, dass die »Befragten« – also die Antragsteller_innen, die weiteren Überprüfungen ausgesetzt
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sind – besonders aus »bildungsfernen Milieus« kämen. Die meisten hätten »nicht mal Abitur«. Sie seien besonders verdächtig, weil das diejenigen seien, die hier keine Perspektive hätten. Es wird von den Mitarbeiter_innen als Erleichterung empfunden, dass es jetzt die Sprachnachweispflicht gibt: Früher habe es auch viele Analphabeten gegeben, aber jetzt hätten sie schon zwei Jahre Deutsch gelernt, so eine der Mitarbeiter_innen. Sie betonten, dass Akademiker generell bei diesen Antragsteller_innen weniger auftauchten, denn sie würden ja sowieso ein Visum bekommen: Blue Card und Green Card. Dafür bräuchten sie jedoch einen Arbeitsvertrag in Deutschland mit einem Gehalt von mindestens 50 000 Euro im Jahr. Diese Wahrnehmung der Antragsteller_innen geht in eine ähnliche Richtung wie im Goethe-Institut, wo diese Gruppe vor allem als ›ungebildete Hausfrauen‹ gesehen wird. Die Antragsteller_innen mit akademischer Ausbildung – die zumeist von deutscher Seite auch nicht anerkannt wird (vgl. Büttner/Stichs 2013: 179) und die keineswegs Zugang zu einer Blue Card oder Green Card bedeutet – bleiben also auch hier im Diskurs unsichtbar. Klasse wird auch auf anderen Ebenen immer mitkonstruiert: So wird es als »verdächtig« eingestuft, wenn einer von beiden kein Arabisch könne und der andere aus einer »bildungsfernen Schicht« komme. Daraus wird geschlussfolgert, dass dieser kein Französisch könne und es damit keine gemeinsame Sprache gebe. Es sei also »verdächtig«, »wenn die Person keine Arbeit, keine Schulbildung hat oder keine Sprachbasis besteht«, so einer der Mitarbeiter_innen des Konsulats. Klasse verschränkt sich auch hier mit Ethnizität und Geschlecht und führt zu einem Verdacht gegenüber spezifischen Konstellationen von Paarbeziehungen. Während über die Bildung und den finanziellen Hintergrund der marokkanischen Antragstellerinnen nicht gesprochen wird, können geringe institutionelle Bildung sowie eine prekäre Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit sowohl bei marokkanischen Männern als auch bei deutschen Frauen zum Verdacht führen. So wurde auch betont, dass viele der deutschen Frauen Hartz‑IV-Empfängerinnen und nicht sehr gebildet seien. Manchmal könnten sie noch Englisch, aber kein Französisch. Das reiche dann nicht für eine tiefergehende Beziehung. Angehörige ›visumspflichtiger Drittstaaten‹, die über ausreichend kulturelles sowie ökonomisches Kapital verfügen, müssen sich gar nicht in das ›Ehegattennachzugsverfahren‹ begeben, da es für sie andere Mittel gibt, mobil zu werden, wie zum Beispiel durch Kurzzeit- oder Arbeitsvisa, wobei von letzteren nur ein sehr kleiner Teil in Marokko profitieren kann.52 Gleichzeitig werden diejenigen mit akademischem Abschluss, die das Verfahren durchlaufen, nicht verdächtigt und damit auch nicht genauer überprüft. Auch Katharina Schoenes und Anna Jüschke stellen in den Interviews, die sie mit Richter_innen geführt haben, fest, dass der »sozioökonomische Hintergrund« im Sinne von Bildung und Lohnarbeit bei der Einschätzung eine zentrale Rolle spiele (Jüschke/Schoenes 2013: 590). Messinger konstatiert ebenfalls, dass die Sichtweise dominiere, dass das Eingehen einer ›Scheinehe‹ den »›unteren‹ sozialen Klassen« vorbehalten sei (Messinger 2012: 215). 52 Im Jahr 2012 wurden 49 Visa aufgrund von Erwerbstätigkeit an marokkanische Staatsangehörige vergeben (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2013: 30).
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Wer (wird) kontrolliert und diszipliniert? Wer wird mobil? Die behördliche Praxis der Problematisierung bestimmter Antragsteller_innen und deren Paarkonstellationen ist Teil eines doing border, ein Prozess in dem Grenzziehungen in alltäglichen Praktiken ausgehandelt werden und damit auch, wer einreisen darf und wer nicht, wer mobilisiert und wer immobilisiert bzw. wer in seiner Mobilität diszipliniert wird. Dabei werden durch Praktiken der Normalisierung und Naturalisierung sowohl Grenze als auch Geschlecht, Klasse, Ethnizität, Alter und Heteronormativität zu legitimen Markern für soziale Ordnungen und Hierarchien. In der Analyse des situierten bürokratischen Wissens, das innerhalb des Konsulats wirkmächtig wird, wurde deutlich, wie sich diese Konstrukte wechselseitig konstituieren. Wer wird also nach diesen Grenzziehungen entlang von vergeschlechtlichten, rassifizierten und klassenspezifischen Kategorisierungen überwacht, kontrolliert und im/mobilisiert? Im Fokus der Kontrolle und Überwachung (und auch Disziplinierung) stehen insbesondere – dem Bezness-Diskurs folgend – junge marokkanische Männer mit wenig oder ohne formale Bildung, ohne Beschäftigung oder prekär Beschäftigte sowie ältere deutsche Frauen in einer unsicheren Situation. Auch Messinger kommt zu einem ähnlichen Ergebnis in ihrer intersektionalen Analyse der Verdächtigung von Paaren durch Behörden in Österreich (Messinger 2012: 173). Außerdem stehen vor allem Paarkonstellationen unter Verdacht, die heteronormative Grenzziehungen, die Liebe, Beziehungen, Ehe und Familie normieren, überschreiten, wie zum Beispiel wenn die Partner_innen unterschiedliche Religionen oder ›kulturelle Herkünfte‹ haben oder die Frau älter oder gebildeter ist, wobei der Mann wieder auf die Rolle des ›Versorgers‹ und die Frau auf die der ›Hausfrau‹ und ›Mutter‹ festgeschrieben werden. Marokkanische Frauen dagegen stehen – im Gegensatz zum Goethe-Institut – kaum im Fokus der Kontrolle und können das Verfahren zumeist relativ problemlos durchlaufen, dennoch bleiben sie nicht unmarkiert, da sie als ›passive, unterdrückte Migrantinnen‹ konstruiert werden. Auch Antragsteller_innen, die tatsächlich aus rein aufenthaltsrechtlichen Gründen eine Ehe eingehen und sich als Paar ausgeben, aber den normativen Vorstellungen von einer ›echten‹ Ehe entsprechen, können problemlos das Verfahren durchlaufen. Das situierte bürokratische Wissen im Konsulat ist also von vergeschlechtlichten, ethnisierten und klassenspezifischen Diskursen strukturiert und wird immer wieder tagtäglich hergestellt, wobei sich bestimmte Teile auch transnational über die Jahre stabilisiert haben und andere kontextspezifisch eingesetzt werden, je nach Institution sowie geopolitischer Lage. Darin verfestigen sich historisch gewachsene Diskurse, die sich einer rechtlichen Grundlage entziehen beziehungsweise darüber hinausweisen. Messinger weist darauf hin, dass sich im Fall von Österreich die Konstruktion der ›Tatverdächtigen‹ durchaus durch quantitative Daten bestätigen lasse. Jedoch sei auch festzustellen, »dass der staatlich-kontrollierende Blick auf ebenjene Personengruppe fokussiert und damit der Blick von anderen Gruppen abgewandt wird« (Messinger 2012: 156). Daraus lasse sich ableiten, »dass durch die dargestellten Bilder nur jene Personen verdächtigt werden, die diesem staatlich konstruierten Bild entsprechen
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und sich die Konstruktion dadurch selbst reproduziert«, wie auch die stereotypen Vorstellungen von ›Scheinehe‹ (ebd.). Wie wirkmächtig in diesen Logiken und Kategorisierungen Klasse ist und wie dies wiederum mit einer Nachfrage nach Arbeitskraft von Seiten Deutschlands in Relation steht, aber auch wie die Mobilitäten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen hierarchisiert werden, wird in diesen Ausführungen eines Konsulatsmitarbeiters noch einmal deutlich: Heute gebe es auch Visaerleichterungen für Studenten und qualifizierte Leute durch eine Mobilitätspartnerschaft. Es gebe sogenannte Bona fide-Leute, denen man ohne weiteres ein Visum geben kann, die auf jeden Fall zurückgehen, wenn sie ihre Geschäfte gemacht haben, die keinen Grund haben, im Schengenraum zu bleiben. »Wir haben das Ziel Migration zu kontrollieren.« Deswegen werde mit Marokko verhandelt und man baue bestimmte Qualifikationen auf, die für ein Visum notwendig seien. Zum Beispiel würden die bevorzugt, die sich integrierten und nicht dem Staat zur Last fielen und nicht die, die den Rechtsfrieden bedrohten; »außerdem bestimmte Berufsqualifikationen«, »nützliche Mitglieder unserer Gesellschaft«, so der Mitarbeiter. »Am liebsten würden wir selbst darüber entscheiden, wer kommt, aber die entscheiden das jeder selbst.« Die Frage sei: »Wie schnell lassen die sich integrieren? Am meisten kommen die, die wir nicht wollen, die in ihrem eigenen Land auch die Loser sind.« Der ›Ehegattennachzug‹ sei eben ein »Schlupfloch, um nach Deutschland zu kommen«, betont er. Ich möchte nun noch einmal explizit zu der Situiertheit der Wissensproduktion sowie der Visumsvergabe kommen, indem ich die Situiertheit der entsandten Mitarbeiter_innen näher analysiere, die die Entscheidung über die Visumsanträge fällen.
5.2.3 Distanzierungen: der situierte Blick entsandter Mitarbeiter_innen »Kaum ein Beruf bietet Ihnen so viel Abwechslung wie eine Tätigkeit im Auswärtigen Dienst: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des gehobenen Auswärtigen Dienstes betreuen als Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter oder auch als Leiterinnen und Leiter von Arbeitseinheiten breit gefächerte Aufgabengebiete in der Zentrale des Auswärtigen Amts in Berlin und Bonn und an den über 220 deutschen Auslandsvertretungen. Dabei sind sie Spezialisten für den Bereich Rechts- und Konsularwesen sowie für die innere Verwaltung, also den Geschäftsablauf und das Management von Ressourcen an einer Auslandsvertretung oder in der Zentrale des Auswärtigen Amts. Daneben sind sie Generalisten für die Bereiche Wirtschaft, Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Kultur, Presse und Öffentlichkeitsarbeit sowie Protokoll. Verwendungen im Bereich Politik sind ebenfalls möglich.« (Auswärtiges Amt 2015b)
So präsentiert das Auswärtige Amt das Berufsbild des »gehobenen Dienst« und wirbt dabei für die Ausbildung. Um zu verstehen, wie es im Konsulat zu Entscheidungen über Visumsanträge kommt, ist es nicht nur notwendig zu analysieren, welches Wissen dabei herangezogen und wirkmächtig wird, sondern auch wie und vom wem dieses hergestellt wird und wie dieses situiert ist. Es muss also in Anschluss an
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Donna Haraway und Colin Hoags Konzept des situierten bürokratischen Wissens die Frage gestellt werden, von wo, von welchem Standpunkt aus werden Visumsanträge betrachtet und darüber geurteilt. Wie sind das Wissen, und damit die Subjekte, die über dieses Wissen verfügen beziehungsweise dieses (wieder‑)herstellen, situiert? Nicht nur die Gruppe der Antragsteller_innen stehen im Fokus des Regierens und damit von Subjektivierungsweisen, auch die Mitarbeiter_innen des Konsulats sind Subjekte, die regiert werden, aber eben auch über Handlungsmacht verfügen und sich selbst subjektivieren. Hier zeige ich auf, wie sich durch Prozesse der Distanzierung auf räumlicher, zeitlicher und sozialer Ebene ihre Situiertheit konstituiert und welche Blickregime dadurch aufrechterhalten und hergestellt werden. Dabei greife ich sowohl auf Informationen des Auswärtigen Amts zum Berufsbild und der Ausbildung des_der Diplomaten_in im gehobenen Dienst zurück, da dies der Weg ist, den die entsandten Mitarbeiter_innen, die im Konsulat die Entscheidung über die Visumsanträge treffen, gegangen sind, als auch auf empirisches Material aus meiner Forschung. Auf die Ortskräfte kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, da der Forscherin – abgesehen von einem Interview mit einer Ortskraft, jedoch im Beisein eines entsandten Mitarbeiters – Gespräche mit diesen Mitarbeiter_innen verwehrt wurden.
Entpolitisierung eines Berufs In der Beschreibung des Berufsbilds des »Diplomaten im höheren Dienst« wird immer wieder betont, dass es vor allem um Verwaltung gehe und es ist ganz explizit von einem »Verwaltungsberuf« die Rede (Auswärtiges Amt 2015b). So sagt Christopher Franzek, ein Konsulatssekretäranwärter des Auswärtigen Amts, in einem Imagefilm für die Ausbildung zum Diplomaten: »Bewerber für den gehobenen Dienst sollten sich bewusst sein, dass das Klischeebild vom cocktailschwenkenden Diplomaten nicht ganz passt, der gehobene Dienst ist hauptsächlich für die Verwaltung da und natürlich für die Rechts- und Konsularangelegenheiten, das sind die zentralen Aufgabenfelder.« (Ebd.) Auch in der Selbsteinschätzung zur Eignung für diesen Beruf finden sich Anforderungen wie: »Ich könnte mit einer Arbeit mit hohem Anteil an Verwaltungsaufgaben gut zurecht kommen«, »Ich mag die Arbeit mit Formularen, Listen, Tabellen und Texten«, »Ich kann mir vorstellen, in einer großen, hierarchisch strukturierten Behörde nach den Vorgaben meiner Vorgesetzten zu arbeiten«, »Ich könnte mir vorstellen, tagtäglich viele kleine Aufgaben – auch Routineaufgaben – zu erledigen«, »Ich sehe mich im Berufsleben eher als ein Dienstleister als als Spitzendiplomat«, »Ich arbeite gern im Büro und am Schalter mit Kunden« (Auswärtiges Amt 2012). Außerdem lässt sich, wie hier deutlich wird, das Verständnis als Dienstleister_in wieder finden. Durch die Überbetonung der Rolle als Verwalter_in und Diensleister_in in einer Behörde findet unter anderem eine Entpolitisierung dieser Tätigkeiten statt, in dem Sinne, dass die verwaltenden Tätigkeiten als keine direkten Effekte mit sich bringend konstruiert werden. Durch die Abgrenzung vom »cocktailschwenkenden Diplomaten« oder vom »Spitzendiplomaten«, der als wichtige politische Figur für die Vertretung deutscher Interessen im Ausland und die Verhandlungen in internationalen Beziehungen gesehen wird, sowie die Bezeichnung als »Dienstleis-
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tung« oder »Verwaltung« wird die politische Wirkmächtigkeit der Tätigkeiten der »Mitarbeiter im gehobenen Dienst« ausgeblendet. So ist als eine weitere Eigenschaft eines_r Diplomat_in in der Selbsteinschätzung aufgeführt: »Ich könnte in meinem Beruf politische Positionen vertreten, von denen ich persönlich nicht überzeugt bin.« Ethnographische Studien von Alltagspraktiken in Insitutionen der Grenze wie die vorliegende oder auch die von Michael Lipsky (2010) oder Federica Infantino (2015) zeigen jedoch, dass Sachbearbeiter_innen durchaus wichtige Akteure der Grenz- und Migrationspolitiken sind, die diese nicht nur umsetzen, sondern auch herstellen und mitformen und deren Handeln dadurch sehr wirkmächtig ist, globale Ordnungen und Hierarchien (wieder‑)herzustellen. Sharma und Gupta schreiben dazu: »It is through such mundane activities that the primacy of the state is reproduced, and its superiority over other social institutions established. And it is through the daily routines of proceduralism and precedent setting that social inequalities, such as those of class and gender, are produced and maintained.« (Gupta/Sharma 2006b: 13) Die Konstruktion des_der Diplomat_in als reine Verwalter_in und die damit einhergehende Entpolitisierung dess_ren Tätigkeit und der Effekte zum Beispiel für Antragsteller_innen ist jedoch ein wichtiges Instrument des Regierens in Bürokratien. Diese Distanzierung und Entfremdung der Diplomat_innen von der Arbeit, die sie tun, und somit auch von den Individuen, die sie »verwalten«, findet nicht nur auf einer programmatisch-diskursiven Ebene statt, wie hier auf der Webseite des Auswärtigen Amts, sondern zieht sich auch durch unterschiedliche Praktiken der Strukturierung und Organisation des Alltags der Diplomat_innen – während ihrer Ausbildung, aber auch später. Die Distanzierung von der Gruppe der Antragsteller_innen findet dabei sowohl auf räumlicher und zeitlicher als auch auf sozialer Ebene statt, was sich wechselseitig bedingt.
Räumliche und zeitliche Distanzierungen Auf die geographische Lage des Konsulats bin ich bereits zu Beginn dieses Kapitels eingegangen: Es befindet sich hinter hohen Mauern in dem Villen- und Regierungsviertel Souissi. Die Deutsche Botschaft dagegen befindet sich direkt in der Innenstadt zwischen Bahnhof und Medina, in der Nähe des Nationaltheaters Mohammed V. Als ich an einem Abend mit einem Mitarbeiter des Konsulats zum Abendessen verabredet bin, gehen wir ebenfalls ganz in der Nähe der deutschen Botschaft den Boulevard Mohammed V., einem der größten und bekanntesten Straßenzüge in Rabat, entlang, um zu einem Restaurant zu gelangen. Da erzählte er, dass es gerade das erste Mal sei, dass er zu Fuß diese Straße entlang gehe. Normalerweise bewege er sich immer nur mit seinem Auto durch die Stadt und meistens zwischen dem Konsulat, der Botschaft und seiner Wohnung. Auch die Wohnungen der Diplomat_innen befinden sich – wie zu erwarten – in Vierteln der Stadt, die eher wohlhabend sind: wie Souissi, Hay Riad oder bestimmte Gegenden von Hassan. Die Lage sowie die Standards der Wohnung sind dabei nicht nur den Vorlieben der Diplomat_innen geschuldet, sondern auch den Vorgaben des Auswärtigen Amts. Dieses behält sich nämlich vor, die Wohnung erst zu überprüfen und zu genehmigen, bevor ein Mietvertrag unterschrieben wird, mit
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der Begründung, dass diese bezuschusst werde. Als einer der Auszubildenden für den Höheren Dienst neu nach Rabat kam, um sein 9-monatiges Auslandspraktikum im Konsulat zu absolvieren, war auch er auf Wohnungssuche. Wir tauschten uns ab und zu aus und ich fragte ihn, ob ich mich nach einem Zimmer in einer Wohngemeinschaft für ihn umsehen sollte. Er erklärte, dass er zwar sehr gerne mit anderen zusammen leben würde, auch um neue Leute kennenzulernen, aber dass dies von seinem Vorgesetzten nicht genehmigt werde. Er hätte nun schon eine Wohnung in einem der genannten Viertel in Aussicht, die den vorgegebenen Standards entspreche und nur noch genehmigt werden müsse. Es sei nämlich eine Voraussetzung, dass die Wohnung repräsentativ und dafür geeignet sei, Gäste zu empfangen. Eine ihrer Aufgaben sei es schließlich sich im Land zu vernetzen und Kontakte zu pflegen. Dafür werde ihnen sogar ein gewisses Budget zur Verfügung gestellt. So bewegen sich (zukünftige) Diplomat_innen zwischen spezifischen Orten im urbanen Raum, die Wohlstand und Elite symbolisieren. Gerade Mitarbeiter_innen, die sich in leitenden Positionen befinden, nutzen für diese Wege außerdem ihr eigenes Kraftfahrzeug, wobei es sich meistens um große, neue Autos handelt, wie zum Beispiel SUVs, die wiederum Prestige symbolisieren. Dabei sind sie durch das Diplomatenkennzeichen jederzeit als ›exklusive‹ Personen mit Sonderrechten identifizierbar. Auch in der Freizeit werden Orte aufgesucht, die in diese symbolische Ordnung passen. Zumeist geht man in Bars und Restaurants in Rabat-Agdal. Dieser Teil der Stadt ist relativ neu gebaut und wird als ›europäisch‹ und ›international‹ bezeichnet. Dort finden sich in der Einkaufsstraße Avenue de France Geschäfte wie Pimkie, Etam, United Colors of Benetton oder Planet Sports; und internationale Gastronomie wie die spanische Tapas-Bar La Bodega, Fastfood-Ketten wie McDonalds oder auch ein Irish Pub. Auch das Dhow ist ein beliebter Treffpunkt – ein Schiff an der Marina von Rabat, das zum Nobel-Fischrestaurant umfunktioniert wurde. Die täglichen Einkäufe werden, wenn nicht jemand beauftragt wurde, in der Mega Mall, einem riesigen Einkaufscenter, ebenfalls in Rabat-Agdal, getätigt, wie mir Diplomat_innen, die zu diesem Zeitpunkt in Rabat angesiedelt waren, berichteten. Es lässt sich also auch hier wiederum in der räumlichen Regierungsweise eine Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung beobachten: von Fremdführung, also räumliche Vorgaben und Strukturierung durch die Vorgesetzten, sowie Selbstführung, im Sinne handelnder Subjekte, die ebenfalls von selbst in ihrem Alltag diese räumliche Distanzierung vollziehen und stabilisieren.53 Die räumliche Regulierung des Alltags wird noch verstärkt durch eine temporäre Begrenzung des Aufenthalts an einem Ort beziehungsweise in einem Land. Drei bis vier Jahre sind der übliche Rhythmus, in dem der Arbeitsort gewechselt wird. 53 Einen Überblick zur kulturwissenschaftlichen Forschung zu »Expatriate Communities«, unter anderem mit einem Fokus auf Gruppenbildungsprozessen sowie Ein- und Ausschlussprozessen von »Expatriates« liefert die Kulturwissenschaftlerin Johanna Stadlbauer in ihrer Studie »Mobile Gattinnen. Privilegierte Migration und Geschlechterverhältnisse« (2015: 53 ff.).
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Zwar können Vorlieben angegeben werden, doch gerade neue Mitarbeiter_innen des Auswärtigen Amts können quasi überall in der Welt hin versetzt werden. Diese räumlichen sowie zeitlichen Vorgaben und Eingriffe in die Lebensplanungen der Diplomat_innen durch den Arbeitgeber strukturieren sowohl den beruflichen als auch privaten Alltag der Subjekte. Sowohl durch die zeitliche Begrenzung der Aufenthalte in einem Land als auch die räumlichen Segregationen werden eine bestimmte Tiefe des Verstehens der lokalen Gesellschaft und Verhältnisse sowie die Herstellung von Nähe und Vertrautheit verhindert. Durch die Gleichzeitigkeit von physischer Mobilisierung auf globaler und Immobilisierung auf lokaler Ebene werden die Diplomat_innen regiert und in ihrem Handeln und ihrer Wahrnehmung geführt. Auch die entsandten Mitarbeiter_innen im Konsulat hatten schon unterschiedliche Stationen auf allen Kontinenten durchlaufen. Kam es zu privaten Treffen wurde sich darüber ausgetauscht, wobei es entweder um die unterschiedlichen Arbeitsalltage und die politischen Verhältnisse oder die touristischen Attraktionen vor Ort ging. Auch in Marokko machten die Kolleg_innen oft Ausflüge in andere Regionen und zu Sightseeingspots. Marokko, da waren sich alle einige, würde von der Landschaft her nicht so viel hergeben. Da hätten sie schon Beeindruckenderes gesehen. Auch das Kulturangebot wurde regelmäßig bemängelt und ein Mitarbeiter schrieb mir nach seiner Versetzung in ein nordeuropäisches Land, dass er nun wieder in »zivilisierter Umgebung« sei. Das Rotationsprinzip bezieht sich auch auf andere Bereiche. So soll der_die Diplomat_in auch die Zuständigkeitsbereiche und Themen immer wieder wechseln und dadurch zum »Generalisten« ausgebildet werden, wie auch aus dem Zitat eingangs hervorgeht. Diese Rotationen haben ähnliche Effekte der Stabilisierung von Oberflächlichkeit. So war einer meiner Interviewpartner kurz vor seinem Aufenthalt in Marokko in einem Land in Zentralasien tätig. Er berichtete, wie wenig Zeit sie hatten sich auf das neue Umfeld vorzubereiten und dass man sich aber mit seinem Vorgänger austausche. Auch hatte er vorher eine andere Position inne und war nicht im Bereich Konsular- und Rechtsangelegenheiten tätig. Trotzdem musste er zum Beispiel im ersten Jahr einen Bericht mit dem Titel »Zur Asyllage in Marokko« anfertigen. Dieser behandle unterschiedlichste Themen zur Menschenrechtssituation im Land wie zum Beispiel in Bezug auf Migrant_innen, Frauen, Homosexuelle oder politische Gefangene. Als er darin etwas nachlas, was für unser Gespräch relevant war, und diesen an den Tisch holte, ohne ihn aus der Hand zu geben, betonte er, dass dieser nicht öffentlich sei und »unter Dienstverschluss« stehe. Auf meine Frage hin, warum, antwortete er, dass er gerade in der Einleitung etwas wertend sei. Er kommt in diesem Bericht unter anderem zu dem Schluss, dass es nach Marokko kein Abschiebungshindernis mehr gebe, da selbst Homosexuelle nicht mehr um ihr Leben fürchten müssten. Die zeitliche und räumliche Regulierung produziert also eine gewisse Distanz und Oberflächlichkeit und lässt wenig Spielraum, um hegemoniale Diskurse, Politiken und Normen zu hinterfragen. Auch im Bereich Journalismus ist dieses Prinzip der Rotation, in diesem Fall der Auslandskorrespondent_innen, wirksam. Die Journalistin Charlotte Wiedemann hat gezeigt, dass das Ziel der begrenzten Aufenthalte
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die Aufrechterhaltung einer vermeintlichen Neutralität sei. Diese Regulierung führe jedoch dazu, dass der weiße Blick des westlichen Journalismus immerzu reproduziert werde und Stereotypen und Vorurteile nicht hinterfragt würden (vgl. Wiedemann 2012: 25 ff.). Vor allem haben die zeitlichen und räumlichen Regulierungen eine Aufrechterhaltung der Distanz zu der lokalen Bevölkerung zum Effekt, besonders zu dem Milieu, aus dem die Antragsteller_innen des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ zumeist kommen.
Soziale Distanzierung Diese räumliche Distanzierung geht einher mit einer sozialen Distanzierung, in diesem Fall von dem Großteil der lokalen Bevölkerung und auch der Gruppe der Antragsteller_innen. Durch die räumliche Strukturierung des Alltags sind es nur spezifische Kontexte, in denen Diplomat_innen mit Marokkaner_innen in Kontakt kommen, und dabei auch nur mit spezifischen Gruppen: vor allem Dienstleister_innen in Geschäften, Restaurants und Bars sowie Haushalts- und Reinigungshilfen im eigenen Haushalt. Durch die Rolle des_der Kunden_in beziehungsweise des_der Arbeitgeber_in sind auch diese Begegnungen in spezifische Ungleichheitsverhältnisse verwoben. Außerdem kommen Diplomat_innen mit Marokkaner_innen bei geschäftlichen Anlässen und Treffen in Kontakt. Dabei handelt es sich zumeist um Vertreter_innen der Regierung oder anderen Institutionen und Organisationen, die wiederum aus der politischen Elite Marokkos kommen. Johanna Stadlbauer legt Wert darauf, nicht einfach von einer »Abschottung« der »Expatriates« auszugehen, die ausschließlich entlang »ethnischer« Zuordnungen verläuft. Sie sieht vielmehr Klassenzugehörigkeit sowie geteilte soziale Erfahrungen als zentral für solche Vergemeinschaftungsprozesse, die durchaus auch »Merkmal einheimischer Professionseliten« sein können (Stadl bauer 2015: 57). So werden die Freizeiträume wie Restaurants und Bars, die von den Diplomat_innen aufgesucht werden, durchaus auch von Marokkaner_innen genutzt, jedoch gehören diese wiederum der Oberschicht an. Eine weitere ›Kontaktzone‹ bilden Beobachtungen aus dem Auto heraus oder kurze Begegnungen auf der Straße, wenn sich jemand doch zu Fuß vorwärts bewegt. Bezeichnend dafür sind Narrationen über verursachte Schäden am Auto. So erzählte einer der entsandten Mitarbeiter_innen, dass er bisher sehr schlechte Erfahrung in Marokko gemacht habe. Die seien so unfreundlich hier, sagte er und berichtete von einem Vorfall, als sein Auto angefahren wurde und der Verantwortliche einfach verschwand. Als ich ihn darauf hinwies, dass hier vielleicht viele keine Versicherung hätten, antwortete er, dass wenn er ein Auto habe, dann habe er auch eine Versicherung und wenn nicht, dann zahle er. Die Marokkaner könnten sehr freundlich sein, aber immer mit einem Ziel, fügte er hinzu. Auch als wir nach einem Abendessen mit Diplomat_innen im Dhow zurück zum Parkplatz kommen, werden zunächst die Autos inspiziert. Hier wird das Auto als Prestigeobjekt zur Schnittstelle zur lokalen Bevölkerung und führt zu einer negativen Beurteilung der Marokkaner_innen. Diese homogenisierende und stereotype Wahrnehmung spiegelte sich auch in einer ande-
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ren Situation wider, als ich mit Mitarbeiter_innen des Konsulats in einem anderen Restaurant zu Abend aß. Plötzlich meinte ein junger Mann, der mir gegenüber saß, ich solle mal zur Bar schauen. Dort würden wieder nur Männer sitzen, wie in den marokkanischen Cafés. Die schauten immer grimmig und würden nichts tun: Sie unterhielten sich nicht miteinander, würden nicht Zeitung lesen oder ein Spiel spielen, zum Beispiel Karten, wie man das in Europa macht, schilderte er weiter seine Beobachtungen. Diese Beispiele spiegeln einen rassistischen Blick wider, der die Anderen als ›berechnend‹ und ohne Moral sowie ›passiv‹ und ›träge‹ konstruiert, dabei immer in Abgrenzung zur eigenen moralisch überlegenen sowie ›aktiven‹ Gesellschaft. Und zuletzt stehen Diplomat_innen in Kontakt mit ihren marokkanischen Kolleg_innen, die als Ortskräfte im Konsulat arbeiten. Durch ihre Position als Ortskräfte sind sie ihnen jedoch unterstellt, dies zeigt sich zunächst im Aufgabenbereich, aber insbesondere auch im Gehalt. Die Entscheidungen über Visumsanträge werden immer nur von Entsandten oder der Ausländerbehörde getroffen. Gleichzeitig werden Ortskräfte zur Schnittstelle zwischen Diplomat_innen und Antragsteller_innen. Diese Rolle ist schon allein notwendig, da die meisten entsandten Mitarbeiter_innen die Landessprache – Darija – nicht beherrschen, sondern nur Französisch. Diese Trennung spiegelt sich auch räumlich im Konsulat wider, da beim Betreten des Hofes nur die Schalter zu sehen sind, hinter denen ausschließlich Ortskräfte sitzen. Auch der Einlass wird von Ortskräften geregelt. Die Büros der entsandten Mitarbeiter_innen dagegen sind durch einen Seiteneingang zu erreichen. Die Ortskräfte bilden also die Schnittstelle zu den Antragsteller_innen, sodass es auch hier zu keiner direkten Begegnung kommt. Scheffer stellt in seiner ethnographischen Analyse einer Ausländerbehörde ebenfalls die Unterteilung in »publikumsnahe« und »publikumsabgewandte« Bereiche als wichtige Eigenschaft des bürokratischen Prozesses – in diesem Fall der Asylgewährung – heraus. Die Sachbearbeiterinnen, die die Anträge entgegennehmen und vorbereiten bezeichnet er als »Handwerkerinnen, die an ihren Werkbänken mit professioneller Kunstfertigkeit aus Publikumskontakten Schriftstücke produzieren« (Scheffer 1997: 170). Die Leiterin entscheide am Ende – »in einem publikumsabgewandten Raum – über die ›vorne‹ entgegengenommenen Anträge« (ebd.). Die Entpersonifizierung der Visumsanträge und die Vermeidung des Aufeinandertreffens zwischen Antragsteller_innen und Entscheider_innen hat Einfluss auf den Umgang mit diesen Anträgen und die damit einhergehende Entscheidung. Auch Hannah Arendt zeigte mit dem Begriff der »Herrschaft des Niemand« wie die physische Trennung der Bürokrat_innen von den Individuen, über die sie Entscheidungen trafen, dazu führte, dass sie auf eine Art und Weise handelten, die sie eigentlich für skrupellos befunden hätten (vgl. Arendt 1991). Der Anthropologe Michael Herzfeld spricht von der sozialen Produktion der Gleichgültigkeit (»The social production of indifference«) innerhalb von Bürokratien: »Indifference is the rejection of common humanity.« (Herzfeld 1992: 1) Im Falle des Konsulats ist es die soziale Distanzierung von den Antragsteller_innen, die Gleichgültigkeit gegenüber diesen Personen produziert und aufrechterhält und es ermöglicht eine »gemeinsame Menschlichkeit« zu verweigern.
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Gleichzeitig wird Ortskräften eine relativ große Handlungsmacht zugeschrieben, da sie die erste Befragung sowie die Einschätzung des Antrags abgeben.
Herstellung von Exklusivität Die räumliche, zeitliche und soziale Distanzierung der Diplomat_innen geht mit der Herstellung von Exklusivität dieser Gruppe mit Sonderstatus einher. Schon in der Ausbildung wird die Exklusivität und Besonderheit dieser Berufsgruppe hervorgehoben: »Auf Sie wartet im gehobenen Auswärtigen Dienst alles andere als ein normaler Schreibtischjob!« (Auswärtiges Amt 2015b) Auch in der Fremdwahrnehmung ist der Beruf des_r Diplomat_in mit Prestige verbunden, so werden regelmäßig die Aufnahmetests in Zeitungen veröffentlicht und auf die Schwierigkeit verwiesen diese zu bestehen. Im Auslandseinsatz wird diese Exklusivität fortgeführt beziehungsweise noch verstärkt. So verfügen Diplomat_innen über einen Sonderstatus, der sich im Diplomaten-Autokennzeichen materialisiert und mit vielen Sonderrechten und Erleichterungen im Empfangsstaat verbunden ist: »Unverletzlichkeit des diplomatischen Personals«, »Unverletzlichkeit der diplomatischen Räumlichkeiten […] einschließlich der Privatwohnung des Diplomaten«, Steuervergünstigungen sowie Immunität (Brandt/Buck 2005: 365). Aber auch die räumliche Segregation durch Arbeits- und Wohnort verstärkt diese Abgrenzung. Ein Konsulatsmitarbeiter betonte, dass er im Ausland auch nur mit Deutschen seine Freizeit verbringen wolle. Er organisiert regelmäßig Fußballabende, Ausflüge sowie Restaurant- und Barbesuche für Kolleg_innen, zu denen ich manchmal eingeladen wurde. In diesen exklusiven Räumen treffen auch Diplomat_innen von anderen Nationalstaaten des Globalen Nordens aufeinander: So sitze ich an einem Abend mit zwei Mitarbeitern des Konsulats Marokko und drei Mitarbeiterinnen des dänischen, spanischen und norwegischen Konsulats zusammen auf der Terrasse des Hotel Ballima. Als ich von meiner Forschung erzähle, sind alle interessiert und die Vertreterin der norwegischen Botschaft fragt mich direkt, ob es denn viele ›Scheinehen‹ gebe? Sie fügt hinzu, dass sie die Geschichten kenne, wo Paare überhaupt nicht zusammenpassten und nicht aussähen wie ein »typisches Paar«. Die Kollegin von der spanischen Botschaft erzählt von Mitarbeitern des spanischen Konsulats, die versuchen Frauen klar zu machen, dass der afrikanische jüngere Partner nur wegen der Papiere mit ihr zusammen sei. Sie würden eine Art »Beratung« geben. Aber meistens würden das die Frauen nicht verstehen. Einer der beiden Mitarbeiter des deutschen Konsulats schaltet sich ein und empfiehlt ihnen das Instrument der ›gleichzeitigen Ehegattenbefragung‹, da das sehr effektiv sei. Sie tauschen sich weiter über diese Methode aus. Diese Situation zeigt nicht nur, dass immer wieder von unterschiedlichen Akteuren auch aus anderen nationalstaatlichen Kontexten die gleichen Logiken und Diskurse reproduziert werden, und dieses informelle Wissen transnational zirkuliert und immer wieder hergestellt wird, sondern auch welche zentrale Rolle die räumliche Segregation der Diplomat_innen und die Erschaffung dieser Räume spielt. Diese unterschiedlichen Praktiken führen zu einer Distanzierung von der lokalen Bevölkerung und gleichzeitig zur Erschaffung und Homogenisierung einer eigenen exklusi-
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ven Gruppe mit Sonderstatus. Auch Paul Rabinow beschreibt in seinem Buch »Reflections on Fieldwork in Morocco« eine sich ähnlich verhaltende Gruppe: les nouveaux vieux Marocains, allerdings in den 1960er Jahren in Marokko. Dabei handelt es sich um Migrant_innen aus Frankreich, die in der zweiten Phase der Einwanderung nach dem zweiten Weltkrieg nach Marokko kamen. Während die Migrant_innen, die in den 1920er Jahren einreisten, vor allem in der Landwirtschaft und beim Militär tätig waren und in engem Kontakt mit der marokkanischen Bevölkerung standen, lebte die nachfolgende Generation, insbesondere Regierungsfunktionäre, vielmehr unter sich: »[T]hey almost never knew Arabic, and had little or no contact with the Moroccans outside business hours. […] Their ties were to France and they were committed to a French way of life.« (Rabinow 1977: 14) Es sind immer wieder ähnliche Prozesse, wie sich Eliten herausbilden, reproduzieren, separieren und distanzieren und dadurch auch Macht ausüben. Cris Shore plädiert dafür, sich aus anthropologischer Perspektive mit der Art und Weise, wie Eliten funktionieren, zu beschäftigen: »that is, the inner worlds of meaning and practice that define and sustain elite identities, the cultural mechanisms used to maintain their status, and the way elites relate to, and are embedded within, wider socio-economic and political processes« (Shore 2002: 14).
Subversive Praktiken? Doch es lassen sich auch subversive und widerständige Praktiken der entsandten Mitarbeiter_innen beobachten und Versuche die Distanzierungen auf unterschiedlichen Ebenen aufzubrechen. »Border security practices are always intertwined, incorporated but also challenged not only by those who cross borders, but also by those who govern them.« (Côté-Boucher et al. 2014: 198) Auch Akhil Gupta und Aradhana Sharma betonen, dass subversive Praktiken nicht auf diejenigen begrenzt seien, die Ziel staatlicher Praktiken sind: »Bureaucrats may not carry out the orders of their superiors in a proper manner or they may adhere to the letter but not to the spirit of policy directives, thereby disrupting the smooth functioning of the state system.« (Gupta/Sharma 2006b: 14) So war es einem der Entsandten ein Anliegen etwas für Migrant_innen aus Subsahara-Afrika in Marokko zu tun, was eigentlich nicht in seinen Aufgabenbereich fiel. Er stand immer in Kontakt mit dem UNHCR und informierte sich über dessen Arbeit, und organisierte in seiner Freizeit Fahrten nach Melilla und Ceuta, um sich über die Situation von Geflüchteten an den Grenzen zu den spanischen Enklaven selbst zu informieren und mit ihnen zu sprechen. Auch betonte er immer wieder, dass er mit Migrant_innen auf der Straße spreche und ihnen Geld gebe. Diese Erzählungen gehen mit einer Kritik am marokkanischen Staat einher, der nicht genug für die Migrant_innen aus Subsahara-Afrika mache. Hier werden Versuche unternommen, sowohl die räumliche und soziale Distanzierung als auch die Begrenzung des Aufgabengebiets bis zu einem gewissen Grad zu durchbrechen. Von einem entsandten Mitarbeiter bekam ich zudem regelmäßig Unterstützung oder zumindest Informationen, wenn es darum ging, dass Antragsteller_innen einen Termin brauchten oder Unklarheiten in Bezug auf ihren Antrag bestanden. Auch die Offenheit gegenüber den Fragen der Forscherin und das Einlassen auf Themen
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und Gespräche kann als subversiver Akt gesehen werden. Darüber hinaus wurde die eigene Arbeit und Situiertheit oft selbst in Frage gestellt und über die kurze Vorbereitungszeit für ein Land und die dadurch aufkommenden »interkulturellen Probleme« hingewiesen. Der eigene kritische Blick auf die Arbeit der entsandten Mitarbeiter_innen wurde dabei über Aussagen wie »Ich mache nur meine Arbeit!« oder den Wunsch die Visaabteilung und auch das Land zu verlassen, aber eben seiner Pflicht nachzugehen, entkräftet. So wurde mir bei dem letzten Gespräch mit besagtem Mitarbeiter gesagt, dass er die Gespräche und Diskussionen mit mir sehr geschätzt hätte und nun nocheinmal anders über bestimmte Dinge nachdenke. Des Weiteren wurde in den Gesprächen mit entsandten Mitarbeiter_innen auch immer wieder selbst beklagt, dass man von der lokalen Bevölkerung ja niemanden kenne. So wurde ich befragt, wenn zum Beispiel Fördergelder übrig waren und man Kontakte zu lokalen Aktivist_innen brauchte. Auch nahm der Auszubildende, der »gezwungen« war alleine in einem reichen Viertel von Rabat zu wohnen, Einladungen von mir zu Feiern in meiner Wohngemeinschaft an, um mehr Leute aus der Stadt, vor allem auch aus anderen Kontexten, kennenzulernen. Dass diese Bemühungen die gesetzten Grenzen zu überschreiten jedoch zumeist bei Versuchen bleiben und Hierarchien und Distanz zur lokalen Bevölkerung trotzdem aufrechterhalten bleiben, zeigt ein Gespräch, dass ich ebenfalls mit dem Auszubildenden führte. Als wir zusammen im Café Weimar beim Abendessen sitzen und über Europas Migrationspolitik diskutieren, erklärt er mir, dass er ja früher auch so »sozialromantisch« wie ich eingestellt gewesen sei, aber mittlerweile sei er davon weggekommen, weil die Welt nun einmal anders funktioniere. »Man muss einfach Grenzen setzen.« Diesen Satz wiederholt er mehrere Male in dem Gespräch. Sonst würden alle kommen, die ganzen Flüchtlinge aus Afrika. Ein anderer Mitarbeiter des Konsulats sagte: »Es soll ja niemandem Unrecht getan werden. Man möchte eben keine Leute, die eine Gefahr für den Rechtsfrieden und die Sicherheit eines Landes sind.«
Die Aufrechterhaltung eines hegemonialen Blickregimes Die Strukturierung des Alltags – sowohl der Arbeit als auch der Freizeit – der Diplomat_innen, die sowohl durch Fremd- als auch durch Selbstführung vollzogen wird, führt dazu, dass ihnen die Lebenswelten, aus denen die Antragsteller_innen kommen, unzugänglich bleiben. Es ist kaum Wissen und Verständnis für deren vielfältige Motivationen und Hintergründe vorhanden. Vielmehr wird in den dargelegten Subjektivierungsweisen eine Gleichgültigkeit auf Seiten der Diplomat_innen gegenüber den Antragsteller_innen produziert. Der Blick auf Marokko ist situiert und das Wissen über die Bevölkerung kommt nicht durch eigene Erfahrungen und Begegnungen sowie marokkanische Perspektiven zustande, sondern vielmehr durch Erzählungen von anderen Entsandten und westlichen Medien. Es ist zudem – wie ich in der vorangegangenen Analyse gezeigt habe – durch institutionelle Vorgaben, Weisungen und Gesetze, Fortbildungen und Formulare wie die Fragebögen sowie ihre eigene Position innerhalb des Konsulats vorstrukturiert. So können vereinfachte Klassifikationen und Kategorisierungen sowie hegemoniale Diskurse und Stereotypisierun-
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gen, die Teil eines situierten bürokratischen Wissens sind, das in der Bewertung von Visumsanträgen wirkmächtig wird, überhaupt erst aufrechterhalten werden. Diese vergeschlechtlichten, rassistischen und klassenbezogenen Diskurse sind Teil eines hegemonialen Wissens, das auf die weiße, bürgerliche sowie männliche Verfasstheit staatlicher Bürokratien verweist und globale Hierarchien sowie soziale Ordnungen aufrechterhält (vgl. Messinger 2012: 209). Donna Haraway beschreibt dieses spezifische Blickregime wie folgt: »The eyes have been used to signify a perverse capacity – honed to perfection in the history of science tied to militarism, capitalism, colonialism, and male supremacy – to distance the knowing subject from everyone and everything in the interest of unfettered power.« (Haraway 1988: 581) In diesem Kapitel habe ich also gezeigt, dass die Entscheidung über Visumsanträge keine rein juridische ist, sondern vielmehr ein Verwaltungsakt, der Handlungsspielräume eröffnet. Diese Handlungsspielräume sind durch die Macht des Feldes und der darin wirkmächtigen Diskurse extrem eingeschränkt. Dieses Blickregime sowie die damit einhergehenden Kategorisierungen und Klassifikationen der Paarbeziehungen in ›schützenswerte Ehen‹ und ›Scheinehen‹ sind umkämpft und werden unterlaufen. Gutiérrez Rodríguez plädiert deshalb für einen analytischen Zugang zu Bezeichnungspraktiken, »der zugleich Fixierung, Verschiebung, Auflösung und Rekreation denkt« (Gutiérrez Rodríguez 2011: 97). In diesem Sinne werde ich im Folgenden auf die situativen Aushandlungen dieser Kategorisierungs- und Klassifikationsprozesse zwischen Akteuren der Migration und Akteuren des Regierens eingehen und zeigen wie sich darin, aber auch darüber hinaus Subjekte konstituieren. Zuvor möchte ich noch kurz die Gewordenheit des – innerhalb des Konsulats und der Ausländerbehörde so wirkmächtigen – Konstrukts der ›Scheinehe‹ genealogisch aufzeigen.
5.3 D as K onstrukt ›S cheinehe ‹ und die staatliche R egulierung binationaler E heschliessungen im 19. und 20. J ahrhundert Innerhalb des Grenzregimes gelten ›Scheinehen‹ als eine reale Gefahr für den Missbrauch des Rechts auf Schutz von Ehe und Familie. Diese werden dabei immer in Beziehung zu ›schützenswerten Ehen‹ im Sinne von ›Liebesehen‹ gesetzt, und letztere dadurch mitkonstruiert und normalisiert. María do Mar Castro Varela weist darauf hin, dass der Diskurs der ›Scheinehe‹ suggeriere, »dass es die wahre Ehe gibt, die sich vom Schein eindeutig abheben würde« (Castro Varela 1999: 36). Auch Irene Messinger kommt zu dem Schluss, dass für die Leiter der österreichischen Institutionen, in denen sie geforscht hat, ›Scheinehen‹ gesellschaftliche Realität sind, »gegen die alles in der jeweils eigenen Macht Stehende unternommen werden muss, um sie zu verhindern« (Messinger 2012: 19). Bei dem Konzept der ›Scheinehe‹ handelt es sich jedoch um ein Konstrukt, das historisch gewachsen ist, sich über die Zeit verändert hat und mit unterschiedlichen Deutungsweisen sowie Regulierungspraktiken verbunden war. Um die behördliche Problematisierung von ›Scheinehen‹ heute besser einordnen zu können, werde ich in diesem Kapitel die Entstehung dieses Konstrukts sowie die
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staatliche Regulierung binationaler Eheschließungen im 19. und 20. Jahrhundert mit Hilfe historischer Studien nachzeichnen.
5.3.1 Die Erschaffung der ›Scheinehe‹ und Heiratspolitik bis 1933 ›Scheinehe‹ meint heutzutage in Behördensprache also eine Ehe, die allein aus strategischen Gründen – wie im Falle des Grenzregimes aus aufenthaltsrechtlichen Gründen – und nicht um der ehelichen Gemeinschaft und der Ernsthaftigkeit einer Paarbeziehung willen geschlossen wurde; wenn also die Ehe zu einem ›Mittel zum Zweck‹ wird. Diese Konstruktion einer Ehe, die allein zum ›Schein‹ geschlossen wird, setzt die Vorstellung einer ›echten‹ ehelichen Gemeinschaft im Sinne einer Gefühlsgemeinschaft voraus. Dieses Konzept der ›Liebesehe‹ etablierte sich erst mit der Verbreitung der bürgerlichen Ehe im 19. Jahrhundert, deren Grundlage die ›romantische Liebe‹ sein sollte (vgl. Bethmann 2013: 19). Zuvor – in der feudalen Gesellschaft – wurde jede Ehe aus strategischen Gründen geschlossen: für die ökonomische Gemeinschaft oder den Ständeerhalt. Die Soziologin Eva Illouz weist darauf hin, dass ›romantische Liebe‹ noch bis zum 20. Jahrhundert als etwas galt, »das den Strategien sozialer Reproduktion, die üblicherweise durch die Institution der Ehe gesichert wurden, zuwiderlief« (Illouz 2003: 12). Auch heute noch werden viele Eheschließungen aus steuerrechtlichen, erbrechtlichen oder auch ökonomischen Gründen durchgeführt und nicht aufgrund des Wunsches nach ehelichem Zusammenleben. Diese mit der Ehe verknüpften Vergünstigungen haben sich mit der Entwicklung des modernen Sozialstaats sogar noch vermehrt (vgl. Eisfeld 2005: 1).54 Für solche sogenannten ›instrumentalisierten Ehen‹ hätte sich in der Rechtsprechung und der rechtswissenschaftlichen Literatur des 20. Jahrhunderts der Begriff der ›Scheinehe‹ eingebürgert, so der Rechtshistoriker Jens Eisfeld (2005: 2). Diese Bezeichnung sei jedoch irreführend, so Eisfeld: »Mit ›Scheinehe‹ assoziiert der Leser zunächst die Vorstellung einer nur scheinbaren, also gar nicht existenten Ehe, obwohl über weite Strecken des 20. Jahrhunderts die Wirksamkeit der instrumentalisierten Ehe nicht, oder wenn doch, dann nur in wenigen Erscheinungsformen in Frage gestellt wurde.« (Ebd.) Von besonderem staatlichen Interesse war jedoch schon immer die sogenannte ›Aufenthaltsehe‹, quasi eine Ehe, die allein dem Aufenthaltsrecht in einem staatlichen Territorium dient. Eisfeld wirft in seinem Buch zu ›Scheinehen im 19. und 20. Jahrhundert‹ die Frage auf, was die rechtspolitischen Motive hinter den Bemühungen waren, aufenthaltsrechtliche Ehen zu verhindern und andere Formen von ›Scheinehe‹ unbeachtet zu lassen (vgl. Eisfeld 2005: 3). Die Institution Ehe ist seit ihrer Entstehung eng mit dem Nationalstaat verbunden und diente dabei immer schon als wichtiges bevölkerungspolitisches Instrument – sowohl im Sinne polit-ökonomischer als auch national-ideologischer Interessen. 54 Eisfeld verweist auf die Möglichkeiten von »BAFÖG-Ehen, Studienplatzehen, Wohnungsehen sowie Eheschließungen, mit denen erbrechtliche, beamtenrechtliche, steuerrechtliche und strafprozessuale Vergünstigungen […] erstrebt werden« (Eisfeld 2005: 1).
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Im Reichsgesetz von 1871 hieß es in Artikel 5 über den Erwerb und den Verlust der Reichs- und Staatsangehörigkeit (RuStAG): »Die Verheirathung mit einem Deutschen begründet für die Ehefrau die Staatsangehörigkeit des Mannes.«; nach Artikel 13 verlor eine deutsche Staatsangehörige ihre Staatsangehörigkeit, wenn sie einen ›Ausländer‹ heiratete (Eisfeld 2005: 72 f.). Nach diesem Gesetz war auch kein Aufenthalt für Nicht-Staatsangehörige im Kaiserreich möglich, damit fielen Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsgenehmigung und damit auch Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsehen zu dieser Zeit zusammen. Personen ohne Staatsangehörigkeit konnten ohne gesetzliche Vorgaben durch die Landespolizeibehörde ausgewiesen werden: »Allein, es ist unrichtig und widerspricht aller Übung […], daß ein Fremder nur aus Gründen der ›Sicherheit, Ordnung und Ruhe‹ […] ausgewiesen werden könne. Eine Ausweisung ist auch aus anderen, z. B. wirtschaftlichen […] oder rassepolitischen Gründen […] möglich, aus Gründen also, auf welche die Polizei sonst […] den Zwang nie stützen dürfte«, heißt es in einem Buch über ›Das deutsche Fremdenrecht‹ von Ernst Isay aus dem Jahr 1923 (vgl. Eisfeld 2005: 74). Mit dem »Zivilehegesetz« von 1874 war die Ehe zunächst nach preußischem Landesgesetz und 1875 als Reichgesetz nicht mehr ausschließlich an die Kirche gebunden, sondern die Eheschließung wurde von nun an von staatlichen Standesämtern durchgeführt (vgl. Schmohl 2005: 5). Zwar wurde der Begriff der ›Scheinehe‹ erst im 20. Jahrhundert in den Rechtswissenschaften eingeführt und im Nationalsozialismus gesetzlich verankert, trotzdem gab es bereits 1876 in der Zeit des Inkrafttretens des Reichspersonenstandsgesetzes (RPStG) erste Diskussionen über ›Scheinehen‹, wie Jens Eisfeld aufzeigt (2005). Damals wurde mit dem RPStG ein System von Ehehindernissen »reichseinheitlich« verbindlich gemacht und beinhaltete unter anderem für die Heirat mit einer ›Ausländerin‹ den Nachweis eines polizeilichen Verehelichungszeugnisses. Dabei ging es jedoch vielmehr um ein bevölkerungspolitisches Interesse, Ehen mit armen Staatsangehörigen zu verhindern (vgl. Eisfeld 2005: 80 ff.). Auch wenn im 19. Jahrhundert und bis 1933 kaum Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsehen gemeldet wurden, gab es Debatten um Eheschließungen zwischen staatsangehörigen Männern und nicht-staatsangehörigen Frauen und die Gefahr des Missbrauchs der Institution Ehe (vgl. Eisfeld 2005: 76 f.). Auch der Historiker Christoph Lorke konstatiert eine vertiefte Auseinandersetzung mit Eheschließungen mit Ausländer_innen um die Jahrhundertwende und führt dieses gestiegene Interesse insbesondere auf die soziale und demographische Situation des Kaiserreichs zurück: Preußen wurde in den 1890er Jahren neben den Vereinigten Staaten weltweit zum zweitwichtigsten Einwanderungsland (vgl. Lorke 2017: 280). Dadurch erhöhte sich auch die Anzahl binationaler Eheschließungen, so Lorke. Dieser Umstand hatte wiederum Effekte auf das Eherecht und so wurden 1899 die diesbezüglichen landesgesetzlichen Vorschriften vereinheitlicht. Dies hatte zur Folge, dass im gesamten Reich nun ein behördliches Zeugnis vorgelegt werden musste, in dem bestätigt ist, dass der Heimatstaat des männlichen ›Ausländers‹ der Eheschließung zustimmt und die Staatsangehörigkeit an die zukünftige Frau sowie die ehelichen Kinder übertragen werde (vgl. ebd.). Lorke hebt hervor, dass diese Vorgehensweise Teil einer restriktiven
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preußischen Einbürgerungspraxis gewesen sei, die als eine Reaktion auf die steigende Zahl von Einbürgerungsgesuchen sowie neuen, grenzüberschreitenden Formen des Heiratens interpretiert werden kann. Diese Prinzipien wurden in dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 noch einmal festgeschrieben (vgl. ebd.). In diesem Gesetz wurde auch die Regelung des Erwerbs der Staatsangehörigkeit durch Eheschließung aus dem Personenstandsgesetz von 1896 übernommen und aufkommende Debatten wurden vor allem als Kritik gegen dieses Gesetz von 1913 formuliert (vgl. Eisfeld 2005: 76). So wurde die Regelung, dass Frauen durch die Heirat eines deutschen Staatsangehörigen die Staatsangehörigkeit erhielten, kritisiert, da diese »staatlichen Sicherheitsinteressen« zuwider liefen. Auch wurden Bedenken gegenüber Artikel 6 des RuStAG von 1913 geäußert. Der Staat sei dadurch »machtlos gegen das Eindringen von Frauen fremden Volkstums. Auf diesem Wege können Ausländerinnen, die sonst keine Aussichten haben, eine bestimmte StAng. zu erwerben, ohne daß der Staat es hindern könnte, die StAng. erlangen und erreichen damit, daß gegen sie die Bestimmungen gegen lästige Ausländer nicht angewendet werden können. Fälle solcher Fassadenehen, von dunklen Elementen einzig zu dem Zweck geschlossen, sich in einem bestimmten Lande halten zu können, sind anscheinend gar nicht selten.« (Ebd.: 77)
Dabei ist hervorzuheben, dass trotz dieser Kritik zu dieser Zeit, ›Scheinehen‹ kaum gemeldet und registriert oder gar verfolgt wurden. Eisfeld schreibt dazu, dass die Instrumentalisierung der Eheschließung zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vor 1933 »mehr als theoretische Möglichkeit denn als tatsächliches Ereignis« existierte (Eisfeld 2005: 77).55 Lorke beschäftigt sich mit den bürokratisch-standesamtlichen rechtlichen Schwierigkeiten binationaler Paare in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zeigt, wie der Staat bereits zu dieser Zeit regulierend auf binationale Eheschließungen einwirkte (vgl. Lorke 2017).56 Er weist darauf hin, dass die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vorangegangenen Debatten und Veröffentlichungen zum Thema den für binationale Eheschließungen zuständigen Zivilbeamten bereits »erste Hilfestellungen« lieferten (ebd.: 280). Auch hätten im Zuge der Verwissen55 Da eine Staatsangehörigkeitsehe zu dieser Zeit nur für Frauen möglich war, könnte man hier aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive danach fragen, ob damals vielleicht Bedenken geäußert wurden, aber Frauen geschlechterstereotypisierend doch nicht zugetraut wurde, eine Ehe nur aus strategischen Gründen zu schließen. Um dieser Fragestellung nachzugehen wäre mehr historisch-archivalische Forschung notwendig, die Einblicke in die subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen von Frauen im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts geben, die eine solche Ehe eingingen. 56 Er arbeitet dabei mit mikrohistorischem Material am Beispiel einer aufgrund der Unmöglichkeit der Erlangung eines Ehefähigkeitszeugnisses nie stattgefundenen Eheschließung zwischen einem deutschen Staatsangehörigen und einer tschechischen Staatsangehörigen im Jahr 1928 (vgl. Lorke 2017).
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schaftlichung dieses Themengebiets Experten den Beamten rechtliche Informationen zur Verfügung gestellt. Es wurden auch erste Handreichungen veröffentlicht, die die wichtigsten Vorschriften für andere Staaten, einen Überblick über die benötigten Unterlagen sowie Fragebögen für unterschiedliche Fälle von Eheschließungen enthielten, so Lorke (ebd.). Aus diesen Dokumenten geht auch hervor, dass die Nation dabei zentrales Element der bürokratischen Kategorisierungs- und Klassifikationspraktiken war (vgl. Lorke 2017: 280; Raphael 2014: 182). Besonders die ersten Jahre nach dem ersten Weltkrieg zeigten, so Lorke, »dass Heiraten über die nationale Grenze hinweg nicht nur ein rechtspolitisches Problem war, sondern in dieser Zeit zu einer Kernfrage staatlicher Souveränität avancierte« (Lorke 2017: 282). Er zeigt (am Beispiel eines Dokuments des Justizministers von 1921), wie sich nationalstaatliche Ordnungsvorstellungen entlang von Geschlecht, Religion und Ethnizität in die behördliche Praxis des Verheiratens einschrieben und es dadurch zu Hierarchisierungen von Heiratskandidat_innen kam. Das zentrale Instrument der Regulierung war zu dieser Zeit das Ehefähigkeitzeugnis. So wurden muslimisch-christliche Ehen generell abgelehnt, sowie französischen Soldaten (nord-)afrikanischer Herkunft die Bewilligung verwehrt. Schweizer_innen oder Niederländer_innen galten dagegen als besonders »einbürgerungswürdig« (ebd.). Lorke resümiert in seinen Überlegungen zur »Verrechtlichung des Binationalen«, dass die Problematisierung binationaler Eheschließungen bis zum Ende der Weimarer Republik Gegenstand (standesamts-)politischer Debatten geblieben sei (Lorke 2017: 287).57
5.3.2 Schein oder Schutz? Die strafrechtliche Verfolgung ab 1933 Als Wendepunkt im rechtlichen Umgang mit ›Scheinehen‹ heben Historiker_innen das Jahr 1933 hervor (vgl. Eisfeld 2005; Lorke 2017). Zwar galt nach wie vor die Möglichkeit einer binationalen Eheschließung bei Vorlage eines Ehefähigkeitszeugnisses, jedoch wurde diese mit dem »Gesetz über den Widerruf von Eheschließungen« vom 14. Juli 1933 an die nationalsozialistische Rassen- und Bevölkerungspolitik angepasst und für bestimmte Gruppen erheblich eingeschränkt (Lorke 2017: 288). Zunehmend seien von den Landesregierungen und Standesämtern »rassepolitische Gesichtspunkte« angeführt worden, um Eheschließungen mit »fremdrassigen Ausländern« zu verhindern, so Lorke (ebd.). 1935 wurde schließlich mit dem ›Reichsbürgergesetz‹ die ›Reichsbürgerschaft‹ eingeführt, die nur noch ›Deutschblütigen‹ offen stand. Mit dem »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« wurden explizit Eheschließungen zwischen »Staatsangehörigen deutschen und artverwandten Blutes« und »Juden/Jüdinnen« und anderen rassifizierten Gruppen, die als »Mischehen« 57 Lorke hat auch recherchiert, dass 1930 eine zentrale Beratungsstelle für Zivilstands-Beamte eingerichtet wurde, »die insbesondere bei Fragen internationalen (Ehe-)Rechts angefragt werden sollte«, sowie Hilfestellungen durch verschiedene Merkblätter gegeben wurden (Lorke 2017: 287). Auch hier lassen sich bereits Parallelen zu den Fortbildungen und Weisungen finden, die heute Konsulatsmitarbeiter_innen zur Verfügung stehen.
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bezeichnet wurden, verboten (Messinger 2012: 40). 1938 wurde mit dem Ehegesetz (EheG) der Ehenichtigkeitsgrund und damit auch die ›Scheinehe‹ noch einmal gesetzlich verankert. Darin heißt es: »Eine Ehe ist nichtig, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend zu dem Zweck geschlossen ist, der Frau die Führung des Familiennamens des Mannes oder den Erwerb der Staatsangehörigkeit des Mannes zu ermöglichen, ohne daß die eheliche Lebensgemeinschaft begründet werden soll.« (Eisfeld 2005: 149) Lorke schreibt, dass davon auszugehen sei, dass die neuen Vorgaben und Maßnahmen ab 1933 bei den zuständigen Beamten »auf eine gewisse Gegenliebe« gestoßen seien: »Denn ungeachtet aller Vermessungs-, Verrechtlichungs- und Definitionsversuche blieben – keineswegs per se alle, aber doch bestimmte Konstellationen – binationale Ehen ein im (standes-)rechtlich-administrativen Kontext nur schwer zu fassendes Phänomen.« (Lorke 2017: 288 f.) Eisfeld weist auch darauf hin, dass es gerade der »unbestimmte Rechtsbegriff der ehelichen Gemeinschaft« gewesen sei, der es den Nationalsozialisten ermöglichte diesen gemäß ihrer Rassenideologie auszulegen (Eisfeld 2005: 129). Zu dieser Zeit, vor allem mit der Verfolgung jüdischer und anderer Menschen, die nun rassifiziert und als ›minderwertig‹ markiert wurden, wurden Eheschließungen mit Staatsangehörigen im Ausland überlebenswichtig. Auch bei diesen Ehen handelte es sich um ›Scheinehen‹, in dem Sinne, dass sie nur auf dem Papier geschlossen wurden und allein dem Aufenthalt beziehungsweise dem Weg ins Exil dienten, jedoch werden diese rückblickend als ›Schutzehen‹ gesehen und als eine Form der Hilfeleistung positiv bewertet, wie Messinger aufzeigt (vgl. Messinger 2012: 44). Es waren fast nur Frauen, die diesen Weg der Flucht nutzen konnten, da auch in anderen Staaten die patriarchale Logik galt, dass nur der Mann seine Staatsangehörigkeit sowie das Aufenthaltsrecht durch eine Eheschließung an die Frau weitergeben konnte (vgl. ebd.). Diese diskursive Unterscheidung in ›Schein‑‹ und ›Schutzehen‹ weist ebenfalls daraufhin, wie das Konstrukt ›Scheinehe‹ als ein bevölkerungspolitisches Instrument eingesetzt wurde, um je nach Interessen bestimmte Politiken durchzusetzen und diese zu legitimieren.58 Je nach Staatsangehörigkeit und zeithistorischem Kontext wurden diese ›Aufenthaltsehen‹ positiv gewertet oder aber strafrechtlich verfolgt. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde von Seiten der Alliierten auch das nationalsozialistische Ehegesetz von 1938 diskutiert und reformiert: Nun war es nach Paragraph 19 nur noch die ›Namensehe‹, die zu einem Ehenichtigkeitsgrund erklärt werden konnte. Die Staatsangehörigkeitsehe wurde dagegen gestrichen (vgl. Eisfeld 2005: 156). Eisfeld zeigt, dass es bis 1976 kaum Interesse an der Verfolgung von ›Scheinehen‹ gab und vermutet dahinter, dass dieser Paragraph vielmehr als »störende[r] Fremdkörper im Eherecht« gesehen wurde (ebd.). Diese Haltung muss auch in den Kontext 58 In diese Logik fällt auch die Bewertung der Praxis des »Rausheiratens« aus der DDR durch Eheschließungen mit Menschen aus Westdeutschland oder anderen westlichen Ländern, die eine wichtige Strategie für jene darstellte, die die DDR verlassen wollten. Aus Westdeutscher Perspektive waren auch diese Ehen zu dieser Zeit legitim (vgl. Kücük 2005: 10).
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der 1960er Jahre gesetzt werden, die als ›Golden Age of Marriage‹ bezeichnet werden, da besonders viele Paare heirateten und die Ehe als die ›richtige‹ Lebensform angesehen wurde (vgl. Messinger 2012: 59). Erst Ende der 1970er und besonders in den 1980er Jahren rückte das Thema ›Scheinehe‹ wieder in den Fokus migrationspolitischer Debatten. Messinger ordnet dieses erneute Interesse als Folge des Anwerbestopps von 1973 und der daraus resultierenden eklatanten Zunahme des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ ein sowie zusätzlichen neuen Migrationsbewegungen aufgrund von »politischen fluchtauslösenden Veränderungen« in Europa, die mit einem Anstieg der Asylanträge in den 1980er Jahren einherging (Messinger 2012: 109). Da mittlerweile sowohl die ›Aufenthalts-‹ als auch die ›Namensehe‹ als Ehenichtigkeitsgrund offiziell aufgehoben waren, wirkten die Zivilgerichte in den 1980er Jahren ›Aufenthaltsehen‹ nun durch ein »ungeschriebenes Eheverbot« entgegen, »aus dem die Verpflichtung der Standesbeamten abgeleitet wurde, bei Vorliegen dieser ›Scheinehevariante‹ seine Mitwirkung bei der Eheschließung zu verweigern« (Eisfeld 2005: 211). Es war schließlich in den 1990er Jahren, als Migration zunehmend als ›Sicherheitsproblem‹ konstruiert wurde und es in Deutschland 1992 mit der Verschärfung des Asylgesetzes zu massiven Einschränkungen und Repressionen gegenüber Migrant_innen kam, als auch die ›Scheinehe‹ mit dem Eheschließungsrechtsgesetz (EheSchlRG) von 1998 wieder in der Bundesrepublik gesetzlich verankert wurde (vgl. Eisfeld 2005: 214). Messinger sieht in diesen Entwicklungen auch die These der Autonomie der Migration bestätigt. So sei der restriktive Umgang mit ›Scheinehen‹ auch immer eine Reaktion auf Bewegungen der Migration sowie der Aneignung der Institution Ehe zu einer Aufenthaltserlaubnis gewesen. Gleichzeitig sei es dennoch nicht möglich gewesen diese Form des Zuzugs zu verhindern, »denn aus diesen oft nur kurzfristig erfolgreichen Versuchen der Scheineheverhinderung resultierten neue Umgehungsstrategien seitens der Einwanderungswilligen« (Messinger 2012: 111). So wurden ›Schutzehen‹ auch gerade in den 1990er Jahren mit der Verschärfung des Asylgesetzes eine gängige (aktivistische) Praxis, um Menschen, die von Abschiebung bedroht sind, durch eine Eheschließung zu schützen, und sind es bis heute. Um diesen subversiven Umgang mit ›Aufenthaltsehen‹ zu unterstützen, veröffentlichte zum Beispiel der antirassistische Zusammenschluss Kanak Attack vor einigen Jahren den ›kleinen Heirats-Ratgeber‹ mit dem Titel »Welche Farbe hat deine Zahnbürste?«.59 Der kurze Abriss über die Genealogie des Konstrukts ›Scheinehe‹ und der Regulation binationaler Eheschließungen hat nicht nur gezeigt, wie die diskursive Herstellung der ›Scheinehe‹ bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht und zu einem wichtigen bevölkerungspolitischen Instrument von Nationalstaaten wurde, sondern auch, dass das Konstrukt der ›Scheinehe‹ dabei auch immer eine Blackbox darstellte, die je nach zeithistorischem Kontext und politischen Interessen gefüllt wurde. Dabei spielten 59 http://www.kanak-attak.de/ka/infopool/zahn.html, 26. August 2016. Siehe auch die Publikation »Protection Marriage« der Webseite www.schutzehe.de: http://www.schutzehe. com/data/eng_data/protection_marriage.pdf, 26. August 2016.
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aufgrund der ungeschriebenen Definitionen die Standesbeamt_innen schon immer eine zentrale Rolle in der alltagspraktischen Umsetzung und Herstellung dieser Politiken um ›Scheinehen‹. Dabei wurden binationale Eheschließungen ebenfalls entlang ethnisierter, vergeschlechtlichter und klassenspezifischer Kriterien selektiert und reguliert. Diese behördliche Praxis ging mit einer Wissensproduktion einher, deren Diskurse teilweise bis heute wirkmächtig sind (z. B. Vorstellung von christlich-muslimischen Ehen als unvereinbar). Der kurze geschichtliche Abriss zeigt auch, dass die im Laufe der Zeit hergestellten Politiken und Kontrollinstanzen im Zusammenhang mit ›Scheinehen‹ auch immer eine Reaktion auf Bewegungen der Migration waren. Geschlecht spielte dabei eine zentrale Rolle, so lagen den Aufenthalts- und Staatsbürgerschaftsehen schon immer eine patriarchale Logik zu Grunde: nur der Mann konnte die Staatsbürgerschaft an die Frau weitergeben und ihr einen Aufenthalt ermöglichen. Diese Regelung war in Deutschland – und auch anderen europäischen Staaten – bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gültig: Alle Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit, die vor dem 23. Mai 1949 einen »ausländischen« Mann geheiratet hatten, verloren automatisch ihre Staatsangehörigkeit, sogar im Falle eintretender Staatenlosigkeit. Sie hatten jedoch das Recht wieder eingebürgert zu werden. Zwischen 23. Mai 1949 und 31. März 1953 verloren Frauen nur dann ihre Staatsangehörigkeit, wenn sie durch die Eheschließung nicht staatenlos wurden. Erst seit 1953 ist die Heirat eines Mannes mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik kein Grund mehr die deutsche zu verlieren (vgl. Bundesverwaltungsgericht 2006). In den Niederlanden galt diese Regelung bis in die 1960er Jahre (vgl. de Hart 2007) und in Österreich bis 1983 (vgl. Messinger 2012: 213). Das Bild der ›nachziehenden, abhängigen Ehefrau‹, die die Identität des Ehemanns annimmt, das bis heute im Diskurs um Migration durch Heirat wirkmächtig ist, hat also eine lange Geschichte und war über Jahrzehnte sogar rechtlich verankert.
5.4 S ituative A ushandlungen : die H andlungsmacht der A ntragsteller _ innen In diesem Kapitel werde ich entlang situativer Aushandlungen zwischen Antragsteller_innen und Mitarbeiter_innen des Konsulats die Geschichte zweier Paare erzählen, die verdächtigt wurden, eine ›Scheinehe‹ eingegangen zu haben. Ein Ziel ist es, die Klassifikationen und Kategorisierungen, die im Konsulat wirkmächtig sind, durch das Aufzeigen der Komplexität und Heterogenität der Hintergründe und Erfahrungen der Antragsteller_innen zu verkomplizieren und aufzubrechen. Ich werde zeigen, wie auch Antragsteller_innen Handlungsmacht ausüben, indem sie sich zum einen diese Klassifikationen und Kategorisierungen aneignen und nutzen und sich diesen zum anderen durch unterschiedliche Taktiken immer wieder entziehen. In der Beschreibung der situativen Aushandlungen werde ich auch herausarbeiten, wie die Antragsteller_innen mit Anrufungs- und Bezeichnungspraktiken umgehen, vor allem auch über die Situationen in Behörden hinaus in ihren Alltagen. Ich werde diese
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Analyse am Beispiel von Yasin und Mona und anschließend von Nour und Burkhard durchführen: Beide Paare entsprechen aufgrund bestimmter Differenzkategorien nicht dem normativen Eheideal und wurden verdächtigt, eine ›Scheinehe‹ eingegangen zu haben.
5.4.1 Yasin und Mona: »Warum das alles?« Als Yasin im Frühjahr 2014 seinen Termin im deutschen Konsulat in Rabat wahrnimmt, ist er unsicher, weil er weiß, dass es bei der Erteilung des Visums zu Probleme kommen könnte. Er möchte ein Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ beantragen. Seine Frau, mit der er nun seit ein paar Monaten verheiratet ist, lebt in einer kleinen Stadt in Nordrheinwestfalen. Er hat eine Mappe mit Dokumenten dabei und hatte sich über das Onlineterminvergabesystem des Konsulats einen Termin reserviert.60 Als er an den Schalter kommt, wird er mit »Salam aleikum« begrüßt. Anschließend werden ihm Fragen auf Deutsch gestellt: »Wie ist Ihr Name? Wie alt sind Sie? Wie heißt Ihre Frau? Wo wohnt Ihre Frau?« Die Sachbearbeiterin am Schalter testet noch einmal, ob er tatsächlich Deutsch auf Niveau A1 beherrscht. Er legt sein Zeugnis des Goethe-Instituts vor, wo er die Prüfung abgelegt hat. Anschließend spricht die Sachbearbeiterin auf Arabisch weiter. Ihre erste Frage ist: »Sie sind schon verheiratet? Aber sie sind noch jung.« Für Yasin ist diese Anmerkung bereits zu viel. Als er mir später von der Situation berichtet, sagt er: »Das ist mein Problem, nicht ihres.« Am Schalter folgt die obligatorische Frage: »Wie haben Sie sich kennengelernt?« Er erzählt die ganze Geschichte: Dass Mona 2012 in Marokko war und als Freiwillige Französischunterricht für Kinder in seinem Stadtviertel in Casablanca gegeben hat, unter anderem auch für seine Schwester. Dass sie Mona irgendwann zum Fastenbrechen mit nach Hause gebracht hat. Dass sie damals noch nicht zusammen waren und auch wenig miteinander redeten, aber anschließend über Facebook Kontakt hielten. Dass sie sich im darauffolgenden Jahr etwas zum Valentinstag schenkten. Dass Mona und ihre Schwester dann im Frühjahr mit ihm gemeinsam nach Marrakesch und Ouarzazate gereist und sie am 26. März zusammengekommen sind. Die Kennenlerngeschichte eines Paares ist symbolisch aufgeladen und mit normativen Vorstellungen von ›romantischer Liebe‹ verknüpft. Die Aufforderung am Schalter, diese zu erzählen, bedeutet auch ›romantische Liebe‹ präsentieren zu müssen, was Yasin mit seiner Narration auch tut. Daraufhin will die Sachbearbeiterin wissen, wie oft sie sich seitdem gesehen hätten. Yasin ist bestens vorbereitet: Er hat eine Kopie von Monas Reisepass mit den Ein- und Ausreise-Stempeln dabei. Außerdem hat Mona ihm eine Tabelle geschickt, wo sie genau aufgeschlüsselt hat, wann sie in Marokko war und was sie in dieser Zeit gemacht haben. Zehn Mal kam Mona seit 2012 nach Marokko. Sie hatte sich sowieso 60 Bei den Besuchen von Yasin und Nour im Konsulat sowie von Mona in der Ausländerbehörde war ich nicht selbst dabei, sondern rekonstruiere diese auf der Grundlage ihrer Berichte sowie meiner eigenen Beobachtungen zu anderen Zeitpunkten im Konsulat.
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eine Auszeit von ihrem Job genommen, ein Sabbatical. Das erste Mal für ihre Freiwilligenarbeit in Casablanca, später noch einmal für einen Arabischkurs und dann, nachdem sie zusammengekommen waren, für gemeinsame Reisen, ihre Verlobung und die Heirat. Eigentlich wollte Yasin die Tabelle noch ausdrucken, hatte es aber nicht mehr geschafft. Die Sachbearbeiterin gibt sich mit der digitalen Version auf seinem Smartphone zufrieden und sagt, dass die Beantwortung der Fragen mündlich ausreiche. Als Yasin mir die Tabelle später auf seinem Smartphone zeigt, sagt er, dass Mona wie immer alles gut vorbereitet habe. Anschließend wird er von der Sachbearbeiterin am Schalter gefragt, wie sie miteinander kommunizierten. Er berichtet, dass sie auf Französisch miteinander sprechen, dass sie am Anfang immer auf dem Telefon im Haus seiner Familie angerufen hat, weil sie damals noch kein Internet hatten, er sich nicht mit Computern auskannte und er auch nicht wusste, wie man Skype installiert. Mittlerweile hätten sie einen Internetanschluss und er ein Smartphone und sie kommunizierten vor allem über Skype und Whatsapp. Danach sei eine Frage gekommen, die er schlimm fand, wie er später in seinem Bericht vom Besuch im Konsulat betont. Die Sachbearbeiterin fragt ihn, ob er auch eine marokkanische Frau im Alter von Mona geheiratet hätte. »Warum nicht?«, empört er sich danach im Gespräch mit mir: »Es bin nicht ich, die Mona ausgewählt hat oder Mona, die mich ausgewählt hat. Es ist Gott, der mir Mona geschickt hat.« Anschließend ist das Interview vorbei und er muss noch seinen Fingerabdruck abgeben. Er vermutet, dass sie so kontrollieren könnten, ob er schon einmal kriminell gewesen sei. Dabei hätte er sogar ein beglaubigtes Führungszeugnis dabei gehabt, das jedoch keiner sehen wollte. Bevor er den Schalter verlässt, bekommt er noch einen Stempel in den Pass: »Demandé le visa le 19 janvier 2014«. Er erhalte in den nächsten Wochen einen Anruf oder einen Brief, sagt die Sachbearbeiterin zum Abschied. Ein paar Tage später sitzen wir im Wohnzimmer in der Wohnung seiner Familie in einem quartier populaire in Casablanca. Er zeigt mir die Seite in seinem Pass mit dem Schriftzug. Er hoffe sehr, dass bald auf der nächsten Seite der Sticker für das Visum nach Deutschland kleben werde. Doch er ist optimistisch: »Moi, j’ai dit la vérité, Mona a dit la vérité. Comme ça, je pense pas qu’il y a un problème.« – »Ich, ich habe die Wahrheit gesagt, Mona hat die Wahrheit gesagt. Aus diesem Grund denke ich nicht, dass es ein Problem geben wird.« Vor dem Termin im Konsulat hatte er Sorge, dass es Probleme geben werde, weil Mona elf Jahre älter ist als er, sie ist 32, er ist 21. Aber er habe schon unterschiedliche Personen gefragt und alle hätten gesagt, dass das kein Problem im Konsulat sei. Sein Deutschlehrer habe gemeint, dass Mona doch keine 50 oder 60 sei, sondern noch jung. In Marokko würden auch immer alle denken, dass Mona 25 oder 26 sei, sagt Yasin. Auch habe sie einen Job in Deutschland und könne alles vorweisen, was man brauche. Von einem anderen Mann, den er im Konsulat getroffen hat, und der drei Mal durch die A1‑Prüfung gefallen war, hat er gehört, dass es ein Interview gebe, wo sie nach der Schuhgröße und dem Lieblingsobst fragten. Das wisse er sogar von Mona: 41 und Erdbeeren. Aber er hofft trotzdem, dass sie nicht so ein Interview haben werden. Er schaut mich an und fragt: »Pourquoi tout
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ça?« – »Warum das alles?«. Früher sei alles viel einfacher gewesen … 2003, 2004, sagt er. Man habe einfach die Papiere fertig gemacht, das Visum beantragt und fertig.
Der Bescheid: unter Verdacht Yasin war zu optimistisch. Zwei Wochen später erhält Mona in Deutschland einen Brief von der Ausländerbehörde, wo sie gebeten wird, zu einem Interview vorbeizukommen. Sie solle Nachweise über ausreichend Wohnraum und Sicherung des Lebensunterhalts sowie gegebenenfalls Fotos von ihren gemeinsam verbrachten Aufenthalten in Marokko und Nachweise über regelmäßigen Skype-Kontakt vorlegen. Außerdem solle sie die folgenden Fragen schriftlich beantworten: Wie haben Sie sich kennengelernt? War eine dritte Person hieran beteiligt? Wie oft haben Sie ihren Ehemann bisher in Marokko besucht? Passstempel, Flugtickets vorhanden? Wie halten Sie momentan Ihren Kontakt aufrecht? Vor dem Hintergrund der Logiken, nach denen im Konsulat Paare kategorisiert und klassifiziert werden, wird deutlich, dass Yasin und Mona verdächtigt werden, eine ›Scheinehe‹ eingegangen zu sein: Yasin ist elf Jahre jünger als seine Frau, sie hat studiert und Karriere gemacht, während er die Schule und eine Ausbildung zum Techniker abgebrochen hat. Hinzu kommt, dass sie ein binationales Paar sind, also bei ihr aufgrund ihres Namens als auch ihrer Staatsbürgerschaft nicht auf marokkanische Herkunft geschlossen werden kann. Es wird also die Ernsthaftigkeit sowie die Dauerhaftigkeit ihrer Beziehung in Frage gestellt und unterstellt, dass sie die Ehe nur für das Aufenthaltsrecht eingegangen seien. Wobei, wie ich im Folgenden aufzeigen werde, von einer ›einseitigen Scheinehe‹ ausgegangen wird und Mona als die ›Betrogene‹ adressiert wird. Nun wird ihre Beziehung weiteren Überprüfungen unterzogen. Yasin war bereits vor seinem Besuch im Konsulat mit dem Verdacht konfrontiert, diese Ehe nur für das Aufenthaltsrecht einzugehen und rechtfertigte sich nicht nur mir als Forscherin gegenüber immer wieder (ohne dass ich mich kritisch gegenüber seiner Beziehung äußerte), sondern zum Beispiel auch in seinem privaten Umfeld oder im Goethe-Institut. In Marokko sei der Altersunterschied ein großes Problem, erzählt er. Aber er habe gehofft, dass das in Europa nicht so sei. Seine Gegenargumente dazu waren, dass der Prophet Mohammed doch auch eine 20 Jahre ältere Frau gehabt hätte, Khadija, und dass seine Frau sowieso immer jünger geschätzt werde. Er zieht eine religiöse Begründung als Rechtfertigung heran – genauso wie im Konsulat, als er Gott für ihre Begegnung verantwortlich macht – und verweist auf Monas jüngeres Aussehen, wobei er die Kategorie Alter von dem tatsächlichen Geburtsdatum damit ablöst. Seine Reaktion auf die Anrufungen und Bezeichnungen ist die Hervorhebung seiner religiösen Überzeugung sowie die Relativierung des Altersunterschieds. Früher habe er tatsächlich den Traum gehabt, nach Europa zu gehen, erinnert er sich im Gespräch mit mir. Er habe dort einen Cousin, der ohne Papiere über Libyen nach Italien eingereist ist. Er weiß noch, dass seine Mutter damals ihren ganzen Schmuck verkauft habe, um ihn zu unterstützen. Nach seiner Abreise habe sein Cousin jeden Tag angerufen, dass sie noch am Strand in Libyen seien und kein Boot fänden. Dann sei er irgendwann übergesetzt und erst einmal in Italien untergetaucht.
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Dort habe er eine Italienerin kennengelernt und geheiratet, erzählt mir Yasin. So konnte er auch Papiere bekommen. Mittlerweile habe er einen Sohn mit ihr, sie lebten aber getrennt. Sein Cousin habe ihm sogar einmal angeboten, die Schwester von seiner Frau zu heiraten, um auch nach Europa zu kommen. Doch er habe abgelehnt. Er hat noch drei kleine Geschwister, zwei Brüder und eine Schwester. Die wollte er damals nicht zurücklassen. Außerdem hatte er festgestellt, dass alle, die nach Europa ausgewandert seien, verändert waren, als sie zurückkamen. Sie würden denken, sie seien etwas Besseres, weil sie in Europa waren. Das wollte er nicht. In Europa würden alle denken, dass marokkanische Männer nur wegen der Papiere mit einer europäischen Frau zusammen seien. Aber das stimme nicht, betont er im Gespräch mit mir. Das gebe es, aber das sei nicht die Mehrheit. Das sei wie mit Fischdosen, sagt er: Wenn du die erste öffnest und der Fisch ist schlecht, isst du die anderen auch nicht mehr. Aber das stimme nicht, betont er noch einmal. Im Konsulat ist Yasin mit der Unterstellung konfrontiert, er sei ein ›Betrüger‹, der nur mit seiner Frau zusammen sei, um nach Deutschland einzureisen. Sein Umgang damit ist zu zeigen, dass er eigentlich gar nicht nach Europa gehen wollte. Dieser Narration verleiht er Nachdruck, indem er sich von seinem Cousin abgrenzt sowie betont, dass er schon einmal die Chance hatte zu gehen und geblieben ist. Jetzt wo er mit Mona zusammen ist, sei sein Traum in Deutschland erst einmal die B1-Prüfung zu bestehen und anschließend eine Ausbildung zum Techniker zu machen und zu arbeiten. Er möchte auch vor Monas Familie ein positives Bild abgeben und nicht nur im Haus sein und schlafen. Monas Mutter sei schon gestorben. Ihre Schwester ist verheiratet. Auch ihre Familie habe am Anfang Angst gehabt, dass er nur wegen der Papiere mit Mona zusammen sei, erzählt er. Monas Großmutter habe sie gewarnt und gesagt, dass er sich bestimmt eine junge Marokkanerin suchen werde, wenn er erst einmal in Deutschland sei oder dass er ihre Kinder einmal entführen werde. Aber ihre Schwester hat er bei ihrer gemeinsamen Reise schon kennengelernt und den Vater später über Skype, sie würden das nicht denken. Mona und er hätten auch zuerst die Idee gehabt, zusammen in Marokko zu bleiben, sie habe sogar schon ein Vorstellungsgespräch gehabt. Aber sie habe festgestellt, dass sie nicht in Casablanca leben könne: zu viel Lärm, zu viel Verkehr. Sein Wunsch in Deutschland weiter Deutsch zu lernen und zu arbeiten ist auch ein Gegenentwurf zu seinem Leben in Marokko. Er möchte auf keinen Fall der Vorstellung eines ›gescheiterten Mannes‹ entsprechen, der seiner Rolle nicht gerecht wird und weder über Bildung noch über ökonomische Ressourcen verfügt. Nach dem Schreiben der Ausländerbehörde ist Yasin beunruhigt und macht sich Sorgen, dass es mit dem Visum nicht klappen werde. Dass die Behörde Nachweise über ihre Kommunikation verlangt, ist ihm besonders unangenehm.
Termin in der Ausländerbehörde: auf der Anklagebank Nachdem Mona, Yasins Frau, das Schreiben der Ausländerbehörde erhalten hat, geht sie ein paar Tage später mit den gesamten Unterlagen und Fotos zur Behörde. Sie hat auch wieder die Tabelle mit der Auflistung der Aufenthalte dabei. In einer normalen
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Beziehung wisse man doch auch nicht, wann genau man Zeit miteinander verbracht habe, sagt sie zu mir, als wir einen Tag nach ihrem Besuch in der Ausländerbehörde skypen. Sie wisse nicht auswendig, wann sie letztes Jahr im März genau in Marokko war. Deswegen habe sie diese Tabelle vorbereitet, die sie auch schon Yasin mit ins Konsulat gegeben hat. Erst wollen sie sie wieder wegschicken in der Ausländerbehörde, weil sie keinen Termin hat, doch sie besteht darauf, sofort jemanden zu sprechen. Aufgrund der Kurzfristigkeit des Termins wird sie nicht in ein für diese Gespräche vorgesehenes Zimmer geführt, sondern in ein Großraumbüro, wo viele Sachbearbeiter_innen sitzen. In diesem Fall macht ihr das jedoch nichts aus: »Das ist ja eine wahre Geschichte, die erzähle ich jedem«, sagt sie. Bevor das Interview beginnt, muss Mona ein Formular ausfüllen mit persönlichen Daten und die Frage beantworten, in welchem Verhältnis sie zum Antragsteller stehe. Die zuständige Sachbearbeiterin erklärt ihr, dass man die angeforderten Unterlagen eigentlich per Post einreichen könne und dass Leute nur vorgeladen würden, wenn es einen Verdacht gebe. Sie sagt ihr auch offen, dass es unterschiedliche »Alarmsignale« gebe und dass es bei ihnen der Altersunterschied sei. Mona versteht nicht, warum ein Altersunterschied so ein Problem sei. Sie habe eine Freundin in ihrem Alter, die immer nur mit 50‑jährigen Männern zusammen sei und da sage niemand etwas. Wenn der Mann jedoch jünger sei, sei das gleich verdächtig. Sie habe sogar das Gefühl, dass Yasin emotional viel reifer sei als sie. Sie hänge immer noch in diesem Studentenleben fest, während er schon an Familie und Kinderkriegen denke, erklärt sie in einem unserer Interviews. Die Sachbearbeiterin eröffnet das Gespräch mit der Frage, ob sie sich denn ganz sicher sei mit der Heirat. Sie hätten hier immer wieder Frauen sitzen, die das durchziehen und dann ein halbes Jahr später wieder kämen und weinten. Mona fühlt sich während dem Gespräch »schrecklich«: »Es wird einem ja quasi unterstellt, dass man dumm ist und auf den Mann reinfällt und Yasin wird unterstellt, dass er das nur für die Papiere macht. Man fühlt sich wie auf einer Anklagebank«, resümiert sie rückblickend. Sie könne jetzt verstehen, wie man sich vor Gericht fühle, weil sie bei jedem Wort Angst habe, dass das gegen sie verwendet werden könne. Sie legt in der Ausländerbehörde auch einen Stapel Fotos von ihren gemeinsamen Aufenthalten in Marokko vor. Die Sachbearbeiterin bemängelt, dass auf den Fotos teilweise kein Entwicklungsdatum stünde, was ein Problem darstelle, da sie dann gefälscht sein könnten. Auch über diese Unterstellung ist Mona entsetzt und entgegnet, dass sie doch nicht alle zwei Monate nach Marokko fahre, um eine Ehe zu fälschen. Auch den Nachweis darüber, dass sie regelmäßig kommunizierten, hat sie dabei. Da sie Probleme hatte, das Skype-Protokoll auszudrucken, hat sie einfach die Whatsapp-Nachrichten der letzten zwei Monate an die Sachbearbeiterin per Mail weitergeleitet. Im Nachhinein hat sie ein schlechtes Gefühl dabei und fragt mich, ob das denn legal sei. Die Sachbearbeiterin fragt weiter, warum sie so schnell geheiratet hätten. »Da wird total die deutsche Schablone drauf gelegt«, sagt Mona später zu mir. Sie heirateten nach eineinhalb Jahren, aber das sei in Marokko eine lange Zeit. Man sei dort
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nicht wie in Deutschland 7 oder 8 Jahre zusammen, bevor man heirate. Eineinhalb Jahre könne man als kurze oder lange Zeit interpretieren, das hänge von der Person ab. Das sei für sie schlimm gewesen, denn man sei so »abhängig« in dieser Situation. Was Yasin denn in Deutschland machen wolle, fragt die Sachbearbeiterin weiter. Mona antwortet, dass er erst einmal Deutsch weiterlernen müsse und dann wolle er eine Ausbildung machen. Dass sie denke, dass es dahingehend gut sei, dass er noch jung ist, da er sich leichter tue Arbeit zu finden. Yasin sei relativ offen, was er für eine Ausbildung machen werde. Hier gibt Mona vor, einen genauen Plan zu haben, was Yasin in Deutschland machen wird und dass er sich anstrengen werde, Deutsch zu lernen und zu arbeiten. Dabei greift sie auch die Kategorie Alter auf und wendet diese positiv in dem Sinne, dass das junge Alter doch die Chancen auf eine Ausbildung verbessere. Die Sachbearbeiterin teilt ihr am Ende mit, dass sie jetzt alles an das Konsulat weiterleiteten und sie auch die Bilder noch einscannen müssten. Es könne noch bis April dauern, bis sie Bescheid bekämen, weil jetzt erst einmal Karneval sei. Aber sie könne im März mal nachfragen, wie die Tendenz sei. Mona lässt einfach alle Unterlagen dort und geht. Sie ist »fix und fertig«, wie sie betont. Als sie Yasin danach anruft und ihm von dem Termin erzählt, ist er pessimistisch und verzweifelt.
Das Spiel mit Normen und Bildern Yasin und Mona irritieren mit ihrer Beziehung, weil sie auf den ersten Blick nicht in normative Vorstellungen von einer Paarbeziehung passen, die einer asymmetrischen Geschlechterhierarchie im Sinne der Überlegenheit des Mannes folgt. Sie werden deshalb verdächtigt, diese Ehe nur zwecks des Aufenthaltsrechts für Yasin eingegangen zu sein und dass die Beziehung nicht auf Dauer angelegt sei. Während des Visumsverfahrens werden sie immer wieder damit konfrontiert, dass sie nicht ›normal‹ sind und es wird der Versuch unternommen, sie zu überführen beziehungsweise ›zur Vernunft‹ zu bringen. Dabei werden bestimmte Kategorisierungen und Anrufungen ins Spiel gebracht. Beide kämpfen mit diesen Anrufungen und Stigmatisierungen und verhalten sich unterschiedlich dazu beziehungsweise eignen sich diese auch an und deuten sie um, sowohl in den Aushandlungen in den Behörden als auch für sich. Für Yasin ist es sowieso schon schwierig, normative Vorstellungen von Männlichkeit in seiner Beziehung mit Mona nicht erfüllen zu können und kämpft mit einem Gefühl von Unterlegenheit und Abhängigkeit. Die Organisation der Dokumente für die Beantragung des Visums sei sehr teuer. Yasin kenne sich genau aus mit der Organisation der Unterlagen, da er sich darum in Marokko kümmert. Er erzählt, dass Mona und er immer sagen würden: »Rien est gratuit.« – »Nichts ist umsonst.« Und Mona im Scherz gesagt habe: »J’ai pris un homme cher.« – »Ich habe mir einen teuren Mann ausgesucht.« Doch für ihn sei es schwierig, dass sie alles bezahle. Er würde ihr gerne etwas zurückgeben, kann er aber gerade nicht. Im Moment habe er keine Arbeit und seinen Vater könne er nicht einfach fragen. Aber sie hätten Glück, seine Familie sei nicht arm, aber auch nicht reich. Sie hätten jeden Tag gutes Essen. Sein Vater verdiene vielleicht um die 100 bis 150 Dirhams
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am Tag und sei dafür von morgens bis abends unterwegs. Er ist Taxifahrer. Seine Schwester geht auf eine private Schule, die bezahlt werden müsse und bald müssten sie aus der Wohnung ausziehen, weil sein Onkel das Haus gekauft hat und sie ausgemacht haben, dass sie nach zwei Jahren gingen. Sie werden in ein Apartment circa 20 Kilometer von Casablanca entfernt ziehen. Es sei ungefähr genauso groß wie ihre jetzige Wohnung, zwei Zimmer und eine kleine Küche, aber mit Dusche und Badezimmer. 20 Jahre haben sie in diesem Viertel gelebt. Sein Vater habe immer für die ganze Familie gesorgt. Auch wenn Yasin Kleidung brauchte, habe sein Vater ihm immer Geld gegeben. Aber er könne ihn nicht um Geld für die Visums-Dokumente bitten, das sei zu viel. Ihn mache es traurig, dass Mona alles übernehme, auch wenn sie immer zu ihm sage, dass er ihr auch viel gebe. Sie habe auch zu ihm gesagt, wenn er in Deutschland sei und Arbeit gefunden hätte, dann sei er der »homme de la maison« – »Mann des Hauses«. Für seine Familie sei er die große Hoffnung, »la seule fenêtre« – »das einzige Fenster«, wie er sagt. Für ihn ist es das Wichtigste, für seine Familie zu sorgen. Der Traum seines Vaters ist immernoch, einmal einen Mercedes zu besitzen. Er hofft, dass er ihm diesen eines Tages erfüllen kann. Er habe auch gehört, dass das in Deutschland anders sei, dass alte Menschen dort oft alleine seien und nicht mit ihren Familien lebten. Mit Mona hat er beschlossen, dass sie, wenn er in Deutschland ist, ehrenamtlich in einem Altenheim arbeiten und mit den alten Menschen, die niemand besucht, Einkäufe erledigen und mit ihnen Zeit verbringen. Hauptberuflich möchte er das nicht machen, denn er möchte unbedingt Mechaniker werden. Es gibt also zu diesem Zeitpunkt tatsächlich eine große Ungleichheit innerhalb der Beziehung zwischen Mona und Yasin, die nicht klassischen Geschlechtervorstellungen einer heteronormativen Paarbeziehung entspricht. Diese ist jedoch weniger auf den Altersunterschied oder den unterschiedlichen Bildungsgrad zurückzuführen, sondern vielmehr ein Produkt des Grenzregimes und der sozioökonomischen Situation von Yasin, die zunächst nicht an Geschlecht gebunden ist. Aufgrund seiner Kategorisierung als ›Drittstaatsangehöriger‹ ist seine Einreise von Monas Zustimmung abhängig und wird auch in Deutschland die ersten drei Jahre an die Ehe gebunden sein. Auch ist sie es, die ihm ›ihre‹ Sprache lernt und ihm regelmäßig Bücher zum Lernen schickt. Durch die lange Zeit der Vorbereitung der Ausreise und dem damit verbundenen Aufwand ist Yasin in seinem Handeln eingeschränkt. Er könnte gar keiner Lohnarbeit nachgehen. Hinzu kommen die hohen Kosten, die durch die Sprachnachweispflicht und das Visumsverfahren entstehen. Tarek, eine andere Person aus dem gleichen ›Vorintegrationskurs‹, konnte dagegen mit dieser Ungleichheit anders umgehen bzw. diese kompensieren, weil er über ausreichend finanzielle Ressourcen verfügte, um die Kosten selbst zu übernehmen. Auch war er gegenüber seiner Frau, die in Deutschland Hartz IV bezieht und zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens kaum Französisch und Englisch beherrschte und sich erst nach und nach aneignete, ›überlegen‹, da er einer Lohnarbeit nachgeht und mehrere Fremdsprachen spricht. Dadurch, dass er ein paar Jahre älter ist als sie und seine ökonomische Situation gut ist, wurde
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er vom Konsulat auch nicht verdächtigt und damit auch nicht mit dieser Ungleichheit konfrontiert. Das Gefühl von Abhängigkeit und Unterlegenheit gegenüber dem deutschen Partner haben auch Frauen in dieser Situation, jedoch wird es als normal angesehen, dass die Frau ›unterlegen‹ und ›abhängig‹ ist, sodass sie zumindest nicht von ihrem Umfeld damit konfrontiert werden und auch im Konsulat kein Verdacht geübt wird. Dass Yasin die Rolle des Mannes im Sinne des ›Starken‹ und des ›Versorgers‹ zu diesem Zeitpunkt nicht erfüllt, wird ihm im Konsulat wieder vor Augen geführt.
Die Entscheidung: performing rationality Nach dem Termin in der Ausländerbehörde dauert es nur drei Tage, bis Yasin einen positiven Visumsbescheid bekommt. Er solle mit dem Reisepass im Konsulat vorbeikommen und es sich abholen, heißt es. Für Yasin und Mona ist es unerklärlich, warum es nach diesen Überprüfungen und Problematisierungen ihrer Beziehung nun doch so schnell geht, und die Entscheidung auch noch positiv ausfällt. Als ich im Konsulat noch einmal nachfrage, ist der zuständige Mitarbeiter auch verwundert über den Fall: Bei dem Altersunterschied sei doch klar, dass nach drei Jahren die Scheidung käme. Die Fälle ähnelten sich ja. Als er die Akte im Computer öffnet, stellt er schnell fest, dass alles in Ordnung sei. Der Junge hätte aber wirklich Glück gehabt, betont er. Normalerweise funktioniere das nicht so schnell und einfach. »Der hat aber eine tolle Frau abgekriegt«, kommentiert er die Akte. Sie sei schon Abteilungsleiterin gewesen und habe »richtig Kohle gemacht«. Er habe auch ein Foto gesehen und die sähe »richtig super« aus. Die zuständige Sachbearbeiterin von der Ausländerbehörde in Deutschland habe in der Akte vermerkt, dass Mona so souverän aufgetreten sei, dass sie sofort das Okay gegeben hätten. Da hätte es keine Zweifel gegeben. Am Ende war es Monas selbstbewusstes Auftreten sowie ihre berufliche Karriere, die die Sachbearbeiter_innen überzeugten und zur Legitimation einer Bewilligung herangezogen wurden. Können die deutschen Partnerinnen diese klassenspezifischen Kritierien nicht erfüllen, verstärkt sich der Paternalismus ihnen gegenüber noch einmal, wie die Erfahrungen von Lisa, der Frau von Tarek, zeigen. Sie bekam ebenfalls ein Schreiben, dass sie Gehaltsbescheinigungen vorlegen solle, obwohl sie die deutsche Staatsbürgerschaft hat und die Einreise ihres Partners eigentlich nicht vom Einkommen abhängt. Das Problem in ihrem Fall war, dass sie in keinem Arbeitsverhältnis steht, sondern Arbeitslosengeld II bezieht. Auch sie organisierte sich vor dem Termin: Sie brachte die Heiratsurkunde, eine Bescheinigung vom Jobcenter, ihren Mietvertrag, den Ausbildungsvertrag, das Zeugnis von Tarek vom Goethe-Institut sowie Fotos von der Hochzeit und auch von ihren gemeinsamen Urlauben. Außerdem hatte sie vorher einen Brief an die Ausländerbehörde aufgesetzt, in dem sie genau ihre Situation schilderte. »Ich habe das gemacht, weil ich mich klarer ausdrücken kann, wenn ich in Ruhe schreibe«, sagt sie mir später am Telefon. Die Sachbearbeiterin in der Ausländerbehörde war jedoch vor allem an ihrer Arbeitslosigkeit interessiert. Als sie feststellte, dass Lisa noch einmal in Marokko war, ohne es dem Jobcenter zu melden, fordert sie sie auf sich selbst anzuzeigen, sonst würde sie das tun. Daraufhin fing
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die Sachbearbeiterin dann doch an, auch viele Fragen zu ihrer Beziehung zu stellen. Lisa ging es nach dem Termin sehr schlecht, sie hatte Kopfschmerzen und musste sich hinlegen. Sie hatte Angst, dass das Jobcenter ihr nun das Arbeitslosengeld kürzen werde. In unserem Gespräch betonte sie immer wieder, dass sie doch arbeiten wolle, aber sie es als alleinerziehende Mutter nicht schaffe, weil die Stellen, die sie bis jetzt bekommen habe, zu viel Flexibilität von ihr verlangten und sie diese mit ihrer Tochter nicht erfüllen könne. Wenn ihr Partner da wäre, würde das alles einfacher sein. Verglichen mit der Situation von Mona hat Lisa aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit nicht nur eine besondere Disziplinierung und Sanktionierung von Seiten der Behörden erfahren, sondern gleichzeitig kann sie aufgrund ihrer sozioökonomischen Situation als alleinerziehende Mutter und Hartz‑IV-Empfängerin auf weniger Ressourcen zurückgreifen. Dies zeigt sich nicht nur an den Dokumenten und Unterlagen, die sie einreicht, sondern auch an ihrem Auftreten und dem Selbstbewusstsein, das sie verkörpert. Mona wird im Konsulat auch als ›naive‹, ›gutgläubige‹ und auch für ihren Partner ›zu alte‹ Frau angerufen, die nicht versteht, dass ihr jüngerer Mann sie nur aufgrund des ökonomischen Vorteils und der Aufenthaltsgenehmigung geheiratet habe. Mit diesen Vorwürfen ist sie in der Ausländerbehörde nicht zum ersten Mal konfrontiert, sondern wurde auch in ihrem Umfeld von Familie und Bekannten bereits gewarnt. Sie reagiert darauf ebenfalls zum einen mit Rechtfertigungen, Erklärungen und Relativierungen des Altersunterschieds. Zum anderen schaffte sie es in der Ausländerbehörde Rationalität zu repräsentieren. Durch ihre gute Organisation (Dokumente, Fotos, Whatsapp-Nachrichten), das Bestehen auf die Vorsprache und das selbstbewusste Auftreten gelang es ihr mit der Kategorisierung als ›naiv‹ und ›dumm‹ zu brechen und zu vermitteln, dass sie rational entscheide. Damit geht einher, dass sie deutlich machte, dass sie Verantwortung für Yasin übernehmen und dafür sorgen könne, dass dieser sich angemessen verhält. An anderer Stelle zeigte ich auf, wie Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit innerhalb des Grenzregimes im Kontext des ›Ehegatten-/ Familiennachzugs‹ ebenfalls zu »Grenzbeamtinnen« werden, weil ihnen die Aufgabe übertragen wird, zu entscheiden, ob ihr Partner ein Risiko darstellt, wenn er einreist (Gutekunst 2013). Damani Partridge kommt zu ähnlichen Schlüssen im Zusammenhang mit Frauen, die in den 1990er Jahren Männer ohne sicheren Aufenthaltsstatus heirateten: »In the post-Wall moment, marriage became one of the only routes to a long-term legal status for these men, as white German women with whom they related came to exercise intimate forms of bureaucratic judgment and state power.« (Partridge 2008: 660) Partridge stellt die These auf, dass die deutschen Frauen durch diese Heiratspraxis zu sogenannten »informal street bureaucrats« werden: »[They] hold the keys to the possibility of citizenship or legal residency at all. They hold the sovereign power to decide […] when and how not to implement ›the law‹.« (Partridge 2008: 667) Dass Mona beweisen konnte, dass sie rational entschieden hat, womit sie sich auch einer vergeschlechtlichten Zuschreibung als ›irrational‹ verweigert – und die Verantwortung übernimmt, ist ein wichtiger Bestandteil der Regierungweise im Grenzregime. Die Ethnologin Sandra Wasilewski weist darauf hin, dass Rationalität im Gegensatz zu Emotionen in Bürokratien einen hohen Stellenwert habe (Wasilew-
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ski 2011: 51). Eigentlich sind es jedoch die Sachbearbeiter_innen, denen Rationalität zugeschrieben wird, während die Antragsteller_innen nicht als vernünftige, sondern emotional Handelnde gesehen werden (ebd.). Im Falle der deutschen Partnerinnen wie Mona wird deren Performanz von Rationalität jedoch zum Kriterium für die Visumsvergabe, da sie in diesem Fall die Rolle der Sachbearbeiter_innen übernehmen müssen, nämlich darüber zu entscheiden, ob es sich bei ihrem Partner um einen ›Tatverdächtigen‹ handelt oder dieser mit ihr eine ›schützenswerte Ehe‹ eingegangen ist. Dadurch wird die Ungleichheit zwischen den Partner_innen noch einmal verstärkt. Dass sie hier überzeugen konnte, lag jedoch nicht nur an ihrem Auftreten, ihrer Performanz, sondern auch an ihrem Bildungsgrad und ihrer berufliche Karriere.
5.4.2 Nour und Burkhard: »Muss ich mein Herz zur Ausländerbehörde geben?« »Woher kommen Sie?« – »Aus Marokko.« – »Wo wohnt Ihr Mann?« – »In Hausen.«61 – »Was arbeitet Ihr Mann?« – »Elektroniker.« – »Wie oft war Ihr Mann in Marokko?« – »Vier Mal.« – »Ist er aus der Familie?« – »Nein, er ist Deutscher.« – »Sind Sie nicht noch zu jung mit 22 Jahren?« – »Ich bin nicht jung. Ich bin geschieden.« – »Ist der Altersunterschied von 24 Jahren zwischen Ihnen und ihrem Mann nicht zu groß?« – »Der Prophet Mohammed hatte auch eine Frau, die 20 Jahre älter war.« Die Frau am Schalter habe das nicht gewusst, wundert sich Nour, als sie mir von ihrem Besuch im Konsulat erzählt. Sie habe der Sachbearbeiterin nach der Befragung alle Unterlagen gegeben und das sei alles gewesen, berichtet sie. Als ich Nour das erste Mal begegnete, kam sie selbst auf mich zu. Es war in einer Pause während des ›Vorintegrationskurses‹ im Goethe-Institut in Casablanca. Sie habe ein Problem, meinte sie damals zu mir, denn ihr Mann sei nicht Marokkaner und sie ist 21 und er ist 45. Sie fragte mich, ob ich glaube, dass im Konsulat Probleme auf sie zukämen. Auch in Marokko sei ihre Ehe ein Problem. Sie hatte schon die Befragung auf dem Kommissariat, um in Marokko zu heiraten. Die marokkanische Polizei habe sie auch auf ihren Altersunterschied angesprochen und gefragt, warum sie heirateten. Sie und ihr Mann hätten beide geantwortet, weil sie sich liebten. Für sie spiele das Alter keine Rolle. Eine Freundin von ihr, die 24 Jahre alt ist, sei auch mit einem 50‑jährigen marokkanischen Mann zusammen. Am Ende habe sie jedoch die Bescheinigung für die Eheschließung bekommen. Sie mache sich nun Sorgen wegen des Konsulates, sagte sie. Nour hat ein Bewusstsein dafür, dass ihre Beziehung aufgrund des Altersunterschieds problematisiert wird. Sie sieht selbst kein Problem darin, bereitet sich aber darauf vor, dass sie aufgrunddessen zusätzlichen Überprüfungen ausgesetzt ist, in denen sie beweisen muss, dass sie keine ›Scheinehe‹ eingegangen ist.
61 Auch hier wurden Namen und Orte geändert.
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Performing love Jetzt sitzen wir unter einem Palmenpavillon in einem Café etwas außerhalb der kleinen Stadt, wo sie lebt, etwa 40 Kilomenter von Casablanca entfernt, und sie ist besorgt. Ein paar Tage nach der Beantragung des Visums bekam sie einen Anruf vom Konsulat, dass sie am 15. April noch einmal für »eine kleine Prüfung« vorbeikommen müsse, ihr Mann wurde von der Ausländerbehörde über diesen Termin informiert. Sie sollten zu diesem Anlass auch Pass und Personalausweis sowie Fotos von ihnen mitbringen. Ihre Befürchtungen hatten sich bestätigt. Ihr Mann hatte ihr schon vorher einen Flug gebucht für den 29. März, den sie jetzt wieder stornieren mussten. Ein früherer Termin war nicht möglich, da der zuständige Sachbearbeiter bis dahin noch im Urlaub sei, wurde ihnen mitgeteilt. Jetzt verzögerte sich die Abreise noch einmal um einige Wochen; zu diesem Zeitpunkt ist Nour sogar unsicher, ob sie überhaupt ausreisen dürfe. »Konsulat nicht gut. Konsulat böse«, sagt Nour immer wieder. Ihr Mann gehe heute in seiner Mittagspause noch einmal mit Fotos zur Ausländerbehörde. Sie zeigt mir eine SMS von ihm, wo er schreibt, dass Herr H. (von der Ausländerbehörde) gesagt habe, dass sie noch einmal nachdenken sollten, welche Dokumente sie noch einreichen könnten. Am Ende der Nachricht steht: »Habibti, je t’aiiiiiimmme!« Sie werden nun also angehalten, weitere ›Liebesbeweise‹ vorzulegen und ihr Mann unternimmt einen weiteren Versuch, indem er mit Fotos von ihrer gemeinsam verbrachten Zeit zur Ausländerbehörde geht. Sie verstehe nicht, warum es diese zusätzlichen Überprüfungen gebe. Als ich einwerfe, dass das Konsulat wohl Zweifel habe, ob sie wirklich aus Liebe zusammen seien, ist sie entsetzt und fragt: »Keine Liebe? Muss ich mein Herz zur Ausländerbehörde geben?« Sie fängt an mir Bilder von ihrer gemeinsamen Reise nach Marrakesch zu zeigen. Auf dem ersten Foto sind die beiden jeweils auf einem Kamel zu sehen. Ich erkenne sie fast nicht wieder, da sie auf dem Bild kein Kopftuch trägt und schick gekleidet ist. Wenn sie mit ihrem Mann zusammen ist, trage sie kein Kopftuch, nur in ihrem Wohnort, weil die Männer sie dort sonst immer anmachten, sagt sie. Sie erzählt, dass die beiden Kamele auf dem Foto Shakira und Madonna hießen, und fängt an zu lachen. Dieses Bild werde sie auch im Konsulat zeigen. Die Soziologin Stephanie Bethmann definiert Liebe als Beziehung, die in Interaktion mit anderen erst erkannt und hergestellt wird: »Weil Liebe eine widersprüchliche und uneindeutige Erfahrung ist, gibt es Verfahren des gemeinsamen Erkennens und Einordnens, mit denen man in Zusammenarbeit mit anderen Liebe wahrnimmt, sich ihrer versichert und sie gleichzeitig erzeugt.« (Bethmann 2013: 221) Nour stellt nicht nur Liebe in Interaktion mit ihrem Mann her – durch bestimmte Worte und virtuelle Kommunikation, durch gemeinsame Reisen und Inszenierungen als Paar auf den Urlaubsfotos –, sondern auch im Gespräch mit mir sowie in der Interaktion mit Mitarbeiter_innen des Konsulats. Auf einem anderen Foto sieht man sie in einem Geschäft, wo sie gerade einen pinken Hut anprobiert und in die Kamera lacht. Ihr Mann habe ihr den Hut auch gekauft, fügt sie hinzu. Auf dem nächsten Foto sind die beiden mit Nours kleiner Schwester zu sehen, wie sie mir erklärt. Sie sei sieben Monate alt. Außerdem habe sie noch zwei weitere Schwestern und zwei Brüder, die alle bei ihren Eltern lebten. Ihr Vater hat einen
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Laden, wo er Mehl verkauft. Sie wischt auf ihrem Smartphone weiter und es kommen Bilder von dem Wohnort von ihrem Mann, die er ihr geschickt hat. Zu sehen ist eine Doppelhaushälfte mit einem Kleinwagen vor der Tür. Nour deutet auf das Foto und sagt: »Das ist das Fahrrad, das mein Mann mir gekauft hat.« Ich erkenne ein Fahrrad, das neben der Haustür steht. Sie habe ihm einmal erzählt, dass sie so gerne ein Fahrrad hätte und er habe es ihr sofort gekauft. Er möchte nicht, dass sie in Deutschland zuhause bleibt und fernsieht, sondern, dass sie rausgeht. »Ich fahre auch alleine nach Berlin«, sagt sie und lacht. Dort leben die Mutter und die Schwester von ihrem Mann. Mit denen habe sie auch schon via Skype gesprochen. Seine Schwester freue sich auf ein gemeinsames Couscous-Essen und seine Mutter würde mit ihr zu C&A einkaufen gehen, wenn sie dann in Deutschland ist. Ihr Mann habe zu ihr gesagt: »Ich koche, ich räume auf. Hauptsache, du kommst zu mir nach Deutschland.« Nour möchte auf keinen Fall alleine zuhause bleiben, wenn sie in Deutschland ist. »Ich möchte lernen, laufen, Shoppen gehen«, sagt sie. Vor allem Lernen sei ihr wichtig. Sie möchte erst die B1‑Prüfung im Goethe-Institut machen und dann auf die Berufsschule, um eine Ausbildung zur Kauffrau zu machen, oder noch lieber als Krankenschwester. Danach würde sie auch gerne noch weiter Deutsch lernen, denn sie fände die Sprache schön. »Bis C3«, sagt sie. Als ich ihr erkläre, dass es dieses Niveau eigentlich nicht gibt, lachen wir beide. Sie packt ihr Handy zurück in ihre Handtasche und holt eine Holzkugel heraus. Sie stellt sie auf den Tisch und klappt sie auf. Innen befindet sich ein Marienkäfer mit schwebenden Beinen. Sie tippt ihn an und die Beine fangen an zu wackeln. »Mein Mann sagt, ich soll das immer machen: Das bringt Glück!« Sie tippt wieder den Käfer an. Dann erzählt sie, dass sie bei der Sicherheitskontrolle im Konsulat auch ihre Tasche kontrolliert und die Holzkugel darin gefunden hätten. Sie hätten gefragt, was das sei. »Das ist Glück für Konsulat!«, habe sie geantwortet. Sie lacht. »Ich habe in meinem Leben kein Glück. Ich möchte jetzt Glück haben. Dass ich meinen Mann geheiratet habe, viel Glück. Ich lieeebe meinen Mann! Aber Konsulat macht Sorgen: Viele Fragen, viele Probleme.«
Zur Legitimität von Beweg/gründen Am gleichen Tag, als ich mit Nour im Café sitze, treffe ich abends noch einen Mitarbeiter des Konsulats beim Abendessen. Ich erzähle ihm von dem Fall von Nour. Er sagt, sie müsse sich keine Sorgen machen wegen der Befragung. Eigentlich befragten sie Frauen nie. Es schicke doch kein Vater seine Tochter auf den Weg nach Deutschland, um sich dann scheiden zu lassen und wieder einen marokkanischen Partner zu heiraten. Das könne man seiner Tochter nicht antun, dem Sohn dagegen schon, erklärt er. Ich füge hinzu, dass ich vermute, dass es an dem Altersunterschied liege, dass sie verdächtigt werden. Sie sei 21 und er 45. Nun schätzt er die Lage anders ein und fragt: »Was will die denn mit so einem alten Sack?« Das könne doch nicht gut gehen, sagt er. Ich lasse mich auf die Diskussion ein und erkläre ihm, dass es ihr in Marokko nicht gut gehe, sie schon viel durchgemacht habe und ihr Mann ihr eine
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bessere Zukunft in Deutschland ermögliche. Er entgegnet, dass das dann aber nicht legal sei, wenn es ihr nur darum gehe, nach Deutschland zu gehen. Auch die Beziehung von Nour und Burkhard ist eine, die ausgehend von gesellschaftlichen Normen, die im Konsulat wirkmächtig werden, irritiert. Zwar ist ein großer Altersunterschied gesellschaftlich sehr viel legitimer, wenn der Mann älter ist als die Frau, doch scheinen die beiden trotzdem eine normative Grenzziehung des Alters überschritten zu haben, die dazu geführt hat, dass sie verdächtigt werden, die Ehe nur zum Schein eingegangen zu haben. Nour wirkt zwar stark und selbstbewusst in ihrem Auftreten. Für ihr Alter hat sie jedoch in ihrem Leben schon viel durchgemacht, wie sie auch selbst im Gespräch mit mir, aber auch im Konsulat betonte: »Ich bin nicht jung, ich bin geschieden.« Die Geschichte von ihrer Scheidung erzählte sie mir auch an dem Nachmittag, als wir im Café sitzen. Ich sei die Erste, mit der sie darüber spreche, sagt sie. Als sie 15 Jahre alt war, hat ihr Cousin, der zu diesem Zeitpunkt 26 war, um ihre Hand angehalten. Er hat ihre Eltern gefragt und die hätten eingewilligt. Sie macht mit der Hand eine Geste, als ob sie einschlagen würde. Sie ist damals zu seiner Familie in eine kleine Stadt gezogen, weit weg Richtung Marrakesch. Sie selbst ist auch dort geboren und bezeichnet sich als Amazigh. Ihr Mann habe sie zuhause eingesperrt und sie durfte nicht mehr zur Schule gehen. Die meiste Zeit sei er in Spanien gewesen, um zu arbeiten. Er sei nur einmal im Jahr für eine Woche gekommen. In dieser Zeit habe er viel Alkohol getrunken und ständig Freunde getroffen. Mit ihr habe er nicht gesprochen und sie sogar manchmal geschlagen. Die meiste Zeit sei sie allein gewesen, habe aufgeräumt und ferngesehen. Sie sei sehr traurig in dieser Zeit gewesen, betont sie. Nur seine Mutter sei da gewesen, doch sie habe Nour nicht gut behandelt. »Sie hat so gemacht«, sagt Nour, nimmt ihre Kaffeetasse und deutet an, sie unter dem Tisch auszuschütten. Dann habe sie sie aufgefordert, das wegzumachen. Nach vier Jahren ist sie schließlich zum Gericht und hat einen Richter um Hilfe gebeten. Er habe eingewilligt und sie unterstützt. Sie habe auch eine Rechtsanwältin gehabt, die ihr geholfen hat. Am Ende sei die Scheidung durchgegangen und sie ist zurück zu ihren Eltern. In Marokko könne sie nicht allein als junge Frau wohnen, betont sie. Sie sagt noch einmal, dass sie diese Ehe nicht wollte und dass sie doch noch jung sei. 2012 hat sie Burkhard kennengelernt. Es war ihre Cousine, die sie zusammengebracht hat. Sie lebt in Deutschland und ist mit ihm befreundet. Sie habe zu ihm gesagt, warum er nicht wieder heirate, nachdem er so lange alleine gewesen sei, und ihm erzählt, dass sie eine Cousine in Marokko habe. Und so habe das Ganze angefangen. Sie brachte ihn mit nach Marokko und er sei sofort von Nour überzeugt gewesen und habe sie gefragt, ob sie ihn heiraten will, erzählt Nour. Sie habe damals zu ihm gesagt, dass sie erst noch nachdenken wolle. Sie habe ihn nicht gekannt und auch keine Vorstellung von Deutschland gehabt. Deswegen hatte sie Angst, erinnert sie sich. Sie skypten dann immer wieder, als er zurück in Deutschland war und sie fand ihn sehr nett. Nach einiger Zeit habe sie »Ja« gesagt und alles für die Hochzeit vorbereitet. Sie hätten sich am Anfang auf Französisch unterhalten. Sie habe viel von ihm gelernt, sagt Nour. Mittlerweile sprechen sie Deutsch und er lernt Arabisch. Bei
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keiner anderen Protagonistin dieser Studie habe ich erlebt, dass sie so sehr darauf bestand, Deutsch zu sprechen und auch so schnell lernte. Auch wir führten unsere Unterhaltungen fast immer auf Deutsch, wenn auch mit ein paar Worten Französisch, wenn sie ein Wort noch nicht kannte. Im Juli 2013 haben Nour und Burkhard dann geheiratet. Es gab ein großes Fest. Er sei alleine gekommen, weil seine Mutter krank sei und nicht fliegen könne. Burkhard heiße jetzt Abdallah, erzählt sie. Er sei konvertiert und sogar beschnitten worden. Sie macht eine Scherenbewegung mit dem Zeige- und dem Mittelfinger und lacht. Ihre jetzige Beziehung sieht Nour auch immer im Spiegel ihrer ersten Ehe und der Situation, in der sie sich durch diese Erfahrung nun befindet. Aus dieser Perspektive steht ihre jetzige Beziehung für Freiheit auf mehreren Ebenen und gleichzeitig für Sicherheit. Burkhard gibt ihr das Gefühl, für sie zu sorgen. Schon jetzt kommt er für den Deutschkurs auf und die wöchentlichen Fahrten ins Goethe-Institut. Auch den Flug nach Deutschland, den sie jetzt nicht wahrnehmen kann, hatte er bezahlt. Sie zeigt mir auch eine Nachricht von ihm, in der er schreibt, dass er ihr gleich einen Western Union Code schicken werde, damit sie wieder Geld habe. Auch geht er mit ihr auf Reisen und macht ihr Geschenke wie den Hut oder das Fahrrad. Nour selbst kann nicht auf materielle Ressourcen zurückgreifen. Sie hat keinen Schulabschluss und keine Erwerbsarbeit. Nachdem sie wieder bei ihren Eltern eingezogen war, bemühte sie sich um Arbeit, bekam jedoch nur einen Praktikumsplatz am Flughafen. Auch ihre Familie hat nur ein geringes Einkommen. Parallel zum Deutschkurs kann sie sowieso nicht arbeiten. Doch sie sieht – im Gegensatz zu Yasin – diese Rolle der ›Abhängigen‹, die finanziell vom Mann versorgt wird, zunächst positiv. Gleichzeitig betont sie, dass Burkhard ihr vorgeschlagen habe, dass er sich auch um den Haushalt kümmere, wenn sie nur nach Deutschland käme. Auch ist es für sie wichtig, wenn sie bei ihrem Mann lebt, nicht nur zuhause zu bleiben, worin sie ihr Mann bestätigt. Für sie ist es das Wichtigste zu lernen und zu arbeiten, was ihr in ihrem bisherigen Leben verwehrt wurde. Sie möchte auch ihrer Familie Geld schicken und auf keinen Fall gleich ein Baby bekommen, wie sie betont. Sie handelt ihre Rolle als Frau und Partnerin zwischen Abhängigkeit und Freiheit neu aus. Eine Frau dagegen, die bereits über entsprechende ökonomische Ressourcen verfügt, empfände eine Beziehung, wie Nour sie führt, vielleicht eher als zusätzliche Einschränkung. Samah zum Beispiel, eine andere Teilnehmerin aus dem Deutschkurs, hat durch ihren Bachelor-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften sowie durch den finanziellen Rückhalt ihrer Familie in Marokko bereits Zugang zu Bildung sowie zu Erwerbsarbeit – auch wenn sie nicht ihrer Qualifikation entspricht. Auch in Deutschland ist ihr Zugang zur Universität sowie zum Arbeitsmarkt – abgesehen von der Bindung ihres Aufenthalts an die Ehe mit ihrem Mann – nicht von ihrem Ehemann abhängig. Im Gegensatz zu Nour empfindet sie es bereits als Abhängigkeit, bei der Familie ihres Mannes zu leben und will unbedingt zusammen mit ihrem Mann eine eigene Wohnung finanzieren sowie in eine andere Stadt ziehen. Trotzdem haben sowohl Samah als auch Nour den Wunsch nach Bildung sowie Erwerbsarbeit, wenn auch unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen.
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Am Tag des Interviews fährt der Onkel Nour nach Rabat. Sie hätten im Konsulat gesagt, dass sie unbedingt pünktlich sein solle. Sie hat sich für den Termin vorbereitet. Sie wusste schon vorher, dass sie nach der Familie ihres Mannes fragen würden. Sie vermutete nach den Namen und den Geburtsdaten. Also hat sie alles aufgeschrieben und gelernt. Das sei nicht einfach gewesen, erzählt mir Nour später. Die Namen seien lang und Burkhard hätte zwei Väter, weil seine Mutter sich vom richtigen Vater hat scheiden lassen. Um acht Uhr morgens beginnt die Befragung. Als wir direkt im Anschluss telefonieren ist Nour erleichtert. Auf die Frage, wie es ihr geht, sagt sie: »Mir geht es gut. Alles klar.« Die Fragen seien nicht schwierig gewesen: Wo lebt dein Mann? Wann hat er Geburtstag? Wie ist der Name seiner Mutter? Hat dein Mann eine Schwester oder einen Bruder? Hat er ein Auto? Welche Farbe hat das Auto? Was ist sein Lieblingsessen? Sie habe alles beantworten können. Die Frau vom Konsulat habe gesagt, dass sie sich in circa einer Woche wieder bei ihr melde. Als wir das Telefonat beenden, sagt Nour: »Dann sehen wir uns in München.« Am 9. Mai bekommt sie schließlich den Bescheid, dass der Visumsantrag bewilligt wurde und sie nach Deutschland ausreisen kann.
5.4.3 Grenzspektakel als Form der (Selbst-)Disziplinierung Am Ende bekommen sowohl Yasin als auch Nour trotz Verdächtigungen und weiteren Überprüfungen das Visum. Auch die Sozialwissenschaftlerin Jill Alpes, die in Konsulaten in Kamerun geforscht hat, kommt zu dem Schluss, dass die Interviews im Konsulat nur in seltenen Fällen tatsächlich zur Ablehnung des Visums führen (Alpes 2014: 147). Sie sieht in den Befragungen jedoch ein »Grenzspektakel« – ein Begriff, den der Anthropologe Nicolas de Genova für die Regulierung illegaler Migration geprägt hat: »a spectacle of enforcement at ›the‹ border, whereby migrant ›illegality‹ is rendered spectacularly visible« (De Genova 2013: 1181). Alpes schreibt dazu im Zusammenhang mit ›Scheinehe‹-Überprüfungen: »The extended efforts put into recording large amounts of rather intimate information ought to be seen as part of the production of a spectacle. The interview is a technology designed not to simply yield information, but to produce confessions and moral compliance.« (Alpes 2014: 253) Wie die Rekonstruktion der Begegnungen der Antragsteller_innen mit den Behörden gezeigt hat, werden sie in diesem ›Grenzspektakel‹ mit unterschiedlichen vergeschlechtlichten, ethnisierten und klassenspezifischen Normen sowie Heteronormativität konfrontiert und damit ihre Subjektpositionen verstärkt: Sie werden dabei als ›Ehemann‹ oder ›Ehefrau‹, als ›Ausländer‹ oder ›Ausländerin‹, als ›kriminell‹ oder ›betrügerisch‹, als ›naiv‹ oder ›dumm‹, als ›zu alt‹ oder ›zu jung‹ angerufen. Es wird vermittelt, was in Bezug auf ihre Paarbeziehung und ihr Verhalten als legitim gilt und was nicht. Deutlich wurde außerdem, dass diese Anrufungen und Bezeichnungen, mit denen die Protagonist_innen dieser Studie im Konsulat und in der Ausländerbehörde konfrontiert werden, sich manchmal angeeignet, aber auch ausgehandelt und umgedeutet werden und sich diesen auch entzogen wird. Ob Befragungen zu einem
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positiven Bescheid führen, hängt auch damit zusammen, wie und ob Handlungspielräume von Antragsteller_innen, wie im Fall von Nour und Yasin sowie von ihren Partner_innen, genutzt werden. Je nach Ressourcen und Positionalität können unterschiedliche Taktiken und Strategien entwickelt werden, um selbst Handlungsmacht auszuüben und das Verfahren zu beeinflussen. In den Aushandlungen mit Sachbearbeiter_innen des Konsulats oder der Ausländerbehörde, werden sie dazu angehalten, zu überzeugen, dass es sich hier um ›romantische Liebe‹ handelt beziehungsweise im Fall von Mona, dass sie rational handelt. Dies gelingt ihnen unter anderem durch einen hohen Aufwand an Selbstverwaltung: Sie legen Dokumente und Fotos vor, die als ›Liebesbeweise‹ dienen können und bereiten sich auf mögliche Fragen vor. Das ›Grenzspektakel‹ führt also nicht nur zu Formen der Disziplinierung ‹von außen›, sondern insbesondere auch zu Formen der Selbstdisziplinierung. Zuletzt zeigen die Geschichten der hier porträtierten Paare auch, dass die Komplexität der Hintergründe und Geschichten der Antragsteller_innen immer wieder mit den Kategorisierungen und Klassifikationen innerhalb des Grenzregimes brechen und sich diesen entziehen. Laura Block konstatiert, dass zumeist keine der Ehen einzuteilen ist in »gefälscht« oder »echt«, sondern sich immer irgendwo zwischen dem Prototyp einer ›Scheinehe‹ – der keine Beziehung zwischen den Partner_innen zugrunde liegt und die Verbesserung des eigenen Lebensstandards der einzige Grund für die Ehe ist – und einer ›echten Ehe‹ – in der der einzige Grund Liebe ist und materielle Interessen gar keine Rolle spielen – bewegen: »If few pure ›genuine‹ or ›fake‹ marriages exist, but most fall into the large grey zone between the two extremes, with mixed motivations and incentives, how should the state draw a clear line between what is a marriage of convenience and what is not?« (Block 2016: 65) Am Ende können die Konsulate nie wirklich sagen, ob es sich um eine ›Scheinehe‹ handelt oder nicht. Jedoch wird durch diese Formen der Kontrolle und Überprüfung ein ›Grenzspektakel‹ aufgeführt, in dem Macht ausgeübt wird, das Subjekte formt, sanktioniert und diszipliniert und auch bestimmten Paarkonstellationen die Legitimität abspricht.
6 Multiple Grenzüberschreitungen im Regieren der Migration durch Heirat In den letzten 15 Jahren rückte die Praxis der Migration durch Heirat – oder ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ in migrationspolitischen Kategorien gesprochen – in Europa verstärkt in den Fokus staatlicher Regulierung. Wissenschaftlerinnen sprechen in diesem Politikfeld auch von einem »restrictive turn« (vgl. Block 2014; Bonjour/de Hart 2013; D’Aoust 2013). Dieser Wandel wurde unter anderem durch die EU‑Richtlinie zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ von 2003 eingeläutet, in der es heißt, dass sich Einreisebestimmungen für ›Familienangehörige‹ zwischen dem Schutz von Ehe und Familie, der Förderung der Integration und gleichzeitig dem Interesse die Einreise zu steuern bewegen müssten (vgl. Rat der Europäischen Union 2003). Nicht nur in Deutschland, auch in den Niederlanden und Frankreich, wurden seitdem das Mindestalter sowie das Mindesteinkommen nach oben gesetzt, Überprüfungen von ›Scheinehen‹ verstärkt, der Zeitraum bis zum Zugang zu unabhängigen Aufenthaltsgenehmigungen verlängert und Integrationsmaßnahmen bereits vor der Einreise eingeführt (vgl. Block/Bonjour 2013). Neben Deutschland haben auch andere europäische Staaten wie Großbritannien, Österreich, die Niederlande, Frankreich und Dänemark mittlerweile eine Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹. Diese zunehmende Problematisierung und Politisierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ nahm ich als Ausgangspunkt für diese ethnographische Studie, die sowohl die Praxis der Migration durch Heirat als auch das Regieren der Migration durch Heirat zum Forschungsgegenstand hat. Diese transnationale Ethnographie zwischen Marokko und Deutschland zeigt, dass es durch den Einsatz politischer Instrumente wie dem Sprachnachweis oder dem Visum zu neuen Grenzsituationen weit vor Europas Außengrenzen kommt. Dabei werden Grenzen und Grenzziehungen permanent von unterschiedlichen Akteuren umkämpft und verhandelt, überschritten und (re‑)stabilisiert – sowohl von Menschen, die selbst das Einreiseverfahren des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ durchlaufen, als auch von Akteuren des Regierens. Diesen vielfältigen Praxen folgte ich nach Marokko: Ich forschte in Goethe-Instituten und privaten Sprachschulen in Rabat, Casablanca, Tanger und Nador. Ich führte Interviews im deutschen Konsulat und besuchte marokkanische Behörden. Ich begleitete Menschen durch das gesamte Einreiseverfahren – von der Eheschließung in Marokko über den Besuch des Deutschkurses und das Ablegen der Prüfung bis hin
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zur Beantragung des Visums und der Einreise nach Deutschland. Wie die kulturanthropologische Politikforschung betont, materialisieren sich Politiken nicht lediglich in Gesetzestexten, Politikpapieren und Anweisungen ›von oben‹ und werden nicht nur von Eliten gemacht, sondern ebenso in Alltagssituationen in Behörden und Institutionen von deren Vertreter_innen wie Sachbearbeiter_innen, Lehrer_innen oder Leiter_innen (»street level bureaucracy«). Vor allem aber werden sie auch von Betroffenen selbst lokal umgesetzt, hergestellt und umkämpft, wie zum Beispiel für den Bereich der Migrationsforschung die Perspektive der Autonomie der Migration immer wieder betont. In Institutionen wie dem Konsulat oder dem Goethe-Institut entstehen auch Handlungsspielräume, die zwar in Machtverhältnisse eingebunden sind, aber ganz unterschiedlich genutzt werden. Sowohl Vertreter_innen der Institutionen als auch Menschen, die das Verfahren durchlaufen, haben hier bis zu einem gewissen Grad Handlungsmacht und können sich die Situationen je nach Ressourcen durch unterschiedliche Taktiken und Strategien aneignen und gestalten. Dies konnte ich in dieser Studie durch das Verfolgen von Aushandlungen, Konflikten und Auseinandersetzungen aufzeigen.
6.1 N eue A kteure , neue O rte : die E xternalisierung des G renzregimes Deutlich wurde durch diese Forschung, dass es durch politische Instrumente wie dem Sprachnachweis oder dem Visum im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ zu einer Externalisierung des Grenzregimes kommt. Dabei werden sowohl geographische, nationalstaatliche als auch institutionelle Grenzziehungen überschritten und neu verhandelt. Dass der_die marokkanische Partner_in zunächst nicht nach Deutschland einreisen kann, führt dazu, dass die Paare die Eheschließung zumeist in Marokko durchführen. Auch der marokkanische Nationalstaat hat ein Interesse an der Regulierung binationaler Eheschließungen im Sinne des nationalen Heiratsund Familienrechts: Diese Heiratspolitiken sind unter anderem als Bestandteil einer umfassenderen politischen Strategie der Transnationalisierung des Nationalstaats zu verstehen, die Marokko seit den 1990er Jahren verfolgt. Durch Überprüfungen und Kontrollen der Paare sowie die Legalisierung von Dokumenten durch marokkanische Behörden, kann dieser ›Drittstaat‹ auch Eheschließungen verwehren und damit indirekt darüber mitentscheiden, wer überhaupt Zugang zu dem Einreiseverfahren des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ bekommt. So nimmt auch der marokkanische Staat Einfluss auf Migrationsbewegungen durch Heirat und wird Teil des europäischen Grenzregimes. Die Externalisierung besteht in diesem Fall in der Erweiterung der Regulierungsversuche durch Nicht-EU‑Mitglieder und damit über nationalstaatliche sowie EU‑europäische Grenzziehungen hinweg. Dass die Handlungsmacht dieses ›Drittstaats‹ innerhalb europäischer Migrationspolitiken – eine Perspektive, die in der Migrationsforschung oft vernachlässigt wird (vgl. El Qadim 2014) – in dieser Stu-
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die überhaupt sichtbar wurde, war nur durch die Mobilität der Forscherin und die Begleitung von Menschen in ihre Alltage und bei Behördengängen in Marokko möglich. Auch durch die 2007 eingeführte Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ wird das Grenzregime externalisiert. Ganz neue Akteure beteiligen sich über die Durchführung der Deutschprüfung indirekt auch an der Vergabe von Mobilitätsrechten. So materialisieren sich europäische Außengrenzen mit dem erforderlichen Sprachnachweis zum Beispiel nun auch in Ergebnislisten, die am Tag der Deutschprüfung durch das Goethe-Institut oder den ÖSD (Österreichisches Sprachdiplom) ausgehangen werden (siehe Coverfoto). Ob jemand bestanden hat, entscheidet auch darüber, ob der- oder diejenige ein Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ beantragen und damit nach Deutschland einreisen kann. Durch dieses neue Einreisekriterium des Sprachnachweises entstand außerdem ein zusätzlicher Markt für die ›Ware Deutsch‹, an dem unterschiedliche Akteure wie das Goethe-Institut, der ÖSD, private Sprachschulen sowie Deutschlehrer_innen beteiligt sind. Deutschkurse und Prüfungen stellen dabei eine zusätzliche Einnahmequelle dar sowie die Gruppe der ›nachziehenden Ehegatten‹ ein neues Klientel. Dieser Markt folgt nicht nur ökonomischen Logiken, sondern auch ethnisierten Hierarchien zwischen Goethe-Institut und ÖSD sowie Privatschulen und deutschen und marokkanischen Lehrkräften. Einer Institution wie dem Goethe-Institut, dessen Aufgabe eigentlich die Förderung der deutschen Sprache und Kultur ist, werden durch die Annahme des Auftrags, die Sprachprüfung in diesem Kontext durchzuführen, Aufgaben der Migrationskontrolle übertragen. Diese Verlagerung zeigt sich auch durch neue Verbindungen und Kooperationen des Goethe-Instituts mit klassischen Akteuren des Grenzregimes wie dem Konsulat sowie in Kontrollpraktiken und Sicherheitsmaßnahmen, die übernommen werden (müssen), wie professionalierte Passkontrollen oder eine verstärkte Ahndung von Betrugsund Fälschungsversuchen. Dass die Bundesrepublik ihre Migrationspolitik und damit einhergehende Kontrollen und Überprüfungen im Feld des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ bereits weit vor den europäischen Außengrenzen durchführt, quasi schon im ›Drittstaat‹ agiert und bereits dort entscheidet, wer einreisen darf, kann außerdem als eine Externalisierung im Sinne einer geographischen Vorverlagerung der Grenzen verstanden werden. Ein Phänomen, das auch in anderen Regierensfeldern des europäischen Grenzregimes wie der irregulären Migration aktuell zu beobachten ist (vgl. Schwarz 2017; Bartels 2017; Dünnwald 2015). Das Visum stellt dabei ein klassisches migrationspolitisches Instrument für die Kontrolle und Regulierung von Bewegungen aus der Distanz – bereits im ›Drittstaat‹ – dar. Im deutschen Konsulat in Rabat, wo Visumsanträge bearbeitet und über diese entschieden wird, geht es im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ einerseits darum, Migration zu steuern und zu kontrollieren und andererseits darum, den ›Missbrauch‹ des Rechts auf Schutz von Ehe und Familie aufzudecken und zu verhindern. Sachbearbeiter_innen – Ortskräfte sowie Entsandte – werden durch die Aufgabe der Bekämpfung von sogenannten ›Scheinehen‹ nicht nur zu ›Wächter_innen der Grenze‹, sondern sozusagen auch zu ›Wächter_innen der Ehe‹. Durch unterschiedliche Materialitäten, Architekturen und
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Praktiken der Überwachung, Kontrolle und Verwaltung werden in dieser Institution bereits in Marokko Visumsanträge zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ kategorisiert und klassifiziert und je nach Einschätzung Visa vergeben. Das politische Instrument des Sprachnachweises verstärkt diese geographische Externalisierung der staatlichen Regulierung der Migrationsbewegungen bereits im ›Drittstaat‹ noch einmal, weil darüber weitere Kriterien der Einreise wie Deutschkenntnisse auf A1‑Niveau, aber auch die Auseinandersetzung mit einem Integrationsimperativ angewandt und umgesetzt werden können. Diese Vielzahl an Akteuren, die am Regieren der Migration durch Heirat beteiligt sind und die sich durch die Externalisierung des Grenzregimes noch einmal multiplizieren, wurden in dieser Studie sichtbar gemacht und deren Verbindungslinien aufgezeigt.
6.2 D ifferenzielle I nklusionen: die W irkmächtigkeit der N ützlichkeitslogik Des Weiteren wurde deutlich, dass mit der Einführung der Sprachnachweispflicht eine Nützlichkeitslogik endgültig Einzug in die Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ erhalten hat – in ein Feld, das eigentlich die Gewährleistung des Schutzes von Ehe und Familie zum Ziel hat und nicht wie zum Beispiel im Kontext klassischer Arbeits- oder Bildungsmigration, der Nachfrage des Arbeitsmarktes sowie ›Fachkräftemangel‹ zu begegnen. In bundesdeutschen Debatten wurde die Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ von Anfang an als Integrationsförderung sowie als Schutz zwangsverheirateter Frauen gerahmt und legitimiert. Diese Forschung zeigt jedoch an einzelnen Fallstudien, wie dieses Instrument subtil zu einer Selektion und Vorsortierung jener führt, die überhaupt ein Visum zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ beantragen können. Abgesehen davon, dass Menschen es sich zunächst finanziell leisten können sowie geographisch Zugang haben müssen, Deutschkurse zu besuchen und die Deutschprüfung abzulegen, konnte ich außerdem beobachten, wie diejenigen, die nicht ausreichend kulturelles Kapital mitbringen und zum Beispiel nicht alphabetisiert sind, bereits im Goethe-Institut abgewiesen werden, oft über Jahre selbstorganisiert oder mit Privatlehrer_innen Deutsch lernen, die Prüfung mehrmals nicht bestehen oder diese sogar nie antreten. Letztere werden durch die Sprachnachweispflicht von der Einreise ausgeschlossen und tauchen in keiner Statistik auf. Damit stellt die Sprachnachweispflicht auch einen Mechanismus dar, der dafür sorgt, dass diejenigen, die in der Arbeitsmarktlogik als ›unnütz‹ gelten, keinen Zugang mehr zu dieser Möglichkeit der legalen Einreise erhalten. Die Mehrheit der Personen besteht die Deutschprüfung am Ende, in diesem Fall führt die Sprachnachweispflicht vor allem zu einer Verzögerung des Einreiseverfahrens und nicht zu Immobilität. Gerade für diejenigen, die bereits studiert haben und andere Fremdsprachen sprechen sowie über die finanziellen Mittel verfügen, stellt die Sprachnachweispflicht keine Hürde dar und bringt sogar ermächtigende Momente mit sich. In einzelnen Fällen wurde nach der bestandenen A1‑Prüfung zum Beispiel
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noch vor der Einreise in Marokko Deutsch weiter bis zum Niveau B1 gelernt. Dennoch: Die Gruppe, die überhaupt den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ nutzt, ist nicht die Elite Marokkos, die zumeist auch die Möglichkeit eines Kurzzeitvisums nach Europa hat und nicht gezwungen wäre zu heiraten, um einzureisen. Stattdessen handelt es sich hier zumeist um Menschen aus einer Mittelschicht, die zwar Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit hat, jedoch nur zu staatlichen Bildungsinstitutionen, deren Abschlüsse in Marokko weniger wert sind als die von privaten Einrichtungen, und vor allem – wenn überhaupt – zu Beschäftigungen im Niedriglohnsektor sowie unter ihren Qualifikationen führen. Angesichts dieser Prekarität und Perspektivlosigkeit in Marokko ist die Migration nach Deutschland zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin für viele auch mit der Möglichkeit einer besseren Zukunft verbunden. Sie eignen sich das Instrument des Sprachnachweises an, um ihren Plänen einer Ausbildung, eines Studiums oder einer Lohnarbeit in Deutschland ein Stück näher zu kommen. In den Deutschkursen im Goethe-Institut werden sie im Sinne des Prinzips des ›Fördern und Fordern‹, das durch die Sprachnachweispflicht in den ›Drittstaat‹ exportiert wird, als zukünftige Arbeitskräfte aktiviert. Gleichzeitig werden sie mit einem Integrationsparadigma konfrontiert und diszipliniert, wonach Migrant_innen als defizitär gelten, ihnen die Bringschuld zugeschrieben und die Möglichkeit der Integration stark problematisiert wird. Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts sehen ihre Arbeit der Sprach- und Integrationsvermittlung bereits vor der Einreise und damit Vorintegration zu leisten dabei als eine Form der Prävention, um ›Parallelgesellschaften‹, ›Integrationsverweigerung‹ und ›kulturelle Abschottung‹ in Deutschland zu verhindern. Diese alarmistischen Vorstellungen werden angesichts schon lange wirkmächtiger Orientalismen und eines seit 9/11 verstärkten anti-muslimischen Rassismus insbesondere mit Migration aus muslimischen Ländern verknüpft und dabei die Kultur von Migrant_innen aus diesen Regionen einem westlich-christlichen Wertesystem entgegengesetzt. Hier verschränkt sich ein kulturalistisches Verständnis von Integration mit Nützlichkeits- und Arbeitskraftvorstellungen. Private Sprachschulen und Deutschlehrer_innen hingegen lehnen die Aufgabe der Integrationsarbeit im Gegensatz zu den Mitarbeiter_innen der Goethe-Institute entweder ab oder deuten diese um. Sie sehen sich vor allem als Unterstützer_innen und Dienstleister_innen, die notwendigen Sprachkenntnisse zu vermitteln, um die Prüfung zu bestehen, und wollen Migration mit ihren Kursen ermöglichen. Nicht nur Zugangshürden, Integrationsforderungen und Sprachkurse folgen der Nützlichkeitslogik, sondern auch Entscheidungen über Visumsanträge im Konsulat. Hier sind es ebenfalls vor allem Antragsteller_innen mit wenig sozioökonomischem Kapital, die unter Verdacht gestellt und weiteren Überprüfungen unterzogen werden – wie zum Beispiel marokkanische Männer ohne formale Bildung oder deutsche Frauen, die Hartz IV beziehen. Neben Staatsbürgerschaft und Ethnizität ist Klasse seit einiger Zeit die zentrale Kategorie, nach der innerhalb des europäischen Grenzregimes entschieden wird, wer am stärksten reguliert wird – vor allem auch in Politiken des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ (vgl. Block 2014: 16; Wray 2009: 593). Dies zeigt sich auch noch einmal besonders daran, dass bei ›Drittstaatsangehörigen‹ aus Län-
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dern mit höherem Einkommen und aus höheren sozialen Schichten angenommen wird, dass sie westlichen Werten und Verhalten näher seien und somit keiner Integrationsmaßnahmen bedürften. So sind ›Drittstaaten‹ mit durchschnittlich höheren Löhnen – wie die USA, Australien, Israel, Japan oder Kanada – von der Sprachnachweispflicht ausgenommen, was nicht nur die sozioökonomische, sondern auch die ethnokulturelle Hierarchisierung verstärkt (vgl. Block 2014: 11). Die Wirkmächtigkeit der Nützlichkeitslogik in der staatlichen Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ deutet darauf hin, dass Migrationspolitik im biopolitischen Sinn auch immer Arbeitsmarktpolitik ist. In Zeiten eines postliberalen Rassismus verschränkt sich die Verwaltung menschlichen Lebens nach den Logiken der Produktivmachung und Optimierung mit der rassistischen Produktion der ›Anderen‹, die sich mal kulturalistisch, mal biologistisch artikuliert (vgl. Pieper/Tsianos 2011). Während der differenzielle Rassismus (Balibar 1990) auf der Annahme der Unvereinbarkeit der Kulturen aufbaute, zielt der postliberale Rassismus vielmehr auf die proaktive »Vervielfältigung der Grenzen« und damit differenzielle Einschlüsse (Pieper/Tsianos 2011: 119). Dabei treffen ein politischer Nationalismus, der klare Grenzen zieht und Zugehörigkeiten essentialisiert, auf einen auf Konkurrenz beruhenden Markt, der niemanden auszuschließen scheint, »der aber eine allgemeine individuelle Selektion institutionalisiert, deren untere Grenze die soziale Eliminierung der ›Unfähigen‹ und ›Unnützen‹ darstellt« (Balibar 2008: 23). Durch die Sprachnachweispflicht und den damit einhergehenden Export des Leitprinzips des ›Fördern und Fordern‹ werden also nicht nur Migrations-, sondern auch Arbeitsmarktpolitiken externalisiert. Der ethnographische Ansatz, der auf Praktiken, Interaktionen und Innensichten der Betroffenen blickt, kann – im Gegensatz zu politikwissenschaftlichen Arbeiten, die Differenzierungsprozesse vor allem durch rechtliche Kategorisierungen und Klassifikationen in Form von Gesetzestexten und Policy Paper untersuchen – gerade diese subtilen, in den Alltag hineinreichenden Mechanismen der gleichzeitigen Ein- und Ausschlüsse – den differenziellen Inklusionen – sichtbar machen.
6.3 V ergeschlechtlichung und H eteronormierung von B ewegungen Diese alltägliche Herstellung von Grenze und die Vergabe von Mobilitätsrechten in Institutionen und Behörden im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ sind auf allen Ebenen höchst vergeschlechtlicht. Im Gegensatz zu bisherigen Studien im Feld ›Migration und Heirat‹, die zumeist den Fokus auf die Perspektive von Frauen legten, lenkt diese Forschung den Blick auf Anrufungen und Herstellungsprozesse von Gender und Geschlechterverhältnissen innerhalb des europäischen Grenzregimes – also das doing gender while doing border. Damit trägt diese Studie zu einem neuen Feld der geschlechteranalytischen Border Studies bei, die sich Geschlecht aus einem konstruktivistischen Verständnis heraus nähern und damit anschlussfähig an die Methodologie der ethnographischen Grenzregimeanalyse sind, die Grenze ebenfalls als
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soziales Verhältnis und in Alltagspraktiken hergestellt versteht (vgl. Neuhauser et al. 2017: 187 f.). Bereits durch die Eheschließung in Marokko werden ungleiche Geschlechterverhältnisse (re‑)stabilisiert. Das marokkanische Heirats- und Familienrecht – die Moudawana – wird trotz umfassender Reformierung im Jahr 2004 von Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen nach wie vor als Frauen benachteiligend kritisiert. Im Fall binationaler Eheschließungen betrifft dies vor allem die Vorstellung, dass der Mann die Identität an Frau und Kinder weitergibt und deshalb ›muslimisch‹ sein muss, die verstärkte Kontrolle der Sexualität der Frau sowie Paragraphen in der Heiratsurkunde, die der Ehefrau weniger Rechte zugestehen zum Beispiel in Bezug auf das zukünftige Sorgerecht. Durch Überprüfungen und Befragungen in marokkanischen Behörden und Gerichten sowie die Unterzeichnung der Heiratsurkunde werden Paare mit diesen Geschlechterasymmetrien konfrontiert und müssen sich dazu verhalten. Gerade auch deutsche Partner_innen kommen in diesem Moment mit einem anderen Rechtssystem in Kontakt und binden sich durch die Eheschließung an dieses. Was manche Paare erdulden, das Spiel mitspielen und für sich umdeuten, führt bei anderen zu Ängsten und Unsicherheiten. Die Heirat in Marokko bringt auch heteronormierende Effekte mit sich: Gleichgeschlechtliche Eheschließungen sind in Marokko nicht möglich – Homosexualität steht sogar unter Strafe – und so sind queere Personen von dieser Einreisepraxis zunächst ebenfalls ausgeschlossen. Auch die Debatten, die die Einführung der Sprachnachweispflicht und die darauffolgenden Rechtfertigungsstrategien in Reaktion auf Klagen und Kritik in Deutschland rahmten, waren auf mehreren Ebenen vergeschlechtlicht und wurden entlang zweier widersprüchlicher Figuren geführt: die ›dreifache Integrationsverweigerin‹ und die ›unterdrückte, zwangsverheiratete Ehefrau‹. Während im Diskurs um ›Zwangsehe‹ die ›nachziehende Ehegattin‹ – wieder vor allem aus muslimischen Ländern – einerseits viktimisiert und als schutzbedürftig gesehen wird, gilt sie andererseits gleichzeitig als gefährlich, da sie Integration auf mehreren Ebenen verweigere. Sie bleibe als ›Hausfrau‹ und ›Mutter‹ nicht nur wie die Männer in ihrer ethnokulturellen Gemeinschaft verhaftet, sondern zusätzlich auch im Haus und der Familie und ist dabei noch für die Kinder verantwortlich, die sie kulturell und sprachlich isoliere. Trotz dieser hier deutlich werdenden Angst vor ›Integrationsverweigerinnen‹ werden die weiblichen Kursteilnehmerinnen in den Sprachkursen des Goethe-Instituts nicht etwa mit Empowerment-Maßnahmen konfrontiert, sondern vielmehr wieder ›hausfrauisiert‹. Obwohl die sogenannten ›Vorintegrationskurse‹ sehr heterogen zusammengesetzt sind in Bezug auf Bildungsgrad und Berufserfahrung sowie Lebenskonzepte und Zukunftspläne werden weibliche Kursteilnehmerinnen vor allem als ›Hausfrauen‹ und ›Mütter‹ gesehen und auch als solche adressiert: In Gesprächen zwischen Mitarbeiter_innen, in Interaktionen mit Lehrkräften, in Unterrichtsmaterialien und Kursbüchern sowie in Übungen in den Kursen. Männliche Kursteilnehmer werden damit indirekt an ihre Rolle als ›Familienernährer‹ erinnert. Bereits das Einwanderungsformat des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ orientiert sich an dem Modell des männlichen Familienernährers, schreibt ›nachziehenden Frauen‹ den Status als
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›Abhängige‹ zu und forciert damit ›Hausfrauisierung‹ (vgl. Karrer et al. 1996: 121; Morokvaśic 1984: 891). Die vergeschlechtlichte Konstruktion der ›nachziehenden Ehegattin‹ als Gefahr für die Integration und der gleichzeitige Prozess der ›Hausfrauisierung‹ treffen im Goethe-Institut konflikthaft aufeinander. Auch im Konsulat werden permanent Gender und Geschlechterverhältnisse angerufen und hergestellt. Die Aufgabe der Mitarbeiter_innen dieser Institution ist es herauszufinden, ob Antragsteller_innen nur ›zum Schein‹ – zum Beispiel nur für das Visum – geheiratet haben oder eine ›echte‹, sogenannte ›schützenswerte‹ Ehe eingegangen sind. Neben Vorgaben und Anweisungen ›von oben‹ wird hier auf ein situiertes bürokratisches Wissen (Hoag 2011) zurückgegriffen, um Paarbeziehungen zu kategorisieren und zu klassifizieren. Dieses Wissen folgt sowohl vergeschlechtlichten, ethnisierten, klassenspezifischen sowie heteronormativen Logiken und Rationalitäten. Dabei werden Frauen – sowohl die marokkanischen Antragstellerinnen als auch die deutschen Partnerinnen – viktimisiert und Männer, lediglich marokkanische Antragsteller, unter Generalverdacht gestellt und kriminalisiert. Dieser Blick auf die Antragsteller_innen führt dazu, dass marokkanische Frauen seltener Überprüfungen und Befragungen ausgesetzt sind und das Verfahren im Konsulat relativ unbeobachtet durchlaufen können. Marokkanische Männer dagegen stehen im Fokus der Kontrollen, vor allem wenn sie selbst wenig sozioökonomisches Kapital vorweisen können und ihre Paarbeziehung nicht heteronormativen Vorstellungen entspricht – zum Beispiel wenn die Frau älter oder gebildeter ist oder ein höheres Einkommen hat. Unmarkiert bleibt in diesem Kontext der weiße europäische Mann. Auch Helen Wray kommt zu dem Schluss: »Immigration controls over marriage both reflect and reinforce the gendered norms of family life.« (Wray 2015) Im Regieren der Migration durch Heirat kommt es also unter anderem zu einer Ethnisierung der bürgerlichen Kleinfamilie als autonomer Fürsorgestruktur. Diese migrationspolitische Verknüpfung trägt auch zu einer Feminisierung dieses Migrationswegs bei. Männer, die den ›Ehegatten‑/Familiennachzug‹ nutzen, irritieren zunächst binäre Geschlechterkonstruktionen, weil sie aufgrund ihrer rechtlichen Kategorisierung als ›nachziehender Ehegatte‹ in Abhängigkeit zu einer Frau treten. Sie werden während des selektiven Einreiseverfahrens einerseits immer wieder mit ihrer männlichen Rolle als ›Versorger‹ und ›Überlegener‹ konfrontiert und gleichzeitig – können sie diese Eigenschaften zum Beispiel aufgrund ihres sozioökonomischen Status nicht erfüllen – stärker diszipliniert oder sogar in Form einer Verweigerung des Visums im Konsulat von diesem Migrationsweg ausgeschlossen. Dieser kategorisierende Blick der Konsulatsmitarbeiter_innen auf die Antragsteller_innen wird unter anderem dadurch möglich, dass die entsandten Diplomat_innen, die Entscheidungen über Visumsanträge treffen, durch unterschiedliche Regierungsweisen auf zeitlicher, räumlicher sowie sozialer Ebene in ihrem Alltag von der Gruppe der Antragsteller_innen distanziert (gehalten) werden: Beispiele wären ein Rotationsprinzip in Bezug auf die Einsatzländer oder die Privilegierung und Ermöglichung eines exklusiven Lebensstandards aufgrund des Diplomatenstatus.
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Die geschlechteranalytischen Erkenntnisse dieser Studie zeigen zum einen das Potenzial einer ethnographischen Grenzregimeanalyse, Prozesse der Herstellung und der Stabilisierung von Geschlechterverhältnissen im doing border sichtbar zu machen. Gleichzeitig ist die Studie ein Plädoyer, Gender in der Analyse von Migrations- und Grenzpolitiken grundsätzlich stärker mitzudenken und sowohl methodologische als auch theoretische Ansätze in diese Richtung weiterzuentwickeln. So zeigt die Analyse auch, dass die Bedeutung von Geschlecht im Kontext des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ nur verstehbar wird, wenn über Produktionsverhältnisse hinaus auch die Reproduktionssphäre miteinbezogen wird und schließt damit an eine feministische Kritik postoperaistischer Denkansätze (vgl. Dalla Costa/James 1972; Federici 2004; Schultz 2002) an, die auch die Theoretisierungen der ethnographischen Grenzregimeanalyse prägen. Aus dieser Perspektive lässt sich Migration durch Heirat auch immer als Arbeitsmigration verstehen, nicht nur im Sinne von Heirat als Ergebnis von arbeitsbezogener Migration oder des Eintritts in den Arbeitsmarkt in Anschluss an eine transnationale Heirat, wie es Piper und Roces herausarbeiten (2003: 2), sondern auch in Form von unbezahlter Reproduktionsarbeit, die fortan vor allem von Frauen, aber auch von Männern, die über den ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ nach Deutschland einreisen, geleistet wird. Aus der Perspektive des Regierens wird durch diesen Migrationsweg eine Gruppe von Migrant_innen verfügbar (gemacht), die – einmal in Deutschland – als flexible Arbeitskräfte sowohl für den offiziellen Arbeitsmarkt aktivierbar sind, als auch in den Paarbeziehungen und zukünftigen Familien nicht entlohnte Sorgearbeit leisten und aufgrund der Eheschließung sogar durch den Partner oder die Partnerin aus der Perspektive des neoliberalen Staates sozial abgesichert sind. Frauen betrifft dies noch einmal besonders, da ihnen gesellschaftlich sowohl in Marokko als auch in Deutschland Care-Tätigkeiten zugeschrieben werden. Die Soziologin Susanne Schultz hat herausgearbeitet, wie seit den 1990er Jahren Migrationspolitik in der Bundesrepublik verstärkt als Lösungsansatz demografischer Probleme thematisiert wurde (Schultz 2016). In diesen Debatten geht es vor dem Hintergrund einer »alternden Gesellschaft« (vgl. Götz/Rau 2017) sowohl um die Nützlichkeit der Migration, um einen »unmittelbaren kurzfristigen Arbeitskräftebedarf« zu stillen, als auch um einen »längerfristigen biopolitischen Zusammenhang«, »um Fragen einer migrantischen ›Fertilität‹ und darum, wie der nationale Bevölkerungskörper langfristig zusammengesetzt werden soll und welche zukünftigen Staatsbürger_innen ›wir‹ brauchen« (Schultz 2016). Diese Rationalitäten artikulieren sich auch im Kontext von ›Ehegatten-/Familiennachzug‹. So heißt es in der Heiratsmigrationsstudie »Die Integration von zugewanderten Ehegattinnen und Ehegatten in Deutschland« des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) von 2013: »Ehegatten bilden aus demographischer Perspektive ein wichtiges Potenzial.« (Büttner/Stichs 2013: 5) In der Heiratsmigrationsstudie wird weiter zum einen auf die »Entwicklungspotenziale« der ›nachziehenden Ehegatten‹ aufgrund ihres jungen Alters – Durchschnittsalter: 28 Jahre – hingewiesen und schließlich auch auf Kinder als »fester Bestandteil der gemeinsamen Lebensplanung« bei dieser Gruppe von Migrant_innen (ebd.). Während in Europa neue, queere Lebensformen, die Emanzipation der Frau
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sowie der damit einhergehende Rückgang der Geburtenrate neoliberal vermarktet und in den Leistungsimperativ integriert werden (vgl. McRobbie 2010), wird über das Regieren der Migration durch Heirat die Reproduktion sichernde heteronormative Kleinfamilie hergestellt und gefördert. Diese gendertheoretische Analyse bricht auch mit dem hegemonialen Diskurs, in dem die Praxis der Migration durch Heirat im Vergleich zu Arbeits- oder Bildungsmigration zumeist als ›unnütze‹ und ›unproduktive‹ Einwanderung verhandelt wird. Aus einer biopolitischen Perspektive wird die heteronormative Logik auch zu einer der Nützlichkeit und führt zu einer zusätzlichen Ausdifferenzierung sowie Hierarchisierung migrantischer Subjekte.
6.4 D er verzögerte E inreiseprozess als Transmigration Sowohl der bürokratische Prozess der Eheschließung in Marokko als auch der Sprachnachweis und das Visum führen zu einer Verzögerung des Migrationsprozesses bis zu mehreren Jahren. Diese Phase des Wartens kann auch als eine Form der »Transmigration« (Alioua/Heller 2013) interpretiert werden, ein Begriff, den Mehdi Alioua und Charles Heller in Zusammenhang mit dem Aufenthalt von Migrant_innen aus Subsahara-Afrika in Marokko entwickelt haben. Sie sprechen bewusst nicht von Transit-Migration, sondern von Transmigration62, weil Migration in diesem Fall kein Übergang mehr ist, sondern ein dauerhafter Zustand. »Transmigration is a movement in which deterritorialization and reterritorialization alternate in the time-space of migration.« (Alioua/Heller 2013: 176) Damit beschreiben sie eine Phase, in der sich, oft über Jahre, komplexe Strukturen entwickeln, die durch vielfältige Formen von Handlungsmacht und Kollaboration von Migrant_innen geformt und auch transnational aufgespannt seien (ebd.: 175): »Furthermore, we want to emphasize that the new form of migration results from the establishment of social networks that cut across nation-states, allowing these actors to circulate within and between them, despite the will to territorial control.« (Ebd.: 176) Wenn sich Menschen, die sich entschließen, das Einreiseverfahren des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ zu durchlaufen, sich in die Transmigration begeben, überschreiten sie dafür noch keine nationalstaatlichen Grenzen, zumindest nicht direkt. Die Vorverlagerung der Grenze in das Territorium der ›Drittstaaten‹ führt dazu, dass Migration im Sinne von border crossings bereits beginnt, wenn die eigentlichen territorialen Grenzen noch gar nicht überwunden werden. Sie zeigen sich bereits in Marokko vielmehr im Betreten des Büros im Familiengericht mit der Aufschrift »couples mixtes«, mit der Legalisation der Heiratsurkunde im deutschen Konsulat als einem ersten Schritt, um ein Visum 62 Auch Nina Glick Schiller, Linda Basch und Cristina Szanton Blanc sprechen von »Transmigrants« und meinen damit das Phänomen, dass Migrant_innen sich zwar an einem neuen Ort niederlassen, aber trotzdem vielfältige Verbindungen zum Herkunftsland aufrechterhalten und ihr Alltag in transnationale Netzwerke eingebunden ist (vgl. Glick Schiller et al. 1995).
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zum ›Ehegatten-/Familiennachzug‹ zu beantragen, sie materialisieren sich in den Listen mit den Ergebnissen der Deutschprüfung sowie in dem Stempel im Reisepass »Demandé le visa« und schließlich in der Ausstellung des Visums. Dann erst beginnt die Bewegung über die eigentliche territoriale Grenzziehung zwischen Marokko und dem Schengenraum. Durch diese einzelnen Schritte, die durch unterschiedliche Taktiken und Strategien überwunden werden, ist die Phase der Transmigration geprägt, die alle Protagonist_innen – manchmal auch über Jahre – durchlaufen. Die Transmigration der Protagonist_innen dieser Studie impliziert außerdem bereits transnationale Dimensionen, obwohl sie sich selbst noch am selben geographischen Ort befinden (wenn auch neue Orte innerhalb der Stadt oder in der nächstgelegenen Stadt erschlossen werden): Nicht nur die Beziehung zu ihrer_m Partner_in ist transnational, sondern auch durch die Externalisierung des Nationalstaats in Form von Konsulaten sowie Goethe-Instituten wird ihre Bewegung transnational. Auch werden Antragsteller_innen im Konsulat durch Praktiken der Erfassung, Kategorisierung und Klassifizierung zu Datenkörpern, die in ein transnational aufgespanntes Netz von Informations- und Kommunikationstechnologien eingespeist werden. Das Warten auf die Ausreise ist dabei keineswegs eine passive, sondern vielmehr eine aktive Phase für die Menschen, die das Einreiseverfahren durchlaufen: Es werden Dokumente organisiert und Termine bei Behörden vorbereitet, Deutsch gelernt und Kontakt mit dem_der Partner_in über die Entfernung gehalten. Das Durchlaufen der Behörden und Institutionen und die Interaktionen mit Akteuren des Regierens erfordern Praktiken der Selbstführung, -disziplinierung sowie -verwaltung. In dieser Phase werden auch immer wieder Partnerschaft sowie Abhängigkeiten innerhalb der Paarbeziehungen aufgrund unterschiedlicher Staatsbürgerschaften und damit einhergehender Privilegien ausgehandelt. Außerdem werden Netzwerke untereinander gebildet und sich gegenseitig unterstützt. Die Techniken des Regierens der Migration durch Heirat eröffnen nicht nur Möglichkeiten der Kontrolle, Steuerung und Überwachung, sondern auch der Begegnung, Solidarisierung und Unterstützung zwischen Menschen, die migrieren möchten. Zwischen den Protagonist_innen dieser Studie waren diese Verbindungen stark und ich selbst war als Forscherin in diese Netzwerke und Unterstützungsstrukturen auch immer wieder involviert: Sie unterstützten sich gegenseitig beim Deutschlernen, tauschten Übungsbücher aus, die der_die Partner_in ihnen geschickt hatte, entwickelten Tricks bei den Prüfungen, um die Schwächeren mitzuziehen, berieten sich über ›gute‹ und ›schlechte‹ Lehrer_innen, trösteten und ermutigten, wenn jemand scheiterte, teilten Informationen zur Organisation der Dokumente, aber auch zu den Überprüfungen und Befragungen aus und berieten sich, wie diese am besten zu bestehen seien. Sie teilten ihre Ängste und Unsicherheiten, aber auch Wünsche und Pläne für ihr Leben in Deutschland. Die Begegnungen fanden vor allem im Goethe-Institut sowie im Konsulat statt. Kontakt wurde anschließend über Facebook, Whatsapp und Skype gehalten – schon in Marokko, aber auch nach der Ausreise. Selbstverständlich handelt es sich bei dieser Gruppe ebenfalls nicht um eine homogene, die ohne Machtverhältnisse und Diskriminierungen auskommt: Die Interaktionen waren auch von Misstrauen und Konkurrenz geprägt,
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und viele Informationen wurden nur strategisch oder aus Sympathie und damit auch nur an bestimmte Personen herausgegeben. Trotzdem verstärken diese Kollaborationen, Netzwerke und Solidarisierungen die Handlungsmacht der Migrant_innen und damit auch die Autonomie der Migration. Oder in den Worten von Bojadžijev und Karakayali: »Autonomie entsteht in sozialen Auseinandersetzungen, in denen neue Formen von Kooperation und Kommunikation, neue Formen des Lebens konstituiert werden.« (Bojadžijev/Karakayali 2007: 215) Auch Ayse Caglar und Nina Glick Schiller weisen in Anschluss an die Autonomie der Migration darauf hin, dass Migrant_innen an der Konstitution transnationaler Netzwerke aktiv beteiligt seien: »In diesen vermachteten Feldern stehen sie Möglichkeiten zur physischen und sozialen Mobilität gegenüber und kämpfen auch gegen Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit und sozialer Gerechtigkeit.« (Caglar/Glick Schiller 2011: 148) Teil dieser Netzwerke sind dabei auch die transnationalen Paarbeziehungen selbst. Die Partner_innen in Deutschland sind aktiv bei der Umsetzung der Migrations- und Heiratsprojekte beteiligt. Auch wenn diese Beziehungen im ›Privaten‹ verortet werden, handelt es sich dabei um machtvolle Solidarisierungen, die diese Bewegungen über Grenzziehungen hinweg überhaupt erst ermöglichen, diese dadurch auch herausfordern und verändern können. Die aktive Phase des Wartens verstärkt bereits bestehende soziale Beziehungen und bietet Möglichkeiten für die Erschaffung neuer Netzwerke.
6.5 R e -/D estabilisierungen : umkämpfte I nstitution E he Durch die Praxis der Migration durch Heirat werden territoriale Grenzziehungen überschritten: Die Protagonist_innen eignen sich die Institution Ehe an, um Bewegungsfreiheit zu erlangen, die ihnen aufgrund ihrer Kategorisierung als ›Drittstaatsangehörige‹ und ihrer sozio-ökonomischen Situation innerhalb des europäischen Grenzregimes zunächst verwehrt wird. Das Ziel ist dabei ihre eigene Lebenssituation zu verbessern sowie die ihrer Partner_innen und vielleicht zukünftigen Kinder: ob im Sinne von Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt, mehr Rechten und Sicherheit oder in Form von Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Ablösung von der Familie und dem Umfeld. Die Institution Ehe wird für diese Menschen zu einer wichtigen Migrationsstrategie und die Praxis der Migration durch Heirat zu einem Katalysator der Autonomie der Migration. Während ›Schein-‹ oder ›Schutzehen‹ zumeist als offensichtlicher Widerstand gegen territoriale Grenzziehungen und damit einhergehende Immobilisierungen gelesen werden, argumentiere ich in dieser Studie, dass das Moment der Autonomie der Migration bereits in dem Schritt liegt, überhaupt die Institution Ehe zu nutzen, um mobil zu werden und zwar unabhängig davon, ob Menschen dies tun, die sich bewusst für eine ›Schein-‹ oder ›Schutzehe‹ entscheiden oder ihr Verhältnis zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin tatsächlich als Liebesbeziehung verstehen. Die Heiratsurkunde wird so oder so zum Mobilitätskapital – losgelöst davon, ob Schein oder Zweck damit verbunden sind. Vielmehr noch: Ehen in die
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Kategorien ›Liebes‑‹ und ›Scheinehe‹ zu unterteilen entspricht bereits den Logiken des Grenzregimes. Das Internet verstärkt dieses Moment der Autonomie der Migration noch einmal. Nie zuvor war es so einfach, eine_n Partner_in aus einer anderen Weltregion kennenzulernen. Das Netz stellt hier ebenfalls einen wichtigen Akteur in der Vermittlung transnationaler Beziehungen dar, die ohne die digitale Welt nicht (so häufig) zustande kommen würden, weil eine physische Begegnung aufgrund des Grenzregimes und der damit einhergehenden Hierarchisierung im Zugang zu Mobilität – zumindest in eine Richtung – enorm erschwert ist. Gleichzeitig führen solche Migrationsprojekte, die an eine Eheschließung gebunden sind, zu einer Stabilisierung der Institution Ehe. Die Heirat wird in diesem Kontext Verweigerung und Unterwerfung zugleich: ersteres gegenüber globalen Hierarchisierungen im Zugang zu Mobilität, letzteres gegenüber der Institution Ehe mit ihren machtvollen vergeschlechtlichten und heteronormativen Implikationen. In der Analyse der Beweg/gründe der Protagonist_innen sowie deren Narrationen wurde deutlich, dass viele von ihnen traditionelle Vorstellungen von Paarbeziehungen und Geschlechterverhältnissen haben, wie zum Beispiel mit dem Mann als ›Versorger‹ und der Frau als ›Hausfrau‹ und ›Mutter‹. Auch stellen sie selbst in der Umsetzung ihrer Heirats- und Migrationsprojekte permanent Heteronormativität und romantische Liebe her, was zum Beispiel im Konsulat auch eine Strategie werden kann. Doch gleichzeitig zeigt sich, dass innerhalb dieses Rahmens Aushandlungen und Umdeutungen stattfinden, teilweise in Form bewusster Entscheidungen, teilweise gezwungenermaßen, weil es die Praxis der Migration erfordert. So ist es zum Beispiel für viele der Frauen klar, dass sie in ihrer Beziehung die Rolle der ›Hausfrau‹ und ›Mutter‹ einnehmen würden; dieser Umstand schloss für sie jedoch nicht aus, in Deutschland auch zu studieren, eine Ausbildung zu machen und/oder arbeiten zu gehen. Auch bedeutet für alle Protagonist_innen die Umsetzung ihres Heirats- und Migrationsprojekts mehr Selbstständigkeit. Die meisten der Männer kämpfen damit, die Rolle des ›Versorgers‹ und damit hegemoniale Männlichkeit gerade während der Zeit bis zur Einreise nicht erfüllen zu können. Diese Konflikte handeln sie mit ihren Partnerinnen aus und finden oft neue Wege, um diese Ungleichheit, die mit der klassischen Geschlechterasymmetrie bricht, anders zu leben. Die Institution Ehe wird durch die Praxis der Migration durch Heirat nicht nur stabilisiert, sondern es entstehen auch Räume, innerhalb derer neue Lebensformen praktiziert und traditionelle Geschlechterrollen und -verhältnisse aufgebrochen werden. Auch werden von diesen Paaren normative Grenzziehungen, was als Liebe und Ehe gilt, oft überschritten. Bereits durch die transnationale Partnersuche brechen sie mit kulturell und nationalstaatlich gerahmten Vorstellungen von Liebe und Ehe. Besonders irritieren dabei Beziehungen, in denen zwei unterschiedliche Religionen aufeinandertreffen. Oft entsprechen diese Paare auch nicht heteronormativen Kriterien einer Liebesbeziehung, zum Beispiel wenn der marokkanische Mann jünger oder weniger gebildet ist als die deutsche Frau oder die marokkanische Frau Pläne hat zu arbeiten und zu studieren. Diese Grenzüberschreitungen von Liebes- und Eheidealen führen für die Paare im
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Kontext des Grenzregimes permanent zu Disziplinierung und Sanktionen sowohl durch ihr privates Umfeld als auch durch den marokkanischen Staat sowie das deutsche Konsulat. Die Transnationalisierung der Institution Ehe führt auf einer juridischen Ebene ebenfalls zu deren Destabilisierung, ist diese doch nach wie vor eng mit dem Nationalstaat sowie nationalstaatlichen Rechtssystemen verknüpft. Eine transnationale Heirat fordert nationalstaatliche Eheregime heraus und zwingt Akteure des Regierens, auch Heiratsrecht von dem Nationalen als »machtvoller Homogenisierungs- und Ordnungsstrategie« (Götz 2011: 21) zu lösen und neue transnationalisierte Lösungen und Anpassungen zu etablieren. Hier zeigt sich auch: »Migrationen rütteln an dem […] vermeintlich natürlichen Zusammenhang zwischen Volk, Territorium und Regierung.« (Karakayali/Karakayali 2009) Zuletzt finden im Kontext des Regierens der Migration durch Heirat Grenzüberschreitungen in dem Sinne statt, dass es durch das Aufgreifen der Institution Ehe im Regieren der Migration und den Versuchen die Praxis der Migration durch Heirat zu regulieren zu tiefen staatlichen Eingriffen in die Paarbeziehungen kommt. Bereits durch die Eheschließung in Marokko sind die Paare gezwungen ihre Geschichte des Kennenlernens, ihre Kommunikationspraktiken sowie sogar ihre gemeinsame sexuelle Erfahrung offenzulegen. Im Konsulat wiederholen sich diese Eingriffe in die Privatsphäre durch unterschiedliche Praktiken der Kontrolle und Überprüfung. Dabei werden über Techniken der Verunsicherung – wie dem Aufbau von Sprachhürden, die Verwehrung von interpersonalem Kontakt, die Verkomplizierung des Verfahrens, Befragungen, die Themen berühren, die als ›intim‹ empfunden werden – die Antragsteller_innen in dem Sinne regierbar gemacht, dass diese Techniken es bereits im ›Drittstaat‹ möglich machen, Wissen über die Antragsteller_innen herzustellen, diese zu registrieren, zu kategorisieren und zu klassifizieren, aber auch zu überwachen und zu kontrollieren. Diese je nach Erfolgschancen des Visumsantrags unterschiedlich ausgeprägten Verunsicherungen haben auch zur Folge, dass Paare hier Eingriffe zulassen, die sie eigentlich als Grenzüberschreitung empfinden: Beispiele wären hierbei, dass Behörden wie dem Konsulat oder der Ausländerbehörde vermeintliche ‹Liebesbeweise› zur Verfügung gestellt werden, wie Fotos von gemeinsam verbrachter Zeit oder Protokolle ihrer Kommunikation auf Skype oder Whatsapp. Dabei wird permanent neu ausgehandelt, was als ›privat‹ und ›intim‹ gilt. Sowohl der Sprachnachweis als auch das Visum ermöglichen bestimmte Paarbeziehungen – zum Beispiel mit Menschen aus ›Drittstaaten‹, die in der Logik des Grenzregimes als ›unnütz‹ gelten, oder die als ›Betrüger‹ und ›Kriminelle‹ kategorisiert werden – zu destabilisieren und je nach Reaktion und Strategie der Paare deren Einreise zu verhindern. Damit wird auch an dem Grundrecht auf freie Partner_innenwahl und Eheschließung gerüttelt. Durch das Aufgreifen der Institution Ehe im Regieren der Migration eröffnen sich weitere Bereiche des Lebens, die reguliert und normiert werden können (wie die Kommunikation zwischen den Partner_innen, deren Lebens- und Familienplanung oder Herstellung von romantischer Liebe). Das scheinbar Private wird dadurch höchst öffentlich, Beziehungen werden durchleuchtet und in verschiedene Kategorien unterteilt (›Liebesehe‹, ›Zwangsehe‹, ›Scheinehe‹ etc.). Es kommt zu einer Vervielfälti-
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gung von Wissensbeständen über migrantische Subjekte, die in Form von Datenkörpern auch transnational zirkulieren. Das neoliberal-gouvernementale Moment dieser Biopolitik liegt vor allem in der Verlagerung des Regierens in das Subjekt. Es geht eben nicht nur um Fremd-, sondern auch um Selbstführung und die Subjekte werden aktiviert und angerufen, sich selbst zu normieren, anzupassen und zu disziplinieren – zum Beispiel als ›integrationswillig‹ und Teil einer auf Dauer angelegten ehelichen Gemeinschaft, die einer heteronormativen Geschlechterordnung folgt.
6.6 G renzüberschreitung für wen? D as P otenzial ethnographischer R egimeanalysen Diese ethnographische Grenzregimeanalyse zeigt, wie innerhalb des Einreiseverfahrens des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ in Behörden und Institutionen nicht nur darüber entschieden wird, wer einreisen darf, sondern auch Integrationsparadigmen, Geschlechterverhältnisse sowie Vorstellungen von Liebe und Ehe verhandelt werden. In dem ich den Fokus meiner Forschung auf Aushandlungen, Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Akteuren sowohl der Migration als auch der Migrationskontrolle legte, konnte ich sichtbar machen, wie dabei auf mehreren Ebenen Grenzen überschritten und neu verhandelt, aber auch stabilisiert und reproduziert werden. Der Begriff der Grenzüberschreitung umfasst im Deutschen auch einen wertenden Duktus. Laut Duden meint eine Grenzüberschreitung nicht nur die Überschreitung zum Beispiel einer Staatsgrenze, sondern auch die »Missachtung« von Grenzen (vgl. Duden 2018). Ob etwas als ›Missachtung‹ einer Grenze wahrgenommen und wie diese bewertet wird, hängt jedoch stark von der Perspektive ab. Diese normativen Grenzziehungen innerhalb des Grenzregimes waren ebenfalls Forschungsgegenstand dieser Studie und es wurde deutlich, dass scheinbar selbstverständliche Annahmen durch einen Perspektivwechsel uneindeutiger und komplexer werden – zum Beispiel darüber, was Liebe oder Ehe ist, warum migriert oder geheiratet wird und wie Rechtmäßigkeit zu beurteilen ist. Durch den multiperspektivischen Ansatz dieser Forschung wurden die ganz unterschiedlichen Deutungen, Sichtweisen und Bewertungen von Grenzen und Grenzziehungen sichtbar, die in diesem Feld konflikthaft aufeinandertreffen und verhandelt werden. Was ein Paar als legitim empfindet, nimmt der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin der marokkanischen Behörde, des Goethe-Instituts oder des Konsulats vielleicht als Grenzüberschreitung wahr. Welche Perspektive sich durchsetzt und hegemonial wird, ist ein Aushandlungsprozess, der von Machtverhältnissen stark vorstrukturiert ist – sprich: die Perspektive des Konsulatsmitarbeiters hat sehr viel mehr Gewicht als die des Paares. Das Verkomplizieren durch Multiperspektivität ist eine zentrale Stärke der Europäischen Ethnologie_Kulturanthropologie und birgt großes Potenzial hegemoniale Diskurse und selbstverständliche Praktiken innerhalb des Grenzregimes zu hinterfragen und zu kritiseren. Gerade das kulturanthropologische Anliegen der Sichtbarmachung unterdrückter und marginalisierter Positionen und Sichtweisen sowie
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von Machtverhältnissen und Ungleichheiten (vgl. Maase 1999: X) ist damit auch anschlussfähig an feministische, intersektionale sowie dekoloniale Forschungsansätze, wie sie in dieser Studie verfolgt wurden. Die postkoloniale Reflexion bestand zum einen darin, den eigenen Standpunkt sowie die Machtverhältnisse zu analysieren, in denen Wissen im Rahmen dieses Forschungsprojekts produziert wurde und welche Effekte dieses mit sich bringt beziehungsweise bringen kann. Zum anderen ermöglichte die postkoloniale Perspektivierung das Forschungsfeld sowohl immer in seiner Verflochtenheit mit globalen Ungleichheiten, transnationalen Verbindungslinien sowie (neo‑)kolonialen Machtstrukturen zu betrachten als auch in seinem historischen Gewordensein: als Ergebnis einer gemeinsamen europäisch-afrikanischen kolonialen Vergangenheit, die die Verhältnisse zwischen diesen Kontinenten und das europäische Grenzregime bis heute prägt. Damit trägt diese Studie auch zur Entwicklung einer dekolonialen Kritik und einer damit einhergehenden Dezentrierung Europas im Fach Europäische Ethnologie_Kulturanthropologie bei, wie sie Fachvertreter_innen wie Regina Römhild oder Michi Knecht im Sinne einer kritischen Europäisierungsforschung fordern (vgl. Knecht/Römhild 2018). Die Historisierung des Forschungsfelds zeigt auch, dass sowohl Migrationsbewegungen als auch Eheschließungen – besonders in ihrer Verschränkung – bereits seit der Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert im Fokus staatlicher Regulierung stehen. Eheschließungen bekamen schon damals vor allem dann behördliche Aufmerksamkeit und wurden verstärkt kontrolliert, sobald sie nationalstaatliche Grenzen überschreiteten: So etablierte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts im Rechtsbereich auch die Kategorie der ›Scheinehe‹ nach und nach und es kam während der Weimarer Republik zu einer »Verrechtlichung des Binationalen« (Lorke 2017) in der Gesetzgebung, in Standesämtern und Gerichten. Auch wurden während der Kolonialzeit – wie ich am Beispiel der Protektoratsherrschaft in Marokko Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts verdeutlichte – koloniale Herrschaftsverhältnisse unter anderem über das Verbot binationaler Beziehungen und Heiraten aufrechterhalten. Kolonialismus war immer auch Sexual- und Geschlechterpolitik (vgl. Stoler 2002). In der Praxis der Migration durch Heirat verschränken sich also zwei Handlungsfelder von biopolitischem Interesse im Sinne der Verwaltung und Regulierung von Individuen und Bevölkerung, das bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht. Eine ethnographische Grenzregimeanalsye ermöglicht dieses biopolitische Regieren im Sinne einer »vollständigen Durchsetzung des Lebens« (Foucault 2014: 135), das sowohl Behörden und Institutionen als auch Familien und Paarbeziehungen und vor allem auch Indviduen selbst durchdringt und sich dabei tief in das Soziale hineinzieht, zu untersuchen und kleinteilig nachzuzeichnen. Diese Form des multiskalaren ethnographischen Forschens mit einem Fokus auf Politiken und der Mehrschichtigkeit des Regierens – wie sie im Rahmen dieser Studie durchgeführt wurde – bringt neue Herausforderungen und Konflikte mit sich. Durch die damit einhergehende Vervielfachung der Kontexte, in denen sich die Forscherin bewegt, multiplizieren sich auch übliche Problematiken und Widersprüche einer
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Feldforschung wie ethische Fragen, die eigene politische Positionierung, Mehrsprachigkeit, emotionale und Vertrauensarbeit, Anpassungsfähigkeit, Temporalisierung und Multilokalität. Diese Fragen sind ein wichtiger Teil des Reflexionsprozesses dieser Forschung. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass es sich bei dem Forschungsfeld der staatlichen Regulierung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ um einen höchst überwachten und kontrollierten Raum handelt, in dem vor allem die Menschen, die das Einreiseverfahren durchlaufen, unter permanenter Überwachung und Kontrolle stehen. Zu diesem multiplen Beobachtungsregime trägt die Forscherin zusätzlich bei und es erfordert einen noch sensibleren Umgang mit Techniken der Befragung und Dokumentation. Gleichzeitig wurde mit dieser Studie auch wieder deutlich, dass es gerade einem Fach wie der Europäischen Ethnologie_Kulturanthropologie – mit ihrer ethnographischen Herangehensweise und dem Blick auf Alltage und Mikropraktiken sowie einer starken Reflexion der eigenen Situiertheit und ethischer Fragen – gelingen kann, Zugang zu solchen machtdurchdrungenen sowie der Öffentlichkeit vorenthaltenen Kontexten zu bekommen und diese damit auch beschreibbar und sichtbar zu machen. Neben diesen methodischen Herausforderungen, die in dieser Studie bearbeitet und reflektiert wurden, ermöglicht die methodologische und theoretische Herangehensweise der ethnographischen Grenzregimeanalyse sich neuen Themen, Forschungsfeldern und Perspektiven im Fach Europäische Ethnologie_Kulturanthropologie zuzuwenden und einen kulturwissenschaftlichen Beitrag zur Analyse von Macht, Politik, Herrschaft, staatlicher Regulierung und globaler Ungleichheit zu leisten. Der Ansatz, Forschungsgegenstände als Regime zu verstehen und zu konzipieren – im Sinne eines Netzwerks unterschiedlicher Akteure, Diskurse, Praktiken und Materialitäten, innerhalb dessen in Aushandlungen und Konflikten Institutionen und Strukturen wie Grenze oder Ehe im Alltag hergestellt sowie umkämpft und ausgehandelt werden – hat damit nicht nur für die Analyse globaler Kämpfe um Mobilität großes Potenzial, sondern auch für andere kulturanthropologische Forschungsbereiche. Mit dieser Studie wurde eine Migrationspraxis und deren staatliche Regulierung sichtbar gemacht, die oft ausgeblendet wird – sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der Migrations- und Grenzregimeforschung. Dabei wurde ein radikal konstruktivistischer Ansatz verfolgt und die migrationspolitische Kategorie des ›Ehegatten‑/ Familiennachzugs‹ als ein »Produkt der Grenze« (Hess et al. 2018: 266) und damit ein Ergebnis globaler Kämpfe um den Zugang zu Mobilität theoretisiert. Der Blick der Autonomie der Migration ermöglichte dabei, besonders auch die Menschen, die dieses Einreiseverfahren des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ durchlaufen, als handelnde Akteure zu verstehen und herauszuarbeiten, wie sie sowohl durch Formen der Aneignung als auch Bewegungen des Sich-Entziehens und Entgehens mit ihren Heiratsund Migrationsprojekten zu sozialer Transformation beitragen. Diese größeren Entwicklungen und Veränderungen lassen sich aus kulturanthropologischer Perspektive vor allem dann analysieren und verstehen, wenn die Ergebnisse mehrerer Studien und Analysen anderer Regierensfelder des Grenzregimes, aber auch zum Beispiel von
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Gender- und Arbeitsregimen relational zusammengedacht und verdichtet werden, wozu ich mit dieser Studie ebenfalls einladen und beitragen möchte. Würde diese Studie fortgesetzt, wäre zu untersuchen, wie sich diese in ›Drittstaaten‹ vorverlagerten Politiken nach der Einreise artikulieren und wirkmächtig werden; wie sich die Grenze weiter durch Subjekte, Paarbeziehungen und Alltage zieht und umkämpft wird. Die schrittweise Aneignung von Mobilität und Überwindung der europäischen Außengrenze endet nicht mit dem Betreten des bundesdeutschen Territoriums, sondern die Grenze schreibt sich fort. Diese Phase nach der Einreise ist unter anderem durch prekäre aufenthaltsrechtliche Bestimmungen vorstrukturiert, da der Aufenthalt zunächst durch die dreijährige Ehebestandszeit an die Eheschließung gebunden ist und durch ›Integrationskurse‹ und Interaktionen mit der Ausländerbehörde durch weitere Regierensweisen und Subjektivierungsprozesse geprägt ist. Auch sind die Eingereisten mit Diskriminierung am Arbeitsmarkt konfrontiert: Migrant_innen arbeiten – je nach Staatsbürgerschaft und kulturellem Kapital – aufgrund des vergeschlechtlichten sowie ethnisierten Zugangs zu Erwerbsarbeit zumeist unter ihren Qualifikationen und sind stärker von Prekarisierung und Armut betroffen (vgl. Friedrich/Pierdicca 2014). Wie sich all dies auf Einzelne und auf Paare auswirkt, wäre interessant und politisch wichtig zu erforschen. Es wäre außerdem weiter zu verfolgen, wie die vorverlagerten Politiken wiederum auf Politikfelder in den bundesdeutschen beziehungsweise europäischen Kontext zurückwirken: Welche Effekte hat die Praxis der ›Vorintegrationskurse‹ und der Deutschprüfung vor der Einreise auf Integrations- und Sprachpolitiken in Deutschland? Wie werden Einzelklagen von Menschen aus ›Drittstaaten‹ auf Parlamentsebene und Gerichten auf nationalstaatlicher sowie europäischer Ebene weiter verhandelt? Und inwiefern wirkt die Praxis der Kategorisierung von Paarbeziehungen und Überprüfung von ›Scheinehen‹ in deutschen Konsulaten außerhalb Europas auf die Praktiken und Diskurse in Behörden und Institutionen in Deutschland zurück wie Ausländerbehörden, Standesämter oder das Bundesverwaltungsamt? Fast wäre ein Teil dieser Forschungsarbeit im Sommer 2014 zu einer historischen Arbeit geworden, als nach dem Urteil des EuGH die Chancen gut standen, dass die Sprachnachweispflicht für ›nachziehende Ehegatten‹ gekippt wird (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union 2014b). Mittlerweile ist das Thema wieder von den Tagesordnungen der Parlamente sowie aus den Medien verschwunden und die Sprachnachweispflicht wird nicht länger in Frage gestellt. Stattdessen wurde für Geflüchtete mit subsidiärem Status 2016 zunächst eine Aussetzung des ›Ehegatten-/Familiennachzugs‹ beschlossen und schließlich Anfang dieses Jahres eine Obergrenze eingeführt. Seit dem Sommer der Migration 2015 kam es zu einer extremen Verschärfung der Einreisepolitiken und des Aufenthaltsrechts in Deutschland, aber auch in anderen EU-europäischen Ländern. In diesen Zeiten gewinnt auch Migration durch Heirat beziehungsweise Bleiben durch Heirat – im Spannungsfeld zwischen dem individuellen Recht auf Schutz von Ehe und Familie und dem Interesse Migration zu kontrollieren – wieder an Bedeutung. Die Ehe ist und bleibt eine der wichtigsten
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Migrationsstrategien im europäischen Grenzregime, denn wie Mehdi – einer meiner Interviewpartner_innen aus Casablanca – es ausdrückt: »Heiraten können sie nicht stoppen.«
6.7 E pilog : D ie G eschichte von A sija und A nes 20. November 2015. 10:00 Uhr. Ein Standesamt in einer Kleinstadt in Süddeutschland. Die Hochzeitsgesellschaft trifft ein. Darunter Anes, circa 1,70 cm groß, kurze schwarze, grau-mellierte Haare. Er trägt einen offenen schwarzen Mantel, darunter Hemd, Weste und ein Jacket, eine Anzughose und dunkle Lederschuhe. An seiner Seite läuft Asija, etwas kleiner als er, brauner Steppmantel, darunter ein grauer Rollkragenpullover, auf dem in Großbuchstaben »FREE« steht, dazu Jeans und Turnschuhe. Ihren Kopf schmückt ein weißes Kopftuch, das zur Stirn mit weißer Spitze abschließt und ihre dunkelrote Kunststoffbrille an diesem Tag besonders hervorstechen lässt. Im Arm hält sie einen Strauß rote Rosen, der noch in Folie mit dem Fairtrade-Symbol eingewickelt ist. Im Vorraum des Standesamts warten bereits zwei junge Männer, die Trauzeugen, wie mir erklärt wird. Sie beide sitzen jeweils auf einem Stuhl, der eine in Jogginghosen, der andere in Jeans, mit Sweater und Lederjacke. Sie zeigen kaum eine Regung als das Brautpaar eintritt, geben dem Bräutigam nur kurz die Hand und begrüßen ihn mit »Salam aleikum«. Aus einer der Türen tritt ein älterer Mann mit grauem Bart und müden Augen und kommt auf die Runde zu. Auch er gibt jedem die Hand und sagt mit tiefer, rasselnder Stimme und einem Lächeln »Merhaba«. Schließlich kommt die Standesbeamtin dazu, eine großgewachsene Frau mit schulterlangen hellbraunen Haaren und bittet alle, ihr zu folgen. Wenn sie spricht, ist ihr bayerischer Dialekt nicht zu überhören. Auch ich bin an diesem Tag Teil der Hochzeitsgesellschaft. Als Freundin und Forscherin wurde ich von Asija und Anes gefragt, ob ich dabei sein möchte, wenn das Ja-Wort gesprochen wird, wenn endlich ihr Zusammensein besiegelt wird. Wir stehen nun vor dem Zimmer, wo die Trauung durchgeführt werden soll. Die Männer unterhalten sich auf Arabisch und Deutsch und lachen immer wieder. Der ältere Mann, der für die Übersetzung zuständig sein wird, fragt die beiden jungen Männer, wo sie herkommen. Der eine antwortet »Afghanistan«, der andere »Suria«. Anes deutet auf die beiden und sagt laut »Taliban«. Es lachen alle. Auch er kennt die beiden kaum. Für die Anerkennung der Eheschließung nach marokkanischem Recht sind zwei muslimische Trauzeugen notwendig. Anes war am Morgen zu einer Geflüchteten-Unterkunft im Ort gefahren und hatte sie gefragt, ob sie spontan einspringen würden. Die Standesbeamtin kommt auf mich zu und fragt mich, was ich davon halte, dass sie Orangensaft zum Anstoßen danach besorge. Sie wirkt unsicher. Ich versichere ihr, dass das eine gute Idee sei und kurz darauf läuft sie mit einer Flasche Orangensaft sowie Sektgläsern an mir vorbei in den Raum, wo gleich die Eheschließung stattfinden wird. Wir folgen ihr. Drinnen steht ein großer Schreibtisch, dekoriert mit ein paar Kerzen und grünen Zweigen. Der Übersetzer und die Standesbeamtin nehmen
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dort nebeneinander Platz, gegenüber Asija und Anes. Hinter dem Paar befinden sich mehrere Stuhlreihen, etwa für 20 Leute. Dort sitzen die beiden jungen Männer und ich. Die Standesbeamtin steht auf. Die Trauung beginnt. Sie stellt sich kurz vor und sagt: »Ich habe schon sehr viele Ehen geschlossen, aber trotzdem stehe auch ich immer wieder vor Herausforderungen.« Über ein Jahr habe sie das Paar begleitet, bis sie endlich den Bescheid hatten, dass einer Eheschließung in Deutschland nichts mehr im Wege stehe. Das Besondere sei, dass die beiden ihre Ehe in einem Land beginnen würden, dessen Staatsbürgerschaft sie beide nicht haben. Und so musste nicht nur das deutsche Recht, sondern auch das marokkanische sowie das irakische berücksichtigt werden. Aus diesem Grund säßen hier heute auch zwei muslimische Trauzeugen. Der Übersetzer wiederholt alles noch einmal für Asija auf Arabisch. Die Standesbeamtin fährt fort. Sie beide kämen aus einem anderen Kulturkreis und müssten sich hier in Deutschland zurechtfinden. Insbesondere für Asija sei es sicher nicht einfach, da sie gerade erst vor einer Woche hier angekommen sei und sich noch in einem Dazwischen befinde. Bei diesen Problemen könnten sie sich nun gegenseitig unterstützen und sich wieder ein Stück Heimat geben. Anes blickt immer wieder zu Asija, schaut erst prüfend und lächelt dann. Bevor sie sich nun das Ja-Wort geben, müsste sie beide noch fragen, ob sich in der Zwischenzeit noch etwas geändert habe, also ob sie im Ausland noch eine Ehe geschlossen hätten. Anes antwortet gleich »Nein« und schaut etwas ungläubig. Der Übersetzer erklärt die Frage Asija. Sie antwortet auf Arabisch. Die Standesbeamtin sagt nur lächelnd: »Ich gehe davon aus, dass sie auch mit Nein geantwortet hat.« Schließlich stehen die beiden auf und antworten auf die Frage, ob sie sich jeweils zu Mann und Frau haben wollen, beide mit »Ja«. Es folgt die Verlesung der Heiratsurkunde und alle Anwesenden – außer mir – unterschreiben. Die Trauung ist beendet und nun gibt es Umarmungen, »Alf Mabrouk«, »Herzlichen Glückwunsch« und erleichterte Gesichter. Wir stehen im Kreis und jeder schlürft an seinem Orangensaft. Kurz ist es still. Es weiß wohl keiner so genau, was man jetzt sagen könnte. Zumal Anes, Asija und ich die Einzigen sind, die sich wirklich kennen. Und so geht es um die Anerkennung der Hochzeit nach irakischem und marokkanischem Recht. Die Standesbeamtin würde in den nächsten Tagen eine internationale Heiratsurkunde erstellen, mit der sie dann zum irakischen und dem marokkanischen Konsulat gehen könnten. Die Anerkennung von irakischer Seite sei einfach, meint Anes. Von Marokko dagegen, denke er, dass es wieder Probleme geben werde. Der Übersetzer betont, dass das eigentlich kein Problem sein dürfe. Irgendwann sagt Anes, dass er jetzt die beiden Trauzeugen zurückbringen müsse. Wir verabschieden uns von der Standesbeamtin und dem Übersetzer, dem Asija noch 300 Euro in bar in die Hand drückt und er gibt ihnen seine Visitenkarte. Wir sitzen zu fünft in dem Kleinwagen von Anes. Ich sitze hinten mit den beiden jungen Männern, denen Anes als Dankeschön jeweils zwei schwarze Michael-Jackson-T‑Shirts überreicht hat. Die Stimmung ist fröhlich. Anes fährt Asija und mich zu ihrer Wohnung und dann weiter, um die beiden anderen nach Hause zu bringen und selbst zur Arbeit zu fahren. Er hat einen Stand, wo er Chawarma verkauft und den er
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erst vor kurzem eröffnet hat. Die beiden sind glücklich: Zwei Jahre und vier Monate haben sie gekämpft und sie hatten am Ende schon die Hoffnung aufgegeben, dass sie sich eines Tages tatsächlich sehen würden. Zum Abschied lädt Anes mich noch zu ihrer Hochzeit ein. Zur »richtigen«, wie er betont, nicht wie beim Standesamt »für die Papiere, für die Regierung«, sondern »eine islamische, wo wir beten und so«. Ein Jahr später kommt ihr Sohn auf die Welt. Er heißt Mohamed.
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Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand
Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3
Sabine Hark, Paula-Irene Villa
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Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5
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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)
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Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)
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