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German Pages 219 [222] Year 2017
Ibtissame Yasmine Maull
Gottesbilder und Gottesvorstellungen vom Kindes- zum Jugendalter Eine qualitativ-empirische Längsschnittuntersuchung
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3076-5 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Dorothee Schönau, Wülfrath Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier
Danksagungen
Dankbar blicke ich zurück auf einen langen Weg, der zum Erscheinen dieses Buches geführt hat. Unterwegs habe ich vielfach Unterstützung erfahren, die mir sehr wichtig war. In erster Linie möchte ich den Mädchen und Jungen danken, die mir in Offenheit und Authentizität ihre Gedanken über Gott anvertraut haben und damit den Beginn des Forschungsprojektes gesetzt haben. Sie und die Kinder und Jugendlichen, die ich unterrichte, sind gleichermaßen meine Schüler wie meine Lehrer. Meinem Doktorvater Prof. Friedrich Schweitzer danke ich herzlich für die Begleitung und für seine stets ermutigende Unterstützung dieser Arbeit. Ebenso gilt mein Dank dem Doktorandenkolloquium sowie allen kritischen Lesern für hilfreiche Anregungen und dem Neukirchener Verlag, besonders Herrn Ekkehard Starke, für die gute Zusammenarbeit. Auch die Ermutigung und der praktische Beistand der Tübinger Freunde waren für mich ein bedeutsamer Antrieb, das Projekt zum Abschluss zu bringen. Nicht zuletzt danke ich meiner Familie, insbesondere meiner Mutter, deren Unterstützung ich mir immer sicher sein kann.
Inhalt
1. Einleitung ................................................................................11 2. Zum Stand der Forschung ........................................................18 2.1 Erforschung von Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen anhand von Bilder- und Textsammlungen ......18 2.1.1 Eine frühe Stufentheorie zur religiösen Entwicklung anhand von Gottesdarstellungen (Harms 1944) ........18 2.1.2 Tiefenpsychologische Auswertung von gemalten Gottesbildern von Kindern und Jugendlichen (Siegenthaler 1980) ..................................................20 2.1.3 Kinderbilder als Zugang zu den Gottesvorstellungen von 343 Kindern (Bucher 1994) ...............................22 2.1.4 Entwicklung des gezeichneten Gottesbildes im Zusammenhang mit der (nicht) religiösen Sozialisation (Hanisch 1996) ....................................26 2.1.5 Kinder und Jugendliche stellen Fragen an Gott (Boßmann/Sauer 1984) ............................................30 2.1.6 Eine Examensarbeit zu Texten als Zugang zu den Gottesvorstellungen von Oberstufenschülern (Möller 2010) ..........................................................33 2.2 Untersuchungen zu Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen anhand von Bildern und ergänzenden Interviews ..........................................................................35 2.2.1 Eine feministische Perspektive auf gemalte Gottesbilder von Mädchen (Klein 2000) ...................35 2.2.2 Eine Diplomarbeit zu gemalten Gottesbildern in der frühen Kindheit (Eckerle 2001) ..........................40 2.3 Untersuchungen von Gottesvorstellungen anhand weiterer Methoden .............................................................42 2.3.1 Kinder verschiedener Religionen erklären Gott spielerisch (Heller 1986) ...........................................42 2.3.2 Die Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen (Szagun u.a.) ............................................................47 2.4 Zusammenfassung: Forschungsergebnisse zu Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen ......................55
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Inhalt
3. Methodische Überlegungen: Wie lassen sich Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen sinnvoll erheben? ................................................................................... 57 3.1 Gemalte Bilder als Zugang zu inneren Bildern und Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen? .......................... 57 3.2 Der Produktionsprozess ..................................................... 59 3.3 Der Einfluss des Entwicklungsstandes der zeichnerischen Kompetenz ........................................................................ 60 3.4 Interpretation der Bilder: »Dokumentarische Methode« nach Hilger und Rothgangel .............................................. 62 3.5 Durchführung von ergänzenden Interviews ........................ 65 3.6 Zentrale Kategorien der Interpretation von Gottesvorstellungen ..................................................................... 68 3.6.1 Anthropomorphe oder symbolische Gottesbilder? ..... 68 3.6.2 Individualität der Gottesvorstellungen oder überindividuelle Trends? ........................................... 68 3.7 Fazit: Möglichkeiten und Grenzen der Auswertung von Bildern und Interviews zur Erfassung des Gottesbildes ........ 73 Exkurs zum Bilderverbot in religionspädagogischer Perspektive ....... 75 4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung ... 79 4.1 Fragestellung und Vorgehensweise der Untersuchung .......... 79 4.2 Einzelfallanalysen ............................................................... 88 4.2.1 Fabian – Gott als räumlich und zeitlich Allgegenwärtiger ...................................................... 89 4.2.2 Vincent – Gott als Sonnengesicht mit dunklen Aspekten .................................................................. 94 4.2.3 Henrike – Gott, der die Erde in der Hand hält ......... 98 4.2.4 Clemens – Gott als großes Rätsel ............................ 103 4.2.5 Wiebke – vom »durchsichtigen« Gott zu Gott als Solidarität zwischen den Menschen......................... 108 4.3 Gesamtanalyse der Untersuchungsergebnisse .................... 112 4.3.1 Zentrale Motive von Gottesvorstellungen im Kindesalter ............................................................ 112 4.3.2 Zusammenfassende Interpretation t1 ...................... 127 4.3.3 Zentrale Motive der Gottesvorstellungen im Jugendalter ............................................................ 130 4.3.4 Zusammenfassende Interpretation t2 ...................... 141 4.4 Entwicklung der Vorstellungen vom Kindeszum Jugendalter ............................................................... 144 4.4.1 Entwicklung der Gottesvorstellungen aus subjektiver Perspektive der Jugendlichen ................. 144
Inhalt
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4.4.2 Entwicklungspsychologische und religionspädagogische Interpretation der Veränderung der Gottesvorstellungen ................................................ 149 4.5 Zum Verhältnis von mentalem Bild, gemaltem Bild und erklärtem Bild .................................................................. 163 5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik .................................. 165 5.1 Veränderung und Nicht-Veränderung der Gottesvorstellungen als Aufgabe für die Religionsdidaktik ................ 165 5.2 Grundprinzipien einer Religionsdidaktik, die die Entwicklung von Gottesvorstellungen begleiten will.......... 168 5.3 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott am Beginn der Sekundarstufe I .............................................. 171 5.4 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott am Beginn der Sekundarstufe II ............................................. 183 5.4.1 Herausforderung und Chance: Naturwissenschaftliches Weltbild und christlicher Glaube .......... 184 5.4.2 Herausforderung und Chance: Theodizee ............... 187 5.4.3 Konkretion für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe II ..................................................... 193 Literaturverzeichnis ...................................................................... 201 Abbildungen ................................................................................ 207
1. Einleitung
Die Frage nach Gott ist zentraler Bestandteil des evangelischen Religionsunterrichts. Für Schülerinnen und Schüler aller Klassenstufen ist es gleichermaßen bedeutsam, dass mit ihnen über Gott, sein Wesen und sein Wirken reflektiert wird. Ende der 1980er Jahre stellte Karl Erst Nipkow die Forderung auf, dass die Gottesfrage eine zentrale Dimension des Religionsunterrichts im Jugendalter sein müsse, damit Alternativen zum »Erwachsenwerden ohne Gott« entstehen.1 Dies griff die EKD-Denkschrift von 1994 auf, indem sie darlegte, inwiefern »um Gott kreisende[…] Erwartungen und Anfragen«2 Jugendlicher eine wichtige Aufgabe und das Alleinstellungsmerkmal des Religionsunterrichts seien und dass diese daher als Kerncurriculum des Religionsunterrichts anzusehen seien. Inzwischen ist diese Sichtweise, die der Gottesfrage eine zentrale Bedeutung für die Religionspädagogik einräumt, hinterfragt worden. In diesem Sinne deuten beispielsweise Werner Ritter, Helmut Hanisch, Erich Nestler und Christoph Gramzow im Jahr 2006 die Ergebnisse ihrer Untersuchung von Ansichten Jugendlicher zur Theodizeefrage so, dass diese Frage völlig an Plausibilität verloren habe. Da Gott für Jugendliche keine Rolle mehr spiele, beschäftigen sie sich auch nicht mit dem Problem der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leids.3 Die Kategorie der sogenannten Gottesbilder durchzieht jedoch spätestens seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts die religionspsychologische Literatur. Von der Psychoanalyse wurde das Gottesbild von Menschen zunächst sehr kritisch betrachtet. Sigmund Freud sah alle Vorstellungen von Gott als Ausdruck eines kindlichen Wunsches nach Schutz und somit bei Erwachsenen als nicht entwicklungsgerechtes Persönlichkeitsmerkmal an. Die neuere Psychoanalyse wandte sich von dieser negativen Perspektive auf Religion ab. So weist beispielsweise Ana-Maria Rizzuto darauf hin, dass die Entstehung von Gottesvorstellungen keineswegs nur auf den so genannten Ödipuskonflikt zurückgeht. Ihr An1 2 3
So der Titel. Vgl. Nipkow, Erwachsenwerden. Identität und Verständigung, 7. Vgl. Ritter u.a., Leid und Gott.
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1. Einleitung
satz beschreibt die Entstehung von Gottesvorstellungen im Zusammenhang der Familie. Für Rizzuto gehören Gottesvorstellungen wesensmäßig zum Menschen. Sie erklärt deren Entstehung im Rahmen der Beziehung zur Mutter und der Individuation des Kindes durch die Entwicklung von Objektrepräsentationen. Gottesvorstellungen sind laut Rizzuto selbstverständlicher Teil der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen, so dass diese den Makel der Regressivität, der ihnen von der klassischen Psychoanalyse zugeschrieben wurde, verlieren.4 Rizzuto geht jedoch davon aus, dass das Jugendalter bei der Entwicklung von Gottesvorstellungen eine untergeordnete Rolle spielt. Anders urteilt beispielsweise Jean-Pierre Deconchy, der von der Ablösung des erlernten durch ein individuelles Gottesbild während des Jugendalters ausgeht.5 Dem entspricht auch die Position von Voss, der schon 1926 postulierte, die »›Emergenz‹ des explizit-Religiösen dürfte […] vergleichsweise spät erfolgen«6. Auf diese Sichtweise gehen die zahlreichen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte zurück, die sich der Frage nach den Gottesbildern von Kindern und Jugendlichen gewidmet haben. Zeugnis vom Interesse daran geben beispielsweise der 1994 von Vreni Merz herausgegebene Sammelband »Alter Gott für neue Kinder?«7, der sich intensiv mit methodologischen Fragestellungen auseinandersetzt, sowie die Veröffentlichung Helmut Hanischs zu seiner großen Studie zur zeichnerischen Entwicklung von Gottesbildern bei Kindern und Jugendlichen.8 Es wird also deutlich, dass die These des sich im Laufe von Kindheit und Jugend wandelnden Gottesbildes die religionspädagogische Diskussion durchzieht. Bei genauerer Betrachtung muss man allerdings erkennen, dass an dieser Stelle keine verlässlichen Längsschnittuntersuchungen vorliegen. Für einen wissenschaftlich fundierten Umgang mit der Frage nach Gottesbildern von Kindern und Jugendlichen fehlt demnach eine entsprechende Grundlage. So ist es aus Sicht der religionspädagogischen Wissenschaft notwendig, das Thema eingehender zu beleuchten. Im Hinblick auf die Bedeutung des Themas Gottesbilder für die religionspädagogische Praxis ist die Durchsicht der gängigen Lehrbücher für den Religionsunterricht im Gymnasium und in der Realschule interessant. In den Ausgaben für die fünfte und sechste Klasse wird die Frage »Ach 4
Die hier in aller Knappheit dargelegten Positionen gehen zurück auf: Freud, Totem und Tabu; Rizzuto, The Birth of the Living God; Heine, Grundlagen, insb. 194–208 zu D.W. Winnicott. 5 Vgl. Schweitzer, Lebensgeschichte, 222. 6 So bei Bucher, Entwicklung, 18. 7 Daraus finden in der vorliegenden Arbeit vor allem der Artikel von Bucher »Alter Gott zu neuen Kindern«, aber auch zahlreiche andere Beiträge Beachtung. 8 Vgl. Hanisch, Zeichnerische Entwicklung.
1. Einleitung
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Gott – wie siehst du denn aus?«9 thematisiert. Zunächst werden dazu menschliche Vorstellungen von Gott in Form von Bildern und Aussagen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen präsentiert.10 Die zu den Materialien vorgeschlagenen Arbeitsaufträge sehen vor, dass die Kinder in Anlehnung an und in Abgrenzung von den präsentierten zeitgenössischen Gottesvorstellungen ihre eigenen Vorstellungen formulieren. Hinzu tritt die Auseinandersetzung mit dem biblischen Bilderverbot11 und der biblischen Rede von Gott in Psalmen oder Gleichnissen.12 Dies dient vor allem der Einordnung der biblischen Rede von Gott in die Alltags- und Vorstellungswelt des alten Israel. Des Weiteren wird die Erkennbarkeit Gottes hinterfragt.13 Einzelne Lehrbücher ergänzen dies durch anspruchsvolle Materialien zur Frage nach der Führung Gottes14 oder zur Veränderung von Gottesbildern im Lebenslauf.15 Bis auf wenige Ausnahmen sind sowohl das angebotene Material als auch die Arbeitsaufträge anschaulich und konkret. In den Lehrbüchern für die neunte und zehnte Klasse kommt die Thematik der Gottesbilder ebenfalls vor, nun aber in abstrakterer Form. Dazu werden Positionen Jugendlicher zur Frage nach Gott vorgestellt.16 Darüber hinaus wird eine altersgerechte Beschäftigung mit dem Modell zur Entwicklung von Gottesvorstellungen nach Oser und Gmünder angeregt,17 und wie bereits für die fünfte und sechste Klasse wird wieder das biblische Reden von Gott in die Lehrbücher aufgenommen.18 Für die Jugendlichen in Klasse neun und zehn erfolgt dann eine Zuspitzung auf die Theodizeefrage, auch in Bezug auf die Verbrechen des Nationalsozialismus.19 Die Analyse der vorgeschlagenen Arbeitsaufträge zeigt eine Konzentration auf die kritische Auseinandersetzung und persönliche Stellungnahme zu den präsentierten Materialien: Die Schülerinnen und Schüler sollen die biblischen Sprachformen in ihrem historischen Kontext verstehen und die Relevanz des Zusammenhangs von Gottesglaube und Leiderfahrungen in der heutigen Zeit bedenken. Auch in Lehrbüchern für die gymnasiale Oberstufe wird das Thema Gottesbilder aufgenommen, indem die schon dargestellte Entwicklung hin zu abstrakteren Fragestellungen fortgesetzt wird. Im Fokus bleiben 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Kursbuch elementar 5/6, 80. Vgl. Kursbuch 5/6, 110f., Kursbuch elementar, 80f., Moment mal! 1, 31.35. Vgl. Moment mal! 1, 30. Vgl. Kursbuch elementar 5/6, 86–89, Kursbuch 5/6, 109, Moment mal! 1, 32f. Vgl. Spurenlesen 1, 62–64, Vgl. Spurenlesen 1, 60f. Vgl. Moment mal! 1, 40f. Vgl. Kursbuch 9/10, 13–15. Vgl. Kursbuch elementar 9/10, 76f. und Kursbuch 9/10, 16f.20. Vgl. Kursbuch 9/10, 18f. Vgl. Kursbuch elementar 9/10, 78.83 sowie Kursbuch 9/10, 24–37.
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1. Einleitung
die persönlichen Vorstellungen Jugendlicher und Erwachsener von Gott sowie die Rede von Gott in der heutigen Alltagswelt.20 Hinzu tritt eine intensivere Beschäftigung mit alt- und neutestamentlichen Formen der Rede von Gott.21 Ergänzt wird dies durch die Aufnahme von systematisch-theologischen, religionswissenschaftlichen und religionskritischen Positionen22 wie durch die Betrachtung der Theodizeefrage.23 Die Durchsicht einiger einschlägiger Lehrbücher zeigt demnach, dass die Thematik der Gottesbilder einen hohen Stellenwert einnimmt. Zahlreiche praktikable Materialien liegen vor. Die Frage, auf welche Art und Weise und vor allem mit welchem Ziel mit ihnen gearbeitet werden kann, so dass der Unterricht sowohl dem Thema als auch den Schülerinnen und Schülern gerecht wird, ist damit aber noch nicht geklärt. Es bedarf also auch aus fachdidaktischer Perspektive einer genaueren Reflektion der Gottesbilder von Kindern und Jugendlichen, um Unterrichtenden einen angemessen Umgang mit diesem zentralen Bereich religionspädagogischer Arbeit zu ermöglichen. Die Vielfalt der in den Lehrbüchern vorgefundenen Zugänge belegt, dass der Umgang mit Gottesbildern von Kindern und Jugendlichen stets von Prämissen abhängig ist. Dies zeigt sich eindrücklich bei der Betrachtung des berühmtesten Beispiels für die Kritik an einer auf Gottesbilder bezogenen Religionspädagogik. Jean-Jacques Rousseau, der sehr wohl für einen eigenen Wert der Kindheit eintrat, geht in Emile auf die Begrenztheit des kindlichen Verstandes ein und folgert, Kindern gegenüber solle Gott nicht thematisiert werden, da ihre kindlichen Vorstellungen diesem nicht gewachsen seien. Seiner Ansicht nach führe es unweigerlich zu »Götzendienst«24, wenn Kinder mit ihren beschränkten kognitiven Möglichkeiten einen Glauben an Gott entwickeln, weswegen das Religiöse in der Erziehung nicht berücksichtigt werden sollte. Fast ebenso weit zurück wie diese Kritik reichen aber auch die theologischen Antworten auf das von Rousseau aufgezeigte Problem. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher legt in seinen Pädagogischen Vorlesungen dar, dass das Gottesbild des Kindes – wie sein Weltbild – in der Entwicklung sei, und wägt davon ausgehend ab, ob Kindern religiöse Bildung zukommen sollte. Aus Achtung vor dem Kind fordert Schleiermacher, dass religiöse Erziehung als »Erweckung des noch schlummernden«25 religiösen Empfindens des Kindes möglichst früh beginnen müsse, geht er doch davon aus, dass an den kindlichen Vorstellungen 20
Vgl. Kursbuch Oberstufe, 103.105 und Religionsbuch Oberstufe, 137–140. Vgl. Kursbuch Oberstufe, 106–112; Religionsbuch Oberstufe, 153–158. 22 Vgl. Kursbuch Oberstufe, 113–130 sowie Religionsbuch Oberstufe, 142–145.169–174. 23 Vgl. Religionsbuch Oberstufe, 162–168. 24 Rousseau, Emile, 265. 25 Schleiermacher, Pädagogische Vorlesungen, zit. nach Schweitzer/Nipkow, Religionspädagogik, 273. 21
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»von dem Verhältnis Gottes zu den Menschen […] viel auszusetzen sein«26 wird. Im Vergleich zu diesen ausgewählten Überlegungen aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert hat sich die heutige Sicht auf religionspädagogische Fragestellungen selbstverständlich stark gewandelt. Für die religionspädagogische Debatte der letzten Jahrzehnte ist der von der EKD-Synode 1994 in Halle so genannte Perspektivenwechsel maßgeblich.27 Anton Bucher legt exemplarisch im ersten Band des Jahrbuchs für Kindertheologie dessen Grundgedanken dar und spricht von einem »Paradigmenwechsel«28, durch den Kinder »von Anfang an aktiv und konstruktiv«29 wahrgenommen und ihre theologischen Aussagen wertgeschätzt werden. »Erfahrungen und Denkansätze […], Fühlen und Wollen, […] Wünsche[…] und Zweifel«30 von Jugendlichen sollen folglich den Religionsunterricht mitbestimmen. Aus religionspädagogischer Sicht ist demnach die Bedeutung, die theologischen Aussagen von Kindern beigemessen wird, besonders in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Ausgehend von dieser Tendenz sind in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Studien durchgeführt worden, die sich mit den religiösen Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen. Sie beschäftigen sich nicht ausschließlich, aber schwerpunktmäßig mit den Vorstellungen von Gott. Einige von ihnen werden im zweiten Kapitel dieser Arbeit vorgestellt. Trotz der großen Aufmerksamkeit, die den Gottesbildern von Kindern und Jugendlichen dadurch gewidmet wurde, sind dennoch die zentralen Fragen der Entwicklung dieser Vorstellungen bisher nicht ausreichend beleuchtet worden. Für die fachdidaktischen Überlegungen des Religionsunterrichts ist jedoch genau dies von Interesse. Um diese Lücke zu füllen, bedarf es Untersuchungen, die sich mit der konkreten Entwicklung einzelner Kinder und Jugendlicher über einen bestimmten Zeitraum hinweg beschäftigen, da die Betrachtung verschiedener Kinder in unterschiedlichen Altersstufen31, die in der Literatur häufig zu finden ist, dies nicht ersetzen kann. Außerdem muss bei solchen Untersuchungen im Hinblick auf die gewählten Methoden sensibel und differenziert vorgegangen werden. Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, solchen Maßgaben gerecht zu werden und auf diese Weise einen Beitrag zur Erforschung der Entwicklung von Gottesvorstellungen bei Kindern und Jugendlichen zu leisten. 26 27 28 29 30 31
A.a.O., 274. Vgl. Aufwachsen in schwieriger Zeit, 74f. Bucher, Kindertheologie, 9. A.a.O., 14. Identität und Verständigung, 24. Beispielsweise bei Hanisch, Zeichnerische Entwicklung.
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1. Einleitung
Sie soll beleuchten, wie Kinder und Jugendliche sich Gott vorstellen und in welcher Form sie diese Vorstellungen ausdrücken. Da diese Fragestellung über die reinen bildlichen Vorstellungen und Darstellungen hinausgeht, wird im Folgenden von Gottesvorstellungen, nicht Gottesbildern gesprochen. Neben der Betrachtung des Inhalts dieser Vorstellungen soll ein besonderer Schwerpunkt auf deren Entwicklung liegen, dem die Längsschnitt-Konzeption dieser Arbeit dient. Um der Individualität der Vorstellungen von Gott und deren Entwicklung vom Kindeszum Jugendalter gerecht zu werden, wird ein qualitativer Ansatz gewählt. Die Ergebnisse sollen der religionspädagogischen Praxis in der Sekundarstufe dienen, indem sie das Thema didaktisch reflektieren. Es soll herausgestellt werden, welche Aspekte der Frage nach Gott für Kinder und Jugendliche besonders wichtig sind und inwiefern diese die Entwicklung von Gottesvorstellungen notwendig machen, fördern oder behindern. So soll zu der Fülle an Unterrichtsmaterial zum Thema Gottesvorstellungen, das zur Verfügung steht, eine fundierte fachdidaktische Grundlage hinzutreten, die Unterrichtende bei ihrer Arbeit unterstützen kann. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in vier Teile. Zunächst werden bisherige religionspädagogische Forschungsergebnisse zu Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen vorgestellt und analysiert. Aus der Vielzahl der Studien werden zu diesem Zweck einige einschlägige und aktuelle ausgewählt, die unterschiedliche Vorgehensweisen nutzen. Im Anschluss daran wird gefragt, auf welche Art und Weise Gottesvorstellungen sinnvoll erhoben werden können. Hierfür ist eine genaue Betrachtung der möglichen Methoden und Zugänge notwendig, da jeweils überprüft werden muss, inwiefern die angewendeten Methoden alters- und sachgerecht sind. Ausgehend von diesem Forschungsüberblick wird im vierten Kapitel ein eigenes Forschungsdesign entworfen, dem der vielversprechende Zugang über gemalte Bilder von Gott zugrunde liegt und die im Anschluss durch erklärende Interviews ergänzt werden. Die auf diese Weise gewonnenen Ergebnisse werden dargelegt und interpretiert. Dabei wird sowohl auf inhaltliche Merkmale der Gottesvorstellungen eingegangen als auch auf die Entwicklung derselben vom Kindes- zum Jugendalter. Die Ergebnisse der Längsschnittuntersuchung dienen dann der Formulierung religionsdidaktischer Konsequenzen im letzten Kapitel der Arbeit. Zunächst wird die Relevanz der Entwicklung von Gottesvorstellungen vom Kindes- zum Jugendalter überprüft. Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, dass die Entwicklung in diesem Bereich für viele Kinder und Jugendliche eine Herausforderung darstellt und sie dabei auf religionspädagogische Begleitung angewiesen sind und von dieser profitieren können. Daher werden im Hinblick auf Sekundarstufe I und
1. Einleitung
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II didaktische Prinzipien zugrunde gelegt, die anhand von Beispielen zur Unterrichtsgestaltung ergänzt und konkretisiert werden. Zentrale Fragestellungen, welche Einfluss auf die Entwicklung von Gottesvorstellungen bei Kindern und Jugendlichen nehmen, kommen dabei in den Blick. Diese reichen von der Frage nach der Transzendenz Gottes über die Vereinbarkeit von Gottes Fürsorge mit dem Leid bis hin zu dem Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaften. Hierbei handelt es sich um gängige Themen des Religionsunterrichts. Der Anspruch der vorliegenden Arbeit ist es, diese Themen konsequent mit den Untersuchungsergebnissen zur Entwicklung von Gottesvorstellungen in Dialog zu bringen, um zu veranschaulichen, wie der Religionsunterricht bei der Begleitung der Entwicklung vom Kindes- zum Jugendalter sinnvoll vorgehen kann.
2. Zum Stand der Forschung
Zunächst sollen bisherige Untersuchungen zu Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen betrachtet werden. Dazu wurden einschlägige und neuere Forschungsprojekte ausgewählt, die nach ihrer Vorgehensweise sortiert vorgestellt werden. Nach einigen Studien, die ihre Erkenntnisse auf die reine Auswertung von vorliegenden Bildern und schriftlichen Aussagen von Kindern und Jugendlichen stützen, werden solche in den Blick genommen, die diese Vorgehensweise durch zusätzliche Interviews ergänzen. Zuletzt werden noch Studien einbezogen, die vielfältige Zugänge zu Gottesvorstellungen suchen. Zuerst werden jeweils die Fragestellung und die Vorgehensweise der Studien dargelegt, danach werden die wichtigsten Ergebnisse des Forschungsvorhabens zusammengefasst, gefolgt von einer kurzen, kritischen Würdigung. Die Betrachtung des aktuellen Forschungsstandes soll nicht nur dazu dienen, einen Überblick über die Gottesbildforschung der letzten Jahrzehnte zu geben, sondern sie bildet auch die Grundlage für die eigenen methodischen Überlegungen der vorliegenden Arbeit.
2.1 Erforschung von Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen anhand von Bilder- und Textsammlungen 2.1.1 Eine frühe Stufentheorie zur religiösen Entwicklung anhand von Gottesdarstellungen (Harms 1944) Fragestellung und Design der Studie Der Amerikaner Ernest Harms beschäftigt sich aus psychologischer Perspektive mit Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen. In seinem 1944 im American Journal of Sociology erschienenen Artikel kritisiert Harms die bisherige Forschung auf diesem Gebiet dahingehend, dass sie sich nur auf verbale Aussagen stütze und so im intellektuell fassbaren Bereich bleibe. Religiöse Vorstellungen bestehen aber, laut Harms, vor allem bei Kindern in Form von Imaginationen, die nicht verbal geäußert werden können. Als erster geht er daher nach einer Methode vor, die Gottesvorstellungen anhand von Bildern untersucht. Harms rechtfertigt seine Vorgehensweise eingehend, geht aber leider
2.1 Erforschung von Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen
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nicht detailliert auf seine Methode ein.32 Er spricht lediglich von einer »simple method of comparison«33. Ziel seiner Arbeit sei gewesen: »to find one outstanding characteristic trait in the drawings and pictures from each of the age groups«34. In einer nicht näher bestimmten Anzahl35 von Schulklassen wurden die Schüler von ihrem Lehrer über Religion instruiert und erhielten dann die Aufgabe, Gott nach ihrer persönlichen Vorstellung zu zeichnen. Für ältere Jugendliche wurde ein angepasster Arbeitsauftrag gestellt, der sich auf die Bedeutung von Religion oder das höchste Ideal beziehen sollte.36 Wie diese Schulklassen ausgewählt wurden und wie sie zusammengesetzt waren, erwähnt Harms nicht. Er bemerkt allerdings, dass es sich um Kinder unterschiedlicher Religionen und Konfessionen handelte. Diese Unterschiede spielten für ihn aber bei der Auswertung keine Rolle, da sich die Untersuchung mit religionsübergreifenden Phänomenen beschäftigt. Ergebnisse der Untersuchung von Harms Harms kategorisiert seine Untersuchungsergebnisse in drei Altersstufen. Er fasst zunächst die drei- bis sechsjährigen Kinder zu einer Stufe zusammen. Die übergreifende Gemeinsamkeit sieht er darin, dass die Gottesvorstellungen von Kindern dieses Alters märchenhafte Züge haben. »The real God experience is a fairy-tale imagination gloryfiying the highest fantasies which the child at this age can catch with his little mind.«37 So bezeichnet Harms diese Stufe der Vorstellungen von Gott als Märchenstufe, »fairy-tale stage«38. Im Schulkindalter erkennt Harms – als Konsequenz der beginnenden systematischen Bildung in der Schule – eine Abwendung von solchen fantastischen Vorstellungen von Gott. An deren Stelle treten in der sogenannten Stufe des Realismus39 Vorstellungen, die den Kindern durch »realistic instruction and the realities of […] social life«40 nahe gebracht wurden. Kinder dieses Alters hält Harms für besonders zugänglich für religiöse Unterweisung. Für die Adoleszenz und Postadoleszenz erkennt Harms einen ausgeprägten Individualismus der Vorstellungen von Gott. Die Jugendlichen orientieren sich in unter32
Vgl. Harms, Development, 112f. A.a.O., 115. 34 A.a.O., 114. 35 Harms erwähnt, dass ihm ca. 800 Bilder von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren und ca. 4000 Bildern von adoleszenten und postadoleszenten Jugendlichen zur Verfügung standen. Für das Schulkindalter macht er keine Angaben. Vgl. a.a.O., 115.117. 36 Vgl. a.a.O., 114. 37 A.a.O., 115. 38 Ebd. 39 Bei Harms: »realistic stage«, vgl. a.a.O., 116. 40 A.a.O., 116. 33
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2. Zum Stand der Forschung
schiedlichem Maß an den Vorgaben ihrer religiösen Tradition. Gemeinsam haben nach Harms aber alle Jugendlichen der Individualismusstufe41 einen »highly individualistic charakter of the adolescent’s concept of religion«42. Harms geht bei der Beschreibung der Stufen jeweils auch auf den Stellenwert von Emotionen im Vergleich zu kognitiven Wahrnehmungen ein. Dies soll hier jedoch nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Harms zieht aus seinen Untersuchungsergebnissen die Schlussfolgerung, dass die Religionspädagogik einen höheren Stellenwert in der Begleitung von Kindern und Jugendlichen erhalten müsse, und fordert für die religiöse Unterweisung der verschiedenen Glaubensgemeinschaften eine stärkere Orientierung an den unterschiedlichen Bedürfnissen der verschiedenen Altersstufen. Darüber hinaus deutet er an, dass im Sinne des beobachteten Individualismus Jugendlichen eine größere Freiheit bei der Wahl ihres religiösen Bekenntnisses gegeben werden solle. Kritische Würdigung Mit Harms’ Studie liegt ein für die 1940er Jahre sehr innovativer Zugang zu Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen vor. Er beobachtet, dass die religiöse Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit ihrer kognitiven Entwicklung Hand in Hand gehen. Harms’ Position, die individuellen Äußerungen von Kindern und Jugendlichen wertschätzend in der religionspädagogischen Arbeit einzubeziehen, kann als Vorläufer der Hinwendung zur Perspektive der Kinder und Jugendlichen in der Religionspädagogik seit den 1990er Jahren betrachtet werden. Insofern sind Harms’ Vorgehensweise und seine Grundüberzeugungen hoch zu schätzen, dennoch fällt vom heutigen Standpunkt die Art und Weise auf, wie die Kinder und ihre Gedanken in der Darstellung der Untersuchungsergebnisse betrachtet werden: Mitunter werden sie als defiziente Erwachsene mit »completely inadequate thougths«43 dargestellt. Dies ist aus heutiger Sicht natürlich nicht mehr vertretbar. Desweiteren lässt Harms’ Studie eine konkrete Darlegung der Untersuchungs- und Interpretationsmethoden vermissen, so dass seine Vorgehensweise leider nicht nachvollziehbar ist. 2.1.2 Tiefenpsychologische Auswertung von gemalten Gottesbildern von Kindern und Jugendlichen (Siegenthaler 1980) Fragestellung und Design der Studie Im 1980 in der Zeitschrift Entwurf veröffentlichten Aufsatz »Die Entwicklung des Gottesbildes von Kindern und Jugendlichen« fragt Her41 42 43
Bei Harms: »individualistic stage«, vgl. a.a.O., 117. A.a.O., 119. A.a.O., 115.
2.1 Erforschung von Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen
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mann Siegenthaler nach der psychologischen Bedeutung religiöser Erfahrung für Kinder und Jugendliche. Er untersucht dazu ca. 350 Zeichnungen, die von Schulklassen und Jugendgruppen im Zusammenhang mit der Erzählung von Joseph und Potifar in Gen 39 entstanden sind. Zum Produktionsprozess und Auswertungsverfahren macht Siegenthaler keine weiteren Angaben, außer dass sich seine Interpretation auf die Tiefenpsychologie beruft. Ergebnisse der Untersuchung von Siegenthaler Siegenthalers erste Erkenntnis lautet, dass Kinder und Jugendliche über ein Gottesbild verfügen und dieses auch zeichnerisch darstellen können.44 Im Weiteren stellt er anhand seiner Ergebnisse die These auf, dass parallel zum Älterwerden der Kinder eine Entwicklung des Gottesbildes stattfinde, die er in fünf Phasen unterteilt. Für fünf- bis achtjährige Kinder stellt Siegenthaler fest, dass ihr Gottesbild vor allem aus folgenden drei Eigenschaften Gottes bestehe: Gott ist der Schöpfer, er wird im Himmel lokalisiert und übernimmt eine schützende Funktion.45 Laut Siegenthaler stelle es für die Kinder allerdings eine Herausforderung dar, die zweite und dritte Eigenschaft sinnvoll in Einklang zu bringen, was ihnen z.B. durch Engelsfiguren oder Himmel und Erde verbindende Bildelemente, wie eine Leiter, gelingt.46 Eine nächste Phase der Entwicklung erkennt Siegenthaler im Alter von acht bis neun Jahren, in der Kinder ihre Vorstellungen von Gott »der erlebten Wirklichkeit«47 entnehmen und dabei beginnen, Symbole wie die Hand oder das Auge Gottes in ihre Darstellungen einzubeziehen. Für das zehnte bis zwölfte Lebensjahr fällt Siegenthaler eine bemerkenswerte Vielfalt der Gott zugeschriebenen Attribute auf. Die Vorstellungen unterschieden sich in dieser Phase inhaltlich stark, insgesamt werde Gott aber stets »in seiner Menschlichkeit«48 vor- und dargestellt. Im Alter von zwölf bis 13 Jahren wenden sich die Jugendlichen nach Siegenthaler von einer anthropomorphen Darstellungsweise ab und stellen Gott bevorzugt »in formal abstrakten Symbolen«49 dar. In schriftlichen oder verbalen Erläuterungen, die sie den Bildern hinzufügen, werde deutlich, dass die Jugendlichen Gott nun nicht mehr nur in den eigenen Lebenszusammenhang einbetten, sondern in einen globalen Kontext. In der späteren Adoleszenz entstehe laut Siegenthaler das Bestreben, »das Gottesbild als Ord-
44 45 46 47 48 49
Vgl. a.a.O., 6. A.a.O., 7. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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2. Zum Stand der Forschung
nungsprinzip«50 darzustellen. Parallel dazu häufen sich in dieser Phase Christusdarstellungen. Siegenthaler, der »die lebendige Gottesbeziehung«51 als die primäre Aufgabe der Religionspädagogik ansieht, stellt fest, dass nach der Adoleszenz die Gottesbeziehung nicht weiter vertieft werde, sondern es zu einer »eigenartige[n] Regression«52 komme. Er bedauert, dass in diesem Falle der Erwachsene, der in eine kindliche Gottesvorstellung zurückfällt, nicht die lebensdienliche Kraft erfahre, die eine lebendige Gottesbeziehung in sich berge. Kritische Würdigung Die Untersuchung Siegenthalers ist die erste dieser Art, die für den deutschsprachigen Raum durchgeführt wurde. Seine Ergebnisse bieten eine Grundlage, auf die die spätere Forschung53 zurückgreifen konnte. Siegenthaler stellt anhand seiner Studie eine lineare Entwicklung des Gottesbildes bei Kindern und Jugendlichen fest, die er in Phasen einteilt. Er führt eine Unterscheidung zwischen anthropomorphen (bei Siegenthaler »menschlichen«) und symbolischen Darstellungen Gottes ein, die sich ebenfalls in der späteren Forschung niederschlägt. Dabei geht Siegenthaler von einer Kohärenz zwischen Gottesbild und Gottesbeziehung aus, definiert oder erläutert dies jedoch nicht. Interessant wäre, seine Methode der Untersuchung und Auswertung genauer zu kennen, um den Hintergrund der Phaseneinteilung besser nachvollziehen zu können. Leider macht Siegenthaler dies für den Leser nicht transparent. 2.1.3 Kinderbilder als Zugang zu den Gottesvorstellungen von 343 Kindern (Bucher 1994) In dem 1994 von Vreni Merz herausgegebenen Sammelband »Alter Gott für neue Kinder? Das traditionelle Gottesbild und die nachwachsende Generation« wurde ein Aufsatz von Anton Bucher veröffentlicht, in dem von einer Studie zu Gottesbildern von Kindern berichtet wird. Bucher legt Wert darauf, dass das naive, intuitive theologische Wissen von Kindern von der Religionspädagogik in Forschung und Praxis ernst genommen wird. Daraus ergibt sich die Forderung nach einer »so weit wie möglich nicht wertende[n], vielmehr verstehend nachvollziehende[n] Beschreibung der Entwicklung des Kindes«54, zu der die Studie einen Beitrag leisten will. 50 51 52 53 54
Ebd. A.a.O., 10. A.a.O., 7. Vgl. beispielsweise Hanisch, Entwicklung, 24ff. Bucher, Alter Gott, 81.
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Fragestellung und Design der Studie 343 Kinder55 zwischen sieben und zwölf Jahren nahmen an der Untersuchung teil. Sie bekamen den Auftrag, zu zeichnen, wie sie sich Gott vorstellen, und fertigten daraufhin Bilder an, die die Daten-Grundlage der Untersuchung darstellen.56 Die Zeichnungen der Kinder würdigt Bucher als Ausdrücke subjektiver Vorstellungen: »Jede dieser Zeichnungen ist eine individuelle Leistung, keine ähnelt der anderen gänzlich.«57 Die Bilder wurden dann daraufhin untersucht, ob sie anthropomorphe oder symbolische Vorstellungen von Gott enthalten, ob Gott mit Bart gezeichnet wurde und was seine Mundform über seine Stimmung vermuten lässt. Außerdem wurde nach der Umgebung gefragt, in der Gott dargestellt wurde. Auch alters- und geschlechtsspezifische Trends wurden untersucht. Ergebnisse der Untersuchung von Bucher Die Analyse der Bilder ergab zum einen, dass die meisten, nämlich 87 % der Gottesdarstellungen, anthropomorph seien. Es ließe sich allerdings erkennen, dass ihr Anteil mit zunehmendem Alter der Kinder sinke.58 Bucher widmet sich auch der Frage, ob die anthropomorphen Bilder Gott männlich oder weiblich darstellen und sieht es als bemerkenswert an, wie viele (18 %) weibliche Darstellungen er erkennt. Diese stammen allesamt von Mädchen. Auffällig ist für Bucher in dieser Hinsicht weiter, dass von den Kindern, die Gott mit Hose darstellten, zwei Drittel Jungen seien. Kein Unterschied in der Geschlechterverteilung finde sich dagegen bei der Illustration Gottes mit einem Bart, die über die Hälfte der Kinder vornahmen. Ein weiteres Merkmal, das häufig verwendet wurde, sei der Heiligenschein, mit dem ein Viertel der Kinder Gott versah.59 Die Stellung des Mundes wurde untersucht, um eine Aussage über die emotionale Färbung des Bildes zu machen. Der Großteil der Kinder, die Gott mit Mund gemalt haben, stellten diesen so dar, dass 55
Die Kinder stammen zu 69 % aus dem Kanton Luzern (hier sowohl aus urbaner wie aus ländlicher Gegend) und zu 31 % aus der Großstadt Wien. 56 Zum Teil fließen in die Auswertung neben den Bildern auch einzelne Kommentare der Kinder ein, wobei Bucher keine Aussage darüber macht, in welchem Rahmen diese entstanden sind und wie sie dokumentiert wurden. 57 A.a.O., 81f. 58 Während 100 % der Siebenjährigen und über 90 % der Acht- und Neunjährigen Gott in menschlicher Gestalt darstellen, ist dies nur noch bei gut 60 % der Zwölfjährigen der Fall. Die Elfjährigen legen zu 75 % anthropomorphe Bilder vor, die Zehnjährigen zu knapp 80 %. Vgl. das Säulendiagramm bei Bucher, Alter Gott, 83. 59 In der Studie von Hanisch verwenden deutlich weniger, nämlich nur 17,8 % der Kinder, den Heiligenschein als Attribut Gottes. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass die österreichischen Kinder stärker mit katholischen Heiligenbildern und dem Motiv des Heiligenscheins vertraut sind und es daher in ihren Darstellungen häufiger verwenden. Vgl. Hanisch, Zeichnerische Entwicklung, 51.
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eine fröhliche Stimmung zu vermuten sei. Bei den jüngeren Kindern sei der Anteil an fröhlichen Darstellungen noch größer. Das liegt für Bucher aber kaum daran, dass ältere Kinder einen traurigeren oder strengeren Gott malen würden, als viel mehr daran, dass die anthropomorphen Bilder überhaupt mit steigendem Alter abnähmen. Die fröhliche Stimmung dieser Bilder deutet Bucher – unter Verweis auf die Notwendigkeit von Interviews, die diese These untermauern – so: »Für die meisten Kinder scheint ›Gott‹ nicht mehr der grimmige Weltraumpolizist zu sein, nicht das unentrinnbare Auge, das selbst Zimmertüren und Bettdecken durchdringt«60, wie in der Forschung oftmals angenommen worden sei. Viele Kinder nehmen in ihren Bildern Elemente auf, die an Jesus erinnern, bzw. zeichnen auf die Bitte hin, Gott zu malen, Jesus. Auch aus der Bildwelt der Engel und himmlischen Wesen werden Motive entnommen. Der Heilige Geist werde hingegen nicht berücksichtigt, was für Bucher darauf hinweist, dass er »ein Stiefkind der religiösen Unterweisung«61 sei. Auch der Ort, an dem Gott dargestellt ist, wurde untersucht. Zwei Drittel der Bilder lassen eine Verortung Gottes erkennen. Meistens (bei 35 % der Bilder insgesamt) sei dieser Ort der Himmel, zum Teil wurde Gott auch in der Natur dargestellt, selten in der menschlichen Zivilisation. Gott im Himmel zu verorten wurde laut Bucher von den Kindern damit begründet, dass er von dort alles überblicken könne. Die wenigen Bilder (13 %), die Gott symbolisch darstellen, seien v.a. Bilder von der Natur oder von Licht. Nach der Darstellung seiner Ergebnisse geht Bucher daran, die Verbreitung der anthropomorphen Gottesbilder zu erklären. Er kritisiert jegliche Theorien, die die anthropomorphen Bilder als archetypische Symbole deuten. Die zugrundeliegende Annahme der »Existenz eines kollektiven Unterbewussten, in dem auch bildhafte Elemente vererbt würden«62 hält er für wissenschaftlich nicht belegt. Auch Deutungen, die an C.G. Jung anlehnen, kritisiert Bucher als spekulativ. Eine Interpretation der anthropomorphen Gottesvorstellungen als Ausdruck des Ödipus-Komplexes nach Freud lehnt Bucher ebenfalls ab. Denn in allen diesen Deutungsversuchen werde den Kindern eine eigene Beteiligung am Entstehen der Gottesvorstellung – durch theologische Reflexion – nicht zugestanden. Die These, anthropomorphe Gottesbilder entstünden aufgrund einer entsprechenden religiösen Sozialisation, reiche nicht 60
Bucher, Alter Gott, 86. A.a.O., 87. Meiner Meinung nach kann das Fehlen des Heiligen Geistes in den Darstellungen zusätzlich damit erklärt werden, dass er erstens schwer zeichnerisch darzustellen ist (viel schwerer als Jesus oder Engel, von denen sehr greifbare bildliche Vorstellungen kursieren) und zweitens die Idee des Heiligen Geistes selbst und damit verbunden der Trinität für Kinder schwer begreifbar ist. 62 A.a.O., 90. 61
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aus, um die Verschiedenartigkeit der Gottesbilder zu erklären. Bucher räumt jedoch ein, dass die religiöse Sozialisation Anteil an der Ausformung der Gottesvorstellung habe. Dass die Gottesbilder so häufig anthropomorph sind, erklärt Bucher in Anlehnung an Piaget mit der allgemeinen Neigung von Kindern, »die Natur zu vermenschlichen, indem sie mit entsprechenden, vom eigenen Menschsein her vertrauten Schemata begriffen wird.«63 Bucher sieht dies aber nicht als defizitär an, sondern weist darauf hin, dass das biblische Gottesbild selbst anthropomorph sei,64 und damit den Bedürfnissen von Kindern – und auch Erwachsenen – entspreche. Am Ende des Aufsatzes zieht Bucher religionspädagogische Konsequenzen aus den Ergebnissen der Untersuchung der Gottesbilder. Er fordert, dass die Gottesvorstellungen von Kindern als theologische Aussagen respektiert werden müssen, da ein Herabwürdigen der Bilder als theologisch unkorrekt oder als eine Vorstufe der ›richtigen‹ Anschauung die individuellen, kreativen Leistungen der Kinder übersehe. Aus pädagogischer Sicht sei ein würdigender Umgang mit theologischen Aussagen (auch in gezeichneter Form) von Kindern unerlässlich, um ihre weitere theologische Reflexion zu fördern. In diesem Sinne warnt Bucher davor, im Religionsunterricht lediglich ›korrekte‹ Vorstellungen von Gott vermitteln zu wollen und die eigenen Vorstellungen der Kinder außen vor zu lassen. Kritische Würdigung Die vergleichsweise knapp (in Form eines Aufsatzes) dargestellte Untersuchung Buchers ist hier recht ausführlich wiedergegeben worden, da sie vieles enthält, was in anderen Studien wieder begegnet. Das Design der quantitativen Studie entspricht der Fragestellung dieser Arbeit: Kindliche Gottesvorstellungen werden anhand von Kinderbildern erhoben. An Buchers Aufsatz gilt zu würdigen, dass er die erste neuere quantitative Studie zu gezeichneten Gottesvorstellungen im deutschsprachigen Raum zur Verfügung stellt, die um methodische Transparenz bemüht ist, so dass viele folgende Forscher auf seine Methode und seine Ergebnisse zurückgreifen. Auch die Tatsache, dass er sich durch die Auseinandersetzung mit der Herkunft der anthropomorphen Vorstellungen intensiv mit der Frage nach einer angemessenen Interpretationsmethode für die Bilder beschäftigt, ist zu loben. Die religionspädagogische Wissenschaft hat jedoch berechtigterweise auch einiges an Buchers Vorgehensweise zu beanstanden. Laut Heimbrock ist ein Manko der Studie von Bucher, dass sie sich zu wenig mit einzelnen Kindern als theologietreibenden 63
A.a.O., 93. Als Beispiele dafür nennt Bucher, dass Gott nach dem AT redet, spricht, sieht und Schmerz, Eifer und Reue kennt. Vgl. a.a.O., 93. 64
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Subjekten auseinandersetze.65 Die von Bucher vorgenommene Unterteilung in anthropomorphe und symbolische Bilder wird ebenfalls von einigen Religionspädagogen als nicht zutreffend kritisiert.66 Auch die Tatsache, dass die Bilder der Kinder ohne weitere Gespräche mit ihnen ausgewertet wurden und nicht durch andere Zugänge ergänzt wurden, ist zu bemängeln, da so fraglich bleibt, ob die Interpretation der Intention der Kinder entspricht. 2.1.4 Entwicklung des gezeichneten Gottesbildes im Zusammenhang mit der (nicht) religiösen Sozialisation (Hanisch 1996) Fragestellung und Design der Studie Helmut Hanischs Veröffentlichung »Die zeichnerische Entwicklung des Gottesbildes« von 1996 liegt eine breit angelegte Untersuchung aus dem Jahr 1992 zugrunde. Hanisch nutzte die Zeit nach der Wende, um in zwei umfangreichen Stichproben Gottesvorstellungen von Kindern aus den alten und neuen Bundesländern zu vergleichen. Ziel war es, anhand der von den 7- bis 16-Jährigen im Religionsunterricht oder Ethikunterricht gemalten Bilder von Gott einerseits Entwicklungstendenzen in den Vorstellungen herauszufinden und andererseits Faktoren zu erheben, die diese Entwicklung beeinflussen. Insgesamt wurden 2658 Zeichnungen analysiert. Etwas mehr als die Hälfte (1471) wurde von Kindern aus dem Kirchenbezirk Heidenheim gemalt, die im Religionsunterricht, in kirchlichen Jugendgruppen und zum Teil auch in der Familie eine christliche Prägung erhielten. Die zweite Stichprobe besteht aus 1187 Bildern von Kindern aus Leipzig, Zwickau und Dresden, die durch die atheistische Ideologie der DDR »von der christlichen Religion weitgehend unberührt blieben«67. Hanisch beruft sich auf die Ergebnisse früherer Untersuchungen68 zu Gottesbildern von religiös und nicht religiös sozialisierten Kindern und fasst aus deren Ergebnissen Hypothesen zusammen, die er anhand der beiden Stichproben überprüft. Die Studie berücksichtigt lediglich die Bilder der Kinder, es wurden keine weitergehenden Interviews geführt. Jedoch fließen spontane Äußerungen einiger Kinder und Jugendlicher in Form von schriftlichen Kommentaren auf den Bildern bzw. auf deren Rückseite in die Auswertung ein. Für die 65
Vgl. Heimbrock, Abbild, 29. Beispielsweise bei Klein, Gottesbilder, 163–166 und Heimbrock, Abbild, 28. 67 Hanisch, Zeichnerische Entwicklung, 109. 68 Für die Erforschung des Gottesbildes von religiös sozialisierten Kindern sind dies die Untersuchungen von Harms (1944), die tiefenpsychologische Untersuchung von Siegenthaler (1980) und eine Studie von Bucher (1991). Für die Entwicklung der Gottesvorstellungen von nicht religiös Sozialisierten zieht Hanisch die unveröffentlichte Studie des Amerikaners Pitts aus dem Jahre 1977 zu Rate, die sich mit den religiösen Vorstellungen von unitarischen Kindern befasst. Vgl. a.a.O, 21–28. 66
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Analyse der Bilder ist die Unterscheidung zwischen anthropomorphen und nicht-anthropomorphen Bildern grundlegend. Ergebnisse der Untersuchung von Hanisch Hanisch stellt die Ergebnisse der Bildinterpretation zweigeteilt dar, indem er zuerst auf die Bilder der religiös sozialisierten Kinder und dann auf die der nicht religiös sozialisierten Kinder eingeht. Für die Bilder der Kinder aus dem Kirchenbezirk Heidenheim, die er dem volkskirchlichen Milieu zuordnet, stellt Hanisch fest, dass mehr als die Hälfte anthropomorphe Darstellungen Gottes wähle: Das beinhaltet Zeichnungen Gottes als Mann, Frau, Geist oder Gesicht.69 Die Attribuierungen Gottes70 lassen insgesamt deutlich werden, dass viele der Kinder sich Gott als im Himmel ansässiges Wesen vorstellen, das alt und weise sei, der Erde (die es beherrscht) und ihren Bewohnern gegenüber positiv auftrete und omnipräsent sei. 41 % der Kinder stellen Gott in symbolischen Bildern dar.71 Die Kinder und Jugendlichen wählen sehr vielfältige Motive72, die eine »positive Gottesbeziehung, die theistisch und bei wenigen Schülerinnen und Schülern pantheistisch eingefärbt«73 sei, illustrieren. Hanisch zieht nach der genauen Analyse der vorkommenden Bildinhalte in Bezug auf das Alter der Kinder die Schlussfolgerung, dass man nicht von einer kontinuierlichen Entwicklung der Gottesvorstellungen sprechen könne, sondern dass sich die Entwicklung in Sprüngen vollziehe. Eine deutliche Zäsur erkennt er nach dem 13. Lebensjahr, da sich dann die Zahl der symbolischen Gottesbilder stark erhöhe, was mit der Fähigkeit zum formal-operatorischen Denken in Zusammenhang gebracht werden könne.74 Hanisch stellt weiter fest, dass Mädchen mehr symbolische Gottesdarstellungen produzieren als Jungen, und weist zur Erklärung auf den mädchenspezifischen entwicklungspsychologischen Ansatz von C. Gilligan hin.75 Das Gottesbild des Großteils der religiös erzogenen Kinder und Jugendlichen sei positiv belegt, d.h. Gott erscheine als freundliche, helfende Gestalt. Die leichte Zunahme von distanzierten bzw. negativen Bildaussagen mit ansteigendem Alter der Schülerinnen und Schüler könne diesen Befund kaum 69
Vgl. a.a.O., 35. Als besonders häufig vorkommende Attribuierungen nennt Hanisch: Gott mit Bart, Gott in den Wolken, Gott mit ausgebreiteten Armen, Gott und die Erde, Gott mit Heiligenschein, Gott helfend oder schützend, Gott mit Engeln, Gott mit Kreuz, Gott mit Krone, Gott auf dem Thron. Vgl. a.a.O., 63. 71 Vgl. ebd. 72 Die Motive Gott als Hand, Sonne oder Hirte, die Darstellung Gottes durch biblische Geschichten oder als Licht, Natur oder Burg sind die beliebtesten Symbole für Gott. 73 A.a.O., 87. 74 Vgl. a.a.O., 94. 75 Vgl. a.a.O., 95. 70
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trüben. Hanisch erkennt anhand der Bilder darüber hinaus, dass die religiöse Unterweisung in Schule, Kirche und Familie die Gottesvorstellungen von Kindern präge, was sich z.B. in der verbreiteten Vorstellung von Gott als Hand zeige, die laut Hanisch auf ein bekanntes Lied zurückgeht.76 Die Untersuchung der Bilder der von Hanisch als nicht religiös sozialisiert angesehenen Kindern und Jugendlichen aus Sachsen führt zu deutlich anderen Ergebnissen. Die große Mehrheit der Kinder stellt Gott in anthropomorpher Gestalt dar (87,5 %)77, worin sich laut Hanisch »theistische, deistische, szientistische, mythologische und religionskritische Vorstellungen«78 enthüllen, die er als das »Ergebnis der kindlichen Phantasie und verschiedener – meist zufälliger – Informationen […] aus unterschiedlichen Quellen«79 ansieht. Aus den Bildern und den Kommentaren werde deutlich, dass es sich häufig um ein märchenhaftes, distanziertes Bild von Gott als dem gutmütigen, harmlosen Alten im fernen Himmel handele, das nicht an eine Gottesbeziehung gebunden sei.80 Mit zunehmendem Alter nehmen die anthropomorphen Gottesvorstellungen nicht ab, sie werden jedoch kritisch hinterfragt und z.T. ersatzlos verworfen.81 Nur 11,7 % der Kinder, v.a. diejenigen ab dem 12. Lebensjahr, stellen Gott symbolisch dar.82 Die meisten der Symbole drücken »pantheistische Vorstellungen, Unsicherheit oder Ablehnung Gottes«83 aus. Hanisch kommt zusammenfassend zu folgendem Befund: Auffällig sei der sehr hohe Anteil anthropomorpher Darstellungen, die auch mit steigendem Alter kaum nachlassen. Hier sieht Hanisch eine Diskrepanz zwischen der Weiterentwicklung des Denkens und dem sich nicht oder nur zufällig weiterentwickelnden Gottesbild, was er auf die fehlende religiöse Erziehung zurückführt.84 Gott werde von den Kindern der zweiten Stichprobe weniger freundlich und hilfreich dargestellt als von denen der ersten Stichprobe, sondern eher märchenhaft distanziert oder schwach.85 76
»Er hält die ganze Welt in seiner Hand«, vgl. a.a.O., 97f. Gott wird v.a. als Mann gezeichnet, außerdem weniger häufig als bei der ersten Stichprobe als Geist, Gesicht oder Frau. Vgl. a.a.O., 120.136. 78 A.a.O., 136. 79 Ebd. 80 Vgl. a.a.O., 143. 81 Damit ist gemeint, dass die Jugendlichen jeglichen Glauben an die Existenz Gottes verweigern. Vgl. a.a.O., 183f. 82 Unter den sehr unterschiedlichen Symbolen dominieren die Darstellungen Gottes als Natur, Hand, Fragezeichen, Sonne. Vgl. a.a.O., 184ff. 83 A.a.O., 192. 84 Vgl. a.a.O., 199f. 85 Vgl. a.a.O., 201. 77
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Hanisch wertet seine Ergebnisse jeweils am Ende der beiden Abschnitte in Form von Schlussfolgerungen für den Religions- oder Ethikunterricht aus. Er betont, wie wichtig es sei, die Gottesvorstellungen und Fragen der Schülerinnen und Schüler kennen zu lernen und ernst zu nehmen. Er ermutigt Religionslehrkräfte dazu, diese zum Unterrichtsinhalt zu machen und – durch Gespräche v.a. der Schüler untereinander, durch die Beschäftigung mit dem biblischen Gottesbild und durch Lebenszeugnisse – die Kinder und Jugendlichen dabei zu unterstützen, ihr Gottesbild ihrer kognitiven und persönlichen Entwicklung entsprechend ›mitwachsen‹ zu lassen.86 Er hält es für lohnenswert, wenn Jungen und Mädchen die Gottesbilder des anderen Geschlechts kennen lernen, um ihre eigene Vorstellung zu erweitern. Auch für den Ethikunterricht hält Hanisch die Beschäftigung mit der Gottesfrage für unerlässlich, da so die Kompetenz, angemessen über Gott nachzudenken und zu sprechen, erlernt werde, ohne die eine Auseinandersetzung mit Religionen nicht möglich sei.87 Seine erste Ausgangsfrage nach altersspezifischen Entwicklungstendenzen in der Gottesvorstellung beantwortet Hanisch negativ: Eine stufengleiche Abfolge lasse sich nicht feststellen.88 Die zweite Frage richtete sich auf den Ertrag religiöser Erziehung für die Entwicklung des Gottesbildes. Religiöse Erziehung leiste nach Hanischs Erkenntnissen die Weiterentwicklung und Differenzierung des Gottesbildes, womit der Rückgang anthropomorpher Gottesvorstellungen gemeint ist. Auch die Fähigkeit, religiöse Inhalte angemessen zu reflektieren und solche Vorstellungen auszudrücken, werde laut Hanisch durch religiöse Erziehung gefördert.89 Kritische Würdigung Helmut Hanischs Studie ist bis heute die größte, die im deutschsprachigen Raum durchgeführt wurde. Er knüpft an die Arbeit Buchers an und erweitert diese in Hinsicht auf die Anzahl und das Alter der befragten Kinder und Jugendlichen sowie um den Aspekt der Sozialisation. Hanisch hat für den Bereich der Religionspädagogik die Bedeutung der zweigeteilten deutschen Geschichte während der Jahre 1949 bis 1990 aufbereitet. Der große Umfang der Studie ist als eine Stärke anzusehen. Zugleich liegt in der großen Anzahl der Bilder auch eine Schwäche der Untersuchung begründet. Es handelt sich um eine quantitative Untersuchung, in der Details und individuelle Darstellungsleistungen wenig Beachtung finden. Über die religiöse Sozialisation der Kinder und Ju86
Vgl. a.a.O., 104f. Vgl. a.a.O., 210. 88 Vgl. a.a.O., 101. 89 Damit bietet er eine empirisch belegte Rechtfertigung für den Fortbestand bzw. die Einführung von Religionsunterricht an Schulen in ganz Deutschland. 87
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gendlichen wird anhand ihrer Wohnorte ein Urteil gefällt. Die Bilder werden grob nach einzelnen Bildinhalten ausgewertet und schnell kategorisiert, wobei es auch zu spekulativen Urteilen kommt.90 Interviews zu den Bildern finden nicht statt. Somit ist die Interpretation Hanischs als subjektive Schlussfolgerung des Untersuchenden anzusehen. Außer der angenommenen religiösen Sozialisation werden keine anderen biographischen Informationen über die Kinder und Jugendlichen einbezogen. Unberücksichtigt bleibt auch – sowohl von Hanisch als auch seinen Kritikern – dass sich die erste Stichprobe aus Kindern aus sehr ländlichem Raum zusammensetzt und die zweite Stichprobe aus den Städten Leipzig, Zwickau und Dresden stammt. Könnte nicht auch die Differenz von Stadt und Land einen Einfluss auf die Ergebnisse haben? Ziel der Studie ist das Darstellen von übergreifenden Entwicklungstrends, und diesem Ziel wurde die Würdigung der Einzelleistungen geopfert. De facto kann Hanisch sein Vorhaben, die zeichnerische Entwicklung zu untersuchen, nicht verwirklichen, denn dazu müssten einzelne Kinder über einen längeren Zeitraum begleitet werden. Außerdem ist Hanischs These, dass anthropomorphe Gottesbilder eine frühe Stufe von Vorstellungen darstellen, die es mit zunehmendem Alter zu überwinden gelte, angesichts der Fülle von ›anthropomorphen‹ Gottesvorstellungen, die die Bibel anbietet, zu hinterfragen. Nichtsdestotrotz ist seine Arbeit sehr zu würdigen, unter anderem, da sie die Grundlage für weitere Forschung bietet. 2.1.5 Kinder und Jugendliche stellen Fragen an Gott (Boßmann/Sauer 1984) Das 1984 erschienene Buch »Wann wird der Teufel in Ketten gelegt? Kinder und Jugendliche stellen Fragen an Gott« besteht aus von Dieter Boßmann gesammelten religiösen Äußerungen von Kindern und Jugendlichen und deren Interpretation durch den Psychotherapeuten Gert Sauer.91 Fragestellung und Design der Studie von Boßmann Boßmann hat in den Jahren 1979 bis 1981 an Schulen in der gesamten Bundesrepublik 8- bis 19jährige Schülerinnen und Schüler92 darum 90
So geht Hanisch beispielsweise selbstverständlich davon aus, dass Kinder aus der zweiten Stichprobe den Inhalt der religiösen oder christlichen Symbole, die sie verwenden, nicht kennen. Vgl. a.a.O., 202.224. 91 Am Ende des Buches findet sich ein religionspädagogischer Beitrag von Pfr. Klaus Deßecker. Dieser widmet sich der Bedeutung der Sinnfrage für das Gottesverhältnis von Kindern und Jugendlichen und soll hier nicht weiter berücksichtigt werden. 92 Es handelt sich um Grund-, Haupt- und Realschüler sowie um Gymnasiasten. Letztere sind stärker vertreten als die Schüler anderer Schulformen. Vgl. Boßmann/Sauer, Wann, 5.
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gebeten, schriftlich oder zeichnerisch festzuhalten, welche Frage sie Gott stellen möchten. Eine Angabe darüber, wie viele Bilder und Aufsätze insgesamt zusammengekommen sind, macht Boßmann nicht. Veröffentlicht wurden 256 Stellungnahmen, davon 25 Bilder und 231 schriftliche Formulierungen.93 Dabei handelt es sich um eine möglichst repräsentative Auswahl aus allen eingegangenen Fragen der Kinder und Jugendlichen. Der Autor betont, dass es das Anliegen seiner Arbeit sei, »Eltern und Erziehern sowie allen in den verschiedenen Bereichen der Jugendarbeit Tätigen, Denkanstöße zu vermitteln«94, und keine »Ansprüche im wissenschaftlichen Sinn«95 habe. Methode und Ziel der Bildinterpretation durch Sauer Die von Boßmann gesammelten Bilder und Aufsätze werden von Gert Sauer kommentiert. Dabei geht er nach den Methoden der psychoanalytischen Schule nach Carl Gustav Jung vor, die er vor der Beschäftigung mit den Bildern vorstellt. Sauer erläutert hier sowohl die theoretischen Grundlagen der Psychologie C.G. Jungs als auch konkrete Mittel der »Bilderdeutung aus dem Unbewussten«96. Der subjektive Eindruck, den ein Bild beim Betrachter auslöst, ist maßgeblich. Raum-, Farben- und Zahlensymbolik spielen bei der Auslegung eine wichtige Rolle. Die schriftlich formulierten Fragen an Gott teilt er in vier Kategorien ein: Sachfragen, Fragen nach der Ursache des Bösen und des Leides, Fragen nach dem Sinn und Fragen nach der Beziehung.97 Ergebnisse der Untersuchung von Boßmann und Sauer Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt in folgender Form: Nach zunehmendem Alter geordnet, werden jahrgangsweise98 zunächst die schriftlichen Äußerungen der Kinder mit dem Vermerk, welcher Kategorie sie zuzuordnen sind, präsentiert und vom Autor zusammengefasst. Teilweise erfolgt bei dieser Zusammenfassung auch eine Kommentierung bzw. entwicklungspsychologische Einordnung. Danach werden einzelne Bilder der entsprechenden Altersstufe ausführlich erläutert, wobei besonders auf die Symbolik der gewählten Farben, Zahlen und Platzierungen eingegangen wird.99 In den Aufsätzen und Bildern, die veranschaulichen,
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Die Anzahl der Beiträge pro Altersstufe schwankt erheblich. A.a.O., 6. 95 Ebd. 96 A.a.O., 15. 97 Vgl. a.a.O., 22f. 98 Die Grobgliederung entspricht drei Altersklassen (Großkindalter: acht bis zehn Jahre, Vorpubertät und Pubertät: elf bis 16 Jahre und Adoleszenz ab 17 Jahren). 99 So verweise beispielsweise die Platzierung des Weges im Bild der achtjährigen Gesa auf den kollektiven Mutterbereich hin und die Tatsache, dass Gesa einen Zaun aus 57 94
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2. Zum Stand der Forschung
welche Fragen Kinder und Jugendliche an Gott haben, wird jeweils auch etwas von ihrer Gottesvorstellung sichtbar. So erkennen viele Kinder Gott als den Wissenden an und erwarten von ihm Antworten.100 Bei den Bildern finden sich Darstellungen, die Gott in menschenähnlicher Gestalt zeigen, z.B. schwebend, im Himmel oder mit einer Kirche. Auch symbolische Darstellungen kommen vor, beispielsweise Gott als schützende Hand oder als Blume. Sauer macht insgesamt die Beobachtung, dass die Kinder und Jugendlichen oftmals von schmerzlichen Fragen umgetrieben werden, die die religiöse Erziehung bisher seiner Ansicht nach nicht berücksichtig habe beziehungsweise auf die sie keine zufriedenstellenden Antworten geboten habe. Er verweist, ausgehend von den Erkenntnissen der Psychoanalyse, daher auf zentrale Themen, die die einzelnen Altersstufen besonders beschäftigen.101 Diese sollten im Religionsunterricht ihren Platz haben, um die gesunde psychische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu unterstützen. Kritische Würdigung Die Untersuchung von Boßmann und Sauer stellt die Frage nach der Gottesvorstellung nicht explizit. Dennoch hat die Studie einen Wert für die Beschäftigung mit Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen. Neben den in den Fragen und Bildern erkennbaren Vorstellungen davon, wie der Gott ist, an den die Frage gerichtet wird, ist vor allem bemerkenswert, wie intensiv Sauer die Bilder analysiert. Seine Wahrnehmung aller Details eines Bildes kann als gutes Vorbild für die Bildauswertung in diesem Bereich gelten. Die Methode allerdings, mit der Sauer das Wahrgenommene dann deutet, wird man – abhängig davon, wie man die Jung’sche Archetypenlehre und Symboldeutung einschätzt – kritisch betrachten müssen.102 Ob die tiefenpsychologische Interpretation wissenschaftlich verlässliche Ergebnisse hervorbringen kann, scheint fraglich. Darüber hinaus ist zu kritisieren, dass durch die Auslegung aufgrund der Archetypenlehre die individuellen Details der Vorstellungen nicht als originelle theologische Gedanken gewürdigt werden. So Pfählen zeichnet, sei ein Hinweis darauf, dass die 57 eine besondere Bedeutung im Leben ihrer Familie haben könne. Vgl. a.a.O., 29f. 100 Sauer hält dies für ein Merkmal des Großkindalters (vgl. a.a.O., 32). Es könnte meiner Meinung auch durch die Aufgabenstellung impliziert sein. 101 Für das Grundschulalter sind dies die mütterlich und väterlich schützenden Elemente des Gottesbildes sowie das Motiv des jungen Helden. In Vorpubertät und Pubertät hält es Sauer für notwendig, sich mit der verändernden Kraft Gottes und mit dem Thema Beziehung auseinanderzusetzen. Für die Adoleszenz scheint es ihm gewinnbringend, auf Fragen nach Konvention und Autonomie des Individuums einzugehen. Vgl. a.a.O., 110. 102 Vgl. dazu auch die Kritik Buchers an der Bilddeutung nach C.G. Jung: Bucher, Alter Gott, 90.
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kritisiert Heimbrock Sauers Vorgehensweise als »den Extremfall der Vernachlässigung von Subjektivität zu Gunsten einer als kollektiv unterstellten Dynamik«103. 2.1.6 Eine Examensarbeit zu Texten als Zugang zu den Gottesvorstellungen von Oberstufenschülern (Möller 2010) Fragestellung und Design der Studie Als Band 4 der Kasseler Reihe Beiträge zur Kinder- und Jugendtheologie erschien 2010 die Examensarbeit von Karina Möller »Persönliche Gottesvorstellungen junger Erwachsener«, die sich mit den Gottesvorstellungen von 46 Schülerinnen und Schülern der Oberstufe aus dem Raum Kassel auseinandersetzt. Zunächst enthält der Band einen kurzen Abriss der entwicklungspsychologischen Hintergründe und eine Darstellung der religionssoziologischen Erkenntnisse der 15. Shell Jugendstudie sowie deren Infragestellung durch Andreas Feige und Carsten Gennerich. Die »empirischen Erkundungen«104 Möllers sind von der Fragestellung »Welche persönlichen Gottesvorstellungen haben junge Erwachsene?«105 geleitet. Möller befragte dazu die 17-bis 21-jährigen Schülerinnen und Schüler zweier evangelischer Religionskurse106 aus Kassel und Bad Soden. Zu der Frage »Welche Vorstellung von Gott hast du / haben Sie persönlich?« verfassten die jungen Erwachsenen in einer Schulstunde bzw. als Hausaufgabe eine Stellungnahme. Möller begründet die Wahl dieser Fragestellung damit, dass so »ein breiter Spielraum für subjektive Äußerungen und Deutungen«107 gegeben sei. Formal war es vorgesehen, dass die Antwort entweder in Textform oder als Bild mit schriftlicher Erläuterung erfolgen kann. Für letzteres hat sich allerdings nur ein Schüler entschieden. Ergebnisse der Studie von Möller Bei ihrer Auswertung der Schüleraussagen unterscheidet Möller zuerst zwischen personalen und apersonalen Gottesvorstellungen. Personale Vorstellungen von Gott, d.h. »Gott in Gestalt eines Menschen«108 finden sich nur bei wenigen Schülerinnen und Schülern, die sich laut Möller als das Festhalten an einer kindlichen Vorstellung von Gott deuten lassen. Andere junge Erwachsene distanzieren sich hingegen von den Vorstellungen, die sie als Kind hatten, und wenden sich apersonalen Vor103
Heimbrock, Abbild, 28. Möller, Persönliche Gottesvorstellungen, 36. 105 A.a.O., 11. 106 Einer der beiden Kurse bestand nur aus evangelischen Schülerinnen und Schülern, im anderen waren auch katholische und muslimische Jugendliche. Vgl. a.a.O., 39f. 107 A.a.O., 38. 108 A.a.O., 44. Möller entscheidet sich zwar bewusst für die Formulierung »personal« statt anthropomorph, es bleibt aber unklar, wie sich das inhaltlich auswirkt. Vgl. a.a.O., 43. 104
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2. Zum Stand der Forschung
stellungen von Gott zu. In den Aufsätzen erkennt Möller, dass die Jugendlichen sich weniger mit dem äußerlichen Erscheinungsbild Gottes auseinandersetzen als mit seinen Eigenschaften. Einige Jugendliche betonen die Immanenz Gottes und erklären, Gott sei »Gesprächspartner oder Freund […], der zuhört, hilft, beschützt und tröstet«109. Andere »beschreiben Gott als höhere Macht oder Kraft, als etwas abstraktes, unbegreifliches und unfassbares [sic!]«110 und betrachten Gott auf diese apersonale Weise eher als den Transzendenten. Zweitens unterscheidet Möller zwischen Gottesbildern nach biblischchristlicher Tradition und solchen aus anderen Traditionen. Möller findet die biblischen Zuschreibungen von Gottes Allmacht, Allgegenwart, Herrschaft, Fürsorge, Liebe und Schutz in den Vorstellungen der jungen Erwachsenen wieder. Auch Rückgriffe auf die »abrahamitisch-religiöse Tradition«111 und die indisch-religiöse Tradition finden sich laut Möller in den Antworten der Jugendlichen. Beispielsweise bezeichne ein Schüler Gott als »Karma« und meine damit das Prinzip von Ursache und Wirkung, nach dem jeder Mensch für sein Ergehen selbst verantwortlich sei.112 Einzelne Schülerinnen- und Schülerantworten ordnet Möller der agnostischen oder der atheistischen Tradition zu. Als dritte Kategorie der Auswertung betrachtet Möller das Verhältnis von theologischen Grundfragen und persönlichen Gottesvorstellungen. Dabei geht sie besonders auf die Theodizeefrage und die Frage nach der Weltentstehung ein.113 Das Wissen um Leid in der Welt bzw. das eigene Erleben von Leid beeinflusse das Nachdenken der Jugendlichen über Gott. Dies könne laut Möller sowohl zu einem Infragestellen der Existenz Gottes als auch zu einer Hinwendung zu Gott angesichts des Leides führen.114 Über die drei Auswertungskriterien hinweg stellt Möller bei den Schülerinnen und Schülern »weniger Interesse an kirchlichen Vorgaben und Lehren, als vielmehr an einer selbstbestimmten Religiosität«115 fest. Möller formuliert aufgrund ihrer Ergebnisse Konsequenzen für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe II. Sie fordert, dem Theologisieren mit jungen Erwachsenen anhand der theologischen Grundfragen im Religionsunterricht Raum zu geben. Die Beschäftigung mit den personalen Gottesvorstellungen der Bibel soll aufzeigen, dass die »GottMensch-Beziehung[…] eine gegenseitige, dialogische und dynamische 109
A.a.O., 46. A.a.O., 47. 111 A.a.O., 57. 112 A.a.O., 61. 113 Auch die Themen Tod und Auferstehung, Religionskritik und religiöse Sozialisation werden berücksichtigt. 114 Vgl. a.a.O., 65. 115 A.a.O., 91. 110
2.2 Untersuchungen zu Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen
35
Relation«116 sei. Im Dialog mit der Lehrkraft solle den Jugendlichen ermöglicht werden, eine »eigene Position«117 zu finden. Kritische Würdigung Karina Möllers Arbeit stellt interessante Einblicke in die religiösen Vorstellungen von jungen Erwachsenen der gymnasialen Oberstufe zusammen und widmet sich damit einer Altersstufe, die bisher bei der Untersuchung von Gottesvorstellungen nicht gesondert in den Blick genommen wurde. Die nach Kategorien geordnete Darstellung der Untersuchungsergebnisse nimmt die Individualität der Vorstellungen ernst und bietet einen angemessenen Bezugsrahmen. Möllers schon im Titel erkennbares Fazit, dass es sich bei Gottesvorstellungen immer um etwas Individuelles handele, das nicht von der Person und Persönlichkeit der jungen Erwachsenen zu trennen ist, scheint mir sehr sinnvoll und ergibt sich schlüssig aus den Ergebnissen der Studie. Offen bleibt die Frage, nach welchem Verfahren die Texte der Jugendlichen von der Autorin ausgewertet wurden. Die bisher vorgestellten Untersuchungen unterscheiden sich zum Teil deutlich hinsichtlich der Vorgehensweise und der Form des analysierten Materials. Vergleichbar sind alle diese Studien aber insofern, als bei ihrer Durchführung wenig bis keine Interaktion zwischen den Kindern beziehungsweise Jugendlichen und den Untersuchenden stattfand, sondern lediglich das von ihnen angefertigte Produkt eines Arbeitsauftrags vom Forscher analysiert wird. Es konnten so keine Rückfragen oder Vertiefungsfragen gestellt werden und die Interpretationen bleiben daher ungesichert. Im Folgenden sollen Forschungsansätze vorgestellt werden, die dieses Problem zu vermeiden suchen.
2.2 Untersuchungen zu Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen anhand von Bildern und ergänzenden Interviews 2.2.1 Eine feministische Perspektive auf gemalte Gottesbilder von Mädchen (Klein 2000) Fragestellung und Design der Studie Stefanie Klein hat im Jahre 2000 die Ergebnisse ihrer theoretischen und empirischen Beschäftigung mit Gottesvorstellungen von Kindern in 116 117
A.a.O., 87. A.a.O., 89.
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2. Zum Stand der Forschung
dem Band »Gottesbilder von Mädchen« veröffentlicht. Im Titel klingt schon an, dass es sich hier um eine besondere Fragestellung handelt. Klein widmet sich anhand von Gesprächen und Bildern den Gottesvorstellungen von Mädchen, da sie in diesem Bereich ein Forschungsdefizit sieht: In den Arbeiten von Bucher und Hanisch seien Unterschiede zwischen den Vorstellungen von Jungen und Mädchen aufgefallen, die nach einer weiteren Untersuchung verlangen. Klein macht sich zum Ziel, die Aussagen der feministischen Theologie auch in die Religionspädagogik hineinzutragen und religionspädagogisch zu reflektieren.118 Neben dieser geschlechtsspezifischen Ausrichtung hat auch die Frage nach einer adäquaten Methode, um Gottesvorstellungen von Kindern zu erheben, einen hohen Stellenwert in Kleins Arbeit. Sie reflektiert ausführlich die gängigen Methoden der empirischen Forschung mit Kindern und zeigt mögliche Probleme auf, die sich durch die asymmetrische Interviewsituation, das Wissen der Kinder um die Erwartungen der Erwachsenen, und bei Bildern durch den Bedeutungsüberschuss in ihnen ergeben.119 Sie entscheidet sich aufgrund dieser Beobachtungen dafür, die Untersuchung an »Kindern aus gemeinsamen Spielmilieus«120 durchzuführen, die miteinander vertraut sind und sich wahrscheinlich offen miteinander austauschen werden. Aus einer zunächst anders konzipierten Pilotstudie entwickelte sich dann das Verfahren, das die Basis der Studie lieferte: Eine Gruppe von fünf befreundeten Mädchen wurde von der Autorin in drei aufeinander folgenden Jahren besucht. Ort der Untersuchung war das Elternhaus eines Geschwisterpaares aus der Spielgruppe. Klein versucht so, eine Situation herzustellen, in der die Aussagen der Kinder möglichst wenig durch störende Faktoren von außen beeinflusst werden.121 Die Gottesvorstellungen der Mädchen, die 1997 beim ersten so genannten Mal-Interview zehn, zehn, zehn, sechs und neun Jahre alt waren, wurden in einem recht informellen Rahmen durch Gespräche sowie durch die Auswertung von Bildern erhoben. Die wie118
Vgl. Klein, Gottesbilder, 11. Kleins Ausgangsthese ist, dass die Männlichkeit Gottes in der christlichen Tradition zu einem unüberwindbaren Bruch in der Gottesbeziehung von Mädchen führe. »Für sie [die Mädchen, I.M.] ist dieser Gott letztlich immer auch fremd, da er ihre eigene geschlechtliche Identität und Existenz nicht in sich birgt, sie sogar ausschließt. (…) Ihre religiösen Identifizierungen laufen über das männliche Geschlecht – unter Absehung des weiblichen, das defizitär und als ein Hindernis der Annäherung wirkt.« A.a.O., 34. 119 Vgl. a.a.O., 53–55. 120 A.a.O., 65. 121 Die Faktoren, die eine solche Untersuchung beeinflussen, sind laut Klein die Beziehung des Interviewers zu den Kindern und die der Kinder untereinander, der Ort der Befragung, die biographischen Erfahrungen und die aktuelle Stimmung der Kinder sowie die Präsenz eines Aufnahmegeräts oder zusätzlicher Personen. Daher wird beispielsweise darauf geachtet, dass die Gesprächsrunde nicht von den Eltern gestört wird, deren Anwesenheit die Mädchen befangen machen könnte. Vgl. a.a.O., 61–64.
2.2 Untersuchungen zu Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen
37
derholten Befragungen 1998 und 1999 sollten dazu dienen, die Entwicklung der Gottesvorstellungen zu beobachten und auch die jeweiligen Eigenheiten deutlich zu erkennen. Ergebnisse der Untersuchung von Klein Klein wertet die Bilder und Gespräche nach dem Verfahren der »grounded theory«122 aus. Die drei Gespräche, die Beobachtungen beim Malprozess sowie die Bilder der Kinder werden detailliert wiedergegeben und interpretiert. Klein fasst die Ergebnisse dann zusammen, indem sie für jedes der Mädchen die persönliche Gottesvorstellung darstellt.123 Danach werden die Ergebnisse mit denen früherer Studien verglichen. Wie Hanisch beobachtet Klein, dass Kinder Gott mit den Motiven Himmel und Licht in Verbindung bringen.124 In der Neigung der Mädchen, Gott schwebend oder unsichtbar darzustellen, sieht sie die Umsetzung des Bewusstseins von Gottes Unvorstellbarkeit und Undarstellbarkeit. Parallel zu anderen Studien findet Klein ein Gottesbild vor, das Gott als Schöpfer und Bewahrer der Welt ansieht. Ein weiteres wichtiges Ergebnis ihrer Untersuchung besteht für Klein darin, dass Gott von den Mädchen zwar als Person, zu der eine Beziehung möglich ist, dargestellt werde, dass jedoch auch eindeutig markiert wird, dass Gott anders als ein Mensch sei. Dies geschehe in den Bildern durch die schwebende Haltung Gottes, durch sein Gewand125 und durch den Verzicht auf die Darstellung physischer Details. In den Gesprächen äußere sich dieses Bewusstsein der Mädchen in einer ungewöhnlichen Wortwahl bzw. Neologismen bei der Beschreibung Gottes. Klein kritisiert auf diesem Hintergrund die in vorangegangen Untersuchungen vorgenommene Unterscheidung zwischen anthropo-morphen und nicht-anthropomorphen Gottesbildern und schlägt stattdessen eine Kategorisierung in personale und nicht-personale Gottesvorstellungen vor.126 Ihrer Ausgangsthese entsprechend, dass das christliche männliche Gottesbild die 122
Die Daten sollen dabei zunächst genau beschrieben werden, ohne dass sie sofort interpretiert werden. Theorien oder Interpretationen sollen dann unmittelbar aus dem Datenmaterial selbst hervorgehen und durch die Gegenüberstellung anderer Daten überprüft werden. Vgl. a.a.O., 67f. 123 Die Beschreibung der einzelnen Bilder oder die Wiedergabe der Interviewaussagen kann an dieser Stelle nicht im Einzelnen dargelegt werden. Es seien jedoch wenigstens die persönlichen Gottesvorstellungen genannt, die Klein den einzelnen Mädchen zuordnet. Sie erkennt die Motive des kosmischen Schöpfergottes, der verborgenen Gottheit, des Gottes in Beziehung, des wirkmächtigen Gottes und Gott als Inbegriff des Guten. Vgl. a.a.O., 148–154. 124 Vgl. a.a.O., 155f. 125 Auf das Gewand geht Klein sowohl im Interpretationskapitel als auch in den Interviews mit den Mädchen ein. In der kritischen Würdigung der Untersuchung wird dies noch genauer betrachtet werden. 126 Vgl. a.a.O., 163–166.
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2. Zum Stand der Forschung
Gottesvorstellungen und Gottesbeziehungen von Mädchen störe, widmet sich Klein ausführlich dem Thema der männlichen beziehungsweise weiblichen Gottesbilder. Sie stellt fest, dass die Männlichkeit Gottes von den Mädchen unhinterfragt, zum Beispiel durch die Abbildung des Bartes, übernommen werde.127 Sowohl in der früheren Forschung als auch in Kleins eigenem Material finden sich aber auch Bilder, die Gott als Frau darstellen. Dass aber viele dieser Kinder, wie auch die zehnjährige Bettina in ihrer Studie, auf die Nachfrage hin bestreiten, eine Frau gemalt zu haben, wertet Klein als »Hinweis auf einen Konflikt in der religiösen Glaubenswelt«128. Die Sehnsucht der Mädchen nach einer Gottesgestalt, mit der sie sich identifizieren können, werde nicht offen ausgedrückt, da die religiöse Norm einen weiblichen Gott ausschließe. Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht Klein in der Wahl von nichtpersonalen Gottesbildern. 129 Klein stellt bei der Auswertung ihres Materials fest, dass bei Kindern mehrere Gottesvorstellungen nebeneinander vorliegen können, weshalb sie es kritisiert, anhand eines einzelnen Bildes auf diese Vorstellung rückschließen zu wollen.130 Sie erkennt bei den Kindern ein Bewusstsein, dass ihre Vorstellungen keine Abbilder von Gott seien und dass die – abweichenden – religiösen Bilder der anderen ebenso gültig seien wie die eigenen.131 Die Entstehung der Gottesbilder hält Klein für sowohl durch die religiöse Deutung von Alltagserfahrungen als auch durch erlerntes religiöses Wissen geprägt.132 Am Ende der Studie zieht Stefanie Klein Konsequenzen für die Religionspädagogik. In erster Linie ist es ihr wichtig, dass sich Erziehende von den Gottesbildern der Kinder nicht verunsichern lassen, sondern mit den Kindern gemeinsam fragend und entdeckend Theologie treiben. Die Vielfalt der Gottesbilder solle von der Religionspädagogik angstfrei anerkannt und gefördert werden. Dies beinhaltet für Klein auch, dass Kinder ermutigt werden, sich Gott als Frau vorzustellen, denn nur so »können sie [Mädchen, I.M.] sich im Göttlichen als ganze Person, auch mit ihrem Körper und ihrer Sexualität wieder finden und werden nicht in einem ausschließlich männlichen Gottesbild […] die eigene Minder-
127 Meines Ermessens ist es fragwürdig, ob Kinder mit dem Bart tatsächlich Gottes Männlichkeit betonen wollen. Stefanie Klein weist selbst darauf hin, dass Bettina den Bart, mit dem sie Gott versieht, folgendermaßen kommentiert: »weil er so unendlich alt« ist. Vgl. a.a.O., 83. 128 A.a.O., 170. 129 Sie schlägt vor, das häufigere Vorkommen von symbolischen Gottesbildern bei Mädchen in Hanischs Studie so zu deuten. Vgl. a.a.O., 173. 130 Vgl. a.a.O., 196. 131 Vgl. a.a.O., 176f. 132 Vgl. a.a.O., 179f.
2.2 Untersuchungen zu Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen
39
wertigkeit und Gottesferne internalisieren.«133 Auch für Jungen lohne sich die Auseinandersetzung mit weiblichen Gottesbildern, denn sie verhindere eine »Abwertung der Mädchen und Frauen sowie eine unangemessene[…] Selbstaufwertung und potentielle[…] Allmachtsphantasien.«134 Kritische Würdigung Stefanie Kleins Arbeit über Gottesbilder von Mädchen widmet sich einem speziellen Aspekt der Forschung über kindliche Gottesvorstellungen, nämlich den mädchenspezifischen Vorstellungen, und geht damit auf eine bisher zu wenig beachtete Nische ein. Der Wert der Untersuchung ist darüber hinaus in der Intensität, mit der die Mädchen individuell wahrgenommen werden, zu sehen. Auch das Vorhaben, die Gottesvorstellungen über einen längeren Zeitraum zu erforschen, ist lobenswert. Besonders aufschlussreich ist ebenfalls, dass Klein biographische Hinweise zu den Kindern in Zusammenhang mit ihren Bildern und Aussagen bringt. Jedoch gibt es auch Grundlegendes zu bemängeln. Das Setting der Interviews soll den Mädchen möglichst viel Vertrautheit bieten, doch scheinen die Bedingungen zum Teil ins Unwissenschaftliche abzurutschen: Während die Interviewerin nach dem Interview noch mit den befreundeten Eltern der Kinder zu Abend isst, reichen manche Mädchen noch zusätzliche Bilder nach, die auch berücksichtigt werden. Das letzte Interview muss aufgrund von Verspätung in großer Eile stattfinden. Außerdem wird bei der Auswertung der Bilder das Alter der Mädchen und damit verbunden der (zeichnerische) Entwicklungsstand nicht berücksichtigt. Auch die Tatsache, dass Kinder dazu tendieren, einmal erprobte Malschemata längerfristig beizubehalten, bleibt bei der Hervorhebung typischer Gottesvorstellungen der einzelnen Mädchen unbeachtet.135 Der Hauptkritikpunkt liegt jedoch in Kleins Vorgehensweise in Bezug auf den Gender-Aspekt begründet. Stefanie Klein geht davon aus, dass die Männlichkeit des christlichen Gottes für Mädchen und ihre religiöse Entwicklung ein Hindernis darstelle. Ihr zufolge müsse ein männlicher Gott von den Mädchen letztlich immer distanziert wahrgenommen werden. Daher fordert sie die Auseinandersetzung mit weiblichen Gottesbildern. Diese These wird weder von ihren eigenen Untersuchungen noch von denen Hanischs oder Buchers unterstützt, denn es ist nicht festzustellen, dass Mädchen ein distanzierteres Gottesverhältnis zeigen
133
A.a.O., 193. A.a.O., 194. 135 Vgl. Schuster, Psychologie, 64f. 134
40
2. Zum Stand der Forschung
als Jungen.136 An dieser Stelle entsteht der Eindruck, dass Klein von ihrem theologischen Hintergrund her an ihren Überzeugungen festhält, ohne sie durch empirisches Material verifizieren zu können. Daher kann man leider nicht davon sprechen, dass Stefanie Kleins Arbeit die Lücke der mädchen-spezifischen Gottesbilderforschung zufriedenstellend schließt. 2.2.2 Eine Diplomarbeit zu gemalten Gottesbildern in der frühen Kindheit (Eckerle 2001) Fragestellung und Design der Studie In einer Veröffentlichung der Schriftenreihe der Ev. Fachhochschule Freiburg erschien 2001 die auf den Elementarbereich bezogene Diplomarbeit von Sandra Eckerle mit dem Titel »Gott der Kinder. Eine Untersuchung zur religiösen Sozialisation von Kindern«. Eckerles Arbeit, deren Ziel es ist, Erkenntnisse über Gottesvorstellungen von Kindergartenkindern zu gewinnen und diese für die religionspädagogische Praxis fruchtbar zu machen, enthält ausführliche Hintergrundinformationen. Es finden sich ein historischer Rückblick in die Pädagogik seit dem Mittelalter137 sowie die Erarbeitung der biblischen Sicht der Kinder durch die Exegese von Mk 10,13–16138, des Weiteren begriffsdefinitorische Abschnitte zu Religion, Sozialisation und religiöser Sozialisation139, in denen auch auf Entwicklungstheorien140 eingegangen wird, und schließlich eine Darstellung der wichtigsten Erkenntnisse der Psychologie von Kinderbildern.141 Eckerle nimmt dann eine Zusammenfassung des Forschungsstandes zur Entwicklung der Gottesvorstellungen bei Kindern vor, bei der sie auch aktuelle Studien berücksichtigt. Sie beruft sich bei ihrem abschließenden Urteil vor allem auf die Aussagen von A.M. Rizzutos psycho-analytischem Ansatz und auf die Archetypenlehre nach C.G. Jung.142
136
Zu dieser Erkenntnis kommen auch Hilger und Dregelyi bei ihrer Frage nach der Geschlechterdifferenz bei Gottesvorstellungen. Vgl. Hilger/Dregelyi, Geschlechterdifferenz, 78. 137 Vgl. Eckerle, Gott der Kinder, 9–12. 138 Vgl. a.a.O., 12–18. 139 Vgl. a.a.O., 20–35. 140 Eckerle berücksichtigt die Modelle von Oser/Gmünder und Fowler, vgl. a.a.O., 37–46. 141 Es werden die Erkenntnisse von Richter, Schuster und Krenz referiert. Vgl. a.a.O., 58–69. 142 »Ein Aufbau einer Gottesrepräsentanz erfolgt hauptsächlich aus der Vermittlung – aus dem Hören und Sehen. Die inneren Bilder sind in der Psyche archetypisch angelegt, das spezifisch christliche Gottesbild jedoch muss von außen einfließen.« A.a.O., 57. Mehr dazu vgl. a.a.O., 47–58.
2.2 Untersuchungen zu Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen
41
Eckerles Studie fand in einem oberfränkischen evangelischen Kindergarten statt. Sie ließ jedes Kind aus einer Gruppe143 der Einrichtung in ihrer Anwesenheit ein Bild von Gott malen und kam während des Malens mit dem Kind darüber ins Gespräch.144 Das Erkenntnisinteresse der Untersuchung lag – neben der Erforschung des Gottesbildes – darin zu überprüfen, ob die Drei- bis Sechs-jährigen in der Lage seien, ihre Gottesvorstellungen in Bild und Sprache zu äußern, und inwieweit die Fähigkeit dazu von der religiösen Sozialisation abhängt.145 Darüber hinaus will Eckerle auch Aussagen über mögliche geschlechtsspezifische Vorstellungen und über die Kontinuität der Entwicklung von Gottesvorstellungen machen. Ergebnisse der Untersuchung von Eckerle Die Bilder der Kinder werden zunächst in Kategorien eingeteilt, dann einzeln analysiert und schließlich unter Berücksichtigung der Kommentare interpretiert. Eckerle erkennt unter den 22 Darstellungen Bilder von Gott als Mensch (sieben Bilder), Gott im Himmel (drei Bilder), Gott am Kreuz (zwei Bilder), Gottes Welt (sieben Bilder), sowie eine abstrakte Darstellung und zwei nicht lesbare Bilder.146 Der Einzelinterpretation folgt der Hinweis auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Kommentare der Kinder, ohne die keine verlässliche Auswertung geschehen könne. Dann werden die Ausgangsfragen beantwortet. Es wird gezeigt, dass Kindergartenkinder in der Lage seien, ihre Gottesvorstellungen spontan zu zeichnen. Sie tun dies in vielfältiger und origineller Weise, anthropomorphe und nicht-anthropomorphe Darstellungen halten sich nach Eckerle die Waage. Weder geschlechtsspezifische Eigenheiten noch eine kontinuierliche Altersentwicklung lassen sich feststellen, weswegen Eckerle eine Stufeneinteilung nicht sinnvoll erscheint. Die Auswertung der Bilder und Gespräche im Hinblick auf die Bedeutung von religiöser Sozialisation, die in diesem Alter vor allem in der Familie stattfindet, ergab, dass diese einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der religiösen Sprachfähigkeit habe.147 Eckerle hebt hervor, dass ihre Untersuchung die Ergebnisse von Hanisch, Schreiner und Hull bestätige.148 Sie zieht am Ende die Schlussfolgerung, dass die unter143
Ingesamt sind dies 22 Kinder zwischen drei und sechs Jahren. In einem Exkurs wertet Eckerle in weniger detaillierter Weise noch weitere Bilder aus, die in den anderen Gruppen auf die Initiative der Erzieherinnen entstanden waren. Vgl. a.a.O., 76f. 145 Dazu wurden von den Kindern selbst und hauptsächlich von zwei Erzieherinnen Informationen über die Religiosität der Familie z.B. anhand von deren Engagement in der Kirchengemeinde eingeholt. Vgl. a.a.O., 72. 146 Vgl. a.a.O., 75f. 147 Vgl. a.a.O., 89ff. 148 Vgl. a.a.O., 90f. 144
42
2. Zum Stand der Forschung
schiedlichen, jeweils von der familiären Sozialisation geprägten Gottesbilder von Kindern in der religionspädagogischen Praxis wahrgenommen und aufgegriffen werden müssen. Kritische Würdigung Sandra Eckerle will mit ihrer Diplomarbeit nach den Gottesbildern von Kindergartenkindern und deren Zusammenhang mit der religiösen Sozialisation fragen. Durch die Berücksichtigung sehr vieler Hintergrundinformationen bleiben am Ende kaum mehr die Hälfte der 100 Seiten für die Beschäftigung mit diesem Thema. Die Informationen aus den Bereichen der Theologie, Psychologie und Pädagogik werden häufig nur oberflächlich dargestellt und kaum in einen sinnvollen Zusammenhang mit der Untersuchung gebracht. Eckerles Studie im Kindergarten ist jedoch solide durchgeführt. Die Malinterviews mit den einzelnen Kindern und die gleichzeitig geführten Gespräche liefern das Material, das dann ähnlich wie in den Studien von Hanisch und Bucher ausgewertet wird. Auch die Ergebnisse stimmen mit den früheren Studien überein. Bei der Frage nach der Bedeutung der religiösen Sozialisation kommt Eckerle zu dem Ergebnis, dass diese maßgeblich ist für die Entwicklung religiöser Vorstellungen. Dennoch bleibt diese Aussage spekulativ, da die Art der Erhebung der religiösen Sozialisation durch die Aussagen von zwei Erzieherinnen nicht als eine verlässliche Basis gelten kann.
2.3 Untersuchungen von Gottesvorstellungen anhand weiterer Methoden 2.3.1 Kinder verschiedener Religionen erklären Gott spielerisch (Heller 1986) Eine in ihrer Herangehensweise sehr umfassende qualitative Untersuchung der Gottesvorstellungen von Kindern ist die des Amerikaners David Heller aus dem Jahr 1986. Fragestellung und Design der Studie An Hellers Untersuchung nahmen 40 vier- bis zwölfjährige Kinder (20 Jungen und 20 Mädchen) aus Michigan teil. Bemerkenswert ist, dass es sich dabei um Kinder aus verschiedenen Konfessionen bzw. Religionen handelt: Je zehn von ihnen sind römisch-katholisch, jüdisch, baptistisch und hinduistisch. Aus jedem religiösen Hintergrund waren sowohl Kinder vertreten, die eine intensive religiöse Sozialisation erleben, als auch Kinder, die nicht religiös erzogen werden.149 Heller wählte für seine 149
Vgl. dazu Heller, The Childrens’ God, 8–11.
2.3 Untersuchungen von Gottesvorstellungen anhand weiterer Methoden
43
Studie spielerische Aktivitäten der Kinder als Weg, um ihre Gottesvorstellungen kennenzulernen und hoffte, so einen möglichst freien Rahmen zu schaffen. Er führte mit jedem der Kinder ein ca. zweistündiges semistrukturiertes Interview durch, in dem die Kinder gebeten wurden, ihrer Gottesvorstellung durch Malen, durch das Erzählen einer Geschichte, das szenische Spiel mit einer Puppenfamilie, das Beantworten von Interviewfragen und in einem persönlichen Brief an Gott Ausdruck zu verleihen.150 Das gezeichnete Gottesbild ist hier also ein Zugang, der von vielen anderen ergänzt wird. Um das Gespräch möglichst wenig einzuengen, wurde zu Beginn die persönliche Gottesbezeichnung des Kindes erfragt und im gesamten Interview von Heller verwendet. Hellers Erkenntnisinteresse ist es, die religiösen Vorstellungen der Kinder in Erfahrung zu bringen und sowohl Spezifika einzelner Gruppen, z.B. religiöser Gemeinschaften, als auch allgemeine Themen aller Kinder herauszufinden. Er fragte auch nach der Bedeutung der Familie für die Gottesvorstellungen von Kindern, um mit Hilfe der Ergebnisse Eltern und Erziehern nützliche Hinweise für die religiöse Bildung geben zu können. Ergebnisse der Untersuchung von Heller Heller legt die Ergebnisse der Studie vor, indem er die Gemeinsamkeiten jeweiliger Gruppen herausstellt. Zunächst zeigt er auf, welche Besonderheiten die Gottesvorstellung der Kinder einer religiösen Gruppe von denen der anderen unterscheidet. Die jüdischen Kinder zeichnen sich in seiner Untersuchung zum einen durch die Betonung des Handelns Gottes in der Geschichte aus.151 Zum anderen haben die Kinder ein besonderes Bewusstsein dafür, dass ihr jüdischer Gott sich von dem der anderen unterscheidet. Heller spricht von einem »minority or separatist conciousness«152. Darüber hinaus sei bei den jüdischen Kindern mehr als bei allen anderen eine besondere Verbindung Gottes mit dem Leiden der Menschen zu erkennen.153 Für die katholischen Kinder stellt Heller fest, dass Gott eine besondere Rolle im Zusammenhalt der Familie spiele, und führt das auf die Wertschätzung der Familie durch die katholische Kirche zurück. Ein weiteres wichtiges Thema für die katholischen Kinder ist das der Schuld, Vergebung und Reinheit.154 Bei Kindern aus dem baptistischen Hintergrund erkennt Heller die Vorstellung sowohl von Gott als dem Versorger als auch von demjenigen, der Ord150
Vgl. a.a.O., 12–16. Vgl. a.a.O., 18ff. 152 A.a.O., 22. 153 Dabei wird Gott nicht als der angesehen, der den Seinen das Leid beschert, sondern er hilft durch das Leiden hindurch, beendet es oder schafft einen Sinn darin. Vgl. a.a.O., 24. 154 Vgl. a.a.O., 25–30. 151
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2. Zum Stand der Forschung
nung schafft und erhält. Die baptistischen Kinder empfinden eine emotionale Distanz zwischen Gott und ihnen selbst.155 Bei den hinduistischen Kindern falle auf, dass sie auf der einen Seite die Gottheit mit der Gemeinschaft der Gläubigen in Verbindung bringen (»The deity is weaving lives together.«156), dass auf der anderen Seite aber auch das Individuum eine besondere Wertschätzung erfahre. Außerdem seien die Gottesvorstellungen der hinduistischen Kinder zum einen sehr anthropomorph und zum anderen sehr abstrakt, denn die Gottheit werde sowohl als Person, zu der eine innige Beziehung möglich ist, als auch als ein Geheimnis begriffen. Weiter zeichnen sich die Gottesvorstellungen dieser Kinder dadurch aus, dass der Hingabe an die Gottheit große Bedeutung zukomme. Nach der Unterscheidung religiöser Gruppen folgt die Untersuchung einzelner Altersgruppen. Hier falle bei den jüngsten Teilnehmern der Studie, den Vier- bis Sechsjährigen, vor allem ihr mangelndes Wissen über formale Religion auf. Im Allgemeinen werde Gott von ihnen mit positiven Erfahrungen wie Spiel, Spaß und Freude in Zusammenhang gebracht und werde ganz auf das eigene Selbst bezogen.157 Die Siebenbis Neunjährigen verfügen bereits über mehr religiöses Wissen und zeigen auch größere Neugier gegenüber Gott. Ihre Fragen und Vorstellungen seien verbunden mit persönlichen Erfahrungen, besonders einflussreich seien hier die Familienkonstellation und die Auseinandersetzung mit dem Alleinsein und der Einsamkeit.158 Die ältesten Kinder der Studie bringen das meiste religiöse Wissen in die Interviews ein, haben allerdings auch viele Fragen und Zweifel. Verletzung und Schmerz spielen für die Gottesvorstellungen der Zehn-bis Zwölfjährigen eine Rolle, was oft in die Theodizeefrage mündet. Auch über die Reichweite des Wirkens Gottes und über das Jenseits denken die älteren Kinder nach.159 Heller fragt dann nach unterschiedlichen Gottesvorstellungen bei den beiden Geschlechtern und erkennt »clear sexual socialisation imprints on their deity conceptions«160. Für die Jungen scheine demnach charakteristisch zu sein, dass sie sich Gott als mächtigen, aktiven aber geographisch und emotional distanzierten Herrscher vorstellen. Ihr Gottesbild sei stark rationalistisch, naturwissenschaftlich-technisch und pragmatisch geprägt. Die Gottheit könne für sie – wie der Vater – Vorbild oder Anti-Bild sein. Gegenüber Vorstellungen von Gott als Frau zeigen die Jungen eine deutliche Befangenheit.161 Die Gottesvorstellungen der 20 155
Vgl. a.a.O., 30–34. A.a.O., 35. 157 Vgl. a.a.O., 39–44. 158 Vgl. a.a.O., 44–59. 159 Vgl. a.a.O., 50–55. 160 A.a.O., 75. 161 Vgl. a.a.O., 57–65. 156
2.3 Untersuchungen von Gottesvorstellungen anhand weiterer Methoden
45
Mädchen unterscheiden sich maßgeblich von diesem Gottesbild. Die Gottheit der Mädchen sei »characterized by aesthetic appeal and by investment in the artistic world«162. Gott werde weniger mit konkreten Erlebnissen und Fakten verknüpft, er sei passiver als der Gott der Jungen, aber auch nicht so distanziert, und die Beziehung zu ihm werde intensiv und bedeutsam erlebt. Die Mädchen identifizieren sich mit der Rolle des Partners Gottes – entsprechend ihrer Rolle als Tochter oder Ehefrau. Die Gottesvorstellungen der Mädchen scheinen zunächst männlich zu sein, bei einigen Interviewfragen entdeckte Heller jedoch, dass die Mädchen sich männliche und weibliche Anteile in Gott vorstellen, dies jedoch ungern aussprächen, da es der gängigen religiösen Unterweisung nicht entspreche. Heller unterscheidet im Weiteren zwischen verschiedenen Persönlichkeitsgruppen bei den Kindern und fragt nach den typischen Gottesvorstellungen. Er legt sieben verschiedene Gottesbilder dar. Gott als »the friendly ghost«163, also als positiv belegten Phantasiebegleiter, findet Heller bei glücklichen Kindern, die dennoch mit dem Alleinsein zu kämpfen haben. Kinder, die in der Familie oft Aggression erleben oder Schwierigkeiten haben, mit ihrer eigenen Aggression umzugehen, stellen sich Gott als »angry villain«164 vor. Kinder, in deren Familie große emotionale Distanziertheit herrscht, entwickeln ein Bild von Gott als dem »distant thing in the sky«165. Manche Kinder verstehen Gott als den »lover in heaven«166, den geliebten Partner im romantischen Sinn. Dies bringt Heller mit einer engen Bindung des Kindes an das Elternteil des anderen Geschlechts in Verbindung. Den »inconsistent God«167 beschreiben die Kinder, die ihre Eltern als unberechenbar erfahren. Einige Kinder stellen sich Gott als mächtigen männlichen Herrscher vor, den »once and future king«168, der alles dominiere. Außerdem nennt Heller noch die Gruppe der Kinder, die einen »therapist God«169 beschreiben. Diese Vorstellung entstehe laut Heller vor allem dann, wenn Familien ein tragisches Ereignis zu verarbeiten haben und Kinder erleben, wie Dinge »wieder gut« werden. Nach dieser Unterteilung der Gottesvorstellungen nach sozialisationsspezifischen Gruppen geht er darauf ein, inwiefern die Familiensituation einen Einfluss auf das Gottesbild von Kindern habe. Heller stellt hier fest, dass das Erleben der Familie als »the final and most influential 162
A.a.O., 66. A.a.O., 76. 164 A.a.O., 80. 165 A.a.O., 83. 166 A.a.O., 85. 167 A.a.O., 88. 168 A.a.O., 90. 169 A.a.O., 92. 163
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2. Zum Stand der Forschung
socializer of religious imagery«170 in großem Maße in die Gottesvorstellung von Kindern eingehe. Das Gottesbild von Kindern sei bestimmt von ihrem Vaterbild und Mutterbild. Vorstellungen von Gott als dem Ordnung schaffenden Herrscher verbindet Heller mit dem Vater, der Mutter hingegen werden Vorstellungen vom versorgenden, schützenden Gott zugeordnet. Außerdem reflektiere das Gottesbild auch die kindliche Wahrnehmung der Eltern als Paar und der Großeltern sowie die Vorstellungen von den erwünschten oder gefürchteten Eltern. Heller widmet sich dann ausführlich den Aspekten des Gottesbildes, die er bei allen Kindern wiederfindet. 171 Dazu gehören die Allmacht und Allgegenwart Gottes und die intime Begegnung mit der Gottheit. Allen Kindern gemeinsam seien weiter eine gewisse Unsicherheit in der definitiven Beschreibung Gottes und das Wissen um die Verbundenheit aller Geschehnisse durch Gott als den Vermittler. Außerdem bringen die Kinder Gott in Verbindung mit dem Thema der Veränderung und des Lichts. Bei allen Interpretationsschritten weist Heller darauf hin, dass die religiösen Vorstellungen der Kinder sich aus zwei Quellen speisen: Sie entstehen auf der Basis von Sozialisationserfahrungen, haben aber auch individuelle Anteile. Auf die Bedeutung der Sozialisation geht Heller im letzen Kapitel seiner Studie »implications for childhood religion«172 ein. Die Sozialisation durch Institutionen, d.h. Religionsgemeinschaften, die überwiegend von der Familie vermittelt werde, könne auf das Interesse des Kindes an Religion negativ einwirken. Dies sei der Fall, wenn das eigene Reflektieren und Fragen des Kindes durch restriktives Belehren abgewertet werde. Heller fordert dagegen, dass die individuellen Vorstellungen von Kindern durch eine offene Atmosphäre gefördert werden müssen. Neben Institutionen habe auch die Familienstruktur und das in ihr herrschende Maß an Vertrauen und Fürsorge sowie das daraus entspringende Selbstbild eine Wirkung auf das Gottesbild. Förderlich für die Entwicklung sei es nach Heller, wenn Kinder zum eigenen Reflektieren Raum haben und darin von den Eltern Unterstützung erfahren. Kritische Würdigung Die Studie von David Heller ist in methodischer Hinsicht vorbildlich. Durch die Kombination verschiedener, den Kindern aus ihrem SpielAlltag vertrauter Aktivitäten wird ein Zugang zu den Gottesvorstellungen der Kinder eröffnet, der einen authentischen Einblick in die Gedankenwelt der Kinder schafft. Aus diesem Grund sind seine Ergebnisse hier auch ausführlich dargestellt worden. Er widmet sich in seiner Un170
A.a.O., 94. Vgl. dazu a.a.O., 105–129. 172 A.a.O., 130. 171
2.3 Untersuchungen von Gottesvorstellungen anhand weiterer Methoden
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tersuchung jedem der 40 Kinder gründlich und kommt so zu detaillierten Eindrücken der individuellen Gottesbilder. Die Individualität der Vorstellungen wird durch viele Zitate und Beschreibungen der Aussagen der Kinder gewürdigt. Entsprechend seiner These, dass bei Kindern aus gemeinsamen Gruppen, beispielsweise mit ähnlichem Alter oder ähnlicher Persönlichkeit, auch Gemeinsamkeiten in den Gottesvorstellungen festzustellen sein müssen, fasst er dann Charakteristika zusammen. Die Untersuchung der religiösen Vorstellungen, unterteilt nach Persönlichkeitstypen, erscheint etwas spekulativ: Aus einer einzigen Begegnung mit einem Kind – zumal in der ungewohnten Interviewsituation – können kaum zuverlässigen Schlüsse auf die Persönlichkeit des Kindes gezogen werden. Die Kategorisierung typischer Gottesvorstellungen in Gruppen kann auch grundsätzlich kritisch hinterfragt werden: Wird so nicht unangemessen mit den individuellen Aussagen der Kinder umgegangen? Dass Heller jedoch seine Thesen durch viele Belege in den Aussagen der Kinder stützen kann, macht seine Schlussfolgerungen glaubwürdig. Insgesamt ist die Studie von Heller als sehr ertragreich anzusehen, was die Erkenntnisse über kindliche Gottesvorstellungen und die verwendeten Methoden angeht. 2.3.2 Die Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen (Szagun u.a.) Acht Einzelfallstudien zu Gottesmetaphern im Zusammenhang mit Selbstbild und familiären Bindungen (Szagun 2006) Fragestellung und Design der Studie Anna-Katharina Szagun widmet sich mit ihrer groß angelegten Langzeitstudie der noch nicht ausreichend erforschten Frage nach den Gottesvorstellungen von Kindern, die in konfessionslosem Kontext aufwachsen. Sie kritisiert an der bisherigen Forschung zum Thema vor allem die Fragestellung, mit der die Kinder konfrontiert wurden, aber auch die Form. Werden Kinder aufgefordert, ein Bild von Gott zu malen, so führe dies ihrer Meinung nach zu »überwiegend kindliche[n] Elementarisierungen von ›vulgärer‹ Dogmatik«173, die weit hinter der Reflexionsfähigkeit der Kinder zurückbleiben. Sie wählt daher den Weg, Gottesmetaphern in Form von Collagen herzustellen, über die mit den Kindern Gespräche geführt werden. Dieser Zugang wird ergänzt durch Zeichnungen bzw. Collagen zur Lebenswelt der Kinder und Gesprächen darüber, Zeichnungen zum Lebensweg und zur Familie in Tieren sowie Zeichnungen zu Fantasiereisen. Zur Vorgehensweise gehören auch Col173
Szagun, Sprache verleihen, 35.
48
2. Zum Stand der Forschung
lagen zum Selbstkonzept sowie Positionierungen zu Materialcollagen und zum Gottessymbol, zur Bibel und zu Bezugspersonen sowie Fragebögen.174 So entsteht ein umfassender Eindruck von Selbst-, Welt und Gottesbild der untersuchten Kinder. Weitere wichtige Merkmale angemessener Forschung zum Thema Gottesvorstellungen sind für Szagun, das »Kind als religiös produktives Subjekt«175 in seiner Individualität wahrzunehmen und die Sozialisation und Lebenswelt des Kindes miteinzubeziehen. Dies erklärt auch den aufwändigen Ansatz einer Langzeitstudie mit 50–60 Kindern im Alter von sechs bis 17 Jahren über vier bis sieben Jahre. Ziel der Untersuchung ist es, zum einen »religiöse Bildungsverläufe von Kindern – speziell fokussiert auf ihr Gottesverständnis und ihre Gottesbeziehung – in Einzelfallstudien nach[zu]zeichnen«176. Zum anderen sollen die Einzelfälle auf übergreifende Phänomene überprüft werden. Szagun orientiert sich mit ihrer Studie an der qualitativheuristischen Forschung im Dialogprinzip.177 »Die mittels unterschiedlicher Verfahren wie mittels unterschiedlicher Samples gewonnenen perspektivischen Einsichten […] sollen kaleidoskopartig zu einem aussagekräftigen differenzierten Gesamtbild zusammengefügt werden.«178 Die Visualisierungen der Vorstellungen der Kinder wurden in einem interdisziplinären Forschungsteam analysiert und zunächst isoliert, dann ergänzt durch den biografischen Hintergrund interpretiert. Ergebnisse Im Band »Dem Sprachlosen Sprache verleihen« von 2006 stellt Szagun aus den breiten Ergebnissen der Langzeitstudie acht Einzelfallstudien vor, wobei sie jeweils die verschiedenen Produkte zu den unterschiedlichen Arbeitsaufträgen beschreibt und interpretiert. Es entsteht so ein detaillierter Einblick in die Vorstellungswelt der Kinder, und die religiösen Vorstellungen werden auf sehr aufschlussreiche Weise in enger Verknüpfung mit dem familiären Hintergrund und der Persönlichkeit des Kindes dargestellt. Der elfjährige Damian wird von Szagun als leistungsschwach beschrieben und erlebt in seiner Familie die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit und Armut.179 Er vergleicht Gott mit einer Insel, »wo ein Auto einen Unfall hat. Es ist hier gegen die Mauer [gefahren …] Gott hilft den Menschen, die Unfälle machen.«180 Szagun interpretiert Damians Erklärung folgendermaßen: »Gott verhindert nicht, dass die Existenz von Menschen ›gegen die Wand‹ gefahren wird (und realistisch 174
Vgl. die ausführliche Darlegung der Methoden a.a.O., 65–91. A.a.O., 38. 176 A.a.O., 43. 177 Vgl. a.a.O., 45. 178 A.a.O., 46. 179 A.a.O., 161.166. 180 A.a.O., 170. 175
2.3 Untersuchungen von Gottesvorstellungen anhand weiterer Methoden
49
betrachtet ist dies für Damian mit seinem schwachen Begabungspotential und angesichts der Arbeitsmarktsituation bereits der Fall), aber Gott hilft, mit dieser Situation zurechtzukommen.«181 Zusammenfassend formuliert Szagun übergreifende Trends, die in den Einzelfällen zu Tage treten. Sie geht dabei auf den Kontext der familiären religiösen Sozialisation, auf das Geschlecht, den Zusammenhang zu den Stufentheorien religiöser Entwicklung und die Bindungen der Kinder sowie deren religiöse Sprachfähigkeit ein.182 Hier soll nur der »Blickpunkt Retrospektion« genauer aufgegriffen werden: Es kommen die Aussagen der Kinder zu ihren früheren Gottesmetaphern in den Blick, und es wird deutlich, dass fünf Muster vorliegen, wie die Kinder damit umgehen: Die Kinder haben eine Erinnerung an ihre Gottesmetaphern aus den früheren Jahren, deuten die früheren Produkte aber im Rahmen der aktuell vorliegenden Perspektive. Sie sehen ihre früheren Produkte als inhaltlich der aktuellen unterlegen an. Sie deuten damals unkommentiert gebliebene Aspekte der Gottesmetaphern »im Sinn eines latenten Inhalts, den die Forscherin damals vermutend festhielt, dem Kind gegenüber aber niemals offen legte«183. Manche Kinder erinnern sich auch an keine früheren Gestaltungen und deren Interpretation. Sechs Einzelfallstudien zur religiösen Beheimatung von Kindern (Szagun/ Fiedler, 2008) Zu Fragestellung und Design der Studie Im zweiten Band, »Religiöse Heimaten«, der die Ergebnisse der Rostocker Langzeitstudie beleuchtet, wird anhand von Beispielen aus der Erhebung der Frage nach der religiösen Beheimatung von Kindern nachgegangen. Darunter versteht Szagun ein »Lebens- und Traditionsgefüge i.S. eines ›Zuhauses‹, einer Gemeinschaft, der man sich zugehörig fühlt«184, das in einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren an das Kind herangetragen und zugleich von ihm gestaltet wird. Unter Berücksichtigung der Sichtweise der Eltern skizziert Szagun sechs Einzelfälle und bündelt die Ergebnisse nach zentralen Perspektiven. Ergebnisse der Untersuchung Szagun stellt an den Einzelfällen aus diesem und dem ersten Band »generationsübergreifende Wirkungszusammenhänge«185 fest. Die Bezugspersonen in der Familie, neben den Eltern auch die Großeltern und Geschwister, stellen die wichtigsten Modelle für religiöse Vorstellungen 181
A.a.O., 171. Vgl. a.a.O., 359–365. 183 A.a.O., 360. 184 Szagun/Fiedler, Religiöse Heimaten, 24. 185 A.a.O., 378. 182
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2. Zum Stand der Forschung
dar, und zwar unabhängig davon, ob sie sich als religiös betrachten oder nicht. Die »enge[…] Korrelation zwischen Elternbild und Gottesbild«186, die die Tübinger Familienstudie187 feststellte, lässt sich laut Szagun anhand der Rostocker Studie nicht allgemein bestätigen. Die Erstbegegnung mit Religiosität spielt laut Szagun die entscheidende Rolle für den späteren Umgang mit religiösen Inhalten und Formen und bestimmt die Art und Intensität, mit der diese verarbeitet werden. Das Modell von Oser und Gmünder und dessen Vorstellung von einer entwicklungspsychologisch zu deutenden Stufenfolge wird laut Szagun durch die Rostocker Ergebnisse nicht bestätigt. Vielmehr sieht Szagun die von Oser und Gmünder festgestellten Denkweisen und deren Umbrüche als Konsequenz einer vorangegangenen religiösen Situation. Auch die Tatsache, dass die Kinder ihre Gotteskonzepte in unterschiedlichen Situationen entsprechend aktualisieren und je nach Lebenslage auf unterschiedliche Aspekte ihrer Vorstellung von Gott zurückgreifen können, spreche gegen die strukturgenetische Deutung Osers und Gmünders. Ebenso stellt Szagun die Anwendbarkeit der These von Ana Maria Rizzuto auf den konfessionslosen Kontext in Frage.188 189 Des Weiteren stellt sie fest, dass je nach Ausprägung der religiösen Sozialisation in der Familie die Gottesbeziehung, z.B. im Sinne einer Kraft- und Orientierungsquelle, der treibende Faktor im Gotteskonzept sein könne. In konfessionslosen Familien spiele dagegen das Gottesverständnis als kognitiver Zugang die primäre Rolle bei der Konstruktion von Gotteskonzepten. Als weiteren wichtigen Aspekt beschreibt Szagun, dass das Bibelverständnis ein »›mitwachsendes‹ Gotteskonzept«190 »eröffne[n] oder verbau[en]«191 könne, und betont dementsprechend die Bedeutung des Religionsunterrichts für den Aufbau eines kompetenten Umgangs mit biblischen Aussagen. Zu den Merkmalen der Gotteskonzepte der untersuchten Einzelfälle erklärt Szagun, diese seien keineswegs konsistent, sondern bruchstückhaft. Sie stellt fest, dass die religiöse Sozialisation (jedweder Prägung) anthropomorphe Gotteskonzepte fördere, Kinder aber schon über ein Bewusstsein von Transzendenz verfügen und dieses ausdrücken.192 Des Weiteren schließt Szagun aus der Analyse der Einzelfälle darauf, dass eine Gottesbeziehung dann entstehe, wenn »das Kind ein religiöses 186
A.a.O., 389. Vgl. Biesinger/Sautermeister, Religiöse Kommunikation. 188 Vgl. Szagun/Fiedler, Religiöse Heimaten, 405. 189 Das von Szagun angesprochene Problem der Gültigkeit von religiösen Entwicklungstheorien wird in Kapitel 4.4. ausführlich besprochen. 190 A.a.O., 412. 191 Ebd. 192 Schon für das Schuleintrittsalter erkennt Szagun Symbolkritik und Symbolverständnis. Vgl. a.a.O., 454. 187
2.3 Untersuchungen von Gottesvorstellungen anhand weiterer Methoden
51
Deutungsangebot als hilfreich für seine Problembewältigung erlebt«193 und wenn das Gotteskonzept mit der Lebenserfahrung stimmig sei. Für die religionspädagogische Arbeit fordert Szagun die Distanzierung von »theistisch-vergegenständlichte[n] Bilder[n] und Sprachformen«194, da diese vereinnahmend wirken und die individuelle Entwicklung von Gotteskonzepten blockieren. Kritische Würdigung der beiden ersten Bände zur Untersuchung von Szagun et. al. Szaguns multiperspektivischer und explorativer Zugang zu den religiösen Vorstellungen von in konfessionslosem Kontext aufwachsenden Kindern gibt einen wertvollen und detaillierten Einblick in das Denken der Kinder. Die Anfertigung von Collagen zu Gottesmetaphern ermöglicht abstraktere Darstellungen, aber auch anthropomorphe, wie bei der achtjährigen Lilly, die Gott als »kullerbäuchigen, alten Mann mit Seidenumhang«195 darstellt, der in den Wolken sein Büro habe. Die Form der Collage bietet vielfältige Darstellungsmöglichkeiten für die Kinder, wirkt sich aber durch die Auswahl des angebotenen Materials – ebenso wie ein Arbeitsauftrag, der das Malen oder Zeichnen vorsieht – einschränkend aus. Interessant sind die Einblicke in die Wahrnehmung des Produktionsprozesses durch die Kinder selbst. So erklärt Nora: »Was mir gut gefiel, hab’ ich genommen, zwischendurch habe ich dann gemerkt: ›Ah, nee, das passt doch nicht so gut, … da passt das doch viel besser hin‹«196 Wie beim Herstellen von Bildern spielt das interpretierende Gespräch eine zentrale Rolle, und es kommt dabei zu Interpretationen, die beim Produktionsprozess nicht unbedingt beabsichtigt waren, z.B. bei Joel, der »mehrfach Gegenstände im Verlauf«197 umdeutete. Insgesamt ist Szaguns weit gefächerter Zugang zu den Gottesvorstellungen und ihre intensive Arbeit mit den einzelnen Kindern beachtenswert. Leider wird nicht transparent gemacht, auf welche Art und Weise die Auswertung im interdisziplinären Team geschehen ist. So kann nicht immer klar zwischen Darstellung der Kinderäußerungen und deren Interpretation unterschieden und es können nicht alle Schlussfolgerungen nachvollzogen werden. In diesem Sinne kritisiert Anton Bucher an Szaguns Arbeit im Hinblick auf den ersten Band, dass die »›qualitativen‹ Analysen nicht methodisch durchreflektiert vorgenommen werden und immer wieder Psychospekulationen einfließen[…] Darüber hinaus wer-
193
A.a.O., 453. A.a.O., 456. 195 A.a.O., 208. 196 A.a.O., 141. 197 A.a.O., 182. 194
52
2. Zum Stand der Forschung
den immer wieder höchst problematische (Ab)Wertungen vorgenommen.«198 Zehn Einzelfallstudien zum Zusammenhang von Selbstkonzept und Gotteskonzept bei Kindern in schwierigen Lebenslagen (Dannenfeldt 2008) Fragestellung und Design der Studie Astra Dannenfeldts Studie, die im Jahr 2008 unter dem Titel »Gotteskonzepte bei Kindern in schwierigen Lebenslagen« erschienen ist, gehört als Band 3 zu den Veröffentlichungen der Rostocker Langzeitstudie. Dannenfeldt hat anhand der o. g. Methoden der Rostocker Studie (ergänzt durch das Frankfurter Selbstkonzept-Instrumentarium199) den Zusammenhang von kindlichem Umfeld und Gotteskonzept untersucht. Am Beispiel von Heimkindern aus Lettland sucht sie nach Potenzialen, die ein Gotteskonzept »für die Entwicklung des kindlichen Selbstkonzepts zur Subjektwerdung«200 angesichts belastender Lebensumstände bergen könne. Dannenfeldt analysiert die im Laufe von 18 Monaten von den Kindern erstellten Produkte im Hinblick auf die Perspektiven Kind und Selbstkonzept, Kind und Familie, Kind und Lebenswelt und ermittelt in diesem Zusammenhang das Gottesverständnis sowie die Gottesbeziehung.201 Ergebnisse der Studie von Dannenfeldt Die Ergebnisse ihrer Untersuchung legt Dannenfeldt in Form von zehn Einzelfallstudien dar. Am Ende ihrer Arbeit fasst sie die Ergebnisse zusammen: Es bestehe eine Wechselwirkung zwischen Selbstkonzept und Gotteskonzept, wobei »die treibende Kraft«202 in diesem Verhältnis das kindliche Selbstkonzept sei. Ein Muster, das bei Kindern, die für längere Zeit eine konstante Bindung zu einem Familienmitglied erlebt haben, erkennbar werde, sei der Zusammenhang zwischen positivem Selbstkonzept und einem überwiegend positiven Gottesverständnis, welches »jedoch nur sporadisch mit einer tragenden Gottesbeziehung«203 einhergehe. Der Vergleich mit Kindern, die in ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen, zeigt, dass es Heimkindern eher gelinge, ihr Gottesverständnis auf die eigene Existenz zu beziehen: »Macht die Not die Notwendigkeit Gottes deutlich?«204 Es gebe unter den Heimkindern aber auch solche, bei denen ein positives Selbstkonzept mit einer Indifferenz oder Ableh198
Mendl/Bucher/Szagun, Ein Streitgespräch, 372. Vgl. Dannenfeldt, Gotteskonzepte, 155f. 200 A.a.O., 139. 201 Vgl. a.a.O., 141. 202 A.a.O., 321. 203 A.a.O., 322. 204 A.a.O., 323. 199
2.3 Untersuchungen von Gottesvorstellungen anhand weiterer Methoden
53
nung gegenüber Gott einhergehen. Bei Kindern mit einem nicht positiven Selbstkonzept finde sich ebenfalls vorherrschend ein positives Gottesverständnis, ohne dass eine Gottesbeziehung bestehe, die eine kompensierende Wirkung im Umgang mit Schwierigkeiten spielen könnte. Dies sei nur bei wenigen Kindern der Fall, und nur bei solchen, die bis zum sechsten Lebensjahr in der Herkunftsfamilie lebten. Dannenfeldt kommt zu dem Schluss, dass die These, es gebe eine »Korrelation zwischen positivem Selbstkonzept und positivem Gotteskonzept«205, nicht zutreffe. Im konfessionslosen Umfeld fehle den Kindern ein Zugang zu Gott, der das Selbstkonzept und die Lebensbewältigung unterstützen könnte. Dannenfeldt betont im Anschluss an Simone A. de Roos die zentrale Rolle der »Beziehungsqualität zu den Bezugspersonen«206 für die kindlichen Gotteskonzepte. Problematische Beziehungen zu den primären Bezugspersonen erschweren die Gottesbeziehung. Kritische Würdigung Dannenfeldt nutzt die Methode, die für die Rostocker Langzeitstudie entwickelt wurde, für ihre innovative Fragestellung. Somit ergeben sich für ihre Vorgehensweise die gleichen Vorzüge und Schwierigkeiten wie sie oben für die ersten beiden Bände geäußert wurden. Dannenfeldt stellt die zehn Einzelfälle detailreich und mit viel Wertschätzung für das Erleben der Kinder dar. Ihre Arbeit gibt einen interessanten Einblick in einen Spezialbereich der Gottesbildforschung, der psychologischen und psychotherapeutischen Fragestellungen nahe steht. Eine geschlechtsspezifische Perspektive auf 16 Einzelfallstudien (Bösefeldt 2010) Fragestellung und Design der Studie Ina Bösefeldt arbeitet in ihrer Dissertation, die 2010 unter dem Titel »Männlich – weiblich – göttlich« erschienen ist, anhand von acht Mädchen und acht Jungen aus der Rostocker Langzeitstudie von Szagun geschlechtsspezifische Unterschiede der Gottesvorstellungen heraus. Das Sample wurde unter Rückgriff auf Anna-Katharina Szaguns »umfassende Kenntnisse«207 der Studie gezogen, die Kriterien dafür werden nicht genannt. Bösefeldt untersuchte die ausgewählten Daten im Hinblick auf sechs Fragenfelder, die sich aus der bisherigen religionspädagogischen und religionspsychologischen Forschung zum Thema ergeben. Die Fragenfelder sind Bedeutung und Emotionalität von Beziehung (in Bezug auf die soziale Lebenswelt der Kinder und auf die Gotteskonzepte), Nähe und Distanz zu Gott, Kommunikation über religiöse Themen und 205
A.a.O., 326. A.a.O., 331. 207 Bösefeldt, Männlich – weiblich – göttlich, 198. 206
54
2. Zum Stand der Forschung
mit Gott im Gebet, Geschlecht Gottes, eigene Geschlechtsidentität sowie die Frage nach Geschlechtsspezifika der Gottesvorstellungen. Ergebnisse der Studie Bei der Frage nach den Beziehungen, die die Jungen und Mädchen erleben, stehe, so Bösefeldt, deutlich die Kernfamilie im Mittelpunkt. Sie sei der Ort, an dem die Kinder Verwurzelung und Geborgenheit erfahren. Allerdings werde erkennbar, dass die Kinder sich mehr Zeit zum Spielen und Reden mit den Eltern wünschen.208 Bei der Rede über Gott seien Aspekte wie »Schutz, Hilfe und Orientierung«209 kennzeichnend. Diese Merkmale seien für beide Geschlechter gleichermaßen zentral für die Vorstellungen von Gott. In den Details unterscheiden sich jedoch die Aussagen der Jungen von denen der Mädchen. So wählen z.B. nur Jungen Metaphern für Gott aus dem Bereich der Technik, und die Mädchen nutzen für ihre Collagen mehrheitlich Materialien und Farben aus der Natur.210 Insgesamt zeige sich, dass Gott von den Mädchen und Jungen kaum »in ihrer Lebenswirklichkeit verankert«211 werde. Bis auf drei konfessionell gebundene Kinder liegen keine festen Gebetspraktiken vor und somit auch kein regelmäßiges Erleben einer Kommunikation mit Gott. Die Geschlechtlichkeit Gottes spiele laut Bösefeldt bei den Collagen zu Gottesmetaphern und den dazugehörigen Gesprächen eine untergeordnete Rolle. Dies sei auch damit zu erklären, dass die Darstellungen mehrheitlich nicht anthropomorph seien. Die Jungen und Mädchen setzten sich zwar mit der männlichen und weiblichen Seite Gottes auseinander, die Frage nach seinem Geschlecht spiele für sie aber keine große Rolle.212 Insgesamt schließt Bösefeldt aus ihrer Untersuchung unter Rückgriff auf die Unterscheidung von B. Grom, dass bei den Jungen und Mädchen zwar ein Gottesverständnis vorliege, aber kaum eine Gottesbeziehung.213 Im Hinblick auf ihre Frage nach den geschlechtsspezifischen Merkmalen der Gottesvorstellungen fasst Bösefeldt zusammen, dass die Unterschiede »vor allem auf der Ausdrucksebene«214 erkennbar, hingegen die Vorstellungen inhaltlich ähnlich seien. Kritische Würdigung Ina Bösefeldt greift anhand eines Samples von 16 Kindern aus der Rostocker Langzeitstudie ausgewählte Fragestellungen auf und unter208
Vgl. a.a.O., 201. A.a.O., 203. 210 Vgl. a.a.O., 202f. 211 A.a.O., 208. 212 Vgl. a.a.O., 219. 213 A.a.O., 213. 214 Ebd. 209
2.4 Zusammenfassung: Forschungsergebnisse
55
sucht diese mithilfe des umfangreichen Materials der Studie.215 Sie bereitet das vorfindliche Datenmaterial geschickt für ihre eigene Fragestellung auf, sodass sie die bisherigen Aussagen zu geschlechtsspezifischen Gottesvorstellungen, z.B. von Klein und Bucher überprüfen kann und zu einer neuen, differenzierten Sichtweise gelangt. Bösefeldts These, dass sich die Gottesvorstellungen von Mädchen und Jungen eher hinsichtlich der Form, in der sie präsentiert werden, als hinsichtlich des Inhalts unterscheiden, ist interessant und bedarf weiterer Überprüfung.
2.4 Zusammenfassung: Forschungsergebnisse zu Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen Die Betrachtung der Studien zu Gottesvorstellungen, die vor allem in den letzten drei Jahrzehnten in sehr unterschiedlicher Weise unternommen wurden, hat gezeigt, dass großes Interesse an den religiösen Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen besteht. Diese werden von allen Forschenden als individuelle Vorstellungen gewürdigt, und es wird gefordert, dass sie in die Praxis der Religionspädagogik miteinbezogen werden. Weitgehend herrscht auch Einigkeit darüber, dass die Entwicklung der Gottesvorstellungen bei Kindern und Jugendlichen nicht in ein Stufenmodell eingeteilt werden kann. Harms und Siegenthaler hatten diese These noch relativ klar vertreten. Die neueren Studien zeigen vielmehr, dass es sich um eine je individuelle Entwicklung mit Sprüngen und Brüchen handelt, die sowohl von inneren als auch von äußeren Faktoren beeinflusst wird. Die Studien haben sich in unterschiedlicher Intensität mit Bildern und anderen kreativen Produkten sowie schriftlichen und mündlichen Aussagen von Kindern auseinandergesetzt und jeweils eine eigene Methode mit eigenem Schwerpunkt gewählt. Im nächsten Kapitel wird näher darauf eingegangen werden, welche Vorgehensweise und vor allem welche Form der Erhebung von Gottesvorstellungen bei Kindern und Jugendlichen zuverlässige Ergebnisse erwarten lässt. Auch der theoretische Hintergrund, auf dem die Religionspädagogen ihre Daten deuten, ist verschieden: Während Siegenthaler, Sauer und Eckerle C.G. Jung zur Grundlage nehmen, bevorzugt Bucher die Entwicklungstheorien von Piaget und Oser/Gmünder. Auf diese greift auch Hanisch zurück und ergänzt sie durch A.M. Rizzuto und C. Gilligan. Anna Katharina Szagun dagegen bestreitet deren Wert für die religionspädagogische Forschung. Bei Stefanie Klein ist die Verbundenheit mit der feministischen Theologie grundlegend für ihre Auswertung. Trotz unterschiedlicher Forschungsdesigns und theoretischer Hintergründe 215
Kritische Würdigung der Methode der Rostocker Studie s.o.
56
2. Zum Stand der Forschung
kommen die Studien in Bezug auf die Grundzüge kindlicher Gottesvorstellungen, zu ähnlichen Ergebnissen: Gott wird von Kindern und Jugendlichen häufig, jedoch nicht immer, als personales oder auch anthropomorphes Wesen dargestellt. Dennoch ist den Kindern, auch wenn sie Gott in menschlicher – zumeist männlicher – Gestalt malen, bewusst, dass er anders ist als Menschen216, und sie drücken dies in ihren Zeichnungen aus. Eine häufig gewählte Art, die Transzendenz Gottes zu verdeutlichen, ist seine Platzierung im Himmel, bei Himmelskörpern, im Gegenüber zur Erde oder schwebend. Bei Jugendlichen treten vermehrt abstraktere, symbolische Darstellungen auf, die die Transzendenz Gottes und die Notwendigkeit einer Reflektion über sein Wesen noch mehr in den Vordergrund stellen. Das Motiv des Lichts kommt bei vielen Kindern und Jugendlichen bei der Darstellung Gottes vor, und die Mehrzahl der Gottesdarstellungen macht einen freundlichen Eindruck. Von daher kann man darauf schließen, dass Kinder und Jugendliche sich Gott nicht als boshaft, sondern vielmehr als fürsorglich vorstellen. Die weiteren Gott häufig zuerkannten Eigenschaften wie Weisheit, Stärke, Allgegenwart und Allmacht befähigen ihn zur Herrschaft über die Welt. Ein wichtiges Thema in Bezug auf Gottesvorstellungen von Kindern wie Jugendlichen ist die Beziehung des Einzelnen zu Gott oder die Möglichkeit einer Kommunikation mit ihm. Auch die Frage nach Gut und Böse und damit einhergehend die Theodizeefrage hat eine große Bedeutung für die Vorstellung von Gott. Die betrachteten Untersuchungen zu Gottesvorstellungen widmen sich nicht nur der Frage, wie diese beschaffen sind, sondern auch welche Faktoren ihre Entwicklung bestimmen. Es wurde deutlich, dass sich Gottesvorstellungen sowohl aus individuellen, der Persönlichkeit entsprechenden Gedanken und Bildern speisen als auch aus äußeren Einflüssen, z.B. durch religiöse Erziehung, durch in der Familie erlebte Strukturen und biographisch einschneidende Erlebnisse. Allerdings sind, abgesehen von der Rostocker Langzeitstudie mit Kindern aus mehrheitlich konfessionslosem Kontext, keine konsequenten Längsschnittstudien verfügbar, die sich mit dem Thema der Entwicklung individueller Vorstellungen von Gott auseinandersetzen. Die Bedeutung des Geschlechts für die Entwicklung des Gottesbildes scheint gemeinsam mit der religiösen Sozialisation das Thema zu sein, das im Mittelpunkt des aktuellen religionspädagogischen Interesses steht. Auch dies wird im nächsten Kapitel genauer beleuchtet. 216 Dies hebt auch Hilger hervor. Ihm zufolge übersieht eine Kategorisierung der Bilder in anthropomorphe und nicht-anthropomorphe Darstellungen häufig, »mit welcher Fantasie und mit welchem gestalterischen Aufwand Kinder sich bemühen, die Andersartigkeit Gottes als Person auszudrücken, durch Farbgebung, seine Durchsichtigkeit, seine Platzierung, seine Größe, sein Gewand und viele andere bildnerische Attribuierungen.« Hilger, Radieren, 169.
3. Methodische Überlegungen: Wie lassen sich Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen sinnvoll erheben?
Das rege Interesse an der Thematik der Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen äußert sich in den letzten Jahren auch darin, dass neben den bisher vorgestellten Studien auch zahlreiche Beiträge theoretisch-reflektierender Art zur Erforschung dieses Gegenstandes veröffentlicht wurden. Im Folgenden wird genauer erläutert, welche Methoden und Zugänge in der aktuellen Gottesbildforschung eingesetzt werden. Dabei sollen Möglichkeiten und Grenzen der Forschung beleuchtet werden.
3.1 Gemalte Bilder als Zugang zu inneren Bildern und Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen? Die Schwierigkeit der Erforschung der Gottesvorstellungen liegt in ihrem Forschungsgegenstand begründet. Bei dem zu Erforschenden handelt es sich um innere Bilder, komplexe Vorstellungen, an denen individuelle Gefühle, Gedanken und Erfahrungen genauso wie die erlebte religiöse Sozialisation Anteil haben. Diese – zudem noch meist als sehr privat erlebte – Vorstellung von etwas äußerst Abstraktem, kaum Fassbarem, anderen zu kommunizieren, fällt selbst Erwachsenen schwer. Kinder haben es an dieser Stelle in mancher Hinsicht vielleicht leichter, da sie möglicherweise unbefangener mit dem Thema umgehen.217 Doch mag es für sie aufgrund der altersgemäßen Entwicklung von Sprachund Denkfähigkeit wiederum schwerer als für Erwachsene sein, ihren Vorstellungen verbal Ausdruck zu verleihen.218 Ruth Oberthür hält ein abstraktes Reden über Gott sogar für »nicht kindgemäß«219. Im zweiten Kapitel wurde das Malen von Bildern von Gott als Weg, auf dem Kinder und Jugendliche ihre Gottesvorstellungen ausdrücken, präsentiert. Selbst der Amerikaner Robert Coles, der in der Regel mit 217
Nur selten wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass manche Kinder ihre Vorstellungen nicht zeichnen oder benennen möchten, weil sie sie für etwas Privates halten. 218 Dazu kommt noch das Problem der Missverständnisse zwischen Kindern und Erwachsenen, die deren Aussagen von der Erwachsenenperspektive her (miss)deuten. 219 Oberthür, Malen, 91.
58
3. Methodische Überlegungen
Gesprächen arbeitet, räumt ein, dass das Malen von Bildern Kindern ermöglicht, ihre Gedanken über Gott auszudrücken, wo ihnen dies sprachlich nicht gelingt.220 Er hält daher das Malen für eine kindgemäße Tätigkeit und sieht es auch als eine dem Forschungsgegenstand angemessene Methode zur Erforschung von Gottesvorstellungen an. Diese Sicht teilt Anna-Katharina Szagun nicht. Sie ist zwar überzeugt, dass kindliche religiöse Vorstellungen »vornehmlich in Bildern organisiert«221 seien und daher am besten mit Hilfe von Bildern thematisiert werden können, lehnt es aber ab, Kinder ein Bild von Gott malen zu lassen, da sie annimmt, dass der Auftrag, Gott zu malen, das Denken »verzerrt […] und […] das Kind zu unangemessenen Darstellungsweisen [verführt]«222. Damit sind vor allem anthropomorphe Darstellungen Gottes gemeint, die nicht die Komplexität der verbal geäußerten theologischen Reflexion der Kinder widerspiegeln.223 Szagun selbst zieht daher für ihre Langzeitstudie Materialcollagen zur Darstellung der religiösen Vorstellungen in Metaphern vor. Dagegen hält Oberthür den Wert des Malens von Bildern von Gott hoch. Mit Fraas betont sie: »Das Kind muss sich ausmalen dürfen, was es sich denkt.«224 Auch anthropomorphe Bilder von Gott müssen akzeptiert werden, da es wichtig sei, der kindlichen Phantasie Freiraum zu lassen. Für Jugendliche ist das Malen als Tätigkeit und Ausdrucksmöglichkeit allerdings nicht mehr so selbstverständlich wie für Kinder. Hier müssen weitere Zugänge in Betracht gezogen werden. Eine positive Sicht auf die Verwendung von Bildern vertreten (ohne dass sie es explizit sagten) auch die meisten der oben vorgestellten Studien. Die Kritik von Szagun muss ernst genommen werden, spricht aber nicht grundsätzlich gegen ein Forschungsdesign, das mit Bildern arbeitet. Szagun nimmt an, dass sich in den Bildern Vorstellungen niederschlagen, die im Denken der Kinder und Jugendlichen längst überholt seien, was in Interviews festzustellen sei. Die Diskrepanz zwischen gemalten und sprachlich geäußerten Vorstellungen kann aber auch damit begründet werden, dass in Bildern meist nur ein Aspekt der Vorstellung herausgegriffen wird, während im Gespräch leicht viele verschiedene Aspekte einfließen können. In diesem Sinne ist es vielversprechend, Kinder und Jugendliche Bilder von Gott malen zu lassen und über diese dann ins Gespräch zu kommen, was Szagun selbst ebenfalls für wichtig hält.225 Wenn Bilder auf diese Weise (und nicht unkommentiert) ausgewertet werden, sondern die Kinder und Jugendlichen Gelegenheit haben, sich 220
Vgl. Coles, Wird Gott naß, wenn es regnet?, 136–139. Szagun, Sprache verleihen, 7. 222 A.a.O., 24. 223 Szagun weist hier auf den canonicality effect hin, der in dieser Arbeit in Abschnitt 3.3.behandelt wird. Vgl. a.a.O., 37. 224 Fraas zit. nach Oberthür, Malen, 92. 225 Vgl. Szagun, Sprache verleihen, 34ff. 221
3.2 Der Produktionsprozess
59
dazu zu äußern, können viele Fehlinterpretationen ausgeräumt werden. Dazu gehören auch fälschlicherweise als anthropomorphe Gottesvorstellungen gedeutete Bilder. Der von Szagun vorgefundene Widerspruch zwischen Bild und verbal ausgedrückter Vorstellung kann dadurch aufgelöst werden. Die im zweiten Kapitel dargestellten Studien haben gezeigt, dass anhand von Bildern weitreichende Erkenntnisse über Gottesvorstellungen gewonnen werden können. Der Wert der Arbeit mit Bildern ist demnach für die Frage nach Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen hoch. Diese Methode ist allerdings von der zeichnerischen Kompetenz abhängig, und es besteht wie bei jeder Interpretationsaufgabe die Gefahr von Missdeutungen. Im Folgenden wird aufgezeigt werden, welche Aspekte für einen angemessenen Umgang mit gemalten Bildern von Gott zu berücksichtigen sind.
3.2 Der Produktionsprozess Mehr oder weniger zufällige Bedingungen des konkreten Malprozesses wirken sich auf das entstehende Bild von Gott aus. Das zur Verfügung stehende Material an Papier und Farben steckt den Rahmen für die zeichnerische Tätigkeit. Klein nennt ein Beispiel, das die Bedeutung von Zufälligkeiten im Malprozess illustriert: Ein Mädchen malt Gott unter einem Regenbogen und erklärt dazu, ihn vom Kästchen für die benutzten Wachskreiden abgemalt zu haben.226 Ein weiterer Faktor, der die Motivwahl beeinflussen kann, gehört zwar nicht unmittelbar zum Produktionsprozess, soll aber dennoch hier kurz Erwähnung finden. Heinz Streib führt die Medien als wichtige Quelle von kindlichen Vorstellungen an. Vgl. Streib, Gottesbilder, 139f. Ein Beispiel für eine medial beeinflusste Motivwahl beim Malen der Gottesvorstellung ist das Bild von Kay, das bei Hilger dokumentiert ist. Sein Gott hat das Gesicht des Computerspielhelden Pacman.227
Von besonderer Wichtigkeit für die Erforschung von Gottesvorstellungen anhand von Bildern ist außerdem die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche dazu neigen, sich, wenn das Malen gemeinsam durchgeführt wird, an den Motiven der anderen zu orientieren und diese, falls sie zusagen, zu kopieren.228 Wie auf selbstverständliche Weise bei anderen Malaufträgen die Bilder der anderen in den eigenen Malprozess mit einbezogen werden, geschieht dies auch bei den Gottesbildern. Für ein 226
Vgl. Klein, Gottesbilder, 136f. Vgl. Hilger, Wahrnehmungsschulung, 269. 228 Klein schildert dies auch aus ihrer eigenen Studie. Vgl. Klein, Gottesbilder, 124. Schuster geht davon aus, dass einander nahestehende Kinder, z.B. Geschwister, sogar gemeinsame Schemata entwickeln können, die dann beide für längere Zeit anwenden. Vgl. Schuster, Psychologie, 23f. 227
60
3. Methodische Überlegungen
Forschungsprojekt muss entschieden werden, ob dies zu Gunsten der Originalität der Bilder durch Einzelarbeit gegebenenfalls in verschiedenen Räumen vermieden werden soll oder ob das eventuelle Abmalen in Kauf genommen werden kann und die individuell gewählten Details in Bildern mit gleichen Motiven noch genügend Aussagekraft haben.229 Hilger weist darauf hin, dass auch das Radieren im Produktionsprozess eine wichtige Rolle spielt: Kinder verändern Details in ihren Bildern während des Malens, weil sie ihnen doch nicht als zutreffend oder ausreichend erscheinen. Wenn ein Mädchen Gott mit Flügeln malt und diese dann mit dem Kommentar »Gott braucht keine Flügel! Er kann überall sein.«230 wieder ausradiert, so ist dies für Hilger ein Hinweis darauf, dass das Malen selbst ein »Konstruktionsprozess«231 sei. Auch Gabriele Sies weist darauf hin, dass Kinder auf den Malauftrag hin nicht einfach bestehende innere Bilder abbilden, sondern dass sich die Vorstellungen erst im Malprozess so ausformen, wie sie dann zu Papier gebracht werden.232 Wegen der besonderen Bedeutung des Gestaltungsprozesses für die Gottesvorstellungen fordert sie, dass diesem in der Gottesbildforschung mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden müsse. Dies kann durch Videoaufzeichnung des Malprozesses oder durch Beobachtung geschehen. So können beispielsweise die Reihenfolge, in der die Bildelemente gemalt werden, und spätere Änderungen am Bild festgehalten werden. Der Nachteil an dieser intensivierten Dokumentation ist allerdings, dass die Kinder und Jugendlichen dadurch stärker verunsichert werden könnten. Das Anliegen, den Malprozess selbst in den Blick zu nehmen und so die Umstände der Entstehung der Bilder von Gott zu erforschen, hat Manuela Wiedmaier in ihrer Dissertation von 2006 realisiert.233
3.3 Der Einfluss des Entwicklungsstandes der zeichnerischen Kompetenz Um die Bilder, die Kinder und Jugendliche von Gott zeichnen, angemessen auswerten zu können, ist es wichtig, sich zumindest die grundlegenden Erkenntnisse der Psychologie über die Entwicklung der zeichne-
229
Vgl. dazu Sies, Produktionsprozess, 191f. Hilger, Radieren, 162. 231 A.a.O., 164. 232 Sies, Produktionsprozess, 203. 233 Vgl. Manuela Wiedmaier, Wenn sich Mädchen und Jungen Gott und die Welt ausmalen. Feinanalysen filmisch dokumentierter Malprozesse. (Wahrnehmende Theologie. Studien zur Erfahrung und religiösen Lebenswelt, Bd. 3), Münster 2008. 230
3.3 Der Einfluss des Entwicklungsstandes der zeichnerischen Kompetenz
61
rischen Kompetenz bewusst zu machen.234 Die zeichnerische Entwicklung kann in relativ gut unterscheidbare aufeinander folgende Phasen eingeteilt werden, die an die kognitive Entwicklung des Kindes anlehnen. Schuster lässt mit allen anderen Experten die Zeichenkompetenz des Kindes mit der Kritzelphase beginnen. In der Kritzelphase, die das zweite und dritte Lebensjahr umfasst, steht »die Freude an der rhythmischen Bewegung und am Entstehen einer Spur«235 mithilfe des Stiftes im Vordergrund. Dieses Verhalten hat seine Wurzeln schon im Schmieren der Hände mit Brei oder Ähnlichem.236 Abbildungsintentionen sind in der Kritzelphase laut Schuster in Ansätzen erkennbar. Die Linien können sowohl die Kontur als auch die Bewegung eines Gegenstandes abbilden. Eine bewusste Farbwahl ist für die Kritzelphase kaum festzustellen. Für diese wie auch für die anderen Stufen der Zeichenkompetenz muss festgehalten werden, dass das Gemalte keinesfalls der Wahrnehmung der Kinder entspricht, sondern vereinfachten Schemata, die eine Darstellung des viel komplexer wahrgenommenen Gegenstandes ermöglichen.237 Dementsprechend wird die nächste Stufe der zeichnerischen Entwicklung als Schemaphase bezeichnet. Am Beispiel der Kopffüßler wird besonders deutlich, dass Kinder beim Zeichnen auf »bisher generierte Schemata, die im Langzeitgedächtnis beheimatet sind«238, zurückgreifen und nicht auf aktuelle visuelle Wahrnehmung. In dieser Phase zeichnen Kinder, die sehr wohl wissen, dass der menschliche Körper auch aus dem Rumpf oder Bauch besteht, menschliche Figuren ohne Bauch.239 Dieses lang anhaltende Schema ist auch in Gottesbildern von Kindern zu finden. Auch sogenannte Röntgenbilder, darunter ist beispielsweise ein Bild zu verstehen, bei dem die eigentlich nicht sichtbaren Beine in die Hose gemalt werden, sind typisch für diese Phase der Entwicklung. Eine wichtige Erkenntnis der Kinderbildpsychologie für die Gottesbildforschung ist der »canonicality effect«240, der bedeutet, dass Kinder dazu neigen, erprobte Malschemata über lange Zeiträume beizubehalten. Bucher weist darauf hin, dass dies für die Auswertung von Gottesbildern besondere Bedeutung besitzt: Die Bilder geben nicht unbedingt den aktuellen Stand der Gottesvorstellung an, sondern ver234
Zu diesem Schluss kommt auch die Seminargruppe von Georg Hilger, die sich ausführlich mit der Frage nach den Methoden der Untersuchung von Kinderbildern von Gott auseinandersetzte. Vgl. Hilger, Wahrnehmungsschulung, 276. 235 Schuster, Psychologie, 15. 236 Vgl. a.a.O., 15. 237 Vgl. die von Bucher wiedergegebenen Ergebnisse von Piaget und Inhelder zur Entwicklung des inneren Bildes beim Kinde in Bucher, Kopffüßlergott, 55f. Auch Schuster betont, dass man nicht von den Darstellungen der Kinder darauf schließen könne, dass sie die Realität so wahrnehmen. Vgl. Schuster, Psychologie, 52. 238 Bucher, Kopffüßlergott, 56. 239 Schuster, Psychologie, 25–35. 240 Freeman nach Bucher, Kopffüßlergott, 59.
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3. Methodische Überlegungen
weisen eventuell auf die Vorstellung, die zur Zeit der Fixierung des Schemas maßgeblich war. Vor diesem Hintergrund fordert Bucher auch, dass ein Arbeitsauftrag zum Zeichnen eines Gottesbildes wohl überlegt sein muss, da er Einfluss auf die Motivwahl hat und das Kanonisieren eines Motivs wiederum die weitere Entwicklung der Vorstellung beeinflussen kann.241 Im Laufe der Schemaphase, die ungefähr bis zum Ende der Kindheit andauert, verbessern sich die feinmotorischen Fähigkeiten von Kindern erheblich, was sie zu sehr viel sorgfältigeren Darstellungen befähigt. Auf die Schemaphase, die auch als intellektueller Realismus bezeichnet wird, folgt die Phase des visuellen Realismus, in der Kinder versuchen, möglichst genau das zu zeichnen, was sie sehen.242 Dies wirkt sich auch auf die Farbwahl aus, die möglichst naturgetreu zu sein hat. Nach der Kindheit kommt es unter anderem aufgrund eben dieses Realismus’ – und der damit einhergehenden Erkenntnis, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen, da man nicht so realistisch zeichnen kann, wie man es will – häufig zur »Abwendung von der bildnerischen Gestaltung«243. Bei denjenigen Jugendlichen, die dennoch weiter malen, lässt sich eine »gehäufte Präferenz surrealistischer sowie abstrakter Bildschöpfungen«244 feststellen, die Bucher auch auf »die tiefgreifenden Transformationen ihrer Denkstrukturen«245 zurückführt, womit das formaloperatorische Denken gemeint ist. Dass in diesem Alter mehr symbolische Darstellungen Gottes auftreten, ist demnach nicht überraschend. Diese Hinweise zur Entwicklung der zeichnerischen Fähigkeiten können dem Forschenden helfen, Auffälligkeiten in Bildern zu erkennen. Allerdings kann beispielsweise die Verwendung von früher kanonisierten Schemata nur dann erkannt werden, wenn aktuelle Bilder zum Vergleich vorliegen.
3.4 Interpretation der Bilder: »Dokumentarische Methode« nach Hilger und Rothgangel Liegen die Daten einmal vor, auf die eine Untersuchung aufbauen soll, gilt es, eine angemessene Auswertungsmethode zu wählen. Ziel muss es sein, dass die Bilder und ggf. die ergänzenden Gespräche möglichst objektiv, d.h. im Sinne derer, von denen sie stammen, interpretiert werden. Fehldeutungen oder Überinterpretationen sollen vermieden werden. Bei der Betrachtung der Studien wurde deutlich, dass hier sehr 241
Vgl. a.a.O., 73. So bei Bucher, A.a.O., 66f., nach Luquet. 243 Schuster, Psychologie, 47. 244 Bucher, Kopffüßlergott, 69. 245 A.a.O., 69. 242
3.4 Interpretation der Bilder: »Dokumentarische Methode« nach Hilger und Rothgangel
63
unterschiedliche Ansätze möglich sind. Es ist auch aufgefallen, dass gerade an diesem Punkt die Untersuchungen oft kritisch gesehen werden müssen. So kommt beispielsweise die Wahrnehmung der individuell gewählten Motive und Details der Bilder bei der großen Studie von Hanisch zu kurz. Die Studie von Stefanie Klein bietet zwar eine detaillierte Wahrnehmung der individuellen Details der Vorstellungen, wie sie in Bild und Wort von den Mädchen geäußert wurden, die abschließende Interpretation entspricht jedoch nicht diesen vorgefundenen Eigenschaften der Gottesvorstellungen. Ähnlich verhält es sich bei der Untersuchung von Boßmann und Sauer. Auch hier werden die Bilder aufmerksam und sorgfältig betrachtet, doch die Verlässlichkeit der Interpretationen auf dem Hintergrund der Tiefenpsychologie C.G. Jungs ist fraglich. Die Rostocker Langzeitstudie wählt die sehr aufwändige Methode der Auswertung durch interdisziplinäre Teams, was als vorbildlich angesehen werden muss. Um die Bilder von Gott möglichst korrekt zu deuten, müssen also mehrere Aspekte beachtet werden: Zum einen muss eine unvoreingenommene, ausführliche Analyse der Bilder stattfinden. Die erläuternden Gespräche, die als elementar wichtig angesehen werden müssen, sollen zum anderen so objektiv wie möglich ausgewertet und auf das Bilddokument angewendet werden. Erst nach der intensiven Analyse kann es dann zur Deutung durch den Forschenden kommen. Georg Hilgers und Martin Rothgangels Dokumentarische Methode der Interpretation Georg Hilger und Martin Rothgangel machen in ihrem Aufsatz »Wahrnehmungsschulung für ›Gottesbilder‹ von Kindern« umfangreiche Vorschläge für die Analyse und Deutung von Bildern, die problemlos auch auf Jugendliche ausgeweitet werden können.246 An erster Stelle der »Dokumentarischen Methode der Interpretation«247 stehen die »Rekonstruktion der Datengenerierung und Kriterien der Auswahl«248. Für die hier betrachtete Fragestellung heißt das, es wird erhoben, welche Bilder von Gott und welche Interviews vorliegen, wie sie entstanden sind – z.B. aufgrund welcher Aufgabenstellung und in welchem Kontext – und wie die Daten ausgewählt wurden. Der nächste Arbeitsschritt ist die »Formulierende Interpretation – Nachvollzug der Äußerung«249, in dem nacherzählt wird, welche schriftlichen und zeichnerischen Aussagen über Gott das Kind bzw. der Jugendliche gemacht hat. Hilger und Rothgangel 246
Die Methode wurde von Studierenden in einem Seminar genauer ausgearbeitet und in Schulklassen erprobt, was zu guten Ergebnissen führte. 247 Hilger/Rothgangel, Wahrnehmungsschulung, 271. 248 Ebd. 249 Ebd.
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3. Methodische Überlegungen
betonen, wie wichtig es ist, hier dem Bild bzw. dem Text »im Sinne einer produktiven Verlangsamung Aufmerksamkeit zu schenken.«250 Darauf folgt die »Reflektierende Interpretation – Rekonstruktion der Form«251. Die Strukturen des Bildes und die Beziehung zwischen den einzelnen Elementen werden untersucht, um schließlich das »Zentrum des Bildes«252 zu finden. Hilfreich kann in diesem Arbeitsschritt laut Hilger auch das Vergleichen mit anderen Bildern sein, um so das Spezifische eines Bildes zu erkennen. Zuletzt werden die einzelnen Beobachtungen in der »Zusammenfassende[n] Interpretation«253 zusammengefügt und im Hinblick auf die vorliegende Gottesvorstellung interpretiert. Obwohl Hilger und Rothgangel darauf nicht eingehen, soll bemerkt werden, dass in diesen Schritt der Interpretation dann auch eventuell vorhandene Kenntnisse über den biographischen oder religiösen Hintergrund eines Kindes einfließen können. Da die Qualität dieser abschließenden Deutung erheblich von der Intensität der im zweiten und dritten Schritt geschehenen Betrachtung abhängt, geben Hilger und Rothgangel noch einige hilfreiche Anweisungen zur Bildanalyse. Hilgers und Rothgangels Hinweise zum Wahrnehmen bildersprachlicher Codes Die Aufmerksamkeit des Auswertenden muss sich auf verschiedene »Bildersprachliche Codes«254 richten. Zunächst weisen Hilger und Rothgangel auf die Bedeutung von Merkmalen wie der räumlichen Anordnung, der gewählten Formen und Bewegungsrichtungen sowie besonderen Größenverhältnissen hin.255 Auch den »Farben-Code«256 eines Bildes gilt es zu beachten: Welche Elemente sind in den gleichen Farben gemalt und damit aufeinander bezogen? Sind auffällige Kontraste vorhanden? Lässt sich etwas über die »emotionale und symbolische Verwendung von Farben«257 vermuten? Weiter gehen Hilger und Rothgangel auf die Bedeutung von Darstellungen der Natur unter dem Begriff des »Code[s] der Landschaft«258 ein und heben hervor, dass die Gegenstände, die in einem Bild vorkommen, und ihre Funktion ebenfalls Beachtung finden müssen. Darüber hinaus können auch in der Darstellung der Personen wichtige Aussagen des Bildes liegen: Zu analysieren sind 250
Ebd. Ebd. 252 Ebd. 253 A.a.O., 272. 254 Ebd. 255 Bucher macht ebenso auf die Aussagekraft der Proportionen und der Anordnung der Motive aufmerksam. Vgl. Bucher, Kopffüßlergott, 59–61. 256 Hilger/Rothgangel, Wahrnehmungsschulung, 272. 257 Ebd. 258 Ebd. 251
3.5 Durchführung von ergänzenden Interviews
65
die Platzierung der Personen im Raum und zueinander, ihre Körpersprache und besondere Merkmale (z.B. Alter oder Geschlecht). Auch die Kleider, die die Personen tragen, sagen etwas über ihre Rolle aus. Des Weiteren werben Hilger und Rothgangel auch um Aufmerksamkeit für religiöse Symbole in den Bildern. Zuletzt ist es wichtig, Spuren des Produktionsprozesses (z.B. Radieren, Übermalungen), Schriftliches und besondere Markierungen wie Unterstrichenes wahrzunehmen. Mit dieser Liste von aussagekräftigen Bildmerkmalen bieten Hilger und Rothgangel eine sehr gute Grundlage, mit der Bilder intensiv analysiert werden können. Auch Armin Krenz befasst sich mit Möglichkeiten der Deutung von Kinderbildern, allerdings nicht mit dem Fokus auf Gottesdarstellungen. Er gibt in seinem für die erzieherische Praxis verfassten Buch viele Beispiele für die Deutung von Kinderbildern. Er schlägt Kategorien vor, auf die besonders geachtet werden soll, beispielsweise Proportionen, Bildbereiche und Art des Farbauftrags, und gibt häufige Bedeutungen von einzelnen Bildelementen und Farben an. Über seine Vorgehensweise sagt Krenz, seinem Buch lägen »Aussagen aus dem weiten Feld der Persönlichkeitspsychologie und Ergebnisse aus eigener empirischer Forschungsarbeit zur Psychologie von Kinderzeichnungen«259 zu Grunde. Genaue Angaben über die Verortung seines Ansatzes in einer bestimmten psychologischen Schule oder Richtung macht er nicht. Die Rede von »archaische[n] Bewegungen«260 lässt jedoch einen tiefenpsychologischen Hintergrund vermuten. Wenn sie nicht spekulativ verwendet werden, halte ich seine Hinweise für sehr hilfreich. Daher wird bei der qualitativen Bildanalyse im vierten Kapitel die Dokumentarische Methode der Bildinterpretation nach Hilger und Rothgangel angewendet und durch Armin Krenz’ Hinweise ergänzt werden.
3.5 Durchführung von ergänzenden Interviews Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen kaum allein über ihre Bilder erschlossen werden können. Zu leicht können Bildelemente in ihrer Bedeutung missverstanden werden und die Interpretation des Forschers so an der Intention der Malenden vorbeigehen. Als Ausweg aus diesem Problem bietet es sich an, mit den Kindern und Jugendlichen Gespräche über ihre Bilder zu führen. Sie können so gebeten werden, die Bedeutung der Bildelemente zu erläutern. Sinnvoll ist also ein teilstandardisiertes Inter259 260
Vgl. Krenz, Kinderzeichnungen, 13. Vgl. a.a.O., 31.
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3. Methodische Überlegungen
view, das zunächst auf das Bild fokussiert geführt wird und dann Freiräume für die individuelle Explikation eröffnet.261 Dieser Weg ist allerdings nicht frei von Schwierigkeiten. Stefanie Klein weist darauf hin, dass die Interviewsituation, damit ist hier der Rahmen gemeint, in dem gemalt und das Bild besprochen wird, einen erheblichen Einfluss auf den Produktionsprozess der Gottesbilder hat.262 Es ist ihr Ziel, ein Setting zu schaffen, das die Kinder und Jugendlichen möglichst wenig in der Entfaltung ihrer Gedanken einschränkt. Dies bezieht sich sowohl auf den Malprozess als auch auf ein Interview über das Bild oder weitergehend über religiöse Vorstellungen. Ein wichtiger Faktor, der die Atmosphäre bestimmt, ist das Verhältnis zur forschenden Person. Zum einen werden das Wohlbefinden und die Offenheit der Befragten davon abhängig sein, wie vertraut oder fremd sie der Person sind. Zum anderen ist es von Bedeutung, welches Rollenverhalten die Kinder und Jugendlichen dieser gegenüber einnehmen. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass es problematisch sein kann, wenn Untersuchungen zum Gottesbild von Religionslehrkräften durchgeführt werden. Auch Gabriele Sies merkt an, dass die Kinder sich dadurch in einer Überprüfungssituation fühlen können, in der sie die »›richtigen‹ Antworten nennen müssen und nicht ihren individuellen Vorstellungen Ausdruck verleihen können.«263 Stefanie Klein hebt hervor, dass »damit gerechnet werden [muss], dass ein Kind mit der Strategie reagiert, die es sich angeeignet hat, um mit Erwartungshaltungen und Erziehungsbemühungen von Erwachsenen umzugehen.«264 In diesem Sinne hat auch der Ort der Untersuchung einen Einfluss auf die Interviewsituation, d.h. die Schule ist einerseits als Ort der Durchführung nicht optimal. Andererseits ist es hilfreich, Kinder und Jugendliche in einer möglichst ruhigen, vertrauten »natürlichen Umgebung«265 zu befragen, die die Schule zweifelsfrei bietet. Zur Beziehung zwischen dem Interviewer und den Kindern kann allgemein noch hinzugefügt werden, dass es sich, anders als bei Interviews eines Erwachsenen mit Erwachsenen, immer um ein »asymmetrisches Verhältnis«266 handelt, da Kinder und auch Jugendliche, was ihre sprachlichen Fähigkeiten angeht, weniger weit entwickelt sind. Daher schlägt Stefanie Klein vor, Gespräche in kleinen Gruppen von Kindern durchzuführen. Sie erhofft sich so, dass die Kinder sich miteinander ungehemmt und entsprechend ihrer gemeinsamen »Kinderkulturen«267 austauschen können. In diesem Fall spielt dann das 261
Zu Interviewformen vgl. Hopf, Qualitative Interviews, 351ff. Vgl. zu diesem Abschnitt Klein, Gottesbilder, 61–65. 263 Vgl. Sies, Produktionsprozess, 192. 264 Klein, Gottesbilder, 62. 265 Reinders, Qualitative Interviews, 183. 266 A.a.O., 196. 267 Klein, Gottesbilder, 56. 262
3.5 Durchführung von ergänzenden Interviews
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Verhältnis der Kinder untereinander eine Rolle für den Verlauf des Gesprächs. Grundsätzlich ist festzuhalten, Kindern und Jugendlichen in Interviews möglichst »das Gefühl zu vermitteln, sich in einer (fast ganz) normalen Unterhaltung zu befinden«268. Außerdem ist anzumerken, dass bei der Befragung von Kindern und Jugendlichen zu ihren Bildern die Gefahr besteht, sie in einen Begründungsdruck269 zu bringen, der dann dazu führt, dass sie Erklärungen anführen, die ihrem Abbildungsinteresse nicht entsprechen. Die Fragen, die der Forschende stellt, hat das Kind oder der Jugendliche vielleicht beim Malen gar nicht bedacht. Anderes, das »bewusst, reflexiv und intentional gestaltet wurde«270, bleibt möglicherweise unbeachtet. Es ist an dieser Stelle also besonders darauf zu achten, das Gespräch über die Bilder offen zu halten. Ein weiterer Faktor, der die Interviewsituation bestimmt, ist die Anwesenheit weiterer Personen im Raum, deren Beobachtung Kinder möglicherweise verunsichert. Ein Aufnahmegerät kann eine ebensolche Verunsicherung auslösen. Will man die Ergebnisse eines Gesprächs sorgfältig dokumentieren, lässt sich m. E. aber zumindest Letzteres nicht vermeiden. Nicht zuletzt haben auch die biographische Situation271 und die aktuelle Stimmungslage des Kindes oder Jugendlichen einen Einfluss auf seine Befindlichkeit in der Untersuchung und damit auch auf das Ergebnis. Für die empirische Forschung im Bereich der Gottesbilder ist eine Sensibilität für diese (und mögliche weitere) Störfaktoren in der Interviewsituation von großer Bedeutung. Es gilt, den negativen Einfluss dieser Faktoren so gering wie möglich zu halten, um den Kindern und Jugendlichen ein möglichst offenes und individuelles Malen und Erläutern zu ermöglichen. Der Vollständigkeit halber sollen noch grundlegende Richtlinien des Führens eines Interviews genannt werden, an denen sich auch die religionspädagogische Forschung orientieren muss: Fragen sollten so knapp und einfach wie möglich formuliert werden. Der Interviewer sollte auf suggestive Fragen und bewertende Kommentare verzichten. Ein geduldiges Zuhören und ein freier Umgang mit dem Interviewleitfaden tragen zum Gelingen eines Interviews bei.272
268
Reinders, Qualitative Interviews, 200. Vgl. Sies, Produktionsprozess, 193. 270 Hilger, Radieren, 164. 271 Bei Stefanie Klein findet sich ein anschauliches Beispiel dafür, wie biographisches Hintergrundwissen über ein Kind für die Bildinterpretation neue Erkenntnisse erschließt. Linda (10,9) malt Gott als Mann mit dunklem Bart, der in der Mitte über der Oberlippe eine runde Verdichtung aufzeigt. Verständlich wird dieses Bildmerkmal durch das Wissen, dass Linda an einer Kieferspalte leidet. Vgl. Klein, Gottesbilder, 86.80. 272 Vgl. Hopf, Qualitative Interviews, 359. 269
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3. Methodische Überlegungen
3.6 Zentrale Kategorien der Interpretation von Gottesvorstellungen 3.6.1 Anthropomorphe oder symbolische Gottesbilder? In den betrachteten Studien wurde zum Teil große Aufmerksamkeit auf die Unterscheidung von anthropomorphen und nicht-anthropomorphen oder symbolischen Bildern von Gott gerichtet.273 Dabei wird davon ausgegangen, dass die Kinder und Jugendlichen, die Gott in menschlicher oder menschenähnlicher Gestalt zeichnen, annehmen, dass er tatsächlich so aussieht, während Kinder und Jugendliche, die Gott durch ein Symbol darstellen, sich der Nichtdarstellbarkeit Gottes bewusst sind und daher ein Symbol wählen, das bestimmte Eigenschaften Gottes illustriert. Diese Annahme trifft m. E. nicht zu, da auch Bilder, in denen Gott in Menschengestalt dargestellt ist, sehr wohl symbolisch gemeint sein können. Viele Kinder und Jugendliche weisen bei anthropomorphen Bildern darauf hin, dass sie Gott zwar so gemalt haben, aber nicht glauben, dass er wirklich so aussieht. Zutreffender und korrekter wäre demnach eine Unterscheidung von symbolisch gemeinten Bildern und als Abbilder Gottes verstandenen Bildern. Eine weitere Möglichkeit wäre die Unterteilung in personale und nicht-personale Vorstellungen von Gott. Eine nicht-personale Vorstellung könnte demnach beispielsweise Gott als Kraftfeld sein, wohingegen die Vorstellung von Gott als Schöpfer, der mit der Erde in Beziehung steht, als personal zu beurteilen wäre. Diese Kriterien können bei der Untersuchung von Bildern und Interviewaussagen hilfreich sein. Eine nach äußeren Merkmalen vorgenommene Trennung in verschiedene Kategorien halte ich allerdings nicht für sinnvoll. Wieder zeigt sich, dass nur durch eine Befragung der Kinder und Jugendlichen zu ihren Bildern gesicherte Aussagen gemacht werden können. 3.6.2 Individualität der Gottesvorstellungen oder überindividuelle Trends? Bei der Erhebung der Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen lassen sich zwei grundsätzliche Perspektiven auf die Ergebnisse unterscheiden. Auf der einen Seite richtet sich die Konzentration der Forschenden auf das Finden von allgemeinen Trends in den Vorstellungen, die z.B. bei vielen Kindern einer Altersstufe, desselben Geschlechts oder aus ähnlichem Hintergrund vorkommen. Beispielhaft für diese Vorgehensweise ist die Studie Hanischs, der die Bilder in Kategorien einordnet und alters- und sozialisationsspezifische Trends herausstellt. 273
Vgl. Hanisch, Zeichnerische Entwicklung, 31 und Bucher, Alter Gott, 83.
3.6 Zentrale Kategorien der Interpretation von Gottesvorstellungen
69
Auf der anderen Seite gibt es die Bemühung, sich mit den religiösen Vorstellungswelten einzelner Kinder möglichst intensiv auseinanderzusetzen, um ihre individuellen Gedanken so gut es geht nachzuvollziehen. Stefanie Kleins Arbeit mit den fünf Mädchen entspricht dieser Herangehensweise. Meiner Meinung nach müssen beide Formen in ihren Extremen kritisch hinterfragt werden, denn wenn Bilder und Gespräche lediglich auf übergreifende Gemeinsamkeiten hin untersucht werden, besteht beim Forschenden die Gefahr, nur einzelne Details, die dem Raster entsprechen, wahrzunehmen und so an den eigentlichen Aussageintentionen der Kinder und Jugendlichen vorbeizugehen. Wenn allerdings die Einzelbetrachtung der religiösen Vorstellungen eines Kindes so in den Mittelpunkt gerückt wird, dass keinerlei verallgemeinerbare Merkmale mehr angenommen werden, so ist fraglich, inwiefern solche Untersuchungen dann überhaupt Anregungen für die Praxis geben können. Dies betont auch Bucher, wenn er mit Blick auf die Rostocker Langzeitstudie erklärt, »trotz aller Wertschätzung des einzelnen Kindes, sollte religionspschychologische Forschung auch nomothetische Erkenntnisse anzielen«274. Die Erforschung der kindlichen Gottesbilder sollte eben nicht reiner Selbstzweck, sondern für die Weiterentwicklung der religionspädagogischen Praxis ertragreich sein. Bestenfalls ergänzen sich die beiden Perspektiven und halten einander die Waage. Es ist von großer Bedeutung, die individuellen und originalen theologischen Leistungen einzelner Kinder und Jugendlicher durch ein großes Maß an Aufmerksamkeit zu würdigen. Die konkrete religionspädagogische Praxis, z.B. der schulische Religionsunterricht, bringt diese Möglichkeit und auch die Notwendigkeit mit sich. Zur Erleichterung dieser Praxis darf es aber auch nicht verpönt sein, die Ergebnisse breiter Studien in allgemeinen Trends auszudrücken. Dabei geht es nicht um ein Ignorieren der Individualleistungen, sondern um das Bereitstellen eines hilfreichen Instrumentariums für Religionspädagogen, das ihnen wiederum hilft, die Spezifika der Vorstellungen Einzelner zu erkennen und daraus die entsprechenden pädagogischen Konsequenzen zu ziehen. Auf die Wege, die es ermöglichen, individuelle Bildaussagen zu finden und zu entschlüsseln, ist bereits hingewiesen worden. An dieser Stelle sollen – im Rückgriff auf die im zweiten Kapitel betrachteten Studien – noch einige Erläuterungen zu den möglicherweise vorliegenden überindividuellen Trends erfolgen. Alter Einige Forscher erkennen in den Gottesvorstellungen Gemeinsamkeiten innerhalb verschiedener Altersstufen. David Heller stellt in seiner Unter274
Bucher, Rezension zu Szagun, 114.
70
3. Methodische Überlegungen
suchung fest, dass von Kindern verschiedener Altersstufen unterschiedliche Charakteristika Gottes betont werden. So ist beispielsweise auffällig, dass Kinder, je älter sie werden, immer mehr kritische Fragen an Gott herantragen. Auch entspricht die Perspektive, von der sie Gott betrachten, ihren aktuellen Fähigkeiten: Jüngere Kinder beziehen Gott ganz auf sich selbst, während mit der Fähigkeit, einen anderen Standpunkt einzunehmen, auch neue Perspektiven auf Gott eröffnet werden. Heller weist zudem auf die Bedeutung von erlerntem religiösem Wissen für die Gottesvorstellung hin, das mit steigendem Alter anwächst.275 Helmut Hanisch kommt wie Harms und Siegenthaler zu dem Ergebnis, dass bei höherem Alter ein höherer Anteil an symbolischen, nicht-anthropomorphen Bildern von Gott vorliegt. Er deutet dies als Konsequenz der allgemeinen kognitiven Entwicklung sowie des veränderten Elternbildes.276 Über diese grobe Einteilung hinaus räumt Hanisch allerdings ein, dass seine anfängliche These, einzelne Merkmale und Motive der Gottesdarstellungen könnten den Altersstufen genau zugeordnet werden, sich kaum bestätigt hat.277 Der Zusammenhang von kognitiver und religiöser Entwicklung und Entwicklung der Gottesvorstellungen ist noch nicht abschließend geklärt. Dennoch zeigen die angesprochenen Anhaltspunkte, dass das Gottesbild von Kindern von ihrem allgemeinen Entwicklungsstand nicht zu trennen ist und daher altersspezifische Trends nicht auszuschließen sind. Auch wenn sich nicht alle Kinder zur selben Zeit auf demselben Entwicklungsstand befinden, so lassen sich doch Gemeinsamkeiten bei Kindern ähnlichen Alters finden. Es ist daher auch damit zu rechnen, dass in bestimmten Altersstufen bestimmte Veränderungen und kritische Rückfragen gehäuft vorkommen. Gender Schuster fragt in seiner Psychologie der zeichnerischen Entwicklung nach Unterschieden zwischen Mädchen und Jungen. Gesichert ist die Erkenntnis, dass Mädchen in der Entwicklung etwas schneller sind als Jungen. Alle darüberhinausgehenden Aussagen sind umstritten. Es gibt Untersuchungen, die große Unterschiede in den bevorzugten Themen herausfanden.278 Ihnen zufolge wählen Mädchen interpersonale, harmonische und ruhige Bildmotive, die sie mit vielen Details ausschmücken. Jungen dagegen ziehen dynamische Motive vor und greifen häufig auf den Bereich der Technik zurück. Konflikte und Aggressionen spielen in 275
Vgl. Heller, The Childrens’ God, 39–56. Vgl. Hanisch, Zeichnerische Entwicklung, 94f. 277 Vgl. Hanisch, Zeichnerische Entwicklung, 99. Hermann Siegenthalers tiefenpsychologische Analyse von 350 Zeichnungen 5- bis 16-Jähriger führte dagegen zu dem Ergebnis, dass fünf Altersgruppen zu unterscheiden sind, in denen jeweils ähnliche Motive zu finden sind. Vgl. Siegenthaler, Entwicklung, 7. 278 Beispielsweise die Untersuchung von Kellog aus dem Jahre 1969. 276
3.6 Zentrale Kategorien der Interpretation von Gottesvorstellungen
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ihren Bildern eine größere Rolle als in denen der Mädchen. Andere Untersuchungen kommen nicht zu solchen Differenzen zwischen den Geschlechtern.279 Schuster selbst erkennt unterschiedliche Präferenzen bei Mädchen und Jungen und interpretiert diese als Ergebnis des traditionellen Rollenbildes und dessen Zusammenspiel mit »biologischangeborene[n] Grundlagen«280. Auch im Bereich der religionspädagogischen Erforschung von Kinderbildern von Gott wurde die Frage nach geschlechtsspezifischen Motiven und Merkmalen gestellt. Die Ergebnisse des »Diskussionsbeitrag[s]«281 von Hilger und Dregelyi decken sich mit den auf die allgemeine Zeichentätigkeit bezogenen Aussagen Schusters. Die Dokumente, die in einem Hochschulseminar zur Wahrnehmungsschulung gesammelt worden waren, wurden auf mögliche »geschlechtstypische[…] und geschlechterdifferente[…] Merkmale[…]«282 hin befragt. Hilger und Dregelyi greifen dabei die These auf, die u.a. Stefanie Kleins Arbeit zugrunde liegt: Führt die dominant männliche traditionelle Gottesvorstellungen dazu, dass Mädchen nur ein gebrochenes Gottesverhältnis aufbauen können, während Jungen sich in einer ungebrochenen Beziehung zu Gott befinden? Die Bilder und Kommentare von zwei Mädchen und zwei Jungen werden daraufhin analysiert und in Bezug zu anderen Bildern283 aus der Untersuchung gesetzt. Es werden dann typische Merkmale von Bildern von Gott von Jungen und Mädchen in der Grundschule skizziert: Jungen malen »meist realistischere, stärkere und provokativere Darstellungen«284, deren Motive »aus der für Jungen typischen Lebens- und Spiele-Welt entnommen sind«285. Darüber hinaus »bestätigt sich der Verdacht, dass durch Umwelt und Erziehung geprägtes Geschlechtsverhalten sich in den Bildern in sehr eigenwilliger Form niederschlägt«286, beispielsweise im Bild vom Motorrad fahrenden Rocker-Gott. Die Bilder von Mädchen zeigen laut Hilger und Dregelyi andere Schwerpunkte: Die weiblichen oder mütterlichen Seiten Gottes werden betont. Gott stehe in fürsorglicher Beziehung zu seiner Schöpfung und biete den Menschen Geborgenheit. Es wird auch darauf aufmerksam gemacht, dass Mädchen die Andersartigkeit Gottes häufiger 279
Vgl. Schuster, Psychologie, 48f. A.a.O., 50. 281 So der Titel des Aufsatzes im Jahrbuch für Kindertheologie: »Gottesvorstellungen von Jungen und Mädchen – ein Diskussionsbeitrag zur Geschlechterdifferenz«. Hilger/Dregelyi, Geschlechterdifferenz, 69. 282 A.a.O., 70. 283 Insgesamt waren durch das Seminar ca. 300 Bilder zusammengekommen. Vgl. a.a.O., 69. 284 A.a.O., 72. 285 Ebd. 286 Ebd. 280
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3. Methodische Überlegungen
durch seine eigentümliche Kleidung (Gewand) zum Ausdruck bringen, wogegen Jungen Gott eher in normaler männlicher Kleidung (Hose und Shirt) zeichnen. Zusammenfassend stellen die Autoren heraus, dass der Gott der Mädchen zwar oft in der Ferne des Kosmos dargestellt sei, aber in fürsorglicher, intimer Beziehung und Kommunikation zu den Menschen stehe. Die Gottesvorstellungen von Jungen sind dagegen zwar von konkreterer Gestalt, weisen aber einen distanzierteren, weniger emotionalen Bezug der Jungen zu Gott auf.287 Zur These von Stefanie Klein bemerken Hilger und Dregelyi demgemäß: »Von einer ungebrochenen Nähe der Jungen zu Gott und von einer unüberwindbaren Fremdheit der Mädchen in ihrer Beziehung zu Gott […] können wir nicht sprechen.«288 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es wohl bei den Gottesvorstellungen von Jungen und von Mädchen Unterschiede gibt, allgemeine Trends hier also erkennbar sind – sei es in Bezug auf die inhaltlichen Ausprägungen oder bezüglich der Form, in der die Vorstellungen dargeboten werden. 289 Für die religionspädagogische Praxis stellt sich die Frage, wie mit diesem umgegangen werden soll. Für den Unterricht kann dieses Phänomen als Chance betrachtet werden. So können sich Jungen und Mädchen gegenseitig von ihren Vorstellungen erzählen, wodurch die Kinder die Möglichkeit haben, ihre eigene Vorstellung anhand der Gedanken der anderen zu prüfen und zu erweitern. Sozialisation Helmut Hanisch, Anna-Katharina Szagun, Astra Dannenfeldt und Sandra Eckerle widmen ihre Studien besonders der Frage nach der Bedeutung der (religiösen) Sozialisation für die Entwicklung von Gottesvorstellungen. Alle kommen zur Einsicht, dass religiöse Erziehung einen erheblichen Einfluss auf die religiöse Sprachfähigkeit und die Entwicklung von Gottesvorstellungen hat. Hanisch stellt heraus, dass Kinder, die religiös sozialisiert sind, Gott eher positive Eigenschaften zuordnen. Gott ist für sie ein freundlicher und starker Helfer, der in Beziehung zu seiner Schöpfung steht. Bei den nicht religiös sozialisierten Kindern treten dagegen kritische Anfragen und märchenhafte Vorstellungen zu Tage: Gott erscheint ihnen weder nah noch hilfreich, ihm fehlt die Macht, um in der Lebenswirklichkeit der Kinder zu handeln. Die religiöse Sozialisation hat also ebenso wie das Alter und das Geschlecht eines Kindes Einfluss auf die Vorstellungen von Gott. 287
Dies wird erklärt mit dem Ablösungsprozess der Jungen von der Mutter, in dessen Zuge sie sich von allem Weiblichen distanzieren und als typisch männlich angesehene Merkmale in den Mittelpunkt rücken. Vgl. a.a.O., 77. 288 A.a.O., 78. 289 Vgl. Bösefeldt, männlich – weiblich – göttlich. (S. Kapitel 2.3.2.)
3.7 Fazit: Möglichkeiten und Grenzen der Auswertung von Bildern
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Es soll noch einmal betont werden, dass aber weder eine der drei beispielhaft genannten Kategorien von überindividuellen Trends bei Gottesvorstellungen noch ihre Zusammenschau die Auseinandersetzung mit den Gedankenwelten einzelner Kinder ersetzen. Sie können lediglich als Interpretationshilfe und Orientierungsmaßstab dienen.
3.7 Fazit: Möglichkeiten und Grenzen der Auswertung von Bildern und Interviews zur Erfassung des Gottesbildes Von den bisherigen Betrachtungen her lässt sich folgendermaßen urteilen: Der Erforschung des Gottesbildes von Kindern und Jugendlichen bieten sich über Bilder und Gespräche gute Möglichkeiten, und die untersuchten Studien haben deutlich gemacht, dass Kinder mit der Aufgabe, Gott zu malen, ›etwas anfangen‹ können. Sie lassen sich in den meisten Fällen darauf ein und können ein Bild von Gott malen. Es muss festgehalten werden, dass der Zugang zu den kindlichen Gottesvorstellungen über das Malen ein altersgemäßer Zugang und damit jedenfalls für Kinder positiv zu bewerten ist. Um jedoch Klarheit darüber zu gewinnen, welche Intention die Kinder mit ihrem Bild verfolgen, reicht es nicht, nur das Bild zu analysieren und zu interpretieren. Gespräche mit den Kindern über ihre Bilder sind unerlässlich. In solchen Gesprächen geben die Kinder Kommentare wie »Das kann ja eigentlich nicht sein, dass der so aussieht«290 ab. Sie geben damit zu erkennen, dass ihre Vorstellungen von Gott das überschreiten, was von ihnen abgebildet wurde. Damit ist schon eine Grenze der Erforschung von Gottesvorstellungen anhand von Bildern angesprochen. Verschiedene Aspekte zeigen, dass die Gottesbildforschung generell und speziell in der Form von Bild- und Gesprächsanalysen an Grenzen stößt. Es wurde bereits auf das Problem aufmerksam gemacht, dass innere Bilder kaum umfassend, d.h. mit allen damit verknüpften, auch unbewussten, Erfahrungen und Emotionen, nach außen kommuniziert werden können. Vielmehr ist zu erwarten, dass in den gemalten Bildern von Gott einzelne Aspekte, die dem Kind oder Jugendlichen zu diesem Moment besonders wichtig oder auch leicht abzubilden erscheinen, in den Vordergrund treten und andere religiöse Vorstellungen unberücksichtigt bleiben. Für problematisch ist auch die Situation der Auftragsarbeit zu halten, in der die Bilder entstehen; sie kann jedoch für die empirische Forschung kaum vermieden werden. Die Erforschung von kindlichen und jugendlichen Gottesvorstellungen anhand von Bildern wird demnach, auch wenn versucht wird, eine mög290
So drückt es Zoe in der vorliegenden Untersuchung aus.
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3. Methodische Überlegungen
lichst störungsfreie Mal- und Interviewsituation zu schaffen, nie ganz frei von Unklarheiten und spekulativen Interpretationen sein. Da dies sich aber beim vorliegenden Untersuchungsgegenstand nicht vermeiden lässt, kann es nicht als schlagendes Argument gegen eine solche Forschung gelten. Für Jugendliche birgt die Methode des Malens von Gottesbildern größere Probleme. Für sie ist die Diskrepanz zwischen der inneren Vorstellung von Gott und den individuellen Möglichkeiten zur zeichnerischen Umsetzung möglicherweise größer, wahrscheinlich jedenfalls unangenehmer als bei Kindern. Zur Erhebung ihrer Gottesbilder bieten sich daher auch aufgrund der höheren sprachlichen Ausdrucksfähigkeit schriftliche oder mündliche Methoden eher an, zumindest sollten diese als Alternative angeboten werden. Die aus der Analyse der vorliegenden Studien und der aktuellen Methodendiskussion gewonnenen Erkenntnisse werden im vierten Kapitel bei der Konzeption der vorliegenden Untersuchung ihre Anwendung finden.
Exkurs zum Bilderverbot in religionspädagogischer Perspektive
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder und Jugendliche den Auftrag, ein Bild von Gott zu malen, hinterfragen. Sie haben in der dritten oder vierten Klasse die Zehn Gebote kennengelernt291 und erinnern sich, dass man sich kein Bild von Gott machen soll. Die verbotene Tätigkeit »ein Bild von Gott machen« verstehen sie wörtlich, identifizieren sie mit dem Arbeitsauftrag und lehnen ihn daher ab. Wie ist religionspädagogisch mit diesem Einwand umzugehen? Es ist kaum denkbar, dass mit dem Gebot, kein Bild von Gott zu machen, tatsächlich das gemeint ist, was sich die Kinder unter »ein Bild machen« vorstellen. Um diese Frage zu beantworten, muss ein Blick auf den Kontext und die Bedeutung des alttestamentlichen sogenannten Bilderverbots geworfen werden. Das zweite Gebot lautet (Ex 20, 4f ): Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!292 Das Hebräische kennt viele Worte, die im Deutschen mit Bild(nis) wiedergegeben werden. Im zweiten Gebot in Ex 20,4 steht im hebräischen Text päsäl. Christoph Dohmen stellt fest, dass päsäl treffend mit Kultbild zu übersetzen sei. päsäl weise immer auf die Körperhaftigkeit des Bildes hin sowie auf den hohen Wert des Materials, aus dem es besteht. Benno Jacob umschreibt päsäl folgendermaßen: »ein aus Stein gehauenes oder aus Holz zurechtgeschnitztes, also durch Bearbeitung eines Materialblocks geschaffenes plastisches Bild.«293 päsäl »rangiert eindeutig als häufigster Götterbildterminus des AT«294. Eine profane Verwendung des Begriffs gibt es im AT nicht, er steht nur für Skulpturen, die kultische Verwendung finden.295 Das zweite Verbot wendet sich nach diesem 291
Bildungsplan Grundschule, 29. Übersetzung: Lutherbibel 1984, wie bei allen Bibelstellen, sofern nicht anders erwähnt. 293 Vgl. Jacob, Exodus, 556. 294 Dohmen, Art. päsäl, 692. 295 Vgl. Köckert, Kultbild, 376. 292
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Exkurs zum Bilderverbot in religionspädagogischer Perspektive
allgemein anerkannten Verständnis von päsäl also gegen die kultische Verehrung von Götterbildern. Auf die kontroversen religionsgeschichtlichen Überlegungen zum zweiten Gebot kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden. Neuere Forschungsansätze betrachten die Frage nach dem Ursprung und der Datierung des Bilderverbotes und im Zusammenhang damit die Frage nach dem Vorhandensein eines Kultbildes im Jerusalemer Tempel.296 Hintergrund sind die im Alten Orient verbreiteten Kultsymbole und Götterstatuen, die in den Tempeln sozusagen die Wohnung Gottes darstellten und auf die die kultischen Handlungen wie Opfer und Prozessionen ausgerichtet waren.297 Die Meinungen gehen darüber auseinander, ob es einen solchen Bilderkult im israelitischen JahweGlauben gegeben hat oder nicht. Herbert Niehr nimmt an, dass dies sehr wohl der Fall ist.298 Seiner Ansicht nach wurde die Verehrung der Jahwe-Bilder dann vom Jerusalemer Klerus verboten, um dem Tempel und den dort ansässigen Priestern ein Monopol auf die Kultausübung zu sichern. Da es aber keinerlei archäologische Funde solcher Kultstatuen in Palästina gibt299, ging die Mehrheit der Alttestamentler davon aus, dass der Jahwe-Glaube zumindest ursprünglich keine Bilderverehrung beinhaltete. Dabei wäre es zu einfach, die Bilderlosigkeit auf mangelnde künstlerische Fähigkeiten im Nomadenvolk Israel zurückzuführen.300 Oorschot erkennt »für den gesamten westsemitischen Bereich eine Bildlosigkeit des freien Raumes und ein[en] materiale[n] Anikonismus.«301 Archäologische Hinweise dafür seien die Funde von Masseben (unbearbeitete Kultsteinen, die gerade kein Bild tragen) sowie die Darstellung Gottes durch einen leeren Thron. Er nimmt also an, dass Jahwe von Israel bilderlos verehrt wurde, hält es jedoch für doch wahrscheinlich, dass in Israel Götterbilder zum Kult an anderen Göttern oder Kultsymbole für den Ahnenkult verbreitet waren.302 Die neueren Überlegungen zur Bedeutung des Bilderverbots im alttestamentlichen Kontext ziehen dagegen wie Niehr die Existenz eines Jahwe-Bilderkultes eher in Betracht. Matthias Köckert findet in der grammatikalischen Struktur des zweiten Gebotes und in seiner Platzierung nach dem Fremdgötterverbot Argumente dafür, dass der (eingeschobene) Vers 8 sich auf Kultbilder Jahwes beziehen muss.303 Im Rückgriff auf die Begründung und Erläuterung des Bilderverbotes in Dtn 4, die er spät in die nachexilische Zeit datiert, macht Köckert deutlich, dass es im Jerusalemer Tempel ein Kultbild Jahwes gab. 296 Siehe dazu: Keel, Othmar, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus. Teil 2 (Orte und Landschaften der Bibel, IV, 1), Göttingen 2007; Köckert, Matthias, Die Zehn Gebote, München 2007; ders., Die Entstehung des Bilderverbots in: Groneberg, B. / Spiekermann, H. (Hg.), Die Welt der Götterbilder (BZAW 376), 2007, 272–290; Mettinger, Tryggve N.D., No graven image? Israelite Anicinism in its Ancient Near Eastern Context, (CB Old Testament Series 42), Stockholm 1995. 297 Vgl. Niehr, Götterbilder, 228f. 298 Niehr begründet dies für Israel mit der Nennung einer Statue in einer Beuteliste von Sargon II. Für Juda will er aufweisen, dass das Ausführen von Speise- und Trankopfern sowie die Rede von Prozessionen in den Psalmen das Vorhandensein einer Kultstatue voraussetzen. Vgl. Niehr, Götterbilder, 230–232. 299 Vgl. Welten, Art. Bilder II, 517f. 300 So Gressmann bei Oorschot, Bilder, 308. 301 A.a.O., 308. 302 Vgl. Albertz, Religionsgeschichte, 96ff und Dohmen, Exodus, 110f. 303 Vgl. Köckert, Kultbild, 377f.
Exkurs zum Bilderverbot in religionspädagogischer Perspektive
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Der Dekalog wendet sich jedenfalls gegen die wie auch immer geartete Anbetung von Kultbildern. Weder soll der Gott Israels, der sich in Geschichtstaten offenbart, auf gegenständliche Weise fassbar und damit kontrollierbar gemacht werden, noch sollen fremde Götter verehrt werden. Dieser enge Zusammenhang mit dem ersten Gebot ist zentral für das Verständnis des Bilderverbots. Albertz betont, dass in Israel im Bilderkult per se Fremdgötterkult gesehen wurde.304 Dohmen betrachtet den Sachverhalt etwas weiter, wenn er »Bilder als Träger polyvalenter religiöser Ideen«305 bezeichnet. Damit ist gemeint, dass bei den Götterbildern offen ist, welcher Gott damit verehrt werden kann, weshalb diese abzulehnen sind. Das Bilderverbot diene als praktische Umsetzung der Forderung nach Alleinverehrung Jahwes und stehe somit »ganz im Dienst des Fremdgötterverbots«306.307 Als Intention des zweiten Gebots gilt festzuhalten, dass das Herstellen und Anbeten eines Kultbildes untersagt und so die Alleinverehrung Gottes, der sich seinem Volk zwar offenbart, aber nicht seine Gestalt zeigt, gesichert wird. Was bedeutet diese Interpretation des zweiten Gebots für den Umgang mit den Einwänden der Kinder und Jugendlichen? Zunächst soll betont werden, dass die Einwände auf jeden Fall ernst genommen werden müssen. Wenn von Kindern oder Jugendlichen das Bilderverbot angesprochen wird, so sollte es auch ausführlich thematisiert werden. Findet das Malen der Bilder im Unterricht statt, bietet es sich an, den alttestamentlichen Befund mit den Kindern zu besprechen. Dabei muss man versuchen, den Jungen und Mädchen den fremdartigen Hintergrund der altorientalischen Kultur nahezubringen. Nach einer Information über die herrschende Praxis der Götterverehrung durch Bilderkult kann dann die Einbindung des zweiten Gebots in diesen Kontext deutlich gemacht werden.308 Dieser Sachverhalt müsste daraufhin mit dem beabsichtigen Malen eines Bildes von Gott verglichen werden. Den meisten Kindern und Jugendlichen dürfte klarwerden, dass es sich um eine andere Situation handelt als die im Bilderverbot thematisierte. Weiter müsste angesprochen werden, dass jedes Bild von Gott eine individuelle Vorstellung repräsentiert, die ihren Wert hat, 304
Albertz, Religionsgeschichte, 337. Dohmen, Exodus, 112. 306 Oorschot, Bilder, 312. 307 Die Ansicht, dass das zweite Gebot die Konsequenz des ersten sei, teilen auch Niehr (vgl. Niehr, Götterbilder, 242) und Dohmen (vgl. Dohmen, Exodus, 110f). 308 Ein entsprechendes Lernziel könnte lauten: Die Schülerinnen und Schüler kennen die altorientalische Praxis des Bilderkultes und können erklären, inwiefern sich das zweite Gebot gegen die Herstellung und kultische Verehrung solcher Kultsymbole richtet. 305
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Exkurs zum Bilderverbot in religionspädagogischer Perspektive
aber nicht verallgemeinerbar oder absolut zu setzen ist. Auf diese Weise werden sicherlich bei einigen Kindern und Jugendlichen Hemmungen abgebaut. Wenn sie aber bei ihrem wörtlichen Verständnis bleiben, so muss das in jedem Fall respektiert werden. Gerade bei religiös erzogenen Kindern und Jugendlichen könnte eine Verunsicherung und Misstrauen gegenüber dem Religionslehrer ausgelöst werden, wenn dieser in den Augen der Kinder etwas verlangt, das dem Glaubenden verboten ist. Daher erscheint es nicht sinnvoll, Kinder oder Jugendliche, die aus den genannten Gründen kein Bild malen wollen, dennoch davon zu überzeugen. Angemessener scheint es in diesen Fällen, sie zu bitten, aufzuschreiben, wie sie sich Gott vorstellen.
4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
4.1 Fragestellung und Vorgehensweise der Untersuchung Gegenstand dieser Untersuchung sind die Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen aus einer Schulklasse, die anhand von gemalten Bildern oder Texten sowie erläuternden Interviews erhoben werden. Dabei ist zum einen die konkrete Beschreibung Gottes durch die Kinder und Jugendlichen von Interesse, darüber hinaus soll aber auch die Entwicklung der Vorstellung im Übergang der Kindheit zum Jugendalter in den Blick genommen werden. Es wird nach Veränderungen und Kontinuitäten der individuellen Vorstellungen von Gott gefragt werden. Weiterhin soll die Untersuchung beleuchten, inwiefern Jugendliche die eigene Entwicklung in Bezug auf religiöse Vorstellungen wahrnehmen können und wie sie diese beschreiben und reflektieren. In methodischer Perspektive soll außerdem betrachtet werden, in welchem Verhältnis das mentale Bild von Gott der Kinder und Jugendlichen zum gemalten und erklärten Bild stehen. Als Konsequenz sollen aus den Untersuchungsergebnissen zentrale theologische Topoi identifiziert werden, die den Kindern und Jugendlichen in ihrem Nachdenken über Gott wichtig sind. Diese dienen der Vertiefung der Untersuchungsergebnisse in Form der Formulierung von Konsequenzen für den Religionsunterricht. Die vertiefenden Fragestellungen lauten: 1. Wie stellen Kinder und Jugendliche ihre Vorstellung von Gott dar? Welche Eigenschaften ordnen sie Gott zu? In welchem Verhältnis zu den Menschen wird er dargestellt? Wie wird das Problem der Nichtdarstellbarkeit Gottes thematisiert? 2. Wie verändern sich die individuellen Vorstellungen von Gott zwischen Kindheit und Jugendalter? 3. Wie nehmen Jugendliche die Veränderung bzw. Nicht-Veränderung ihrer Vorstellung von Gott im Vergleich zur Kindheit wahr, und wie deuten sie diese? 309 309
Bei allen Ausführungen zu diesen Fragen gilt: Eine Differenzierung zwischen erlebter religiöser Erfahrung und deren Reflexion durch die Kinder und Jugendlichen selbst ist schwierig: »Erfahrungen können nicht in Primaärerleben und sekundäre Interpretatio-
80
4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
4. In welchem Verhältnis stehen die Bilder zu den erklärenden Aussagen der Kinder und Jugendlichen? Inwiefern ist darin ihr mentales Bild von Gott erkennbar? 5. Welche theologischen Themen sind den Kindern und Jugendlichen besonders wichtig und daher für den Religionsunterricht relevant? Als Folge der in Kapitel 3 betrachteten Methoden arbeitet die vorliegende Studie mit einer Kombination von gemalten Bildern von Gott und erklärenden Einzelinterviews. Als Probanden diente eine Klasse eines Gymnasiums im Landkreis Reutlingen, zu dem ich im Rahmen eines Schulpraktikums Kontakt aufbauen konnte. Die sechste Klasse des Gymnasiums bestand zum ersten Untersuchungszeitpunkt aus 30 Kindern, 29 von ihnen besuchten den evangelischen Religionsunterricht310, ein konfessionsloses Kind nahm nicht daran teil. Von den 29 Kindern, die ein Bild von Gott für ein eigenes sogenanntes Psalmenheft angefertigt hatten, stellten mir 27 in Absprache mit den Eltern ihr Bild zur Verfügung und gaben in einem kurzen Interview Auskunft darüber. Die Kinder waren elf bis zwölf Jahre alt. Wie die Konfessionsverteilung zeigt, handelt es sich beim Einzugsbereich der Schule um eine evangelisch geprägte Region. Die Bewohner der Gegend sind allerdings nicht nur überwiegend evangelisch, sondern viele der Einwohner kommen zudem aus einem pietistischen Hintergrund. Es kann vermutet werden, dass viele der Eltern es wünschen, dass ihre Kinder »fest verwurzelt im Glauben der Familie und mit einem klaren Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten christlichen Gemeinde«311 aufwachsen. Es wird geprüft werden, ob sich diese intensive religiöse Erziehung in den Bildern und Interviewaussagen niederschlägt. Bei t2 wurde versucht, alle Schülerinnen und Schüler, die bei t1 an der Untersuchung teilgenommen hatten, wieder zur Teilnahme zu gewinnen. Mittlerweile war die ehemalige sechste Klasse auf vier zehnte Klassen verteilt und einige Schülerinnen und Schüler hatten die Schule verlassen oder eine Klassenstufe wiederholt. So kam es dazu, dass bei t2 nur noch 21 Schülerinnen und Schüler an der Untersuchung teilnahmen, davon zwei Mädchen, die bei t1 zwar ein Bild gemalt, bei der Untersunen zerlegt werden, weil die Interpretation (…) allererst die Bestimmung des erlebten Gehalts möglich macht.« Heimbrock, Rekonstruktion, 134. 310 Dabei zwei Kinder ohne Konfession. Aufgrund des vertieften religiösen Wissens und der religiösen Sprachfähigkeit der Kinder könnte man vermuten, dass es sich dabei um Kinder evangelischer oder evangelisch-freikirchlicher Eltern handelt, die für die Erwachsenentaufe eintreten. 311 Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus, 43. Während diese Haltung insgesamt in der postmodernen Gesellschaft selten geworden ist, ist sie im schwäbischen Pietismus noch verbreitet.
4.1 Fragestellung und Vorgehensweise der Untersuchung
81
chung aber auf eigenen Wunsch nicht teilgenommen hatten. Bei t2 wurden die Jugendlichen auch über die Bindung der Familie an die Kirchengemeinde bzw. eine andere Gemeinde befragt. Diese Selbstauskunft dient dazu, die familiäre religiöse Sozialisation der Jugendlichen zu erheben, um diese ggf. in Bezug zu den zum Ausdruck gebrachten Vorstellungen von Gott zu setzen. Tabellarische Übersicht über die Probanden Name
t1
t2
Bemerkungen und eigene Angaben über die Bindung der Familie an die Kirchengemeinde bei t2 312
André313 Bianca Christine
x x x
x
Clemens
x
x
Dennis
x
x
Emily
x
x
Fabian
x
x
besuchte bei t2 nicht mehr diese Schule besuchte bei t2 nicht mehr diese Schule Christine wurde konfirmiert. Sie und ihre Eltern besuchen den Gottesdienst bei besonderen Gelegenheiten, z.B. Weihnachten oder beim »Gottesdienst im Grünen«. Sie nahm als Kind an der Kinderkirche und der Jungschar vor Ort teil, bei der sie nun auch gemeinsam mit ihrer Mutter mitarbeitet. Clemens wurde konfirmiert. Er besucht den Gottesdienst an Weihnachten, weil seine Familie dies von ihm verlangt. Seine Mutter ist im Kirchengemeinderat engagiert. Als Junge nahm er an der Kinderkirche teil und besuchte auch zweimal ein Jungscharlager. In der Familie spielen Clemens’ religiöse Fragen und Zweifel eine große Rolle, es kommt zu Diskussionen zwischen ihm und seiner Mutter, die sich an der Frage nach der Verwendung des zur Konfirmation geschenkten Geldes zuspitzen: Clemens sieht seinen »Glauben« als Bedingung dafür an, dass die Eltern ihm dieses Geld zur Verfügung stellen. Sein eigenes Ringen mit religiösen Fragen ist für ihn so mit einem ökonomischen Faktor verquickt. Dennis wurde konfirmiert. Er besucht den Gottesdienst an Weihnachten, genau wie seine Eltern. Er hat früher eine Jungschar besucht. Sein Wissen über Gott hat er seiner Ansicht nach im Religionsunterricht gewonnen. Emily wurde konfirmiert und besucht mit ihren Eltern an Feiertagen den Gottesdienst. Sie hat früher eine Jungschar besucht. Fabian wurde konfirmiert. Er geht sechs bis acht Mal im Jahr mit seinen Eltern in den Gottesdienst. Früher besuchte er eine Jungschar.
312
Diese Angaben gehen auf die freiwillige Auskunft der Jugendlichen selbst bei t2 zurück. Sie wurden befragt, ob sie sich haben konfirmieren lassen sowie ob sie und die Eltern Gottesdienste besuchen. Außerdem machten sie Angaben über eine eventuelle Einbindung in kirchliche Gruppen und Freizeiten. Teilweise ergaben sich daraus weiterführende Gespräche über den Stellenwert von Religion und Glauben in der Familie bzw. für den oder die Jugendliche. 313 Alle Namen wurden zur Anonymisierung verändert.
82
4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
Georg
x
x
Henrike
x
x
Isabelle
x
x
Jessica
x
-
Kai
x
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Lisa
x
-
Michaela
x
x
Nils Nina
x -
x
Oliver
x
x
Paul
x
x
Quentin
x
x
Georg wurde konfirmiert. Er und seine Eltern nehmen nur anlässlich von Familienfeiern an Gottesdiensten teil. Er hat keine kirchlichen Kinder- und Jugendgruppen besucht. Henrike wurde konfirmiert. Üblicherweise gehen sie und ihre Eltern ca. alle zwei Monate einmal in den Gottesdienst, momentan aber häufiger wegen der Konfirmation ihrer Schwester. Henrike hat früher kurzzeitig eine Jungschar besucht. Sie berichtet, dass sie auf einer Freien Evangelischen Grundschule war und dort die tägliche Bibellese kennengelernt hat. Dies führt sie auch heute noch weiter. Isabelle wurde konfirmiert. Ihre Eltern gehen jeden Sonntag zum Gottesdienst, sie selbst arbeitet in der Kinderkirche mit. Sie hat selbst früher eine Jungschar besucht und geht jetzt in einen Mädchenkreis. Sie erklärt, dass sie den Sonntagsgottesdienst langweilig findet, aber gerne Jugendgottesdienste besucht. Jessica nahm wegen Verpflichtungen im Rahmen der SMV an der Untersuchung bei t2 nicht teil. Kai wurde konfirmiert. Er und seine Familie haben während seiner Konfirmandenzeit und der des Bruders die Gottesdienste besucht, mittlerweile geht nur noch die Mutter zu besonderen Anlässen. Früher hat Kai an einer Jungschar teilgenommen. Lisa hatte bei t1 kein Bild malen wollen, stand aber für ein Interview zur Verfügung. Bei t2 besuchte sie nicht mehr diese Schule Michaela wurde konfirmiert. Die Familie besucht den Gottesdienst nur bei Familienfesten und besonderen kirchlichen Feiertagen, und zwar häufig in der katholischen Gemeinde der »strenger gläubigen« Großmutter. Kirchliche Kinder- und Jugendgruppen besuchte Michaela nicht. besuchte bei t2 nicht mehr diese Schule Nina wurde konfirmiert und bezeichnet ihren Konfirmandenunterricht als prägend für ihren Glauben. Sie und ihre Eltern besuchen fast jeden Sonntag den Gottesdienst. Sie hat als Kind an der Jungschar teilgenommen und gehört jetzt zu einem Mädchenkreis. Ihr sind die Herrnhuter Losungen und die tägliche Bibellese wichtig. Ihr Glaube hat in ihrem Leben einen hohen Stellenwert: »Man konfirmiert sich ja nicht zum Spaß«. Nina nahm erst bei t2 an der Untersuchung teil. Bei t1 hatte sie eine Teilnahme abgelehnt. Oliver wurde konfirmiert. Er und seine Familie besuchen Gottesdienste an besonderen kirchlichen Feiertagen oder bei Kasualien. Früher nahm Oliver an der Kinderkirche und der Jungschar teil. Mittlerweile besucht er keine kirchliche Gruppe mehr. Er gibt an, dass er zwar Interesse an einer Teilnahme habe, seine Zeit dazu aber nicht ausreiche. Paul wurde konfirmiert. Er und sein Vater besuchen ca. einbis zweimal im Monat den Gottesdienst, seine Mutter öfter. Früher ging Paul in die Jungschar, jetzt nimmt er an keinen kirchlichen Gruppen mehr teil. Sein Bruder leitet die Jungschar vor Ort. Quentin wurde konfirmiert. Er und seine Familie besuchen ca. alle zwei Monate den Gottesdienst. Als Kind hat er kurzzeitig an einer Jungschar teilgenommen.
4.1 Fragestellung und Vorgehensweise der Untersuchung Ruth
x
x
Sabine
x
x
Tim
x
-
Ulrich
x
x
Valerie
-
x
Vincent Wiebke
x x
x
Xavier
x
x
Yannis
x
-
Zoe
x
x
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Ruth wurde konfirmiert. Sie und ihre Familie besuchen wöchentlich den Gottesdienst. Ruth nahm als Kind an Jungschar und Kinderstunde teil, heute besucht sie einen Teeniekreis und nimmt an Freizeiten teil. Die Angebote gehören zu einem Gemeinschaftsverband innerhalb der Ev. Landeskirche, bei dem Ruths Vater als Prediger arbeitet. Sie bezeichnet ihre Herkunft als ein »christliches Elternhaus«. Sabine wurde konfirmiert. Sie und ihre Familie besuchen an hohen kirchlichen Feiertagen den Gottesdienst in der Heimat der Eltern in Serbien. Sie bezeichnet die Familie als »evangelische Slawen«. Früher besuchte Sabine die Jungschar. Auch heute hätte sie noch Interesse an der Teilnahme an kirchlichen Jugendgruppen, aber ihr fehlt die Zeit dazu. Tim hat eine Klassenstufe wiederholt und nahm nicht an der zweiten Untersuchung teil. Ulrich wurde konfirmiert und hat seitdem den Gottesdienst nicht mehr besucht. Er erklärt, er würde zwar gerne einmal wieder in den Gottesdienst gehen, »denn ein Pfarrer hat ja was zu sagen, da erfährt man was über sich, aber jetzt wieder aufzutauchen wäre komisch.« Kirchliche Kinder- und Jugendgruppen hat er nicht besucht. Valerie wurde konfirmiert. Sie und ihre Familie besuchen den Gottesdienst nicht. Valerie hatte eine Teilnahme an der Untersuchung bei t1 abgelehnt, bei t2 nahm sie auf eigenen Wunsch teil. Vincent besuchte bei t2 nicht mehr diese Schule. Wiebke wurde konfirmiert. Sie besucht seitdem den Gottesdienst nicht mehr, sagt aber, es »wäre auch nicht schlecht mal hinzugehen, wegen der Geschichte, die der Pfarrer erzählt«. Wenn ihre Schwester konfirmiert wird, möchte sie gerne häufiger am Gottesdienst teilnehmen. Von den getrenntlebenden Eltern geht die Mutter nie, der Vater an Feiertagen in den Gottesdienst. Früher besuchte Wiebke eine kirchliche Kindergruppe, heute hilft sie manchmal einer Freundin aus, die die Jungschar vor Ort leitet. Sie besucht den Ethikunterricht, da sie sich nicht so ausführlich mit der Bibel auseinandersetzen möchte, wie es im RU geschieht. Xavier wurde konfirmiert. Er besucht manchmal den Hauptgottesdienst, immer nimmt er am Zweitgottesdienst des CVJM vor Ort teil. Seine Eltern besuchen mehrmals im Monat den Gottesdienst der Kirchengemeinde. Er besucht einen Jugendkreis. Xavier berichtet ausführlich davon, dass das Zusammenleben mit den Pflegekindern in seiner Familie für ihn sehr anstrengend ist. Yannis nahm wegen Krankheit an der Untersuchung bei t2 nicht teil. Zoe wurde konfirmiert. Sie und ihre Familie besuchen den Gottesdienst an hohen kirchlichen Feiertagen oder bei Konfirmationen in der Familie. Früher hat Zoe nicht an kirchlichen Kinder- oder Jugendgruppen teilgenommen. Inzwischen hat sie aber zwei Mal eine Skifreizeit des CVJM besucht.
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
Die Bilder, die beim ersten Untersuchungszeitpunkt betrachtet wurden, waren unter Regie der Religionslehrerin ohne mein Beisein angefertigt worden. Die Entstehung der Bilder war also an den schulischen Kontext gebunden. So beinhaltet die Produktionssituation einige der Merkmale, die in Kapitel 3 als problematisch dargestellt wurden, nämlich die Auftragsarbeit, initiiert durch die Religionslehrerin, und das Klassenzimmer als Ort des Malens. Die Bilder entstanden als Teil des Psalmenheftes, und zwar unter der Überschrift: Mein Bild von Gott. Die Jungen und Mädchen hatten im Unterricht Beispiele kennengelernt, wie man sich Gott vorstellen kann: Wie einen Polizist, der alles bewacht und belohnt oder straft, oder als einen alten Mann, der im Paradies sitzt und nichts tut, oder auch als fürsorglichen Vater. Im Anschluss daran bekamen sie den Auftrag, ihr eigenes Bild von Gott zu malen. Den Kindern stand Material zur Verfügung, das sich von dem anderer Studien unterscheidet: Die Bilder wurden mit Buntstiften, Pastellkreiden oder Wachskreiden auf schwarzen Tonkarton im Format DinA5 gemalt. Die Religionslehrerin hat dieses Material ausgewählt, um den Kindern das Malen zu erleichtern. Das schwarze Papier sollte durch seine verfremdende Wirkung Zurückhaltung gegenüber dem Auftrag, Gott zu malen, oder einer Überforderung damit entgegenwirken. Es war der Lehrerin sehr wohl bewusst, und es muss auch bei der Auswertung der Bilder berücksichtigt werden, dass so manche Darstellungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden und andere in den Vordergrund gerückt werden. Während weißes Papier als neutraler Hintergrund wahrgenommen wird, der die Verwendung aller Farben bis auf weiß erlaubt, legt das schwarze Papier nahe, mit hellen Farben zu arbeiten, und lässt dunkle Töne eher nicht zu, vor allem kein schwarz.314 Die Bilder entstanden im Religionsunterricht, was auch bedeutet, dass die Kinder an ihren üblichen Plätzen neben ihren Nachbarn saßen. Es wird sich zeigen, dass die Kinder sich in ihrer Motivwahl wahrscheinlich gegenseitig beeinflusst haben. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen haben fast alle Kinder ein Bild angefertigt. Ein Mädchen und ein Junge jedoch haben sich entschieden, den Arbeitsauftrag nicht zu erfüllen.315 Die so schon vorliegenden Bilder sollten als erste Datengrundlage für die Untersuchung dienen. Dass eine Ergänzung der Bilder durch erläu-
314
Betrachtet man die bei Hanisch, Eckerle und Klein abgedruckten Bilder, erkennt man allerdings, dass hier – auf weißem Papier – ebenfalls weniger dunkle Farben als helle vorkommen. 315 Vgl. dazu den Exkurs nach Kapitel 3, in dem auf das Unbehagen gegenüber dem Malen von Gottesvorstellungen aufgrund des zweiten Gebotes des Dekalogs eingegangen wird.
4.1 Fragestellung und Vorgehensweise der Untersuchung
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ternde Gespräche notwendig war, stand außer Frage.316 Zunächst wurde erwogen, in Anlehnung an die Vorgehensweise von Stefanie Klein Gruppeninterviews durchzuführen, in denen die Kinder miteinander über ihre Bilder sprechen. Diese Methode hat den Vorteil, dass die asymmetrische Interviewsituation vermieden wird und dass die Kinder im Diskurs ihre religiösen Vorstellungen ausdrücken, hinterfragen und weiterentwickeln können. Dennoch wurde die Untersuchung anhand von Einzelinterviews den Gruppeninterviews vorgezogen, da diese besser geeignet sind, die individuellen Vorstellungen der einzelnen Kinder, wie sie sich in den konkreten Bildern ausdrücken, zu beleuchten und zu verstehen. Den Kindern wurde erklärt, dass Religionspädagogen unter anderem erforschen, welche Gedanken sich Kinder machen. Die Fragestellung der Untersuchung sei es, herauszufinden, wie sie sich Gott vorstellten, und dazu wurden die Kinder gebeten, ihre Bilder zur Verfügung zu stellen und diese in Gesprächen zu erläutern. Die Kinder haben die Untersuchung mit Interesse aufgenommen und sie ernst genommen. Die Interviews fanden in der Schule während der Unterrichtszeit statt: In Stunden, in denen die Klasse mit Einzelarbeit beschäftigt war, wurden die Kinder einzeln zu ihrem Bild befragt. Die Interviews wurden aufgenommen und später transkribiert. Gegenstand der Interviews waren – anders als in einigen der o.g. Studien – lediglich die Erläuterung der Bilder, nicht das weitere Feld der Gottes- oder religiösen Vorstellungen unabhängig vom Bild.317 Der Vergleichbarkeit halber lag den Interviews ein Leitfaden zu Grunde, wobei selbstverständlich nicht alle Fragen bei jedem Bild angewendet werden konnten. Die meisten Gespräche dauerten zwei bis drei Minuten. Der allgemeine Verlauf der Gespräche soll nun kurz skizziert werden: Zunächst wurde den Kindern erklärt, dass sie ihre persönlichen Ansichten äußern sollen und nicht befürchten müssen, falsche oder schlechte Antworten zu geben. Es wurde ihnen versichert, dass vertraulich mit ihren Aussagen umgegangen wird.318 Zu Beginn des Interviews wurden die Kinder dann gebeten, ihr Bild zu beschreiben: »Erklär mir einfach mal, was man auf dem Bild sieht.« Diese einfach zu beantwortende Frage diente zum einen dem leichten Einstieg in das Interview, zum anderen sollten auf diese Weise grundlegende Bildinhalte geklärt werden, die nicht immer eindeutig zu identifizieren waren.319 Dann wurden 316
Die Bilder waren im Herbst im Religionsunterricht entstanden, die Interviews dazu wurden im Frühjahr durchgeführt. Auf den Zeitabstand wurde im Gespräch eingegangen. 317 Dazu wären Gruppengespräche möglicherweise der geeignetere Weg. 318 Daher sind die Namen der Kinder zum Zwecke der Anonymisierung verändert worden. Jungen werden mit einem Jungennamen wiedergegeben und Mädchen mit einem Mädchennamen. 319 Beispielsweise wurde so gleich am Anfang deutlich, ob ein auf dem Bild befindlicher Mensch Gott darstellen soll oder einen Menschen, mit dem Gott in Verbindung steht.
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
je nach Bild einzelne Elemente besprochen. Die Bedeutung der Elemente und Gründe für die Auswahl wurden erfragt. Besonders die Wahl der Farben kam zur Sprache. Es wurde gegebenenfalls gefragt, welche Kleidung Gott trägt und warum, sowie, was er auf dem Bild macht. Gegen Ende des Interviews wurde eine Frage gestellt, die dem Kind Gelegenheit bot, ein Fazit zu ziehen: »Was ist das eine, was dir an Gott besonders wichtig war, dass du das Bild so gemalt hast und nicht anders?« Diese Frage sollte der Vermeidung von Missdeutungen in der Bildinterpretation dienen. Abschließend wurde der Zeitabstand zwischen dem Malen des Bildes und dem Interview thematisiert: »Es ist schon ein halbes Jahr her, dass du dieses Bild gemalt hast. Wenn du heute wieder ein Bild von Gott malen würdest, wäre es ähnlich oder anders?« Damit wurde den Kindern eine Stellungnahme zu ihrem Bild ermöglicht, und es sollten Hinweise auf Veränderungen der Gottesvorstellungen gefunden werden. Bei allen Fragen wurde darauf geachtet, die Kinder nicht in eine bestimmte Richtung zu lenken oder Antworten zu suggerieren.320 Diese Vorgehensweise hat sich insgesamt als ertragreich herausgestellt. Die Kinder wussten durch die Ankündigung, wann die Interviews stattfinden würden, waren kooperativ, und viele erläuterten ihr Bild sehr engagiert. Die Atmosphäre in den Gesprächen war angenehm und freundlich, sodass kein Kind einen angespannten Eindruck machte. Wenn etwas nicht gewusst wurde, gaben die Kinder das offen zu. Es scheint eine gute Voraussetzung gewesen zu sein, dass die Untersuchende als Praktikantin die Kinder recht gut kannte und ihnen vertraut war, die Kinder jedoch auch wussten, dass sie nicht für ihre Benotung verantwortlich ist und auch nicht längerfristig an der Schule bleiben würde. Die Aussagen der Interviews sind vor diesem Hintergrund als recht zuverlässig anzusehen. Die Auswertung der so gewonnenen Daten kann sich an den Methoden der qualitativen Sozialforschung orientieren. Mit der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring oder der Datenanalyse im Sinne der Grounded Theory liegen zwei bewährte Ansätze vor, die dazu dienen, große Datenmengen im Sinne einer »induktive[n] Kategorienbildung«321 und nicht einer theoriegeleiteten Interpretation auszuwerten. Auch wenn diese Vorgehensweisen wichtige Merkmale im angemessenen Umgang mit Datenmaterial aufzeigen, so passen die Methoden doch nicht recht auf das eher kleine Sample, das dieser Untersuchung zu Grunde liegt. Das Prinzip des Vorrangs der Bilder und Interviewaussagen vor Hypothesen oder erwarteten Antwortschemata gilt jedenfalls auch für die hier 320 Daher wurden bei den Nachfragen, soweit es möglich war, die von den Kindern verwendeten Worte, bzw. Umschreibungen benutzt. Beispielsweise wurde nicht gefragt: »Warum guckt Gott hier so fröhlich?«, sondern: »Warum guckt Gott so, wie er guckt?« 321 Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 472.
4.1 Fragestellung und Vorgehensweise der Untersuchung
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durchzuführende Analyse. Das Identifizieren von sogenannten »in-vivoCodes«322 soll den ersten Schritt der Auswertung der Interviews darstellen. So steht zu Beginn der Analyse eine »materialorientierte Bildung von Auswertungskategorien«323. Aufgrund der sorgfältigen und mehrmaligen Lektüre der Interviews kommt es zu einer »Zusammenstellung der Auswertungskategorien zu einem Codierleitfaden«324. Mithilfe dieses Codierleitfadens, im Falle dieser Untersuchung sind dies Gott zugeschriebene Attribute, werden nochmals alle Interviews durchgesehen und codiert, um dann eine Übersicht über die inhaltlichen Aussagen über Gott zu gewinnen. Aufgrund der geringen Datenmenge konnten alle Arbeitsschritte an allen Interviews durchgeführt werden. Das Codieren wurde für die Ergebnisse von t1 mithilfe der Software MaxQData durchgeführt, es stellte sich aber heraus, dass der Arbeitsaufwand für diese computergestützte Auswertungsmethode in keinem Verhältnis zur gewonnenen Arbeitserleichterung stand. Die Ergebnisse von t2 wurden daher ohne technische Unterstützung ausgewertet.
Zwischen t1 und t2 waren fast vier Jahre vergangen, die Schülerinnen und Schüler der ehemaligen sechsten Klasse waren wie bereits erwähnt inzwischen auf vier zehnte Klassen verteilt worden. Nach einer erneuten Kontaktaufnahme und der Vorstellung des zweiten Teils der Untersuchung erklärten sich insgesamt 21 Schülerinnen und Schüler bereit, daran teilzunehmen. Während der Unterrichtszeit kamen die Schülerinnen und Schüler in einem Klassenzimmer zusammen, um nach einer kurzen Einführung und einem Element der allgemeinen Vertrauensbildung ein zweites Mal ihre Vorstellung von Gott darzustellen. 325 Dazu wurde ihnen unter dem gleichen Titel wie bei t1 (»Mein Bild von Gott«) die Möglichkeit gegeben, dieses entweder aufzumalen oder aufzuschreiben. Das Malen eines Bildes ist für die Klassenstufe 10 als eher ungewohnte Arbeitsform anzusehen, und daher wurde als Alternative das Schreiben hinzugenommen.326 Diese Möglichkeit hat allerdings keiner der 21 Jugendlichen ergriffen. Möglicherweise war ihnen die Form des Malens von t1 noch so vertraut, dass sie dabei bleiben wollten. Ihnen stand dafür das gleiche Material wie bei t1 zur Verfügung: schwarzes Tonpapier sowie Wachsmalkreiden und Pastellkreiden. Außerdem benutzen sie, wie bei t1, ihre eigenen Farbstifte. Am folgenden Tag wurden 322
Böhm, Theoretisches Codieren, 478. Schmidt, Analyse, 448. 324 A.a.O., 451. 325 Trotz der Nachteile des Settings in der Schule sprach die Vertrautheit der Jugendlichen mit dem Umfeld sowie die Praktikabilität für eine wiederholte Untersuchung in diesem Rahmen. 326 Auch die Arbeit mit Knete oder das Erstellen einer Materialcollage wurden in Betracht gezogen, aber wegen der ebenso mangelnden Vertrautheit der Zehntklässler mit diesem Materialien und Methoden verworfen. 323
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
in der schon bekannten Form Einzelinterviews zu den Bildern geführt, welche zur Transkription aufgenommen wurden. In den Interviews zeigten sich die Jugendlichen zum großen Teil sehr vertrauensvoll und mitteilsam. Sie erklärten ihre Vorstellungen unbefangen und berichteten auch ehrlich von ihren Zweifeln und Anfragen. Außerdem genossen einige die ihnen zuteilwerdende Aufmerksamkeit sichtlich. Die Interviews begannen jeweils mit einer Beschreibung des Bildes durch die Jugendlichen. Anhand von genannten Begriffen wurden dann Rückfragen gestellt, die die Elemente des Bildes genauer klären sollten. Die Jugendlichen gingen in diesem Teil des Interviews teilweise nur knapp auf ihr Bild und ihre Vorstellung von Gott ein, teilweise berichteten sie aber auch ausführlich. War es notwendig, so wurden die Jugendlichen nach weiteren Eigenschaften, die sie Gott zuordnen würden, gefragt. So ging das Gespräch in beiden Fällen über das auf dem Bild Dargestellte hinaus. Im zweiten Teil des Interviews wurden die Schülerinnen und Schüler mit ihrem Bild von t1 konfrontiert. Sie wurden zunächst gebeten, es aus der Erinnerung zu beschreiben, was vielen von ihnen gelang. Dann wurde es ihnen vorgelegt, und sie konnten sich, ggf. durch Hilfe, erinnern, welche Erläuterungen sie bei der ersten Untersuchung dazu abgegeben hatten. Im nächsten Schritt sollten sie die beiden vorliegenden Bilder miteinander vergleichen und auf Ähnlichkeiten und Unterschiede hinweisen. Sie erklärten, wo sie Kontinuitäten und wo Veränderungen in ihrer Vorstellung von Gott sehen. Abschließend wurden sie gefragt, wie sie die Veränderung oder die Kontinuität begründen. Dem Interview ist im Vergleich zu den Bildern bei t2 ein größerer Stellenwert beizumessen als den Bildern. Wie gezeigt werden wird, gehen die mentalen Vorstellungen von Gott weit über das hinaus, was die einzelnen Jugendlichen auf ihrem Bild darstellen. Die Auswertung der Bilder und Interviews richtet sich nach den für t1 beschriebenen Methoden.
4.2 Einzelfallanalysen Der folgende Abschnitt soll fünf Kinder bzw. Jugendliche und ihre individuellen Vorstellungen in den Fokus stellen. Bei der Auswahl der Einzelfälle waren zwei Aspekte leitend: Einerseits soll ein Einblick gegeben werden in die Bandbreite der Motive, die bei den Bildern und Interviews von t1 und t2 vorgekommen sind. Zum anderen sollen auch unterschiedliche Beispiele für die Haltung der Jugendlichen gegenüber ihrem Bild von t1 gezeigt werden. Hinzu kommt noch das Kriterium, dass solche Fälle ausgewählt wurden, in denen das Interview ausreichend Informationen zu einer angemessenen Deutung bietet.
4.2 Einzelfallanalysen
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Bei t1 stehen die Bilder im Zentrum der Analyse und werden von den Aussagen im Interview ergänzt. Die Vorgehensweise hierbei richtet sich nach den in Kapitel 3.4 dargelegten Auswertungshinweisen von Hilger und Rothgangel. Bei t2 spielt das Bild eine deutlich geringere Rolle als das Interview. Deshalb werden die Bilder von t2 knapper vorgestellt und dafür eine ausführlichere Analyse des Interviews durchgeführt. Die Gesamtinterpretation nimmt Aspekte aus beiden Bildern und Interviews auf. 4.2.1 Fabian – Gott als räumlich und zeitlich Allgegenwärtiger Rekonstruktion der Datengenerierung Der Entstehungszusammenhang des Bildes und des Interviews sowie die Kriterien zur Auswahl der Bilder sind schon dargelegt worden. Leider können keine Angaben zum Entstehungsprozess gemacht werden, da dieser nicht beobachtet wurde.327 Formulierende Interpretation – Nachvollzug der Äußerung t1 Fabians Bild328 ist mit Buntstiften gemalt. Es zeigt in der Mitte eine kleine, mit Bleistift vorgezeichnete und orange ausgemalte rechte Hand. Die Hand ist schräg nach oben gerichtet, und ihre Fingernägel sind mit Bleistift eingezeichnet und schwach ausgemalt. Die Zeichnung ist nicht besonders akkurat, die Proportionen erscheinen jedoch stimmig. Die Hand stellt das Zentrum eines mit Bleistift vorgezeichneten, unregelmäßigen Kreises dar. Dieser ist mit starkem Farbauftrag gelb angemalt. Vom Kreis gehen unregelmäßige, leicht gebogene Strahlen aus, so dass das Gesamtbild an eine Sonne erinnert. Sie sind jeweils aus mehreren Strichen in Gelb und einem Strich in Orange gemalt. Manche Strahlen berühren den Innenkreis oder den Außenrand des Bildes, manche nicht. Die Strahlen machen den Eindruck, als hätte Fabian sie mit wenig Sorgfalt hinzugefügt. Insgesamt ist ein schlichtes Bild aus hellen Farben entstanden. 327
Dies gilt genauso auch für Clemens, Henrike, Vincent und Wiebke, weshalb auf den Bereich Rekonstruktion der Datengenerierung bei ihnen nicht eingegangen wird. 328 Alle Bilder finden sich in einem separaten Bogen in farbiger Abbildung.
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
In einem recht kurzen Interview erklärt329 Fabian zu seinem Bild, dass er »die Hand vom Gott« dargestellt habe. Diese sei »über die ganze Welt und über alle Menschen« ausgestreckt und schütze sie. Sein Motiv habe er ausgewählt, denn die »Sonne, die strahlt da überall hin«. Das hält Fabian für eine passende Darstellung Gottes, weil »praktisch Gott alle schützt. Und überall.« Fabian führt nicht aus, was das konkret bedeutet. »Weil meine Einstellung immer noch so ist«, ist Fabian sich sicher, dass er auch zum Zeitpunkt des Interviews, sechs Monate nach dem Malen dieses Bildes, wieder ein ähnliches Bild von Gott malen würde. Reflektierende Interpretation – Rekonstruktion der Form t1 Im Zentrum von Fabians Bild liegt die Hand, die wiederum das Zentrum einer Sonne darstellt. Die gelbe Sonne hat eine Korona aus 26 Strahlen, die das Bild bis auf die äußeren Ecken recht regelmäßig ausfüllen. Fabian hat den Platz auf seinem Bild gleichmäßig ausgenutzt. Nach Krenz spricht dies für einen gleichmäßigen Bezug auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie auf Handeln, Fühlen und Denken.330 Das Zentrum der Sonne liegt nicht ganz in der Mitte des Bildes, sondern etwas unterhalb davon. Es entsteht dennoch ein ausgewogener Eindruck. Fabian benutzt für sein Bild, abgesehen von den Bleistiftlinien zur Orientierung, nur die Farben Gelb und Orange. Diese verwendet er mit mittlerem bis leichtem Farbauftrag. So weist sein Bild noch viele schwarze Flächen auf und wirkt nicht so hell wie andere SonnenBilder der Untersuchung. Insgesamt ist Fabians Bild nicht sehr sorgfältig gezeichnet: Die Strahlen der Sonne bestehen aus unregelmäßigen Strichen, das Zentrum der Sonne ist ein unregelmäßiger Kreis, der mit wenig Sorgfalt ausgemalt ist. Auch die Hand ist lediglich schwach zu erkennen und wiederum nur grob ausgemalt. Es macht den Eindruck, als hätte Fabian sich mit seinem Bild nicht sehr viel Mühe gegeben. Auch im Interview ist Fabian nicht besonders engagiert. Er erklärt knapp seine Darstellungsabsicht, ohne weiterführende Erläuterungen. 329 Hilger und Rothgangel sehen für diesen Arbeitsschritt vor, die Aussagen der Kinder nachzuerzählen. Vgl. Hilger/Rothgangel, Wahrnehmungsschulung, 271. Wie in den Beispielen erkennbar, ziehen sie allerdings auch keine regelrechten Interviews hinzu, sondern beschränken sich auf Einzelkommentare der Kinder beim Malen. Im hier gegebenen Falle schien mir eine leicht veränderte Vorgehensweise angebracht. Da der Schritt »Formulierende Interpretation« völlig auf die Wahrnehmung des Dokuments, also Bild und Text fokussiert sein soll, werden hier noch Zitate aus den Interviews aufgenommen. So wird deutlich, welche speziellen Ausdrücke das Kind selbst benutzt. In den weiteren Schritten, die der Deutung dienen, wird auf Zitate verzichtet. 330 Krenz zufolge stehen verschiedene Bereiche in Kinderbildern für verschiedene Ebenen. So bezieht sich das linke Bilddrittel auf die Vergangenheit, das mittlere auf die Gegenwart und das rechte auf die Zukunft. In der Waagrechten steht das untere Drittel für die Ebene des Handelns, die Mitte für das Fühlen und das obere Drittel für das Denken. Vgl. Krenz, Kinderzeichnungen, 99–105.
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Fabian greift auf zwei beliebte Symbole zurück: Die Hand, die Gottes Schutz für die Menschheit ausdrücke, und die Sonne, die laut Fabian Gottes Omnipräsenz illustriere. Diese beiden Eigenschaften Gottes seien ihm wichtig, aber er führt nicht genauer aus, was er darunter versteht. Zusammenfassende Interpretation t1 Fabians Bild und seine Erläuterungen dazu zeigen, dass die Frage nach Gott für ihn recht knapp zu beantworten ist. Seine Gottesvorstellung ist geprägt von der Überzeugung, dass Gott seine Menschen schützt, und zwar an allen Orten auf der Erde. Um dies auszudrücken, kombiniert er zwei häufig vorkommende Motive: die Hand und die Sonne. Anders als viele andere Schüler in der Untersuchung geht er beim Motiv der Sonne nicht ausdrücklich auf deren lebensspendende Kraft ein. Er bezieht sich lediglich darauf, dass ihre Strahlen an jeden Ort gelangen, und sieht darin eine Parallele zu Gottes allgegenwärtigem Wirken. Insgesamt sieht Fabian wenig Erklärungsbedarf bei seinem Bild. Er ist ein freundlicher, aufgeschlossener Junge, der sich nicht grundsätzlich verschlossen verhält. Seine knappen Antworten weisen eher darauf hin, dass diese beiden Eigenschaften Gottes, Allgegenwart und schützende Wirkung, für ihn ganz selbstverständlich sind. Aufgrund seiner Aussagen im Interview liegt es nahe, Fabians Bild als Symbol für Gott zu deuten und nicht als ein Abbild. Wenn er beispielsweise erklärt, dass Gott wie die Sonne überall hingelangt, so ist davon auszugehen, dass er wichtige Eigenschaften Gottes in seinem Bild umgesetzt hat, nicht jedoch der Ansicht ist, dass Gott so aussehe, wie er es dargestellt hat. Formulierende Interpretation – Nachvollzug der Äußerung t2 Fabians Bild vom zweiten Untersuchungszeitpunkt ist mit der Überschrift »Mein Bild von Gott« versehen, die in orange an den oberen Rand des hochkant liegenden Blattes geschrieben ist. Das Bild selbst ist im Querformat dargestellt. Es handelt sich um einen Regenbogen. Von unten nach oben hat Fabian dafür die Farben weiß, blau, grün, gelb, orange und rot verwendet. Bis auf die unterste Farbe, weiß, entspricht dies dem charakteristischen Farbspektrum eines Regenbogens. Die Striche sind recht grob gesetzt und zum Teil etwas verwackelt. Der Bogen ist nicht ganz symmetrisch, sondern auf der linken Seite breiter und steiler als auf der rechten. Er endet an den seitlichen Rändern des Blattes, berührt den »Boden« also nicht. So entstehen unterhalb und oberhalb des Regenbogens freie Streifen auf dem Blatt. Fabian hat sein Bild mit Wachskreiden gestaltet, daher sind ihm keine besonders feinen Zeichnungen möglich.
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
Reflektierende Interpretation – Rekonstruktion der Form t2 Betrachtet man die Struktur des Bildes, so stellt sich das Blatt zweigeteilt in einen Textteil im Hochformat und einen Bildteil im Querformat dar, getrennt durch den Strich, mit dem die Überschrift unterstrichen ist. Der Regenbogen reicht über die ganze Breite des Bildteiles. Im unteren Bildteil ist ein schmaler Streifen nicht bemalt, im oberen Bildteil ist ein doppelt so breiter Streifen freigelassen. Im unteren rechten Rand hat Fabian sein Bild mit seinen Initialen signiert.331 Das Bild wirkt insgesamt sehr ausgewogen und positiv. Die Farbauswahl ist fröhlich, und der Verlauf der Farben ist harmonisch abgestimmt. Der Regenbogen wird mittig im Bild präsentiert und schließt gerade an den Seiten ab, dies vermittelt Stabilität, obwohl es im Bild keinen »Boden« gibt. Interview t2 Fabian gibt im Interview ausführliche Erläuterungen zu den Schwierigkeiten, mit denen er sich im Produktionsprozess konfrontiert sah. Zu Beginn »wusste ich nicht, was malen«. Fabian erklärt, dass er dann überlegt habe, welche Eigenschaften Gottes ihm wichtig seien. Zentral sei für ihn Gottes Omnipräsenz. So habe er zunächst Wasser malen wollen, um dieses Merkmal darzustellen. Dabei sah er jedoch Schwierigkeiten bei der zeichnerischen Umsetzung: »Aber das war halt schwer, soll ich einen Fluss malen oder so? Dann erkennt man es auch nicht so wirklich.« Deshalb habe er sich anders entschieden und einen Regenbogen gemalt. Das gewählte Motiv macht für ihn deutlich, dass Gott »eigentlich schon immer da [war]. Er hat keinen Anfang und kein Ende, praktisch wie ein Regenbogen.« Von der lokalen Omnipräsenz Gottes hat sich Fabian also wegen der besseren Umsetzbarkeit wegbewegt und bezieht sich schließlich stärker auf Gottes zeitliche Allgegenwart und die Tatsache, dass man ihm »keinen Anfang und kein Ende« zuordnen kann. Für Fabian ist das »Vertrauen, dass er immer da ist«, wichtig. Außerdem betont Fabian, dass Gott »Wunder vollbringen kann«. Er geht davon aus, dass »die meisten« Menschen diese Ansicht teilen, ihm ist jedoch bewusst, dass dies vom Glauben der betreffenden Person an331
Zur Wahrung der Anonymität wurden die Initialen für den Druck aus dem Bild entfernt.
4.2 Einzelfallanalysen
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hängig ist. Ob jemand an Gott glaubt, hängt für Fabian eng mit der Erziehung im Elternhaus zusammen, aber »es kommt halt auch immer auf den Mensch selber drauf an. Ob er das glauben will.« Fabian räumt ein, dass dies nicht jedem leichtfällt: So seien die Wunder Jesu »halt auch wirklich schwer zu begreifen«. Für Fabian biete die Bibel aber eine vertrauenswürdige Grundlage: »Wenn man eigentlich mal die Bibel zwischen den Zeilen liest, dann steckt da schon was Wahres dahinter«. Im Gespräch mit Fabian wird also deutlich, dass er sich über religiöse Fragestellungen Gedanken macht und sich bereits mit der Entstehung von religiösen Überzeugungen auseinandergesetzt hat. Es zeigt sich, dass das Thema Gott für ihn eine große Rolle spielt. Die Tatsache, dass er seine Vorstellung von Gott recht schlicht und knapp darlegt, darf also nicht dazu verleiten, davon auszugehen, dass sie für Fabian keinen besonderen Stellenwert hat. Fabian findet im Vergleich seiner Bilder von t1 und t2, dass sie einander sehr ähnlich sind. Ihm sind bei beiden Untersuchungszeitpunkten die gleichen Merkmale Gottes wichtig, auch wenn er sie in anderen Motiven präsentiert. Er begründet diese Konstanz so: »Weil ich schon immer mit der Einstellung gelebt habe. Und die lebe ich auch noch weiter. Ich denke, wenn Sie das in fünf Jahren noch mal machen, male ich wieder ein ähnliches Bild.« Fabian rechnet also nicht damit, dass sich an seiner Vorstellung von Gott einmal etwas ändern könnte. Einbezug der Sozialisation Fabian wurde wie alle seine Mitschüler konfirmiert. Er berichtet, dass er und seine Eltern regelmäßig, ca. alle sechs bis acht Wochen, den Gottesdienst besuchen. Als Kind habe er eine Jungschar besucht, mittlerweile nehme er aber nicht mehr an kirchlichen Angeboten für Jugendliche teil. Im Interview sagt er, dass das Elternhaus bei der Ausprägung von religiösen Vorstellungen eine große Rolle spielt. Man kann also davon ausgehen, dass er auch für sich persönlich die religiöse Erziehung in der Familie als prägend erlebt hat. Zusammenfassende Interpretation von Bildern und Interviews beider Untersuchungszeitpunkte Fabian bereitet es offenbar keine Schwierigkeiten, seine Vorstellung von Gott zu benennen: Gott ist der, der immer da ist und der die Menschen schützt. Fabian setzt diese Vorstellung von Gott bei den beiden Untersuchungszeitpunkten zeichnerisch verschieden um und kann auch Alternativen zu den ausgewählten Motiven nennen. An seinem Beispiel lässt sich erkennen, wie sehr der Zugang zu Gottesvorstellungen von Jugendlichen über Zeichnungen von Gott von den zeichnerischen Fähigkeiten beziehungsweise dem Zutrauen in die eigene Malkompetenz beeinflusst wird. Im Interview teilt Fabian seine Unsicherheit diesbezüglich mit und zeigt, dass er sich bei der Motivwahl danach habe richten
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
müssen, welches Bild er sich zu malen zugetraut hat. Dabei ging er so vor, dass er, von wichtigen Eigenschaften Gottes ausgehend, ein passendes Symbol gesucht hat. Die mentale Vorstellung von Gott ist also für ihn auch unabhängig vom konkreten Bild eindeutig und gut zu fassen. Mit großer Selbstverständlichkeit drückt er diese sprachlich aus und sieht keinen großen Erklärungsbedarf. So nennt er keine Beispiele oder Veranschaulichungen, wie er sich Gottes Omnipräsenz oder seine schützende Wirkung vorstellt. Dies hängt eventuell auch damit zusammen, dass Fabian davon ausgeht, dass die meisten Leute seine Ansicht teilen, es also keine Notwendigkeit zur Erklärung oder Rechtfertigung gibt. Hier spricht er aus der Position eines religiös sozialisierten Jugendlichen. Eine Verunsicherung durch Erfahrungen mit Leid als Zeichen von Gottes mangelndem Eingreifen gibt Fabian anders als manche seiner Mitschüler nicht zu erkennen. Er identifiziert sich bei den Interviews vorbehaltlos mit seinen Zeichnungen und Aussagen. Auch bei t2 erkennt er eine große Kontinuität in seinem Nachdenken über Gott. Er geht nicht davon aus, dass sich an seiner Einstellung zur Gottesfrage einmal etwas verändern wird. 4.2.2 Vincent – Gott als Sonnengesicht mit dunklen Aspekten Formulierende Interpretation – Nachvollzug der Äußerung t1 Vincent hat sein Bild mit Buntstiften gemalt. Er benutzte die Farben Gelb, Orange, Rot, Weiß und Schwarz332, wobei die Farben nicht sehr stark aufgetragen sind.333 In der Mitte des Bildes ist ein Gesicht erkennbar. Die Augen bestehen aus zwei horizontalen weißen Strichen, die durch kurze orangefarbene Striche oval umrandet sind, wodurch eine Augenhöhle angedeutet wird. Eine nach oben gerichtete Hand stellt die Nase dar. Ihre Kontur ist orangefarben gezeichnet 332
Auf der Farbkopie erscheinen im Strahlenkranz auch einzelne schwarze Striche. Da Vincent ausdrücklich sagt, dass schwarz keine passende Farbe für Gott sei, ist es möglich, dass hier (wie bei anderen Bildern) in der Kopie die Originalfarben nicht ganz getroffen werden. Eventuell handelt es sich um ein dunkleres Rot. Dies würde sich in das Spektrum der Farben, die Vincent ausgewählt hat, einreihen. Es könnte allerdings auch sein, dass Vincent tatsächlich schwarz verwendet hat. Im Folgenden wird der Unsicherheit halber von einer dunklen Farbe gesprochen. 333 Krenz deutet einen schwachen Farbauftrag als Zeichen von Zurückhaltung. Vielleicht ist hierin ein Hinweis auf Vincents Unsicherheit beim Malen zu erkennen. Vgl. Krenz, Kinderzeichnung, 93.
4.2 Einzelfallanalysen
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und weiß schraffiert. Sie ist nicht ausgemalt, in ihrem Innern sind aber rote Linien zu erkennen, die an Handknochen oder an die Blutbahnen im Innern einer Hand erinnern. Der Mund ist durch zwei schmale, rechts leicht geöffnete Lippen aus roten und orangefarbenen Strichen dargestellt und liegt etwas schräg. Auch er ist nicht ausgemalt. Weitere Merkmale, wie Haare oder Ohren, hat das Gesicht nicht. Eine runde Fläche um Augen, Nase und Mund bleibt schwarz. Außen an diesem schwarzen Kreis setzt ein Strahlenkranz aus vielen gelben, roten, orangefarbenen, weißen und dunklen Strichen an, die unregelmäßig übereinander liegen. Sie reichen zum Teil bis zum Rand des Blattes, zum Teil enden sie kurz davor. Die einzelnen, leicht gebogenen Linien wurden innen angesetzt und schwungvoll nach außen durchgezogen. Vincent erläutert sein Bild folgendermaßen: Außen habe er »eine Art Sonne« gezeichnet, innen eine Hand. Die Sonne habe er ausgewählt, weil sie »alles am Leben hält«. Implizit gibt er damit zu erkennen, dass er die Sonne als Symbol für Gott wählt, weil auch dieser Leben erhält. Die Hand stehe dafür, dass Gott alle Menschen beschützt. Dabei wählt er stets die dritte Person, spricht nicht davon, dass Gott ›uns‹ oder ›mich‹ schützt. Nach der Auswahl der Farben gefragt, erklärt Vincent, dass die hellen Farben gut zu Gott passen. Dieser sei »nicht so dunkel, wie schwarz oder so grau ist, mehr so hell.«. In dunklen Farben könne er nicht angemessen dargestellt werden, denn das »sind ja eher so böse Farben«. Vincent lokalisiert Gott im Himmel. Von dort beobachtet er die Welt und wirkt auch auf sie ein: Er »passt halt auf, dass nix passiert.« Auf welche Weise er dies tut, sagt Vincent nicht. Er ist zudem weiterhin von seinem Bild überzeugt, er würde Gott auch zum Zeitpunkt des Interviews noch so darstellen. Reflektierende Interpretation – Rekonstruktion der Form t1 Die Anregungen zum Lesen bildersprachlicher Codes nach Hilger und Rothgangel können auf Vincents Bild nur zum Teil angewendet werden. Einiges lässt sich jedoch feststellen. Das Bild weist drei Zonen auf: im inneren schwarzen Kreis das Gesicht, den hellen Strahlenkranz als äußeren Kreis und den schwarzen Rahmen. Dadurch ist die Struktur des Bildes sehr ausgewogen. Wenn man die von Krenz angesprochenen drei Persönlichkeits- und Zeitebenen beachtet, so sind hier sowohl Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als auch Handeln, Fühlen und Denken gleichermaßen angesprochen. Die balkenartigen Augen teilen das Bild in eine obere und eine untere Hälfte. Der genaue Mittelpunkt des Bildes liegt allerdings etwas tiefer, an der Spitze des Mittelfingers. Der schwungvoll gezeichnete Strahlenkranz vermittelt Bewegung nach außen. Für das Gesicht verwendet Vincent warme Farben, vor allem Rot, das laut Krenz sowohl für Lebendigkeit und Liebe als auch für Gefahr
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
und Hass stehen kann334, sowie Orange und Weiß. Der Strahlenkranz ist hauptsächlich gelb und orange gestaltet. Auch etwas Weiß und ein wenig Rot wurde benutzt. Vereinzelte Strahlen in einer dunklen Farbe sind am Schluss aufgetragen worden. Insgesamt ist der Strahlenkranz dennoch der hellste Bereich des Bildes. Dass mit den hellen Farben etwas Positives verbunden wird, lässt das Interview erkennen. Wenn man die Mimik des gezeichneten Gesichtes betrachtet, kommt man allerdings nicht zu einem positiven Befund. Anders als die drei anderen Kinder, die ein Sonnengesicht als Motiv gewählt haben, malt Vincent seiner Sonne kein lachendes Gesicht. Die Augen wirken wie zugekniffen. Der schmallippige, leicht geöffnete Mund liegt etwas schräg im Vergleich zur Linie der Augen und des Blattrandes. In seinem Innern ist es schwarz. Wenn das Gesicht, wie Vincent sagt, die Erde betrachtet, so kann man nicht davon sprechen, dass es sie liebevoll, freundlich oder besorgt ansieht. Sein Blick wirkt distanziert und gleichgültig, grimmig und bedrohlich. Man muss sich fragen, ob dieser negative Eindruck von Vincent vielleicht gar nicht beabsichtigt wurde, sondern auf seine begrenzten zeichnerischen Fähigkeiten zurückzuführen ist. Ein Blick auf die anderen Bilder von Sonnengesichtern zeigt jedoch, dass hier mit weniger künstlerischem Engagement eindeutig freundlichere Gesichter entstanden sind. Da er die Hand gelungen zeichnet, ist zu vermuten, dass Vincent sicherlich in der Lage gewesen wäre, den Mund lachend zu gestalten, wenn er das gewollt hätte. Das Ersetzen der Nase durch eine Hand verstärkt den mysteriösen Eindruck, den das Bild hinterlässt. Eine Distanz wird zwar auch im Interview thematisiert, wenn Gott im fernen Himmel lokalisiert wird, hier betont Vincent jedoch ebenso die fürsorgliche Beziehung, die Gott zu den Menschen habe. Er weist am Anfang und am Ende des Gesprächs darauf hin, dass Gott alle Menschen schütze, und dass er derjenige sei, der alles am Leben hält. Es ist also ein gewisser Gegensatz zwischen der Mimik des Sonnengesichtes und den Interviewaussagen festzustellen. Leider wurde Vincent nicht direkt zum Gesichtsausdruck befragt. Vielleicht hätte er die Mimik genauer erklären können, oder es hätte sich herausgestellt, dass ihm gar nicht bewusst war, dass das Gesicht so grimmig wirkt. Zusammenfassende Interpretation Ausgehend von diesen Beobachtungen kann gesagt werden, dass Vincents Bild von Gott gegenläufige Aspekte enthält. Einerseits ist das Bild von hellen, warmen Farben bestimmt, die Vincent positiv deutet. Er bildet eine strahlende Sonne als lebenserhaltende Kraft ab und verbindet dies mit dem Motiv der Hand. Sie steht im Sonnengesicht an Stelle der Nase und damit im Zentrum des Bildes. Damit will Vincent den Schutz 334
Vgl. a.a.O., 95.
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zum Ausdruck bringen, den Gott den Menschen zukommen lässt. Die ausgewogene Struktur des Bildes vertieft diesen harmonischen Eindruck. Andererseits finden sich auch Elemente im Bild, die Gott weniger positiv erscheinen lassen. Der Gesichtsausdruck Gottes ist distanziert bis bedrohlich, die zusammengekniffenen Augen und der schmale, gerade Mund machen einen finsteren Eindruck. Zudem ist im Strahlenkranz erkennbar, dass Vincent sich – entgegen seiner Aussage, Gott müsse in hellen Farben gezeichnet werden, da er nicht böse ist – auch für dunkle Strahlen entscheidet. Möglicherweise weisen diese Eigenschaften des Sonnengesichts auch nicht auf negative Seiten Gottes hin, sondern lediglich auf eine gewisse Verborgenheit Gottes. Die Mimik von Augen und Mund könnte auch so gedeutet werden, dass Gottes Absichten und Gedanken nicht durchschaubar sind. Im Vergleich mit den anderen Bildern von Gott ist jedoch eine deutlich negativere Vorstellung erkennbar. Die Darstellung Gottes als Sonne am Himmel beinhaltet darüber hinaus auch eine gewisse Distanz. Vincent ist ein ruhiger Schüler, der auffiel, weil er im Unterricht sehr nachdenklich, abwesend oder traurig wirkte. Eventuell gab es in seinem Umfeld Dinge oder Situationen, die ihn belastet haben. Sein Bild zeigt sein Vertrauen auf den Leben schenkenden und schützenden Gott, lässt aber auch Unsicherheit und Bedenken gegenüber Gott durchscheinen. Dies könnte die Sorgen widerspiegeln, die er sich macht und die sich auf seine Vorstellung vom fürsorglichen Gott auswirken, was allerdings eine Vermutung bleibt. Dass im Interview die kritischen Seiten nicht zum Ausdruck kommen, könnte dafür sprechen, dass Vincent seine Bedenken nicht bewusst sind. Es wäre aber auch denkbar, dass er seine Zweifel einfach nicht mitteilen möchte, besonders nicht einer Religionslehrerin. Versteht Vincent nun sein Bild als Abbild Gottes oder eher als Symbol? Im Interview hat Vincent dazu keine klare Aussage gemacht. Es gibt jedoch Hinweise dafür, dass er sein Bild symbolisch versteht. Er erklärt, was die Sonne und die Hand zu bedeuten haben. Er habe sie jeweils ausgewählt, weil sie für eine Eigenschaft beziehungsweise Handlungsweise Gottes stehen, nämlich Leben und Schutz. Daher ist wohl nicht davon auszugehen, dass Vincent sein Bild als Abbild Gottes versteht. Beim zweiten Untersuchungszeitpunkt war Vincent nicht mehr Schüler an der Schule der untersuchten Klasse. Er konnte leider nicht dafür gewonnen werden, dennoch wieder an der Untersuchung teilzunehmen. Daher können für ihn auch keine Aussagen zur Entwicklung des Gottesbildes gemacht werden. Da sein Bild und seine Aussagen von t1 aber besonders interessant sind, wurde seine Einzelfallstudie trotzdem hier aufgenommen.
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
4.2.3 Henrike – Gott, der die Erde in der Hand hält Formulierende Interpretation – Nachvollzug der Äußerung t1 Henrikes Bild von t1 ist mit Bleistift vorgezeichnet und sehr sorgfältig und kräftig335 mit Buntstiften ausgemalt. Ein Mann ist im Profil abgebildet. Er hat weiße Haare, blaue Augen, einen roten, geschlossenen Mund, und auch ein Ohr ist zu erkennen. Der Mann trägt ein langes, langärmliges rotes Gewand, das bis zur Mitte der Unterschenkel reicht. Seine Beine sind hautfarben angemalt, wie auch Gesicht und Hand. An den Füßen trägt er grüne, halbhohe Schnürschuhe. Durch die Abbildung im Profil sieht man nur einen, den linken, Arm des Mannes. Dieser ist waagrecht nach vorn gestreckt, das Gewand liegt daher in Schulterhöhe leicht in Falten. Auf der nach oben geöffneten Handfläche liegt die Erdkugel. Ein exakt gezeichneter Kreis ist mit Kontinenten und dunkelblauen Ozeanen versehen. Die Erdteile sind so gut getroffen, dass man sie erkennen kann: Europa liegt für den Bildbetrachter vorn in der Mitte und ist, wie Asien, grün. Afrika ist braun und Amerika gelb ausgemalt. Von Australien sieht man nur einen schmalen gelben Streifen. Auch die Arktis ist eingezeichnet, passend in weiß. Die Figur steht auf einer eingezeichneten Hilfslinie etwas oberhalb des unteren Bildrandes, Henrike weist aber darauf hin, dass dieser Strich eigentlich nicht erkennbar sein soll. Es ist also kein Untergrund abgebildet, auf dem die Person steht. Außer dem Mann, der die Erde hält, sind oben auf dem Bild wie schmückende Requisiten noch zwei Wolken und eine gelbe Sonne zu sehen. Die Grundform der Sonne ist ein Kreis, der dem der Erde in Größe und Genauigkeit ähnelt. Sie hat ein Gesicht aus Augen, wobei nicht nur die Pupillen gemalt sind, sondern auch die weiße Bindehaut, eine spitze Nase und einen roten, lächelnden Mund. Ihre 13 unterschiedlich langen, ebenfalls gelben Strahlen berühren sie nicht und stehen in regelmäßigen Abständen. 335
Damit verbindet Krenz einen intensiven Gefühlsausdruck. Vgl. Krenz, Kinderzeichnungen, 93.
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Im Gespräch bezeichnet Henrike den Mann gleich zu Anfang als Gott. Sie begründet ihre Motivwahl wie folgt: »Und das habe ich gemalt, weil das ja heißt, dass er sie behält. Also, die ganze Welt in der Hand hält.« Dass die Erde von Gottes Hand gehalten wird, bedeutet für Henrike, »dass er da alle beschützt«, wobei sie wie Vincent in der dritten Person spricht. Dieser Schutz ist für Henrike das wichtigste Merkmal Gottes, zumindest auf diesem Bild. Als Ort, an dem Gott dargestellt ist, nennt sie den Himmel. Die Kleidung Gottes kommentiert Henrike damit, dass Gott nichts Neumodisches trage, sondern seine Kleidung schon so alt ist wie die Erde, denn »als er die Welt gemacht hat, hat er sich das halt gemacht«. Henrike ist sich sicher, dass Gott auf ihrem Bild ein Mann ist. Sie würde ihr Bild von Gott auch zum Zeitpunkt des ersten Interviews wieder so malen. Reflektierende Interpretation – Rekonstruktion der Form t1 Das Bild zentriert sich im rechten oberen Bereich des Blattes. Die übrigen schmalen Streifen links und unten werden nicht bemalt. Die Mitte des Bildes ist zwischen dem Globus und dem Kopf der Figur. Die Bildstruktur weist zwei sich kreuzende Diagonalen auf: Eine reicht von links oben über die beiden Wolken und hat ihr rechtes unteres Ende an Gottes Kopf. Die gedachte Linie von der Erde zur Sonne – die sich in Größe und Form entsprechen – ist die zweite Diagonale, die die untere Wolke streift. Eine direkte Verbindung von Sonne und Erde gibt es aber nicht, denn keiner der Sonnenstrahlen ist so gezeichnet, dass er die Erde treffen könnte. Das Bild ist farbenfroh gestaltet. Gottes Gewand hat die Signalfarbe rot, sein Mund und der Mund der Sonne, die übrigens ähnlich freundlich geschwungen sind, sind auch rot gemalt. Das Blau des Weltmeeres findet sich in Gottes Pupille wieder, eventuell auch in den Augen der Sonne.336 Gottes Schuhe sind im selben Grün gehalten, welches auch Europa und Asien färbt. Das Weiß der Haare Gottes taucht in der Arktis und in den Wolken wieder auf. Amerika und Australien entsprechen farblich der Sonne. Das Hellblau der Wolken entsteht durch das Übermalen von Blau mit Weiß. Bis auf Gottes Hautfarbe und das Braun Afrikas kommt also jede verwendete Farbe in mehreren Elementen des Bildes vor, was einen ausgewogenen Eindruck vermittelt. Rot ist zwar flächenmäßig am meisten verwendet und sticht auch hervor, weil es im Zentrum des Bildes steht, es dominiert die anderen Farben aber keineswegs völlig. Blau kommt etwas häufiger vor als Gelb, Weiß und Grün ungefähr gleich viel, und braun ist nur das proportional zu klein geratene Afrika. Die Person ist etwas rechts der Mitte positioniert. Nach Krenz’ Auslegung steht er damit im Grenzbereich zwischen Gegenwart und Zukunft. Die Profilzeichnung zeigt ihn mit Kopf, Rumpf und Bei336
In der Kopie ist dies nicht genau erkennbar.
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
nen nach links gerichtet. Wenn er sich nach links in Bewegung setzen würde, so könnte dies als Regression, als »Rückschreiten in die Vergangenheit«337 gedeutet werden. Der Arm Gottes ist überproportional lang, hinge er am Körper hinunter, würde er fast bis zum Knöchel reichen. Dies könnte für eine Betonung des Armes sprechen.338 Gottes Blick ist auf die Erde gerichtet. Sein Gesichtsausdruck ist durch das Profilbild nicht genau abzulesen, wirkt aber freundlich und aufmerksam. Das drückt Henrike auch im Interview aus, wenn sie sagt, dass Gott die Erde halte und alle beschütze. Gestik ist auf dem Bild kaum zu erkennen. Die Person scheint trotz des fehlenden Untergrundes fest und sicher zu stehen, ihre Konzentration ist ganz auf die gehaltene Erde gerichtet. Die Figur wird durch die kurzen Haare als Mann identifiziert. Dass die Haare weiß sind, spricht für das hohe Alter Gottes, was sich allerdings nicht in körperlicher Schwäche ausdrückt. Dies will Henrike auch durch die Kleidung betonen: Das Gewand erscheint heute nicht zeitgemäß, was daran liegt, dass Gott es schon gemacht hat, als er die Welt, also alles Existente, erschaffen hat. Dies widerspricht der Ebeneneinteilung von Krenz, was nahelegt, dass diese hier nicht unbedingt zutrifft, oder dass Henrike mit der Lokalisierung Gottes keine zeitliche Dimension verbindet. Nebenbei qualifiziert sie Gott hier als den Schöpfer. Darin ist der Ursprung des fürsorglichen Verhältnisses Gottes zur Welt zu vermuten. Zusammenfassende Interpretation t1 Henrikes Bild von Gott zeigt im Mittelpunkt einen alten, aber kraftvollen Mann im Profil, der auf seinem ausgestreckten linken Arm die Erde hält und sie freundlich anblickt. In seiner Hinwendung zur Erde zeigt sich sein Interesse an ihr. Die farbenfrohe Gestaltung des Bildes vermittelt ebenfalls Freundlichkeit und Wärme. Die sorgfältig gezeichneten Elemente des Bildes stehen, durch ihre Anordnung und durch die gemeinsame Farbgebung, in harmonischer Beziehung zueinander. Inhaltliches Zentrum des Bildes ist das Paar Gott – Erde, bei dem sich Gott ganz in der verantwortlichen Rolle befindet, während die Erde sich halten lässt. Henrike gibt im Interview zu erkennen, dass ihr Gottes Schutz für die Erde wichtig sei. Das Bild zeigt ihn dementsprechend als verlässliche, fürsorgliche Person. Sie gibt den Hinweis, dass von Gott gesagt werde, dass er die Welt in der Hand hält. Wahrscheinlich nimmt sie damit Bezug auf das christliche Kinderlied, dessen anschauliche Vorstellung von Gott ihr wohl die Idee für ihre Motivwahl geliefert hat. Im Gespräch mit Henrike gibt es kaum Indizien dafür, ob sie das Bild als Abbild versteht oder als Symbol. Daher kann diese Frage hier leider nicht beantwortet werden. Die Aussage, dass Gott sich seine Kleidung 337 338
Vgl. Krenz, Kinderzeichnungen, 92. Vgl. a.a.O., 89.
4.2 Einzelfallanalysen
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bei der Schöpfung gemacht hat, könnte darauf hinweisen, dass sie ihr Bild recht ›wörtlich‹ nimmt, dies bleibt aber Spekulation. Formulierende Interpretation – Nachvollzug der Äußerung t2 Henrike gibt ihrem Bild vom zweiten Untersuchungszeitpunkt die Überschrift »Mein Bild von Gott« und gestaltet diese in roten Großbuchstaben. Ihr Bild wird charakterisiert von einer sehr leichten Strichführung und hellen Farben. Sie zeichnet in die Mitte des Blattes mit weißer Farbe frontal eine Person, die lange Haare und einen Vollbart trägt. Der Mund der Person ist durch den Bart verdeckt, dennoch lässt sich ein freundlicher Gesichtsausdruck erkennen. Die Kleidung ist – bis auf das Ende der ebenfalls weiß gezeichneten weiten Ärmel – nicht zu erkennen. Der Mann schaut den Betrachter des Bildes offen an. Er hält eine Kugel vor sich, die seinen Rumpf und seine Hände verdeckt. Die Kugel ist durch die Einzeichnung von Kontinenten als Erde kenntlich gemacht. Erdteile sind skizzenhaft angedeutet, man kann Eurasien, Afrika und Australien erkennen. In den Hintergrund neben den Mann hat Henrike zwei weiße Kreise gemalt, die sie als Planeten bezeichnet. Einer davon hat einen Ring, möglicherweise soll er den Saturn darstellen. Vielleicht beabsichtigt Henrike damit, Gott im Universum zu lokalisieren. In der rechten oberen Ecke ist – als einziges farbiges Element– die Sonne gelb eingezeichnet. Sie hat die Form eines Viertelkreises und ist mit unregelmäßigen gelben Strahlen ausgestattet. Reflektierende Interpretation – Rekonstruktion der Form t2 Henrike rahmt ihr Bild durch zwei weiße Linien oben und eine dickere weiße Linie unten. Das untere Drittel des Bildes wird dadurch abgetrennt und bleibt unbemalt. Der bemalte Streifen teilt sich in die Überschrift und das darunter liegende Bild, welches ausgewogen ausgefüllt wird durch die Planeten und die Sonne. Diese flankieren den Mann in der Mitte. Im Zentrum des Bildes steht der ältere Mann, der die Erde wiederum zentral vor sich nach vorne hält. Der größere Teil seines Kör-
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
pers wird durch die Erde verdeckt. Auffällig ist die sehr schwache Verwendung der weißen und gelben Farbe, die einen zaghaften Bildeindruck entstehen lässt. Interview t2 Im Interview erklärt Henrike zu ihrem Bild, dass sie Gott als einen »älteren Mann« gezeichnet hat. Bei dieser Aussage lacht Henrike. Möglicherweise macht ihre Darstellung sie verlegen. Dass der Mann alt ist, bedeute für sie, dass er weise sei. Sie erläutert, dass Gott alles beobachte und in der Hand halte. Seine Aufmerksamkeit habe er auf die Erde gerichtet, wo er genau beobachte, wie die Menschen leben. Laut Henrike greife Gott zunächst nicht in das Leben der Menschen ein. Zu früheren Zeiten war das ihrer Ansicht nach anders. Als Beispiel zieht sie die biblische Exoduserzählung heran, in der Gott sein Volk aus Ägypten befreite, indem er z.B. bei der Meerteilung direkt eingriff. Heute, meint Henrike, beobachte er jedoch meist nur. Heute könne man nur manchmal beim Gebet merken, dass Gott da sei. Erst später, »wenn die Welt dann untergegangen ist oder so«, werde es zum eindeutigen Handeln Gottes, dem Gericht, kommen. In dieser Abrechnung werde derjenige, der »nicht nach Gottes Willen« gelebt hat und nicht an ihn geglaubt hat, bestraft werden. Dabei geht es Henrike nicht nur um korrektes Verhalten, sondern um die richtige Haltung Gott gegenüber, den Glauben an ihn. Im Gericht ziehen Jesus und Gott einen »Schlussstrich« unter das Leben jedes Einzelnen, und wer darin bestehe, werde »das ewige Leben« bekommen. Was die Konsequenz für diejenigen sei, die im Gericht nicht bestehen, weiß Henrike nicht. Sie ordnet Gott ambivalente Eigenschaften zu: Er sei »streng, aber der ist auch lieb«. In seinem richtenden Handeln verhalte er sich nach Henrikes Meinung gerecht. Sie gibt im Gespräch Anhaltspunkte dafür, dass sie ihr Bild nicht als Abbild versteht. Sie distanziert sich damit von der Darstellung Gottes als älterem Mann, begründet dies aber nicht und nennt keine Alternative. Sie spricht bei t2 nicht mehr von Gott als dem Schöpfer der Erde. Bei der Konfrontation mit ihrem Bild von t1 erklärt sie, dass man hier das gleiche Motiv erkenne: Gott, der »das alles sieht, was auf der Erde passiert und […] die auch in Händen hält«. Sie begründet die große Ähnlichkeit damit, dass ihre Vorstellung von Gott gleichgeblieben sei, weil sie keine Anhaltspunkte in der Bibel gefunden habe, die zu einer Veränderung der Vorstellung geführt hätten. Einbezug der Sozialisation Henrike erzählt, dass Religion in ihrer Familie keine besondere Rolle spiele. Allerdings hat sie ihre Grundschulzeit in einer Freien Evangelischen Schule verbracht. Dort lernte sie viele biblische Geschichten sowie
4.2 Einzelfallanalysen
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das Lied »Er hält die ganze Welt in seiner Hand« kennen. Bis heute ist ihr das eigene Bibellesen wichtig. Zusammenfassende Interpretation von Bild und Interview unter Berücksichtigung beider Untersuchungszeitpunkte Henrikes Vorstellung von Gott hat ihren Ausgangspunkt bei Gottes Freundlichkeit und Aufmerksamkeit den Menschen gegenüber, um die er sich fürsorglich kümmert. Während sie als Kind die schützende Wirkung Gottes noch mit der Tatsache begründet, dass Gott der Schöpfer der Erde sei, spielt dies bei t2 keine Rolle mehr. Durch das Einzeichnen der Planeten in ihr Bild wird Gott in den Kontext des Universums gestellt, was eine leichte Veränderung in ihrer Vorstellung darstellt. Bei dem Bild von t1 war Gott noch ganz auf die Erde und ihre Bewohner fixiert gewesen. Das zweite Bild ist weitaus zaghafter und blasser, was einen Eindruck von Unsicherheit hinterlässt. Außerdem tritt für Henrike beim zweiten Untersuchungszeitpunkt Gottes richterliches Handeln zu seiner Fürsorge hinzu. Sein Eingreifen in das innerweltliche Geschehen wird nicht mehr unmittelbar angenommen, sondern zeitlich verschoben und in Form einer apokalyptischen Abrechnung interpretiert. Henrikes Vorstellung von Gott ist von Gegensätzen und Einschränkungen geprägt, die von einer Unsicherheit zeugen. Ihre in der Kindheit entstandenen Vorstellungen beinhalten, dass Gott bestimmte Anforderungen an das menschliche Verhalten und die Haltung gegenüber ihm stellt. Erfüllt der Mensch diese Erwartungen Gottes, so kann er mit Liebe und Belohnung rechnen. Eine Revision der seit der Grundschulzeit bestehenden Vorstellungen von Gott hat nicht stattgefunden. Auch beim eigenen Bibellesen ist eine Akkommodation ihrer Vorstellung von Gott geschehen. 4.2.4 Clemens – Gott als großes Rätsel Formulierende Interpretation – Nachvollzug der Äußerung t1 Clemens’ Bild ist mit Wachskreiden gemalt. Es zeigt ein großes, exakt gemaltes Fragezeichen, dessen Rand blau vorgemalt und mit schrägen Streifen orange, blau, braun und türkis ausgemalt wurde. Der Punkt des Fragezeichens ist überproportional groß und unten etwas abgeflacht, so dass noch ein schmaler Zwischenraum bis zum Blattrand bleibt. Der Kreis ist durch unterschiedliche Farben (Türkis, Gelb, Rosa, Orange, Violett) in sieben Flächen unterteilt. Am Fragezeichen selbst sind auf beiden Seiten Formen angebracht. Gleichschenklige Dreiecke zeigen mit der Spitze nach außen. Es finden sich auch runde bis ovale Formen, deren Mitte teilweise schwarz ist. Viel größer sind die wie Gliedmaßen wirkenden Verlängerungen, die an ihrem Ende eine dreigliedrige Verdickung haben. Am unteren Ende des Fragezeichens sind schmale, spitz
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
zulaufende Verlängerungen angebracht. Die Formen sind in den Farben gelb, orange, rosa, violett, türkis, blau und braun gemalt. Durch die unteren Verlängerungen berührt das Fragezeichen die Kugel. Der Hintergrund des Bildes ist mit groben Strichen weiß übermalt, so dass viel Schwarz durchscheint. Es fällt auch auf, dass das schwarze Papier recht unordentlich ausgeschnitten und auf weißes Papier aufgeklebt wurde. Clemens gibt im Interview Auskunft darüber, wie sein Bild zu deuten ist. Zunächst weist er auf die vielen langen, am Ende verdickten Gliedmaßen hin, die Hände darstellen sollen. Diese drücken aus, dass »ihm alles gehört.« Die spitzen Dreiecke seien Ohren, mit denen alles gehört werden kann. So könne das Fragezeichen alles bemerken. Die unteren Gliedmaßen stellen Beine dar, mit denen »er« sich überall aufhalten kann. Die runden Formen sollen Augen sein, die alles sehen. Clemens weist darauf hin, dass der Kreis unten die Erde darstelle. Darüber habe er das Fragezeichen gesetzt, denn er »weiß halt nicht, wie er aussieht.«. Die Unsicherheit in der Darstellung wird durch den weißen »Nebel« verstärkt, der das ganze restliche Bild ausfüllt. Clemens ist überzeugt, dass er sein Bild von Gott auch zum Zeitpunkt des Interviews wieder so malen würde. Reflektierende Interpretation – Rekonstruktion der Form t1 Clemens’ Bild ist ganz von dem Fragezeichen dominiert, das recht genau in der Mitte des Bildes platziert ist. Es ist mit den Sinnesorganen Augen und Ohren versehen und hat acht Arme und acht Beine, die schematisch gezeichnet sind. Damit stehen ihm Sehkraft und Gehör, Tastsinn sowie Tatkraft und Beweglichkeit – die Clemens als Allgegenwart deutet – zur Verfügung. Für das Riechen, Schmecken und Sprechen sind keine Organe vorhanden. Bemerkenswert ist, dass für Clemens die Hände Gottes bedeuten, dass er der Eigentümer von allem ist. Von allen anderen Kindern der Klasse wurden Hände als Schutz gedeutet. Auffällig ist auch, dass Clemens die Tatsache, dass Gott alles hört, mit dem Wort
4.2 Einzelfallanalysen
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›mitkriegen‹ umschreibt, was eine negative, bedrohliche Konnotation hat. Die ausgestreckten Arme und die Schraffierung des Fragezeichens geben dem Bild eine gewisse Bewegung, die allerdings nicht in eine bestimmte Richtung weist, man könnte eher von einer Unruhe sprechen. Das Fragezeichen steht genau über der Erde, was die vertikale Achse des Bildes betont. Mit den krebsartigen Beinen läuft das Fragezeichen über die Erde. Damit trägt die Erde sozusagen das ihr übergeordnete Fragezeichen. Dies kann als die genaue Umkehrung der Bilder, auf denen Gott die Erde trägt, verstanden werden. Ist hier nicht die Erde das bodenständige Element, und Gottes Last liegt auf ihr? Die Erde wird von Clemens schematisch dargestellt, er bildet nicht reale Kontinente und Ozeane ab. Die Farbwahl unterscheidet Clemens’ Bild ebenfalls deutlich von den anderen, denn er benutzt viele kühle Farben und solche, die sonst wenig verwendet wurden wie Rosa, Violett, Türkis und Braun. Das Fragezeichen hat Clemens durchdacht ausgestaltet. Die orangefarbenen, blauen, braunen und türkisfarbenen Streifen des Fragezeichens wiederholen sich in dieser Reihenfolge fünf Mal. Bei den Sinnesorganen und Gliedmaßen, die außerdem die Farben Gelb, Rosa und Violett aufweisen, ist keine vergleichbare Regelmäßigkeit festzustellen. Die Augen und Ohren treten jedoch jeweils in gleichfarbigen Paaren auf, die sich allerdings nicht immer direkt gegenüberstehen. Die Farbwahl und die originelle Kombination des Fragezeichens mit einfachen geometrischen Formen gibt dem Bild etwas Geheimnisvolles. Widersprüchlich wirkt das Gegenüber von einer wohlüberlegten Komposition der wiederkehrenden Streifen und Sinnesorgan-Paaren und der recht unsauberen Ausführung. Nicht nur der weiße Hintergrund ist mit einer Grobheit ausgemalt, die den motorischen Fähigkeiten eines Sechstklässlerns nicht entspricht, sondern auch die Arme, Beine und Erdteile. Auffällig ist, dass Clemens im kurzen Gespräch zehnmal das Füllwort »halt« benutzt.339 Dies könnte auf seine Unsicherheit hinweisen. Er kann jedoch die Details seines Bildes alle sinnvoll erklären. Clemens geht nicht auf eine positive Beziehung Gottes zu den Menschen ein. Es wird im Gespräch trotz Nachfrage nicht klar, welche Auswirkungen Gottes Beobachten und Gegenwart auf die Erde hat. Er erwähnt die Bezeichnung »Gott« auch nicht, und sein Bild trägt nicht die vorgegebene Überschrift »Mein Bild von Gott«. Möglicherweise ist darin eine besondere Ehrfurcht vor oder auch Distanz zu Gott zu erkennen, vielleicht war für es Clemens aber auch selbstverständlich, um wen es geht, sodass kein Name genannt werden musste.
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Bei vielen anderen Kindern kommt das Wort ebenfalls oft vor, jedoch selten so häufig wie in Clemens’ Interview, wobei Clemens insgesamt auch etwas mehr gesagt hat als der Durchschnitt der Kinder.
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Zusammenfassende Interpretation t1 Clemens’ Bild macht einen doppelt geheimnisvollen Eindruck. Gott ist durch das Fragezeichen symbolisiert, denn wie er aussieht, weiß Clemens nicht. Der umgebende Nebel intensiviert die Rätselhaftigkeit Gottes. Clemens kennt zwar Eigenschaften Gottes, die er durch Sinnesorgane und Gliedmaßen symbolisiert: Gott hat viele Augen und Ohren, mit denen er alles überwacht, er hat viele Arme, denn ihm gehört alles. Mit seinen vielen Beinen kann er überall zugleich sein. Anders als die anderen Kinder verbindet Clemens mit dem Beobachtet-Werden durch Gott aber keine positiven Effekte für die Erde, beispielsweise Bewahrung. Es macht eher den Anschein, als laste das Fragezeichen auf der Erde. Durch die Farben und die nicht zielgerichtete Bewegung wirkt das Bild kühl und unruhig. Emotional löst das Bild wegen seiner Farben, der Unruhe und dem grob gemalten weißen Hintergrund ein gewisses Unbehagen aus. Clemens spricht nicht ausdrücklich von ›Gott‹, wodurch Skepsis gegenüber der Rolle Gottes in Bezug auf die Erde offenbar wird. Besonders im Vergleich mit den anderen Bildern und Interviews wird deutlich, dass hier keinerlei persönliche Vertrauensaussagen gemacht werden. Als Fazit könnte man formulieren, dass Gott für Clemens ein Rätsel ist, sowohl in seiner Erscheinungsform als auch in seiner Bedeutung für die Menschen. Es ist bereits gesagt geworden, dass Clemens das Fragezeichen und die Sinnesorgane wählt, um bestimmte Eigenschaften Gottes zu versinnbildlichen. Er versteht sein Bild demnach nicht als Abbild Gottes. Formulierende Interpretation – Nachvollzug der Äußerung t2 Clemens’ sehr schlicht gehaltenes Bild vom zweiten Untersuchungszeitpunkt ist mit Buntstiften in hellen Farben gemalt. Es wird dominiert von einem großen Fragezeichen. Das Fragezeichen ist mit breiten Strichen hellblau und weiß ausgemalt. Um es herum hat Clemens in gelber Schrift mehrere Fragen angeordnet: »Kann man seine Anwesenheit überhaupt wahrnehmen«, »Wie sieht er aus«, »Ist er so wie er in der Bibel beschrieben wird«, »Kenne ich ihn wirklich«, »Ist er nur erfunden«. Für all diese Fragen dient das große Fragezeichen in der Mitte als Satzzeichen.
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Reflektierende Interpretation – Rekonstruktion der Form t2 Im Zentrum von Clemens’ Bild steht eindeutig das kühl wirkende hellblaue Fragezeichen, um das Fragen in einer Mischform von Schreibund Druckschrift symmetrisch angeordnet sind, wobei im Zentrum die Frage nach Gottes Aussehen steht. Alle Fragen sprechen über Gott in der dritten Person. Interview t2 Clemens erklärt, dass das Fragezeichen für »Gott und den Glauben« stehe. Clemens ist unsicher, »ob es das wirklich gibt«. Vor allem die Frage, ob Gott so sei, wie er im Alten Testament beschrieben wird, beschäftigt Clemens. Er überlegt, inwiefern die Geschichten vom strafenden Gott auf heute übertragbar seien: »wenn man was Falsches macht, [… ob man] gesteinigt wird«. Clemens bringt diese Überlegungen in einen Zusammenhang mit dem Geschichtsunterricht. Dort habe er gelernt, dass die »alten Götter« der Antike nur erfunden worden seien. Nun frage er sich, ob das auch auf den Gott der Bibel zutreffe. Falls das nicht der Fall sei, wäre es für Clemens nicht plausibel, warum Gott sich nicht konsequenter durchgesetzt habe: »Da hätte er die doch alle steinigen lassen müssen. Weil die nicht an ihn geglaubt haben, sondern an die anderen Götter.« Zudem lassen die unterschiedlichen Überlieferungen der Evangelisten über Jesus Clemens an der Vertrauenswürdigkeit der Bibel zweifeln. Er führt auch die Verbrechen der Nationalsozialisten und die Kriege im Irak und in Afghanistan an und wundert sich, dass Gott hier nicht helfend eingegriffen habe. Andererseits gibt es für ihn auch Anhaltspunkte für die Existenz Gottes und dafür, dass es sinnvoll sei, an ihn zu glauben: »Manchmal, wenn ich jetzt irgendwie gehofft habe, dass er mir hilft oder so, dann [hat] auch wirklich was besser funktioniert.« So ergibt sich für Clemens das Fragezeichen, denn »Ganz sicher bin ich mir / beides nicht. Ob es ihn gibt, oder ob es ihn nicht gibt.« Unter der Spannung dieser Ungewissheit leidet Clemens, er wünscht sich, dass er zu einer eindeutigen Entscheidung käme. Einbezug der Sozialisation Ein Elternteil von Clemens ist ehrenamtlich aktiv in der Kirche, der andere nicht. Clemens berichtet von Gesprächen über den Glauben in der Familie. Diese laufen aufgrund seiner Zweifel und Anfragen nicht konfliktfrei ab. Clemens erzählt, dass er bei diesen Gesprächen Druck empfindet, die biblischen Aussagen über Gott anzuerkennen. Zusammenfassende Interpretation von Bild und Interview unter Berücksichtigung beider Untersuchungszeitpunkte Das Motiv des Fragezeichens bleibt bei Clemens über die Jahre hinweg erhalten. Seine große Unsicherheit in Bezug auf Gott radikalisiert sich
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von t1 zu t2: War es in der Kindheit noch die Frage nach Gottes Aussehen, so wird bei t2 Gottes Existenz als Ganzes in Frage gestellt. Bei Clemens ist die Unsicherheit, unter der er leidet, verbunden mit einem großen Interesse und intensiven theologischen Überlegungen. So zeigt er sich in den Gesprächen jeweils sehr nachdenklich und mitteilsam. Er ist einerseits äußerst reflektiert, hängt andererseits aber auch bei t2 einem sehr wörtlichen Bibelverständnis an. Er konstruiert auf den ersten Blick plausible Gedankengänge (»Wenn Gott wirklich der einzige ist, dann hätte er doch die Götterverehrung der Griechen unterbinden müssen.«), die aber tatsächlich sein Dilemma zwischen Glauben und Zweifeln nur verstärken. Für ihn wird es zum Problem, dass die eigenen Erfahrungen mit Gott und das Gottesbild der Bibel, so wie er es versteht, nicht zusammenpassen. Dies liegt begründet in seiner nicht historisch-kritischen Deutung biblischer, vor allem alttestamentlicher Erzählungen. Clemens beeindruckt jedenfalls durch die Ernsthaftigkeit seiner Auseinandersetzung mit religiösen Fragen und dadurch, wie viel er davon im Interview preisgibt. 4.2.5 Wiebke – vom »durchsichtigen« Gott zu Gott als Solidarität zwischen den Menschen Formulierende Interpretation – Nachvollzug der Äußerung t1 Wiebke hat ihr Bild des ersten Untersuchungszeitpunkts in hellen Farben schlicht gestaltet. Unter der Überschrift »Mein Bild von Gott«, die sie mit einer Blüte verziert hat, malt sie in die Mitte des Bildes eine weiße Person. Die Person hat lange Haare und einen Bart. Sie trägt ein langes Gewand, das einen auffällig großen Kragen hat. Das Gewand bedeckt die Beine der Person bis zu den Unterschenkeln. Darunter erkennt man die Schenkel und Füße der Person, möglicherweise sind auch Schuhe dargestellt. Die Person wendet sich dem Betrachter frontal zu, ihre Arme hängen vor dem Körper nach unten, sie
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legt sozusagen die Hände in den Schoß. Die Hände sind mit angedeuteten Fingern dargestellt. Vielleicht will Wiebke diese auch als Fäuste malen. Der Blick der Person ist auf den Betrachter gerichtet. Augen, Nase und Mund sind recht ausdruckslos ins Gesicht gezeichnet. Eine besondere Mimik ist nicht zu erkennen. Die Umrisse der Person sind kräftig mit weiß gezeichnet, das Gewand ist leicht ebenfalls mit weißer Farbe ausgefüllt. Um die Person herum hat Wiebke mit leichtem Farbauftrag unregelmäßige gelbe Strahlen gemalt und verwischt. Es wirkt, als würde ein Lichtschein von der Person ausgehen. Es gibt keinen Untergrund, auf dem die Person steht. Im Interview erklärt Wiebke, dass sie Gott »so halb durchsichtig« gemalt habe. Dass Gott einen Bart trägt, erklärt sie damit, dass er »halt schon älter ist«. Für sie ist auch selbstverständlich, dass Gott eine besondere Kleidung trage – von ihr dargestellt im Gewand – denn »das ist ja irgendwie Gott. Der zieht ja nicht so eine Hose oder ein T-Shirt an.« Sie erläutert, dass Gott Licht ausstrahle, erklärt aber nicht weiter, was dies für sie bedeute. Des Weiteren macht sie deutlich, dass Gott eine freundliche Mimik habe: »Der steht halt da und lacht.« Reflektierende Interpretation – Rekonstruktion der Form t1 Wiebke hat die Person, die für sie Gott darstellt, sehr zentral in ihrem Bild platziert. Sie verwendet auch keine Ausschmückungen, außer der Blüte bei der Überschrift. Die Person wirkt aufgrund des fehlenden Untergrundes, als schwebe sie. Dies entspricht Wiebkes Erläuterung: »der ist irgendwo da im Nichts«. Genau wie das Bild sehr schlicht gehalten ist und ohne Ausschmückungen auskommt, antwortet Wiebke auch im Interview knapp und gibt wenig zusätzliche Erklärungen ab. Sie gibt Hinweise darauf, dass sie an der Darstellbarkeit Gottes Zweifel hat: »Du kannst ihn halt nicht immer gleich sehen«. An einigen Stellen im Interview zeigt sich eine gewisse Unsicherheit. Wiebke schränkt ihre Aussagen mit »irgendwie«, »irgendwo« oder »halt« ein. Dies könnte darauf hindeuten, dass sie sich mit der Darstellung Gottes und dem Reden darüber schwertut. Jedenfalls weist Wiebke Gott weder im Bild noch im Interview Eigenschaften oder Tätigkeiten zu. Die Haltung der Person im Bild ist neutral. Zusammenfassende Interpretation t1 Wiebke legt beim ersten Untersuchungszeitpunkt ein einfach gezeichnetes Bild vor. Sie stellt eine weiße Person dar, von der ein heller Schein ausgeht. Die Person, die für Wiebke Gott darstellt, erscheint in Mimik und Gestik neutral. So scheint auch Wiebkes Vorstellung von Gott, wie sie sie im Gespräch erläutert, keine konkreten Ausprägungen zu haben. Sie ordnet Gott keine Eigenschaften, Tätigkeiten oder Beziehungen zu. Damit unterscheidet sich ihr Bild von Gott als einem Mann deutlich
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von denen ihrer Mitschüler, die Gott im Kontakt mit der Erde oder einzelnen Menschen darstellen. Wiebke stellt Gott relativ abstrakt dar, wenn auch in Form einer menschlichen Person. Es ist wahrscheinlich, dass Wiebke ihr Bild nicht als Abbild Gottes versteht, wenn sie sich auf Gottes Durchsichtigkeit oder die Tatsache, dass er nicht leicht zu erkennen ist, beruft. Sie will den Unterschied zwischen Menschen und Gott verdeutlichen, indem sie Gott mit besonderer Kleidung ausstattet. Formulierende Interpretation – Nachvollzug der Äußerung t2 Wiebke grundiert ihr Bild mit einer unregelmäßigen gelben Schraffierung in der Horizontalen. Im unteren Teil des Bildes sind es nur wenige gelbe Striche, nach oben hin werden diese stärker, so dass im oberen Teil das Gelb dominiert. Etwas unterhalb des oberen Bildrandes hat sie in weiß drei ineinander verflochtene Striche gesetzt, die wie ein Kabel oder Seil wirken. Sie zeichnet drei Personen, deren Arme nach oben ausgestreckt sind und deren Hände an diesen Linien anliegen. Die Personen sind lilafarben umrissen und ihre Kleider – Hosen, Shirts und Schuhe – sind bunt ausgemalt. Sie haben unterschiedliche Haarfarben aber ähnliche Frisuren. Die Farben der Kleidungsstücke kommen jeweils bei zwei verschiedenen Personen vor. Die Haut der Personen ist orange, in die orangefarbenen Gesichter sind die Augen und lachenden Münder lilafarben eingezeichnet. Rechts von den drei Personen befinden sich zwei orangefarbene Herzen. Reflektierende Interpretation – Rekonstruktion der Form t2 Wiebkes Bild füllt das ganze Blatt und hat zwei Schwerpunkte: Einerseits das gelb-weiße Seil im oberen Teil des Bildes, das über die ganze Länge reicht, andererseits die drei im Zentrum des Bildes angeordneten Personen, die auf einer gedachten Linie nebeneinander stehen. Das Seil, an dem sich die Figuren sozusagen festhalten, stellt die Verbindung zwischen ihnen her. Das kleinere Herz rechts oberhalb des Seiles und das größere rechts unterhalb des Seiles illustrieren diese Verbindung als eine herzliche. Dass die Personen in Bezug zu einander stehen, lässt auch die Farbgebung erkennen: So tragen zum Beispiel die beiden linken Personen Hosen gleicher Farbe, und die Schuhe der mittleren Per-
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son sind im gleichen Grün ausgemalt wie das Oberteil der Person ganz rechts. Insgesamt hat Wiebke das Bild sehr farbenfroh und harmonisch gestaltet. Interview Wiebke erklärt, dass in ihrem Bild eine »Schnur« zu sehen sei, an der die Menschen hängen. Sie stelle die Verbindung zwischen den Menschen dar und sei »etwas Warmes, deshalb ist das da so gelb«. Dies sollen auch die Herzen betonen. Wiebke fügt hinzu, dass dieses Seil auf dem Bild Gott darstellen soll. Sie glaube, dass es Gott gebe, wisse aber nicht »was es ist«. In ihrer Vorstellung ist »es so eine Verbindung […] und halt was Gutes«. Sie vergleicht Gott mit dem Gewissen der Menschen oder dem »Gute[n] im Mensch«. Wenn jemand etwas Falsches getan habe, dann sei es dies, was ihn erkennen lasse »oh Mann, das hätte ich nicht machen sollen«. Es ist ihr wichtig, dass Gott »Gutes tut und nicht Schlechtes«. Angst vor Gott oder vor der Hölle lehnt sie ab. Ein Glaube an Gott, der von solcher Angst geprägt ist oder sich an der Einhaltung von Gesetzen orientiert, sei für sie »oberflächlich«. Stattdessen betont sie, dass »es halt eben was Gutes gibt, und dass […] es auch einen Sinn hat, und […] dass man nicht einfach nur so lebt«. Auf die Frage, worin dieser Sinn bestehe, erklärt sie: »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es gar nichts mehr gibt. Und ich denke, es muss irgendeinen Sinn geben. Und dieser Sinn ist dann halt, sich das zu fragen. Und dann irgendwie, weiß nicht, dann immer so mehr zu erfahren, oder so verschiedene Möglichkeiten auch zu überlegen«. Im Rückblick auf ihre kindliche Vorstellung von Gott sagt Wiebke: »Ich glaube einfach, dass ich da halt noch so total an die Bibel und so geglaubt habe. Und dann habe ich das halt alles so bildlich genommen. […] Damals habe ich mir halt noch nicht so viele Gedanken gemacht.« Mittlerweile habe sie aber viel über die Gottesfrage nachgedacht und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass »das nicht sein kann, dass genau so alles ist«, wie es in der Bibel bzw. im christlichen Glauben beschrieben werde. Daher könne sie sich nicht an eine bestimmte Ausprägung religiöser Überlieferung binden. Dass es Gott gibt, steht für Wiebke allerdings außer Frage. Allerdings möchte sie Gott nicht an eine konkrete Beschreibung binden. Sie verwendet im Interview auch häufig »es« statt »er« oder »Gott« und betont damit Gottes Andersartigkeit. »Es könnte einfach irgendeine Kraft sein oder / die es hier irgendwie nicht gibt. Die halt trotzdem so ein Bewusstsein hat, oder /.« In ihrem Bild drückt sie diese abstrakte Vorstellung von Gott in Form der Solidarität zwischen den Menschen aus. All ihre Überlegungen schränkt Wiebke nochmals ein, wenn sie erklärt: »Ich glaube einfach, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie er ist.« Mit menschlichem Denken kann man nach Wiebkes Ansicht Gott nicht vorstellen.
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
Einbezug der Sozialisation Wiebke hat wenig kirchliche Verwurzelung erfahren und war seit der Konfirmation nicht mehr im Gottesdienst. Allerdings findet sie, es »wäre auch nicht schlecht mal hinzugehen, wegen der Geschichte, die der Pfarrer erzählt«. Ein grundsätzliches Interesse am Gemeindeleben ist also vorhanden. Wiebke hilft auch ab und zu einer Freundin bei der Gestaltung des Kindergottesdienstes aus. Den Religionsunterricht besucht sie nicht mehr, da sie nicht so häufig mit der Bibel arbeiten möchte, wie es dort der Fall sei. Zusammenfassende Interpretation von Bild und Interview unter Berücksichtigung beider Untersuchungszeitpunkte Wiebkes Vorstellung von Gott sticht aus denen ihrer Mitschüler heraus. Als Kind wählt sie ein beliebtes Motiv, eine leicht durchsichtige Person, erläutert diese aber wesentlich zurückhaltender und abstrakter als andere Kinder. Beim zweiten Untersuchungszeitpunkt gibt Wiebke zu erkennen, dass sie sich viele Gedanken über die Frage nach Gott gemacht hat. Sie hat sich von ihren kindlichen »bildlichen« Vorstellungen abgelöst und möchte Gott auch nicht mehr auf die Vorstellungen einer konkreten religiösen Tradition beschränken. Die Vorstellung von Gott als projiziertes schlechtes Gewissen der Menschen ist ihr fremd. Stattdessen versteht sie Gott als Kraft beziehungsweise als eine Art Solidarität und Verbindung unter den Menschen. Damit hat sie sich von einer personalen Vorstellung von Gott vollkommen gelöst. Diese Beschreibung schränkt Wiebke wiederum ein und verweist darauf, dass Gott nicht mit menschlichem Denken fassbar sei. Im Gespräch mit Wiebke werden die Eigenständigkeit ihres Nachdenkens über Gott und ein bemerkenswerter Grad an Reflexion deutlich. Sie nimmt dies auch selbst so wahr und erkennt an sich eine deutliche Weiterentwicklung im Vergleich zu ihren religiösen Vorstellungen aus dem Kindesalter. In nächsten Schritt sollen die Untersuchungsergebnisse im Gesamten betrachtet werden. Dabei werden im Sinne der oben formulierten Fragestellungen häufig vorkommende Motive und Gesprächsinhalte dargestellt, aber es wird auch auf Besonderheiten einzelner Bilder und Aussagen hingewiesen.
4.3 Gesamtanalyse der Untersuchungsergebnisse 4.3.1 Zentrale Motive von Gottesvorstellungen im Kindesalter Bei der vorliegenden Anzahl an Bildern und angesichts des sehr individuellen Charakters der religiösen Vorstellungen ist es nicht sinnvoll, eine
4.3 Gesamtanalyse der Untersuchungsergebnisse
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Typenbildung im Sinne der Methoden der Sozialforschung340 anzustreben. Bei der Analyse der Bilder und Interviews sollen die vorliegenden Vorstellungen stattdessen nach häufig vorkommenden Motiven geordnet, vorgestellt und gedeutet werden. Die Hand In immerhin neun der 25 Bilder spielt die Hand eine Rolle. Drei Bilder zeigen in der Mitte eine Hand, die von einem Strahlenkranz umgeben ist Dennis zeichnet eines dieser Bilder. Er stellt im Zentrum seines Bildes eine kleine, hautfarbene Hand dar. Sie bildet die Mitte einer sonnenähnlichen Struktur, von der gelbe Strahlen nach außen hin das ganze Bild füllen. Seine Zeichnung ist recht schlicht und mit wenig Sorgfalt erDennis t1 stellt. Zwei seiner Freunde wählen ein sehr ähnliches Bild. Darüber hinaus kommt das Motiv der Hand auf zwei Bildern in der Form vor, dass eine Hand die Erde hält. Ähnlich sind zwei Darstellungen einer männlichen Person, die die Erde in der ausgestreckten Hand hält.341 Kais Bild zeigt Gott als breiten, durchsichtigen Geist, von dessen nach vorn gestreckter Hand blaue und grüne Strahlen ausgehen. Auf Vincents Bild ist Gott als Gesicht mit Strahlenkranz abgebildet, wobei an Stelle der Nase eine Hand zu sehen ist. Clemens' Bild präsentiert Gott als Fragezeichen mit vielen Händen. Auch in vier weiteren Bildern ist Gott als Wesen dargestellt, das die Hände ausstreckt oder nach oben hält. Wie ist das Motiv der Hand zu deuten? Die Hand könnte Gottes Tatkraft versinnbildlichen. Ausgestreckte Hände könnten Gottes Macht demonstrieren, wirken zugleich aber auch einladend. Der Blick auf die Interviews verschafft Klarheit darüber, weshalb sich die Kinder für das Motiv der Hand entschieden haben. Von den drei Jungen, die eine Hand mit Strahlenkranz gemalt haben, haben zwei, Fabian und Paul, das Motiv gewählt, weil es zum Ausdruck bringt, dass Gott die Menschen schützt. Der Schutz, den Gottes Hand den Menschen bietet, ist 340
Vgl. Kluge, Typenbildung, 27.34. Die beiden Bilder unterscheiden sich insofern, als Gott auf Henrikes Bild im Profil gezeichnet ist und die Erde ansieht, während er auf Zoes Bild nach vorn blickt und die Erde nach rechts hält. Dies mag mit den unterschiedlichen zeichnerischen Fähigkeiten der beiden zu erklären sein, kann aber auch eine inhaltliche Bedeutung haben. 341
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auch für sehr viele andere Kinder wichtig: Kai betont, dass die Ausstrahlung von Gottes Hand die Menschen beschützt, so dass »jeder den ganzen Tag freudig ist«. Auch Henrike und Vincent finden das Motiv der Hand Gottes passend, weil er die Erde beschützt. Bianca und Sabine haben beide eine Hand gemalt, die die Erde hält, und geben an, sich für dieses Bild entschieden zu haben, weil Gott »auf alle aufpasst«. Er achtet darauf, dass »niemandem was passiert« und dass »wir nichts Schlimmes machen«.342 Dennis wählt zwar das gleiche Motiv wie Fabian und Paul, also die Hand mit Strahlenkranz, sieht darin aber illustriert, dass »Gott halt alles so gemacht hat auf der Welt«. Für ihn steht das Schöpfungshandeln Gottes im Mittelpunkt. Dies äußert auch Zoe, und auch Clemens’ Aussage, dass Gottes Hände zeigen, dass ihm alles gehört, geht in eine ähnliche Richtung. Anhand der Interviewaussagen kann man erkennen, dass die Kinder mit dem Motiv der Hand vor allem zwei Vorstellungen verbinden: Gottes Hand symbolisiert seinen Schutz, den er der Erde und den Menschen bietet. Dies ist eng damit verbunden, dass er die Erde gemacht hat. Alle Bilder, die Gottes Hand darstellen, werden von den Kindern positiv belegt. Dass ›Gott uns in der Hand hat‹, was umgangssprachlich durchaus auch negativ zu verstehen wäre, ist für die Kinder etwas Gutes, Beruhigendes. Die Sonne Ein zweites oft gewähltes Motiv ist die Sonne. Nils malt mit gelbem Farbstift ein Gesicht in die Mitte seines Bildes, dessen Augen, Nase und Mund einen freundlichen Eindruck erwecken. Über der Nase des Gesichts ist eine Art Bügel eingezeichnet, vielleicht hat Nils seine Sonne mit einer Brille versehen wollen. Umgeben ist das Gesicht von unterschiedlich dicken gelben Strahlen, die von der Bildmitte bis fast an den Bildrand reichen. Insgesamt vier Jungen malen eine Sonne mit Gesicht, und die drei schon genannten Darstellungen der Hand mit Strah342
Nils t1
Interessant ist, dass Sabine erklärt, Gott passe auf, dass die Menschen nicht von der Erdkugel runterfallen. Es ist nicht anzunehmen, dass Sabine tatsächlich befürchtet, sie könne von der Erde fallen. Mit dem Phänomen der Schwerkraft dürfte sie aus dem Sachunterricht oder Erdkundeunterricht vertraut sein. Das Bild, das die Erde als Kugel zeigt, hat sie vielleicht zu der Aussage gebracht, die ihrem physikalischen Wissen wahrscheinlich nicht entspricht.
4.3 Gesamtanalyse der Untersuchungsergebnisse
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lenkranz müssen auch hier berücksichtigt werden, da sie von den Jungen als Sonne bezeichnet werden. Die Sonne könnte als Symbol der lebensspendenden Kraft Gottes angesehen werden. Was sagen die Kinder selbst über das Motiv der Sonne? Paul und Fabian weisen darauf hin, dass Gott auf alle Orte Zugriff hat, wie auch die Sonnenstrahlen überall hinkommen. Für Dennis und Nils steht die Sonne im Zusammenhang mit dem Schöpfergott. So wie die Sonne das Leben auf der Erde ermöglicht, weisen sie Gott eine lebensschaffende Funktion zu. Vincent, der ebenfalls eine Kombination von Hand und Sonnengesicht gezeichnet hat, wählt das Motiv, weil es veranschaulicht, dass Gott »alles am Leben hält«, er betont also das schöpfungserhaltende Handeln Gottes. Yannis malt ein Sonnengesicht und erklärt, dass Gott »über die Menschen herabguckt wie die Sonne« und »immer bei einem ist«. Georg malt ein Bild, das den Sonnendarstellungen sehr ähnelt, ein rotes, kreisrundes Gesicht mit orangegelbem Strahlenkranz. Seine Zeichnung ist sehr exakt und mit viel Sorgfalt angefertigt. Georg hat mit weißem Stift die Konturen des Gesichts vorgezeichnet und es dann rot ausgemalt. Die großen Augen Georg t1 des Gesichts haben weiße Pupillen, und der Mund ist leicht schräg geöffnet. Auch wenn sein Bild in der Gesamtschau den Sonnendarstellungen ähnelt, spricht Georg nicht davon, dass es sich um eine Sonne handelt. Er gibt eine interessante Erklärung ab, warum er das Bild so gemalt hat: Ein rundes, rotes Gesicht habe er gewählt, denn »Gott ist ja das Vollendete. Rund, vollendet. Und rot, weil das ist ja die Farbe des Lebens.« Mit dieser symbolischen Herleitung unterscheidet sich Georgs Aussage von der der anderen Kinder, aber auch ihm ist die lebensspendende Wirkung Gottes wichtig. Zusammengefasst kann die Sonne in den Darstellungen der Kinder als Illustration der Allgegenwart Gottes und des schöpferischen und schöpfungserhaltenden Handeln Gottes angesehen werden. Helle Farben und Licht Nicht nur in den Sonnendarstellungen tauchen helle Farben auf, sondern auch in anderen Bildern werden helle Farbtöne und Licht als Attribute Gottes eingesetzt. Sieben Kinder malen eine helle Figur in
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Engel-, Geist- oder Menschengestalt, von der teilweise helle Strahlen ausgehen. Emilys Bild zeigt Gott als helle Figur mit der Erde als Kopf, von deren Körper weiße, gelbe und orangefarbene gewellte Strahlen ausgehen. Auf Xaviers Bild ist Gott als Taube dargestellt, die einen Heiligenschein343 trägt und außerdem von einem gelben Hintergrund umgeben ist. Ulrich bildet zwei mit dem Lineal exakt gezeichnete weiße Säulen ab, deren Zwischenräume von kräftigem Gelb und etwas Rot erfüllt sind. Die hellen Farben sind wohlüberlegt in Form von Kreisen angeordnet. Der unterschiedlich starke Ulrich t1 Farbauftrag und die Kombination von rot und gelb geben dem Bild einen bewegten, energiegeladenen Eindruck. Quentins Bild zeigt helle Farben in der Form eines Kometen mit buntem Lichtschweif. Außerdem ist bei Clemens’ Darstellung Gottes als Fragezeichen mit Gliedmaßen der gesamte schwarze Hintergrund weiß übermalt. Dazu kommen noch die sieben Bilder von Gott als Sonne, die ebenfalls durch einen Kranz von Lichtstrahlen gekennzeichnet sind. Insgesamt wurden in 18 Bildern auf markante Weise Licht bzw. helle Farben zur Darstellung Gottes gewählt. Dies lässt sich auch, aber nicht nur mit der Vorgabe des schwarzen Hintergrundes erklären.344 Was bedeutet den Kindern die Verwendung heller Farben, und welche Vorstellung steckt hinter der Attribuierung Gottes durch die verschiedenen Lichtphänomene? Wie schon angemerkt wurde, malen Paul und Fabian Sonnenstrahlen, um zu zeigen, dass Gott alle Orte erreiche wie das Licht der Sonne. Kai malt Gott eine »Ausstrahlung« als Zeichen dafür, dass Gott die Menschen wärme, für sie sorge. Auch Quentin geht es um Gottes positive Auswirkung auf die Schöpfung: Sein Bild zeigt 343
Es fällt auf, dass nur ein Junge den Heiligenschein in seinem Bild verwendet. In der in Österreich durchgeführten Untersuchung von Bucher (vgl. 2.1.) tauchte er bei einem Viertel der Bilder auf. Dies könnte mit dem unterschiedlichen Stellenwert des Heiligenscheins in der katholischen und evangelischen Tradition zu erklären sein. 344 Tim räumt als einziger ein, dass der schwarze Hintergrund die Verwendung heller Farben nahe gelegt habe. Dies ist jedoch auch bei ihm nicht der einzige Grund für die Farbwahl.
4.3 Gesamtanalyse der Untersuchungsergebnisse
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einen Kometen, der überall, wo er hinkommt, »alles hell und erleuchtet« mache. Christine malt Gott »in der Nacht« als vage angedeutete weiße Gestalt, umgeben von gelbem Licht. Sie sagt, sie habe sich für die weiße Farbe entschieden, weil Gott »so weise ist«. Ruth hat Gott auch als helle Figur vor gelbem Hintergrund abgebildet. Der Hintergrund soll das »Himmelreich« darstellen, in dem Gott wohne und das sehr groß sei, weil es viele Menschen aufnehmen werde. Es ist hell gemalt, »weil da ist eigentlich nichts Trauriges mehr. Und traurig ist ja eigentlich dunkel.« Die hellen Farben dienen ihr als Mittel, die »Glücklichkeit« im Himmelreich auszudrücken. Auch warum Gott selbst hell gezeichnet ist, kann Ruth erklären: »Weil er ja eigentlich der Größte ist, der Höchste und der, der die Erde erschaffen [hat], und deswegen muss er hell sein, dass man ihn erkennt, weil er der Wichtigste ist.« Ruth wählt Weiß als Farbe Gottes demnach auch als Signalfarbe, die ihn hervorhebt. Ähnlich argumentiert auch Georg, der eine helle »Aura« malt, weil Gott »was Bedeutendes« sei. Tim und Vincent bringen die helle Darstellung Gottes mit einem Werturteil in Verbindung: »Er ist ja das Gute, also auch eine helle Farbe.« »Schwarz, das sind ja eher böse Farben. Und gelb und weiß sind so nicht.« Auch Xavier kann genau bestimmen, weshalb seine Taube einen Heiligenschein hat »Weil sie heilig ist. Weil sie mir wichtig ist« und warum sie von gelbem Licht umgeben ist »Jesus ist das Licht der Welt.« Damit bezieht er sich auf Joh 8,12, wo Jesus von sich sagt, dass er das Licht der Welt sei. Dieser Vers scheint Xavier bekannt und wichtig zu sein. Was hier über Jesus ausgesagt ist, setzt er in seinem Bild von Gott um.345 Clemens und Ulrich wählen dagegen die hellen Farben auf ihrem Bild, um die Nichterkennbarkeit Gottes zu illustrieren. Ulrichs Zeichnung soll den Tempel zeigen, in dem Gott erscheint. Allerdings kann man ihn nicht sehen: »Da ist es so hell, […] dass es einen Menschen blendet.« Der Nebel und das von ihm umgebene Fragezeichen von Clemens beschreiben eindrücklich, dass Gott nicht erkennbar ist. So lautet auch Clemens’ Fazit zu seinem Bild: »Dass ich halt nicht weiß, wie er aussieht.« Es zeigt sich, dass die Kinder mit der Wahl heller Farben ganz verschiedene Bedeutungen verbinden, was auch erklärt, warum sie so häufig vorkommen. Eine helle Ausstrahlung Gottes wird als sein positives Wirken auf die Schöpfung gedeutet, und die Strahlen symbolisieren seine Allgegenwart. Eine helle Figur weist auf positive Eigenschaften Gottes hin: wörtlich die Weisheit, außerdem die Harmonie in seinem Reich sowie sein Wesen als das Gute schlechthin. Dabei wird auf eine kli345 Während die meisten Kinder bei der Darstellung Gottes eher an Gott den Vater gedacht haben mögen, wählt Xavier demnach interessanterweise die Taube, die als Symbol für den Heiligen Geist bekannt ist, in Kombination mit der Darstellung des Lichts der Welt, also Jesus Christus.
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
scheehafte Farbsymbolik verwiesen: Das Böse ist dunkel und das Gute hell. Weiterhin dient die helle Darstellung Gottes der Hervorhebung seiner Bedeutung. Schließlich ist weißer Nebel oder blendendes Licht auch gewählt worden, um die Nichterkennbarkeit und damit verbunden die Nichtdarstellbarkeit Gottes deutlich zu machen. Die Erde In einigen Bildern ist die Erdkugel abgebildet. Wie schon besprochen, wurde die Erde von vier Mädchen in Gottes Hand dargestellt. Einmal ist die Erde außerdem als Punkt eines Fragezeichens dargestellt und einmal als Kopf Gottes. Emily malt die Konturen einer Person, die mit einem Gewand bekleidet ist und die Arme kraftvoll und bestimmt nach oben reckt. Von der Person gehen weiße, gelbe und orangefarbene geschwungene Strahlen aus, es könnte sich auch um Feuerzungen handeln. An der Stelle des Kopfes hat Emily eine Erdkugel abgebildet, die sie aufwendig Emily t1 mit grünen und brauen Kontinenten, blauen Ozeanen und weißen Wolken versehen hat. Was bewegt die Kinder dazu, Gott in Verbindung mit der Erde darzustellen? Emily macht deutlich, dass sie mit ihrem Bild Gottes Größe hervorheben will: »Also, ich habe halt gedacht, dass der Gott halt so groß ist, dass die Welt gegen den ganz klein ist, […] obwohl sie [die Planeten, I.M.] eigentlich für uns ganz groß sind.« Die vier Mädchen, die die Erde in Gottes Hand zeichnen, bringen damit die Beziehung zum Ausdruck, in der Gott mit der Erde steht. Dabei geht es vor allem darum, »dass er auf alle aufpasst« (Bianca), und »dass der da alle beschützt« (Henrike). Neben dem Schutz weist Zoe darauf hin »dass er über die halt herrscht«. Dieses Schutz- und Herrschaftsverhältnis über die Erde habe seinen Ursprung darin, »dass er die halt geschaffen hat«. Interessanterweise benennen alle fünf die Erdkugel auch mit dem nicht ganz korrekten Begriff »Welt«. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Kinder die Darstellungsweise dem bekannten Lied entnommen haben, in dem es heißt: Gott hält die ganze Welt in seiner Hand. Dafür spricht im Fall von Henrike auch ihr Kommentar: »Und das habe ich gemalt, weil das heißt ja, dass er sie behält, also, die ganze Erde in der Hand hält.«
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Bei Clemens ist Gott ein Fragezeichen und die Erde der dazugehörige Punkt, auf der sich Gott mit vielen Beinen bewegt. Clemens sagt, er habe damit zeigen wollen, »dass er halt überall ist«, was übrigens auch Bianca betont. Nach den Aussagen der Kinder zu urteilen, haben sie die Darstellung der Erde also gewählt, um seine alles übersteigende Größe sowie Allgegenwart auszudrücken. Außerdem steht die Hand Gottes, die die Erde hält, für seine schützende Beziehung zur Erde. Gott als menschlich aussehende Person Fünf Mädchen und ein Junge malen Gott in menschenähnlicher oder menschlicher Gestalt. Auf jedem Bild ist Gott als männliche Person dargestellt. In den Interviews zeigt sich, wie selbstverständlich die Kinder davon ausgehen, dass Gott ein Mann ist. Wiebke und Ruth zeichnen Gott als weiße Gestalt mit Gesicht und Haaren, von der ein heller Schein ausgeht. Es ist erkennbar, dass die Gestalt ein langes Gewand trägt. Henrikes Bild zeigt eine sorgfältig, farbig gemalte Person, die ebenfalls mit einem langen Gewand, hier in rot, bekleidet ist. Sie erklärt dazu: »Das ist nicht so neumodisch, sondern, das ist halt /. Als er die Welt gemacht hat, hat er sich das halt gemacht.« Dass Gott so ungewöhnliche Kleidung trägt, liegt demnach an seinem Alter. Auch Wiebke will auf Gottes Alter hinweisen und zeichnet ihm deshalb einen Bart. Sie äußert sich zum Gewand Gottes folgendermaßen: »Das ist ja irgendwie Gott. Der zieht ja nicht so eine Hose oder ein T-Shirt an!« Wiebke meint also, es sei für Gott unangemessen, ganz normale menschliche Kleider zu tragen. Möglicherweise erscheinen ihr diese zu profan. Vor dem Hintergrund der Aussagen muss man es nach meinem Ermessen ausschließen, dass die Kinder hier durch das Gewand Gott ein feminines Erscheinungsbild geben wollen, wie Stefanie Klein in Bezug auf die Teilnehmerinnen ihrer Studie schlussfolgert.346 Vielmehr nutzen die Kinder das altertümliche Kleidungsstück, um Gottes Alter oder sein grundsätzliches Anderssein auszudrücken. Es wird also deutlich, dass auch die Mädchen, die Gott in menschlicher Gestalt malen, verfremdende Mittel benutzen, die Gott von den Menschen unterscheiden. Dem dient natürlich auch seine Größe im Vergleich zur Erdkugel. Jessicas farbenfroh gestaltetes Bild zeigt in der linken Bildhälfte einen Mann mit Bart, der durch das verzierte Gewand, den Hut und den Zauberstab zu einem Zauberer ausgestattet wird. Er 346
Klein deutet das Gewand, das Gott auf Bettinas Bild trägt, als Kleid und damit als weibliches Attribut. Obwohl Bettina auf Nachfrage betont, dass es sich nicht um einen weiblichen Gott handele, sondern dass das Gewand wegen Gottes hohem Alter so eigentümlich sei, schließt Klein: »Es handelt sich ganz offensichtlich um eine Frau.« Klein, Gottesbilder, 93.
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
reckt seine Hände mit dem Zauberstab in die Luft und wirkt durch diese Geste, seine Kleidung und den Bart leicht unbeholfen. Den rechten Bildteil nimmt ein Apfelbaum ein. Jessicas Bild muss gesondert betrachtet werden, da sie eine Vorlage benutzt hat. Im Unterricht war von der Religionslehrerin ein Arbeitsblatt347 zu verschiedenen Gottesvorstellungen ausgegeben worden, auf dem Zeichnungen abgebildet sind. Jessica wählte eine Kombination aus zwei Bildern: den Zauberer vor dem Hintergrund des Paradieses. Es wäre möglich, dass Jessica t1 ihr dieses Bild so gut gefallen hat, dass sie es zu ihrem eigenen machen wollte, oder auch, dass ihr beim Malen nichts eingefallen ist, was sie mehr zufrieden stellte als dieses Bild. Im Interview betont sie »der sitzt halt da oben und guckt auf uns runter«, was in der Vorlage vom alten Mann im Paradies gut zum Ausdruck kommt. Auf die Vorstellung des Zauberers, der alle Wünsche erfüllen kann, geht Jessica im Interview nicht ein. Dieses Beispiel macht deutlich, dass es Kindern nicht immer leichtfällt, dem Auftrag, Gott zu malen, nachzukommen. Angesichts der vorliegenden Bilder und Erläuterungen könnte die Mühe, die manche Kinder haben, eine angemessene Darstellungsweise zu finden, in Vergessenheit
Arbeitsmaterialien aus dem Religionsunterricht 347
Leider steht mir zu diesem Arbeitsmaterial der Religionslehrerin keine Quellenangabe zur Verfügung.
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geraten. Außerdem wird hier auch deutlich, welchen Einfluss der Religionsunterricht auf Jessicas Bild von Gott genommen hat. Die Bilder, die hier präsentiert wurden, haben einen prägenden Eindruck hinterlassen. Auch Yannis hat Gott als Mann gemalt (als zweites Bild zusätzlich zu einem fröhlich wirkenden Sonnengesicht). Es ist in dunklen Farben gestaltet und zeigt eine auf dem Boden zusammengekauerte Person im Gewitter. Sie ist mit ihren langen, dünnen Gliedmaßen und dem im Vergleich zum kleinen Kopf sehr großen Rumpf unbeholfen gezeichnet. Die Person blickt traurig nach unten. Yannis versieht sein Bild mit vielen dünnen blauen Strichen, die das gesamte Bild schräg schraffieren, sowie mit zwei gelben Blitzen. Offensichtlich sitzt die Person im Gewitter ungeschützt auf dem Yannis t1 Boden. Yannis erklärt: »Ein armer, verlassener Mann, der immer beim Gewitter draußen sitzt und nicht weiß, was er machen soll.« Dieses Bild gehöre zu seinem ersten, positiv konnotierten Bild dazu: »Ich habe zwei Seiten gemalt.« Dieses zweite Bild zeige den traurigen oder wütenden Gott. Damit ordnet Yannis Gott menschliche Gefühlsregungen zu; auch Gott kann für ihn nicht immer gut gelaunt sein. Sein Bild unterscheidet sich durch die bedrückte Stimmung deutlich von den anderen Darstellungen Gottes als Person. Leider hat Yannis auch auf Nachfrage zu dieser Seite Gottes nicht mehr erklärt.348 An seinem Beispiel wird deutlich, dass er sich nicht auf eine Darstellungsweise Gottes festlegen konnte, und stattdessen versucht, mit den beiden kontrastierenden Bildern in der Gesamtschau seine Vorstellungen von Gott angemessen festzuhalten. Gott als Geist, Engel oder Wettergott Drei Bilder einer hellen, nicht weiter ausgestalteten Figur könnte man mit »Gott als Geist« betiteln. Es wird allerdings nur einmal auch im Interview explizit von einem »Geist« gesprochen, nämlich nur bei Michaela. Kai dagegen wehrt sich gegen die von der Interviewerin ins Gespräch gebrachte Bezeichnung Geist: »Nicht so wie ein richtiger Geist, halt so ganz dünn / und dass der halt auch schwebt.« 348
Yannis sagt auch, dass er zum Zeitpunkt des Interviews, beim erneuten Auftrag, Gott zu malen, das erste, positive Bild wieder malen würde. Möglicherweise distanziert er sich damit vom Gewitter-Bild. Jedenfalls ist es ihm unangenehm, im Interview Genaueres dazu zu erklären.
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Christine malt Gott »in der Nacht« als vage angedeutete weiße Gestalt, umgeben von gelbem Licht. Sie hat allem Anschein nach nicht direkt mit den Buntstiften auf das Papier gemalt, sondern die Stifte gespitzt und die dabei anfallende Farbe mit dem Finger vorsichtig auf dem Blatt verteilt. Oliver malt Gott vor einem nächtlichen Wald als Figuren mit Flügeln, die er als Engel bezeichnet. Er versieht dabei eine gelbe menschlich aussehende Figur mit rotem Kopf und Händen mit weißen Flügeln. Umgeben ist Gott von sechs kleineren Engeln, die ebenfalls gelb sind und weiße Flügel, aber grüne Köpfe haben. Sein Bild ist symmetrisch gestaltet, und Oliver hat auf eine Regelmäßigkeit in der Farbgebung geachtet. Vom Himmel her erhellt ein »Sternenregen« die nächtliche Szene. Oliver betont, dass Gott »sich nicht von den anderen Engeln – bis auf die Größe – unterscheidet.«. Oliver zeichOliver t1 net Gott so, wie z.B. im Film oder in 349 Büchern Engel dargestellt werden. Tim stellt Gott als wild aussehende helle Person mit zerzausten Haaren vor dem Hintergrund einer Gewitterlandschaft dar. Er nennt sein Bild »Der Mann im Sturm«. Ihm ist es wichtig, dass Gott »der Herrscher über alles ist«, was er hier durch seine Herrschaft über das Wetter ausdrücken will. Lokalisierung Gottes In einigen Interviews wurde angesprochen, an welchem Ort Gott abgebildet ist. Die meisten Kinder, nämlich zwölf, stellen sich vor, dass Gott im Himmel beziehungsweise im Kosmos sei. Es fällt auf, dass die Kinder nicht zwischen Himmel und verschiedenen Bezeichnungen für das 350 Weltall unterscheiden. Wichtig ist ihnen an ihrer Vorstellung des Himmels, dass Gott von oben alles beobachtet. Es wird in den Interviews deutlich, dass die Kinder durch die Lokalisierung Gottes im Himmel eher seine Größe und seinen Überblick ausdrücken wollen als 349
Wie wichtig ihm diese Vorstellung ist, zeigt sich auch darin, dass er ein zweites Bild ergänzt, auf dem eine Person in einem Bett dargestellt wird, über der ein Engel schwebt. 350 Dies zeigt sich darin, dass die Kinder z.T. beide Bezeichnungen nebeneinander verwenden (Quentin), oder davon sprechen, dass Gott ›oben‹ im Himmel ist (Nils, Vincent, Jessica).
4.3 Gesamtanalyse der Untersuchungsergebnisse
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seine Distanz zur Erde. Sechs Kinder erklären, dass Gott auf ihrem Bild an ›keinem Ort‹ dargestellt ist. Möglicherweise wollen sie damit die Andersartigkeit Gottes ausdrücken, der nicht an uns bekannte Vorstellungen von Raum gebunden ist. Drei Kinder sprechen davon, dass Gott überall ist. Dies wird in den Bildern beispielsweise dadurch ausgedrückt, dass Gott die Erde anblickt, oder dass Sonnenstrahlen zu sehen sind, die alles durchdringen. Nichtdarstellbarkeit Gottes Wie schon angesprochen, verwenden die Kinder zum Teil viel Mühe, um Gottes Andersartigkeit bildlich zum Ausdruck zu bringen. Einige Kinder gehen sogar noch weiter und machen seine Nichtdarstellbarkeit zum zentralen Inhalt ihres Bildes. Sie wählen dabei sehr unterschiedliche Wege. Auch nachdem das Thema Bilderverbot im Unterricht angesprochen und im historischen Kontext erläutert worden war, haben sich André und Lisa ganz gegen ein Bild von Gott entschieden und stattdessen einen kurzen schriftlichen Kommentar festgehalten. André schreibt unter die von ihm mit Fragezeichen versehene Überschrift »Mein Bild von Gott?« mit rotem Metallicstift: »Ich möchte Gott nicht zeichnen weil. Es innere intuision ins. Ich habe das gefühl habe das mir sonst etwas schreckliches passiert. Weil ich sonst gegen das göttliche Gesetz verstose [sic].« In dieser Aussage gibt André zu erkennen, dass er kein Bild von Gott malen möchte, weil dies gegen Gottes Gesetz ist. Dass ihn dafür eine Strafe treffen würde, nimmt er aufgrund eines inneren Gefühls an. Im Interview betont André, dass er Gott nicht malen will, denn »in der Bibel steht ja auch, dass man sich kein Bild von Gott machen darf«. Von der im Kommentar auffälligen Angst vor etwas Schrecklichem ist keine Rede. André ergänzt noch einen weiteren Grund, kein Bild von Gott zu malen: »Und weil mir in dem Moment nichts eingefallen ist, wie ich ihn zeichnen könnte.« Nachfragen ergeben, dass er seine Vorstellung aber in Worte fassen kann: Gott stellt er sich als helles »Licht mit zwei Armen und einem Kopf« vor. Wichtig ist André an Gott, dass er ein gutes Herz hat. André hat demnach zwar eine konkrete bildliche Vorstellung von Gott, will diese aber wegen des zweiten Gebots nicht aufmalen. Auch Lisa möchte kein Bild von Gott malen. Sie kommentiert schriftlich: »Ich denke, dass Gott so herlich und wunderbar ist, dass man ihn gar nicht malen kann.« Im Interview begründet sie ihre Zurückhaltung damit, dass die Bibel das Machen eines Bildes von Gott untersage. Die Frage nach der Umschreibung Gottes mit Worten beantwortet sie knapp mit der Aufreihung von vier Adjektiven: »Groß, mächtig, stark, ähm gnädig.« Es wäre möglich, dass Lisa damit Attribute aufgreift, die Gott in Liedern oder in der Verkündigung zugeschrieben werden. Zumindest das Wort gnädig dürfte kaum ihrem normalen Wortschatz entsprechen.
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Ihre Weigerung zu malen und ihre Äußerungen über Gott könnten auf eine intensive religiöse Erziehung hinweisen, die Lisa sehr ernst nimmt. Andere Kinder malen zwar ein Bild von Gott, bringen darin aber ihre Bedenken hinsichtlich der Darstellbarkeit Gottes zum Ausdruck. Michaela hat ein geist-ähnliches Wesen gemalt. Mit starkem Farbauftrag hat sie eine weiße Kontur mit weißen Augen, Nase und Mund versehen. Unten erkennt man angedeutete Füße. Das Innere des Geistes ist zaghaft mit gelbem Buntstift ausgemalt. Auf weitere Details oder Verzierungen verzichtet Michaela. Sie spricht davon, dass sie einen »Geist […] in der Nacht« abgebildet habe, »weil ich halt nicht wusste, ob das / ob es den wirklich gibt. Und im Himmel kann ja irgendwie kein Mensch leben.« Sie hat sich also die Frage gestellt, wie Gott, der im Himmel lebt, aussieht, und kam zu keiner Antwort: »Ja, weil ich das halt nicht wusste, wie ich den jetzt male. Michaela t1 Also, wie ich mir den jetzt vorstellen soll.« Ihre Wahl der Geistdarstellung bedeutet demnach nicht, dass sie sich vorstellt, Gott sehe so aus, sondern drückt lediglich ihre Unsicherheit aus, wie Gott vorzustellen sei. Ihre Aussage geht allerdings noch weiter: Sie ist sich nicht nur unsicher, wie Gott aussieht, sondern auch, ob es ihn überhaupt gibt. Sie ist bemerkenswerterweise das einzige Kind der Klasse, das einen grundsätzlichen Zweifel an Gottes Existenz äußert. In Ulrichs Bild erscheint Gott im Tempel, zu erkennen sind allerdings nur gelbes, kreisförmiges Licht und zwei rote Dreiecke. Ulrich erläutert: »Der hat halt so ein rotes Gewand, also ein bissl sieht man halt durch. Aber sonst blendet das zu arg.« Möglicherweise bezieht sich Ulrichs Bild auf die Schilderung Gottes im Tempel in Jesaja 6,1, wo davon die Rede ist, dass der Saum des Gewandes Gottes den Tempel fülle. Jedenfalls hebt Ulrichs Bild die Nichterkennbarkeit Gottes hervor. Zwei Kinder wählen eine symbolische Darstellungsweise Gottes und weisen ausdrücklich darauf hin, dass sie Gott nicht malen wollten, weil die Bibel dies untersage. Xavier malt eine weiße von Licht umgebene Taube als »Symbol« vor den »drei Hügel[n] Golgatha«. Sein Bild weist symbolische Elemente auf, die für den Heiligen Geist (Taube) und für Jesus (drei Hügel mit drei Kreuzen) stehen. Allerdings spricht Xavier im Interview nicht vom Heiligen Geist, auch nicht vom Frieden, den die Taube ebenfalls symbolisieren könnte. Er geht aber auf Jesus Christus als das »Licht der Welt« ein. Xavier stellt so aus verschiedenen, ihm aus
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Schule, Gemeinde oder Familie bekannten christlichen Symbolen ein Bild zusammen. Auch Isabelle beruft sich darauf, »dass man sich ja Gott nicht vorstellen soll.« Daher malt sie lieber »so was Indirektes«. Sie hat aus dem schwarzen Papier ein Rechteck ausgeschnitten und mit einem bunten Rahmen versehen. Innerhalb des Rahmens ist ein Kreis abgebildet, der in vier Bereiche unterteilt ist. In jedem Teil ist eine andere einfache Zeichnung zu erkennen: drei blaue, geschwungene Linien, ein Blitz, ein braunes Kreuz und ein Stein neben dem Eingang zu einer Höhle. Auf dem Bild kommentiert Isabelle mit einem blauen Kugelschreiber: »Mein Bild stellt dar: Gott regiert über Wasser und Welle. Gott regiert über Donner und Blitz. Gott starb für uns am Kreuz und nach drei Tagen war der Stein von seinem Grab weggerollt.« Dabei sind die Worte Welle, Blitz, Kreuz, Stein und Grab in der Farbe geschrieben, die den jeweiligen ElemenIsabelle t1 ten auf dem Bild gegeben ist. Auch sie stellt aus verschiedenen christlichen Symbolen ein Bild zusammen und deutet es systematisch. Dabei geht es sowohl um Gott, der über die Schöpfung herrscht, als auch um den Tod und die Auferstehung Jesu. Im Interview offenbart Isabelle, dass dieses Symbol für sie eine besondere Bedeutung hat: »Und eigentlich haben die Lisa351 und ich es / also, wir haben mal so eine Bande gemacht, da haben wir eigentlich das als Bandenzeichen gehabt.« Isabelle hat hier also ein Symbol verwendet, was sie schon früher für einen anderen Zweck entwickelt hatte.352 Isabelle scheint allerdings doch auch eine bildliche Vorstellung von Gott zu haben, wenn sie sagt: »Also nicht gerade Gott halt, wie man sich den als Person vorstellt.« Diese will sie jedoch nicht aufmalen, »weil man sich ja Gott nicht vorstellen soll«. Damit bezieht sie sich wahrscheinlich auf das zweite Gebot. Auch Clemens wählt eine Art Symbol, um Gottes Nichtdarstellbarkeit auszudrücken. Er greift dabei aber nicht auf christliche Traditionen zurück. Sein Bild zeigt, wie bereits näher beschrieben, ein bunt gestreif351
Lisa, die kein Bild von Gott malen wollte. Isabelle und Lisa ist Gott demnach so wichtig, dass sie sich ihn fast wörtlich ›auf die Fahnen schreiben‹. 352
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tes Fragezeichen, von dem bunte Dreiecke, Kreise, Arme und Beine ausgehen. Der Punkt des Fragezeichens ist die Erde. Das Fragezeichen ist vor weißem Hintergrund abgebildet. Clemens erklärt, warum er das Fragezeichen gewählt hat: »Ich weiß halt nicht, wie er aussieht.« Der helle Hintergrund soll Nebel sein, der ausdrückt »dass man ihn halt nicht erkennen [kann]«. So verdeutlicht Clemens auf doppelte Weise die Nichtdarstellbarkeit Gottes: Das Fragezeichen steht dafür, dass er nicht weiß, wie Gott aussieht, ihn folglich auch nicht abbilden kann, und verstärkt dies noch durch den Nebel. Bezüglich der Darstellbarkeit Gottes gibt es eine weitere Auffälligkeit: Nils und Georg weisen darauf hin, dass Gott überhaupt nicht auf eine Gestalt festgelegt werden kann. Sie malen Gott zwar als Sonnengesicht, fügen jedoch hinzu: »Der kann ja alles sein.« »Und der kann sich dann halt in alle verschiedenen Formen verwandeln, sozusagen.« In ihrer Vorstellung ändert Gott je nach Situation seine Erscheinungsform. Sie kommen zu der bemerkenswerten Erkenntnis, dass Gott ›vielseitig‹ ist und nicht in ein einzelnes Bild gefasst werden kann. Möglicherweise speist sich diese Vorstellungen auch aus Geschichten von Superhelden, die solche Fähigkeiten haben.353 Es sind also unterschiedliche Motivationen zu erkennen, weshalb Kinder die Nichtdarstellbarkeit Gottes in ihrem Bild thematisieren. Zum einen wird darauf hingewiesen, dass die Bibel es nicht erlaube, ein Bild von Gott zu machen. Die Nichtdarstellbarkeit wurzelt hier also im biblischen Verbot, und die Kinder, denen dies wichtig ist, benutzen als Darstellungsmittel christliche Symbole. Manche Kinder sehen die Nichtdarstellbarkeit Gottes darin begründet, dass er von seinem Wesen her vielseitig ist und ein einzelnes Motiv dies nicht angemessen ausdrücken kann. Andere Kinder bringen ihr eigenes Nichtwissen zum Ausdruck: Sie wissen nicht, wie Gott aussieht. Auch die Unsicherheit, ob es Gott überhaupt gibt, beeinflusst die Bilder von Gott als dem Nichtdarstellbaren. Ihre Mittel zur Verfremdung sind das Fragezeichen und eine Geistgestalt. Geschlechtsspezifische Unterschiede? An den Bildern fällt auf, dass einige Motive nur von Mädchen (Gottes Hand hält die Erde) und andere Motive nur von Jungen (Gott als Sonne) gezeichnet werden. Dies erklärt sich m. E. daraus, dass die Kinder neben einander saßen und so von der Motivwahl ihrer Nachbarn beeinflusst wurden, und weniger aus mädchen- oder jungenspezifischen Vorlieben. Die Interviews zeigen keine auffällige geschlechtsspezifische Verteilung einzelner Motive oder Begründungen. Daher wird sich diese 353 Vgl. zum Einfluss der Medien auf die Motivwahl: Hilger, Wahrnehmungsschulung, 269.
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Untersuchung nicht mit möglichen geschlechtsspezifischen Besonderheiten der Bilder von Gott beschäftigen. 4.3.2 Zusammenfassende Interpretation t1 Es ist deutlich geworden, dass die Kinder eine Vorstellung von Gott haben, die sie malen und verbal erläutern können. Dabei zeigt sich bei vielen Kindern, dass sie über Gott schon gründlich nachgedacht haben und auf eine intensive religiöse Erziehung zurückgreifen können. Ihre Vorstellungen und bevorzugten Themen beziehungsweise Motive sind vielfältig. Sie ähneln sich jedoch auch in der Präferenz bestimmter Aspekte sowie darin, dass die Vorstellungen von Gott recht konkret, nicht abstrakt, sind. Es sollen nun unter Rückgriff auf die Analyse und Interpretation die zu Beginn formulierten Fragen zusammenfassend beantwortet werden. Wie stellen Kinder und Jugendliche ihre Vorstellung von Gott dar? Welche Eigenschaften ordnen sie Gott zu? In welchem Verhältnis zu den Menschen wird er dargestellt? Wie wird das Problem der Nichtdarstellbarkeit Gottes thematisiert? Die meisten Bilder sind sorgfältig gezeichnet und in freundlichen Farben gestaltet, was einen positiven, harmonischen Eindruck hinterlässt. Die Eigenschaften Gottes, die in den Bildern hervorgehoben werden, entsprechen diesem ersten Eindruck. Besonders häufig wird in den Bildern thematisiert, dass Schutz von Gott ausgeht. Die Darstellungen von Gottes Hand sollen seine Bewahrung symbolisieren. Die Bilder, die die Erde als Gottes Gegenüber zeigen, machen deutlich, dass diese nach Vorstellung der Kinder das Objekt der Fürsorge Gottes ist. Gott wird damit in die Lebenswirklichkeit der Menschen einbezogen. Eine weitere Eigenschaft, die Gott häufig zugesprochen wird, ist sein schöpferisches und schöpfungserhaltendes Handeln. Bilder von Gottes Hand (auch im Bezug zur Erdkugel) und von Gott als Sonne sollen ausdrücken, dass Gott die Erde geschaffen hat und am Leben erhält. Besonders in den Bildern von Gott und der Erdkugel, aber auch in anderen Darstellungen, ist ausgedrückt, dass Gott sich im Himmel oder Weltall befinde. Die weitere Motivwahl macht deutlich, dass hierdurch aber nicht so sehr die Distanz Gottes zur Erde ausgedrückt werden soll, sondern mehr sein fürsorglicher Überblick über alles. Die durch die Lokalisierung ausgedrückte Beobachtung der Erde durch Gott und seine Allgegenwart sind ebenfalls häufig vorkommende Merkmale. Diese stehen wiederum in Verbindung mit dem Schutz, den Gott der Erde gewährt. In den Bildern der Kinder kommt durch Farbwahl und Mimik Gottes zum Ausdruck, dass er gut ist und Freude schenkt. Darüber hinaus betonen die Kinder Gottes Größe, beispielsweise durch den Größenvergleich mit
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Planeten, sowie Gottes Alter, was sich in seiner Kleidung oder einem Bart ausdrücken kann. Nicht zuletzt geben die Kinder in den Gesprächen zu erkennen, dass sie sich auch vorstellen, dass Gott über Weisheit verfüge. Es zeigt sich also, dass die Kinder, die mehrheitlich in der Familie oder kirchlichen Gruppen eine überdurchschnittlich intensive religiöse Sozialisation erfahren, sehr konkrete und positive Vorstellungen von Gott haben, die auch auf als positiv erlebte Gottesbeziehungen Rückschlüsse ziehen lassen. Neben diesen Vorstellungen von Gott treten aber auch Anfragen an das Wesen Gottes und Zweifel an seiner Erkennbarkeit zu Tage. An vielen Bildern lässt sich ablesen, dass die Kinder unsicher sind, wie Gott dargestellt werden kann. In der Einzelanalyse hat sich gezeigt, dass manche Kinder – wenn auch nicht immer explizit – auch Vorstellungen von Gottes Verborgenheit und eine emotionale Distanz zu Gott in sich tragen. Insgesamt kann man in den meisten Bildern großes Vertrauen gegenüber Gott erkennen. Die Kinder stellen sich Gott als verlässlichen, fürsorglichen Schöpfer vor, der seine Allgegenwart und seine Weisheit in den Dienst seiner Schöpfung stellt. Sein Wirken bezieht sich auf die menschliche Wirklichkeit. Es fällt allerdings bei der sprachlichen Analyse auf, dass die Kinder in den Interviews selten von der persönlichen Beziehung zwischen sich und Gott sprechen. Kein Kind redet davon, dass Gott ›mich‹ sieht oder schützt. Vier Kinder stellen Gott in ein Verhältnis zu »uns«354. Häufiger findet sich aber die unpersönlichere Rede von Gottes Bewahrung für »alle«355, die ›Menschen‹356 sowie für die Erde oder Welt357. Man kann also sagen, dass die Kinder Gottes Verhältnis zur Erde mehrheitlich als sehr positiv betrachten und dieses – ausgehend vom sprachlichen Befund – eher universal als in Bezug auf sich selbst zum Ausdruck bringen.358 Manche Kinder sind aber auch unsicher, wie Gottes Verhalten in Bezug zu den Menschen zu beurteilen ist, und es gibt sogar einige Hinweise, dass einzelne Kinder Gott als bedrohlich empfinden. Die Analyse der Bilder und Gespräche hat eindeutig gezeigt, dass viele Kinder die Andersartigkeit Gottes thematisieren. Damit ist gemeint, dass sie ihn von den Menschen abheben. Dies geschieht entweder durch 354
»Uns« oder »wir« findet sich insgesamt sechsmal in den Interviews mit Jessica, Paul, Sabine und Zoe. 355 Die Ausdrucksweise »alle« oder »alles« kommt insgesamt fünfmal vor, und zwar in den Gesprächen mit Bianca, Fabian, Henrike und Vincent. 356 Dreimal. 357 Zweimal. 358 Eine interessante Aussage findet sich bei Kai, der davon spricht, dass Gott alle Menschen aufnimmt, »vor allem die Christen«. Kai betont also, dass es für Christen ein besonderes Verhältnis zu Gott gibt.
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die Wahl einer Darstellung in nichtmenschlicher Gestalt, z.B. als Himmelskörper oder Symbol, oder aber durch spezielle Attribuierung eines menschenähnlich gezeichneten Gottes, beispielsweise durch besondere Größenverhältnisse, Farbwahl, Lokalisierung oder Bekleidung. Auch die Nichtdarstellbarkeit Gottes ist von einigen Kindern ausgedrückt worden. Sie wählen als zeichnerische Mittel dafür neben Symbolen wie dem Fragezeichen beispielsweise blendendes Licht oder Nebel. Ursprünglich war für die Interviews auch folgende Frage geplant: Sieht Gott so aus, wie du ihn hier gemalt hast? Damit sollte direkt erhoben werden, ob die Kinder ihr Bild als Abbild Gottes oder als eine Art symbolischer Darstellung Gottes verstehen. Es wurde dann aber auf diese Frage verzichtet, da sie in einigen Interviews für Verwirrung gesorgt hatte. An einzelnen Aussagen der Kinder kann jedoch versucht werden, etwas über ihr Verständnis ihres Bildes zu erkennen. Viele Kinder erklären gleich zu Beginn ihres Interviews, warum sie das gemalt haben, was auf ihrem Bild zu sehen ist. Es finden sich zahlreiche Argumentationen wie die von Christine: »Ich glaube, dass der so weise ist, und deshalb auch weiß gemalt (lacht)« oder von Georg, der erklärt, er habe Gott rund gemalt, weil er vollkommen sei, und rot, weil das die Farbe des Lebens sei. Michaela malt Gott als Geist, nicht, weil sie meint, dass er so aussehe, sondern weil sie nicht weiß, wie er aussieht. Dennis wählt das Motiv der Hand, denn »da sieht man halt, was der Gott alles gemacht hat«. Die meisten Kinder haben also versucht, eine ihnen bekannte Eigenschaft Gottes bildlich umzusetzen. Bei den Kindern, die ihr Bild so erläutern, ist m. E. davon auszugehen, dass sie ihr Bild nicht als Abbild Gottes verstehen, sondern als eine Versinnbildlichung eines ihnen wichtigen Charakteristikums Gottes. Dies entspricht dem Ergebnis der Einzelfallanalysen von Vincent und Clemens. Mit diesem Befund erhärtet sich die Kritik an Studien, die Bilder in anthropomorphe und symbolische Bilder einteilen. Es zeigt sich, dass nur Gespräche mit den Kindern eine Aussage darüber erlauben, ob Bilder als Abbild oder als Symbol verstanden werden müssen. Wie oben erwähnt, sind die Bilder ca. sechs Monate vor den Gesprächen darüber entstanden, weshalb die Frage gestellt werden muss, ob in der Zwischenzeit bedeutende Veränderungen in den Vorstellungen eingetreten sind. Die Interviews haben gezeigt, dass die meisten Kinder mit dem Bild, das sie sechs Monate zuvor angefertigt haben, weiterhin zufrieden sind. Weniger als ein Fünftel der Kinder gibt an, nun lieber ein anderes Motiv malen zu wollen. Von den vier Kindern, die ein anderes Motiv präferieren würden, hat sich bei zweien die Vorstellung von Gott nicht geändert. Sie würden allerdings das, was sie mit Gott verbinden, durch ein anderes Motiv ausdrücken. Bei den anderen beiden Kindern findet sich auch kein Anzeichen dafür, dass sie das, was ihnen an Gott bisher wichtig war, nicht mehr so sehen. Sie entscheiden sich allerdings
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für eine abstraktere Darstellungsweise, was auf die weiterentwickelten kognitiven Fähigkeiten hinweisen könnte. Somit kann man sagen, dass sechs Monate kein so langer Zeitraum sind, dass sich die Gottesvorstellungen der Kinder signifikant verändert hätten. Gleichwohl kann man vereinzelte Veränderungen und Entwicklungen zum Abstrakten hin erkennen. 4.3.3 Zentrale Motive der Gottesvorstellungen im Jugendalter Bei der Untersuchung der Gottesvorstellungen der Zehntklässler finden sich einige Motive aus dem ersten Untersuchungszeitpunkt wieder359: Die Hand (2) und die Erdkugel (7) spielen weiterhin eine wichtige Rolle, genauso wie Licht bzw. Helligkeit (9). Immerhin noch vier Jugendliche nehmen eine menschlich aussehende Person und zwei das Fragezeichen in ihr Bild auf. Als zusätzliche Motive werden folgende gewählt: Gott als Gedanke der Menschen (2), Gott als Regenbogen (1), Gott als Trinitäts-Dreieck (2), Gott als Brot und Wein (1) und Gott als Hoffnungsanker (1). Ein Mädchen gibt ein leeres Blatt ab. Die Interviews zeigen, dass man der Intention der Jugendlichen allerdings nicht gerecht wird, wenn man – wie bei t1 – die Motive der Bilder zu Unterscheidungsmerkmalen macht. Dass die Bilder für die Jugendlichen selbst eine geringere Rolle spielen, könnte man auch dadurch bestätigt sehen, dass sie weniger sorgfältig und detailreich gemalt haben als bei t1. Die Bilder sind insgesamt recht schlicht gemalt und konzentrieren sich auf einzelne Merkmale. Es erscheint mir daher angemessen, die in den Interviews erläuterten Malabsichten genauer zu betrachten. Die Bilder dienen hier also, noch stärker als im Kindesalter, lediglich als Gesprächsanstoß. Sucht man nach den Darstellungsabsichten, wie die Jugendlichen sie in den Interviews beschreiben, so lassen sich folgende Kategorien unterscheiden: »Gott ist immer für einen da« Der Aspekt der Nähe und Ansprechbarkeit Gottes kommt in vielen Interviews zur Sprache. Kai malt Gott zwar in der sehr sachlichen Form eines Dreiecks mit der Beschriftung Vater-Sohn-Heiliger Geist, erklärt aber, dass Gott für ihn persönlich ein »Ansprechpartner« sei, denn »man kann ja immer zu ihm beten […] und irgendwie merkt man dann ja, dass man Antwort kriegt«. Christine stellt Gott in einem zweigeteilten Bild als Gestalt aus gelbem Licht dar. Auf der einen Bildhälfte sitzt die Gestalt auf einer Wolkendecke über einer Siedlung. Auf der anderen Bildhälfte steht die Gestalt neben einem Menschen, der niedergebeugt 359
Die Zahlen in Klammern geben die Häufigkeit des Vorkommens an.
4.3 Gesamtanalyse der Untersuchungsergebnisse
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und weinend auf einem Stuhl sitzt. Große Tränen fallen auf den Boden. Die Lichtgestalt erhellt mit ihrem Schein die gesamte Bildhälfte. Christine möchte auf diese Weise darstellen, dass Gott einerseits über die ganze Erde wache, sich andererseits aber auch einem Menschen in Not ganz persönlich zuwende. In ihrer Vorstellung gibt Gott Geborgenheit: »Man weiß halt, dass man nicht allein ist.« Auch für Paul, der Gott als Hand darstellt, die die Erde schützt, ist diese Fürsorge Gottes wichtig. Er betont: »Er lässt niemanden allein.« Diese Fürsorge ist für ihn nicht an Bedingungen geknüpft: »Dass alle Menschen auf der Erde wichtig sind, nicht nur die Reichen und Guten«. Ruth malt einen hellen Raum mit dem Thron Gottes und zwei freien Stühlen daneben. Damit möchte sie zeigen, dass Gott »immer Zeit für einen« habe. Die Vorstellung, dass Gott persönlich für sie da ist, spielt eine entscheidende Rolle für diese Jugendlichen. Christine t2 Sie beziehen Gottes Allgegenwart auf das Erleben der einzelnen Menschen. Zum Teil sprechen sie davon, dass diese Nähe und Ansprechbarkeit Gottes für sie persönlich Sicherheit und Geborgenheit bedeute. »Gott beschützt/greift ein« Eng verbunden mit der Vorstellung von Gottes Nähe ist sein fürsorgliches Handeln gegenüber den Menschen. Sabine stellt Gott als eine Schutzschicht um die Erde dar. Sie vergleicht seine Wirkung mit der Ozonschicht. Gott wirke für sie »wie so ein Schutzmantel um die Erde […] wenn da jetzt so ein Asteroid oder so auf die Erde zugeht, dass der nicht da gleich durchkommt und alles zerstört«. Das Motiv, das sie – möglicherweise durch entsprechende Filme beeinflusst – ausgewählt hat, erläutert sie also wörtlich als Gottes Schutz vor der Bedrohung unseres Planeten durch Asteroiden. Ob sie Gottes Schutz auch auf Bedrohungen im persönlichen Bereich oder im konkreten Lebensalltag von Menschen bezieht, bleibt offen. Für Henrike hat Gott nicht nur zur Zeit des Alten Testaments in das Leben der Menschen eingegriffen, sondern er tut dies
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
auch heute noch. Sie bezieht sich dabei auf persönliche Erfahrungen: »Wenn man jetzt betet und um was bittet oder so, dann merkt man ja schon manchmal, dass Gott da ist.« Auch Nina betont die persönliche Relevanz Gottes für ihr Leben: »Ich brauche Gott zum Leben. […] Wenn ich einfach am Boden bin oder so, dann denke ich nach und dann hilft mir Gott irgendwie.« Zoe schränkt die Vorstellung vom Eingreifen Gottes zugunsten der Menschen etwas ein, wenn sie sagt »dass Gott ins Leben so ein bisschen eingreift«. Sie meint damit, dass »er die Gebete erhört«. Emily äußert stärkere Zweifel am aktiven Handeln Gottes in der Welt. Sie stellt Gott als Auge dar, das inmitten der Planeten über einer strahlenden Erdkugel wacht. Die Größenverhältnisse im von Emily gezeichneten Universum sind aufschlussreich: War bei ihrem Bild von t1 die Erdkugel in Form des Kopfes noch ein Teil Gottes, so steht diese nun allein, und das Auge Gottes beobachtet sie aus einiger Distanz. Über einen Körper verfügt Gott hier nicht mehr. Möglicherweise stellt dies einen Hinweis auf Gottes fehlende Tat- und Durchsetzungskraft dar. Im Interview bestätigt sich dieser Eindruck, wenn Emily erklärt: »Er ist da, aber ob er eingreift, weiß ich nicht.« Sie begründet ihre Unsicherheit damit, dass »trotzEmily t2 dem Schlimmes viel passiert«. Für Emily ist also die Tatsache, dass Menschen Leid erfahren, ein Grund anzunehmen, dass Gott nicht ins Leben der Menschen eingreife, sondern es nur beobachte. Dennis zeigt ebenso Unsicherheit bezüglich eines Eingreifens Gottes. Zwar erklärt er zu seinem Bild von Gott, der in Form von mehreren Sonnen die Erde erleuchtet: »Wenn es uns mal schlecht geht oder so, dass er uns dabei hilft.« Auf die Frage, wie das geschehe, lacht Dennis lediglich und gibt keine weitere Antwort als »weiß nicht«. Möglicherweise fällt es ihm schwer, seine Vorstellung von Gottes Handeln an konkreten Beispielen festzumachen. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich sein Reden über Gott nicht mit seiner Erfahrung deckt. Vielleicht möchte Dennis seine Erfahrung aber auch einfach nicht mitteilen.
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»Gott ist überall« Der Aspekt der Omnipräsenz ist für viele Jugendliche von großer Bedeutung. Isabelle betont: »Gott ist die ganze Zeit überall.« Um dies auszudrücken, habe sie das Motiv der Erdkugel in Gottes Hand gewählt. Für Christine »ist Gott bei jedem und sieht alles«, genau wie für Emily, die meint, er »schaut über das Ganze«. Oliver malt Gott als körperähnlichen Umriss um die Erde. Der Körper ohne Kopf ist weiß gezeichnet, und es gehen helle Strahlen von ihm aus. An der Stelle des Bauches ist eine Erdkugel mit braunen Kontinenten, blauen Ozeanen und weißen Eisflächen eingezeichnet. Oliver beOliver t2 gründet, dass Gott »körperlos« sein müsse, denn »sonst hat ja seine Wirkungsfläche irgendwo Grenzen«. Ihm scheint es demnach wichtig zu sein, seine Vorstellung von Gott mit seinen wissenschaftlichen Überzeugungen und seinem logischen Denken in Einklang zu bringen. Für Ulrich ist die Vorstellung der Allgegenwart Gottes ebenfalls wichtig. Er erkennt, dass dies mit menschlichen Mitteln schwer erklärbar ist, und meint: »Es ist eine Sache des Glaubens.« Auch Fabian möchte hervorheben, dass Gott »überall ist«. Er gibt an, er habe dies eigentlich in Form von Wasser darstellen wollen, da Wasser leicht an alle Orte dringe. Das zu zeichnen sei ihm aber zu schwer gewesen, so dass er sich für den Regenbogen entschieden habe. Er weitet die Vorstellung von Gottes Omnipräsenz in die zeitliche Dimension aus, indem er erklärt, dass Gott schon immer dagewesen sei, genau wie der Regenbogen keinen Anfang und kein Ende habe. Paul betont zwar die Allgegenwart Gottes, räumt aber auch ein, dass es Tatsachen gebe, die diese Vorstellung einschränken. »mit der Judenverfolgung und so, da stellt sich schon die Frage, wo er da war. Also da war er nirgends.« Obwohl Paul also über die Frage nach dem Leid zu einer Einschränkung der Omnipräsenz kommt, hält er an der grundsätzlichen Feststellung, dass Gott überall sei, fest. Es stellt sich die Frage, ob es für ihn eine dauerhafte Lösung ist, diese beiden Ansichten nebeneinander stehen zu lassen, oder ob hier eine Ausklammerung der Theodizeefrage vorliegt, die sich für Pauls Vorstellung von Gott noch problematisch auswirken wird.
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
Der Aspekt der Omnipräsenz verdeutlicht für die Jugendlichen zusammenfassend Gottes Gott-Sein. Er übersteigt alle menschlichen Möglichkeiten in Raum und Zeit. Damit ist er zum einen global betrachtet allgegenwärtig, zum anderen aber auch für jeden Menschen individuell nahe und ansprechbar. Dass diese Allgegenwart im Kontrast zum Leid in der Welt steht, hat eine verunsichernde Wirkung. »kein Bild malen« Mehrere Jugendliche bringen unter Bezug auf das zweite Gebot ihre Hemmungen zum Ausdruck, Gott bildlich darzustellen. Sabine erklärt: »Ich wollte ihn halt nicht bildlich malen.« Ulrich, der Gott als Helligkeit darstellt, begründet, so sei es »ja auch schon in der Bibel beschrieben: Man soll sich kein Bildnis davon machen.« Auch für Kai ist das biblische Gebot der Grund, Gott als Dreieck darzustellen. Er kann im weiteren Verlauf seine Vorstellung jedoch – unter Bezug auf die Bibel – konkret erläutern. Trotzdem ist es ihm wichtig, kein Bild von Gott zu malen, denn »Wenn jemand, der mich nicht kennt, irgendwas über mich erzählt, weil er mich ja nicht kennt, dann kann das ja nicht stimmen. Und so habe ich das dann darauf bezogen, dass man keine Vorurteile haben kann, irgendZoe t2 wo.« Um ein vorschnelles Urteil über Gott zu vermeiden, möchte Kai also keine konkrete Darstellung von ihm anfertigen. Zoe hat in einen quadratischen weißen Rahmen weißen, nach innen schwächer werdenden Nebel gemalt, weil sie keine bildliche Vorstellung von Gott habe. So wirke das Bild »so ein bisschen mysteriös«. Emily erläutert ihre Darstellung Gottes als über die Erde wachendes Auge folgendermaßen: »Eigentlich soll man den nicht darstellen […] deswegen habe ich ein Auge gemalt.« Die Tatsache, dass diese Jugendlichen Gott nicht bildlich darstellen wollen, zeugt von ihrer Ehrfurcht vor Gott bzw. von Respekt vor der christlichen Tradition. Bei ihren Begründungen führen die Jugendlichen das biblische Bilderverbot als wichtige Richtlinie an. Allerdings wissen sie nicht viel über dessen Hintergrund. Sie verstehen es recht undifferenziert als ein Verbot, Gott aufzumalen. Der Austausch über die historische Bedeutung des Bilderverbots und seine Relevanz in Bezug auf den Arbeitsauftrag, der in Klasse 6 bei der Religionslehrerin stattgefunden hat, scheint ihnen nicht in Erinnerung geblieben zu sein. Offensichtlich bringt ihre Interpretation des Bilderverbots die Jugendlichen in Konflikt mit Vorstellungen von Gott, die bei ihnen bestehen
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und die sie auch in der Lage sind aufzumalen. Auffällig ist, dass keinem der Jugendlichen das als Malverbot verstandene Bilderverbot so wichtig ist, dass sie stattdessen die Möglichkeit gewählt hätten, ihre Vorstellung von Gott schriftlich festzuhalten. »So sieht der eigentlich nicht aus« Drei Jugendliche merken zu ihrem Bild von Gott ausdrücklich an, dass sie nicht davon ausgehen, dass Gott wirklich so aussehe, wie sie ihn dargestellt haben. Henrike zeichnet Gott als Mann mit Bart und langen Haaren, der vor dem Hintergrund des Universums die Erde in beiden Händen hält. Sie unterstreicht, dass sie nicht glaube, Gott sehe wie auf ihrem Bild aus, kann aber nicht erklären, warum sie diese Darstellung dennoch gewählt hat. Sabine wählt zwei verschiedene Darstellungsweisen, um sich nicht auf einen bestimmten Aspekt Gottes zu beschränken. So zeichSabine t2 net sie einerseits eine halbe Erdkugel mit Kontinenten und Ozeanen in die untere Bildhälfte und umgibt sie mit einer hellen Farbschicht. Darüber positioniert sie ein gleichschenkliges Dreieck in Rosa und Orange, an dessen drei Ecken in violetter Schrift die Worte »Heiliger Geist«, »Vater« und »Sohn« stehen. Sie kombiniert in ihrem Bild die Erdkugel – umgeben von Gott als Schutzmantel – mit dem Trinitätsdreieck und erklärt: »Ich wollte mich halt nicht genau festlegen«. Christine stellt Gott als helle Figur dar, meint allerdings nicht, dass Gott tatsächlich so aussehe. Sie begründet ihre Motivwahl damit, dass er so aus dem Bild »heraussticht«. Christine und Henrike wurden im Interview konkret darauf angesprochen, ob sie meinen, dass Gott so aussehe, wie er von ihnen dargestellt wurde. Diese Frage verneinen sie eindeutig. Da es sich hier allerdings um eine suggestive Fragestellung handelt, wurde in den meisten Interviews darauf verzichtet. Dennoch geben viele Aussagen Anhaltspunkte dazu, dass noch mehr als nur die drei genannten Jugendlichen ihre Bilder keinesfalls als Abbild Gottes verstehen, sondern als symbolische Umsetzung von Eigenschaften Gottes. Ulrich erklärt: »Man kann Gott nicht sehen.« Für Quentin ist es rätselhaft, wie »eine Darstellung« von Gottes Aussehen gelingen könne. Zoe sagt »wenn ich an Gott denke, dann denke ich jetzt nicht an ein bestimmtes Bild«. Isabelle malt eine Hand, die die Erdkugel hält, und erklärt als erstes: »Das heißt jetzt
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nicht, dass ich mir das so vorstelle, dass Gott praktisch seine Hand unter die Erde hebt oder so, sondern ich wusste nicht, wie ich das anders malen soll.« An diesen Beispielen wird deutlich, dass es für die Jugendlichen selbstverständlich ist, dass Gott nicht durch Malen abgebildet werden kann. Dennoch haben sie sich auf das Malen z.B. einer Metapher eingelassen und konnten so zentralen Aspekten ihrer Gottesvorstellung Ausdruck verleihen. »Gott ist nicht nur einer« Manche Jugendliche weisen in ihren Bildern oder Erklärungen auf die Dreieinigkeit hin. Sabine weiß, dass Gott »halt nicht nur einer ist, sondern mehrere«, nämlich Vater, Sohn und Heiliger Geist. Eine vertiefende Erklärung, was das bedeute, kann sie aber nicht abgeben. Kai erläutert: »Man spricht halt immer so von drei Sachen, wenn man von Gott redet. Also von drei verschiedenen Personen«. Er kann den drei Personen auch konkretisierend Eigenschaften zuordnen: »Heiliger Geist, dass der immer für einen da ist […], Vater […der] behütet jemanden, also wie ein Vater das macht, und Sohn / ja vielleicht so freundschaftlich oder wie Geschwister.« Nina geht bei der Beschreibung ihres Bildes ebenfalls auf Vater, Sohn und Heiligen Geist ein und findet, ihr Bild »das vereint so alle Faktoren«. Die Vorstellung, dass Gott in Trinität existiert, ist einigen Jugendlichen also bekannt. Sabine kennt das Dreieck, das sie zur Veranschaulichung der drei Personen zeichnet, nach ihren Angaben aus dem Religionsunterricht, Kai hat es von seiner Mutter erklärt bekommen. Das Stichwort Trinität benutzen die Jugendlichen in diesem Zusammenhang aber nicht. Zwei weitere Mädchen erwähnen zwar nicht die Dreieinigkeit, aber Jesus. Henrike erklärt, dass dieser am Gericht Gottes teilhaben wird, Isabelle spricht davon, dass Gott(!) »am Kreuz für uns gestorben ist«. Man kann nur spekulieren, inwieweit diese trinitarischen Gottesvorstellungen von den Jugendlichen durchdrungen sind oder ob sie eher aufgeschnappte Redewendungen über Gott zitieren. »Gott gibt es nur in den Gedanken der Menschen« In manchen Gesprächen spiegelt sich ein von der philosophischen Religionskritik beeinflusstes Nachdenken über Gott wider. Georg, der sich intensiv mit der Geschichte der Philosophie beschäftigt, meint, dass Gott »eigentlich nur eine Vorstellung von den Menschen ist, von etwas, woran sie sich halten können«. Sie »ersparen sich praktisch dadurch die Arbeit, über etwas nachdenken zu müssen«. Georg malt daher das Wort Gott in bunten Buchstaben in eine sorgfältig gestaltete Gedankenblase. Er erklärt, dass die Vorstellung von Gott bei jedem Menschen individuell sei. Obwohl es Gott nur in den Gedanken der Menschen gebe, nähmen diese Vorstellungen doch passiv
4.3 Gesamtanalyse der Untersuchungsergebnisse
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Georg t2
Einfluss auf das Verhalten der Menschen. Darin sähen die Menschen dann das Wirken Gottes. Dennoch schließt Georg für sich persönlich die Vorstellung von einem fürsorglichen Gott nicht aus, erläutert allerdings, er bevorzuge die Projektionsthese, denn »für die anderen gibt es halt keine Beweise«. Auch für Valerie, die ein leeres Blatt abgegeben hat, da sie »keine Vorstellung von Gott« hat, ist Gott ein Gedanke, der anderen Menschen hilft. Michaela zeichnet Gott ebenfalls als Wort in eine Gedankenblase und erklärt, Gott existiere »nur in den Köpfen von den Menschen«. Diese Vorstellungen seien individuell, da »jeder so seinen eigenen Gott sich so denkt«, und dienen dazu, »halt eine Sicherheit [zu haben], dass jemand da ist, der ihnen hilft«. Bei den Gesprächen mit diesen drei Jugendlichen zeigt sich ein sehr hohes Reflexionsniveau. Sie können komplexe Gedankengänge über Gottes Wesen und Existenz ausdrücken. Mit ihrer Vorstellung geht einher, dass Gott für sie persönlich keine Relevanz hat. Dennoch zeigen ihre Ausführungen zumindest im Fall von Michaela und Georg, dass sie die Existenz Gottes – beschränkt auf die individuelle Wahrnehmung von Menschen – nicht negieren. »den gibt es nicht« Einzig Valerie sagt im Interview ausdrücklich, dass es Gott nicht gibt. Sie hat sich während der Bearbeitungszeit viel Mühe gegeben und intensiv nachgedacht. Ihr Ergebnis ist ein leeres Blatt. Beim Interview erklärt
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sie, sie habe »kein Bild von Gott« und könne auch sprachlich nicht ausdrücken, wie sie sich Gott vorstelle. »Eigentlich denke ich, dass es ihn nicht gibt.« Dass Menschen von Gott reden und sich ihn vorstellen, liegt für Valerie darin begründet, dass sie eine Erklärung für bestimmte Geschehnisse gesucht haben. »Gott als Richter« In einigen Gesprächen ist die Rede davon, dass Gott als Richter über die Menschen urteilt. Allerdings fällt es den Jugendlichen schwer, ihre Vorstellungen vom strafenden Gott genauer zu erläutern. Ulrich drückt etwas verhalten aus, dass, derjenige, der Gott glaubt, »nicht gerade sehr bestraft« werde. Die zurückhaltende Formulierung ist möglicherweise ein Hinweis darauf, dass Ulrich keine konkrete Vorstellung davon hat, was unter der Strafe zu verstehen ist. Henrike erklärt ausführlich eine apokalyptische Vorstellung vom Richten Gottes: Zum jetzigen Zeitpunkt beobachte Gott nur, was auf der Erde geschieht, aber später »dann kommt ja das Gericht […] das ist dann halt die Abrechnung«. Dann werde, wer nicht nach Gottes Willen lebt bzw. nicht an ihn glaubt, bestraft. Die Rückfrage, worin Belohnung und Strafe im Gericht bestehe, beantwortet sie mit einem Lachen. Hier könnte man ebenfalls Unsicherheit oder Verlegenheit angesichts der Nachfrage vermuten. Auch für Kai ist es klar, dass Gott »wenn man Fehler macht, jemanden dafür bestraft«. Er erklärt dazu: »Wenn man irgendeinen Fehler macht, dann folgt gleich darauf was, was dann bestraft. Also mich selber oder die Person.« Möglicherweise bezieht sich Kai damit auf das Sprichwort »Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.« Oliver ist es wichtig, dass auf der Erde Ordnung herrscht. Seiner Meinung nach »schaut [Gott], dass alles seine Richtigkeit hat« und »dass jeder seine gerechte Strafe erhält«. Gott ist für ihn die personifizierte Gerechtigkeit im juristischen Sinn. Gott strafe seiner Ansicht nach nicht nur, sondern verteile auch Belohnungen, so dass man »ein bisschen was zurück bekommt«, wenn man Gutes tut. Zoe zieht die Vorstellung von Gott als Richter in Zweifel. Sie betrachtet Gott gerade nicht als Richter, weist jedoch darauf hin, dass die bisher im Religionsunterricht behandelten biblischen Texte diesen Charakterzug Gottes betont hätten. Möglicherweise liegt hierin ein Grund für die Vorstellungen vom richtenden Gott bei den anderen Jugendlichen. Im richtenden Handeln Gottes sehen sie demnach einen Ausdruck von Gottes Gerechtigkeit. Sein Strafen bzw. Belohnen wird entweder im Diesseits oder im Jenseits angesiedelt. Insgesamt scheinen die Jugendlichen mit dieser Vorstellung etwas befangen umzugehen. Das mag darauf hinweisen, dass sie letztlich nicht von dem überzeugt sind, was sie sagen, oder dass ihnen die Rede von Gottes negativen Eigenschaften unangenehm ist.
4.3 Gesamtanalyse der Untersuchungsergebnisse
»Gott- ein Fragezeichen«
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Zwei Jungen nehmen das Motiv des Fragezeichens in ihr Bild auf und drücken damit ihre Fragen bzw. Zweifel in Bezug auf Gott aus. Clemens malt ein Fragezeichen und schreibt seine Fragen über Gottes Wesen und dessen Existenz dazu.360 Quentin erklärt, dass er nicht gewusst habe, was er zeichnen solle. Die angemessene Darstellung Gottes sei ihm ein »Rätsel«, so dass er ein weißes Fragezeichen als Bild gewählt habe. Bei Quentin bezieht sich die Unsicherheit allerdings nur auf das Aussehen Gottes, er zweifelt Gottes Existenz nicht an und kann ihm auch Eigenschaften Quentin t2 wie »Vertrauen, Glaube, Liebe« zuordnen. Einige weitere Jugendliche bringen in den Gesprächen zum Ausdruck, dass es ihnen schwergefallen sei, die Aufgabe zu erfüllen, ihr Bild von Gott zu malen. Wie Quentin sind sie sich unschlüssig, wie Gott angemessen darzustellen sei. Seine Andersartigkeit wird ihnen bewusst, und sie erkennen das Problem, ihn mit menschlichen Mitteln beschreiben zu wollen. »Gott – wie er in der Bibel steht« Einige Jugendliche erklären, dass sie das, was sie über Gott wissen, aus der Bibel erfahren haben. Diese ist für sie die gültige Quelle der Erkenntnis über Gott. Quentin wurde gefragt, woher er die Eigenschaften Gottes kenne, die er beschreibt, und er antwortet: »Vielleicht Bibel lesen, oder so.« Ruth beschreibt, dass es bei Gott keine Lichtquellen geben müsse, »weil eben Gott da ist, dass das dann so hell ist, so erleuchtet«. Möglicherweise bezieht sich Ruth, die nach eigenen Angaben in der Bibel liest, dabei auf die Beschreibung des himmlischen Jerusalems in Offb 21,23. Zoe betont dagegen, dass sie im Gegensatz zur Bibel »eher so an den lieben Gott« denke, und nicht an den, »der die ganze Zeit nur die Leute bestraft und böse ist [wie es] in der Bibel kommt.« Clemens stellt die Frage nach der Bedeutung der Bibel als Quelle der Offenbarung über Gott: »Ist er so, wie es in der Bibel immer steht, dass er Macht hat?« Auch für Michaela bietet die Bibel eher Anlass, Fragen zu stellen, als dass sie zufriedenstellende Antworten gibt. »Zum Beispiel das mit Adam und Eva. Das kann ich irgendwie auch nicht so ganz glauben, weil die
360
Vgl. Kapitel 4.2.4.
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zwei, die haben ja dann zwei Söhne gehabt. Und wie kann sich dann die ganze Welt entwickeln?« Clemens äußert sich kritisch zur Unterschiedlichkeit der Überlieferungen in den Evangelien. Es zeigt sich also, dass die Bibel als Informationsquelle über Gott bekannt und anerkannt ist, sich für manche Jugendliche jedoch Fragen und Probleme auftun, die mit ihrer Hermeneutik in Zusammenhang stehen. »Gott ist vielseitig« Dass Gott über eine Fülle von Eigenschaften verfügt und immer wieder anders sein kann, ist Thema in drei Gesprächen. Xavier findet, dass Gott »in der Bibel auch ziemlich vielseitig beschrieben wird«. Er stellt das in seinem Bild durch verschiedene Symbole dar: So stehe beispielsweise die Krone für Nina t2 Gottes Macht und ein Anker für die Hoffnung, die Menschen bei ihm finden. Auch Isabelle, die deshalb ein zweigeteiltes Bild malt, redet von der Vielseitigkeit Gottes. Sie sagt, »Gott bringt Abwechslung.« Darunter versteht sie einerseits die Nähe Gottes in allen Gefühlslagen, andererseits, dass Gott überraschend handle und die Dinge nicht immer so gestalte, wie die Menschen es erwarten. Er »führt ja manchmal auch auf Umwegen«. Nina stellt Gott in Form von Brot und Wein dar, was an das Abendmahl erinnert. Sie malt einen Laib Brot und einen ungefähr gleich großen Kelch ins Zentrum ihres Bildes. Von beidem gehen helle Strahlen aus. Sie erklärt dazu, »dass Gott eben relativ vielseitig ist, dass er viele Eigenschaften hat« und »dass man nicht irgendwann sagt, dass man genug von Gott hat, sondern er ist immer anders, deswegen auch immer interessant«. Sie vergleicht diese Eigenschaft Gottes mit dem Lebensmittel Brot, das auch vielseitig einsetzbar und lebenswichtig sei. Auf das Abendmahl geht sie in ihren Ausführungen zum Bild nicht ein. Der Hinweis der Jugendlichen auf die Vielseitigkeit Gottes begründet erneut ihre Überzeugung, dass Gott nicht leicht darzustellen sei. Sie wollen sich nicht auf einen bestimmten Aspekt Gottes beschränken und geben durch ihre Darstellungsweisen Einblicke in ein komplexes Bild von Gott. »Gott ist die Verbindung zwischen den Menschen« Ein Mädchen, Wiebke, zeichnet auf ihrem Bild drei Menschen, die sich an einem hellen Seil festhalten. Dieses »Seil ist halt irgendwie so die
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Verbindung zwischen den Menschen«. Für Wiebke ist Gott dieses Seil, also die verbindende Solidarität der Menschen untereinander. Es bedeutet, dass die Menschen »das Gute tun«, und zwar nicht aus Angst vor Strafe, sondern um des Guten willen. Wiebkes Bild und ihre Ausführungen zeugen von einem für ihr Alter bemerkenswerten Reflektionsgrad.361 4.3.4 Zusammenfassende Interpretation t2 Die Analyse der Bilder und Interviews von t2 zeigt, dass die Jugendlichen auch zum zweiten Untersuchungszeitpunkt zur Frage nach ihrer Vorstellung von Gott etwas zu sagen haben. Ihre Gedanken und Ausführungen gehen über das hinaus, was sie im Alter von elf oder zwölf Jahren bei t1 schon formulieren konnten.362 Die Vorstellungen der Jugendlichen von Gott sind komplex, und daraus ergibt sich, dass die Bilder nur kleine Ausschnitte der Vorstellungen von Gott erfassen können. Die in den Gesprächen mitgeteilten mentalen Bilder von Gott gehen weit über das gemalte Bild hinaus, und die Jugendlichen wollen gerne auch auf weitere Aspekte zu sprechen kommen. Insgesamt kann man feststellen, dass sich neben klaren Aussagen über Gottes Wesen und Wirken auch Anfragen und Zweifel in den Interviews finden lassen. Diese werden zum Teil intensiv reflektiert und mit Wissen aus anderen Lebensbereichen in Dialog gebracht, zum Teil stehen Infragestellungen unverbunden neben den kindlich-kritiklosen Vorstellungen von Gottes Eigenschaften. Im Folgenden wird die erste Fragestellung dieser Untersuchung im Hinblick auf den zweiten Zeitpunkt beantwortet: Wie stellen Kinder und Jugendliche ihre Vorstellung von Gott dar? Welche Eigenschaften ordnen sie Gott zu? In welchem Verhältnis zu den Menschen wird er dargestellt? Wie wird das Problem der Nichtdarstellbarkeit Gottes thematisiert? Die Motive der gemalten Bilder sind von hellen und bunten Farben dominiert. Die Bilder sind im Großen und Ganzen eher schlicht gestaltet und konzentrieren sich auf einige einfache Elemente, die selten detailreich ausgeschmückt werden. Mit den Motiven werden positive Eigenschaften Gottes in den Mittelpunkt gerückt. Folgende Merkmale Gottes sind den Jugendlichen wichtig: In vielen Bildern und Gesprächen kommt zum Ausdruck, dass die Jugendlichen Gott sowohl in Beziehung zu den Menschen im Allgemeinen als auch zu sich persönlich setzen. Sie betonen seine fürsorgliche Nähe und messen der Tatsache, dass Gott immer nahe und »für einen da« ist, große Bedeutung bei. Damit zeigen sie, dass sie den Menschen als soziales Wesen verstehen, das auf Beziehung und die Nähe anderer Personen angewiesen ist. Gott 361 362
Vgl. Kapitel 4.2.5. Zum Vergleich der beiden Untersuchungszeitpunkte siehe Kapitel 4.4.
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kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu. Da er unabhängig von Zeit und Raum ist, kann er das menschliche Bedürfnis nach Nähe, Gespräch und Unterstützung verlässlich stillen. So ist seine Allgegenwart von großer Bedeutung für die Jugendlichen. Wurden sie nach dem wichtigsten Merkmal Gottes gefragt, antworteten viele Jugendliche damit, dass er immer da sei. Diese Nähe beziehen sie sowohl auf einzelne Individuen, z.B. sich selbst, als auch auf die Menschheit insgesamt. Konkret zu beschreiben, wie die Menschen durch Gott Nähe oder Hilfe erfahren, fällt vielen Jugendlichen aber schwer. Dabei wird deutlich, dass die Überzeugung von Gottes Nahe-Sein auch mit einem Gefühl von Gottes Distanz zu den Menschen bzw. mit seiner Transzendenz einhergehen kann. Ein weiteres Motiv, das sich in vielen Bildern und Gesprächen zeigt, ist das des Schutzes, den Gott den Menschen gibt. Dieser Schutz wird wiederum sowohl auf die Menschheit als ganze, als Bewohnerin der Erde bezogen als auch auf das einzelne, schutzbedürftige Individuum. Dass es Gott mit den Menschen gut meint, dass er der liebe Gott ist und nicht der böse, dass er Freude bereiten will und nicht Leid, steht für fast alle Jugendlichen außer Frage. Allerdings mangelt es vielen an der Fähigkeit oder Bereitschaft, diese Überzeugung an konkreten Beispielen oder Erfahrungen zu illustrieren. Zur Güte Gottes als einem zentralen Wesensmerkmal kommt seine Gerechtigkeit hinzu. Für einige Jugendliche ist es wichtig zu erwähnen, dass der Gott, dem nichts verborgen bleibt, die Menschen nach ihren Taten beurteilt und für Gerechtigkeit auf der Erde sorgt. Dies kann innerweltlich in Form von angemessenen juristischen Urteilen und Strafen geschehen oder auch in einem letzten Gericht Gottes außerhalb dieser Welt. Zum Aspekt der Strafe tritt auch eine Belohnung von gottgefälligem Verhalten hinzu. Für die Jugendlichen, die dies erwähnen, ist solches gottgefällige Verhalten nicht nur auf die Taten der Menschen zu beschränken, sondern spitzt sich in der Beziehung zu Gott, genauer gesagt dem Glauben an ihn, zu. Neben diesen Merkmalen Gottes, bei denen viele Jugendliche mit einiger Sicherheit sagen können, dass sie untrennbar zu Gottes Wesen gehören, sind in den Bildern und Interviews aber auch Anfragen und Unsicherheiten zu Tage getreten. Zunächst erwähnen einige Jugendliche, dass die Bibel – die für andere eine vertrauenswürdige und wichtige Quelle der Erkenntnis über Gottes Wesen ist – sie vor Rätsel stellt. Sie finden in den biblischen Texten Aussagen, die sie nicht mit ihrem Weltbild in Verbindung bringen können, z.B. die Erzählungen aus der Urgeschichte, die für sie im Kontrast zu naturwissenschaftlichen Aussagen über die Entstehung der Erde und des Menschen stehen. Ein Bibelverständnis, das solche Texte als Tatsachenberichte einordnet, bereitet den Jugendlichen große Schwierigkeiten. In den Gesprächen kam nicht zum Ausdruck, dass den Jugendli-
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chen bewusst ist, dass biblische Texte anders gedeutet werden könnten. So wird die Bibel für einige Jugendliche zum Anstoß, und der Glaube an den in der Bibel bezeugten Gott wird für sie dadurch erschwert.363 Eine weitere Schwierigkeit, die in den Bildern und Gesprächen zum Ausdruck kommt, ist das Problem der Darstellbarkeit und damit verbunden der Erkennbarkeit Gottes. An der Frage, wie Gott angemessen darzustellen sei, wird die Frage offenbar, wie Gott überhaupt zu erkennen ist. Dass eine umfassende Darstellung Gottes in einem gemalten Bild nicht möglich ist, liegt für die Jugendlichen auf der Hand. Aber auch beim sprachlichen Umschreiben Gottes kommen sie an ihre Grenzen. Dass dieses Problem in Gottes Andersartigkeit, seiner Transzendenz begründet ist, wird von den Jugendlichen nicht explizit thematisiert. Dennoch wird in den Gesprächen deutlich, dass alles menschliche Bemühen, Gott zu beschreiben oder zu verstehen, an seine Grenzen kommt. Dies wird von manchen Jugendlichen wertfrei hingenommen, andere reagieren darauf auch ratlos oder frustriert. Für die größte Ratlosigkeit, die in den Gesprächen zu Tage tritt, sorgt freilich das Problem der Nichtvereinbarkeit von Gottes Güte mit seinem mangelnden Eingreifen in der Welt. Hier nennen die Jugendlichen einen entscheidenden Unterschied zu ihren kindlichen Vorstellungen von Gott: Ihr kindliches Vertrauen auf den Gott, der dafür sorgt, dass »nichts passiert«, wurde durch Erfahrungen von Leid in Frage gestellt. Dies können eigene Erfahrungen sein oder Ereignisse im Bekanntenkreis. Aber auch Naturkatastrophen, die grundsätzliche Ungerechtigkeit des Lebens auf dieser Welt oder historische Beispiele wie die Shoah können der Anlass sein, der die Jugendlichen zum Nachdenken bringt. In den Gesprächen ist allerdings nie die Rede davon gewesen, dass die Theodizeefrage zu einer Ablehnung des Glaubens an Gott geführt hätte. Dennoch zeigt sich eine wachsende Zögerlichkeit in den Aussagen über Gott und auch das Inbetrachtziehen, dass das fehlende Handeln Gottes ein Hinweis auf seine Nichtexistenz sein könnte. Eine mögliche Lösung des Problems ist für manche Jugendliche, dass Gott zwar gut ist und alle Ungerechtigkeit sieht, jedoch nicht in das innerweltliche Geschehen eingreift. Einzelne Jugendliche äußern, dass Gott nicht für die Menschen verständlich handelt, und halten es für möglich, trotz des nicht-Verstehens am Glauben an ihn festzuhalten. Inwiefern die hier knapp dargestellten Probleme im Religionsunterricht produktiv aufgenommen werden können, soll in Kapitel 5 gezeigt werden. 363
Da andere hermeneutische Ansätze als ein wörtliches Bibelverständnis in den Gesprächen nicht vorkamen, ist anzunehmen, dass im Religionsunterricht die Einheit Bibel zum zweiten Untersuchungszeitpunkt noch nicht unterrichtet wurde. Interessant wäre zu wissen, ob diese Unterrichtseinheit den Jugendlichen einen differenzierteren Blick auf biblische Texte ermöglicht.
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
Der folgende Abschnitt widmet sich der zweiten und dritten Fragestellung. Im Vergleich von t1 und t2 sollen Veränderungen der individuellen Vorstellungen im Laufe der vier Jahre festgestellt werden, und es wird in den Blick genommen werden, wie die Jugendlichen selbst diese wahrnehmen und interpretieren.
4.4 Entwicklung der Vorstellungen vom Kindes- zum Jugendalter Einen besonderen Schwerpunkt der Untersuchung bildet die Frage nach der individuellen Entwicklung der Gottesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen. Dieses Thema wurde in den Interviews angesprochen, und an dieser Stelle sollen die Kinder und Jugendlichen mit ihrer Selbsteinschätzung zuerst zu Wort kommen. Erst anschließend folgt dann eine Analyse der Entwicklung aus religionspädagogischer und entwicklungspsychologischer Sicht. 4.4.1 Entwicklung der Gottesvorstellungen aus subjektiver Perspektive der Jugendlichen Im Folgenden wird die dritte Fragestellung beantwortet werden: »Wie nehmen Jugendliche die Veränderung bzw. nicht-Veränderung ihrer Vorstellung von Gott im Vergleich zur Kindheit wahr und wie deuten sie diese?« Das Thema der Weiterentwicklung der Vorstellungen von Gott wurde schon bei t1 mit den Kindern thematisiert. Wie bereits erwähnt, lag hier ein Zeitabstand von ungefähr einem halben Jahr zwischen dem Zeit, punkt des Malens und der Durchführung der Interviews was in den Interviews produktiv genutzt werden sollte. Die Kinder wurden befragt, ob sie mittlerweile ein anderes Bild von Gott malen oder bei dem vorliegenden Bild bleiben würden. Von den 25 Kindern, die ein Bild erstellt hatten, gaben die meisten (20) an, dass sie wieder das gleiche oder ein ähnliches Bild malen würden. Es muss also festgehalten werden, dass die meisten Jungen und Mädchen sich mit ihrem Bild nach sechs Monaten noch identifizieren können. Vier Kinder äußerten, dass sie ihr Bild in der vorliegenden Form zum jetzigen Zeitpunkt nicht wieder malen würden. Ein Mädchen, Emily, war unentschlossen. Auf ihrem Bild ist Gott als fast das ganze Blatt füllende Gestalt im Universum dargestellt, deren Kopf die Erde ist. Damit will sie hervorheben, wie groß Gott im Vergleich zu den Planeten ist, die für die Menschen schon riesig erscheinen. Emily meinte auf die Frage, ob sie etwas Ähnliches malen würde: »Ja, schon. Vielleicht auch so wie viele malen, eine Hand. Wo die Welt hält. Ja, wahrscheinlich fast
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gleich.« Offensichtlich kennt sie die Bilder ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen und findet Gefallen am Motiv der Hand Gottes, die die Welt hält. Einen großen Unterschied zwischen ihrem Bild und diesem Motiv erkennt sie nicht, denn die zentrale Idee, dass Gott viel größer ist als die Planeten, findet sich hier wieder. Es ändert sich demnach wenig an Emilys Vorstellung von Gott, sie könnte sich aber eine andere, wenn auch ähnliche Darstellungsweise vorstellen, die sie bei den anderen Kindern vorgefunden hat. Nils erklärt ebenfalls, dass die Hand nun für ihn eine Alternative zu seinem Bild darstellt. Er hatte ein gelbes Gesicht mit einem Strahlenkranz gemalt, das Gott darstellen soll, der wie eine Sonne die Erde bescheint, die er geschaffen hat. Mittlerweile hält er die Hand für ein gutes Motiv, »weil Gott ja eigentlich alles in der Hand hat.« Auch hier ist wohl weniger davon auszugehen, dass Nils ein ganz anderer Aspekt Gottes wichtig geworden wäre oder eine grundsätzlich andere Art der Darstellung wählen würde, sondern das Motiv der Hand für ihn ebenfalls das versinnbildlicht, was ihm auch an seinem Bild wichtig war. Noch einen weiteren Jungen fasziniert das Motiv der Hand so sehr, dass er es sowohl in seinem Bild benutzt hat als auch in veränderter Form nun wählen würde. Paul hat eine vorgedruckte kleine Hand aus Papier angemalt und ausgeschnitten, auf das schwarze Blatt geklebt und mit einem orange-gelben Strahlenkranz versehen. Wichtig war ihm an diesem Bild, dass darin zum Ausdruck kommt, »dass Gott uns immer in der Hand hat, also dass der uns auch immer beschützt«. Nun würde er lieber ein Gesicht malen, das von einer großen Hand gehalten wird, denn das zeigt, »dass Gott dich also beschützt und so«. Hier ist wiederum zwar eine Veränderung des favorisierten Motivs festzustellen, aber kein grundsätzlicher Wandel der Vorstellung von Gott. Kai würde sich zum Zeitpunkt des Interviews ebenfalls für eine andere Art der Darstellung Gottes entscheiden. Sein Bild zeigt Gott als breiten Geist, von dessen ausgestreckter Hand eine blaue und grüne »Ausstrahlung« ausgeht, die die Menschen »freudig« macht und wärmt. Er erklärt dazu, dass Gott alle Menschen schützt. Jetzt allerdings würde er folgendes Symbol wählen: »Ich tät ein Dreieck machen und auf der einen Spitze Gott-Vater, auf der anderen Gott-Sohn und auf der anderen Gott das / Gott-Heiliger-Geist.« Kai begründet, dass er sich das überlegt habe, da man sich im Gebet ja auch an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist wende. Um es theologisch zu formulieren: Die Trinität Gottes entspricht für ihn den drei Spitzen des Dreiecks, deshalb habe er sich das selbst »zusammengestellt«. Erst später habe es ihm dann seine »Mama gezeigt«. Kai wendet sich damit von seinem ersten Bild deutlich ab. Er wählt eine viel abstraktere Darstellung Gottes. Während vorher inhaltlich im Vordergrund stand, dass Gott die Menschen schützt und ihnen Freude schenkt, wird nun das Wesen Gottes als Dreieiniger the-
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matisiert. Kais Perspektive richtet sich auf das systematische Reflektieren darüber, wer Gott ist, und nicht mehr darauf, wie Gott auf die Menschen wirkt. Ganz von konkreten Anschauungen losgelöst ist sein Vorschlag, Gott durch das Dreieck zu symbolisieren, jedoch nicht. Kais Hinweis, dass die Mutter ihm das Symbol gezeigt habe, macht auch deutlich, welchen Einfluss die religiöse Erziehung im Elternhaus hier auf Kais Vorstellung von Gott nimmt. Zoe hat Gott als »schlauen« »Professor« gemalt, der die Welt, die er geschaffen hat, in der Hand hält. Bewusst hat sie das ganze Bild nur in weiß gestaltet, denn sie könne sich nicht vorstellen, dass es im Himmel Farben gebe. Mit der anthropomorphen Darstellung Gottes hat Zoe nun Schwierigkeiten: »Eigentlich kann das ja nicht sein, dass der so aussieht.« Wenn sie ein anderes Bild von Gott malen sollte, würde sie sich für »irgendwie ein bissl Nebel oder so« entscheiden. Zoe äußert damit ihre gewachsenen Zweifel an der Darstellbarkeit Gottes. Ihr ist klargeworden, dass alle Motive, die ihr bekannt sind, Gott nicht angemessen treffen. Daher würde sie auf den Nebel ausweichen, der für sie Gottes Nichtdarstellbarkeit symbolisiert. Diese Veränderung in Zoes Vorstellung könnte wie im Falle Kais mit einer Weiterentwicklung der kognitiven Fähigkeiten zu erklären sein. In keinem betrachteten Fall findet man Hinweise darauf, dass die Gottesvorstellungen der Kinder durch den Religionsunterricht in den vergangenen Monaten oder durch inzwischen begangene und erwartete Feste im Kirchenjahr (Weihnachten, Ostern) beeinflusst wurden. Beim zweiten Befragungszeitpunkt, also vier Jahre nach dem ersten, wurden den Befragten neben den Bildern von t2 auch die Bilder von t1 vorgelegt und mit ihnen besprochen. Beide wurden von den Jugendlichen, so die Anforderung der Interviewerin, miteinander verglichen, und es sollte zu möglichen Veränderungen Stellung genommen werden. So sollte den Jugendlichen Gelegenheit gegeben werden, sich an ihre früheren Vorstellungen zu erinnern und zu reflektieren, inwieweit sich diese verändert haben. Für die Forschungsfragen war es von besonderem Interesse, ob und wie die Jugendlichen eventuelle Veränderungen begründen können. Einige Jugendliche halten ihre beiden Bilder von Gott für sehr ähnlich und erklären, dass es in ihrer Vorstellung von Gott keine Veränderung gegeben habe. Henrike malt Gott weiterhin als Mann mit der Erdkugel in Händen und erklärt: »dass ich es mir schon noch gleich vorstelle. Da gab es irgendwie nix, wo ich irgendwas gelesen habe oder so, was sich dann grundsätzlich verändern würde.« Für sie sei die Bibel die Grundlage ihrer Vorstellung von Gott, und dort habe sie nichts Gegenteiliges gelesen, so dass ihre Vorstellung stabil geblieben sei. Auch Christine betont die Kontinuität ihrer Vorstellung von Gott, wenn sie hervorhebt,
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»dass sich jetzt eigentlich in der Beziehung zu Gott […] nichts geändert hat in diesen Jahren. Dass ich immer noch der Meinung bin, dass Gott für jeden da ist.« Paul erklärt, dass er weiter so über Gott denke wie früher, da »der sich nicht verändert hat«. Auch für Fabian ist es selbstverständlich, dass seine Vorstellung von Gott die gleiche bleibt: »Weil ich schon immer mit der Einstellung gelebt habe. Und die lebe ich auch noch weiter. Ich denke, wenn Sie das in fünf Jahren noch mal machen, male ich wieder ein ähnliches Bild.« Fabian erklärt ganz allgemein zur Entstehung von Gottesvorstellungen: »Ich denke halt, das kommt vom Elternhaus. Wenn die Eltern sagen ›ja, das stimmt nicht, das ist eh egal‹, dann hat man schon von vornherein so das Gefühl, ›ja, das stimmt nicht‹«. Ergänzend geht er auch auf die Rolle des Individuums ein: »Es kommt auch immer auf den Menschen selber drauf an. Ob er das glauben will.« Für ihn persönlich hat diese Kombination aus Anleitung von Seiten des Elternhauses und persönlicher Entscheidung bewirkt, dass Gott für ihn weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Andere Jugendliche haben zwar sehr unterschiedliche Bilder gemalt, erkennen in beiden Darstellungsweisen aber die gleiche Absicht. So sagt Ulrich: »Man kann den Grundgedanken erkennen, aber halt verschieden umgesetzt.« Für ihn ist es deutlich, dass sein »Glaube sich nicht sehr verändert hat über die Jahre hinweg«. Auch Isabelle und Xavier reflektieren ihre beiden Bilder auf diese Weise. Xavier begründet die Verschiedenheit der Darstellungen knapp mit »Faulheit«. Als Sechstklässler habe er sich beim Malen noch mehr Mühe gegeben. Für alle anderen Jugendlichen, also 15 von 21, ist eindeutig eine Veränderung in ihrer Vorstellung von Gott zu erkennen. Einige von ihnen sehen in der Veränderung die logische Folge ihres Älterwerdens. Beispielsweise findet Quentin seine beiden Bilder sehr unterschiedlich und weist darauf hin, dass er als Kind noch »mehr Phantasie« gehabt habe. Kai gibt an, er habe in der Zwischenzeit im Konfirmationsunterricht die Erkenntnis gewonnen, dass »man kein Bild malen soll von Gott, weil man halt einfach nicht weiß, wie er aussieht«. Deshalb habe sich seine Darstellung verändert. Auch Nina weist auf den Konfirmationsunterricht als Auslöser für eine Veränderung in ihrem Denken über Gott hin. Als Sechstklässlerin habe sie sich eher eine »Figur« vorgestellt, heute habe sie dagegen eher »ein Symbol für Gott«. Neben dem Konfirmationsunterricht habe sie im Mädchenkreis und für sich selbst oft in der Bibel gelesen und so viel über verschiedene Bilder von Gott erfahren. Nun versuche sie, »ein bisschen größere Teile« dieses vielfältigen Gottesbildes aufzunehmen. Auch Oliver hat »Erfahrungen im Konfirmandenunterricht« gemacht, und diese haben ihm ein neues »Verständnis von der Bibel« ermöglicht. Das Wissen, dass Gott überall »gegenwärtig« ist, habe ihn zu seiner neuen, »körperlosen« Vorstellung von Gott gebracht. Zoe findet ihre beiden Bilder ebenfalls unterschiedlich. In der sechsten
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Klasse habe sie noch »eine klare Vorstellung« gehabt, was sich aber geändert habe. Sie zieht in Betracht, dass diese Veränderung von der Konfirmation beeinflusst sein könnte, da »man da halt sich mehr mit Gott beschäftigt«. Manche Jugendliche weisen ausdrücklich darauf hin, dass ihre Vorstellung von Gott von Zweifeln, ob es ihn überhaupt gibt, infrage gestellt wird. Clemens begründet seine veränderte Vorstellung von Gott damit, dass er »halt Antworten gesucht habe«. Sein Wissen über die Antike und die damalige Religion passt für ihn nicht mit dem zusammen, wie Gott im Alten Testament geschildert wird. Für Clemens ist es eine Herausforderung, dass Gott »ja nichts getan« hat. Dies bezieht er zum Beispiel darauf, dass Gott sich nicht gegen den Glauben an »die alten Götter« gewehrt habe, obwohl es doch in der Bibel heißt, dass es nur einen Gott gebe und nur ein Gott verehrt werden solle. Als weiteres Beispiel führt Clemens an, dass Gott nichts gegen die nationalsozialistische Herrschaft getan habe. Er erklärt, dass diese Zweifel und Anfragen an Gott ihn in Konflikt mit den Einstellungen seiner Eltern bringen. Die Auseinandersetzung mit den religiösen Vorstellungen des Elternhauses ist für ihn sehr prägend. Einige andere Jugendliche weisen ebenfalls auf die Theodizeefrage hin. Sabine erklärt, dass sie heute anders über Gott nachdenke: »in der Fünften [sic!] waren es halt kindliche Ansichten, jetzt macht man sich da schon eher Gedanken darüber«, vor allem über die Frage »warum lässt Gott Leid zu?«. Dazu habe sie in erster Linie der Religionsunterricht veranlasst, in dem entsprechende Themen behandelt wurden. Auch Emily bezieht sich auf die Theodizeefrage: Früher habe sie »so richtig daran geglaubt, dass Gott was verändert«, wogegen sie heute zwar denke, »dass er da ist, aber nicht, dass er großartig was macht«. Dies sei begründet dadurch, dass viele Freunde Gott in Zweifel ziehen. Emily selbst sagt, »ich glaube schon an Gott, aber ich wundere mich halt auch, warum manche Sachen passieren.« Clemens nennt als Beispiele hierfür »Irak, Afghanistan, die ganzen Kriege«. Er sieht es als schwierig an, angesichts dieser Ereignisse an Gott zu glauben. Wiebkes Vorstellung von Gott hat sich sehr verändert, da sie sich »schon ziemlich Gedanken« gemacht habe: Als Sechstklässlerin habe sie »noch total an die Bibel und so geglaubt.« Heute möchte sie die Aussagen der Bibel »übertragen« verstehen. »Ich kann nicht an ein Ding glauben. Ich weiß nicht. Ich glaube einfach, dass das nicht sein kann, dass genau so alles ist.« Für sie ist es nicht wahrscheinlich, dass Gott existiert, so wie er in der Bibel beschrieben wird. Sie überlegt, dass »es […] auch ein anderer Gott« oder »einfach irgendeine Kraft« sein könnte. Valerie ist die einzige Jugendliche in der Untersuchung, die offen davon spricht, dass sie nicht an Gott glaubt. Dies sei für sie aber nicht immer so gewesen, denn als Kind habe sie nicht an Gottes Existenz gezweifelt, außerdem sie sei auch auf eigenen Wunsch konfirmiert worden. In der
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Zwischenzeit habe sie erkannt, dass die Menschen sich Gott nur ausgedacht haben und es ihn nicht wirklich gebe. Eine Begründung für diese Entwicklung zu finden, fällt Valerie schwer. Sie erwägt als Erklärung, dass ihre Eltern nicht »gläubig« sind. Georg sieht ebenfalls eine Veränderung in seiner Vorstellung von Gott. Er hat sich intensiv mit Philosophiegeschichte auseinandergesetzt und ist dadurch zu dem Schluss gekommen, dass er die Welt plausibler ohne Gott erklären könne, »als dass es da so was gibt wie Gott«. Auch für Michaela ist ihr Nachdenken zum Auslöser einer veränderten Vorstellung von Gott geworden. Sie erzählt von ihren Zweifeln an Gott aufgrund der Gegensätze zwischen der biblischen Urgeschichte und den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Entstehung des Menschen. Ihre frühere Vorstellung sei außerdem stark von außen beeinflusst gewesen: »früher habe ich auch eher so auf andere gehört. […] Relilehrer und so.« Nun verlasse sie sich mehr auf ihr eigenes Überlegen. Nur in wenigen Interviews kommt zum Ausdruck, dass die Jugendlichen die an sich selbst wahrgenommene Veränderung im Denken über Gott auch bewerten. Valerie, für die Gott nicht existiert, erklärt: »Ich finde es jetzt nicht gut, aber auch nicht schlecht eigentlich. Das ist einfach so.« Wiebke hält sich mit einer Bewertung ebenfalls zurück: »Ich habe jetzt halt mehr eigene Vorstellungen. […] Ich glaube, es kommt nicht darauf an, was man glaubt, sondern halt, dass man an was glaubt.« Auch für Quentin ist die Tatsache, dass sich sein Denken über Gott verändert hat, »weder gut noch schlecht. Neutral eigentlich.« Emily wünscht sich dagegen ihre frühere Vorstellung zurück: »Mir wäre es eigentlich schon lieber, wenn ich noch so denken könnte, dass Gott halt wirklich hilft, aber kann ich eigentlich fast nicht mehr.« Clemens leidet darunter, dass sich seine Vorstellung von Gott verändert hat und er dadurch Gottes Existenz in Zweifel zieht: »Ich fände es gut, wenn ich überhaupt jetzt eine Entscheidung treffen könnte.« Es stört ihn, »dass ich jetzt nicht weiß, ob oder ob nicht«. In den meisten Fällen wird die Entwicklung der Vorstellungen, sofern vorliegend, allerdings neutral oder positiv bewertet. 4.4.2 Entwicklungspsychologische und religionspädagogische Interpretation der Veränderung der Gottesvorstellungen Die zweite Fragestellung der Untersuchung widmet sich der Veränderung der individuellen Vorstellungen von der Kindheit zum Jugendalter. Der Vergleich der Ergebnisse der beiden Untersuchungszeitpunkte hat sowohl Kontinuitäten als auch deutliche Veränderungen gezeigt. Diese werden im Folgenden entwicklungspsychologisch und religionspädagogisch interpretiert. Zunächst jedoch werden einige Beobachtungen am vorliegenden Material genauer expliziert. Betrachtet man allein die Bilder als solche, so ist
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insgesamt erkennbar, dass die Bilder bei t1 mit viel Sorgfalt und Liebe zum Detail erstellt wurden. Bei t2 ist dies seltener der Fall. Darüber hinaus fehlt eine bei t1 noch häufig erkennbare Identifikation mit dem eigenen Bild. Die Gespräche mit den Jugendlichen zeigten mehrfach, dass sie sich von dem Gemalten distanzieren möchten bzw. es zumindest ergänzen müssen, damit es ihren Vorstellungen gerecht wird. Dies entspricht den schon betrachteten Erkenntnissen Schusters über die Entwicklung der zeichnerischen Kompetenz. 364 Es handelt sich also um ein allgemeines Phänomen im Umgang Jugendlicher mit ihren Bildern. Darüber hinaus könnten aber auch religionsspezifische Aspekte eine Rolle spielen. So stehen beim zweiten Untersuchungszeitpunkt die Bilder im Vergleich zu den Gesprächen deutlich weniger im Mittelpunkt. Die Gespräche fallen im Vergleich zu t1 zeitlich viel länger und inhaltlich tiefergehend aus. Daher steht für t2 auch mehr auszuwertendes Interviewmaterial zur Verfügung als bei t1, so dass das veränderte Verhältnis nicht überrascht. Die größte Kontinuität zwischen t1 und t2 kann man darin sehen, dass positive Vorstellungen von Gott bei beiden Zeitpunkten klar überwiegen. Es gibt Aspekte dieses positiven Gottesbildes, die bei t1 vorkommen und bei t2 weiterhin für die Jugendlichen von großer Bedeutung sind. Dies ist allem voran Gottes Omnipräsenz und der damit verbundene Schutz für die Menschen. Um diese Merkmale Gottes auszudrücken, wählen die Jugendlichen zum Teil auch Motive, die ihnen schon im Kindesalter wichtig waren, z.B. die Hand oder Sonne bzw. Lichtstrahlen. Wie bei t1 gilt auch bei t2 für die schützende Wirkung Gottes, dass sie sowohl der Erde als ganzer dient als auch dem Individuum zugewandt ist. Das Thema der Omnipräsenz Gottes eignet sich gut, um aufzuzeigen, dass Motive und Gedanken aus der Kindheit auch beim zweiten Untersuchungszeitpunkt noch vorliegen, allerdings in veränderter Form. Beim ersten Untersuchungszeitpunkt wurde Gottes Allgegenwart durchweg mit seiner Güte und Allmacht verbunden, sodass seine die Menschen versorgende und behütende Nähe als Selbstverständlichkeit erscheint. Bei t2 sind die Aussagen zu Gottes Omnipräsenz und seinem Eingreifen in die menschliche Wirklichkeit deutlich zurückhaltender. Die Jugendlichen gehen zwar darauf ein, dass Gott immer da ist und den Menschen hilft, doch wählen sie zur Veranschaulichung statt konkreter Erläuterungen entweder innere Prozesse oder verzichten ganz auf Beispiele. So wird aus dem Gott, der aufpasst, »dass nichts passiert«, nun einer, der den Menschen das Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Auf äußere Dinge bezogen wird Gott für die heutige Zeit kaum als wirksam erlebt, obwohl manche Jugendliche annehmen, dass er »früher«, z.B. zur Zeit des Alten Testaments, in das Leben der Menschen 364
Vgl. Schuster, Psychologie, 46f.
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spürbar eingegriffen habe. Dieser Mangel an aktueller Erfahrung mit Gottes eingreifender Wirksamkeit ist auch für manche Jugendliche der Grund, weshalb sich ihr Bild von Gott verändert hat oder weshalb sie seine Existenz grundsätzlich in Zweifel ziehen. Auch das Problem der Darstellbarkeit Gottes, das schon bei t1 zur Sprache kam, findet sich beim zweiten Untersuchungszeitpunkt wieder. Es behandelt nicht mehr nur die Schwierigkeit, dass man Gott mit menschlichen Sinnesorganen nicht sehen kann, sondern es wird nun zugespitzt auf das grundsätzliche Problem der Erfassbarkeit Gottes mit dem menschlichen Verstand. So formulieren die Jugendlichen, wenn sie über Gott reden, insgesamt zurückhaltender, vager und beziehen die Vielseitigkeit und Rätselhaftigkeit Gottes stärker in ihr Nachdenken ein als im Kindesalter. Sabine bringt das auf den Punkt, wenn sie sagt, dass sie sich heute viel mehr Fragen stellt als im Kindesalter: »Die Frage, warum, halt, oder wie kommt das zustande«. Einige Themen, die beim ersten Untersuchungszeitpunkt im Zentrum der Überlegungen der Kinder standen, wurden bei t2 nicht oder kaum mehr erwähnt. So spielt beispielsweise Gott als der Schöpfer und derjenige, der die Schöpfung erhält, für die Kinder bei t1 eine wichtige Rolle. Dass die Welt und die Menschen seine Geschöpfe sind, ist der Grund, weshalb er sich um sie kümmert. Bei t2 kommt dagegen in keinem der Gespräche das Stichwort Schöpfung oder das Konzept, dass Gott die Welt erschaffen hat, zur Sprache. Zum einen könnte es sein, dass Gottes Leben erschaffende Wirkung für die Jugendlichen nicht mehr wichtig ist. Zum anderen ist denkbar, dass sie den Schöpfungsglauben in Frage stellen, vielleicht sogar grundsätzlich ablehnen aufgrund ihres in der Zwischenzeit erworbenen Wissens über naturwissenschaftliche Weltentstehungstheorien, was für sie eventuell im Kontrast zum christlichen Konzept der Schöpfung steht. In zwei Aussagen365 lässt sich erkennen, dass auch der Geschichtsunterricht dazu beigetragen hat, den Glauben an Gott in Zweifel zu ziehen: Die Auseinandersetzung mit dem Übergang vom Mythos zum Logos in der Antike366 führt hier dazu, auch den christlichen Glauben als überholten Welterklärungsversuch anzusehen, über den der rational denkende Mensch längst erhaben sein sollte. Auch finden sich fast nur bei t1 Darstellungen von Gott als menschlich aussehender Figur. Die schon bei t1 vorkommenden Hinweise, dass Gott nicht aussehen kann wie ein Mensch, wurden von den meisten Jugendlichen offenbar konsequent weitergedacht, und sie haben sich von den anthropomorphen Darstellungen abgewandt. In Verbindung damit 365
Clemens, Zoe. Vgl. Bildungsstandards für das Fach Geschichte, Klasse 10, Bildungsplan Gymnasium, 225. 366
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steht, dass sich nur beim ersten Untersuchungszeitpunkt Erklärungen finden, die Gottes Alter und Weisheit betonen. So wird beispielsweise erklärt, Gott trage ein altmodisches Gewand, weil er sich das zu Beginn der Welt bei der Schöpfung gemacht habe. Die Jugendlichen verzichten auf solche Aussagen, die Gott konkret in den chronologischen Verlauf der Weltgeschichte einordnen. Dies spricht dafür, dass sich bei ihnen ein Geschichtsbewusstsein entwickelt hat und dass Gott als Transzendenter aus der Geschichte der Menschen herausgehoben ist. Fabian illustriert dies, wenn er sagt, Gott habe keinen Anfang und kein Ende. Es finden sich in den Gesprächen bei t2 auch Aussagen, die ein Novum im Vergleich mit t1 darstellen. Es handelt sich dabei um die beiden kritischen Standpunkte, die bereits im Einzelnen skizziert wurden: Sowohl die Aussage, dass Gott lediglich eine Projektion menschlicher Bedürfnisse nach Geborgenheit sei, als auch die Überzeugung, Gott existiere nicht, klangen bei t1 in keiner Weise an. Die Jugendlichen zeigen sich hier also als Religionskritiker und greifen dabei – bewusst oder unbewusst – auf traditionelle Argumentationen zurück. Neben der Theodizeefrage als Anlass für das Zweifeln an Gott erwähnen die Jugendlichen als Grund auch Probleme mit den Ungereimtheiten, die sie in der Bibel wahrnehmen. Beide Argumentationsmuster kamen bei t1 nicht vor. Ein weiterer Aspekt, der bei t1 noch nicht zu beobachten war, aber bei t2 von manchen Jugendlichen genannt wird, ist, dass Gott bzw. der Glaube an Gott eine sinnstiftende Funktion für das Leben hat. Im Zusammenhang mit der Veränderung der Vorstellungen wurden die Jugendlichen beim zweiten Untersuchungszeitpunkt explizit befragt, ob sie sich die Veränderung, die sie an ihrer Vorstellung von Gott wahrnehmen, erklären können. Sie brachten sowohl innere als auch äußere Gründe für die Veränderung vor, indem sie diese entweder auf persönliche Erfahrungen, die eigene kognitive und Persönlichkeitsentwicklung oder auf Lernprozesse zurückführten, die durch den Konfirmandenunterricht, den Religionsunterricht oder das Bibellesen ausgelöst wurden. Letzteres spricht für den Einfluss religionspädagogischer Arbeit und gleichzeitig für deren Handlungsmöglichkeiten. Vorschläge dazu werden im Kapitel 5 aufgezeigt werden. In keinem Gespräch haben sich die Jugendlichen bei der Veränderung ihrer Vorstellung auf ein punktuelles persönliches oder öffentliches Ereignis bezogen. Dies legt die Schlussfolgerung nahe, dass sich die Entwicklung schrittweise vollzogen hat und nicht anhand von extremen 367 Wendepunkten. Dies erscheint auch vor dem Hintergrund der Theorien der kognitiven, psychosozialen und religiösen Entwicklung schlüssig. 367 Dies steht im Kontrast zu einer anderen Untersuchung an einer ähnlichen Altersgruppe. Bärbel Husmann, die die Religiosität norddeutscher Jugendlicher anhand von
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Die in der Untersuchung hervorgetretenen Merkmale und Veränderungen in den Gottesvorstellungen der Kinder und Jugendlichen sollen im Folgenden vor dem Hintergrund entwicklungspsychologischer Modelle gedeutet werden. Diese werden dazu jeweils zunächst knapp368 dargestellt und dann in Bezug zu den Untersuchungsergebnissen gesetzt. Die klassischen Stufentheorien zur (religiösen) Entwicklung von Kindern und Jugendlichen stammen allesamt aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und werden heute kritisch betrachtet. Friedrich Schweitzer weist darauf hin, dass die Reichweite der Aussagen der Entwicklungstheorien begrenzt sei. Durch die Methode der klinischen Interviews lassen sich im Hinblick auf die frühe Kindheit und das Schulkindalter nur im Rückblick Aussagen machen. So sind aber Wahrnehmung und Interpretation nicht trennbar, und auch die reine Beobachtung von kleinen Kindern kann nicht zu zuverlässigen Einsichten über deren religiöse Entwicklung führen.369 Außerdem müssen auch die Grundannahme der Entwicklungstheorien, nämlich das ihnen innewohnende »Fortschrittsdenken«370 und der Begriff der Stufen, der eine Wertung impliziert, kritisch hinterfragt werden. Anna-Katharina Szagun hält es in diesem Sinne für falsch, »zu behaupten, ein Kind bzw. Mensch könne nur in fixierter Reihenfolge fixierter Ganzheiten sein theologisches Denken und Empfinden entwickeln«371. Aus theologischer Perspektive unhaltbar ist zudem eine Sichtweise, die die Entwicklung insgesamt und der einzelnen Stufen als »Streben nach religiöser Perfektion«372 interpretiert. Im Bezug auf die Entwicklung von Gotteskonzepten von Kindern und Jugendlichen stellt Anna-Katharina Szagun den Wert der entwicklungspsychologischen Modelle in Frage und äußert grundsätzliche »Zweifel an einer kultur- und religionenübergreifenden Gültigkeit der StufenInterviews untersucht hat, setzt sich mit der Frage nach der Konstruktion der religiösen Biographie durch die Jugendlichen auseinander. Sie stellt fest, dass ein Merkmal der Konstruktion einer religiösen Lebensgeschichte ein »Wendepunkt« sein kann. So kann das Kennenlernen von gelebter Spiritualität in Taize oder ein einschneidendes Ereignis wie der Tod naher Angehöriger das eigene Bild von der Religiosität in ein ›Vorher‹ und ›Nachher‹ aufteilen. Für die von Husmann untersuchten Jugendlichen spielen die Beziehungen zu Familienangehörigen und Vertretern der Kirchen eine wichtige Rolle für die Entwicklung ihrer Religiosität. Außerdem wird die Taufe aufgrund des elterlichen Wunsches als entscheidender »Grundstein bei der Konstruktion der religiösen Biografie« genannt. Vgl. Husmann, Das Eigene finden, 201 und 203. 368 Auf die Besonderheiten der einzelnen Stufen bei Piaget, Fowler, Oser/Gmünder und Eriksson könnte sicherlich viel ausführlicher eingegangen werden. An dieser Stelle soll und muss allerdings dieser skizzenhafte Überblick ausreichen. 369 Vgl. Schweitzer, Lebensgeschichte, 160f. 370 A.a.O., 161. 371 Mendl/Szagun/Bucher, Ein Streitgespräch, 377. 372 Schweitzer, Lebensgeschichte, 163.
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theorien«373. Die Entwicklungsmodelle basieren ihrem Urteil nach auf »teils dünnen und häufig inkonsistenten Versatzstücken«374 und kommen nur durch »Ausblenden ›störender‹ Elemente«375 und die »theoretische Ergänzung fehlender Elemente, die nicht durch Kinderäußerungen belegbar sind«376, zu eindeutigen Schlussfolgerungen. Die Untersuchung Szaguns kommt zu Ergebnissen, die »inkompatibel zu den klassischen Stufentheorien«377 seien und belegen, dass diese Auswirkungen religiöser Sozialisation, nicht allgemeiner psycho-kognitiver Entwicklung darstellen. Anton Bucher verteidigt dagegen die Bedeutung der Stufentheorien für die Religionspädagogik. Er argumentiert, Szaguns Untersuchung sei durch ihr Design und ihre Fragestellung nicht geeignet, die Ergebnisse Oser/Gmünders zu überprüfen oder gar zu widerlegen. Eine solche Überprüfung ist für Bucher sinnvoll und vielversprechend, aber dazu sei es »im Sinne des sozialwissenschaftlichen Gütekriteriums der Objektivität unabdingbar, die Daten mit der identischen Methode zu erheben«378. Auch angesichts dieser Grundsatzkritik und der oben explizierten Notwendigkeit zur Aktualisierung der Stufenmodelle sollten diese jedoch aus der religionspädagogischen Reflexion nicht völlig verbannt werden. Sie können als Wahrnehmungshilfe und Interpretationsrahmen wertvolle Erkenntnisse eröffnen und ermöglichen so, das religiöse Denken von Kindern und Jugendlichen »in seiner Eigenart und, im Vergleich zu den Erwachsenen, in seiner Andersartigkeit«379 in den Blick zu nehmen. Eine Abwertung der früheren Stufen ist nicht die Absicht der Entwicklungstheorien, religiöse Äußerungen aller Stufen sollen wertschätzend wahrgenommen werden. Allerdings ist es unabdingbar, nicht eine Entwicklungstheorie an sich oder die ihnen gemeinsame Vorstellung von einer linearen Entwicklung zum Maßstab aller Interpretation zu machen. Vielmehr gilt es, die verschiedenen Blickwinkel der Entwicklungstheorien flexibel für die Reflexion und Interpretation der Untersuchungsergebnisse fruchtbar zu machen. Im Folgenden wird in den Blick genommen werden, ob und welche Aussagen der Kinder und Jugendlichen mit den Charakteristika der einzelnen Stufen der Entwicklungstheorien in Einklang stehen und inwiefern dies für die religionspädagogische Arbeit hilfreiche Hinweise ergibt. 373
Mendl/Szagun/Bucher, Ein Streitgespräch, 368. A.a.O., 369. 375 Ebd. 376 Ebd. 377 Ebd. 378 A.a.O., 370. 379 Schweitzer, Lebensgeschichte, 162. 374
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Jean Piagets Modell zur Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten beschreibt, wie Kinder und Jugendliche denken und wie sich ihr Denken und ihre Vorstellungen verändern. Die Schülerinnen und Schüler fallen in seinem Stufenmodell, das allerdings keine feststehenden Alterszuordnungen vorsieht, in die Phase der konkreten Operationen und in die Phase der formalen Operationen. Im Alter von ca. sieben bis elf Jahren zeichnet sich das Denken von Kindern laut Piaget dadurch aus, dass sie »fähig werden, Logik und schlussfolgerndes Denken zum Lösen konkreter Probleme einzusetzen«380, ohne jedoch dafür auf Abstraktionen zurückzugreifen. Erst ab einem Alter von ca. elf Jahren entwickeln Kinder die Fähigkeit, logische Operationen losgelöst von konkreten Problemen durchzuführen. Diese Kompetenz beeinflusse auch die religiösen Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen und ermögliche ihnen einen anderen Zugang zu theologischen Fragestellungen als bisher. Piagets Stufenmodell wird inzwischen in der psychologischen Forschung als überholt angesehen, da belegt werden kann, dass »viele Kinder bereits in einem viel früheren Alter bestimmte Dinge wissen oder können, als dies Piaget annahm«381. Auch wenn das Stufenmodell grundsätzlich als hilfreiches Analyseinstrument festgehalten werden, kann so muss es doch vor allem dahingehend modifiziert werden, dass das Wissen und Können von Kindern und Jugendlichen sich in verschiedenen Wissensbereichen nicht zwangsläufig parallel entwickelt.382 Eine kognitive Weiterentwicklung der Kinder bzw. Jugendlichen kann in den untersuchten Gottesvorstellungen wiedergefunden werden. Die bei t2 gewachsene Fähigkeit, sich sprachlich über Gott auszudrücken und die Frage nach ihm differenziert zu betrachten, geht in der Perspektive der kognitiven Entwicklung mit Hilfe von Piagets Modell betrachtet auf die Ausbildung des formal-operationalen Denkens zurück. Gott wird von den Jugendlichen insgesamt weniger durch Beispiele oder Bilder beschrieben, sondern ihm werden abstrakte Eigenschaften zugeschrieben. Georg beispielsweise legt seine Gottesvorstellung in großer sprachlicher und gedanklicher Klarheit dar. Er erklärt, dass die individuellen Vorstellungen von Gott von den jeweiligen Vorstellungen von Moral sowie von den Denkweisen und Erfahrungen eines Menschen abhängig sind. Er schlussfolgert: »Dadurch glaube ich nicht, dass es dann eine einzige Idee gibt, die bei allen gleich ist.« Seine Argumentationsweise, die sich stark auf philosophische Antworten auf die existenziellen Fragen der Menschen bezieht, zeugt von seiner hohen Abstraktionsfähigkeit und seiner Begeisterung für das Reflektieren von Sinnfragen aus unterschiedlichen Perspektiven. Schon beim ersten Unter380
Zimbardo, Psychologie, 78. Büttner/Dieterich, Entwicklungspsychologie, 15. 382 Vgl. a.a.O., 25ff. 381
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suchungszeitpunkt war Georg durch seine logische und reflektierte Herangehensweise an die Frage nach Gott aufgefallen Er stellte Gott als Kreis dar, weil er unendlich ist. Der Übergang zum von Piaget so genannten formal-operationalen Denken hat sich bei ihm seitdem vollständig vollzogen, und dies eröffnet ihm die Möglichkeit, sehr differenziert mit religiösen Fragen umzugehen. Ein weiteres Beispiel für formale Operationen in Bezug auf die Frage nach Gott bietet Xavier mit seiner Aussage, dass »Gott ja Hoffnung gibt […] durch seine pure Existenz«. Man könnte auch Kais Interesse an der theoretischen Auseinandersetzung mit Gott, die er ausgehend von seinem Bild von Gott als TrinitätsDreieck äußert, mit der Fähigkeit zum formal-operationalen Denken erklären, die sich bei Kai zumindest in Anfängen schon vor dem Interview bei t1 entwickelt haben könnte. Erik H. Eriksson entwirft ein Modell des Lebenszyklus, das von einem epigenetischen Wachstum ausgeht. Er beschreibt sein Vorgehen folgendermaßen: »Das menschliche Wachstum soll hier unter dem Gesichtspunkt der inneren und äußeren Konflikte dargestellt werden, welche die gesunde Persönlichkeit durchzustehen hat und aus denen sie immer wieder mit einem gestärkten Gefühl innerer Einheit, einem Zuwachs an Urteilskraft und der Fähigkeit hervorgeht ihre Sache ›gut zu machen‹.«383 Erikson unterteilt dementsprechend einen »Grundplan«384 der menschlichen Entwicklung in acht Stufen, die aufeinander folgen. Demnach ließe sich annehmen, dass die Schülerinnen und Schüler bei t1 (im Alter von elf oder zwölf Jahren) im Lebenszyklus in der vierten bis fünften Stufe anzusiedeln seien. Diejenigen von ihnen, die schon weit entwickelt sind, treten nun in die Pubertät ein und stehen dann, laut Erikson, in der Spannung der beiden Pole Identität und Identitätskonfusion. Nach meinem Eindruck ist der Großteil der Äußerungen der Schüler und Schülerinnen aus der Klasse bei t1 allerdings eher noch der Stufe davor zuzuordnen, dem bei Erikson sogenannten »Schulalter« (er denkt dabei an die Primarstufe). Die Jungen und Mädchen des Schulalters stehen laut Erikson vor der Herausforderung, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Polen Werksinn und Minderwertigkeitsgefühl zu erreichen. Das bedeutet, dass es für das Kind wichtig sei, »nützlich zu sein, etwas machen zu können und es sogar gut und vollkommen zu machen«385. Ge383
Erikson, Identität und Lebenszyklus, 56. Schweitzer, Lebensgeschichte, 73. 385 Erikson, Identität und Lebenszyklus, 102. 384
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linge dies nicht, so könne ein Gefühl von »Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit«386 entstehen. Durch Lehrer und Eltern – die weiterhin die wichtigsten Bezugspersonen darstellen – könne das Kind am besten begleitet werden, indem es herausgefordert werde, also ihm die Möglichkeit geboten werde, sich zu beweisen. Eine Überforderung müsse allerdings vermieden werden. In der Zeitspanne der Adoleszenz, also bei t2, mit ihren Polen Identität und Identitätskonfusion ist laut Erikson die zentrale Entwicklungsaufgabe, eine stabile Ich-Identität zu bilden, indem die Identifikationen der Kindheit, z.B. mit den Eltern, nicht nur zu Gunsten von denen der peer group abgelehnt, sondern konstruktiv integriert werden. In dieser Phase spielen Ideologien387 eine große Rolle, weil sie dem Bedürfnis Jugendlicher nach Orientierung und Sinn entgegenkommen. Diese Funktion kann, muss aber nicht, von Religion übernommen werden. Für Eriksons Hinweise zu den von ihm angenommenen Polen Werksinn und Minderwertigkeit lassen sich in den Aussagen der Kinder bei t1 kaum Anhaltspunkte finden, was jedoch in der Fragestellung begründet liegt. Dass der Aufgabenstellung in den meisten Fällen so gewissenhaft und aufmerksam nachgekommen wurde, mag allerdings vor diesem Hintergrund einleuchten. Die Abwendung der Jugendlichen von alten Autoritäten und die Neuorientierung hin zur peer group bzw. zu eigenen Standpunkten kam in vielen Interviews zum Ausdruck: Clemens erwähnt Auseinandersetzungen über religiöse Themen mit seiner Mutter: »Da haben wir uns halt öfters darüber gestritten, wegen Gott und so. Und dann hat sie das Gefühl bekommen, ich glaube nicht richtig daran.« Seine Suche nach eigenen, tragfähigen Antworten bringt ihn in Konflikt mit den Überzeugungen seines Elternhauses. Auch Zoe weist darauf hin, dass sie sich von der Beeinflussung durch andere in religiösen Fragen losgelöst hat: »Früher habe ich auch eher so auf andere gehört […] Relilehrer und so.« Mittlerweile habe ihr eigenes Nachdenken ihr zu individuellen Standpunkten verholfen. Eine zentrale Rolle spielen für Emilys Vorstellungen von Gott die Gleichaltrigen: »Wenn ganz viele Freunde überhaupt nicht mehr dran glauben«, so habe dies eine verunsichernde Wirkung. In der Phase der Adoleszenz haben laut Erikson wie schon erwähnt sogenannte Ideologien einen hohen Stellenwert für Jugendliche, indem sie Orientierung bieten. Dieses Phänomen kommt in einigen Interviews insofern zum Ausdruck, als die Jugendlichen den Glauben an Gott für wichtig befinden. Ulrich erklärt, wer glaubt, »lebt 386
A.a.O., 103. Bei Erikson ist der Begriff keineswegs negativ konnotiert, sondern bezeichnet »eine Verknüpfung von Tatsachen und Ideen, so dass daraus ein Weltbild entsteht, das dem Jugendlichen einen zugleich individuellen wie gesellschaftlichen Sinn verbürgt«. Schweitzer, Lebensgeschichte, 79. Vgl. Erikson, Jugend und Krise, 133. 387
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nicht umsonst«, und auch Wiebke spricht davon, dass der Glaube wichtig sei, damit »man einen Sinn hat«. Für die Merkmale dieser Phase, mit der sich Erikson am ausführlichsten auseinandergesetzt hat, finden sich also viele Entsprechungen bei den untersuchten Jugendlichen. Während Eriksons Modell sich mit der allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt, hat der Ansatz von Fritz Oser und Paul Gmünder speziell die religiöse Entwicklung des Menschen zum Gegenstand. Sie entwarfen eine Reihenfolge aus sechs Stufen von Strukturen, nach denen religiöse Urteile getroffen werden, und überprüften diese mittels Gesprächen über eine Dilemmageschichte. Sechstklässler sind Oser und Gmünder zufolge besonders häufig in der Stufe zwei anzusiedeln, einige wenige auch in Stufe eins und drei.388 Die drei in Frage kommenden Stufen und das für sie charakteristische Verständnis von Autorität und vom Verhältnis von Transzendenz und Immanenz sollen kurz beschrieben werden. In Stufe eins wird dem Ultimaten, also Gott, alle Autorität zugeschrieben, sein Handeln steht im Zentrum. Der Mensch dagegen ist nur reaktiv. Die Bezeichnung der Stufe als »Perspektive des deus ex machina«389 verdeutlicht, dass hier von einem unvermittelten und nicht auf das Handeln der Menschen bezogenen Eingreifen Gottes ausgegangen wird. Stufe zwei schreibt dem Menschen mehr Handlungsmöglichkeiten zu. Das Verhältnis zum Letztgültigen wird als »do ut des«390 bezeichnet. Der Mensch kann durch sein Verhalten Gott beeinflussen, beispielsweise ihn durch gefälliges Handeln gütig stimmen. So stehen Transzendenz und Immanenz in wechselseitiger Beeinflussung. In der dritten Stufe wird wiederum die Autorität des Menschen ausgeweitet: Der Mensch und seine Verantwortung stehen im Zentrum, das Letztgültige wird aus dem menschlichen Wirkbereich heraus in eine eigene Sphäre verlagert. Dementsprechend heißt diese Stufe des religiösen Urteils »Perspektive der absoluten Autonomie und des Deismus«391. Die darauffolgende vierte Stufe ist laut Oser und Gmünder ungefähr ab dem 16. Lebensjahr erreichbar und setzt die Fähigkeit zur Selbstreflexion voraus. In dieser Stufe geschieht wieder eine Vermittlung von Immanenz und Letztgültigem. Die Wirkungsbereiche, die in Stufe drei strikt getrennt waren, überlappen sich nun wieder, und zwar in dem Sinn, dass das Letztgültige »Bedingung der Möglichkeit für alles Entscheiden und Handeln«392 der Menschen ist. Kritiker stellen das Stufenmodell Osers und Gmünders infrage, da es einerseits das religiöse Urteil nur in kogni388
Vgl. Oser/Gmünder, Stufen, 175. A.a.O., 81. 390 A.a.O., 84. 391 A.a.O., 86. 392 A.a.O., 97. 389
4.4 Entwicklung der Vorstellungen vom Kindes- zum Jugendalter
159
tiver Perspektive betrachtet und so zentrale Aspekte menschlicher Urteilsfindung sowie die konkrete Situation, in der das Urteil gefällt wird außer Acht lasse.393 Andererseits werde das »starre[…], linear-aufsteigende[…] Stufenschema«394 der Komplexität der bei Kindern und Jugendlichen wahrnehmbaren Entwicklung nicht gerecht. Die von Oser und Gmünder angenommene Stufenfolge kann dennoch als Wahrnehmungshilfe für die Untersuchungsergebnisse nützlich sein. So kann für die einen Großteil der Bilder und Interviewaussagen von t1 festgestellt werden, dass in ihnen mit einem Wirken Gottes auf die menschliche Lebenswelt gerechnet wird. Es finden sich zahlreiche Bemerkungen über Gottes Schutz und sein schöpferisches und lebenserhaltendes Handeln. Von zwei strikt getrennten Wirkbereichen ist also in den Bildern und Aussagen nicht die Rede. Allein Jessicas Vorstellung von Gott, der im Himmel sitzt und die Menschen lediglich beobachtet, lässt an eine Trennung der Wirkungsbereiche denken. Betrachtet man die religiöse Erziehung, die viele der Kinder erhalten, wird deutlich, warum so wenig vergleichbare Aussagen auftauchen: Sie stehen den Inhalten dieser Erziehung vollkommen entgegen. Es ist anzunehmen, dass beispielsweise durch alttestamentliche Geschichten vermittelt wird, dass Gott in konkrete Lebenssituationen helfend und lenkend eingreift. Es ist jedoch schwierig, die Aussagen der Kinder bei t1 konkret in Stufe zwei oder eins nach Oser/Gmünder einzuordnen. Von der bei Oser und Gmünder veröffentlichten Altersverteilung395 her wäre ersteres anzunehmen. Weder dafür noch für die Stufe eins finden sich in den Interviews ausdrückliche und eindeutige Anhaltspunkte. Dies ist sicherlich auch darin begründet, dass die Kinder nicht in erster Linie nach Gottes Verhältnis zur Welt befragt wurden, sondern nach seinem Wesen. Dennoch sind einige Anklänge an die Charakteristika der Stufen auffindbar. So erklärt Kai, dass Gott alle Menschen aufnehme, besonders die Christen. Ihnen ist er also in besonderem Maße zugetan. Es wird zwar nicht deutlich, inwiefern sie sich von anderen Menschen unterscheiden, es gibt für Kai aber einen Unterschied in Gottes Handeln gegenüber Christen und anderen. Sabine ist es wichtig, dass Gott darauf achtet, dass die Menschen »nichts Schlimmes« tun. Offenbar nimmt sie an, dass das menschliche Handeln von Gott beobachtet und beurteilt wird. Zoe geht ebenfalls davon aus, dass Gott das Tun der Menschen verfolgt und in einem Buch festhält, »wer grade was Gutes macht und wer was Schlechtes«. Auch die anderen Aussagen über Gott, der die Welt beobachtet, können ähnlich verstanden werden. Ob hinter den Ausführungen der Kinder tatsächlich die von Oser und Gmünder angenommene 393
Vgl. Büttner/Dieterich, 60f. A.a.O., 65. 395 Vgl. Oser/Gmünder, Stufen, 175. 394
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
Vorstellung steht, dass Gott das beobachtete Verhalten belohnt oder bestraft (do ut des), ist anhand der Interviews nicht zu klären. Die Anhaltspunkte für Charakteristika der Stufe eins nach Oser/Gmünder (deus ex machina) sind noch spärlicher gesät. Einige Aussagen, die Gottes Allmacht in den Vordergrund rücken, beispielsweise Nils’ Ansicht, Gott habe »alles in der Hand«, könnten in diese Richtung gedeutet werden. Insgesamt muss man jedoch sagen, dass aufgrund der Interviews kaum eine gesicherte Einordnung in die Stufen eins oder zwei nach Oser und Gmünder möglich ist, es lassen sich höchstens Anklänge und Bezüge finden, was, wie schon gesagt, auch in der Fragestellung begründet liegt. Für die Jugendlichen bei t2 lassen sich konkretere Hinweise auf die Stufenfolge nach Oser und Gmünder finden: Ein religiöses Urteil nach dem Prinzip »do ut des« findet sich beispielsweise bei Kai, dem es wichtig ist, »dass er [Gott] vielleicht auch, wenn man Fehler macht, jemanden dafür bestraft«. Henrike vertritt dieses Konzept, wenn sie das Jüngste Gericht erläutert: »[Die] nicht nach Gottes Willen [gelebt haben], die werden dann bestraft.« Auch andere Aussagen machen deutlich, dass die Jugendlichen weiterhin nicht von zwei getrennten Wirkungsbereichen Gottes und der Menschen ausgehen. Zoe räumt trotz aller Unsicherheit in Bezug auf Gott ein, dass sie mit seinem Eingreifen in der menschlichen Wirklichkeit rechne, und zwar in der Form, »dass er die Gebete erhört«. Emily beschreibt ihren Glauben als Kind im Rückblick so, dass sie annahm, dass »Gott was verändert und so auf der Welt«. Als Jugendliche allerdings kann sie dies nicht mehr glauben. Sie geht inzwischen davon aus, »dass er da ist, aber nicht, dass er großartig was macht«. Hier zeigt sich eine Verschiebung des religiösen Urteils hin zum Deismus im Sinne von Oser/Gmünder. Wiebke geht in ihren Aussagen reflektierend auf die Struktur ein, die die Stufe zwei bei Oser und Gmünder beschreibt, wenn sie das Prinzip »do ut des« als Prinzip der Beziehung zwischen Mensch und Gott kritisiert: »Dann haben sie deshalb ein schlechtes Gewissen, vor Gott, […] aus Angst heraus, dass einem was passiert. Weil es ja Gott gibt, und der einen bestrafen kann.« Sie betont die Autonomie der Menschen, und plädiert für ein richtiges Handeln aus innerer Überzeugung heraus und nicht aus Angst vor Strafe. Für die vierte Stufe bei Oser und Gmünder finden sich in den Interviews keine Beispiele. James W. Fowler legt mit seiner Theorie der Stufen des Glaubens ein Modell einer Glaubensentwicklung in sechs aufeinander aufbauenden Stufen vor. Dabei versteht er Glauben als »Werte, Glaubensinhalte und lebenstragende[…] Sinnkonstruktionen«396, und zwar nicht beschränkt 396 Fowler, Stufen, 20. Im englischen Original spricht Fowler von »faith« im Gegensatz zu »belief«.
4.4 Entwicklung der Vorstellungen vom Kindes- zum Jugendalter
161
auf religiöse Inhalte. Für die Kinder bei t1 kämen in seinem Modell die Stufen zwei und drei in Frage, für die Jugendlichen bei t2 Stufe drei und möglicherweise auch Stufe vier. In Stufe zwei, dem mythisch-wörtlichen Glauben, beginnen Kinder laut Fowler, »für sich selbst die ›stories‹, Glaubensinhalte und Regeln zu übernehmen, die eine Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft symbolisieren«397. Dabei sei charakteristisch, dass sie diese Mythen und Regeln – auch Symbole – wörtlich interpretieren. Konkrete Geschichten, nicht abstrakte Überlegungen seien die vorherrschende Form, in der der Glaube ausgedrückt werde. Wenn nun Gegensätze oder Widersprüche in den ›stories‹ wahrgenommen werden, führe dies zur (formal-operationalen) Reflexion, die einen Übertritt in Stufe drei ermögliche. Diese Stufe nennt Fowler den synthetischkonventionellen Glauben. Eine Person auf Stufe drei sei sich »ihrer eigenen Identität und ihres eigenständigen Urteils noch nicht sicher genug […], um eine unabhängige Perspektive zu konstruieren und festzuhalten«398. Ihr Glaube sei daher ganz an den Ansichten und Erwartungen anderer ausgerichtet – daher die Bezeichnung konventionell. Synthetisch sei der Glaube, weil er zusammengesetzt ist aus einzelnen Inhalten, die nicht unbedingt miteinander im Einklang stehen. Erst in Stufe vier werde dann die eigene Verantwortung erkannt und wahrgenommen, was in ein »fast überzogenes Bewusstsein der eigenen Individualität und Autonomie«399 münde. Der »individuierend-reflektierende[…] Glaube«400 dieser Stufe entstehe durch eine Loslösung von bisherigen Autoritäten. Laut Fowler muss, »damit ein echter Übergang zu Stufe 4 geschieht, […] eine Unterbrechung im Vertrauen auf äußere Autoritätsquellen stattfinden«401, verbunden mit der »Ausbildung eines starken exekutiven Ichs«402. In dieser Stufe finde eine veränderte Auseinandersetzung mit religiösen Symbolen oder Ritualen statt, bei der ihre Bedeutung losgelöst vom Symbol entschlüsselt werde. Individuierend ist der von Fowler beschriebene Glaube insofern, als Gott »in die eigene Person hineinverlagert«403 werde. Diese Stufe erreichen (manche) ältere Jugendliche oder junge Erwachsene, d.h. es ist aus Fowlers Sicht eher unwahrscheinlich, dass die Jugendlichen in dieser Untersuchung sich schon individuierend-reflektierend mit der Frage nach Gott auseinandersetzen. Eine Reflexion der Untersuchungsergebnisse von t1 vor dem Hintergrund der Stufen des Glaubens von Fowler führt zu der Einsicht, dass Merkmale von zwei verschiedenen Stufen auftreten. Das Charakteristi397
A.a.O., 166. A.a.O., 191. 399 Schweitzer, Lebensgeschichte, 148. 400 Fowler, Stufen, 192. 401 A.a.O., 197. 402 Ebd. 403 Schweitzer, Lebensgeschichte, 150. 398
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
kum von Stufe drei, nämlich das unreflektierte Übernehmen vermittelter religiöser Vorstellungen, ist auch schon in Stufe zwei angelegt. Diese Eigenschaft ist in den Interviews da festzustellen, wo die Kinder ihre Gottesvorstellungen damit begründen, dass ›man das ja sagt‹ oder dass ›das in der Bibel steht‹.404 Das hier zu betrachtende Unterscheidungsmerkmal betrifft das Verständnis von Symbolen. Während in Stufe zwei eine wörtliche Interpretation vorherrscht, ist eine Person auf Stufe drei in der Lage, die Mehrdimensionalität von Symbolen zu erfassen. Eben diese Fähigkeit ist in vielen Bildern und Interviews zu Tage getreten. Die Kinder malen Gott als Sonne, weil er – wie diese – Leben spendet. Sie malen eine Hand als Zeichen dafür, dass Gott schützt. Sie malen Gott weiß, weil er weise ist, oder in hellen Farben, weil diese für das Gute stehen. Man kann davon ausgehen, dass also viele Kinder der Klasse Fowlers synthetisch-konventionellem Glauben entsprechen. Aber auch für die Stufe davor, den mythisch-wörtlichen Glauben, finden sich Anhaltspunkte. Ein erstes Beispiel liefert Henrike, die Gott als Mann malt, der die Welt in der Hand hält. Ihre Erläuterung, Gottes Kleidung sei so eigentümlich, weil er sie sich bei der Schöpfung gemacht habe, könnte als mythisch-wörtliches Verständnis gedeutet werden. Ruths Vorstellung von Gottes Himmelreich, das sehr groß sein muss, damit die vielen Leute hineinpassen, zeigt ebenfalls eine solche wörtliche Interpretation. Die Position vieler Kinder, man dürfe wegen des zweiten Gebots kein Bild von Gott malen, ist ebenso als Hinweis auf Stufe zwei zu verstehen. Auch in Isabelles Gottesvorstellung kommt ein wichtiges Merkmal der Stufe zwei zum Vorschein: Sie greift bei der Frage, wie Gott ist, auf ›stories‹ zurück, die sie kennt. Ihr Gott ist der Herrscher über die Natur und der am Kreuz gestorbene und auferstandene Jesus. Zusammenfassend zeigen die Aussagen der Schüler und Schülerinnen bei t1 also Merkmale, die teils der Stufe zwei und teils der Stufe drei nach Fowler entsprechen. Beim zweiten Untersuchungszeitpunkt haben sich die Hinweise auf Stufe drei vermehrt. Kai argumentiert wiederholt im Rückgriff auf Autoritäten. Seine Vorstellung von Gott in Form eines Trinitäts-Dreiecks zu zeichnen, ist von der Mutter übernommen (»das hat mir meine Mutter mal erzählt«). Dass man Gott nicht malen soll, weil man sich von ihm kein Bild machen darf, hat er im Konfirmandenunterricht vom Pfarrer gelernt. Wiebke dagegen bewegt sich im Fowlerschen Stufenmodell möglicherweise schon in Richtung der nächsten Stufe, denn sie führt sehr eigenständige Gedankengänge durch und erklärt, dass diese nicht auf Einflüssen von außen zurückzuführen sind: »das habe ich mir einfach so gedacht«. Die hier erwähnten Stufentheorien können jeweils – wenn sie nicht absolut gesetzt werden – als hilfreiche Perspektive, mit den Untersu404
Dies bringen André, Lisa und Henrike zum Ausdruck.
4.5 Zum Verhältnis von mentalem Bild, gemaltem Bild und erklärtem Bild
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chungsergebnissen umzugehen, angesehen werden. Trotz der oben genannten Vorbehalte, die den Stufentheorien gegenüber geäußert werden, zeigen diese am vorliegenden Material ihre Deutungskraft. Diese Überlegungen dienen als Grundlage für die didaktischen Hinweise zum Umgang mit der Gottesfrage im Religionsunterricht der Sekundarstufe I und II, die im fünften Kapitel ausgeführt werden.
4.5 Zum Verhältnis von mentalem Bild, gemaltem Bild und erklärtem Bild In den Gesprächen bei beiden Untersuchungszeitpunkten wurde deutlich, dass einige Kinder und Jugendliche mit ihren Bildern nicht ganz zufrieden sind, bzw. dass ihnen bewusst ist, dass das Darstellen Gottes mit zeichnerischen Mitteln an Grenzen kommen muss. Unter Rückgriff auf entsprechende Interviewaussagen soll im Folgenden das Verhältnis von den mentalen Gottesvorstellungen der Kinder bzw. Jugendlichen zu ihren Bildern und dem Erklärten herausgearbeitet werden. So werden folgende zu Beginn aufgeworfene Fragen beantwortet: In welchem Verhältnis stehen die Bilder zu den erklärenden Aussagen der Kinder und Jugendlichen? Inwiefern ist darin ihr mentales Bild von Gott erkennbar? Wie schon bei der Gesamtanalyse dargelegt, setzen sich viele Kinder bzw. Jugendliche damit auseinander, dass Gott schwer darzustellen ist. Dies liegt für sie nicht nur in mangelnden zeichnerischen Fähigkeiten begründet, wie Fabian beim zweiten Untersuchungszeitpunkt erläutert. Vielmehr liegt der Grund für die Schwierigkeit in Gottes Wesen selbst. Einerseits bringen die Kinder und Jugendlichen zum Ausdruck, dass sie nicht wissen, wie Gott aussieht, und dass das niemand wissen kann. Sie sind sich bewusst, dass Gott in diesem Sinne nicht mit menschlichen Sinnen erkennbar ist. Für Clemens trifft dies zu, wenn er sagt, »dass ich halt nicht weiß, wie der aussieht« (t1). Beim ersten Untersuchungszeitpunkt erklärt Ruth: »Also, ich habe auch ein Gesicht dazu gemalt, dass man sieht, was das sein soll, aber eigentlich stelle ich ihn mir eher ganz weiß vor.« Isabelle stellt die Diskrepanz zwischen ihrem mentalen Bild von Gott und ihrer Zeichnung heraus, wenn sie sagt: »Das heißt jetzt nicht, dass ich mir das so vorstelle, dass Gott praktisch seine Hand unter die Welt hebt, oder so, sondern ich wusste nicht, wie ich das anders malen soll«. (t2) Kai verweist bei t2 darauf, dass er sich Gott »nicht vorstellen« könne. Ebenfalls beim zweiten Untersuchungszeitpunkt äußert Henrike, dass sie nicht glaube, dass Gott so aussehe, wie sie ihn gezeichnet hat. Einige Kinder und Jugendliche gehen aufgrund dieses Problems so vor wie Nina. Sie hat über die »Eigenschaften« nachgedacht, die ihr
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4. Gottesbilder vom Kindes- zum Jugendalter – Die Untersuchung
an Gott wichtig sind, und dann »ein Symbol gemalt« (t2). Yannis und Oliver malen bei t1 jeweils zwei Bilder, deren Motive sich unterscheiden. Offensichtlich war es ihnen wichtig, verschiedene Aspekte von Gott darzustellen, und die Aussage eines Bildes allein erschien ihnen nicht ausreichend. Diese Beispiele zeigen, dass bei manchen Kindern und Jugendlichen eine Nichtkongruenz von gemaltem und mentalem Bild von Gott besteht. Sie halten ihr gemaltes Bild letztendlich nicht für angemessen. In den Interviews wurde ihnen die Gelegenheit geboten, ihr gemaltes Bild zu erklären, zu ergänzen oder richtigzustellen. Dieser Versuch, der Diskrepanz zwischen dem mentalen Bild und dem gemalten Bild beizukommen, hat allerdings auch Grenzen, nämlich die sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Insgesamt erscheint das erklärte Bild oft abstrakter, facettenreicher und differenzierter als das, was im gemalten Bild aufgezeichnet wurde. Dieses Ergebnis hebt die Bedeutung von ergänzenden Interviews zu gemalten Gottesbildern hervor. Eine Vorgehensweise, die sich ausschließlich auf gemalte Gottesbilder bezieht, wie es in der großen Studie von Hanisch der Fall ist, hätte nicht die Bandbreite und Tiefe der religiösen Vorstellungen der Kinder bzw. Jugendlichen zu Tage treten lassen. Jedoch können auch Gespräche nicht zu einer eindeutigen bzw. abschließenden Aussage über die mentalen Gottesbilder führen. Forschung im Bereich innerer Bilder und Vorstellungen wird sich dem immer nur annähern können. Aufgabe des Religionsunterrichts kann es freilich sein, Kindern und Jugendlichen eine Sprachfähigkeit zu vermitteln, die es ihnen ermöglicht, diese inneren Bilder auszudrücken und im Dialog mit anderen die eigenen Vorstellungen zu reflektieren und ihre Konturen zu schärfen.
5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
Aus den Ergebnissen der empirischen Untersuchung lassen sich sowohl allgemeine Schlussfolgerungen für die Religionsdidaktik in der Sekundarstufe ziehen als auch konkrete fachdidaktische Hinweise für den Umgang mit der Gottesfrage im Religionsunterricht des Gymnasiums. Im Folgenden sollen diese erläutert werden.
5.1 Veränderung und Nicht-Veränderung der Gottesvorstellungen als Aufgabe für die Religionsdidaktik Die Untersuchung der Gottesvorstellungen der Kinder und Jugendlichen zeigt, dass die Religionsdidaktik mit einer Veränderung der Vorstellungen vom Kindes- zum Jugendalter rechnen muss. Allein im Zeitraum vom Beginn der Sekundarstufe I bis zum Beginn der Sekundarstufe II entwickeln sich tiefgreifende Veränderungen sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht. Nur wenige Jungen und Mädchen sehen bei sich gar keine Veränderung, der Großteil zeigt nicht nur eine Entwicklung, sondern ist sich dieser auch bewusst. Die Selbstwahrnehmung der Jugendlichen im Hinblick auf die Veränderung oder Kontinuität ihrer Gottesvorstellung deckt sich dabei im Wesentlichen mit den Ergebnissen der Analyse, d.h. dort, wo aus Sicht der Untersuchenden eine Veränderung vorliegt, erkennen die Jugendlichen dies auch selbst und umgekehrt. Diejenigen, die an ihrer Vorstellung von Gott einen Wandel erkennen, finden verschiedene Erklärungen dafür, indem sie innere und äußere Faktoren dafür verantwortlich machen. Das kann die eigene kognitive Entwicklung und das verstärkte Nachdenken über Gott sein, bei manchen auch angestoßen durch den Konfirmanden- oder Religionsunterricht. Das Beispiel von Jessica, die für ihr Bild auf ein im Religionsunterricht gesehenes Motiv im Detail zurückgreift, zeigt, dass das hier Vermittelte prägende Wirkung hat. Weitere Faktoren sind das Bewusstwerden des Ausbleibens von Gottes schützendem Handeln anhand von eigenen oder fremden Leiderfahrungen. Auch die Distanzierung der Freunde vom christlichen Glauben spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle. Außerdem werden christliche Weltdeutungen und die Relevanz
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
der Bibel auf Grundlage der naturwissenschaftlichen Perspektive hinterfragt, was zur Verunsicherung der Gottesvorstellung führen kann. Die Jugendlichen, die eine Veränderung der Gottesvorstellungen an sich wahrnehmen, bewerten den Wandel meist neutral bis positiv: Die alte, kindliche Vorstellung würde nun nicht mehr zu ihnen passen. Wenn also in den meisten Fällen eine Entwicklung der Gottesvorstellungen stattfindet, stellt sich die Frage, inwiefern sich daraus eine Aufgabe für den Religionsunterricht ergibt. In den Interviews geben die Jugendlichen nicht nur Einblick in ein verändertes Nachdenken über Gott, sondern auch in eine damit einhergehende Unsicherheit oder sogar Ratlosigkeit. Sie sind auf der Suche nach tragfähigen Antworten auf ihre Fragen und streben dabei die bei ihrem Alter und Entwicklungsstand zu erwartende Eindeutigkeit und Klarheit an. Den Interviews zufolge spielt dabei der Konfirmationsunterricht als Ort, an dem die Gottesfrage thematisiert wird, eine große Rolle und wird für die Entwicklung als bereichernd wahrgenommen. Diese religiöse Begleitung ist allerdings im Vergleich zum schulischen Religionsunterricht zeitlich relativ begrenzt. Daher darf sich auch der Religionsunterricht an dieser Stelle nicht zurückziehen und die Jugendlichen mit ihrem Denken und Fragen sich selbst überlassen. Es besteht hier die große Chance, über längere Zeiträume mit Jugendlichen an ihren Fragen und Anfragen über und an Gott im Diskurs zu stehen. Dabei sollen alle inneren und äußeren Impulse, die die Jugendlichen zur Veränderung ihrer Vorstellungen von Gott herausfordern, auch im Religionsunterricht Beachtung finden. Die Themen, Fragen und Formulierungen, die die Kinder und Jugendlichen selbst umtreiben, sollen im Religionsunterricht ihren Platz haben. In den Interviews zeigte sich auch, dass einzelne Jugendliche, die bei sich selbst keine Veränderung der Vorstellung von Gott wahrnehmen, dies für völlig selbstverständlich und unproblematisch halten. Sie gehen nicht davon aus, dass in Zukunft noch eine Veränderung eintreten könnte. Aus religionspädagogischer Sicht ist hier zu fragen, ob es tatsächlich unproblematisch ist, wenn keine Veränderung stattfindet. Der amerikanische Psychologe William James ging der Frage nach dem unterschiedlichen Reflexionsgrad von Gottesvorstellungen schon am Ende des 18. Jahrhunderts nach und kam zu dem Schluss, dass es sich dabei um ein unproblematisches Phänomen handelt. James bezieht sich bei seinen Ausführungen darüber, inwiefern Religion glücklich mache, auf Francis W. Newmans Unterscheidung zwischen den ›once-born‹ und den ›twiceborn‹405. Gott sei für die ›once-born‹ die Personifikation von Güte und Schönheit, andere Merkmale Gottes, die für Newman zur Majestät Gottes untrennbar hinzugehören, werden von ihnen nicht wahrgenommen. 405
James, The Varieties of Religious Experience, 78ff.
5.1 Veränderung und Nicht-Veränderung der Gottesvorstellungen
167
Eine Krise, beispielsweise ausgelöst von Erfahrungen des Leidens, die mit dieser Vorstellung von Gott in Konflikt stehen, kennen die ›onceborn‹ nicht und leben in solch kindlicher Haltung ein glückliches Leben. Diese Menschen sind für James die »healthy minded«406, die er von den »sick souls«407 unterscheidet. Diese »heterogeneous personalit[ies]«408 brauchen eine sogenannte zweite Geburt, um glücklich zu sein. Damit meint James die Überwindung einer fundamentalen Krise: »Pain and wrong and death must be fairly met and overcome in higher excitement.«409 Das Resultat dessen sei eine differenziertere Sicht des Lebens: »The outlook upon life of the twice-born […] is the wider and completer.«410 James bevorzugt allerdings keinen der beiden Typen: »The final conciousness which each type reaches of union with the divine has the same practical significance for the individual.«411 In diesem Sinne könnte schlussgefolgert werden, dass bei denjenigen Jugendlichen, die ungebrochen an ihrer kindlichen Vorstellung von Gott festhalten, kein Anlass besteht, von außen Denkanstöße an sie heranzutragen, die dieses Bild in Frage stellen. Allerdings kann hierbei nicht außer Acht gelassen werden, dass James sich auf Erwachsene bezieht, noch dazu in einem völlig anderen historischen Kontext als dem, in dem sich heutige Jugendliche befinden. So muss davon ausgegangen werden, dass auch diejenigen Jugendlichen, die mit ihrem nicht veränderten Gottesbild zum Zeitpunkt der Untersuchung vollständig im Einklang sind, in ihrer persönlichen Entwicklung Erfahrungen machen werden, mit denen das bisherige Denken über Gott nicht standhalten kann. Dies gilt umso mehr in der Komplexität ihres Lebensraumes, in der die Einflüsse, denen sie ausgesetzt sind, weit weniger begrenzt sind als zu James’ Zeit. So ist es folglich die Verantwortung der Religionspädagogik, Jugendliche auch auf kommende Herausforderungen vorzubereiten. Für den Religionsunterricht bedeutet dies, dass seine Aufgabe nicht nur darin besteht, bei den Kindern und Jugendlichen vorliegende Fragen und Gedanken aufzugreifen, sondern auch neue Impulse an sie heranzutragen. In der religionspädagogischen Praxis kann in diesem Sinne sehr davon profitiert werden, dass Lerngruppen heterogen sind und die individuellen Beiträge der Kinder und Jugendlichen für die anderen solche Impulse und Herausforderungen darstellen können. Wie die Begleitung der Entwicklung von Gottesvorstellungen vom Kindes- zum Jugendalter im Religionsunterricht konkret umgesetzt werden kann, wird in den Kapiteln 5.3 und 5.4 anhand zentraler Themen für 406
A.a.O., 166. Ebd. 408 A.a.O., 169. 409 A.a.O., 363. 410 A.a.O., 488. 411 Ebd. 407
168
5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
Kinder und Jugendliche entfaltet werden. Zunächst sollen jedoch, ausgehend von den Untersuchungsergebnissen, grundlegende Prinzipien einer die Entwicklung begleitenden Religionsdidaktik formuliert werden.
5.2 Grundprinzipien einer Religionsdidaktik, die die Entwicklung von Gottesvorstellungen begleiten will Damit überhaupt gewinnbringend im Religionsunterricht an der Gottesfrage gearbeitet werden kann, müssen bestimmte Voraussetzungen gegeben sein. Dabei handelt es sich um Grundprinzipien der Religionsdidaktik, die bei allen Unterrichtsinhalten gegeben sein müssen, um Lernen zu ermöglichen. Sie könnten als selbstverständlich angesehen werden, müssen jedoch an dieser Stelle zumindest in Kürze dargestellt werden, da der darauffolgenden fachdidaktischen Konkretion ohne diese Prinzipien die Basis fehlen würde. Vertrauen ermöglichen In noch stärkerem Maß als die anderen schulischen Fächer bedarf der Religionsunterricht einer vertrauensvollen Unterrichtsatmosphäre. Prägend hierfür sind das Verhalten der Lehrperson in Bezug auf die Schüler und ihre Beziehung zu diesen. Indem die Lehrperson sich den einzelnen Schülern als Persönlichkeiten gegenüber interessiert und aufmerksam zeigt und empathisch verhält, kann sie ein Unterrichtsklima ermöglichen, in dem Kinder und Jugendliche sich respektiert fühlen. Dies geschieht zuweilen in den eigentlichen Unterrichtssituationen, oft aber auch in Gesprächen »zwischen Tür und Angel«, in denen die Lehrperson Einblicke in die individuellen Lebenswelten ihrer Schüler erhält und sie so besser kennenlernt. Genauso ist es aber auch hilfreich, wenn Lehrende sich ihren Schülern gegenüber öffnen und ihnen ermöglichen, sie als Person kennenzulernen. Dass dies nicht innerhalb von kurzen Zeiträumen zu erreichen ist, liegt auf der Hand. Der Religionsunterricht bietet die Chance, längerfristig Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern aufzubauen, wobei sich dies auch auf das Verhältnis der Schüler untereinander auswirkt. Bei den Inhalten des Religionsunterrichts, speziell bei der Thematik der Vorstellungen von Gott, handelt es sich teilweise um intime Gedanken und Fragen, die selten vor anderen explizit gemacht werden. Es kann nicht erwartet werden, dass Schüler bereit sind, diese preiszugeben und sich damit verletzlich zu zeigen, wenn eine entsprechende Vertrauensgrundlage und eine Vertrautheit mit der Lehrperson und den Mitschülerinnen und Mitschülern fehlen. Ist eine solche Grundlage nicht gegeben, werden die Schüler Gesprächsangebote über die Gottesfrage kaum annehmen können, sondern eher mit Rückzug reagieren. Eine verlässliche Gesprächskultur der Wertschätzung, die auf
5.2 Grundprinzipien einer Religionsdidaktik
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vertrauensvollen Beziehungen basiert, ist demnach die erste Bedingung für eine gelingende Begleitung der Entwicklung von Gottesvorstellungen bei Kindern und Jugendlichen. Individualität wertschätzen Eine Kultur des Vertrauens und des Respekts äußert sich im Religionsunterricht darin, dass die Ideen, Fragen und Aussagen von Schülern in ihrer Individualität gewürdigt werden. Schüler sollen erleben, dass im Religionsunterricht Raum ist für ihre eigenen Vorstellungen und dass diese wichtige Bestandteile des Religionsunterrichts sind. Dies kann allerdings im Kontrast zu dem stehen, wie schulisches Lernen von Schülern erlebt wird. Sie müssen davon ausgehen, dass alle ihre Äußerungen im unterrichtlichen Kontext von der Lehrperson zur Bewertung herangezogen werden. Eine Herausforderung für Religionslehrer ist es daher, im leistungsorientierten System Schule einen Freiraum zu schaffen, in dem Schüler dem Druck nach korrekter Erfüllung vorgegebener inhaltlicher Ziele enthoben sind. Dies könnte erreicht werden, indem es im Religionsunterricht Phasen gibt, die ausdrücklich von der Notengebung befreit sind. Daraus ergibt sich aber für Schüler möglicherweise eine noch größere Unsicherheit. Eine vielversprechendere Möglichkeit ist es, für Schüler die Kriterien der Leistungsmessung im Religionsunterricht transparent zu machen und dabei aufzuzeigen, dass nicht das Erreichen konkreter inhaltlicher Vorgaben und möglichst hohe Konformität, sondern das persönliche inhaltliche Engagement und die Reflexionsbereitschaft maßgeblich sind. Dem offenen Umgang mit eigenen Vorstellungen im Religionsunterricht steht im Zusammenhang mit dem schulischen Prinzip der Leistungsorientierung noch ein weiterer Aspekt im Wege: Schüler befürchten, dass Ansichten, die von der Position der Lehrperson abweichen, im Unterricht nicht erwünscht sind. Es handelt sich um keine leichte Aufgabe, Kinder und Jugendliche von diesen Hindernissen zu befreien, denn die ›Erfüllermentalität‹ wird von vielen Schülern als erfolgreiche Strategie im Umgang mit dem System Schule erlebt. Für die Thematisierung von Gottesvorstellungen im Religionsunterricht muss aber die Freiheit bestehen, eigene Vorstellungen zu äußern, und zwar ohne Furcht, dass dies negative Konsequenzen haben könnte, weil die Lehrperson die geäußerten Ansichten nicht teilt oder sie als falsch wertet. Dass diese Wertschätzung individueller Äußerungen für Schüler erfahrbar wird, kann also ebenfalls nur durch längerfristige Prozesse geschehen. Die Lehrperson kann darauf hinwirken, indem sie Interesse an geäußerten religiösen Vorstellungen zeigt, fragend und lobend auf Schülerbeiträge eingeht und diesen Zeit widmet. Wenn Schüler erleben, dass die Unterrichtsgestaltung sich auf ihre individuellen Ideen stützt, trägt dies dazu bei, dass sie eine mitteilsame Haltung entwickeln.
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
Sprachfähigkeit fördern Aus Sicht der Kinder und Jugendlichen ist ein Religionsunterricht, in dem ihre Vorstellungen von Gott thematisiert werden, nicht unbedingt erstrebenswert, denn er verlangt ihnen nicht nur Offenheit ab, sondern auch die schwierige Aufgabe, ihren religiösen Vorstellungen Ausdruck zu verleihen. Dies in sprachlicher Form zu tun, ist für die meisten Kinder und Jugendlichen eine Herausforderung. Im Lebensalltag Heranwachsender hat der Austausch über religiöse Inhalte häufig keine Verankerung mehr. So ist es leicht nachzuvollziehen, dass Kindern und Jugendlichen eine Sprachfähigkeit in religiösen Fragen fehlt. In der vorliegenden Untersuchung ist der Weg über Bilder von Gott gewählt worden, um das Thematisieren von Gottesvorstellungen zu erleichtern. Dennoch hat sich gezeigt, dass Bilder nur in der Kombination mit Interviews ein sinnvolles Ausdrucksmittel sind und dass den Gesprächen ein umso höherer Stellenwert zukommt, je komplexer die Gottesvorstellungen sich gestalten. Daher kann auch für den Religionsunterricht schlussgefolgert werden, dass eine Beschäftigung mit der Gottesfrage immer auch in sprachlicher Form geschehen sollte. Da Religionslehrer nicht davon ausgehen können, dass dies allen Schülern ohne Weiteres möglich ist, muss es daher ihre Aufgabe sein, Kinder und Jugendliche ihrem Alter gemäß religiös sprachfähig zu machen. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass religiöse Ausdrucksweisen der Bibel oder der kirchlichen Tradition vorgestellt und in heutige Sprachformen ›übersetzt‹ werden. Miteinander und voneinander Lernen Wenn, wie festgestellt wurde, die Entwicklung von Gottesvorstellungen ein je individuelles Geschehen ist, dann kann auch der Religionsunterricht keine festen, homogenen Zielvorgaben dazu formulieren. Somit kann sich der Religionsunterricht im Hinblick auf die Begleitung dieser Entwicklung nicht auf die Vermittlung festgelegter Inhalte oder das Abarbeiten bestimmter Materialien beschränken. Vielmehr muss der Religionsunterricht Felder eröffnen, in denen Kinder und Jugendliche, ausgehend von ihren eigenen Vorstellungen und Fragen, neue Räume des Denkens über und Fragens nach Gott entdecken. Solch entdeckendes Lernen in Bezug auf die Gottesfrage legt ein dialogisches Vorgehen nahe. Kinder und Jugendliche können im Gespräch miteinander und mit der Lehrperson ihre Vorstellungen austauschen und erweitern. Die Lehrperson benötigt dafür eine Haltung des Miteinander- und Voneinander-Lernens und nicht des Belehrens. Dieser Haltung entspricht auch die Tatsache, dass dem Religionsunterricht in Baden-Württemberg seit dem Bildungsplan von 2004 nicht konkrete Unterrichtsziele, sondern zu erreichende Kompetenzen als Ergebnis vorgegeben sind.
5.3 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
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Die genannten Prinzipien sind einerseits selbstverständliche Grundlagen jedes Religionsunterrichts, andererseits handelt es sich dabei aber auch um hohe Erwartungen an die Lehrenden. Sie können sich, wenn sie diese Prinzipien einlösen wollen, nicht auf die Bereitstellung von Unterrichtsmaterial oder die Rolle eines Moderators zurückziehen. Im Sinne der genannten Grundlagen ist die Lehrperson notwendiges Gegenüber für die Schüler. Von ihr werden hohe Aufmerksamkeit und Bereitschaft zur Beziehung und Offenheit gefordert. Nachdem diese Grundprinzipien der Religionsdidaktik knapp skizziert wurden, kann nun die konkretere Umsetzung im Religionsunterricht in den Blick genommen werden. Bei der Betrachtung des baden-württembergischen Bildungsplans von 2004 fällt auf, dass Gott in expliziter Form relativ wenig im Religionsunterricht thematisiert werden muss. Dennoch sind der Lehrperson natürlich viele Freiheiten gegeben, ob und inwiefern sie das Thema Gott ausdrücklich in den Unterricht einbezieht, gibt es doch zahlreiche Möglichkeiten, das Thema konkret im Religionsunterricht aufzunehmen. Diese reichen von der Rede von Gott im Alten und Neuen Testament über die Traditionen verschiedenster Gottesbeweise und Gotteskritik sowie die Frage nach dem Handeln Gottes in der Welt bzw. seiner Rechtfertigung angesichts des Leidens bis zur Diskussion über seine Existenz. Diese Anknüpfungspunkte können in der vorliegenden Arbeit nicht umfassend beleuchtet werden, es werden aber exemplarisch einige didaktische Möglichkeiten aufgezeigt und erläutert.
5.3 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott am Beginn der Sekundarstufe I Im Folgenden werden anhand der Untersuchungsergebnisse Themen identifiziert, die für die unterrichtliche Arbeit an Gottesvorstellungen mit Kindern am Beginn der Sekundarstufe I zentral sind. Damit wird die fünfte Fragestellung der Studie beantwortet: »Welche theologischen Themen sind den Kindern und Jugendlichen besonders wichtig und daher für den Religionsunterricht relevant?«. Diese Themen werden in Anlehnung an das religionspädagogische Modell der Elementarisierung412 mit Blick auf die innewohnenden Chancen zur Entwicklungsbegleitung betrachtet und an einem konkreten Beispiel illustriert. Bei der Analyse der Bilder und Interviews der Sechstklässler wurden folgende elementare Strukturen deutlich: Die Kinder verfügen über ein 412 Vgl. Schweitzer, Elementarisierung, 9–30. Die Reflexion zu den Elementaren Anfängen wird an dieser Stelle nicht wiederholt, sondern sie findet sich in Kapitel 4.4.2.
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
relativ klares Bild von Gott, das sich an bestimmte Facetten des biblischen Gottesbildes anlehnt. Betont werden dabei Gottes Schutz, seine Verlässlichkeit und sein Wirken als Schöpfer. Eine zentrale Rolle spielt darüber hinaus das Problem der Nichterkennbarkeit Gottes, die hauptsächlich als die Nichtsichtbarkeit Gottes verstanden wird. In den Vorstellungen der Kinder spiegeln sich ihre Elementaren Erfahrungen wider. Ihre Weltsicht ist noch relativ begrenzt durch einen Schwerpunkt auf der Familie, die als zentraler Bezugspunkt dem Kind Sicherheit vermittelt. In den Interviews schlägt sich das auch durch den Verweis auf religiöse Autoritäten nieder: Hier wird z.B. die Mutter als Quelle religiösen Wissens genannt. Eine wichtige Elementare Wahrheit für die Kinder am Beginn der Sekundarstufe I im Blick auf das Gottesbild ist die Zusage, dass Gott der »Ich bin da« ist. Dieser Aspekt des biblischen Gottesbildes wird von den Kindern gerne aufgegriffen, da er ihrem Bedürfnis nach Sicherheit entspricht. Durch die Konzentration auf die Geborgenheit, die Gott bietet, und sein schöpferisches und erhaltendes Handeln in der Lebenswelt des Menschen entsteht allerdings ein Gottesbild, das nur Teile des biblischen Zeugnisses von Gott aufnimmt. Dass Gott sich auch verbirgt, dass er Richter ist, Leid zulässt und auch in Jesus Christus selbst leidet, kommt in den Vorstellungen der Kinder nicht vor. Dies mag damit zu erklären sein, dass in Kirche und Familie natürlich vorwiegend positive Inhalte weitergegeben werden. Zunächst ist es aus religionspädagogischer Sicht sicherlich zu begrüßen, dass die Kinder so viel Positives mit Gott verbinden, was auf positiv erlebte Gottesbeziehungen hinweist. Keineswegs soll es Aufgabe des Religionsunterrichts sein, den Schülerinnen und Schülern durch Konfrontation mit den ›dunklen Seiten‹ Gottes Angst einzujagen und ihr Vertrauen in den christlichen Gott zu schwächen. Wie sich bei den Ergebnissen des zweiten Untersuchungszeitpunktes zeigte, sind Erfahrungen mit der Verborgenheit Gottes, seinem ›nichtda-Sein‹, jedoch für viele Jugendliche ein Grund zum Zweifeln an Gottes Güte, Macht oder auch an seiner Existenz.413 Wenn sich ihre Weltsicht und ihre intellektuellen Fähigkeiten erweitern, bieten die einseitigen Vorstellungen von Gott keine tragfähigen Antworten mehr. Weder das Aufgeben einer weiteren Auseinandersetzung mit der Frage nach Gott (also das Verbleiben auf der Stufe des Deismus, in der Gott kein Anteil an der menschlichen Sphäre zuerkannt wird) angesichts schwieriger Lebenserfahrungen noch die vollständige Ablehnung der Existenz Gottes durch die Schüler und Schülerinnen liegen im Interesse des Religionsunterrichts. Dieser soll laut Bildungsplan ermöglichen, »im christlichen Glauben eine Hilfe zur Deutung und Gestaltung des Lebens zu 413
Zu diesem Ergebnis kommt auch Hanisch, Zeichnerische Entwicklung, 105.
5.3 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
173
finden«414. Auch biblisch-theologisch ist es nicht vertretbar, nicht auf die einseitigen Vorstellungen von Gott als dem ›lieben Gott‹ zu reagieren. Laut Friedrich Schweitzer ist es die Aufgabe der Religionspädagogik, »Gott nicht entweder als ›lieb‹ oder ›böse‹, sondern die Zusammengehörigkeit beider Seiten«415 begreifbar zu machen. Wenn also, wie beobachtet wurde, erstens eigene Erfahrungen von Leid, Schuld und Einsamkeit das vorliegende Gottesbild in Frage stellen und zweitens dieses Gottesbild nur einen Teil der biblischen Überlieferung widerspiegelt, so ist es im Interesse der Kinder, wenn auch die Zeugnisse von gegensätzlichen Erfahrungen mit Gott im Religionsunterricht zur Sprache kommen. Dies entspricht der Position Michael Frickes, der sich für die Befassung mit den »›dunklen Seiten‹ Gottes« 416 im Religionsunterricht einsetzt. Er betont, dass nur so der »Vielstimmigkeit«417 der biblischen Überlieferung Rechnung getragen werde und sich darin »echte Lernchancen«418 bergen. Dabei geht es nicht darum, das Gottesbild der Kinder zu berichtigen. Weder ist eine Vorstellung von Gott lernbar, noch ist eine unkritische Aneignung des im Religionsunterricht Vermittelten durch die Kinder wünschenswert. Dennoch könnte eine Auseinandersetzung mit den unbekannten Seiten Gottes die Kinder befähigen, mit den Anfragen, die sie aktuell oder zu einem späteren Zeitpunkt haben mögen, konstruktiv umzugehen. Dies ist nur möglich, wenn das Gottesbild der Kinder und Jugendlichen mit ihrer sonstigen kognitiven und psychosozialen Entwicklung ›mitwächst‹. Das Fundament dazu muss bereits vor der Adoleszenz, also am Beginn der Sekundarstufe I gelegt werden. Außerdem ist es auch im Hinblick auf diejenigen Kinder, in deren Bildern und Aussagen Unsicherheiten und Zweifel an Gottes ›Gutsein‹ durchscheinen, die sich also bereits bei t1 mit den Themen der Verborgenheit Gottes oder der Theodizee auseinandersetzen, von zentraler Bedeutung, solche Anfragen im Unterricht zu thematisieren. Konkretion für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe I Die Beschäftigung mit den Psalmen stellt eine sinnvolle Möglichkeit dar, mit Kindern ihr Gottesbild zu reflektieren und möglicherweise zu erweitern.
414
Bildungsplan Gymnasium, 24. Schweitzer, Brauchen Kinder einen bösen oder einen lieben Gott?, 382. Dazu bedarf es laut Schweitzer einer Reflexion der Instrumentalisierung des Gottesbildes zu verschiedenen pädagogischen Zwecken und eine Distanzierung davon. Vgl. ebd, 376ff. 416 Fricke, Die dunklen Seiten, 172. 417 A.a.O., 178 418 A.a.O., 179. 415
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
Der Bildungsplan 2004 sieht vor, dass die Psalmen 104, 23 und ein Klagepsalm im Unterricht behandelt werden sollen. Die Kinder sollen diese als Gebete »der Klage, des Dankes und des Lobes an Gott«419 kennen lernen. Außerdem sollen die Kinder die »Bildwelt der Psalmen«420 kennen. Damit ist gemeint, dass die in diesem Buch der Bibel enthaltenen Vorstellungen von Gott erkundet werden. Aus den Ergebnissen der Untersuchung kann man schließen, dass diese Vorgehensweise den Kindern der sechsten Klasse entspricht. Da vielen von ihnen die Bibel als Autorität wichtig ist, bietet es sich an, mit ihr zu arbeiten. Gerade wenn versucht wird, ihnen bisher fremde Gottesvorstellungen nahezubringen, ist es wichtig, auf diese ihnen vertraute Quelle zurückzugreifen. Bei der Betrachtung der Gottesbilder in den Psalmen soll demnach sowohl auf solche, die den Kindern vertraut sind, als auch auf ihnen weniger geläufige Vorstellungen eingegangen werden. Diese Vorstellungen von Gott sollten dann idealerweise verknüpft werden mit den elementaren Erfahrungen der Kinder. Es wäre denkbar, im Anschluss an Baldermann421 die Kinder mit einzelnen Psalmworten oder -versen zu konfrontieren, die sie sich leicht aneignen können.422 In den Worten können sie ihre eigenen Erfahrungen wiedererkennen, schließlich aber auch »Namen für Gott«423 finden und so etwas über sein Wesen herausfinden. Psalmworte, die den Vorstellungen der Kinder entgegenkommen sind beispielsweise »Der Herr ist mein Licht« (Ps 27,1), »Gott der Herr ist Sonne und Schild« (Ps 84,12), »Gott ist mein Schutz« (Ps 59,10), »Der Herr ist mein Hirte« (Ps 23,1), »Du bist bei mir« (Ps 23,4), »Herr, mein Fels, meine Burg, mein Erretter« (Ps 18,3), »Deine rechte Hand hält mich« (Ps 63,9), »Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir« (Ps 139,5), »Der Herr schaut vom Himmel und sieht alle Menschenkinder« (Ps 33,13) oder »Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat« (Ps 121,2). Es finden sich hier die Themen wieder, die die Kinder in ihren Bildern besonders betont haben: Gottes Fürsorge und Schutz für die Menschen, seine Macht und sein Wachen über die Erde, seine Schöpfung. Es ist sicherlich ein positives Erlebnis für Kinder am Beginn der Sekundarstufe I, wenn sie diesen Bildworten der Psalmen im Religionsunterricht begegnen und sich so vergewissern können, dass in der Bibel auf diese Art von Gott gesprochen wird. Für die Mädchen und Jungen, die bei der Untersuchung die Ansicht äußerten, dass die Bibel es 419
Bildungsplan Gymnasium, 27. Ebd. 421 Auf Baldermanns Vorgehensweise kann hier leider nicht genauer eingegangen werden. Der Hinweis ist bezogen auf Baldermann, Wer hört mein Weinen?. 422 Man muss fragen, ob es sich bei dieser Vorgehensweise um einen exegetisch korrekten Umgang mit den Texten handelt. Baldermann selbst argumentiert gegen solche Bedenken. Vgl. Baldermann, Wer hört mein Weinen?, 16ff. 423 Leßmann, Nachdenken, 57. 420
5.3 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
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nicht erlaube, ein Bild von Gott zu malen, besteht hier die Chance zu erkennen, dass in den Psalmen Gott in Bildworten beschrieben wird und es daher vielleicht doch zulässig ist, Gottesvorstellungen bildlich auszudrücken. Für diejenigen Kinder, die keine solch stark christlich geprägte Erziehung erhalten, ist eine Begegnung mit den biblischen Vorstellungen von Gott ebenfalls wichtig. Sie können auf diese Weise nachvollziehen, wie ihre Mitschüler und Mitschülerinnen zu ihren Überzeugungen gekommen sind, und möglicherweise die Bildworte für sich selbst als interessant, hilfreich und tragfähig anerkennen. Wichtig wäre es sicherlich, die Bilder von Gott nicht bloß im Unterricht kennenzulernen, sondern auch deren metaphorische Bedeutung zu verstehen. Dabei werden die Kinder selbst wahrscheinlich schon viel zur Deutung beitragen können. Sie können erläutern, dass die Sonne Leben und Wärme spendet, sie verstehen, was es bedeutet, hinter einem Schild oder in einer Burg bei Bedrohung Schutz zu finden. Sie kennen die Erleichterung, die ein Licht in der Furcht erregenden Dunkelheit bringt. Dass die Nähe und Beobachtung eines Erwachsenen Sicherheit gibt, dass nichts Schlimmes passieren wird, ist für sie eine alltägliche Erfahrung. So kann deutlich werden, dass es sich bei den Psalmbildern um Vergleiche und Metaphern handelt, nicht um wörtlich zu verstehende Aussagen über Gott. Hierbei muss danach gefragt werden, inwieweit die Jungen und Mädchen von ihrer kognitiven Entwicklung her überhaupt in der Lage sind, diese zu verstehen. Anton Bucher hat im Rahmen seiner Untersuchung des Gleichnisverständnisses von Kindern die Fähigkeit untersucht, religiöse Metaphern zu verstehen. Er gibt einen Einblick in die Erforschung des Sachverhaltes und kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder ungefähr ab dem Alter von zehn Jahren in der Lage sind, Metaphern angemessen zu deuten. Es ist also davon auszugehen, dass die Kinder mit den Gottesbildern der Psalmen umgehen können.424 Die Erkenntnis vom Charakter der Bildworte in den Psalmen erweitert die hermeneutische Kompetenz der Mädchen und Jungen. Es könnte dann im Unterricht gemeinsam mit den Kindern überlegt werden, ob sie die Eigenschaften, die Gott durch diese Bilder aus den Psalmen zugeordnet werden, auch selbst schon einmal erlebt haben. Es ist zu erwarten, dass viele Kinder etwas beizutragen haben. Mit einem Gespräch über eigene, elementare Erfahrungen mit den positiven Eigenschaften Gottes könnte dann auch erreicht werden, dass sich die Kinder den Zusammenhang, in dem die von ihnen allgemein formulierten Charakteristika Gottes mit ihnen persönlich stehen, bewusstmachen. Selbstverständlich hängt das davon ab, inwieweit die Kinder sich an einem 424
Vgl. Bucher, Gleichnisse, 37–41.
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
solchen Gespräch beteiligen und Persönliches preisgeben möchten. Bei den Kindern aus der vorliegenden Untersuchung wäre allerdings zu erwarten, dass die meisten wenig Scheu haben, über eigene Gotteserfahrungen zu sprechen. Die Psalmen bezeugen außer den bisher genannten Bildern von Gott auch Erfahrungen mit den oben angesprochenen ›dunklen Seiten‹, mit Zweifel, Schuld, Verlassenheit und Schmerz, mit Gottesferne und Angst. Entsprechende Psalmworte wären: »Wolken und Dunkel sind um ihn her« (Ps 97,2), »Du, Herr, sei nicht ferne!« (Ps 22,20), »Du lässest mich erfahren viele und große Angst.« (Ps 72,20), »Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn!« (Ps 6,2), »Gott ist Richter« (Ps 75,8). Eine vielversprechende Möglichkeit für den Religionsunterricht ist in der Auseinandersetzung mit einem Klagepsalm zu sehen, wie sie der Bildungsplan vorschlägt. Es bietet sich dadurch die wertvolle Gelegenheit, Erfahrungen von Menschen mit ihren Anfragen an Gott und die bezeugte Bewältigung durch den Beter mit den Kindern zu erkunden. Anhand eines Klagepsalms könnte im Unterricht nachvollzogen werden, welche Gefühle der Beter verspürt und wie er Gott erlebt. Wie die bildreichen Beschreibungen von Krankheit, Einsamkeit und Bedrohung zum Spiegel der elementaren Erfahrungen der Kinder werden können, legt Baldermann ausführlich dar.425 Für die Kinder, die an der Untersuchung teilgenommen haben, mag es eine wichtige Erkenntnis sein, dass der Beter als ›frommer‹ Mensch in eine solch missliche Lage gerät und Gott darin als distanziert erlebt. Für diejenigen Jungen und Mädchen, die unsicher sind, ob und wie Gott handelt oder ob es ihn überhaupt gibt, stellt ein Klagepsalm eine Möglichkeit zur Identifikation dar. Ihnen wird das Beispiel einer Person vor Augen geführt, die ähnliche Anfragen hat wie sie selbst und der Suche nach Antworten nicht ausweicht. Dies könnte die Kinder ermutigen, sich mit ihren Fragen auseinanderzusetzen, eventuell wie der Psalmbeter, indem sie sich an Gott selbst wenden. Die aktuelle Leiderfahrung steht in vielen Klagepsalmen im Kontrast zu dem Wissen über Gottes Treue, die er den Vätern erwiesen hat und von der der Beter selbst überzeugt ist.426 Eben diese Spannung ist es, die, wie oben dargelegt wurde, für die Kinder aus dieser Klasse – sei es schon beim ersten Untersuchungszeitpunkt, sei es als Jugendliche oder Erwachsene – zum Problem werden kann. Am Beispiel des Psalms können sie mit Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Spannung vertraut gemacht werden: Der Beter wendet sich in seiner Not an Gott und erkennt, dass Gott hört, dass er der ist, der ›die Tränen zählt‹ (Ps 56,9). Wenn auch der Hinweis auf das die Not wendende Handeln Gottes nicht fehlen darf, so sollte dabei die Spannung nicht zu schnell durch 425 426
Vgl. Baldermann, Wer hört mein Weinen?, 29–42. Vgl. Ps 22,5; Ps 13,6.
5.3 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
177
den Hinweis, dass Gott am Ende Rettung verschafft, aufgelöst werden. Eher ist es wichtig zu betonen, dass die Tragfähigkeit des christlichen Gottesbildes darin liegt, dass Gott mitten im Leiden ist. Baldermann sieht darin, dass der Gott, »von dem die Bibel spricht […] mit seiner ganzen Existenz dem Leiden der Menschen verhaftet [bleibt]«427, den Grund für das Festhalten am von Güte und Verlässlichkeit gekennzeichneten biblischen Gottesbild.428 So kann das Kennen und Verstehen eines Klagepsalms den Jungen und Mädchen bei einem ähnlichen Konflikt Orientierung und Trost bieten. Am Beispiel eines Klagepsalms kann auch der Zusammenhang zwischen Gottesbeziehung und Gottesbild näher betrachtet werden. Für den Psalmbeter bietet sein Gottesbild vom verlässlichen Gott der Väter, der auch angesichts seiner Verborgenheit vertrauenswürdig ist, eine feste Grundlage zum Umgang mit schwierigen Lebenssituationen. Die Gottesbeziehung erfährt durch Erlebnisse von Not und Leid keine fundamentale Störung, sondern bleibt auch angesichts von Herausforderungen für den Beter von zentraler Bedeutung. Der Bildungsplan sieht vor, dass die Jungen und Mädchen ihre Gottesvorstellungen »bedenken«429 sollen. Dies ist vorstellbar und wird auch durch die oben genannten Hinweise verwirklicht, wenn damit ein Bewusstmachen der eigenen Vorstellungen und der Vergleich mit anderen Gottesbildern gemeint sind. Ob jedoch ein Bedenken im Sinne eines Reflektierens der Entstehung und Entwicklung der eigenen Gottesvorstellung in dieser Klassenstufe möglich und sinnvoll ist, bleibt fraglich. Dies wird zwar, wie in der Einleitung dargelegt, von einigen Lehrbüchern angestrebt, entspricht aber nicht dem in der vorliegenden Untersuchung zu Tage getretenen Umgang der Kinder mit ihren religiösen Vorstellungen. Als zentrale Eigenheit der untersuchten Jugendlichen ist ohne Zweifel das religiös geprägte Umfeld zu nennen. Bei anderen fünften und sechsten Klassen kann eine so intensive religiöse Sozialisation nicht vorausgesetzt werden. Nicht alle Kinder wissen so viel über die christliche Religion, kennen so viele ›stories‹ über Gott und haben schon so viel über Gott nachgedacht wie die Kinder, die an der Untersuchung teilnahmen. Es ist dementsprechend nicht anzunehmen, dass Gott von anderen Klassen mit gleicher Selbstverständlichkeit Vertrauen entgegengebracht und fast nur positive Eigenschaften zugeschrieben werden. Es muss damit gerechnet werden, dass die Gottesfrage mit anderen Schülern und Schülerinnen nicht so unbefangen und leicht im Unterricht thematisiert 427
Baldermann, Wer hört mein Weinen?, 69. In den in der Einleitung betrachteten Unterrichtswerken wird dieser Aspekt vernachlässigt. 429 Bildungsplan Gymnasium, 27. 428
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
werden kann; außerdem ist es eher ungewöhnlich, dass die Bibel für Kinder eine so große Bedeutung hat. In anderen Klassen kann also nicht selbstverständlich auf die Bibel als Autorität in religiösen Fragen zurückgegriffen werden, sie muss zunächst eingeführt und in ihrer Bedeutung erläutert werden. Da andere Fünft- beziehungsweise Sechstklässler sich nicht unbedingt schon derart viele Gedanken über Gott gemacht haben, mag es sein, dass ihnen die Auseinandersetzung mit Vorstellungen von Gott und das Festhalten eines eigenen Gottesbildes schwerer fallen als den Kindern in dieser Untersuchung. Denkbar wäre es, mit ihnen in noch kleineren Unterrichtsschritten vorzugehen, um ihnen einen Zugang zum Thema zu erleichtern. Möglicherweise haben sie aber auch weniger Vorbehalte als die untersuchten Kinder und zeigen eine große Offenheit. Die Aspekte der Gottesvorstellungen, die weniger durch die Sozialisation, sondern durch den Entwicklungstand der Kinder zu erklären sind, sind demgegenüber bei anderen Klassen ähnlich zu erwarten, wie sie in der Untersuchung zu Tage getreten sind. So ist anzunehmen, dass in anderen Klassen die Vorstellungen von Gott auch eher konkret als abstrakt sind, also, dass Gott menschenähnliches Handeln und Denken zugeschrieben wird. Wahrscheinlich gehen viele Kinder aus anderen Hintergründen ebenfalls davon aus, dass Gott auf die Lebenswelt der Menschen Zugriff hat und hier wirkt. Dementsprechend sind die oben skizzierten zu erwartenden Entwicklungsschritte ebenfalls für andere Fünft- und Sechstklässler anzunehmen. Selbst wenn Kinder, die keine so intensive christliche Erziehung erhalten, vielleicht weniger als die hier untersuchten Kinder von den positiven Eigenschaften Gottes wie Schutz und Nähe überzeugt sind, so ist doch wahrscheinlich, dass auch die ›negativen‹ Seiten Gottes in ihren Vorstellungen von Gott keine große Rolle spielen. So sind für diese Kinder die Aussagen über mögliche Probleme genauso gültig, die auftreten, wenn Gottesbild und Realität in der Erfahrung auseinandertreten. Auch hier bietet es sich vermutlich an, den Kindern im Religionsunterricht solche Bildworte für Gott aus den Psalmen zu präsentieren, die ihren Vorstellungen von Gott entsprechen, und solche, die über diese herausgehen. Abschließend kann man sagen, dass die Vorgehensweise, sich dem Thema Gottesbilder über die Psalmen zu nähern, für den Beginn der Sekundarstufe I sehr ertragreich sein kann. Nicht zuletzt liegt das daran, dass die Gottesvorstellungen der Kinder und die der Psalmen ähnlich bildhaft und konkret sind und die Kinder so einen relativ leichten Zugang zur Vorstellungswelt der Psalmen haben. Es ist schon davon gesprochen worden, dass die biblischen Bildworte von Gott im Unterrichtsgespräch mit den eigenen Erfahrungen in Zusammenhang gebracht werden sollen. Dieser Schritt setzt voraus, dass
5.3 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
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die Kinder ihre Gottesbilder mitteilen, wie auch das Malen des Bildes von Gott als eine Art Kommunikation des Gottesbildes angesehen werden kann. Es soll nun noch darauf hingewiesen werden, dass diese Kommunikation der eigenen Gottesvorstellungen im Unterricht, wenn die dazu notwendige Vertrauensbasis in der Klasse besteht, sehr fruchtbar sein kann. Bisher ist nur die Rede davon gewesen, dass die Kinder an den Gottesbildern der Psalmen lernen können. Dem Kennenlernen der Vorstellungen der anderen Schülerinnen und Schüler und der dadurch möglichen Erweiterung der eigenen Vorstellungen ist aber ein mindestens genauso hoher Stellenwert einzuräumen, denn die Bilder, die die Kinder im Rahmen der vorliegenden Untersuchung gemalt haben, weisen eine hohe Bandbreite unterschiedlicher Vorstellungen auf. Was für den Religionslehrer und seine Unterrichtsplanung eine Herausforderung darstellt, ist gleichzeitig auch eine große Bereicherung. Es kann im Unterricht versucht werden, die Kinder in ein Gespräch über eigene und andere Bilder zu bringen. Durch Betrachten, Fragen und Zuhören können die Jungen und Mädchen die Vorstellungen der anderen verstehen. Auch in der untersuchten Klasse haben die Kinder die Motive der anderen wahrgenommen und sich bei Interesse angeeignet beziehungsweise als alternatives Bild von Gott im Gedächtnis behalten. Für Zoe, die mit ihrem eigenen Bild zum Zeitpunkt des Interviews unzufrieden war, weil sie nun überzeugt ist, dass Gott nicht menschliche Gestalt hat, könnte es interessant und hilfreich sein, die symbolischen Darstellungen ihrer Mitschüler, beispielsweise die von Georg, kennenzulernen. Ein Übergang zu abstrakten Darstellungen Gottes könnte also so für die Kinder erleichtert werden, die mit ihren konkreten Gottesbildern unzufrieden sind. Gelingen wird ein solches Lernen voneinander allerdings nur, wenn in der Klasse eine entsprechend offene Gesprächskultur herrscht. Hier könnte es vielleicht sinnvoll sein, die Kinder in kleineren Gruppen ihre Bilder vorstellen zu lassen und Diskussionen darüber im kleinen Kreis anzuregen. Dass die Kinder die dazu notwendige Sprachfähigkeit im Hinblick auf ihre Gottesvorstellungen haben, ist in den Interviews deutlich geworden. Im Vergleich der verschiedenen Bilder von Gott birgt sich auch eine Möglichkeit, das Problem der Nichterkennbarkeit Gottes mit den Mädchen und Jungen anzusprechen und zu vertiefen. Von der Problematik, dass Gott nicht mit den Augen sichtbar ist, kann dazu weitergeführt werden, dass dem menschlichen Fassungsvermögen eine umfassende Gotteserkenntnis grundsätzlich verborgen ist. Die unterschiedlichen Perspektiven können in diesem Sinne auf die Nichterkennbarkeit Gottes, die in seiner Transzendenz begründet liegt, hinweisen. Für die religionspädagogische Arbeit bietet sich hier Gelegenheit, die Begrenztheit menschlicher Erkenntnismöglichkeiten im Blick auf die Gottesfrage zu betrachten. Für die Lehrperson stellt es eine Herausforderung dar, auf altersgerechte Art und Weise die komplexen Bereiche von
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
Erkenntnistheorien und damit verbunden der Wahrheitsfrage und Toleranzerziehung im Unterricht fruchtbar zu machen. So könnte die Auseinandersetzung mit Gottesbildern einen Beitrag dazu leisten, dass der Religionsunterricht seinem Auftrag »in Dialog und Auseinandersetzung mit anderen Sinn- und Wertangeboten dem kulturellen Verstehen und der Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders«430 dient. Die Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen ist geprägt von einem religiös-weltanschaulichen Pluralismus. Dies mag den Kindern der Untersuchung zumindest bei t1 noch nicht bewusst sein, da sie in einem konfessionell sehr homogenen Umfeld aufwachsen. Doch Begegnungen mit Menschen anderer Konfessionen und Religionen beziehungsweise Weltanschauungen werden mit Sicherheit auf sie zukommen, vielleicht schon jetzt in Familie, Bekanntenkreis oder Medien, im Religionsunterricht, wenn fremde Religionen betrachtet werden, oder auch später, wenn sie beispielsweise zur Ausbildung ihre Heimat verlassen. Damit die Schülerinnen und Schüler für Dialog und Auseinandersetzung gerüstet sind, ist es nach Christoph Schwöbel unerlässlich, dass sie sich ihrer eigenen religiösen Identität und Tradition sicher sind. Er sieht »religiöse Identitätsbildung als Bedingung interreligiöser Toleranz«431 an und erkennt darin eine wichtige Aufgabe der Bildungseinrichtungen. Die Relevanz des Themas Gottesbilder in diesem Zusammenhang wird deutlich, wenn Schwöbel darauf hinweist, dass »Identität nicht aus der Abgrenzung zu dem jeweiligen religiös anderen gewonnen wird, sondern in der Beziehung zu dem transzendenten Gott«432. Die Kenntnis des christlichen Gottesbildes ist demnach Voraussetzung für einen gelingenden Dialog in einer Gesellschaft des weltanschaulichen Pluralismus. Schwöbel geht jedoch noch über die Kenntnis von Traditionen hinaus und spricht davon, dass eine persönliche Aneignung vonnöten sei. Für ihn ist »das Wahrheitsbewusstsein des eigenen religiösen Glaubens […] insofern eine Bedingung der Toleranz«433, als nur eine sichere Identität, die Fremdes nicht als Bedrohung empfindet, zur Toleranz fähig sei. Ein Religionsunterricht, der die Kinder unter Einbeziehung ihrer eigenen Vorstellungen an biblische Gottesbilder heranführt, kann Raum dafür schaffen, dass sie sich fragen, ob die christlich-traditionellen Aussagen über Gott für sie selbst tragfähig sind. Antworten auf diese Frage nach elementaren Wahrheiten kann freilich kein Unterricht vorgeben. Wohl ist der Religionsunterricht aber dazu geeignet, »existenzielle, auf Wahrheit bezogene Gespräche«434 zu ermöglichen, und so 430
Bildungsplan Gymnasium, 24. Schwöbel, Toleranz, 11. 432 Ebd. 433 Ebd. 434 Schweitzer, Elementarisierung, 28. 431
5.3 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
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bekommen die Jungen und Mädchen Gelegenheit, die Tragfähigkeit des christlichen Gottesbildes für sich anzunehmen oder auch zu bezweifeln. Insofern kann die Auseinandersetzung mit dem Thema Gottesvorstellungen einen wertvollen Beitrag dazu leisten, dass Kinder sich ihrer religiösen Identität sicher werden und so ausgerüstet sind für den »Streit um die Wirklichkeit«435. Neben der Unterrichtseinheit Psalmen gibt es noch weitere Themenbereiche, die sich für die Begleitung der Entwicklung von Gottesvorstellungen am Beginn der Sekundarstufe eignen. Eine Möglichkeit hierfür bietet sich bei der Behandlung einer biblischen Erzählung, z.B. anhand der Figuren von David oder Ruth. Beide biblischen Figuren können für die Jungen und Mädchen als Identifikationsfigur dienen. An Ruths oder Davids Lebenslauf können sie kennenlernen, wie eine Person schwierige Lebenssituationen und Erfahrungen mit Not, Leid und Bedrohung in Bezug auf Gott deutet. Die Geschichten beschäftigen sich mit dem Vertrauen auf Gott angesichts widriger Umstände. Die in den Erzählungen thematisierten Eigenschaften von Gott entsprechen in vielem dem Bild von Gott, welches die Kinder laut den Ergebnissen der Untersuchung mitbringen. Sie vertiefen diese aber auch insofern, als die Kinder durch sie damit vertraut gemacht werden können, wie sich für die Protagonisten die Güte und Vertrauenswürdigkeit Gottes gerade nicht in der Bewahrung vor negativen Erfahrungen, sondern in diesen Erfahrungen selbst zeigt. Ähnlich wie bei der Betrachtung eines Klagepsalms, wird hier der Zusammenhang von Gottesbild und Gottesbeziehung deutlich. Die exemplarische Vorgehensweise anhand von konkreten biblischen Figuren entspricht dem Entwicklungsstand der Kinder zu Beginn der Sekundarstufe I. Die Identifikation mit einer Person hilft den Kindern, die Elementaren Wahrheiten von Gottes Nahe-Sein und seinem Verborgensein besser nachzuvollziehen. Ein weiteres Thema, das sich zur Beschäftigung mit der Gottesfrage eignet, ist die Schöpfung. Die Vorstellung, dass Gott als Schöpfer für die Entstehung und Erhaltung allen Lebens auf der Erde Verantwortung übernimmt, ist, wie die Untersuchung gezeigt hat, für viele Kinder wichtig. Darüber hinaus zeigen Kinder zu Beginn der Sekundarstufe I ein hohes Interesse an der Natur und an besonderen natürlichen Phänomenen. Insofern lassen sie sich leicht zum Staunen über die Schöpfung einladen, was in das Staunen über den Schöpfer münden kann. Gleichzeitig kann die Betrachtung der Erde und aller Lebewesen als Geschöpfe die Verantwortung des Menschen beleuchten. So kann mit Schülerinnen und Schülern die Frage nach den angemessenen Beziehungen der Geschöpfe untereinander und der Geschöpfe zum Schöpfer thematisiert werden. Dadurch kommt der Zusammenhang von Gottesbild, Gottes435
Bildungsplan Gymnasium, 24.
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
beziehung und Beziehungen zu Menschen in den Blick. Die Kinder können so erfahren, welche konkreten Konsequenzen ein bestimmtes Gottesbild im Alltag haben kann. Als letztes Beispiel soll das Thema Gleichnisse betrachtet werden. In den neutestamentlichen Gleichnissen schlägt sich Jesu Gottesbild nieder, und deshalb haben diese für das christliche Gottesbild eine zentrale Bedeutung. Wie die bisher betrachteten Themen eignen sich die Gleichnisse einerseits, um an eigene Gottesvorstellungen der Kinder anzuknüpfen und diesen damit eine vertiefte Basis zu geben. So könnte z.B. eines der Gleichnisse vom Verlorenen in Lk 15 die Kinder darin bestärken, dass Gott fürsorglich mit seinen Geschöpfen umgeht und sie wertvoll für ihn sind. Auch seine Vergebungsbereitschaft zeigt sich in diesen Gleichnissen. Neben der Menschenfreundlichkeit Gottes treten andererseits in den Gleichnissen aber auch Züge des christlichen Gottesbildes hervor, die laut der Untersuchungsergebnisse in den Vorstellungen der Kinder kaum oder gar nicht repräsentiert sind. Anhand des Gleichnisses von den Talenten aus Mt 25 können die Kinder sich mit der Erfahrung von Gottes Strenge und der Härte der Forderungen, die er an die Menschen stellt, auseinandersetzen. Dies dürfte für die im Konflikt zur von ihnen angenommenen Güte und Großzügigkeit Gottes stehen. Das Gleichnis der Arbeiter im Weinberg (Mt 20) stellt eine ähnliche Herausforderung dar. Es verdeutlicht die Verschiedenheit von menschlichen Erwartungen und Gottes Entscheidungen. Das Gleichnis zeigt, dass sich das göttliche Gerechtigkeitsverständnis laut Jesus stark vom menschlichen Leistungsdenken unterscheidet. Es ist davon auszugehen, dass dies bei Kindern am Beginn der Sekundarstufe I auf Protest und Unverständnis trifft. Damit bieten sich zwei Gelegenheiten. Zum einen ist es sicherlich möglich, auf altersgerechte Art und Weise die von den Kindern auf den ersten Blick als problematisch angesehenen Eigenschaften Gottes in ihrem Kontext verständlich zu machen. Zum anderen – und hier liegt die größere Chance zur Begleitung der Entwicklung von Gottesvorstellungen – kann anhand solcher Gleichnisse die Andersartigkeit Gottes und seine Verborgenheit an sich thematisiert werden. Alle menschlichen Vorstellungen von Gott werden durch Jesu Theologie infrage gestellt und in ihre Schranken verwiesen. Dies zu erkennen, kann Jungen und Mädchen zu einem vertieften Bewusstsein von Gottes Wesen als dem ganz Anderen verhelfen. Insgesamt haben alle diese Betrachtungen gezeigt, dass sich bei den in der Unterstufe im Religionsunterricht vorgesehenen Themen zahlreiche Möglichkeiten bieten, die Gottesfrage mit Kindern zu erörtern und dabei ihre Gedanken und Vorstellungen über Gott zu verbalisieren und deren Entwicklung zu fördern. Dazu gehört ein sensibles Gleichgewicht zwischen Förderung und Unterstützung bestehender Vorstellungen von Gott und deren Erweiterung durch behutsame Heranführung an neue
5.4 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
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und andere Bilder von Gott. Durch eine solche Horizonterweiterung können Kinder zum konstruktiven Umgang mit bestehenden oder zukünftigen Fragen, Zweifeln oder Brüchen in ihrer Vorstellung von Gott befähigt werden.
5.4 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott am Beginn der Sekundarstufe II Ebenso wie für die Sekundarstufe I geschehen, soll im Folgenden für Jugendliche am Beginn der Sekundarstufe II beschrieben werden, wie die Entwicklung ihrer Gottesvorstellungen unter Aufgriff zentraler theologischer Themen begleitet werden kann. Die Möglichkeiten der unterrichtlichen Beschäftigung werden vor dem Hintergrund der Untersuchungsergebnisse erörtert. Die Jugendlichen haben bei t2 komplexere Vorstellungen von Gott geäußert, die mit vielfältigen Fragestellungen und Anlässen zur Infragestellung Gottes einhergehen. Diese werden im Folgenden aufgegriffen und mit aktuellen Forschungsergebnissen zu relevanten Aspekten des religiösen Nachdenkens von Jugendlichen in Dialog gebracht. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Gottesvorstellungen der Jugendlichen sowohl in Kontinuität zu den kindlichen Vorstellungen stehen als auch neue Aspekte hervorbringen. Weiterhin sind es folgende zentrale Eigenschaften, die Gott zugewiesen werden: seine Präsenz und Fürsorge für die Menschen. Dazu tritt jedoch auch die Wahrnehmung von Gottes Ferne, seiner Transzendenz und Nichtverstehbarkeit. Diese ambivalente Wahrnehmung Gottes kann als Konsequenz des formal-operationalen Denkens und der erweiterten Perspektive angesehen werden. Erfahrungen der Verunsicherung, was die eigene Persönlichkeit und Rolle angeht, sind für die Zeit der Adoleszenz prägend. Die Familie und die dort aufgebauten Bindungen bilden nicht mehr den einzigen Lebensmittelpunkt des Jugendlichen. Die Bedeutung der Peer Group nimmt zu, was sich in einigen Interviewaussagen zum Stellenwert der Ansichten der Freunde für die eigene Vorstellung niederschlägt. Und nicht nur der Blick auf das eigene Selbst und das unmittelbare Umfeld verändert sich: Die Perspektive, aus der Jugendliche persönliche und religiöse Fragen betrachten, wird eine globale. So spielen nicht mehr nur unmittelbare, eigene Erfahrungen eine prägende Rolle für das Gottesbild, sondern menschliche Realitäten auch ferner Orte oder anderer Zeiten werden einbezogen. Im Anschluss an die Untersuchung können einige zentrale theologische Themen identifiziert werden, die für das theologische Denken der Jugendlichen eine Herausforderung und eine Chance zur Begleitung der Entwicklung der Gottesvorstellungen sind.
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
5.4.1 Herausforderung und Chance: Naturwissenschaftliches Weltbild und christlicher Glaube Wie die Untersuchungsergebnisse zeigen, fällt den Jugendlichen die Vermittlung ihrer rationalistischen Weltsicht mit dem christlichen Wirklichkeitsverständnis schwer. Wie in der Gesellschaft insgesamt ist bei den Jugendlichen in der Untersuchung die auch von Rohr in ihrer Studie wahrgenommene »Tendenz, wissenschaftliche Erkenntnisse doch zum Eigentlichen oder Ganzen der Welt zu erklären«436, erkennbar. Dies führt bei den Jugendlichen der vorliegenden Untersuchung vor allem in zwei Hinsichten zu Verunsicherung, und zwar im Blick auf kosmologische Fragestellungen sowie im Zusammenhang damit im Blick auf den Stellenwert der Bibel als verlässliche Quelle von Aussagen über Gott, die Welt und den Menschen. Zunächst sollen die durch die Frage der Weltentstehung ausgelösten Schwierigkeiten betrachtet werden. Die Jugendlichen der Untersuchung sprechen Gottes Rolle als Ursprung oder Schöpfer der Welt bei t2 deutlich seltener an als bei t1. Da das Thema bei t1 noch sehr präsent war, kann man darauf schließen, dass der Umgang der Jugendlichen damit einen Wandel erlebt hat. Viele von ihnen sprechen bei t2 im Zusammenhang mit Gott nicht mehr in der kosmologischen Perspektive, sondern beziehen sich eher auf die Relevanz Gottes für ihr persönliches Leben oder auch auf die Nähe zu Gott im Leben nach dem Tod. Dennoch finden sich auch Äußerungen zum Thema Entstehung der Welt. So geht Emily davon aus, dass Gott der Schöpfer des Universums ist und nicht nur die Erde, sondern »auch die anderen Planeten erschaffen hat«. Michaela hat Zweifel an dieser Vorstellung und drückt sie folgendermaßen aus: »Zum Beispiel das mit Adam und Eva. Das kann ich irgendwie auch nicht so ganz glauben, weil die zwei, die haben ja dann zwei Söhne gehabt. Und wie kann sich dann die ganze Welt entwickeln? Und wie war das dann mit den Steinzeitmenschen oder so? Weil Adam und Eva, die waren ja schon denke ich mal so entwickelt wie wir.« Für sie besteht ein Widerspruch zwischen den Erkenntnissen der Archäologie und der Schöpfungserzählung in Gen 2, die sie als Tatsachenbericht interpretiert und die daher ihre Glaubwürdigkeit verliert. Georg hat sich ebenfalls mit diesem Widerspruch beschäftigt und in den naturwissenschaftlichen Weltentstehungstheorien für sich eine überzeugende Weltsicht gefunden: »Ich bevorzuge diese Erklärung, weil es für die anderen halt keine Beweise gibt.« Die religionspsychologische und religionspädagogische Forschung hat auf die Frage der Weltentstehungsvorstellungen von Jugendlichen ein besonderes Augenmerk gelegt. Fetz, Reich und Valentin unterscheiden 436
Rohr, Schöpfung, 31.
5.4 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
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aufgrund ihrer Längsschnittuntersuchung von 60 Schweizer Jugendlichen zwei grundsätzliche Phasen des Weltbildes und Schöpfungsverständnisses, das unreflektierte artifizialistische Schöpfungsverständnis und das reflektierte Schöpfungsverständnis. Dabei sehen sie einen Zusammenhang zur allgemeinen kognitiven Entwicklung, entlang derer sich das Schöpfungsverständnis in Stufen entwickelt. Die artifizialistischunreflektierte Phase zeichne sich durch die Vorstellung von der »Erschaffung der Welt ähnlich wie ein ›Machen‹ im Sinne eines fabrikatorischen Schaffens«437 aus. Dieser Phase sind so gesehen in der vorliegenden Untersuchung die entsprechenden Äußerungen der Kinder bei t1 zuzuordnen. Im späten Kindesalter oder der frühen Adoleszenz löse die Erkenntnis, dass die Naturwissenschaft die Weltentstehung ohne das Zutun eines Schöpfergottes erklären kann, eine Abwendung vom unreflektierten Artifizialismus aus. Dies könne, müsse aber nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Konzepts der Schöpfung führen. Wie oben genannt, war dies bei Michaela und Georg aber der Fall. Für sie verlor der Schöpfungsglaube an Relevanz, weil sie die naturwissenschaftlichen Erklärungen zur Weltentstehung kennengelernt und als plausibel anerkannt haben. Da die Rede von der Schöpfung für sie offensichtlich lediglich eine Erklärungslücke gefüllt hatte, die nun von der Naturwissenschaft vertrauenswürdiger gefüllt wird, wenden sie sich vom Schöpfungsglauben ab. Der christliche Schöpfungsglaube beschreibt aber keinesfalls kausale Zusammenhänge, sondern hat seine Perspektive auf den Ursprung und Sinn des Ganzen gerichtet. Ein Ziel des Religionsunterrichts muss es demzufolge sein, »Glaube und Naturwissenschaft als unterschiedliche Weltzugänge«438 begreifbar zu machen, die nicht in Konkurrenz zu einander stehen. Für Michaela und Georg könnte es ein großer Gewinn sein, die Schöpfungserzählungen als eine solche andere Perspektive kennenzulernen. Sie könnten erkennen, dass multiple Perspektiven notwendig sind, um das Ganze der Wirklichkeit möglichst angemessen zu fassen, da jede Perspektive für sich begrenzt ist. In diesem Sinne fordert Friedrich Schweitzer, dass das komplementäre Denken geschult werden müsse. Durch eine Auseinandersetzung mit der in der Schöpfungserzählung überlieferten erhaltenden und errettenden Fürsorge Gottes für die Menschen und die ganze Welt kann sich Jugendlichen ein »großer Trost und eine Sinnerfahrung für das eigene Leben«439 erschließen. Folglich ist es für den Religionsunterricht eine zentrale Aufgabe, Jugendliche in der Auseinandersetzung mit den beiden scheinbar konkurrierenden Positionen zur Weltentstehung zu begleiten. Dazu bietet unter an437
Fetz/Reich/Valentin, Weltbildentwicklung, 135. Schweitzer, Schöpfungsglaube, 59. 439 A.a.O., 99. 438
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
derem das Oberstufenthema »Wirklichkeit« eine gute Gelegenheit. Im Sinne des oben Dargelegten sollte der Religionsunterricht dazu dienen, hier die verschiedenen Methoden und Perspektiven von Glaube und Naturwissenschaft näher zu betrachten, um den Schülerinnen und Schülern ein komplementäres Verständnis zu ermöglichen.440 Als zweite Konkretion des von den Jugendlichen als problematisch wahrgenommenen Verhältnisses von Naturwissenschaft und Glaube soll die Frage der Verlässlichkeit der Bibel betrachtet werden. Einige Jugendliche sehen die Bibel als vertrauenswürdiges Zeugnis über Gott und sein Wirken an. Xavier, Quentin, Oliver und Fabian geben an, dass für sie die Bibel Quelle der Erkenntnis über Gottes Wesen sei. Nina und Henrike betonen das ebenfalls und weisen darauf hin, dass sie regelmäßig in der Bibel lesen und ihnen dies wichtig sei. Andere Jugendliche haben eine kritische Einstellung zur Bibel und zeigen Schwierigkeiten, die biblischen Texte in ihr Weltbild einzuordnen. Oben wurden schon Michaelas Zweifel an der Erzählung von Adam und Eva erwähnt. Für Clemens ist die Frage, ob das stimmt, was »in der Bibel immer steht«, zentral. Er bezieht sich dabei vor allem auf Aussagen des Alten Testaments, in denen Gott vergeltend in das Leben der Menschen eingreift. Clemens findet viele Beispiele der Weltgeschichte, bei denen Gottes Eingreifen ausgeblieben ist. Er nimmt hier eine Inkonsequenz wahr, die ihm zum Anlass wird, an der Verlässlichkeit der Bibel als Quelle zu zweifeln. Auch die Verschiedenheit der Berichte über Jesu Wirken in den Evangelien wird für ihn zum Problem. Zoe bezieht sich ebenfalls auf die alttestamentliche Rede vom strafenden Gott. Dieses Gottesbild ist für sie nicht vereinbar mit ihrer Vorstellung vom »lieben Gott […], der nicht nur die ganze Zeit so die Leute betraft und böse ist«. Daher distanziert sie sich von den biblischen Aussagen über Gott. Wiebke sagt im Rückblick über ihre Gottesvorstellung als Kind, dass sie »da noch so total an die Bibel und so geglaubt« habe. Mittlerweile könne sie sich nicht mehr mit den Ansichten einer konkreten religiösen Überlieferung identifizieren. Um eine ausführliche Beschäftigung mit der Bibel zu vermeiden, sei sie aus dem Religionsunterricht ausgetreten. In den kritischen Aussagen spiegelt sich das Grundproblem wider, das oben schon angesprochen wurde: Ein wörtliches und vom historischen Kontext der Texte losgelöstes Verständnis der biblischen Texte wird für die Jugendlichen zum Problem. Und auch bei den Aussagen derjenigen Jugendlichen, die die Bibel als verlässlich ansehen, zeigen sich keine Anhaltspunkte für eine andere Interpretation der Texte als die wörtliche. Dieser Zugang zu den biblischen Texten ist aus religionspädagogischer Sicht als problematisch anzusehen, unabhängig davon, ob er die Jugend440 Daher ist es zu bedauern, dass das Thema im ab 2016 gültigen Bildungsplan nicht mehr als eigenständige Einheit vorgesehen ist.
5.4 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
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lichen zur Abwendung von der Bibel führt oder nicht. Einerseits ist dies theologisch mit der Tatsache begründbar, dass man dem biblischen Zeugnis nicht gerecht wird, wenn man das ›Menschenwort im Gotteswort‹ völlig losgelöst von seinem historischen Kontext betrachtet. Andererseits ist es auch in entwicklungspsychologischer Sicht nicht wünschenswert, wenn der Reflexionsgrad in diesem Bereich weit hinter der allgemeinen Entwicklung der Jugendlichen zurückbleibt. Im Sinne der historisch-kritischen Bibelauslegung wäre es für die Jugendlichen hilfreich, die Intentionen der Autoren in ihrem historischen Zusammenhang aufzudecken. Diese Vorgehensweise könnte ihnen einen neuen Zugang zu biblischen Texten eröffnen, der ihre Relevanz auch für die heutige Lebenswelt deutlich macht. Auch die Zugangsweise der Rezeptionsästhetik, die sich mit dem Text in seiner Endgestalt und der Intertextualität auseinandersetzt, könnte für die Jugendlichen einen gewinnbringenden Einblick in die Bedeutung biblischer Texte ergeben. Dieser Zugang ist jedoch sehr abstrakt und vielleicht für manche Jugendliche noch zu komplex. Um die Relevanz biblischer Texte vorurteilsfrei entdecken zu können, schlägt Rohr vor: »Die Frage, ob die Texte wahr oder falsch sind, muss vorerst glaubwürdig suspendiert werden.«441 Schambeck fordert, die Texte müssen »in ihrer Bedeutungsoffenheit und Unabschließbarkeit wahrgenommen [werden], weil der Prozess der Begegnung von Subjekt und Text in immer neuen Lebens- und Textkontexten und mit sich ändernden Erfahrungen stattfindet«442 Die hier beschriebenen Herausforderungen bezüglich des von den Jugendlichen wahrgenommenen Problems zwischen Glaube und Naturwissenschaft müssen in die konkrete Unterrichtsgestaltung einbezogen werden. Vor dem Hintergrund der Untersuchungsergebnisse scheint es sinnvoll, bei der Betrachtung der wissenschaftlichen Zugangsweisen zur Bibel am Ende der Sekundarstufe I konkret auf die Schöpfungsthematik einzugehen. 5.4.2 Herausforderung und Chance: Theodizee Neben vielen Aussagen in den Interviews, die Vorstellungen von einem omnipräsenten Helfer-Gott zum Ausdruck brachten, sind in der vorliegenden Untersuchung bei t2 auch einige Äußerungen aufgefallen, die explizit oder implizit die Theodizeefrage thematisieren. Die Jugendlichen geben Einblick in ihnen sowohl im persönlichen Raum als auch in globaler Perspektive bekannte Notsituationen und Schicksalsschläge sowie Ungerechtigkeiten. Diese werden zum Anlass dazu, den Gott, der als schutzbietender Garant von Gerechtigkeit vorgestellt wird, in Zweifel zu ziehen. 441 442
Rohr, Schöpfung, 136. Schambeck, Bibeltheologische Didaktik, 65.
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
Sabine bringt dies mit ihrer Entwicklung zur Erwachsenen in Verbindung, wenn sie sagt, dass sie sich seit t1 weiterentwickelt habe und sich als Jugendliche nun mit komplexen Fragestellungen, »auch mit der Theodizee und alles Mögliche«, beschäftige. Clemens bezieht sich auf ein konkretes historisches Beispiel und erklärt: »Zur Zeit von den Nazis, da hat er ja auch irgendwie nichts gemacht. Da war er ja nie da, hat irgendwas verändert oder so.« Auch Emily verunsichert es, »dass einfach so viel Schlimmes passiert« und bezieht sich dabei auf den Familien- und Freundeskreis. Sie erinnert sich daran, dass sie als Kind von Gottes schützendem Handeln überzeugt war. Diese Vorstellung kann sie nun angesichts des wahrgenommenen Leidens in der Welt nicht mehr aufrechterhalten. Eigene oder beobachtete Leiderfahrungen bieten also für die Jugendlichen der Untersuchung den Anlass zur Infragestellung von Gottes Eingreifen in die menschliche Wirklichkeit. Damit entsprechen die Aussagen der Jugendlichen dem Schluss, den Karl Ernst Nipkow schon 1987 zog: Er sieht (ausgehend davon, dass Jugendliche über eine theistische Weltvorstellung verfügen) das Theodizeeproblem als die erste und »wahrscheinlich größte Schwierigkeit in der Gottesbeziehung«443 und damit als die größte von vier zentralen »›Einbruchstellen‹ für den Verlust des Gottesglaubens«444 an. Auf Basis einer Textsammlung Robert Schusters von 1984, die die Äußerungen von 1236 Jugendlichen zur Gottesfrage enthält, beschreibt Nipkow eine Enttäuschung über das Ausbleiben von Gottes Hilfe. Jugendliche geraten so »vor die Selbstwidersprüchlichkeit zwischen Gottes Allmacht und Liebe«445, was ihre Gottesvorstellung herausfordert und verunsichert. Auch Van der Ven und Vossen gehen von einer wichtigen Rolle der Theodizeeproblematik für den Bereich der Religionspädagogik aus. Sie erkennen bei ihrer Untersuchung von 1989 bei Jugendlichen verschiedene Theodizeekonzeptionen und erklären diese im Zusammenhang mit dem kognitiven Entwicklungsstand. Eine Person, bei der konkret-operationales Denken vorherrscht, erkläre die Theodizee absolut-transzendent, das heißt sie sehe das Leid als von Gott zugelassen oder gar beabsichtigt an. Erst das formal-operationale Denken ermögliche Jugendlichen eine immanent-transzendente Argumentation im Umgang mit der Theodizeefrage.446 So könne Gott für die Jugendlichen auch »im Leid der Garant von Sinn und Eröffner neuer Perspektiven«447 werden.
443
Nipkow, Erwachsenwerden, 56. A.a.O., 49. 445 A.a.O., 56. 446 Vgl. Van der Ven / Vossen, Deutungen des Leidens, 202.209. 447 A.a.O., 203. 444
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Ritter, Hanisch, Nestler und Gramzow dagegen sprechen auf der Basis ihrer Untersuchungsergebnisse von 2006 der Theodizeefrage eine zentrale Bedeutung ab. Ihrer Ansicht nach sei die Theodizeefrage für Kinder wie Jugendliche mittlerweile nicht mehr existenziell und relevant.448 Sie erklären dies damit, dass »das theistische Gotteskonzept […] an Plausibilität [verloren habe]«449. Dennoch skizzieren sie vier Konzepte, wie Kinder und Jugendliche das Verhältnis von Gott und Leid definieren. Das erste Konzept besteht darin, dass Kinder und Jugendliche sich rein auf die Immanenz beiziehen und das Leid als deren unausweichlichen Bestandteil ansehen. Ein Zusammenhang zur Gottesfrage wird nicht hergestellt. Das zweite von Ritter u.a. beschriebene Konzept erklärt Leid damit, dass es dazu diene, eine Nähe der Menschen zu Gott herzustellen. Eine dritte Möglichkeit ist es, das Leid als Hinweis auf Gottes strafende und prüfende Macht anzusehen. Das vierte Konzept beinhaltet, dass Gott aufgrund des Leides in Frage gestellt wird.450 Die Ergebnisse von Ritter u.a. widersprechen der These von Nipkow und zeigen ein deutlich anderes Bild als die in der vorliegenden Untersuchung vorgefundenen Vorstellungen von Gott und der Bedeutsamkeit der Theodizeefrage. Die Befunde der vorliegenden Untersuchung bestätigen nicht, dass Jugendliche theistische Vorstellungen ablehnen, vielmehr bieten sie zahlreiche Belege dafür, was sicherlich auch in der besonderen religiösen Prägung der befragten Gruppe begründet liegt.451 Nipkow selbst stellt die Ansicht von Ritter et al., der Theismus befinde sich in einer Krise, in Frage und legt dar, dass sowohl die von Ritter et al. beschriebenen Befunde als auch Anna-Katharina Szaguns Studien zu Gotteskonzepten von nicht christlich sozialisierten Kindern eine Hinwendung zu Gott als Person, von der Hilfe und Schutz erwartet wird, zeigen.452 Demnach folgert Nipkow, Gott sei für Kinder nach wie vor ein »Beziehungsgeschehen«453, und auch, wenn die Vorstellung von Gottes Allmacht bei manchen Kindern zu Gunsten nicht-theistischer oder pantheistischer Vorstellungen zurücktrete, sei damit die Relevanz der Theodizeefrage noch nicht zu ihrem Ende gekommen.454 448
Diese Schlussfolgerung hinterfragt Simojoki u.a. durch den Hinweis darauf, dass das angewandte Forschungsdesign eher den Vorstellungen und der Sprache von Kindern als von Jugendlichen entspricht. Vgl. Simojoki, Theodizeefrage, 70. 449 Ritter u.a., Leid und Gott, 154. 450 A.a.O., 151ff. 451 Dabei ist zu berücksichtigen, dass weder das Sample der vorliegenden Untersuchung noch das von Ritter et al. repräsentativ ist. 452 Vgl. Nipkow, Gott in Bedrängnis, 108ff. Darin erkennt er eine Entsprechung zu dem von ihm 1987 postulierten Bedürfnis Jugendlicher nach Gottes liebevoller Hilfe. Vgl. ders., Erwachsenwerden, 52. 453 Nipkow, Gott in Bedrängnis, 111. 454 Vgl. a.a.O., 117f.
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
Die neuere Untersuchung von Eva-Maria Stögbauer aus dem Jahr 2011 weist ebenso wieder auf einen hohen Stellenwert der Theodizeeproblematik für Jugendliche hin. Stögbauer erkennt in ihr einen »Katalysator der Positionierung zum Gottesglauben«455 sowie ein »Barometer religiöser Entwicklung«456. Stögbauers Untersuchung führt zur Skizzierung von sieben relativen Typenprofilen im Umgang mit der Theodizeefrage. Sie unterscheidet anhand ihrer Untersuchungsergebnisse Typen verschiedener Gottesbilder angesichts des Leides. Die »Gottesbekenner«457 formulieren in Form von Ich-Aussagen eine Vorstellung von Gott, der in schwierigen Lebenserfahrungen als präsenter Begleiter und Garant von Sinn fungiert. Die »Gottessympathisanten«458 fallen durch einen Widerspruch zwischen einem grundsätzlich positiven Gottesbild und dem wahrgenommenen Leid auf. Für sie ist das Leid kein Grund zur Abwendung von Gott. Die »Gottesneutralen«459 sprechen nicht in persönlichen Formulierungen über Gott, sondern emotionslos und distanziert. So bleibt für sie das Theodizeeproblem von geringer Bedeutung. Für »Gotteszweifler«460 dagegen hat es einen hohen Stellenwert und wird zum Anlass, Vorstellungen von einem Gott, der nicht den Hoffnungen der Menschen entsprechend handeln kann oder will, zu entwickeln. Bei ihnen kann ein »Rekurs auf die dunklen Seiten Gottes«461 stattfinden. Der Typ der »Gottesrelativierer«462 räumt der Theodizeefrage wie der Typ »Gottesverneiner«463 keine Bedeutung ein. Letzterer begründet das damit, dass Gott menschliches Konstrukt sei, und befreit Gott damit von jeglichem Bedarf an Rechtfertigung. Die »Gottespolemiker«464 erkennen durch das Leid das wahre Wesen Gottes als »kosmische[r] Tyrann«465. Die Jugendlichen, die an der vorliegenden Untersuchung teilnahmen, zeigen hauptsächlich Charakteristika der Typen »Gottesbekenner«, »Gottessympathisanten« und »Gotteszweifler«. Offensichtlich spielt die Theodizeefrage für die Jugendlichen der Untersuchung also eine zentrale Rolle, anders als Ritter et al. es annehmen. Für die untersuchten Jugendlichen gilt demnach eher das, was auch Simojoki 2009 in Bezug auf Nipkows Überlegungen darlegt. Simojoki 455
Stögbauer, Die Frage nach Gott, 59. A.a.O., 61. 457 A.a.O., 234. 458 A.a.O., 245. 459 A.a.O., 254. 460 A.a.O., 265. 461 Ebd. 462 A.a.O., 273. 463 A.a.O., 281. 464 A.a.O., 286. 465 Ebd. 456
5.4 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
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spricht von einer »anhaltenden Brisanz dieser Problemstellung«466 und hebt deren Bedeutung für die Religionspädagogik hervor. Allerdings räumt er ein, dass die Theodizeeproblematik, als eine von mehreren Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit des Bösen in der Welt, nicht alleine im Fokus stehen sollte. So darf der »der theologische Grundkonflikt zwischen Gottesglaube und Lebenserfahrung nicht in eine Richtung«467 eingeengt werden, sondern muss angesichts der heutigen Lebenswelt Jugendlicher multiperspektivisch vom Religionsunterricht aufgegriffen werden. Für die Jugendlichen der Untersuchung, für die die Theodizeefrage eine deutliche Relevanz gezeigt hat, wäre eine tiefergehende Beschäftigung mit dieser im Religionsunterricht insofern hilfreich, als sie auf diese Weise ihren Umgang damit bewusstmachen und reflektieren könnten. Von ihrem kognitiven Entwicklungsstand her sind die Jugendlichen in der Lage, auch komplexeren Gedankengängen zu folgen. Eine Auseinandersetzung mit gängigen philosophischen und theologischen Antwortversuchen auf die Theodizeefrage scheint daher angemessen und vielversprechend. Wünschenswert wäre es, wenn die Jugendlichen einen Weg fänden, eine Vorstellung von Gott zu entwickeln, die auch angesichts des Leids in der Welt und in ihrem Leben kohärent wäre und Orientierung böte. In engem Zusammenhang mit der Theodizeeproblematik steht für die Jugendlichen das Problem der Erkennbarkeit und Erfahrbarkeit Gottes. Wie in Abschnitt 4.3.3. schon beleuchtet, stellt dies für einige Jugendliche eine große Herausforderung dar. Beispielsweise äußern Emily und Clemens den Wunsch, Gottes Eingreifen in das Leben der Menschen zu sehen. Clemens bedauert, dass er Gott noch nie gehört habe. Es wird also ein Bedürfnis nach einer Gotteserfahrung deutlich, die laut Nipkow zum Fundament für »Gottesglaube[n] und Gotteserkenntnis«468 werden kann. Es muss daher danach gefragt werden, ob der Religionsunterricht die Möglichkeit hat, Gelegenheiten für solche Gotteserfahrungen zu eröffnen. Angesichts der Tatsache, dass die Aufgabe des Religionsunterrichts in der Sekundarstufe vorrangig in der kognitiven Auseinandersetzung mit Inhalten, also auch der Gottesfrage liegt, gilt es grundsätzlich zu prüfen, inwiefern es überhaupt Aufgabe des schulischen Religionsunterrichts sein kann »die Erfahrung des helfenden Gottes [zu] vermitteln«469. Diese Frage kann an dieser Stelle nicht ausführlich behandelt werden. In der gebotenen Kürze soll dennoch dargelegt werden, weshalb die Reli466
Simojoki, Theodizeefrage, 63. A.a.O., 72. 468 Nipkow, Erwachsenwerden, 54. 469 A.a.O., 57. 467
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
gionsdidaktik es erwägen sollte, Jugendlichen einen Zugang zu Gotteserfahrungen zu ermöglichen. Der baden-württembergische Bildungsplan sieht vor, dass der evangelische Religionsunterricht religiöse Kompetenz vermitteln soll. Darunter wird u.a. verstanden, dass Jugendliche im religiösen Bereich über eine ästhetische Kompetenz verfügen und auch in der Lage sind, religiöse Ausdrucksformen wie Rituale mitzugestalten.470 Ebenso wird in der aktuellen Denkschrift der EKD auf die Bedeutung von »Erfahrungsräumen«471 hingewiesen. Auch wenn der Begriff der religiösen Kompetenz kritisch hinterfragt werden muss, da ansonsten die Gefahr besteht, Aspekte des Religionsunterrichts, die nicht überprüfbar sind, zu operationalisieren, besteht aus pädagogischer Sicht laut den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung ein Bedürfnis bei Jugendlichen, nicht nur theoretisch über Gott zu reflektieren, sondern auch konkrete Erfahrungen mit Gott zu verbinden. Wenn das so ist, ist es durchaus sinnvoll, auf dieses Bedürfnis im geschützten Raum des Religionsunterrichts einzugehen und die Jugendlichen in ihrer Auseinandersetzung damit zu unterstützen. Gotteserfahrungen spielen im Religionsunterricht ohnehin eine große Rolle, wenn anhand von biblischen Figuren oder anhand von Personen aus der Kirchengeschichte solche theoretisch kennengelernt und ihre Schicksale nachvollzogen werden. Genauso ist es denkbar, eigene Erfahrungen der Jugendlichen aus dem privaten oder kirchlichen Raum im Unterricht zu thematisieren. Dabei können einerseits Erlebnisse zur Sprache kommen, die die Jugendlichen explizit als Gotteserfahrungen einordnen, andererseits scheint es auch vielversprechend, Umstände und Erfahrungen, die die Jugendlichen bisher nicht theologisch gedeutet haben, daraufhin zu betrachten, inwiefern auch hier sozusagen verborgene Gotteserfahrungen vorliegen. Das bedeutet, dass bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Gott in der Sekundarstufe II neben den klassischen Perspektiven der biblischen und kirchlichen Gotteslehre auch solche an Personen gebundene Gottesbilder in den Blick genommen werden sollten.472 Wenn der Religionsunterricht sich auf solche Weise mit dem Problem der Erfahrbarkeit Gottes auseinandersetzt, so nutzt er die Gelegenheit, mit Jugendlichen an der Entwicklung ihrer Vorstellungen von Gott im Rahmen des Kognitiven zu arbeiten. Der Religionsunterricht birgt darüber hinaus – stets im Bewusstsein der Nichtverfügbarkeit Gottes – auch die Möglichkeit, Jugendlichen Zugänge zu einer eigenen Spiritualität zu öffnen. Dazu können beispielsweise 470
Vgl. Bildungsplan Gymnasium, 25f. EKD, Religiöse Orientierung gewinnen, 117. 472 Im Abschnitt 5.4.3. wird dies für den Beginn der Sekundarstufe II an einem Beispiel expliziert werden. 471
5.4 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
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gemeinsam gefeierte Gottesdienste oder Andachten sowie Erfahrungen von Stille oder Meditation dienen. Bei allen Bemühungen in diesem Bereich ist allerdings Vorsicht geboten. Einerseits müssen solche Angebote den Jugendlichen Freiheit für eine individuelle Positionierung lassen und dürfen nicht vereinnahmend wirken. Andererseits müssen Religionslehrkräfte sich stets bewusst sein, dass sich das Problem der mangelnden Verstehbarkeit und Erfahrbarkeit Gottes nicht grundsätzlich aufheben lässt und dass eine Gefahr darin besteht, wenn dieser Eindruck bei Schülerinnen und Schülern erweckt wird, denn »dicht neben der theologisch angemessenen erfahrungsbezogenen Rede von Gottes Wirken im eigenen Leben liegt die theologisch abzuweisende erfahrungsabhängige Funktionalisierung der Wirklichkeit Gottes«473. 5.4.3 Konkretion für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe II Die in der Untersuchung festgestellten Fragen und Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf ihre Gottesvorstellungen können im Unterricht auf vielfältige Weise thematisiert und begleitet werden. Im Folgenden sollen am Beispiel einer Unterrichtseinheit zur Theodizeefrage didaktische Hinweise zur Umsetzung der Untersuchungsergebnisse am Beginn der Sekundarstufe II gegeben werden. Ein Zugang zur Beschäftigung mit der Theodizeefrage im Unterricht kann auf unterschiedliche Weise erschlossen werden. An dieser Stelle wird eine Annäherung über die konkrete historische Situation in Deutschland unter dem nationalsozialistischen Regime vorgestellt. Dass dieser Zugang sich gut eignet, zeigt sich schon daran, dass er in der Untersuchung in mehreren Interviews von den Jugendlichen selbst erwähnt wurde. Im Geschichtsunterricht werden die Jugendlichen am Ende der Sekundarstufe I mit den historischen Ereignissen vertraut gemacht, und daraus ergibt sich Reflexionsbedarf, auch in religiöser Perspektive. Es besteht ein Interesse der Jugendlichen an den geschichtlichen Zusammenhängen. Die sehr gute Quellenlage ermöglicht eine ertragreiche eigene Erkundung dieser durch die Schülerinnen und Schüler, beispielsweise anhand von konkreten Biographien. Es bieten sich zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten für Jugendliche: Anhand der Lebensgeschichten von Anne Frank oder Sophie Scholl können sie die Auswirkungen des Regimes auf den Alltag Jugendlicher kennenlernen. Aber auch regionale Beispiele oder die Erforschung der Auswirkungen auf die eigenen Vorfahren können ihnen einen persönlichen Zugang zur Geschichte ermöglichen. Andere Zugänge zur Beschäftigung mit der Theodizee-Frage im Unterricht sind ebenfalls denkbar und sinnvoll. Herbert Rommel schlägt eine 473
Nipkow, Erwachsenwerden, 68.
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
Annäherung über Kunst zur »Erzeugung von Betroffenheit«474 vor, durch die den Jugendlichen das Leid anderer Menschen anhand von Literatur, Gemälden oder Fotografien vor Augen geführt werden soll. Auch die Thematisierung eigener Leiderfahrungen der Jugendlichen oder die klassische Beschäftigung mit dem biblischen Buch Hiob eignen sich hier. Der biblische Text ist allerdings für Jugendliche in seiner Denkweise recht fremd und daher nicht leicht mit dem eigenen Erleben in Dialog zu bringen. Mit dem Kontext der nationalsozialistischen Verbrechen, einschließlich der Shoah, liegt ein zentrales und extremes Beispiel von unverschuldetem und ungerechtem Leiden vor. In ihrer Radikalität kann diese Konkretion es den Jugendlichen vereinfachen, sich mit den komplexen Denkstrukturen der Theodizee auseinanderzusetzen. Ausgehend von dieser konkreten Leidsituation kann im Unterricht die theologische Bedeutung der Frage nach Gott, seinem Wesen und Wirken in diesem Zusammenhang herausgearbeitet werden. Ihre Zuspitzung kann die Beschäftigung in der bei Elie Wiesel überlieferten, aber allseits präsenten Frage: »Wo ist Gott?«475 oder aus der heutigen Perspektive ›Wo war Gott in Auschwitz‹? finden. Rommel zufolge ist es wichtig, »verschiedene Theodizee-Argumentationen im Unterricht nicht isoliert voneinander zu besprechen«476, sondern auf den komplexen Zusammenhang in verschiedenen, theologischen und philosophischen, Perspektiven einzugehen. Dies dient dazu, die religiöse Sprachfähigkeit Jugendlicher zu fördern und die biblisch-christliche Tradition in ein »kritisches Gespräch«477 zu bringen. In diesem Zusammenhang ist zunächst eine Klärung der gedanklichen Voraussetzungen erforderlich. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich die Gottesvorstellung bewusst machen, die dem Theodizeeproblem zugrunde liegt. Für die Jugendlichen in dieser Untersuchung dürfte dies aufgrund der Nähe zu ihrer eigenen Vorstellung von Gott gut nachvollziehbar sein. 478 Der Philosoph Hans Jonas legt aus jüdischer Sicht zugrunde, dass Gott die Eigenschaften gut, allmächtig und verstehbar besitzt. Ausgehend davon kann die Struktur des Theodizeeproblems in den 474
Rommel, Mensch – Leid – Gott, 235. Wiesel, Die Nacht, 94. 476 Rommel, Mensch – Leid – Gott, 238. 477 Bildungsplan Gymnasium, 24. 478 Rommel geht – anders als die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigten – davon aus, dass die Mehrzahl der Jugendlichen eine deistische Vorstellung von Gott hat. Dementsprechend führt er aus, dass Jugendliche erst an die Vorstellung eines guten und mächtigen Gottes herangeführt werden müssen, beispielsweise über Identifikationspersonen, die aufgrund ihrer Leiderfahrungen die Theodizeefrage stellen. Rommel, Mensch – Leid – Gott, 237. 475
5.4 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
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Blick genommen werden. Rommel schlägt dazu folgende schülernahe Formulierung vor: »(1.) Ein guter und mächtiger Gott müsste Menschen helfen, wenn sie leiden. (2.) Das tut er aber nicht. (3.) Also gibt es ihn auch nicht.«479 Diese Argumentation ist zum Teil schon in den Interviews angeklungen, wobei keiner der Jugendlichen den dritten Satz explizit für sich selbst als plausibel benannt hat. Jedoch handelt es sich dabei um eine logische Folgerung aus den ersten beiden, und den Jugendlichen sollte es leicht fallen, die Argumentation als Ganzes nachzuvollziehen. Im Unterricht kann mithilfe dieser klaren Struktur der systematische Umgang mit theologischen oder philosophischen Fragestellungen eingeübt werden. Dies kann Jugendlichen helfen, ihre Gedanken präzise zu formulieren. Eine Gegenposition zur Leidargumentation, die für die Schüler eine Herausforderung darstellen dürfte, ist das Gerechtigkeitsargument. Rommel stellt es unter Rückgriff auf Kant und Metz in folgender Form vor: »(1.) Viele Menschen sind durch Leid geplagt. Oft kann ihnen niemand helfen. Das ist ein Skandal. (2.) Nur ein mächtiger und gerechter Gott könnte solche Leidenden heilen. (3.) Deswegen müssen wir hoffen, dass ein mächtiger und gerechter Gott existiert.«480 Ausgehend von diesen grundlegenden Überlegungen können im Unterricht mit den Schülerinnen und Schülern Antwortversuche auf die Theodizeefrage betrachtet werden – im Folgenden beispielhaft vorgestellt anhand der von Betroffenen gestellten Frage ›Wo war Gott in Auschwitz?‹ Dabei sollte einerseits auf solche Versuche eingegangen werden, die eine der oben beschriebenen Eigenschaften einschränken, andererseits auch solche, die die Eigenschaften Gottes nicht antasten. Ein Beispiel für ersteres ist die für Jugendliche in gekürzter Form gut verständliche Position von Hans Jonas. Ihn führen die Verbrechen der Nationalsozialisten an den europäischen Juden zu dem Schluss, dass Gott sehr wohl helfen wollte, es aber nicht konnte. Gott wird so zum ohnmächtigen, mitleidenden Gott. Die Allmacht Gottes wird also zugunsten seiner Verstehbarkeit und Güte aufgegeben.481 Im Anschluss an diese Position können Schülerinnen und Schüler leicht weiter reflektieren, dass auch die Güte oder die Verstehbarkeit in Zweifel gezogen werden könnten. Hier kann eine interessante Diskussion entstehen, die dem Theologisieren mit Jugendlichen entspricht. Die Jugendlichen können Argumente für die Aufgabe der einen oder anderen Eigenschaft Gottes austauschen und dabei ihre eigene Vorstellung von Gott anhand derer der anderen überprüfen und schärfen. Andererseits könnten die Schülerinnen und Schüler von diesem Ausgangspunkt auch andere Bestandteile 479
A.a.O., 239, Hervorhebung im Original. A.a.O., 241. 481 Vgl. dazu Jonas, Gottesbegriff. 480
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
der Leidargumentation in Frage stellen: Die Existenz des Leides an sich könnte in Zweifel gezogen werden, oder die Jugendlichen könnten sich der Position anschließen, dass das Leid der Welt darauf hinweist, dass es gar keinen Gott gibt. Die Diskussion kann Schülerinnen und Schülern deutlich machen, dass jedes Argument über eine gewisse Plausibilität verfügt, jedoch auch Fragen und Unstimmigkeiten in sich birgt. Auch solche Theodizeekonzepte, die Gottes Eigenschaften unangetastet lassen, sollten für Jugendliche gut nachvollziehbar sein. Sie äußern laut der Untersuchung von Ritter u.a. Vorstellungen davon, dass Gott Leid als Strafe benutzt oder dass im Leiden ein tieferer Sinn verborgen ist. 482 Ebenso sollte das Freiheitsargument, wie es beispielsweise Harald Kushner vertritt, Jugendlichen einerseits gut verständlich erscheinen und andererseits für ihr Nachdenken über die Theodizee ertragreich wirken könne. Kushner erklärt Gottes Rolle bei der Shoah wie folgt: Da Gott dem Menschen Wahlfreiheit in Bezug auf seine Handlungen gelassen habe, seien nicht Gott, sondern die Menschen verantwortlich für das Leid. Der vor die Wahl gestellte Mensch entscheide sich für das Böse, nicht das Gute. Gott stehe laut Kushner auf der Seite der Opfer, nicht der Täter und leide gemeinsam mit ihnen.483 Dieses Theodizeekonzept, das die Autonomie des Menschen betont, könnte dem Weltbild Jugendlicher entgegenkommen und daher auf viel Einverständnis stoßen. Die Jugendlichen der Untersuchung könnten an diesem Beispiel den Zusammenhang von Gottesbild und Menschenbild erkennen und eine Entwicklung ihrer Vorstellung von Gottes Handeln gegenüber der Schöpfung fördern. Zu Beginn der Sekundarstufe II könnte somit eine Ermutigung zu »verantwortungsvollem, solidarischen Handeln auf der Grundlage christlicher Wertvorstellungen«484 geschehen, die anhand der Theodizeefrage die Bedeutung der Eigenverantwortung des Menschen deutlich macht. Wie oben erwähnt, ist es sinnvoll, die Jugendlichen anhand von Stellungnahmen direkt oder indirekt Betroffener mit der Gottesfrage angesichts der Shoah zu konfrontieren, weil dies ein authentischer und für Jugendliche interessanter Zugang ist. Von daher ist es angemessen, jüdische Perspektiven auf die Theodizeefrage, wie die von Kushner und Jonas, einzubeziehen. Im evangelischen Religionsunterricht sollte jedoch auch die Beschäftigung mit einer christlichen Position zur Theodizee nicht fehlen. Dies ist beispielsweise anhand der Gedanken von Magdalene L. Frettlöh möglich, die sich der Frage nach Gottes Wirken in der Shoah widmet. 482
Vgl. dazu die Untersuchungsergebnisse von Ritter u.a., Leid und Gott, 151ff. Vgl. Kushner, Böses. 484 Bildungsplan Gymnasium, 24. 483
5.4 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
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Anhand von ihrer Position können die Jugendlichen die Vorstellung vom im Leid präsenten und mitleidenden Gott und deren christologische Begründung kennenlernen. Frettlöh argumentiert, dass die Frage »wo war Gott in Buchenwald?«485 unbedingt gestellt werden muss, obwohl es eine Herausforderung darstellt, wie »dieses Mit-Da-Sein zu denken und auszuhalten [ist] – für uns und für Gott selbst«486. Frettlöh geht in christologischer Perspektive auf das Theodizee-Problem ein. Durch Aufgreifen der Aussage Bonhoeffers »Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt, und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.«487 stellt sie dar, wie Gottes Hilfe nicht durch seine Allmacht, sondern durch seine Ohnmacht wirkt. Weiter erklärt sie, dass durch die Auferweckung Christi den Tätern das Recht auf das Leben ihrer Opfer genommen werde. Die so verstandene Auferweckung des Gekreuzigten sei noch nicht die Beantwortung der Theodizeefrage, aber sie gebe die Hoffnung, »dass Gott diese Frage einst beantworten wird. Bis dahin kommt es darauf an, sie Gott ins Angesicht zu klagen.«488 Für Schülerinnen und Schüler am Beginn der Sekundarstufe II ist diese anspruchsvolle Position sicherlich nicht leicht nachzuvollziehen. Deshalb ist es wichtig, hier vom Leichteren zum Schwereren fortschreitend vorzugehen und so einen Zugang zu erleichtern. Selbst von den mehrheitlich christlich sozialisierten Jugendlichen der Untersuchung ist keiner auf den Zusammenhang der Gottesfrage mit der Person Jesu Christi zu sprechen gekommen. Diese Tatsache zeigt, dass sich für sie hier keine unmittelbare Verbindung ergibt. Daher ist es sinnvoll, sie mit der christologischen Betrachtungsweise zu konfrontieren, um sie mit einem spezifisch christlichen Antwortversuch auf die Theodizeefrage bekannt zu machen. Dieser leistet nicht nur die Erweiterung der Überlegungen zur Theodizee, sondern macht grundsätzlich die Rolle Jesu Christi für die christliche Vorstellung von Gott deutlich.489 Im Religionsunterricht muss aber über eine sorgfältige systematische Beschäftigung mit dem Theodizeeproblem hinaus immer auch deren Relevanz für die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler aufgezeigt werden. Die Plausibilität der Fragestellungen und der Antwortversuche 485
Frettlöh/Knigge, Wo war Gott, 12. Ebd. 487 Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (DBW 8), hg. von Christian Gremmels u.a., Gütersloh 1998, 534. 488 Frettlöh/Knigge, Wo war Gott, 22. 489 Im vorliegenden Zusammenhang kann auf diese Verbindung nicht weiter eingegangen werden. Die Bedeutung von Jesus Christus für das Gottesbild Jugendlicher und deren Relevanz für den Religionsunterricht böte sicherlich einen lohnenswerten Ansatz für weitere Forschung. Vgl. Ziegler, Jesus. 486
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
sollte auch in Bezug auf die konkrete Lebenssituation der Jugendlichen überprüft werden. Dabei sollten eigene Leiderfahrungen, Sorgen, Ängste und Lebensfragen der Schülerinnen und Schüler in den Blick genommen werden und in Zusammenhang mit den betrachteten theologischen Überlegungen gesetzt werden. Dabei ist damit zu rechnen, dass Schülerinnen und Schüler, wenn sich dazu eine Gelegenheit bietet, eigene schwierige Lebenserfahrungen einbringen, deren Thematisierung unter Umständen in den konkreten Unterrichtssituationen sowohl für die Mitschüler als auch für die Lehrkraft eine Überforderung darstellen. Der Lehrperson obliegt in solchen Fällen die schwierige Aufgabe, das Mitgeteilte wertschätzend aufzugreifen. Abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass die Theodizeefrage an sich für Jugendliche das Potential zur Frustration birgt. Die Tatsache, dass der Unterricht aufgrund der Komplexität der Theodizee nicht zu einer von allen als überzeugend angesehenen Lösung führen kann, wird von Jugendlichen möglicherweise als unbefriedigend betrachtet. Auch in anderen Unterrichtseinheiten können die Untersuchungsergebnisse sinnvoll aufgenommen werden, um die Entwicklung von Gottesvorstellungen angemessen zu begleiten. In der gebotenen Kürze sollen im Folgenden einige ausgewählte Möglichkeiten skizziert werden. Es wurde aufgezeigt, dass für einige Jugendliche in der Untersuchung ihr Bibelverständnis ein Hindernis für die individuelle Entwicklung ihrer Vorstellung von Gott darstellt. Zu Beginn der Sekundarstufe II sollten Jugendliche demnach durch eine Unterrichtseinheit zum Thema Bibel an ein Verständnis der Bibel als historisches Dokument und als Gotteswort im Menschenwort herangeführt werden. Dazu ist es hilfreich, sie mit den Grundlagen der historisch-kritischen Methode vertraut zu machen. So kann eine Hermeneutik ermöglicht werden, die dem kognitiven Entwicklungsstand der Jugendlichen entspricht. Probleme, die sich aufgrund der augenscheinlichen Widersprüche zwischen den Aussagen der Bibel und dem rationalistischen Weltbild ergeben, könnten so gelöst werden. In Zusammenhang mit der Hermeneutik steht die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft. Für Jugendliche fokussiert sich dieses Problem im Umgang mit kosmologischen Fragestellungen. Dementsprechend ist es sinnvoll, im Religionsunterricht die Frage nach der Weltentstehung aus theologischer Perspektive zu betrachten. Eine fächerübergreifende Vorgehensweise, bei der die Voraussetzungen und Fragerichtungen unterschiedlicher Disziplinen reflektiert werden, könnte Jugendlichen am Beginn der Sekundarstufe II helfen, ein komplementäres Bild von der Weltentstehung zu entwickeln, in dem die biblischen Aussagen über die Schöpfung und damit verbunden über Gott als den Schöpfer nicht zugunsten einer vermeintlich vernünftigen, wissenschaft-
5.4 Religionsdidaktische Impulse zur Frage nach Gott
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lichen Position aufgegeben werden müssen, sondern in ihrer Bedeutung wertgeschätzt werden können. Es ist bereits festgehalten worden, dass die Frage nach der Erfahrbarkeit und dem Wirken Gottes im konkreten Lebensalltag für die Jugendlichen der Untersuchung eine Rolle spielt und sie teilweise auch zu verstehen geben, unter deren Mangel zu leiden. Der Religionsunterricht stellt den Schülern mit den klassischerweise behandelten Themen und biblischen Personen zahlreiche Aspekte von Gotteserfahrungen und Gottesbeziehungen von Menschen vor. Die Erfahrungen, die in der Bibel bezeugt sind, beispielsweise die von Moses, David, Hiob oder Paulus, und auch die Lebensbilder von historischen Vorbildern, die in unserer Tradition als besonders bedeutsam angesehen werden wie Elisabeth von Thüringen oder Johann Hinrich Wichern, sind dem Lebensalltag und der Lebenswirklichkeit heutiger Jugendlicher allerdings sehr fremd. So fällt es schwer, in den kennengelernten Überzeugungen und Erlebnissen dieser Menschen mit Gott Relevantes für das eigene Leben zu entdecken. Die Beschäftigung mit Lebensbildern von Christinnen und Christen aus dem 20. und 21. Jahrhundert könnten diese Distanz verringern. Anhand konkreter Biographien – bestenfalls von Zeitgenossen – könnten die Jugendlichen kennenlernen, wie das Gottesbild und die Gottesbeziehung sich im Zusammenhang mit dem persönlichen Lebenslauf ausdrücken und entwickeln. Insgesamt gilt, dass – ähnlich wie an den genannten Beispielen ausgeführt – auch alle weiteren Überlegungen, Fragen und Anfragen, die Jugendliche im Zusammenhang mit ihrer Vorstellung von Gott beschäftigen, im Religionsunterricht ihren Platz finden sollten.
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5. Konsequenzen für die Religionsdidaktik
Was die vorliegende Untersuchung zu Tage gebracht hat, kann man mit Thomas Schlag und Friedrich Schweitzer als »Theologie der Jugendlichen«490 bezeichnen. In diesem Sinne sind die Ergebnisse im vierten Kapitel dargelegt worden, um einen Einblick in die religiösen Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen zu gewinnen und um den Wandel dieser Vorstellungen vom Kindes- zum Jugendalter nachzuvollziehen. Darüber hinaus ist im fünften Kapitel nach einer »Theologie mit Jugendlichen«491, also einer »gemeinsame[n] Suchbewegung von Jugendlichen und Erwachsenen im Sinn gemeinsamer Deutungs- und Interpretationspraxis theologischer Fragen«492 gesucht worden. Es wurde deutlich gemacht, welche Prinzipien für dieses dialogische Arbeiten gelten müssen. In den fachdidaktischen Ausführungen wurde exemplarisch eine »Theologie für Jugendliche«493 skizziert, die über das hinausgeht, »was die Jugendlichen alleine – ohne Impulse von Erwachsenen – entdecken und entsprechend artikulieren können«494. Auf diese kann die religionspädagogische Praxis zurückgreifen. Selbstverständlich ist der Religionsunterricht nicht der einzige Faktor, der die Entwicklung von Gottesvorstellungen vom Kindes- zum Jugendalter beeinflusst. Ihm kommt jedoch eine zentrale Rolle zu. Wenn er sich in der oben beschriebenen Weise konkret auf die Gedanken, Fragen und Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler einstellt und auf diese eingeht, so kann dadurch ein wichtiger Beitrag zur persönlichen religiösen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen geleistet und »ihre theologische Urteilsfähigkeit gefördert werden, damit sie auch in religiöser Hinsicht mündig werden können«495.
490
Schlag/Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie?, 54. A.a.O., 80. 492 Ebd. 493 A.a.O., 107. 494 Ebd. 495 Schlag/Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie?, 29. 491
Literaturverzeichnis
Alle Bibelstellen sind, sofern nicht anders vermerkt, in der Übersetzung der Lutherbibel 1984 angegeben. Die in den Anmerkungen verwendeten Kurztitel finden sich hinter den vollständigen bibliographischen Angaben in Klammern. Albertz, Rainer, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. Erste und zweiter Teilband, Göttingen 1992. (Albertz, Religionsgeschichte) Aufwachsen in schwieriger Zeit – Kinder in Gemeinde und Gesellschaft / Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1995. (Aufwachsen in schwieriger Zeit) Baldermann, Ingo, Wer hört mein Weinen? Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen, Neukirchen-Vluyn 82006. (Baldermann, Wer hört mein Weinen?) Baumann, Ulrike / Schweitzer, Friedrich (Hg.), Religionsbuch Oberstufe, Berlin 2006. (Religionsbuch Oberstufe) Biesinger, Albert / Sautermeister, Jochen, Religiöse Kommunikation in Familien. Analyse und Perspektiven von Lernprogrammen für Eltern und ihre Kinder in: Biesinger, Albert / Kerner, Hans-Jürgen / Klosinski, Gunther / Schweitzer, Friedrich (Hg.), Brauchen Kinder Religion? Neue Erkenntnisse – Praktische Perspektiven, Weinheim/ Basel 2005, 66–79. (Biesinger/Sautermeister, Religiöse Kommunikation) Bildungsplan Grundschule, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Villingen-Schwenningen 2004. (Bildungsplan Grundschule) Bildungsplan für das Gymnasium der Normalform, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Villingen-Schwenningen 2004. (Bildungsplan Gymnasium) Böhm, Andreas, Theoretisches Codieren. Textanalyse in der Grounded Theory in: Flick, Uwe / Kardorff, Ernst von / Steinke, Ines (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, München 52007, 475–485. (Böhm, Theoretisches Codieren) Bösefeldt, Ina, Männlich – weiblich – göttlich. Geschlechtsspezifische Betrachtungen von Gottesbeziehung und Gottesverständnis Heranwachsender aus mehrheitlich konfessionslosem Kontext (Beiträge zur Kinder- und Jugendtheologie, Bd. 6), Kassel, 2010. (Bösefeldt, Männlich – weiblich – göttlich) Boßmann, Dieter / Sauer, Gert, Wann wird der Teufel in Ketten gelegt? Kinder und Jugendliche stellen Fragen an Gott. Mit einem religionspädagogischen Beitrag von Klaus Deßecker, Lahr/München 1984. (Boßmann/Sauer, Wann) Bucher, Anton A., Alter Gott zu neuen Kindern? Neuer Gott von alten Kindern? Was sich 343 Kinder unter Gott vorstellen in: Merz, Vreni (Hg.), Alter Gott für neue Kinder? Das traditionelle Gottesbild und die nachwachsende Generation, Freiburg (CH) 1994, S. 79–100. (Bucher, Alter Gott)
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