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German Pages 314 [422] Year 1912
Gott und Wissenschaft Erster Band
E. von Cyon
Gott und Wissenschaft Erster Band
Psychologie der großen Naturforscher
Autorisierte deutsche Ausgabe Mit dem Bildnis des Verfassers von J. C. Chaplain
Leipzig V e r l a g v o n Veit & C o m p . 1912
Prack von Metzger & Wittig in Leipzig.
Vorwort. «Gemeiniglich folgen die Schüler oder Nachahmer der atheistischen Philosophen ihren Vorbildern nicht Indem sie sich von jeder Furcht vor einer wachenden Vorsehung und einer drohenden Zukunft befreit fühlen, lassen sie ihren tierischen Begierden den Zügel schießen und trachten nur darnach, Andre zu verderben. Besitzen sie Ehrgeiz und ein unempfindliches Gemüt, so sind sie imstande, nur zu ihrem Spaß oder lediglich zum Zweck ihrer Beförderung die ganze Welt anzuzünden. . . . Derartige Gesinnungen und Strebungen erfüllen allmählich den Geist der vornehmen Welt, ja selbst den der Leiter der menschlichen Gesellschaften, von denen das öffentliche Wohl und Wehe abhängt. Solche Ansichten werden dann in Modebüchern entwickelt und bereiten systematisch den Boden für die allgemeine Revolution, welche Europa bedroht. Sie vernichten den Rest der edlen Gefühle, die es auf Erden noch gibt, wie die Liebe zum Vaterlande und zur öffentlichen Wohlfahrt, die Sorge für die Nachkommenschaft und der Drang, sein Leben im Dienste der Gesamtheit zu opfern. Diese p u b l i c s p i r i t s , wie die Engländer sie nennen, werden völlig verschwinden, sobald sie bei der Moral und der wahren Religion keinen Rückhalt mehr finden. . . . Und wenn jemand aus Ehrgeiz oder Laune Ströme von Blut vergösse, wenn er alles umstürzte, so würde man nicht viel Wesens daraus machen; ein Herostrat stände als Held da. . . . Man spottet offen über die Vaterlandsliebe; man macht D i e lächerlich, die sich dem öffentlichen Wohle widmen; und wenn ein Mensch, der es gut meint, sich um die Zukunft unsrer Nachkommen sorgt, so antwortet man ihm: laß es gehen, wie es will. Doch es könnte diesen Leuten geschehen, daß sie die Übel, die sie für Andre aufgespart meinen, an sich selbst erleiden. Wird diese geistige Erkrankung, deren schlimme Wirkungen sich bereits geltend machen, beizeiten geheilt, so kann diesen Übeln noch vorgebeugt werden; schreitet die Erkrankung jedoch fort, so wird die Vorsehung die Menschen durch die R e v o l u t i o n , die daraus entstehen muß, wieder auf den rechten Weg führen." Diese Zeilen sind nicht von gestern und richten sich nicht an die Regierenden des Tages. Sie stammen von L e i b n i z und wurden
VI
Vorwort
im Jahre 1705 geschrieben. Mit wahrhaft prophetischem Scharfblick sah er voraus, daß die große Gärung der Geister, die unabwendbare Folge der völligen Umwälzungen in unseren überkommenen Anschauungen durch die Wiedergeburt der Astronomie, der Physik und der mathematischen Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert, in Europa notwendig zu einer Revolution führen müßte. Diese Wiedergeburt, das Werk der K o p e r n i k u s , K e p p l e r , G a l i l e i , D e s c a r t e s , N e w t o n und L e i b n i z , mußte die zeitgenössischen Anschauungen von der Entstehung der Welt tief beeinflussen. Der strahlende Glanz ihrer großartigen Entdeckungen und wissenschaftlichen Schöpfungen erleuchtete die höheren Geister, die ihre wahre Tragweite zu ermessen vermochten, wogegen er die Philosophen und Gelehrten zweiten Ranges nur blendete und die große Masse der Laien und Unwissenden betörte. Die Erkenntnis der unwandelbaren Gesetze, welche die physikalische Welt in unerschütterlicher Ordnung regieren, führte jene erleuchteten Geister zur Anbetung des Weltschöpfers, bestärkte sie in ihrem Gottesglauben und vertiefte ihre religiösen Anschauungen. Auf die Geister zweiten Ranges hingegen machte nur eins Eindruck: der durch diese wunderbare Wiedergeburt verursachte Zusammenbruch der Weltentstehungslehre der großen antiken Philosophen, welche von den Scholastikern des Mittelalters gebilligt worden war. Unfähig, die ungeheure Tragweite der wissenschaftlichen Revolution zu ermessen, die sich vor ihren Augen vollzog, hielten sie sich nur an deren negative Resultate und wähnten darin Anlässe genug zu finden, um die göttliqhe Weltordnung zu verwerfen und sich jeder Pflicht und Verpflichtung gegen den Schöpfer zu entziehen. Die Eitelkeit trat hinzu, und so erklärten sie den Menschen für den einzigen Herrn der Welt. Das war der psychologische Ursprung des Skeptizismus und Atheismus zu Beginn des 18. Jahrhunderts; deren Herrschaft über die Geister ließ L e i b n i z die Revolution vorhersagen, die achtzig Jahre danach ausbrechen sollte. Die zeitgenössischen Philosophen haben zur Erfüllung dieser Prophezeiung redlich beigetragen. Als Denker waren sie zu oberflächlich, um in die Spuren eines D e s c a r t e s oder L e i b n i z zu treten und sich dem Siegeszug der damaligen Wissenschaft mit Nutzen anzuschließen; und so gefielen sie sich im Konstruieren materialistischer Systeme. Atheismus und Skeptizismus waren damals in der vornehmen Welt, zu der sie sich hingezogen fühlten, wohl gelitten; und so entstand denn allmählich zwischen
Vorwort
VII
Philosophie und exakten Wissenschaften eine tiefe Kluft, die im 19. Jahrhundert zur völligen Trennung beider führte, als die staunenswerte Entwicklung der letzteren ihren Gipfel erreichte. Die Folgen dieser Trennung waren für die Philosophie ebenso verhängnisvoll wie für die Entwicklung der öffentlichen Meinung im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte. Sie führte zu einer zwar paradoxen, aber doch keineswegs zufälligen Erscheinung, die in Wahrheit auf einem psychologisch sehr bedeutsamen Kausalzusammenhang beruht. Durch diese Trennung nämlich hat sich die Philosophie von Gott und von der Religion immer, mehr entfernt, wogegen die Wissenschaft, in Erkenntnis der Hinfälligkeit einer Metaphysik ohne reale Grundlage und durch die Weite der Perspektiven erleuchtet, welche sich, durch ihre täglichen Entdeckungen, auf die Unendlichkeit des Alls und die Größe der unwandelbaren Weltgesetze erschlossen, sich der Offenbariingsreligion mehr und mehr näherte. Die psychologischen Vorgänge dieser Erscheinung ersieht man an einem berühmten Beispiel. Als der Atheist V o l t a i r e während seines langen Aufenthaltes in England die N e w t o n s c h e Lehre in ihrer ganzen Tragweite ermaß und ihre gewaltige Bedeutung für die physikalische Weltauffassung erkannte, ward er zum unversöhnlichen Gegner des Atheismus und zum Deisten; ja er trat energisch für die religiöse Moral ein, die er für die einzig wirksame erklärte. »Der Katechismus sagt es den Kindern, daß es einen Gott gibt, N e w t o n beweist es den G e l e h r t e n . " 1 . . . „Falsche Wissenschaft führt zum Atheismus; wahre Wissenschaft läßt den Menschen vor der Gottheit in den Staub sinken." 2 So bekannte V o l t a i r e , den berühmten Satz B a c o n s umschreibend. Es ist also nicht erstaunlich, daß die großen zeitgenössischen Gelehrten den edlen Traditionen ihrer erhabnen Vorgänger im 16. und 17. Jahrhundert treu geblieben sind. Das Band zwischen Religion und Wissenschaft wurde sogar stärker, und dies ohne Beihilfe der 1
„Dictionnaire philosophique", Artikel A t h é e . «Dialogues et entretiens philosophiques", dial. 24, entret. 10. — In England hatte V o l t a i r e eine Vorliebe für die Physik gefaßt. Nach Frankreich heimgekehrt, zog er sich nach Cirey zurück, wo er in Gemeinschaft mit der Marquise v o n C h ä t e l e t Experimente über die Erhaltung der Kraft und die Fortpflanzung der Wärme machte. Eine seiner Arbeiten wurde sogar von der Akademie der Wissenschaften durch ehrenvolle Erwähnung und Aufnahme in ihre M e m o i r e n ausgezeichnet. a
Vili
Vorwort
Philosophie, vielmehr im Gegensatz zu ihr. Und so geschah es, als L e i b n i z e n s Prophezeiung sich bewahrheitete und die Revolution im Zeichen der atheistischen Philosophie ausbrach, daß Wissenschaft und Religion mit gleichem Hasse verfolgt wurden. Der Hervorragendste unter den damaligen Gelehrten, der Begründer der modernen Chemie, L a v o i s i e r , fiel als Opfer dieses Hasses; M o n g e u. v. a. entgingen der Guillotine mit genauer Not; «die Republik braucht keine Gelehrten," erklärte der gescheiterte Arzt M a r a t . Durch Konventsdekrete wurde die Akademie aufgehoben und ihre Mitglieder zersprengt. »Diese Männer, deren Namen ganz Europa kannte," sagt C u v i e r , 1 «schätzten sich glücklich, den barbarischen Staatslenkern ihres Vaterlandes unbekannt zu sein. Sie suchten in den obskursten Winkeln Schutz vor dem furchtbaren Schwerte, das fortwährend über allem einst Hochstehenden hing und das auch sie gewiß nicht verschont hätte, wären Die, welche es führten, nicht ebenso unwissend wie grausam gewesen." Diese gemeinsame Verfolgung hat das Band zwischen Religion und Wissenschaft im 19. Jahrhundert nur noch fester geknüpft. Während die Philosophen auf K a n t s metaphysischen Irrwegen dem Kultus einer Vernunftgottheit oblagen oder sich in den Dunkelheiten H e g e l s und andrer verloren, erweiterten die schöpferischen Naturforscher ihre Weltanschauung und begründeten sie auf geistige Erkenntnis, die durch Experimente und mathematische Berechnung kontrolliert wurde. Und so findet sich denn die eigentliche wissenschaftliche Philosophie des 19. Jahrhunderts nur in den Reden und Abhandlungen der Akademien der Wissenschaft und in den Werken einiger Forscher, die, wie Sir J o h n H e r s c h e l , A m p è r e , K.E. v . B a e r , D u B o i s - R e y m o n d u. a. m. zugleich große Denker waren, die ihre philosophischen Anschauungen systematisch entwickelten. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachten die Erfolge der Evolutionstheorien von D a r w i n bis H a e c k e l einen Mißton in die bisherige Harmonie zwischen Religion und Naturwissenschaft. Die Wirkung der gewaltigen Fortschritte der exakten Wissenschaften machte sich geltend, genau wie am Ausgang des 18. Jaihrhunderts. Man sah eine Anzahl von Philosophen, ja sogar von minderwertigen Gelehrten mit metaphysischen Tendenzen zum gröbsten Materialismus zurückkehren; ja mehrere von ihnen ver1
G. C u v i e r , «Eloges historiques", S. 158.
Vorwort
IX
einigten sich in der Anbetung von Protozoen und Affen, die sie zu Vorfahren des Menschen erhoben. Während die früheren Atheisten und Skeptiker sich damit begnügt hatten, das Dasein eines über dem Menschen stehenden Gottes zu leugnen und ihn zum einzigen Herrn der Welt zu erheben, führten diese fanatischen Anhänger der transformistischen Lehren den Menschen zur niedersten Tierheit zurück. Man braucht kein L e i b n i z zu sein, um vorauszusehen, welchem Abgrund die Kulturmenschheit durch solche Lehren entgegengeführt wurde, — Lehren, die im öffentlichen Unterricht eine Hauptrolle spielten, die in zahllosen populär-„wissenschaftlichen" Werken angepriesen und in leichtfertiger Weise als Ergebnisse des wissenschaftlichen Fortschritts aufgenommen wurden. Der Kampf ums Dasein, dieses verkehrte Wirtschaftsprinzip, als einzige Triebfeder menschlichen Handelns, als ultima ratio unsres Fühlens und Trachtens hingestellt, mußte notwendig zur Entsittlichung und Verblendung der ungebildeten Massen führen. Das allgemeine Prinzip des Kampfes ums Dasein verwandelte sich in diesen leeren, beschränkten Köpfen naturgemäß zu einem Kampf gegen das Dasein der Mitmenschen. Die "nihilistische Neuerung der Dynamitattentate als wirksames Mittel des menschlichen Fortschritts, die Greuel der Zerstörung während der russischen Revolution von 1905/06, sowie der kürzliche Ausbruch des Zerstörungswahns in Barcelona — alle diese Erscheinungen geistiger Anarchie, welche die moderne Gesellschaft ergriffen hat, gingen von der Lehre der transformistischen Evolution durch den Kampf ums Dasein aus. Nur das Leben der Anarchisten, der Urheber oder Anstifter jener Attentate und Zerstörungen, bleibt unantastbar und geheiligt in den Augen eines Geschlechtes, das die religiöse Moral und den Gottesglauben aufgegeben und jede Orientierung verloren hat. Als Universitätsprofessor und Lehrer an der medizinischen Akademie in St. Petersburg konnte ich die Entwicklung dieser Anarchie in Universitätskreisen von Anfang an verfolgen. Schon 1873 wies ich in einer akademischen Rede auf ihre Gefahren hin. In zahlreichen späteren Schriften habe ich den Darwinismus, und besonders die Theorie von der Affenabstammung des Menschen bekämpft; ich sah voraus, welche unwiderstehliche Kraft sie den zerstörerischen Ideen und der zunehmenden Anarchie verleihen würden. Zu meinem Schmerz mußte ich die tragische Erfüllung meiner schlimmsten Befürchtungen erleben; aus der gewonnenen Erfahrung glaube ich
Vorwort
X
philosophische Lehren folgern zu können. Nun aber ist dies die lehrreichste Lehre, die ein Naturforscher aus der genauen Kenntnis der furchtbaren Revolutionswirren des Jahres 1905 gewinnen kann: daß das russische Volk diese Wirren e i n z i g u n d a l l e i n durch die unzerstörbare christliche Frömmigkeit, die es im Busen trägt, zu überwinden vermocht hat. Und so beginne ich denn dieses Werk mit der psychologischen Analyse der wissenschaftlichen Irrtümer, auf denen Evolutionstheorie und Transformationslehre beruhen. Der Verfall des D a r w i n i s m u s und der skandalöse Zusammenbruch des H a e c k e l i s m u s , die ich schon vor 30 Jahren für das Ende des 19. Jahrhunderts voraussagte, sind für die gelehrte Welt heute vollendete Tatsachen. Nur die Anhänger dieser Lehren suchen sich noch aus der Verlegenheit zu ziehen, indem sie dem Publikum den ganzen Umfang ihrer Niederlage verschleiern. Da es aber vor allem gilt, der geistigen Anarchie Einhalt zu tun, die durch die kurzen Triumphe des Darwinismus gefördert wurde, so muß die wissenschaftliche Unhaltbarkeit dieser Lehre schonungslos enthüllt werden, damit die Menschheit vor dem Versinken in wildeste Barbarei bewahrt bleibt. Nicht nur zu den Höhlenwohnungen der Urzeit will die heutige Anarchie die Menschen zurückführen, wie es bereits Philosophen, die mehr Schriftsteller als Gelehrte sind, resigniert empfohlen haben, sondern in die Sümpfe und in die Höhlen wilder Tiere; denn die Höhlenbewohner der Urzeit besaßen, wie die neuesten paläontologischen Funde bewiesen haben, bereits einen Totenkult, der auf der Hoffnung auf ein Jenseits und der Furcht vor höheren Gewalten, die den Menschen beherrschen, beruhte. 1 Die einsichtsvolleren spiritualistischen Philosophen beginnen die Gefahr der allgemeinen geistigen Anarchie zu erkennen, welche die Kulturmenschheit noch mehr bedroht als die furchtbare Organisation der Anarchisten der Tat, und fast unwillkürlich suchen sie ihr Heil in der Rückkehr zu Gott und zur Religion. Der Haß, womit die Anarchisten der ganzen Welt die christliche Religion, insbesondere die katholische Kirche verfolgen, zeigt dem Philosophen deutlich den Weg zu ihrer Bekämpfung. Mehrere spiritualistische Philosophen haben die glückliche intuitive Einsicht gehabt, daß eine Wiederannäherung an die Wissenschaft der 1
S. Kap. II, § 6, Kap. III, § 1.
Vorwort
Aussöhnung zwischen Philosophie
XI
und Religion vorangehen
muß.
Ich verweise auf die neuesten Werke von B o u t r o u x , L u d w i g
Stein
und R u d o l f E u c k e n , die entschlossen die Initiative zu dieser Neuorientierung des Spiritualismus ergriffen haben.
Leider fühlen sich
diese angesehenen Philosophen in den Naturwissenschaften mit Recht nicht bewandert genug, um verschiedene wissenschaftliche Irrtümer zu bekämpfen, die um die Mitte des letzten Jahrhunderts eine Zeitlang solch unheilvolle Verwirrung in einigen Zweigen der Biologie angerichtet haben.
Und so müssen sie sich denn damit begnügen,
manche allzu dreisten Schlußfolgerungen des Darwinismus zu dämpfen oder völlig zu verwerfen, wie es so viele hervorragende Vertreter der Physiologie und Embryologie schon seit Aufkommen dieser Irrtümer getan haben. 1 Auch zahlreiche andere Philosophen, die sich mit der Wissenschaft wieder
auszusöhnen
wünschen,
verfolgen
das gleiche Ziel;
doch auch sie tasten und irren infolge jenes Hauptirrtums, daß die moderne Wissenschaft mit der Religion unvereinbar sei.
Man möchte
sagen, sie hissen die Flagge der Wissenschaft nur deshalb, um sich vor dem Vorwurf zu schützen, in Konflikt mit ihr zu geraten, wenn sie sich der Religion zuwenden. Das Kapitel
»Gott und Mensch" in diesem Buche ist eigens
geschrieben, um zu zeigen, daß die moderne Wissenschaft mit der Gottesidee nicht nur nicht unvereinbar ist, sondern daß Ursprung und Ziele beider die gleichen sind.
Um den festen Boden exakter
Wissenschaft in diesem Buche nicht zu verlassen, bin ich bei meiner Darlegung
von
der Grundtatsache
ausgegangen,
ragendsten Begründer der physikalischen schaften
der
beiden
letzten Jahrhunderte
daß
die
hervor-
und biologischen Wissengrößtenteils
tief
religiös
waren, an die Unsterblichkeit der Seele glaubten und Gott anbeteten. Andre waren Spiritualisten
und Deisten, voller Ehrfurcht vor der
Religion, auch wenn sie dieselbe nicht ausübten.
Ihr weitgreifendes
gelehrtes Schaffen führte sie zur Erkenntnis eines Weltschöpfers, eines göttlichen Quells ihrer Intuitionen, und zum Glauben an die Unsterblichkeit des Geistes. In der Überzeugung, daß Gott und seine Absichten unerforschlich sind, haben viele der größten Forscher sich in Ehrfurcht vor den erhabnen Offenbarungen Jesu Christi gebeugt und den hohen historischen und moralischen Wert des Evangeliums anerkannt. 1
S. Kap. I und II.
XII
Vorwort
Es ist ein alter Irrtum der Theologen und Philosophen, daß es die Erkenntnis der Schranken der Wissenschaft sei, welche die Naturforscher zu Gott führte. Die im III. Kapitel mitgeteilten Ergebnisse meiner Umfrage über die Psychologie berühmter Gelehrter des letzten Jahrhunderts beweisen das Gegenteil. Die großen Schöpfer der exakten Naturwissenschaften, welche die Grenzen des menschlichen Wissens ungeheuer erweitert haben, waren fromme Christen. Sie erklärten die Wissenschaft für »ewig in ihrem Quell, nicht begrenzt in Zeit und Raum, unermeßlich in ihrer Aufgabe, unerreichbar in ihrem Ziele" (K. E. v. B a e r ) . Eine genaue Untersuchung der Mechanik unsrer Empfindungen und Wahrnehmungen hat mich neuerdings zu dem Ergebnis geführt, daß das, was man als Grenzen unsrer Erkenntnis zu bezeichnen pflegt, in Wahrheit nur die Grenzen unsrer Sinnesorgane und Hirnzentren sind. Die Erkenntnis selbst ist grenzenlos wie der Geist. Nichts widerspricht der Annahme, daß das Wissen unsres Gesamtbewußtseins unbegrenzt wird, sobald es von unserm Ichbewußtsein getrennt ist. Der berühmte G a l e n u s erklärte in seiner Begeisterung über Das, was er von der funktionellen Bestimmung unsrer Organe ahnte, daß ihre Funktionen beschreiben so viel hieße wie einen Hymnus zu Ehren der Gottheit singen. Ich habe oft gewünscht, setzt L e i b n i z hinzu, daß ein geschickter Arzt ein Spezialwerk schriebe, dessen Titel oder Zweck G a l e n s Hymnus wäre. Ist es da erstaunlich, wenn ein Physiologe, der fünfundvierzig Jahre seines Lebens der Experimentalforschung gewidmet hat, um die Funktionen der geheimnisvollsten Organe des menschlichen Körpers aufzuklären, sein Leben damit beschließt, daß er L e i b n i z e n s Wunsch nach zweihundert Jahren erfüllt? „ G o t t u n d W i s s e n s c h a f t " heißt der Hymnus Deo, den er zu schreiben wünschte. Die Entdeckung der beiden mathematischen Sinne, die ihm die Lösung des Problems vom Ursprung unsrer Vorstellungen von Raum, Zeit, Zahl und Unendlichkeit erlaubte, war für ihn die letzte Stufe zum Gottesproblem.
Inhalt. Seite
Vorwort
V Erster
Teil.
Evolutionismus und Transformation. Einleitung. Wie müssen populärwissenschaftliche Bücher geschrieben sein?
1
Erstes Kapitel.
6
§ § § § §
1. 2.. 3. 4. 5.
§ 6. § 7.
GröBe und Verfall d e s Darwinismus
Die Psychologie der Evolutionisten 6 Die Psychologie des E r a s m u s D a r w i n 17 Die Weltanschauung L a m a r c k s 23 Die Psychologie des Studenten C h a r l e s D a r w i n . . . . 25 Die Psychologie D a r w i n s während seiner Reise um die Welt 29 Die Psychologie des Verfassers der „Entstehung der Arten" 36 Die morphologischen Ursachen der Vererbung und der Verfall des Darwinismus 45
Zweites Kapitel.
Der Kampf d e r W i s s e n s c h a f t gegen die Lehren
Haeckels § § § § § §
1. 2. 3. 4. 5. 6.
Die Psychologie H a e c k e l s Die Klassifikation H a e c k e l s und sein biogenetisches Oesetz H a e c k e l s Methode Die Fälschungen der Natur nach H a e c k e l Die Fälschungen der Natur durch H a e c k e l Gegenwärtiger Stand des Problems von der Abstammung des Menschen. Allgemeine Schlußfolgerungen . . . .
52 52 60 67 71 78 92
Inhalt
XIV
Zweiter
Teil.
Gott und Mensch. Seite
Drittes Kapitel. § 1.
§ 2.
§ 3.
§ 4. § 5. § 6.
Wissenschaft, Religion und Moral
Besteht ein Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion?— Die ersten Regungen des Gottesglaubens beim prähistorisehen Menschen Die Neugeburt der exakten Wissenschaften im XVI. und XVII. Jahrhundert und die religiösen Überzeugungen ihrer Begründer Der mächtige Aufschwung der Naturforschung im XVIII. und XIX. Jahrhundert und die philosophischen und religiösen Anschauungen der bedeutendsten Vertreter dieses Aufschwungs Religion und Wissenschaft sind gleichen Ursprungs und verfolgen gleiche Zwecke Der Kampf gegen Gott und die Laienmoral Die positivistische Philosophie. — Allgemeine Schlußfolgerungen
100
100
105
106 129 134 147
Erster Teil.
Evolutionismus und Transformation.
Einleitung. Wie müssen populärwissenschaftliche Bücher geschrieben sein? Die Probleme der Entwicklungsgeschichte und der Transformation lebendiger Organismen liegen auf Gebieten der Naturforschung, die erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts den präziseren Methoden der Experimentalforschung teilweise zugänglich gemacht worden sind. Bis dahin und meist noch in unserer Zeit bildet die Beobachtung ihr hauptsächliches, ja fast ihr einziges Forschungsmittel. Die mit Hilfe der reinen Beobachtung erzielten Ergebnisse sind daher weit entfernt, zum Aufbau definitiver Theorien oder zur Ableitung absoluter Gesetze des Naturgeschehens verwertet werden zu können. Sie hängen, außer von den subjektiven Fähigkeiten des Forschers, vor allem von der Reichhaltigkeit des Materials und dem Maße seiner Zugänglichkeit ab. Solche auf Beobachtung fußenden Wissenschaften bieten nichts Zuverlässiges als die Beschreibung der Objekte. Andrerseits besitzen sie den Vorteil, der großen Masse verständlich zu sein, und sobald sie Gegenstände von so allgemeinem Interesse wie die Entwicklungs- und Abstammungslehre behandeln, werden sie rasch volkstümlich, was dann freilich auch oft von gefährlichen Folgen ist. Wie müssen volkstümliche naturwissenschaftliche Werke beschaffen sein? Die außerordentlichen Fortschritte, welche die Naturwissenschaft im verflossenen Jahrhundert auf allen Gebieten gemacht, der ungeheure Einfluß, den sie auf alle Äußerungen des politischen und E. v. C y o n , Gott und Wissenschaft.
1
2
Evolutionismus und Transformation
sozialen Lebens erlangt hat und noch besitzt, mußten den Gedanken erwecken, dem Laien ihre wichtigsten Ergebnisse zugänglich zu machen. Diese popularisierende Tendenz hat denn auch bald zwei Arten von volkstümlichen naturwissenschaftlichen Schriften gezeitigt, die völlig verschiedene Zwecke verfolgen. Die einen bestreben sich, die Lehren, deren Nutzanwendung der Gesellschaft von Vorteil sein kann, in leicht faßliche Form zu kleiden; die andern kommen einem höheren Bedürfnis des Menschengeistes, seinem idealen Streben nach Wissen und'Wahrheit entgegen. Nur für diese zweite Gruppe von Werken, die allein in den Rahmen unserer Darstellung fallen, Jcommt die oben gestellte Frage in Betracht. Die Antwort erscheint auf den ersten Blick leicht: ein volkstümliches Buch muß die allgemein wissenswerten Resultate der naturwissenschaftlichen Forschung, d. h. solche, die Probleme berühren, welche sich dem denkenden Geist am meisten aufdrängen, in einer dem gebildeten Leser leicht faßlichen, anziehenden Form darstellen. Bei dieser Darstellung muß der Leser möglichst tief in die Methoden des Forschers, in die Schwierigkeiten, die sich ihm entgegenstellten, und in die Hindernisse, die er zu überwinden hatte, eingeführt werden; und zwar ebensosehr deshalb, um dem Forscher Ehre zu erweisen, wie auch, um den Leser über den Grad der Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit zu unterrichten, den die gewonnenen Resultate und Theorien beanspruchen können. In diesem Sinn ist die Popularisierung der Wissenschaften von ihren unbestrittenen Meistern, wie H u m b o l d t , A r a g o , von B a e r , du B o i s - R e y m o n d , B e r t r a n d , T y n d a l l , C l a u d e B e r n a r d , H e l m h o l t z , V i r c h o w und vielen anderen stets aufgefaßt worden. Aber leider sind nicht alle Naturforscher diesen Vorbildern gefolgt. In dem kampfreichen 19. Jahrhundert konnten die Männer der Wissenschaft lceine gleichgültigen Zuschauer der politischen, religiösen und philosophischen Kämpfe bleiben, welche die Geister schieden. Die Naturforscher waren durch ihre positiven Kenntnisse und ihre Erfahrung im Kampfe gegen Unwissenheit und Lüge dazu berufen, sich mit Nachdruck an den Streitfragen der Meinungen zu beteiligen. Aber nicht alle haben an den Hilfsmitteln, welche die Wissenschaft bot, sich genügen lassen. Mancher hat im Eifer des Gefechts mehr als einmal zu Waffen gegriffen, welche die Wissenschaft verwirft. Freilich eignen sich volkstümliche Werke am wenigsten zu streng logischer Beweisführung. Andrerseits ist der Laie auch
Einleitung
3
nicht in der Lage, unter den Tatsachen, die als unbestritten wissenschaftlich hingestellt werden, die wirklich glaubwürdigen von solchen zu trennen, die der mehr oder minder zügellosen Phantasie des populärwissenschaftlichen Schriftstellers entsprungen und leider geeignet sind, den geistig unreifen und urteilslosen Leser zu täuschen. Unter diesen Umständen haben sich mehrere Gelehrte verleiten lassen, das Ansehen ihrer Stellung zu mißbrauchen. Sie haben ihr wissenschaftliches Gewissen oft genug überredet, daß im Kampfe gegen Dummheit uud Aberglauben jedes Mittel recht sei, ja, daß eine volkstümliche Schrift gewisse Freiheiten gestatte, die in rein wissenschaftlichen Werken unzulässig sind. Wenn von zwei Schriftstellern der eine stets eine Antwort auf alle Fragen weiß, die den menschlichen Vorwitz beschäftigen, während der andere immer nur die Lücken oder die unüberschreitbaren Grenzen der Wissenschaft hervorhebt, so wird das Publikum von selbst den ersten bevorzugen. Die leichtgläubige Hörerschaft zögert selten bei der Wahl zwischen einem Gelehrten, der vor gewissen Problemen sein I g n o r a b i m u s zu sprechen wagt, und einem, der wie H a e c k e l alles und noch etwas mehr weiß. Ein Marktschreier, der Elixire gegen alle wirklichen und eingebildeten Krankheiten anpreist, pflegt die Menge mehr anzulocken, als ein einsichtsvoller und gewissenhafter Arzt. Erklärt irgend ein populärer Verbreiter der Wissenschaft die psychischen Vorgänge als Reflexbewegungen, so bewundert die große Masse die Einfachheit, womit er eines der größten Rätsel der Natur gelöst hat. Selten erkennt man, daß dabei im Grunde nur ein anderes, ebenso unerklärliches Problem an Stelle des ersten getreten ist. Noch weniger vermutet man, daß dieses Vertauschen zweier Rätsel ganz einfach auf dem Mangel an kritischem Sinn bei dem populären Verbreiter der Wissenschaft beruht, der sich über das Wesen des psychischen Prozesses, den er so leicht zu erklären vermeint, selbst nicht klar ist. In solchen Fällen genügt es dem Publikum, daß die Gelehrten behaupten, eine dunkle Frage aufgehellt zu haben; die Art, wie das Phänomen erklärt wird, pflegt ihm ganz egal zu sein. Ebenso erfolgreich ist der Waghalsige, der mit der Behauptung auftritt, er habe das Rätsel der Entstehung des organischen Lebens gelöst; ja es sei ihm so sonnenklar, wie die einfachste chemische Reaktion, Er weist nicht nur den Ursprung des Menschen nach, sondern er stellt auch dessen Stammbaum auf und verkettet 1*
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Evolutionismus und Transformation
Tausende von Generationen, die unsern Erdball seit Jahrmillionen, seit dem urältesten rudimentären Lebewesen, dem Bathybius, bevölkert haben sollen. Dem Publikum bleibt nichts anderes übrig, als bei solchen wissenschaftlichen Fortschritten in Entzücken zu geraten und sich vor dem Genius zu verneigen, der sie gemacht hat. Aber heißt das, die Wissenschaft zum Gemeingut machen? Wird das Gesamtwissen der Menschheit durch Verbreitung einer Anzahl teils falscher, teils sophistischer oder frei erfundener Tatsachen bereichert? Oder belehrt man die breite Masse durch einen unverständlichen Wortschwall, der nur die Dürftigkeit der Gedanken und die Armut der Tatsachen verdeckt? Ist ein volkstümlicher Schriftsteller dieses Schlages imstande, die Unwissenheit zu vertreiben, den Aberglauben auszurotten und Ehrfurcht vor der Wissenschaft einzuflößen ? Kein Zweifel, diese Frage muß verneint werden! Lehren, die sich solcher Kampfesweise : bedienen, geraten in Mißkredit und verlieren auf die Dauer ihre Macht über die Geister. Sobald die erste ansteckende Begeisterung, vorbei ist, wendet sich das Publikum von den wissenschaftlich aufgeputzten Systemen ab und erkennt früher oder später deren Nichtigkeit. Der lange, dornenreiche Pfad, der zum wahren Wissen führt, verdankt seine Anziehungskraft nur dem Umstand, daß der kleinste Schritt vorwärts eine ernste, wissenschaftliche Anstrengung ist, und daß das kleinste Glied in der Kette positiver Kenntnisse sich den übrigen so fest anschließt, daß es kritischen Angriffen standzuhalten vermag. 'Soll'die Wissenschaft, trotz unvermeidlicher Lücken, die breite Masse auf lange hin beherrschen, so müssen ihre positiven Ergebnisse unwiderlegbar sein. Der Leser weiß nun, wie die oben gestellte Frage nach unserer Auffassung zu beantworten ist. Ein populäres naturwissenschaftliches Werk wird zwar in Form und Aufbau von einem rein wissenschaftlichen abweichen, aber es muß unter jeder Bedingung den g l e i c h e n C h a r a k t e r w i s s e n s c h a f t l i c h e r S t r e n g e tragen. Der Gelehrte, der sich an ein ungenügend vorbereitetes Publikum wendet, muß in seinen Schlußfolgerungen sogar noch viel vorsichtiger und zurückhaltender sein als im Umgang mit Fachgenossen. Eine in einem Spezialwerk geäußerte kühne Hypothese, eine mehr oder weniger gewagte Mutmaßung wird den gelehrten Leser, der Hypothese von Theorie, Theorie von Gesetz zu scheiden vermag, selten auf einen
Einleitung
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Irrweg führen. Nicht so bei populärwissenschaftlichen Werken. Dort klammert sich der Leser mit Vorliebe an die glänzende Hypothese, an den geistreichen Vergleich, und nimmt sie gern für den Kern der Sache. Wenige Probleme erwecken im Menschen ein so mächtiges Interesse wie das über seinen Ursprung und seine Stellung im Tierreich. Ihre Ergründung bietet nicht nur dem Naturforscher ein weites Arbeitsfeld, sondern die jeweilige Lösung ist auch von nachhaltigstem Einfluß auf die ganze Welt- und Lebensauffassung. Woraus es sich denn leicht erklärt, daß von den vielen bedeutenden Forschern, die sich der Lösung dieser Frage gewidmet haben, nicht alle auf dem engen Gebiet exakter Analyse stehen geblieben sind. Je größer die Schwierigkeiten wurden, sobald man diese Lösung nur mit streng wissenschaftlichen Beweismitteln versuchte, desto häufiger nahm man seine Zuflucht zu Gründen aus einem der Wissenschaft völlig fremden Ideenkreise.
E r s t e s Kapitel.
Größe und Verfall des Darwinismus. § 1. Die Psychologie der Evolutionisten. Frankreich hat L a m a r c k , dem Verfasser der „Philosophie zoologique", im Musée d ' H i s t o i r e N a t u r e l l e vor kurzem ein Denkmal errichtet Fast gleichzeitig beging man in Cambridge den hundertjährigen Geburtstag D a r w i n s , der mit der fünfzigjährigen Wiederkehr der Veröffentlichung seines „Origin of Species" zusammenfiel. An beiden Festen der Wissenschaft hat die gelehrte Welt offiziellen, wenn auch ungleichen Anteil genommen. In Paris und Cambridge hielt man zum Preise der beiden Schöpfer der modernen Entwicklungs- und Transformationstheorien lobende, ja begeisterte Reden. Der Laie, der wissenschaftlichen Ereignissen nur von ferne folgt und sie nur nach dem Augenschein beurteilt, ahnte nicht, daß diese rauschenden Feste mit ihrer wohlverdienten Huldigung vor zwei hochsinnigen Gelehrten, deren langes, arbeits- und kampfesreiches Leben dem Siege dessen galt, was sie ehrlich für die Wahrheit hielten, in Wirklichkeit nur die Begräbnisfeier ihrer sterbenden Lehren waren. Den Eingeweihten klangen diese pomphaften Reden, die L a m a r c k und D a r w i n so beredt rühmten, wie Totenglocken der Deszendenztheorie. Sie wußten, daß L a m a r c k diese späte Ehrung nur dem Zusammenbruch der Darwinschen Lehren verdankte. Die in den letzten Zügen liegenden Evolutionisten erhoben ihn auf den Schild, weil das von ihnen geschaffene Götzenbild von seinen eignen Anbetern zertrümmert worden war. Die an wissenschaftlichen Beweisen arme, an Gedankentiefe und Phantasiekraft überreiche Lehre L a m a r c k s fand schon bei
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ihrer Entstehung den lebhaftesten Widerspruch des genialen . C u v i e r , der wie sein erlauchter Vorgänger L i n n é ein überzeugter Anhänger der Beständigkeit der Arten war. Trotz der Unterstützung G e o f f r o y S a i n t - H i l a i r e s und nach einer Reihe denkwürdiger Diskussionen in der Akademie der Wissenschaften unterlag sie dem Gewicht niederdrückender Gegenbeweise. Das Schicksal der Entwicklungstheorie D a r w i n s war ein ganz andres. Seit dem Erscheinen der „Entstehung der Arten" hat sie mit beispiellosem Erfolge das geistige Leben der zivilisierten Welt für ein Vierteljahrhundert beherrscht. Die Opposition, die sie bei den großen zeitgenössischen Biologen, v o n B a e r , F l o u r e n s , Quatrefages Agassiz, Milne-Edwards, Claude Bernard, und vielen anderen wegen der Schwäche ihrer Grundvorstellungen, und des gänzlichen Fehlens greifbarer wissenschaftlicher Beweise erregte, war teils zu zögernd und zu schüchtern, teils auch zu schroff, um Eindruck zu machen. Überdies war es nicht leicht, gegen das Vorurteil der Menge anzukämpfen, die von dreisten deutschen Populärschriftstellern in Bann gehalten wurde, insbesondere von dem berüchtigten Dreigestirn B ü c h n e r , K a r l V o g t und M o l e s c h o t t , die urbi et orbi verkündeten, daß eine neue wissenschaftliche Offenbarung den Erdball erleuchte und daß endlich das Schöpfungsgeheimriis enthüllt sei. Das Publikum, seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts an die wunderbaren Fortschritte der exakten Wissenschaften gewöhnt und durch die großartigen Entdeckungen geblendet, die alle materiellen Lebensbedingungen von Grund aus umgestalteten, nahm nur zu rasch begeistert eine wissenschaftliche Theorie auf, die das ewige Rätsel von der Entstehung der organischen Welt in einer selbst für Ungebildete faßlichen Form zu erklären schien. Die Aussicht, den Weltenschöpfer entthront zu sehen, die Freude, von der Religion und dem moralischen Zwange befreit zu sein, den diese den menschlichen Begierden und Leidenschaften auferlegte, mußte jener Theorie die Sympathie des unwissenden Volkes erwerben, dem sie mit einem Schlage eine vielleicht wenig verlockende, doch um viele Jahrtausende zurückreichende Ahnenreihe gab. Nachdem die D a r w i n s c h e Lehre zwanzig Jahre lang den berechtigten Angriffen ihrer Gegner widerstanden hatte, ereilte sie das eigentümliche Geschick, von ihren eifrigsten Anhängern zertrümmert zu werden. Zwei Hypothesen, die natürliche Auslese der Fähigsten und die Vererbung der im Kampf ums Dasein erworbenen Eigen-
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Schäften, bildeten die Angelpunkte der kühnen Entwicklungslehre. H e r b e r t S p e n c e r , der große englische Metaphysiker und begeisterte Apostel der neuen Darwinschen Weltanschauung, unternahm es, den ersten dieser Grundpfeiler zu zerstören und die völlige Haltlosigkeit einer Entwicklung höherer Organismen durch die natürliche Zuchtwahl nachzuweisen.1 Ein anderer, ebenso leidenschaftlicher Darwinist, der Embryologe W e i s m a n n , unternahm eine scharfe kritische Analyse der Haupttatsachen, auf die man sich bei der Annähme einer Vererbung erworbener Fähigkeiten und Eigentümlichkeiten berief. Dabei gelang es ihm zu zeigen, daß diese angeblichen Tatsachen auf frei erfundenen Erzählungen beruhten, die etwa den wissenschaftlichen Wert von Ammenmärchen hatten. Der Zusammenbruch einer der Grundlagen des Darwinismus genügte, um die Hypothese von der Abstammung der organischen Wesen zu stürzen. In der Tat verlor diese Hypothese als Erklärungsmittel für die Entwickjung allen Wert, wenn man die erbliche Übertragung der durch natürliche Zuchtwahl gewonnenen Eigenschaften strich. Mit Recht hat W e i s m a n n betont, daß seine Beweisführung auch L a m a r c k s Lehre zerstörte, die auf dem Überleben der am besten Angepaßten beruhte. Mehr noch: W e i s m a n n hat eine neue Theorie der Vererbung durch Keimzellen aufgestellt, die sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen. Diese Theorie, die etwas an die Bonnetschen Einschachtelungen erinnert, schließt jede Möglichkeit der Vererbung anerworbener Eigenschaften vollständig aus.2 Andrerseits fällt mit der natürlichen Zuchtwahl der wichtigste Entwicklungsfaktor des Darwinismus, selbst wenn man die Möglichkeit einer Vererbung anerworbener Eigenschaften annimmt. Als ob die Bemühungen dieser beiden entschiedenen Anhänger D a r w i n s nicht genügt hätten, um die Hinfälligkeit der Entwicklungsund Abstammungslehre zu erweisen, hat gleichzeitig H a e c k e l , dieser fanatischste Darwinist, sein langes, arbeitsreiches Leben dazu benutzt, den Evolutionismus durch Lächerlichkeit zugrunde zu richten, indem er dessen Konsequenzen mit unvergleichlichem Eifer bis ins Absurde trieb (s. Kap. II). 1
»The Inadequacy of Natural Selection". Contemporary Review, 1893; erschien gleichzeitig deutsch unter dem Titel „Unzulänglichkeit der natürlichen Zuchtwahl" im biologischen Zentralblatt. • Siehe unten § 7.
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Der berühmte Zoologe H u x l e y , dessen großes Ansehen soviel zum Erfolge des Darwinismus beigetragen hat, erklärte eines Tages: „If the darwinian hypothesis was swept away, evolution would still stand where it was." 1 Der von H u x l e y vorgesehene Fall ist noch vor dem Ende des letzten Jahrhunderts eingetreten. Herrscht die Evolutionslehre wirklich noch? Von dem Sinn, den man diesem Worte beilegt, hängt die Antwort ab. Wenn die Entwicklung mit Einschluß der Transformation der Arten (den Menschen inbegriffen) ein wissenschaftliches System zu sein beansprucht, wie es L a m a r c k und D a r w i n wollten, so kann die Antwort nur verneinend lauten. C u v i e r hat von L a m a r c k s Werk gesagt: „Ein Werk auf solchen Grundlagen kann die Phantasie eines Dichters beschäftigen; ein Metaphysiker kann daraus eine ganze Reihe von Systemen ableiten, doch es verträgt keine Prüfung durch einen Naturforscher, der je eine Hand, ein Eingeweide oder auch nur eine Feder seziert hat." Wie man weiter unten sehen wird, passen C u v i e r s Worte ebenso auf L a m a r c k s und D a r w i n s Systeme wie auf alle gegenwärtigen und künftigen U m b i l d u n g s t h e o r i e n . Abgesehen vom Wert der Persönlichkeit ihrer Urheber können diese Theorien nie etwas anderes sein, als mehr oder minder glückliche Erzeugnisse der Phantasie oder des abstrakten Gedankens. Um vor der Wissenschaft zu bestehen, müßte die Entwicklungs- • lehre sich auf Beweise aus der Sinnenwelt stützen. Das reingeistige Erkennen wird selbst bei genialer Intuition nie zu einer exakten Wissenschaft führen, wenn seine Voraussetzungen oder mindestens deren Folgerungen sinnlicher Prüfung nicht unterzogen werden können. Eine Naturwissenschaft auf bloße Annahmen und nicht auf sinnlich wahrnehmbare Beweise zu begründen, ist eine geistige Verirrung. Die Dialektik kann wohl dem Metaphysiker, nicht aber dem Naturforscher genügen. Sowohl L a m a r c k als D a r w i n haben in ihrem Bestreben, eine natürliche Erklärung für den Ursprung der organischen Welt herbeizuschaffen, nur mehr oder weniger geistreiche Hypothesen gehäuft, ohne je Beweise beizubringen. Angesichts der Grenzenlosigkeit des zu lösenden Rätsels können die 1
Zitiert nach Weis mann: „Neue Gedanken zur Vererbungsfrage". Jena 1895.
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Beobachtungen über jetzige Pflanzen und Tiere, sowie alle paläontologischen und anthropologischen Entdeckungen auch nicht den Schatten eines streng wissenschaftlichen Beweises erbringen, selbst wenn diese Entdeckungen, wie das nur zu oft geschieht, gegen die These zeugen, die man beweisen will. .' Die Evolutionisten, die mit Jahrtausenden und Hunderttausenden spielen wie Kinder mit Schneebällen, sagen sich nicht, daß sie just mit eben diesen Übertreibungen ihre Probleme für alle Zeit unlösbar machen. Entwicklungs- und Abstammungslehre, die sich auf den Bahnen bewegen, auf denen ein D a r w i n durch die Schuld seiner Weichensteller, der deutschen Metaphysiker von B ü c h n e r bis auf H a e c k e l , entgleist ist, können nicht einmal mehr den Titel bloßer wissenschaftlicher Hypothesen beanspruchen. Eine solche Hypothese muß, um vollgültig zu sein, drei Bedingungen erfüllen. Sie muß 1. eine große Zahl unwiderlegbarer Tatsachen erklären; 2. sich nicht in offenbarem Widerspruch mit allgemein anerkannten Tatsachen und Naturgesetzen befinden, und endlich 3. ihrer ganzen Art nach über kurz oder lang entwicklungsfähig und beweisbar sein. Brauche ich erst darauf hinzuweisen, daß die Entwicklungslehre D a r w i n s keine einzige dieser drei Bedingungen erfüllt? Mit jener naiven Aufrichtigkeit, die einen so großen Zauber ausgeübt hat, erkennt es der Verfasser der „Abstammung der Arten" selbst an, wenn er im letzten Kapitel seines Werkes sagt: „Wer immer bei seinen geistigen Anlagen den unerklärlichen Schwierigkeiten größere Wichtigkeit beimißt, als der Erklärung einer gewissen Anzahl von Tatsachen, wird meine Lehre ablehnen". Mit anderen Worten findet D a r w i n , daß seine Gegner keinen Orund haben, von einer Theorie die Erklärung sämtlicher Phänomene zu fordern, auf die diese Theorie paßt. Wenn eine Theorie nur auf eine gewisse Anzahl von Tatsachen, „a certain number of facts", anwendbar ist, so erscheint sie ihm schon wissenschaftlich genug. Kann die Entwicklungs- und Transformationslehre ohne sinnlich wahrnehmbare Beweise, nur durch rein geistiges Erkennen, einen neuen Aufschwung nehmen? D a r w i n s System läuft in Wahrheit auf den Satz von der natürlichen Zuchtwahl heraus. Mit Hilfe dieser Auslese versuchten er und seine Anhänger die Entstehung des organischen Lebens auf unserem Planeten natürlich zu erklären. Nun aber ist die strenge Logik das unentbehrlichste Mittel geistigen Erkennens, und die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl verstößt in
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der Form, die ihr D a r w i n und seine Jünger gegeben haben, gegen die einfachsten Regeln der Logik. Die wirtschaftliche Theorie von M a 11 h u s, auf dem mißverstandenen Prinzip vom Kampf ums Dasein aufgebaut, hat D a r w i n zur Annahme der natürlichen Zuchtwahl gebracht. A l f r e d W a l l a c e , der gleichzeitig mit D a r w i n fast dieselbe Entwicklungstheorie aufstellte, erzählt, daß ihm das Bild dieser Zuchtwahl nach der Lektüre des Malthus'schen Werkes in einem Fieberanfall erschienen sei. Die durch künstliche Zuchtwahl gewonnenen Resultate des Gartenbaus und der Viehzucht erschienen beiden Evolutionisten hinreichend, um das gleiche Prinzip auf die Transformation der ganzen organischen Welt anzuwenden. Der Gedanke war außerordentlich kühn, zumal die engen Grenzen, in denen man Varietäten von Pflanzen und Blumen züchten kann, in der Viehzucht wegen der Unfruchtbarkeit der Bastardkreuzungen noch viel mehr zusammenschrumpfen. Angenommen, ein von der Realität absehender Metaphysiker, dem eine allgemeine Idee zum Aufbau eines ganzen Weltsystems genügt, käme durch die Analogie der künstlichen Zuchtwahl darauf, die Entstehung aller organischen Wesen aus der natürlichen Zuchtwahl zu erklären, so würde er bald erkennen, daß die Absicht des Pflanzen- und Viehzüchters bei der künstlichen Auslese entscheidend mitwirkte Er sähe sich also just von der Logik dahin gedrängt, ein Eingreifen höherer Art, eine Fügung Gottes, des Schöpfers oder wenigstens des »Unerkennbaren" H e r b e r t S p e n c e r s anzunehmen. Den Beweis dieses Eingreifens würde er in der Zweckmäßigkeit der Naturerscheinungen und in der Unverbrüchlichkeit der Gesetze des organischen Wachstums und der Zeugung sehen. Ein Philosoph würde so wunderbare Vorgänge wie die Umwandlung verschiedener Arten und die Abstammung des Menschen von niederen Wirbeltieren oder gar Wirbellosen nicht lediglich den Zufällen des Kampfes um Nahrung und Fortpflanzung zuschreiben. Schon die Erinnerung an E m p e d o k l e s , der auch ein auf den Zufall gegründetes System erdacht hatte, würde ihn vor einem solchen Irrtum bewahren. Diesem genügte zur Erklärung der Entstehung der organischen Welt das zufällige Zusammentreffen eines körperlosen Kopfes mit einem kopflosen Körper, eines gliederlosen Rumpfes mit einem losgetrennten Arm oder einem einzelnen Beine. Zudem hatte er noch die Entschuldigung, daß die Anatomie des Menschen ihm völlig unbekannt war. Die Philosophen kennen
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des A r i s t o t e l e s grausame Satire über diese Phantasien des Empedokles. C h a r l e s D a r w i n war anfänglich weit davon entfernt, die natürliche Auslese für ein Ergebnis der Zufälle des Kampfes ums Dasein zu halten. Er übernahm seine Entwicklungstheorie fast gänzlich von seinem Großvater E r a s m u s D a r w i n , der sie in mehreren Werken entwickelt hatte. Wenn er diese Quelle verschwieg, so geschah es wohl nur wegen der lächerlichen Form: einer mäßigen Versdichtung, in die jener sein System gekleidet hatte. Im übrigen war E r a s m u s D a r w i n ein gläubiger Christ und überzeugt von der Existenz eines Weltenplanes. Das Prinzip des Kampfes ums Dasein war ihm gewiß nicht unbekannt, und er hat es, wie wir später sehen werden, so oft es not tat, zu Hilfe genommen. Vor allem aber suchte er nach Z w e c k u n d Ziel der von ihm beschriebenen Veränderungen. Auch C h a r l e s D a r w i n s Methode war in seinem Bericht über die Studienreise an Bord des Beagle durchaus teleologisch, obwohl ihm das Wort Teleologie (Zweckmäßigkeit) unbekannt war. In der ersten Ausgabe der «Entstehung der Arten« läßt er sogar das Eingreifen des Schöpfers gelten. Erst in den späteren Auflagen ließ er diese Annahme fallen, nachdem sein Werk bei einer Anzahl deutscher Materialisten, die er irrtümlich für große Naturforscher hielt, unverhofften Erfolg gefunden hatte. Ohne Endzweck aber ist eine Entwicklung im Sinne der Vervollkommnung der Arten undenkbar. Vielmehr wären Entartung, Rückbildung und endgültiger Untergang unvermeidlich. Ein chaotisches Zufallsspiel spottet jeder Wahrscheinlichkeitsrechnung. Dazu kommt, daß schädliche Einflüsse, wie Krankheiten, ansteckend sind, wogegen die blühende Gesundheit es nicht ist. Und wie könnten D a r w i n und seine Anhänger die vom Zufall abhängigen Umbildungen mit ihrer mechanistischen Weltanschauung in Einklang bringen? Die rein physikalischen und chemischen Naturerscheinungen vollziehen sich auf Grund umwandelbarer Gesetze. Jede Aufhebung derselben würde zum Chaos, ja selbst zur Zerstörung der unorganischen Welt führen. Ohne Annahme eines Endzweckes ist in der Biologie jedes wirklich ersprießliche Forschen unmöglich. Wenn der Physiologe die Funktionen irgend eines Organes erklären will, so setzt er notgedrungen eine bestimmte Zweckmäßigkeit dieses Organs voraus. Der Embryo-
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löge, der die Entwicklung eines Embryos Schritt für Schritt verfolgt, sieht in jedem Augenblick den Z w e c k , das W a r u m der von ihm beobachteten Veränderungen, während ihm die U r s a c h e , das W i e , nur zu oft entgeht. Niemals wird er das Eingreifen des Zufalls, z. B. bei der Teilung des Eies und den darauffolgenden Verwandlungen gelten lassen. Bemerkt er im Entwicklungsgang eines Embryos eine Abweichung, so weiß er im Voraus, daß der Tod oder eine Mißbildung die notwendige Folge sind. Der seltsame Gedanke, daß sich aus einer derartigen Abweichung von den Entwicklungsgesetzen eine Artverbesserung ergeben könnte, wird ihm nie kommen. Eine solche Artvervollkommnung könnte nur aus willkürlich hervorgerufener Artenkreuzung hervorgehen; aber die natürliche Zuchtwahl mußte schon ihrem Wesen nach die Bastardierung als Werkzeug der Entwicklung ausschließen. Auch darin sahen und dachten die Darwinisten falsch. Und so haben die Ereignisse ihnen denn grausame Lehren erteilt. Im Jahre 1865, kaum sechs Jahre nach dem Erscheinen der »Entstehung der Arten", kam G e o r g M e n d e l , ein Augustiner Mönch, auf den glücklichen Gedanken, die Bastardierung von Pflanzen experimentell zu erforschen. Sein Erfolg war glänzend: es gelang ihm, verschiedene Varietäten zu erzeugen und daraus feste Regeln, ja fast Vererbungsgesetze abzuleiten. Doch der Darwinismus hatte die Geister derart betört, daß M e n d e l s schöne Entdeckungen unbemerkt blieben. Erst vierzig Jahre später, 1905, lenkte C o r r e n s die Aufmerksamkeit auf M e n d e l s Arbeiten, die seitdem allen Forschungen über die Vererbung den Weg gewiesen haben. D e V r i e s hat diese Experimente über künstliche Bastardierung erfolgreich aufgenommen. Augenblicklich klammern sich die in die Enge getriebenen Darwinisten, um die Abstammung des Menschen vom Affen zu retten, an M e n d e l s Entdeckungen und erhoffen von der Bastardierung der Pfanzen die Bestätigung einer Lehre, nach der das Menschengeschlecht von kriechenden Würmern, stinkenden Insekten und Protozoen abstammt, denen M e t s c h n i k o f f die dem Menschen hartnäckig abgestrittene, unsterbliche Seele zuschreibt. Zum Glück sind die echten Forscher, die allein den Fortschritt der Wissenschaft verbürgen, endgültig geheilt von der evolutionistischen Strömung der zufälligen Zuchtwahl und der Angst, sich durch Anerkennung der Zweckmäßigkeit und eines » erhabenen Weltenschöpfers", wie ihn L a m a r c k nennt, bloßzustellen. Denn just, um das Eingreifen des Übernatürlichen auszuschalten, haben die Fanatiker
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der Entwicklungslehre D a r w i n veranlaßt, den Schöpfer aus seiner »Entstehung der Arten" zu streichen. Und doch konnte nichts übernatürlicher und wunderbarer sein, als die durch eine jahrtausendlang wiederkehrende Verkettung von Zufällen gewonnene Umbildung einer Protozoe in einen N e w t o n oder G o e t h e . Hingegen kann und darf keine der schöpferischen Betätigungen d e s Geistes, der die unwandelbaren Naturgesetze schuf, je als übernatürlich angesehen werden. »Die Wunder«, hat schon der heilige Augustin gesagt, »stehen nicht im Widerspruch mit den Naturgesetzen, sondern mit unserer Kenntnis von ihnen." Die Auffassung gewisser Naturforscher, vornehmlich solcher, die wir zu den Minderwertigen zählen, läßt sich folgendermaßen formulieren: »Nachdem Gott das Weltall einmal geschaffen hat, kann er den Entwicklungen der Welt nur als ohnmächtiger und gleichgültiger Zuschauer beiwohnen." Das aber ist die sonderbarste Auffassung, die sich denken läßt.1 Da sind verschiedene aufeinander folgende Schöpfungen doch logischer und unserem Begriffsvermögen viel einleuchtender. Eine Lokomotive läßt sich auf einmal konstruieren, aber es will uns nicht in den Sinn, wie z. B. ein einfaches Vorlegeschloß im Laufe von Jahrmillionen plötzlich zur Lokomotive, oder wie eine Sonnenuhr zu einem Breguetschen Chronometer werden kann. Dasselbe kann man von der Verwandlung einer Ascidie in den Menschen oder selbst in ein Wirbeltier sagen. Wir können diese Einführung in die Psychologie der Darwinisten nicht besser schließen als mit einem Hinweis auf die vernichtende und entscheidende Widerlegung, die ihre Lehren durch K. E. v. Baer erfahren haben. Dieser hervorragende Forscher hatte den dringenden Bitten, seine maßgebende Meinung über den Darwinismus 1
L a d e n b u r g , Chemieprofessor in Breslau, hat sich jüngst zum Verfechter dieser Ansicht aufgeworfen und sie 1903 auf dem Kasseler Naturforschertag vorgetragen, wo sie den Beifall der Versammlung gewann. Dieselbe Versammlung hat übrigens am nächsten Tage Sir W i l l i a m R a m s a y s Worte: „Wir wissen, daß wir nichts wissen«, mit denen er einen sehr klaren Vortrag über die Atomenlehre beschloß, mit gleichem Beifall gelohnt. Nach seiner Rückkehr hat R a m s a y in London die Verwandlung von Radium in Helium entdeckt. L a d e n b u r g hat, als er wieder in Breslau war, seine Zuflucht zu beschämenden Widerrufen nehmen müssen, um den Unwillen, den seine Gottesauffassung im Universitätskollegium hervorgerufen hatte, zu beschwichtigen.
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zu äußern, lange Zeit widerstanden. Erst 1876, am Ende seines Lebens, aber noch im Vollbesitz seiner wunderbaren Geisteskräfte, entschloß er sich, diese Lehre einer genauen Kritik zu unterziehen und die völlige Hinfälligkeit ihrer vorgeblichen wissenschaftlichen Grundlagen nachzuweisen. 1 Niemand war berufener, ein endgültiges Urteil über die Entwicklungslehre zu fällen, als der Schöpfer der modernen Embryologie, der das Vorkommen von Eizellen in den G r a a f s c h e n Follikeln der Säugetiere entdeckt und zu erklären vermocht hatte. Sein Erstlingswerk „Über die Entwicklungsgeschichte der Tiere« (2 Bände, 1828—1837) zeigt schon durch den Titel, wie sehr seine biologischen Vorstellungen von den darwinistischen Ideen abwichen; auf C u v i e r s Bericht hin wurde der erste Band 1831 von der Akademie der Wissenschaften in Paris preisgekrönt. Mehr als 60 Jahre lang, von 1814 bis 1876, hat K. E. v. B a e r fast alle Zweige der Naturwissenschaften durch wundervolle Forschungen bereichert. Seine zahllosen zoologischen, embryologischen, anthropologischen, paläontologischen, geologischen und geographischen Werke haben ebenso wie seine philosophischen Studien die biologischen Vorstellungen seiner ersten Werke beträchtlich erweitert und bestätigt. Wenn v. B a e r s Widerlegung auch spät kam, so war sie deshalb doch nicht weniger vernichtend und entscheidend; sie verfehlte ihren tiefen Eindruck auf die wirklichen Naturforscher nicht. Wir müssen uns darauf beschränken, den Schluß dieses Werkes zu zitieren: „Den Männern der Wissenschaft möchte ich nur sagen, daß eine Hypothese wohl berechtigt und wertvoll sein kann, wenn wir sie als Hypothese behandeln, d. h. wenn wir ihr Gesichtspunkte für die spezielle Untersuchung entnehmen, daß es aber für die Wissenschaft schädlich und entehrend ist, eine Hypothese, die der Beweismittel entbehrt, als den Gipfel der Wissenschaft zu betrachten. Unser Wissen ist Stückwerk. Das Stückwerk durch Vermutungen zu 1
Mitte Juli 1870 hatte ich die Ehre, in Dorpat der Gast K . E . v . B a e r s zu sein, bei dem mich ein Brief C l a u d e B e r n a r d s eingeführt hatte. An einem der Mittwoche, wo er einen kleinen Bekanntenkreis um sich zu versammeln pflegte, trug Graf C z a p s k i , ein begeisterter Bienenzüchter, sehr interessante Beobachtungen über das Leben der Bienen vor, wodurch die Rede auf die Entwicklungslehre kam. Da erklärte v. B a e r , er wolle sich im Hinblick auf sein hohes Alter die Aufregungen eines Feldzuges gegen eine unhaltbare Lehre ersparen, die früher oder später ja doch zusammenbrechen müßte, sobald das Vorurteil des Laienpublikums geschwunden sei.
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ergänzen, mag dem Einzelnen Beruhigung gewähren, ist aber nicht Wissenschaft." 1 Diese Worte sollten allen Biologen, die von einer Wiedergeburt Darwinscher Lehren reden, zu denken geben! «Unserer tiefsten Überzeugung nach«, schrieb ich 1886, »wird der Darwinismus im streng wissenschaftlichen Sinne des Wortes, d. h. als Erklärung der fortwährenden Veränderung organischer Arten durch Zuchtwahl, das gegenwärtige Jahrhundert nicht überleben." Eine solche Prophezeiung war nach all den vorstehenden Erwägungen nicht schwierig. Trotzdem ist sie nur teilweise in Erfüllung gegangen. Für die eigentliche gelehrte Welt hat D a r w i n s Entwicklungslehre allen Wert, fast alles, Interesse verloren. Für das große Publikum ist dies leider nicht der Fall. Der eigenartige Zauber, den die „Entstehung der Arten" auf das Geistesleben des letzten Jahrhunderts ausgeübt hat, hinterließ zu tiefe Spuren, als daß man hoffen könnte, ihre unheilbringenden Folgen bald schwinden zu sehen. Die Macht des Irrtums beruht auf einem allgemeinen Naturgesetz. Man kann seine Macht an Irrlehren wie die myogene Theorie des Herzschlages ermessen, die am Ende des 19. Jahrhunderts die Physiologie so sehr in Verruf gebracht und der Medizin und den Kranken So sehr geschadet haben. Torheit ist so ansteckend wie Krankheit; Vernunft nicht mehr als Gesundheit. Dasselbe gilt von Laster und Tugend: ein verdorbener Schüler kann eine ganze Klasse verderben, die Tugend eines einzigen könnte sie nicht wieder auf den rechten Weg bringen. Lüge und Verleumdung pflanzen sich mit schwindelerregender Schnelligkeit fort und sind oft auf Jahrhunderte hinaus unausrottbar; denn die Wiederherstellung der Wahrheit schreitet nur langsam fort und erfordert lange Kämpfe. Die Psychologie der Völker folgt dem gleichen Gesetz; die Bewohner von Grenzgebieten eignen sich leicht die geistigen und moralischen Fehler beider Nachbarländer an, während sie deren gute Eigenschaften nur selten annehmen. Es wäre also verfrüht, sich in dem schönen Wahn zu wiegen, eine rein wissenschaftliche Widerlegung könne genügen, um den Kampf gegen den Darwinismus aufzugeben. Frankreichs gelehrte Welt hat dem Zuge zu evolutionistischen Phantasien am längsten 1
K. E. v. B a e r , „Über Darwins Lehre", Bd. II der Reden, gehalten in wissenschaftlichen Versammlungen. St. Petersburg 1876, S. 235—473.
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widerstanden. Aber je später die evolutionistischen Ideen hier eingedrungen sind, um so tiefer haben sie Wurzeln geschlagen. Wir sehen die gleichen Erscheinungen wie bei der Kantischen Philosophie sich wiederholen; der Darwinismus hat in Frankreich erst in dem Augenblick Fortschritte gemacht, wo er in Deutschland bereits verfiel. Das sicherste Kampfmittel gegen die darwinistische Lehre ist bei ihrem jetzigen Stande das psychologische Studium ihrer Entstehungsund Entwicklungsgeschichte. Nun aber ist die Psychologie der Wissenschaften im Grunde nichts anderes als die Psychologie der Gelehrten, die sie geschaffen haben. Von den wissenschaftlichen Irrtümern gilt dies noch mehr. Deshalb wollen wir hier die Psychologie E r a s m u s D a r w i n s , L a m a r c k s und C h a r l e s D a r w i n s nacheinander darstellen, um Ursprung und Verkehrtheit ihrer Systeme daraus abzuleiten. § 2.
Die Psychologie des Erasmus Darwin.
Die großen Revolutionen der Geisteswelt ereignen sich nicht plötzlicher als die politischen. Derjenige, der eine von ihnen hervorruft, hat sie durchaus nicht zuerst gedacht. Gewöhnlich ist ihm der Boden durch eine ganze Reihe von Vorgängern bereitet. Gewisse Gedanken, die seit langer Zeit in den Köpfen von Vorläufern wie Zeitgenossen gährten, haben ihm den Weg vorgezeichnet, auf dem er die Führung übernehmen sollte. Auch die große Masse, die sich dem Antrieb entschlossener Bahnbrecher stets willenlos unterwirft, pflegt sich dann in einer den neuen Tendenzen günstigen Stimmung zu befinden. Nirgends prägt sich das Zusammentreffen dieser Umstände deutlicher aus, als in der Revolution, die sich an C h a r l e s D a r w i n s Namen knüpft. Er trat mit seinem berühmten Werke über die Entstehung der Arten zu einer Zeit hervor, wo die evolutionistischen Ideen 1 schon seit einem Jahrhundert in den Köpfen berühmter Gelehrter keimten und von verschiedenen Seiten, völlig unabhängig von einander, Zoologen, Dichter und Philosophen der neuen Vorstellung vom Ursprung der organischen Welt entgegendrängten, wo 1
Der Entwicklungsgedanke ist so alt wie die Philosophie. Schon die großen arabischen Philosophen des 10. Jahrhunderts betrachteten den Affen als Mittelding zwischen Mensch und Tier. E. v. C y o n , Gott und Wissenschaft.
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zwischen Anhängern und Gegnern dieser Lehren in akademischen Kreisen, in wissenschaftlichen Abhandlungen und Zeitungsspalten ein erbitterter Kampf tobte. Man denke an den in der Geschichte der Naturwissenschaften berühmten Streit, der im Jahre 1830 in der Akademie der Wissenschaften zu Paris zwischen C u v i e r und G e o f f r o y S a i n t - H i l a i r e ausgefochten wurde. Er endete mit der völligen Niederlage S a i n t - H i l a i r e s , der für die evolutionistische Hypothese eingetreten war. Mit welcher Teilnahme das geistige Europa diesem Kampfe selbst von ferne folgte, ergibt sich aus der nachstehenden, von einem Freunde G o e t h e s berichteten Episode: «2. August 1830. Die Nachrichten von der begonnenen Julirevolution gelangten heute nach Weimar und setzten alles in Aufregung. Ich ging im Laufe des Nachmittags zu G o e t h e . „Nun," rief er mir entgegen, »was denken Sie von dieser großen Begebenheit? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen, alles steht in Flammen, und es ist nicht ferner eine Verhandlung bei geschlossenen Türen!" »Eine furchtbare Geschichte!" erwiderte ich. »Aber was ließ sich bei den bekannten Zuständen und bei einem solchen Ministerium anderes erwarten, als daß man mit der Vertreibung der bisherigen königlichen Familie endigen würde." — »Wir scheinen uns nicht zu verstehen, mein Allerbester," erwiderte G o e t h e . »Ich rede gar nicht von jenen Leuten; es handelt sich bei mir um ganz andere Dinge. Ich redp von dem in der Akademie zum öffentlichen Ausbruch gekommenen, für die Wissensehaft so höchst bedeutenden Streit zwischen C u v i e r und G e o f f r o y d e S a i n t - H i l a i r e ! Die Sache ist von der höchsten Bedeutung, und Sie können sich keinen Begriff machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli empfinde. Wir haben jetzt an G e o f f r o y d e S a i n t - H i l a i r e einen mächtigen Alliierten auf die Dauer. Ich sehe aber zugleich daraus, wie groß die Teilnahme der französischen wissenschaftlichen Welt an dieser Angelegenheit sein muß, indem trotz der furchtbaren politischen Aufregung die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefüllten Hause stattfand. Das Beste aber ist, daß die von Geoffroy in Frankreich eingeführte synthetische Behandlungsweise der Natur jetzt nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die Angelegenheit ist durch die freien Diskussionen in der Akademie, und zwar in Gegenwart eines großen Publikums, jetzt öffentlich geworden, sie läßt sich nicht mehr an geheime Ausschüsse verweisen und bei geschlossenen Türen abtun und unterdrücken.«
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G o e t h e hatte Recht: Das Publikum war weit entfernt, sich bei dieser wissenschaftlichen Frage gleichgültig zu verhalten. Die revolutionäre Gärung, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Geister erregte, machte sie jeder Lehre außerordentlich zugänglich, die sich im Gegensatz zu den Lehren der Vergangenheit befand. Die Öffentlichkeit stand der Entwicklungstheorie um so sympathischer gegenüber, als Anhänger wie Gegner sich darin einig waren, daß sie die althergebrachten Glaubenssätze, mit denen die siegreiche Revolution erbitterten Krieg führte, zerstören müsse. Bis dahin hatte bei Gelehrten wie Laien seit unvordenklichen Zeiten die Auffassung geherrscht, jede Tier- und Pflanzenart sei für sich erschaffen und habe sich in der ursprünglichen Form fast unverändert erhalten. Am Ende des 18. Jahrhunderts hing noch die ganze gebildete Welt an der Lehre von der Stetigkeit und Unveränderlichkeit der Arten. L i n n é , der Schöpfer der heutigen Biologie, hielt sich streng an diese Auffassung. Er verschaffte der Lehre von der Beständigkeit der Arten dadurch erneutes Ansehen, daß er die Art als eine Gesamtheit von Pflanzen oder Tieren definierte, die einander so gleichen, daß man sie unwillkürlich für Kinder gleicher Eltern halten muß. Nach ihm stammt eine jede Art von einem besonderen, bei Weltbeginn erschaffenen Ahnenpaare ab. Immerhin wurden trotz seiner großen Autorität seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Zweifel an der absoluten Beständigkeit der Arten laut Sie äußerten sich zwar noch sehr vorsichtig und hüllten sich in dunkle Formeln; allein man begann mehr oder minder offen den Gedanken zu erörtern, daß die Arten durch allmähliche Veränderung der Urformen aus einander entstanden seien. B u f f o n hat in seiner berühmten »Histoire naturelle", deren vollständige Veröffentlichung vierzig Jahre (1749—1788) in Anspruch nahm, verschiedentlich die Möglichkeit erörtert, daß die Pflanzen und Tiere nicht gänzlich unveränderlich wären, sondern daß sie sich infolge natürlicher Ursachen allmählich von ihren Urformen entfernt hätten. Diese Vermutung begründete er auf die großen Ähnlichkeiten in ihrem Bau. Er betont die Übereinstimmung im Bau aller Wirbeltiere; sie gleichen einem gemeinsamen Urbilde so sehr, daß sie als verschiedene Zweige einer aus dem gleichen Stamm hervorgegangenen Familie erscheinen. Einige Mitglieder dieser Familie scheinen sich durch Entartung und andere ungünstige Umstände in niedere Formen 2*
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zurückgebildet zu haben, während die anderen dank einer vollkommeneren Entwicklung ihrer Formen zu höheren Arten aufgestiegen sind. Wenn man aber, fährt B u f f o n fort, diese Möglichkeit für eine Tierklasse annähme, so bestände kein Grund, die Hypothese nicht zu erweitern und die stufenweise Umwandlung der einzigen Urform nicht auf alle Klassen anzuwenden. Dies, setzt er vorsichtig hinzu, wäre freilich nicht gut möglich, da die Offenbarung lehre, daß jede Klasse für sich geschaffen sei. Es ist schwer zu sagen, ob B u f f o n es mit diesem Vorbehalt ganz ehrlich meinte. Jedenfalls blieb sein Gedanke nicht ohne Widerhall. Fast gleichzeitig traten in Deutschland, Frankreich und England drei Denker mit mehr oder weniger Entschiedenheit für diese Theorie ein, nach der sich alle Arten stufenweise aus einfachen Urformen entwickelt hätten. G o e t h e ließ sich 1795 über diese Frage folgendermaßen aus: „Dies also hätten wir. gewonnen, ungescheut behaupten zu dürfen, daß alle vollkommneren organischen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugetiere und an der Spitze der letzten den Menschen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien, das nur in seinen sehr beständigen Teilen mehr oder weniger hin- und herweicht und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet" Die Darwinisten führen dieses Wort des großen Dichters stets als unwiderleglichen Beweis dafür an, daß er Evolutionist im landläufigen Sinne gewesen sei. Später, nach dem Erscheinen von L a m a r c k s Werken, hat G o e t h e offenbar zu dieser Ansicht geneigt. Aber den Worten von 1795 muß man wirklich Gewalt antun, wenn man in ihnen etwas anderes sehen will als die bloße Feststellung der Tatsache, daß alle Wirbeltiere nach einem gemeinsamen, sich mit der Zeit verändernden Vorbilde geschaffen sind. Soviel gibt auch jeder Gegner der Evolution zu; denn die Schöpfung nach einem gemeinsamen Vorbilde ist etwas anderes als die Abstammung von einem gemeinsamen Ahnen. Mehrere Jahre vor G o e t h e trat ein anderer, freilich recht mittelmäßiger Dichter viel bestimmter für die Entwicklung der organischen Welt durch stufenweise Umbildung und Vervollkommnug der Urformen ein. Das war der Doktor E r a s m u s D a r w i n , C h a r l e s D a r w i n s Großvater, dessen Werke die Grundlagen der ganzen Darwinschen Evolutionstheorie einschließlich der Zuchtwahl
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enthalten. Wir nennen E r a s m u s D a r w i n einen Dichter, weil er die fatale Angewohnheit hatte, seine philosophischen Gedanken in schlechte Verse zu kleiden. Ja diese unglückliche Form war schuld daran, daß seine wissenschaftlichen Arbeiten der gleichen Geringschätzung begegneten, wie seine lächerlichen Rhapsodien. Der 1781 erschienene „Botanic Garden", der „Temple of Nature" und seine anderen Scheingedichte enthalten schon fast alle Ansichten der neueren Evolutionisten in klarer, deutlicher Form und nicht nur als bloße Entwürfe. Auch benutzte E r a s m u s D a r w i n , wie man sich leicht überzeugen kann, die gleichen Argumente zum Beweis seiner Lehre, wie sein berühmter Enkel sechzig Jahre später. Freilich zeigen die in der „Zoonomia", seinem Hauptwerk, mitgeteilten Beobachtungen bei weitem nicht den gleichen methodischen Charakter. Der Hauptgrund aber, daß die Lehre des E r a s m u s nicht in die Breite ging, war der, daß der Boden für eine so bedeutende geistige Revolution noch nicht bereitet war. Der beste Beweis hierfür sind L a m a r c k s wenige Jahre später erschienene Werke, die trotz ihrem wissenschaftlichen Charakter und dem philosophischen Geist ihres Verfassers, der diesen auch über C h a r l e s D a r w i n stellt, ihre Wirkung auf das Publikum verfehlten. Die Meinung, daß die gesamte organische Welt fortgesetzte Veränderungen im Sinne der Verbesserung und Vervollkommnung erfahre, findet sich in E r a s m u s ' „Botanic Garden" klar ausgedrückt. Er hielt diese Weltauffassung „des Schöpfers aller Dinge würdiger" als jede andere. Zum Beweise führt er das völlige Verschwinden der fossilen Formen und, was viel interessanter ist, das Vorhandensein rudimentärer Organe bei den jetzigen Pflanzen und Tieren an. Er sagt: Mehrere Tiere weisen Spuren körperlicher Veränderungen auf, die ihnen eine neue Art der Nahrungsgewinnung erlaubten. In dem gleichen Werke mutmaßt er, daß die Stacheln und Dornen der Pflanzen ebenso wie ihre starken Gerüche und Gifte anerworben seien, um sich gegen die Gier der Insekten und Vierfüßler zu schützen. Ja er geht bis zu der Annahme, daß einige Orchideen das Aussehen insektenbedeckter Blüten vortäuschten, um die wirklichen Insekten zu verscheuchen. Der Leser sieht, daß der Großvater bereits die Hauptgedanken des Enkels vorwegnahm und sie mit den gleichen Beispielen bewies. Doch es handelt sich hier nicht bloß um die Feststellung ähnlicher Tatsachen. Überall sucht E r a s m u s D a r w i n nach dem Z w e c k der
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von ihm entdeckten morphologischen oder organischen Veränderungen; mit anderen Worten: er s t e l l t s i c h s t e t s auf d e n t e l e o l o g i s c h e n S t a n d p u n k t . Wie weiter oben gezeigt wurde, stimmte C h a r l e s D a r w i n in dieser Hinsicht a n f a n g s m i t s e i n e m G r o ß v a t e r ü b e r e i n ; auch er bezeichnet unter allen Umständen den Zweck, dessentwegen ein Tier oder eine Pflanze ein bestimmtes Organ oder auch nur eine Eigentümlichkeit angenommen hat. Die deutschen Darwinisten haben sich zwar zu beweisen bemüht, daß die Worte ihres Abgottes falsch verstanden worden seien, und daß er vom Zweck der Erscheinungen nur deshalb spräche, um seinen Grundgedanken, recht deutlich hervorzuheben. Aber jeder unparteiische Leser von D a r w i n s Schriften, nicht bloß von der „Entstehung der Arten", sondern auch von späteren Werken, kann sich leicht überzeugen, daß D a r w i n bis an sein Lebensende einen teleologischen Zug bewahrt hat. Überdies kann man wohl sagen, daß die natürliche geschlechtliche Zuchtwahl allen Sinn verliert, wenn sie nicht die Bedeutung hat, daß bestimmte tierische und pflanzliche Organe sich zu bestimmten Z w e c k e n entwickelt haben. Wie schon gesagt, verhehlte D a r w i n s Großvater diese Geistesrichtung durchaus nicht Nach ihm pflegt bei Fischen und Vögeln der Rücken dunkler gefärbt zu sein als der Bauch, damit sie den über ihnen befindlichen Feinden besser entfliehen können; sie nehmen die Farbe ihrer Umgebung an, um weniger sichtbar zu sein. Die Tiere verändern sich infolge dreier Triebe, des Hungers, des Triebes zur Fortpflanzung der Art und des Selbsterhaltungstriebes. Der Hunger treibt sie auf die Suche nach neuen Nahrungsmitteln, der Fortpflanzungstrieb läßt die Männchen um den Besitz der Weibchen kämpfen, und der Selbsterhaltungstrieb bestimmt die Anpassung der Körperfarbe. Der Rüssel des Schweins hat sich verhärtet, um die Erde leichter nach Wurzeln und Insekten durchwühlen zu können. Die Nase des Elefanten ist zum Rüssel verlängert, um die Zweige brechen zu können, deren Früchte er begehrt, und Wasser zu trinken, ohne die Knie zu beugen. Die Fleichfresser haben zum Zerreißen der Beute Krallen erhalten. „Alle diese Anpassungen," sagt E r a s m u s D a r w i n , „haben sich im Laufe mehrerer Geschlechter entwickelt, infolge des tierischen Triebes, den Hunger zu befriedigen, und sie haben sich auf ihre Nachkommen vererbt, wobei sie sich immer mehr vervollkommneten, um ihren Zweck besser zu erfüllen."
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Über die Bedeutung der geschlechtlichen Zuchtwahl hat er sich weniger bestimmt geäußert: „Bei mehreren Tieren herrscht das Bedürfnis nach dem Alleinbesitz eines Weibchens." Deshalb haben die miteinander kämpfenden Männchen besondere Waffen angenommen. Als Beispiele führt E r a s m u s D a r w i n das Hirschgeweih und den Hahnensporn an. „Der Endzweck dieses Kampfes der Männchen scheint die Fortpflanzung durch den Stärksten und Geschicktesten und damit die Artverbesserung zu sein." In seinem „Temple of Science" spricht er vom Daseinskampf in schlechten Versen, aber doch sehr klar. „Luft, Erde und Wasser sind bei näherem Zusehen nichts anderes als Schlachtfelder oder Kirchhöfe. Der Hunger kämpft, und tödliche Pfeile fliegen in dem allgemeinen Schlachthause, in dem a l l e W e s e n m i t e i n a n d e r Krieg führen." Die evolutionistische Lehre ist bei E r a s m u s D a r w i n also schon mit den gleichen Beispielen und Begründungen dargestellt wie bei seinem Enkel. Anpassung der Organe zu bestimmten Zwecken, geschlechtliche Auslese, Kampf ums Dasein und folglich auch die natürliche Zuchtwahl, Vererbung erworbener Vervollkommnungen, mit einem Wort alles, was das Wesen der evolutionistischen Lehre ausmacht, findet sich bereits den Gedanken, wenn auch noch nicht den Ausdrücken nach, in den am Ende des 18. Jahrhunderts veröffentlichten Werken des E r a s m u s D a r w i n . Der Enkel erbte vom Großvater nicht nur den naturwissenschaftlichen Forschertrieb, sondern auch die Grundgedanken, die ihm in der Folge erlaubten, seiner transformistischen Hypothese den Charakter einer abgeschlossenen Lehre zu geben. Bemerkenswert ist, daß erst 1880, kurz vor D a r w i n s Tode, die Verdienste des E r a s m u s D a r w i n durch den deutschen Zoologen E r n s t K r a u s e ans Licht gezogen wurden. Der Enkel hat den Namen des eigentlichen Schöpfers der Evolutionstheorie nirgends erwähnt. § 3.
Die Weltanschauung Lamarcks.
Als L a m a r c k seine in den naturgeschichtlichen Annalen des 19. Jahrhunderts epochemachenden Arbeiten begann, kannte er die Versuche seines englischen Vorläufers offenbar nicht. Erst mit der .Veröffentlichung seiner Werke hat die Evolutionstheorie sozusagen
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die Windeln abgestreift und die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, wenngleich ihr die Wissenschaft noch kein Hausrecht einräumte. Von jetzt an zeigt sich der Einfluß der Transformationslehre in den botanischen, zoologischen und geologischen Forschungen, welche die erste Hälfte des Jahrhunderts erfüllen. Auch die leidenschaftlichsten Gegner L a m a r c k s wurden gezwungen, sich mit seinen Ansichten auseinanderzusetzen. Doch er hatte neben zahlreichen, erbitterten Feinden auch begeisterte Anhänger. Unter diesen steht an erster Stelle G e o f f r o y S a i n t - H i l a i r e , der schon 1795, d. h. vor dem Erscheinen von L a m a r c k s Schriften, die Einheitlichkeit im Bau der Arten betont hatte. Obgleich L a m a r c k ein tiefer Denker und ein feiner Kopf war, so hing er doch von vorgefaßten Ideen ab. In der „Philosophie zoologique" entwickelte er seine evolutionistische Lehre streng logisch, ohne sich durch die Unzulänglichkeit der Beweise zurückschrecken zu lassen. Er setzte seine Forschungen stets tapfer fort, trotzdem er, des Augenlichtes beraubt, im Elend lebte und seitens der offiziellen Welt nur Feindseligkeit erfuhr. C h a r l e s D a r w i n hat sein Verdienst in folgender Weise anerkannt: „Er ( L a m a r c k ) leistete als erster den großen Dienst, die Aufmerksamkeit auf die wahrscheinlichen, fortwährenden Veränderungen der organischen und anorganischen Welt gelenkt zu haben, Veränderungen, die auf Naturgesetzen und nicht auf übernatürlicher Einmischung beruhen. L a m a r c k nahm eine fortschreitende Entwicklung der Arten an, weil er die Schwierigkeit zwischen Gattung und Art zu unterscheiden einsah und die errungenen Fortschritte verschiedener Gruppen, sowie die Analogie der Haustierzüchtung in Betracht zog. Die Mittel zur Erlangung dieser Veränderungen sah er teils in der direkten Einwirkung der natürlichen Lebensbedingungen, teils in der Kreuzung vorhandener Formen, vor allem aber in dem Einfluß der Gewohnheit, gewisse Organe zu üben oder unbenutzt zu lassen. Aus dieser letzten Ursache leitet er alle auffallenden Anpassungen in der Natur ab, z. B. den langen Hals der Giraffe, der ihr erlaubt, sich Nahrung auf den Bäumen zu suchen." In der Tat glaubte L a m a r c k , daß die Tiere durch die Anstrengungen bei allerlei Verrichtungen dazu gebracht worden seien, ihre Fähigkeiten allmählich zu erweitern und auszubauen. Während der große C u v i e r , dessen Fossilienforschung die Geologie unermeßlich gefördert hat, der Katastrophentheorie und
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der Lehre von periodischen Neuschöpfungen des organischen Lebens treu blieb, nahm L a m a r c k sogar für die unorganische Natur die allmähliche Veränderung der Erdrinde durch Einwirkung natürlicher Ursachen an. Insofern könnte man ihn für einen Vorläufer von C h a r l e s L y e l l , dem Erneuerer der Geologie halten. L a m a r c k s Ideen beeinflußten L y e l l so gewaltig, daß er 1831 die ununterbrochene Fortdauer des organischen Lebens während der langsamen Veränderungen der Erdrinde behauptete. Er schrieb: »Viele Geologen vergessen, daß in der Zeit zwischen L a m a r c k und dem Erscheinen von D a r w i n s ,Entstehung der Arten' auch einiges von anderen veröffentlicht wurde. Ohne mich der L a m a r c k s c h e n Transmutationstheorie anzuschließen, habe ich schon 1831 die ununterbrochene Fortdauer des organischen Lebens v e r t e i d i g t . . . . Ich habe sogar behauptet, daß eine ununterbrochene Entwicklung der Arten noch heute besteht, daß, wie d e C a n d o l l e bewiesen hat, ein ewiger Existenzkampf stattfindet, in dem sich gewisse Arten auf Kosten der anderen vermehren und Fortschritte aufweisen, während die anderen verschwinden." So war die evolutionistische Lehre unter den Naturforschern bereits genügend verbreitet, als D a r w i n sich mit der Naturgeschichte zu beschäftigen anfing. Wir haben nur die bedeutendsten Vertreter dieser Wissenschaft genannt, die sich allgemeiner Anerkennung erfreuen. Doch wie viele minder berühmte Forscher traten damals energisch zugunsten der allmählichen Entwicklung der Arten ein! Wir nennen als einziges Beispiel den Edinburger Professor E d m o n d G r a n t , C h a r l e s D a r w i n s Lehrer, der im Jahre 1826 in einem Aufsatz über Süßwasserschwämme die deutliche Behauptung aufstellte, daß die Arten auseinander hervorgegangen wären. § 4.
Die Psychologie des Studenten C h a r l e s Darwin.
Wie der Leser gesehen hat, liebte Darwins Großvater E r a s m u s naturgeschichtliche Betrachtungen und Schlüsse über alles. Sein Hang zur Poesie gab seinen Gedanken jedoch einen so phantastischen Zug, daß sein wissenschaftliches Ansehen sehr darunter litt. Nichtsdestoweniger ist es unstreitbar, daß sich die meisten seiner Gaben bei seinem Enkel wiederfinden, zum Glück mit schärferer und genauerer Beobachtungsgabe gepaart. Diese hat er augenscheinlich von den W e d g w o o d s , den Verwandten seiner Mutter, geerbt. D a r -
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w i n s Großvater mütterlicherseits war ein angesehener Töpfermeister, der sich durch große Willenskraft, seltene Beharrlichkeit und künstlerischen Sinn für Farbmischungen und -abstufungen hervortat. Alle diese Anlagen waren auf C h a r l e s D a r w i n übergegangen und bestimmten großenteils seine wissenschaftliche Tätigkeit. Sein Vater, R o b e r t D a r w i n , war des E r a s m u s zweiter Sohn. Auch er war Arzt, besaß großen Ruf und hatte gewaltigen Zulauf. Als bestes Erbteil hinterließ er ihm ein großes Vermögen, das den jungen Naturforscher von allen materiellen Sorgen befreite, ihm beträchtliche Unterstützungen bei seinen Reisen, Forschungen und Sammlungen sicherte und ihm erlaubte, sein ganzes Leben der Wissenschaft zu widmen. C h a r l e s D a r w i n kam am 12. Februar 1809 zu Shrewsbury zur Welt. In der Schule des Doktor B u t l e r , des späteren Bischofs von Leagfield, genoß er den ersten Unterricht. Er zeichnete sich als Schüler nicht durch besonderen Fleiß aus und zog es vor, weite Spaziergänge zu machen, auf denen er Pflanzen und Mineralien sammelte. Mit sechzehn Jahren bezog er zum Studium der Medizin die Universität Edinburg. Ein unüberwindlicher Abscheu vor anatomischen Sektionen, ja die Unfähigkeit, einer Leichenschau beizuwohnen, überzeugten ihn bald davon, daß er nicht zum Mediziner tauge. So setzte er denn seine naturgeschichtlichen Sammlungen fort und beschäftigte sich unter Professor G r a n t s Leitung mit Zoologie, ohne diesen halb dilettantisch betriebenen Studien große Neigung entgegenzubringen. Im Jahre 1828 trat er mit der Absicht, Theologie zu studieren, in das Christ College zu Cambridge ein. Dort wurde er der Freund des Mineralogen und Botanikers H a r l o w . Wissenschaftliche Ausflüge führten sie zusammen; denn D a r w i n hatte sich die Vorliebe für Spaziergänge bewahrt, auf denen er alles, was ihm in die Hände fiel, zu sammeln pflegte. Professor H a r l o w erkannte den nachdenklichen Geist und die seltene Beobachtungsgabe des Studenten, schloß sich ihm an und brachte ihn den Wundern der Natur näher. Hierdurch erweckte er in ihm den Geschmack an der Naturgeschichte. H a r l ö w s Einfluß erstreckte sich nicht nur auf die wissenschaftliche Leitung seiner Schülers; sein moralischer Einfluß auf den Charakter des jungen Gelehrten scheint noch weit stärker gewesen zu sein. Bezeichnend hierfür sind einige Stellen aus einem
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Briefe, den D a r w i n an den Reverend J a n i n s geschrieben hat. Man könnte glauben, daß er sich selbst beschreibt, während er doch das Charakterbild seines Lehrmeisters zu entwerfen bemüht ist. »Ehe ich ihn gesehen hatte, hörte ich einmal einen jungen Menschen die Charakteristik H a r l o w s in den einfachen Satz zusammenfassen: Er weiß alles. Ich glaube, daß die Ursache für die Leichtigkeit, mit der wir uns bei dem weit Älteren und Überlegeneren heimisch fühlten, die Lauterkeit seiner Gefühle, seine Güte und vielleicht noch mehr das vollständige Zurücktreten seiner Person war. Man merkte stets, daß ihn niemals sein ausgebreitetes Wissen oder die Schärfe seines Verstandes, sondern nur der in Frage stehende Gegenstand beschäftigte. Seine gleichmäßige Höflichkeit gegen alte und angesehene Personen wie gegen ganz junge Studenten verlieh seinem Umgang einen eigenen Reiz, dem sich wohl keiner entziehen konnte. Die Regungen der Eitelkeit, des Neides oder der Eifersucht waren ihm fremd; sein Gleichmut und sein bemerkenswertes Wohlwollen ließen ihn aber niemals abgeschmackt erscheinen," Der Leser wird sich im Verlauf dieses Kapitels öfters überzeugen können, daß dieses Urteil für den Schüler genau so zutrifft, wie für den Lehrer. D a r w i n las damals H u m b o l d t s Reisen und träumte selbst von einer Weltreise und von Forschungen in den Tropen. Ja er versuchte unter seinen Mitschülern eine Gesellschaft zum Besuch der Kanarischen Inseln zu gründen. In dieser Stimmung befand er sich, als ihm H a r l o w mitteilte, daß der seit kurzem von einer Weltreise zurückgekehrte Kapitän F i t z - R o y eine neue Expedition zum Zwecke geographischer Messungen ausrüstete und einen jungen Naturforscher mitzunehmen wünschte. D a r w i n ergriff die Gelegenheit beim Schöpfe und erhielt trotz aller Hindernisse die Erlaubnis, die Expedition als Naturforscher zu begleiten. Er mußte auf jedes Gehalt verzichten und sich mit einer Hängematte in der Kajüte des Kapitäns begnügen. Als Entgelt sicherte er sich das ausschließliche Besitzrecht auf alle seine Sammlungen. Sein Vater war lange gegen diese abenteuerliche Reise. Er befürchtete, sein Sohn würde nach der Rückkehr der geistlichen Laufbahn entsagen, wie er schon der Medizin entsagt hatte. Die Ereignisse rechtfertigten Seine Befürchtungen. Erst zehn Jahre nach seinem Tode, 1849, erschien das berühmte Werk, das den Sohn mit einem Schlage in die erste Reihe der große Naturforscher des Jahrhunderts rückte. Trotzdem konnte sich
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R o b e r t D a r w i n überzeugen, daß der Sohn die selbstgewählte Laufbahn, ohne daß ihm die Seereise geschadet hätte, mit Erfolg beschritt. Die fünfjährige Reise, die er am 27. Dezember 1831 an Bord des Beagle antrat, bestimmte die Geistesrichtung des jungen Gelehrten endgültig und verschaffte ihm einen großen Teil des reichhaltigen naturgeschichtlichen Materials, das er in seinen meisten Werken herangezogen hat. Bemerkenswert ist, mit wie leichtem wissenschaftlichem Gepäck D a r w i n diese Reise antrat, auf der er eine solche Fülle von Beobachtungen und Entdeckungen auf mehreren Gebieten der beschreibenden Naturwissenschaften gemacht hat. In einem Briefwechsel mit Professor P r e y e r zieht er selbst die Summe seiner damaligen Kenntnisse. Der Ton des aus dem Jahre 1870 stammenden Briefes ist charakteristisch. „Ich weiß von mir nichts Interessantes zu berichten; aber weil Sie es wünschen, will ich, was mir gerade in den Sinn kommt, zu Papier bringen. In Edinburg habe ich nichts gelernt; die Unterrichtsstunden waren von solcher Armut, daß sie mir in den drei Jahren alle Lust an der Geologie verdorben haben. Doktor G r a n t war kein Lehrer und arbeitete für sich, aber seine Gesellschaft hatte für mich großen Reiz. . . . Die Anatomie stieß mich derartig ab, daß ich ihr nur drei Stunden beigewohnt habe; das hat mir später sehr geschadet. Als ich nach Cambridge kam, sammelte ich leidenschaftlich Käfer, aber nur zum Vergnügen. Wenn man mir den Namen irgend eines Käfers genannt hatte, glaubte ich alles zu wissen und kam nie auf den Gedanken, mir seinen Bau näher anzusehen. . . . Von allen Büchern haben H u m b o l d t s Reisen den größten Einfluß auf mich ausgeübt. . . . Ich glaube, niemand hat eine solche Reise mit weniger Kenntnissen ausgerüstet unternommen; denn ich war nur ein einfacher Sammler. Ich hatte keinen Begriff von Anatomie und niemals einen systematischen Leitfaden der Zoologie gelesen. Ich hatte noch nie ein Mikroskop angerührt und mich erst einige Monate, ehe ich abreiste, mit Geologie beschäftigt. Eine ungeheure Menge von Büchern begleitete mich, und ich arbeitete an Bord sehr viel; ich zeichnete besonders eine große Zahl niederer Meerestiere. Aber der vollständige Mangel an Kenntnissen hinderte mich stark. Erst auf dem Beagle habe ich wirklich zu lernen begonnen. . . . Die Leidenschaft, die verschiedensten Dinge zu sammeln, hat wohl in mir die Beobachtungsgabe entwickelt. . . . Ich habe noch niemals so viel über mein
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eigenes Leben geschrieben, aber ich hoffe, daß es Sie interessieren wird." An anderer Stelle sagt D a r w i n , daß ihn die Jagdleidenschaft in jungen Jahren sehr träge gemacht hätte. § 5.
Die Psychologie D a r w i n s während seiner Reise um die Welt.
Über ein halbes Jahrhundert vor D a r w i n war die evolutionistische Lehre von anderen, besonders von seinem Großvater E r a s m u s und von L a m a r c k behandelt und entwickelt worden. Wenn er trotzdem als ihr Begründer gilt, so dankt er dies fast ausschließlich seiner Weltumseglung an Bord des Beagle. Während seine Vorläufer Stubengelehrte waren, die über die Welt spekulierten, ohne sie gesehen zu haben, so sah D a r w i n mit eigenen Augen einen großen Teil des Erdballes und seiner Bewohner. Die Flora und Fauna des Nordens, diese armerr, elenden Überbleibsel der Eisfelder, die unsere Zone bedeckt haben, bieten uns lebende Beispiele einer ziemlich dürftigen organischen Welt; sie ist nichts im Vergleich zu der reichen, üppig wuchernden Tropennatur, die uns ein Bild davon gibt, wie die Erde vor dem Erscheinen des Menschen aussah. So ist das Studium der Tropen für den Naturforscher von größter Wichtigkeit, besonders wenn er die Geschichte des organischen Lebens auf unserem Planeten ergründen will. In dieser Hinsicht war die Reise des Beagle für D a r w i n äußerst günstig. Dieses Schiff kreuzte Gegenden an, die den scharfsichtigen Beobachter notwendig zur Lösung der mannigfachsten botanischen, zoologischen und geologischen Fragen anregen mußten. Kap Verde und die anderen Inseln des Atlantischen Ozeans boten ihm Tier- und Pflanzenproben, die von Stürmen und submarinen Strömungen auf die nackten Klippen geworfen waren. In Brasilien lernte er die üppige Mannigfaltigkeit der Tropenflora kennen, in den südamerikanischen Pampas sah er die großartigen Reste ausgestorbener Arten, die geologischen Ahnen der Faultiere und Gürteltiere, die diese Wüstenlandstriche noch heute bewohnen. Im Polarklima Feuerlands traf er die niedersten Menschenrassen; die Anden und Kordilleren zeigten ihm ihre Vulkane. Australien, dieser Überrest einer untergegangenen Welt, enthüllte ihm seine archaische Tierwelt, die ein Bild der europäischen Fauna in grauer Vorzeit gibt. Dieses ganze mannigfache Panorama, das an seinem geistigen Auge vor-
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überzog, hatte D a r w i n die Mangelhaftigkeit seines Universitätsstudiums bald hundertfach ersetzt. Der Zweck dieses Buches erlaubt es nicht, bei den einzelnen Etappen der Reise zu verweilen und auf D a r w i n s Beobachtungen ausführlicher einzugehen. Die auf ihr gewonnenen, reichhaltigen Sammlungen wurden unter seiner Aufsicht von fünf berühmten Zoologen geordnet: P. O w e n (fossile Säugetiere), W a t e r h o u s e (lebende Säugetiere), G o u l d (Vögel), B e l l (Reptilien), J e n y n s (Fische). Außerdem veröffentlichte D a r w i n 1839 sein Reisetagebuch, auf das sich auch zahlreiche, in späteren Werken enthaltene Mitteilungen beziehen. Alles dies beweist, daß er während jener fünf Jahre eine staunenswerte Tätigkeit entfaltet hat. Die Seekrankheit stellte ihn auf manche harte Probe. Admiral S t o k e s , der an Bord den Arbeitstisch mit ihm teilte, bezeugt, daß D a r w i n , um dem Übel zu entgehen, die Arbeit von Stunde zu Stunde unterbrechen und eine Zeitlang wagerecht liegen mußte. Bis dahin hatte sich D a r w i n einer robusten Konstitution erfreut. Der Seegang, die oft schlechte Nahrung, der Aufenthalt in ungesunden Gegenden griffen seine Gesundheit derartig an, daß er die Folgen der Seereise sein Leben lang spürte. Wir können D a r w i n s zahlreiche Arbeiten aus diesen fünf Jahren nicht einmal in kurzen Zügen streifen. Doch wollen wir wenigstens einige Beispiele anführen, die für seine Arbeitsmethode und die Eigenart seiner Beobachtungsweise kennzeichnend sind. Bei der Lektüre seines Reisetagebuches trifft man nicht selten auf Stellen, aus denen klar hervorgeht, daß ihm die evolutionistischen Theorien schon damals geläufig waren. Er vermeidet aber alle allgemeinen Schlüsse und hält sich genau an die Feststellung der Tatsachen. Noch ehe der Beagle Kap Verde, seine erste Station, erreicht hatte, war es D a r w i n bereits gelungen, im Staub des Verdecks siebenundsechzig verschiedene organische Formen zu entdecken, die der südamerikanischen Fauna angehörten. „Ich sammelte in diesem Staub Steinchen von einem tausendstel Quadratzoll Größe. Kann man sich hiernach wundern, daß er zahllose Sporen der viel leichteren Kryptogamen enthielt?" In der Nähe der Sankt-Pauls-Klippen sieht er eine Gruppe vulkanischer Gipfel aus dem Atlantischen Ozean auftauchen, und sofort bemerkt er, daß Spinnen und Parasiten die ersten Bewohner
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neuentstandener Inseln sind. Die Frage nach der Bevölkerung neuer Inseln, die mit der Frage nach der Entwicklung neuer Arten so eng verknüpft ist, beschäftigt den jungen Gelehrten fortgesetzt. Die Flora und Fauna der Galapagos-Inseln, die aus zufällig von benachbarten Küsten herbeigeführten Individuen hervorgegangen war, machte ihm tiefen Eindruck. Am 28. Februar 1832 warf der Beagle bei Bahia Anker, und D a r w i n machte seine erste Bekanntschaft mit der tropischen Vegetation. „Entzücken ist ein viel zu schwacher Ausdruck für die Gefühle, die einen Naturforscher beim ersten Spaziergang im brasilianischen Walde erfüllen," schreibt er. „Der leichte Schwung der Gräser, die Neuheit der Schmarotzerpflanzen, die Schönheit der Blumen und das glänzende Grün des Laubes, vor allem aber die allgemeine Üppigkeit der Vegetation entzückten und verblüfften mich zugleich." Er sammelte dort hauptsächlich Insekten und richtete sein Studium besonders auf die verschiedenen, von den Männchen angewandten Verführungsmittel. Seine Theorie von der geschlechtlichen Auslese fußt großenteils auf diesen Beobachtungen. Er schreibt: «Wenn zwei augenscheinlich geschlechtsverschiedene Schmetterlinge neben mir herflatterten und einander verfolgten, so vernahm ich mehrmals deutlich einen leichten rauhen Ton, ähnlich dem eines kreisenden Zahnrades, das eine Feder berührt." In Uruguay verwunderte ihn das Fehlen von Bäumen in einem feuchten tropischen Klima. Er stellte sich die Frage, wie diese seltsame Erscheinung zu erklären sei. Dort sah er auch zum erstenmal den Tucutuco, ein Nagetier, das die gleiche Lebensweise wie der Maulwurf führt und ebenfalls blind ist. »Die Blindheit kann für dieses Tier, das unter der Erde lebt, kein großer Schade sein," schreibt er; »aber allgemein gesprochen ist es merkwürdig, daß ein Tier ein so oft krankes Organ besitzt. L a m a r c k wäre glücklich gewesen, wenn er diese Tatsache gekannt hätte, denn er schloß (wahrscheinlich mit mehr Recht als gewöhnlich) auf eine stufenweise Erblindung des Aspalax, eines unterirdischen Nagetiers, und des Proteus, eines in Wasserhöhlen lebenden Reptils. Beide Tiere haben rudimentäre Augen, die mit einer Haut bedeckt sind. Das Auge des gewöhnlichen Maulwurfes ist sehr klein, aber unverändert, obgleich manche Naturforscher seinen Zusammenhang mit dem Sehnerv bezweifeln. Sein Sehvermögen ist wahrscheinlich begrenzt, doch dient es dem Maulwurf augenscheinlich beim Verlassen des Baues. Beim Tucu-
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tuco, der seine unterirdische Behausung vermutlich nie verläßt, ist das Auge größer, aber häufig blind und untauglich, ohne daß dadurch dem Tiere ein Schaden zu erwachsen scheint. Zweifellos würde L a m a r c k gesagt haben, der Tucutuco befinde sich auf dem Wege zu dem Zustande des Aspallax und des Proteus." Diese Stelle ist sehr interessant. Einmal zeigt sie D a r w i n s frühe Kenntnis der L a m a r c k s c h e n Werke, und zweitens, daß er L a m a r c k s Theorien ablehnte; außerdem kennzeichnet sie D a r w i n s Denkverfahren. Keine, und sei es die armseligste und unbedeutendste Tatsache, entgeht diesem scharfen Beobachter. Er sucht sofort den G r u n d , besser gesagt den Sinn jeder ihm auffallenden Naturerscheinung. H i e r z e i g t s i c h b e r e i t s d i e t e l e o l o g i s c h e , v o n seinen A n h ä n g e r n h e f t i g a b g e s t r i t t e n e T e n d e n z , die, wie wir w i e d e r h o l t sehen werden, seinem Denken e i g e n t ü m lich war u n d b e s o n d e r s bei d e r F o r m u l i e r u n g d e r L e h r e von der natürlichen Zuchtwahl hervortritt. Darwin sucht vor allem immer den Zweck der beobachteten Ers c h e i n u n g . Er fragt sich nicht, was die U r s a c h e der Blindheit des Tucutuco sei, was seine Augenkrankheit hervorrufe, sondern w a r u m das Tier ein häufig erkranktes Organ besitzt. Die naive Schreibweise D a r w i n s setzt diese charakteristische Denkweise in das rechte Licht. Er schreibt ebenso spontan, wie er denkt, und sucht nicht erst nach Wendungen, durch die er seine Gedanken mit dieser oder jener Lehre in Einklang bringen könnte. Viele seiner Einzelbeobachtungen erscheinen, für sich allein genommen, dem Leser unwesentlich und ernsthafter Betrachtung unwert. Aber durch die Zusammenstellung und Ineinanderfügung aller dieser Kleinigkeiten entsteht schließlich doch eine Reihe von Beweisen. zugunsten seiner Vermutungen und Hypothesen. Lesen wir alle diese oft ermüdenden Einzelheiten seines Tagebuches, so bekommen wir einen Begriff von den psychologischen Vorgängen, die ihn allmählich, fast unmerklich und sehr langsam zu den Ansichten geführt haben, die er erst dreißig Jahre später formulieren sollte. Die in der »Entstehung der Arten« angewandte Beweisführung hat den Eindruck seiner Theorien bedeutend verstärkt. Das Werk ist so eintönig geschrieben, daß dies selbst die begeistertsten Anhänger D a r w i n s offen zugestehen. Wir sind überzeugt, daß er diesem ermüdenden Stil den größten Teil seiner Überzeugungskraft auf die
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Laien verdankt. Sie merken D a r w i n s Ehrlichkeit und sind betroffen von der außerordentlichen Vorsicht seiner Schlußfolgerungen und von der noch größeren Geduld, mit der er ganze Kapitel lang unscheinbare Tatsachen zur Unterstützung seiner Lehre aufzählt. Sie mißtrauen dem Verfasser nicht; bei glänzenderer Darstellung und leidenschaftlicherer Beweisführung würden .sie auf der Hut sein und sich die Mühe nehmen, alle aufgeführten Beobachtungen kritisch zu sichten. Aber die meisten Leser der „Entstehung der Arten« sind von der fraglos langweiligen Lektüre so ermüdet, daß sie, von der Ehrlichkeit des Verfassers völlig überzeugt, neun Zehntel des Buches überschlagen und nicht zögern, seine Gedanken als Glaubenssätze anzunehmen. Der aufmerksame Leser widersteht dem ersten Eindruck besser. Er stellt dieselben Beobachtungen weniger systematisch zusammen, unterwirft die meisten Beweise seiner persönlichen, unparteiischen Prüfung und unterliegt dadurch nicht so leicht den Verführungen dieses vollkommen aufrichtigen Geistes. Selbst wenn ihm die Lektüre des Buches eine hohe Achtung vor dem Verfasser abnötigt, bleibt er seiner Lehre gegenüber häufig recht skeptisch. In D a r w i n s Reisetagebuch findet man häufig, daß die gleiche Tatsache, in anderem Sinne geprüft, zu einer entgegengesetzten Erklärung führen muß. Wir greifen das erste beste Beispiel heraus, es ist zwar nicht das bezeichnendste, aber durch seine Einfachheit schlagend. In Patagonien fand D a r w i n zahlreiche Überreste ausgestorbener Tiere, deren noch lebende Verwandte jetzt in Mittelamerika vorkommen, im Vergleich zu den riesigen von D a r w i n entdeckten Fossilien jedoch wahre Zwerge sind. Unser erster Gedanke wäre wohl der, daß diese Tatsache gegen die Evolution durch natürliche Auslese spricht, insofern nach dieser Theorie nur die vollkommensten, für den Kampf ums Dasein am besten ausgerüsteten Individuen die Zeiten überdauern. D a r w i n jedoch sah hierin, obgleich er damals noch über L a m a r c k spottete, einen Beleg dafür, daß die lebenden Arten von ausgestorbenen abstammen. Aber selbst da, wo spätere Naturforscher D a r w i n s Lehren widerlegt haben, behalten die von ihm gesammelten Tatsachen und aufgezeichheten Beobachtungen ihren Wert, und sein Verdienst als Beobachter dauert fort. So machte er während derselben Reise auf Tahiti und anderen Inseln im Stillen Ozean eine Menge höchst bedeutender Beobachtungen über Korallenriffe, die er in seinem 1842 E. v. C y o n ,
Gott und Wissenschaft.
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veröffentlichten Werk »The Structure and Distribution of Coralrifs" verwertet hat. Seine Riffentstehungstheorie ist seitdem durch J o h n M u r r a y s Forschungen an Bord des Challenger und später durch A r c h i b a l d Q e i k i e s vollkommen umgestoßen worden. Trotzdem behalten D a r w i n s Beobachtungen ihren Wert, und sein Oegner G e i k i e selbst hat vor vierzig Jahren gesagt: »Ein bewundernswerteres Beispiel wissenschaftlicher Methode wurde der Welt nie gegeben; und hätte D a r w i n nichts anderes geschrieben, so würde diese Abhandlung genügen, um ihn in die erste Reihe aller Naturforscher zu versetzen." Zur Psychologie der späteren Lehren D a r w i n s müssen wir seine Beobachtungen auf den Galapagosinseln als besonders lehrreich heranziehen. Wie schon gesagt, besitzen diese vulkanischen Inseln, die nie mit einem Festland verbunden waren, eine sehr merkwürdige Fauna, die D a r w i n von selbst zur Beschäftigung mit der Entstehung der Arten führte. Außer der Maus, die wohl von irgend einem Schiff eingeschleppt worden ist, fand er dort weder Säugetiere noch Frösche. Nur Schlangen, Schildkröten und Ejdechsen kommen auf jenem Boden vor. Doch konnte D a r w i n fünfundzwanzig verschiedene Vogelarten zählen. Seine Erwägungen über diese Tatsachen lauten folgendermaßen: ¿Die meisten organischen Wesen (auf den Galapagosinseln) sind Urgeschöpfe, die sich nirgends wo anders finden; es besteht sogar ein Unterschied zwischen den Bewohnern der verschiedenen Inseln; doch alle zeigen eine verschiedene Verwandtschaft mit amerikanischen Arten, obgleich dieser Kontinent durch eine offene Meeresfläche getrennt und 500 bis 600 Meilen entfernt i s t . . . Bei der Kleinheit dieser Inseln muß man um so mehr staunen über die Zahl ihrer Urwesen und über ihre beschränkte Verbreitung. Wenn man sieht, daß jeder Hügel durch einen Krater gekrönt ist, und die Grenzen der meisten Lavaströme zu unterscheiden vermag, so kommen wir zu dem Glauben, daß sich hier innerhalb einer geologisch neueren Periode noch das Meer ununterbrochen ausgebreitet hat. Wir scheinen daher sowohl in bezug auf Raum wie Zeit jenem großen Ereignis — dem Geheimnis aller Geheimnisse — dem ersten Erscheinen neuer Wesen auf dieser Erde, hier etwas näher zu'kommen... Man erstaunt über die Intensität der Schöpferkraft, wenn man so sagen darf, die sich auf diesen kleinen unfruchtbaren und felsigen Inseln offenbart, man erstaunt noch mehr über ihre ver-
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schiedenartige gleiche Wirkung an so nahe beieinander liegenden Punkten.« Zweifellos kannte D a r w i n zu jener Zeit bereits L a m a r c k s Theorien. Nichtsdestoweniger stand er beim Erwägen von Fragen, die ihn allmählich zu evolutionistischen Schlüssen geführt haben, dieser Lehre ablehnend gegenüber und zauderte nicht, von S c h ö p f e r k r a f t zu sprechen, um sich auffällige Erscheinungen zu erklären. Augenscheinlich war er noch weit entfernt von den Ansichten, die er dreißig Jahre später durch dieselben Naturerscheinungen begründete. Da D a r w i n durchaus keinen Hang zu Metaphysik hatte, so konnte er allgemeine Schlüsse nur durch langsame, schrittweise Induktion gewinnen. Die Tatsachen und Beobachtungen mußten seinen Verstand gleichsam zu Schlußfolgerungen zwingen. Aus den folgenden Zeilen, die er mit fünfzig Jahren schrieb, erhellt diese Geistesveranlagung am deutlichsten. Sie stehen in der Einleitung zur ,Entstehung der Arten'. »Mir fiel nach meiner Rückkehr im Jahre 1832 ein, ob man bei der Betrachtung dieser Frage nicht weiter kommen könnte, wenn man alle in Bezug zu ihrer Lösung stehenden Beobachtungen zusammentrüge. Nachdem ich dies fünf Jahre lang getan, glaubte ich eingehender über die Sache nachdenken zu dürfen und schrieb nun einige kurze Bemerkungen darüber nieder; diese führte ich im Jahre 1844 weiter aus und fügte der Skizze die Schlußfolgerungen hinzu, welche sich mir als wahrscheinlich ergaben. Von dieser Zeit an bis jetzt bin ich mit beharrlicher Verfolgung des Gegenstandes beschäftigt gewesen. Ich hoffe, daß man die Anführung dieser auf meine Person bezüglichen Einzelheiten entschuldigen wird: sie sollen zeigen, daß ich nicht übereilt zu einem Abschlüsse gelangt bin." Im Gegensatz zu den ersten Evolutionisten, E r a s m u s D a r w i n und L a m a r c k , welche die Entwicklungstheorie mit Hilfe kühner und teils metaphysischer Beweise aufgebaut hatten, stellte C h a r l e s D a r w i n anfangs eine bis zur Ängstlichkeit vorsichtige Methode in den Dienst seiner Ideen. Seine Beweisführung stützte sich auf Tatsachen. Zweifellos waren diese Tatsachen nicht sehr beweiskräftig; aber die Schlußfolgerungen, durch die er sie zu Beweisen zu stempeln suchte, waren derart einfach, ja häufig so naiv, daß man ihnen Glauben schenkte, ohne ihre Schwäche zu betonen. 3*
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§ 6. Die Psychologie des Verfassers der „Entstehung der Arten". Am 2. Oktober 1836 landete D a r w i n in Falmouth, um sein Vaterland nicht wieder zu verlassen. Kurz nach seiner Rückkehr kam er auf den glücklichen Oedanken, mit dem berühmten Geologen C h a r l e s Lyell in Verbindung zu treten. Dieser Umstand ist auf sein ganzes späteres Leben offenbar von entscheidendem Einfluß gewesen. Unter anderen Briefen, die L y e l l an den jungen Naturforscher schrieb, ist eine Antwort L y e l l s auf einen Aufsatz, den ihm D a r w i n geschickt hatte, besonders bezeichnend. »Wenn Sie es vermeiden können, so nehmen Sie ja keine offizielle wissenschaftliche Stellung an, und sagen Sie Niemanden, daß ich Ihnen diesen Rat gegeben habe, sonst wird man mich des Antipatriotismus anklagen. Ich habe, soviel ich nur konnte, gegen die Annahme der Präsidentschaft der Geologischen Oesellschaft gekämpft. Alles ist gut vorübergegangen, und ich habe nicht mehr Zeit verloren, als ich glaubte, aber ich zweifle, daß die Zeit, die -man in wissenschaftlichen Gesellschaften (durch die Verwaltungsgeschäfte) verschleudert, durch irgend einen Vorteil wieder wett gemacht wird. Was für eine Torheit, den H e r s c h e l des Kaps der guten Hoffnung zu einem Präsidenten H e r s c h e l der Königlichen Gesellschaft machen zu woljen! Er ist dem mit knapper Not entgangen! Und nun gar noch sagen zu müssen, daß ich für ihn gestimmt habe! Ich hoffe, es wird mir verziehen werden! Kurz und gut, arbeiten Sie wie ich lange Jahre, und nehmen Sie nicht vor der Zeit die Ehre und die Last öffentlicher Auszeichnungen entgegen. Es gibt Leute, die zu solchen Beschäftigungen wie geschaffen sind, weil sie zu keinen anderen befähigt sind." D a r w i n konnte L y e l l s Rat in die Tat umsetzen, da er, wie mehrere andere große englische Gelehrte, ein schönes Vermögen besaß. Nach England zurückgekehrt, begann er mit der Ordnung seiner Sammlungen und veröffentlichte außer seiner Reisebeschreibung ein wichtiges Werk über die an Bord des Beagle gemachten zoologischen Erwerbungen, wobei ihm die weiter oben genannten Gelehrten behilflich waren. Wir haben den Stand der evoliitionistischen Theorien zu Beginn des 19. Jahrhunderts in großen Zügen angedeutet. Der Leser hat daraus ersehen, daß D a r w i n diese Theorien, zum mindesten
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die von Lamarc'k, zwar kannte und bei seiner Reise auf Schritt und Tritt Naturerscheinungen antraf, die zu einer Anwendung dieser Lehren geradezu herausforderten, aber trotzdem der neuen Anschauung von der Entstehung der organischen Welt nie beitrat. Er begnügte sich damit, Fragen aufzuwerfen und seine Beobachtungen im Tagebuch genau zu verzeichnen; doch vermied er alles, was einer Antwort ähnlich sehen konnte. L a m a r c k s Ansichten streifte er nicht ohne Ironie und nur im Vorübergehen. Das Wort »Evolution« findet sich nirgends in seinem Werke; dagegen verschmähte er das Wort «Schöpfung" durchaus nicht. Neigte er damals zu einer der beiden Ansichten über die Entstehung des organischen Lebens, so war es sicherlich die C u v i e r s . Als er nach seiner Heimkehr daranging, das auf der Reise gesammelte Material zu ordnen und zu bearbeiten, schlugen seine Gedanken eine ganz andere Richtung ein. Nach D a r w i n s eigenen Worten vollzog sich diese Umwandlung höchst langsam. Welche Einflüsse riefen sie hervor? Darüber hat er selbst sich kaum Rechenschaft abgelegt; denn er liebte es nicht, sein Ich zu analysieren. Seine große Bescheidenheit ließ ihm die auf seine Person verwendete Zeit als verloren erscheinen. Er schaffte gewöhnlich lieber Beweise für seine Lehre herbei, als daß er seine Urheberrechte geltend machte. Trotzdem mußte er, um die Neugierde seiner Bewunderer zu befriedigen, mitunter Aufschlüsse über sich selbst geben; dahin gehört der angeführte Brief an P r e y e r . Als er in einem ähnlichen Falle an H a e c k e l schrieb, erzählte er, daß ihm der erste Gedanke der natürlichen Auslese bei der Lektüre des 1798 erschienenen »Essay on the Principles of Population" von M a l t h u s gekommen sei. M a l t h u s starb ein Jahr vor D a r w i n s Rückkehr, sodaß die Aufmerksamkeit des jungen Gelehrten wahrscheinlich durch einen Nachruf auf das Hauptwerk des berühmten Nationalökonomen gelenkt wurde. Vertrauliche Unterhaltungen mit ausgezeichneten Naturforschern, L y e l l , H o o k e r und anderen haben in D a r w i n s Geist sicher tiefe Spuren hinterlassen. Der Einfluß L y e l l s , des Schöpfers der modernen Geologie, der den Glauben an periodische Katastrophen aus der Wissenschaft verbannte und an deren Stelle die Lehre von der langsamen Umbildung der Erdrinde setzte, war gewiß groß. Wie dem auch sein mag, D a r w i n s erste Aufzeichnungen über seine Auffassung von der Entstehung der Arten stammen aus dem
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Jahre 1839; aber erst 1844 hielt er diese Arbeit für reif genug, sie seinem Freunde L y e l l zu zeigen. Ihre Grundzüge sind diese. M a l t h u s hatte seine Wirtschaftslehre auf den folgenden Satz gegründet: Die Bevölkerung vermehrt sich rascher als die zu ihrem Unterhalt nötigen Lebensmittel; deshalb entsteht unter den Menschen ein Kampf ums Dasein, in dem die am besten Ausgerüsteten siegen. D a r w i n übertrug diesen Satz von der menschlichen Gesellschaft auf das Tier- und Pflanzenreich. Indem er dieses Prinzip auf die Entwicklung der Arten anwandte, erfand er das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl, das heißt das Aussterben der für den Kampf ums Dasein schlecht geeigneten Arten und die Entwicklung der besser vorbereiteten. Ebenso wie der Mensch mit Hilfe der k ü n s t l i c h e n A u s l e s e gewisse Tier-, und Pflanzen-Varietäten züchtet, gewinnt die Natur neue Formen durch die n a t ü r l i c h e Z u c h t w a h l . D a r w i n s erste, an H o o k e r gerichtete Aufzeichnung über die natürliche Zuchtwahl wurde nicht publiziert, was für die späteren Erfolge des Darwinismus vielleicht von Vorteil war. In ihrer damaligen Form, ohne die zahlreichen späteren Beweismittel, wäre D a r w i n s Hypothese wahrscheinlich ebenso unbemerkt geblieben, wie die ähnlichen Hypothesen seiner Vorläufer. So hatten W e l l s und P a t r i c k M a t h e w im Jahre 1815 Denkschriften über die natürliche Zuchtwahl an die Royal Society eingereicht. Die evolutionistische Theorie gewann aber auch 'dann noch keinen Boden, als sie durch verschiedene wissenschaftliche oder rein metaphysische Abhandlungen öffentlich verfochten wurde. Von 1846 bis 1849 erschien eine ganze Reihe bemerkenswerter Arbeiten, die dem gleichen Gedankenkreis angehörten, aber keinen Widerhall fanden. Wir führen nur die Werke der Paläontologen U n g e r und d e H a i l o y , des Morphologen C a r u s , der Botaniker N a u d i n und L e c o q und endlich des berühmten Philosophen H e r b e r t S p e n c e r an. jedenfalls übten zwei in jener Zeit erschienene Bücher einen großen Einfluß auf D a r w i n s Arbeiten aus. Sie beschleunigten die Veröffentlichung seiner eigenen Forschungen, weil sie ihm bewiesen, daß der Boden der gelehrten Welt zur Aufnahme der neuen Theorien genügend , vorbereitet war. Im Jahre 1844 erschien in Edinburgein anonymes Werk: »Vestiges of the Natural History of Creation," das Aufsehen erregte und bald zu hohen Auflagen gelangte. Man schrieb es später dem R o b e r t C h a m b e r s , einem der Herausgeber der »Edingburgh Review" zu.
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Es war eigentlich ein Versuch, L a m a r c k s Lehren der religiösen Überlieferung anzupassen. Die Evolution der Arten wird darin dem Schöpfer zugeschrieben. Auf seinen Antrieb vervollkommnen sich die niederen Formen dank ihrer eingeborenen Lebenskraft, die ihnen erlaubt, sich den äußeren Umständen anzupassen und ihren Bau je nach Klima, Umgebung und meteorologischen Einflüssen zu verändern. Das Buch dankte seinen ungeheuren Erfolg zunächst seiner glänzenden literarischen Form, sodann aber auch dem Versuche, zwei als unvereinbar geltende Weltentstehungslehren in Einklang zu setzen. Diese Veröffentlichung bestimmte D a r w i n , seine ersten Aufzeichnungen über die natürliche Zuchtwahl H o o k e r und einigen vertrauten Freunden vorzulesen. Entscheidender und einschneidender war das zweite Buch, dessen Verfasser der bedeutende Naturforscher A l f r e d R ü s s e l W a l l a c e war. Dieser junge Gelehrte hatte 1847 mit seinem Freunde B a t e s eine Tropenreise unternommen, „um Tatsachen zur Lösung der Abstammungsfrage zu sammeln.« W a l l a c e machte auf dieser Reise viele schöne Beobachtungen über die Verbreitung der Tiere und Pflanzen. Seine reiche, unerschöpfliche Einbildungskraft suchte die geographische Verteilung der organischen Lebewesen mit verschiedenen Veränderungen in der Gestaltung der Kontinente, mit der Lostrennung von Inseln und ähnlichen geologischen Ereignissen zu erklären. Währenddessen veröffentlichte D a r w i n Beobachtungen über lebende Tier- und Pflanzenformen und wandte Jahre an die Erforschung kleiner Spezialfragen. (So untersuchte er, wieviel Tage Getreide im Meerwasser keimfähig bleibt.) Gleich W a l l a c e wollte er ergründen, wie die Pflanzen vom Festland auf die Inseln gekommen sind. Bei der Kühnheit des W a l l a c e s c h e n Denkens ist es begreiflich, daß er den einmal gesetzten Begriff der natürlichen Zuchtwahl festhielt und in jahrelanger Arbeit alle nur möglichen Beweise dafür zusammenbrachte. Zunächst legte er sie in einem glänzenden Aufsatz nieder, den er von der Insel Fernat an seinen Freund D a r w i n sandte, damit dieser ihn Lyell vorläse. Das war im Februar 1858, zu einer Zeit, wo D a r w i n noch keine seiner eigenen Ansichten über den Ursprung der Arten veröffentlicht hatte. Hinzugefügt sei noch, daß W a l l a c e nach seinen eigenen Worten die Idee von der natürlichen Zuchtwahl im Fieberdelirium faßte und sich nach seiner Genesung beeilte, sie schriftlich zu
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formulieren. Wie D a r w i n hatte auch W a l l a c e M a l t h u s gelesen und kannte dessen Satz vom Kampf ums Dasein. Der an D a r w i n gesandte Aufsatz hieß: »On the Tendency of Varieties to depart infinitively from the original Type"; die Lehre von der natürlichen Auslese war darin sehr weitläufig und vollständig entwickelt. Er gab das Manuskript mit der Bitte um Veröffentlichung sofort an Lyell und ließ seinem Freunde damit die Ehre der Priorität. Doch Lyell und H o o k e r wollten zu einem solchen Akt der Selbstverleugnung nicht die Hand bieten, und so sandten sie unter Voraussetzung von W a l l a c e s Einwilligung am 30. Juli 1858 an den Sekretär der Linnean Society in London eine Erklärung, wonach beide Forscher gleichzeitig und völlig unabhängig von einander dieselben Schlüsse über die Entstehung der Arten gezogen hätten. Diesem Briefe fügten sie bei 1. die 1839 geschriebene und 1844 H o o k e r vorgelesene Aufzeichnung D a r w i n s ; 2. einen Brief D a r w i n s vom Oktober 1857 an den berühmten amerikanischen Naturforscher A. de G r e y , worin die ganze Theorie von der natürlichen Zuchtwahl ausführlich dargestellt war, und 3. den Aufsatz von W a l l a c e . Alle diese Dokumente wurden sofort in Druck gegeben und damit die Rechte beider Naturforscher gewahrt. W a l l a c e selbst wertet die Verdienste seines Nebenbuhlers in folgender Weise: »Ich habe mich mein Leben lang aufrichtig gefreut und freue mich noch, daß sich D a r w i n vor mir ans Werk begeben hat, und daß es ihm beschieden war, die «Entstehung der Arten« zu schreiben. Seit langer Zeit habe ich meine Kräfte gemessen und ich weiß, daß sie zu einer solchen Aufgabe nicht hingereicht hätten. Viel fähigere Männer als ich haben zugegeben, daß sie weder die unermüdliche Sammlergeduld besitzen, noch das wunderbare Talent, die verschiedensten Tatsachen auszunutzen, noch die ausgebreiteten und kostbaren physiologischen Kenntnisse, noch den Geist, um Experimente zu erfinden, und das Geschick, sie auszuführen, noch den wunderbaren Stil, der bei aller Klarheit und Überzeugungskraft streng kritisch bleibt, mit einem Wort die ganze harmonische Vereinigung von Eigenschaften, die D a r w i n *vor allen Zeitgenossen befähigten, das große Werk zu unternehmen und zu vollenden." Diese Zeilen stehen in der Vorrede der »Beiträge zur Theorie der natürlichen Zuchtwahl«, die W a l l a c e im Jahre 1870 veröffentlichte, als zwischen den beiden Schöpfern der Lehre schon
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eine tiefgehende Meinungsverschiedenheit über ihre Anwendbarkeit auf den Menschen bestand. Nachdem W a l l a c e , wie bekannt, Spiritualist geworden war, unterließ er nichts, um den fanatischen Eifer seiner Anhänger zu dämpfen. D a r w i n dagegen ließ sich durch die leidenschaftlichen und oft gehässigen Angriffe seiner Gegner zum äußersten treiben und ging, von der rasenden Begeisterung mehrerer seiner deutschen Schüler fortgerissen, in seinen Schlüssen viel weiter, als er sich anfänglich vorgenommen hatte. Wie wir bereits betonten, war D a r w i n durchaus kein tiefer philosophischer Geist. Sein schlichter, gerader Verstand schien für die bloß beschreibenden Wissenschaften wie geschaffen. Jede Deduktion war ihm peinlich, ja stieß ihn ab; er verwirrte sich und verließ den unsicheren Boden so rasch wie möglich. Leider besaßen seine unternehmungslustigen Schüler kein so feines Gewissen. Sie stürzten sich kopfüber in den Strudel deduktiver Schlüsse und ersetzten methodische Genauigkeit und Gedankenstrenge durch Aposteleifer. Umsonst versuchte D a r w i n mehrfach, dieser zügellosen Spekulation Einhalt zu tun. Für ein energisches Veto war er zu sanft und zu hochherzig. Und so führte ihn denn seine Güte viel weiter, als es den Anhängern und der Lehre selbst zuträglich war. Wäre der Darwinimus auf der Höhe seines Triumphes bescheidener geblieben, so wären seine Lücken von wissenschaftlichen Kritikern nachsichtiger behandelt worden. D a r w i n s Zurückhaltung vor der unglückseligen Veröffentlichung seiner »Abstammung des Menschen", der Zauber seiner Persönlichkeit und die Aufrichtigkeit seiner Überzeugungen hatten anfangs viele Gelehrte entwaffnet. Der erste Versuch zu einer mechanischen Erklärung der Abstammung der Arten war von den Naturforschern wohlwollend aufgenommen worden. Gegenüber dem Fanatismus und den Übertreibungen der neuen Schule jedoch mußte sie ihre Stellung ändern. So kam es, daß der Darwinismus allerlei Gegenschläge empfing, die eigentlich nur für H a e c k e l und seinesgleichen bestimmt waren. Wir wollen bei der Psychologie D a r w i n s zurZeit der Veröffentlichung der »Entstehung der Arten« Halt machen. De mortuis aut nihil aut bene. . . . D a r w i n s Persönlichkeit verdient die Anwendung dieser Regel im höchsten Maße. Wir haben seiner hervorragenden Beobachtungsgabe, seinem unermüdlichen, ehrlichen Forscherdrang, seiner auch bei den größten Irrtümern unbestreitbaren Redlichkeit
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und seiner gewaltigen Anregung, die fast alle Zweige der Botanik und vergleichenden Anatomie befruchtete, volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Von seinen Erstlingswerken haben wir all das Gute gesagt, das sie wegen ihrer zahlreichen Entdeckungen verdienen. Uber seine n Abstammung des Menschen« dagegen wollen wir schweigen. . . . Wer die vorstehenden Seiten aufmerksam gelesen hat, wird sich dem Eindruck nicht entziehen können, daß D a r w i n seit seiner Rückkehr nach England von der neuen Umgebung gedrängt wurde, seine große, natürliche Schüchternheit zu überwinden und die wunderbaren, auf seiner Weltreise gesammelten Beobachtungen zu veröffentlichen. Seine Kenntnisse, die schon in den beschreibenden Naturwissenschaften beschränkt waren, versagten für die Biologie fast gänzlich. Er war deshalb anfangs genötigt, sich bei bedeutenden, ihm freundlich gesinnten englischen Gelehrten Rat zu holen. So kam es, daß von dem großen Aufsehen, das die Veröffentlichung der »Entstehung der Arten« machte, niemand überraschter war als der Verfasser selbst Die tollen Übertreibungen der deutschen populärwissenschaftlichen Schriftsteller, die mehr Metaphysiker als Gelehrte waren und die D a r w i n s aufgehenden Ruhm zum Sprungbrett des eigenen Rufes zu benutzen gedachten, mußten sein Urteil stark trüben. So blieb er gegen ernste Vorwürfe wirklicher Forscher gegen seine oft schwache und ungenügende Beweisführung stets unempfindlich. Sein etwas femininer Geist machte sich den Unterschied zwischen einem einfachen Argument und einem wissenschaftlichen Beweis nicht klar. Daß die Wissenschaft an Stelle strikter Beweise auch den größten Überfluß an Argumenten nicht gelten läßt, erschien ihm als Zeichen übelwollender Parteilichkeit. Auf der gleichen Stufe steht seine häufige Verwechslung von Analogie und Identität. Auch entgingen ihm, ein weiterer weiblicher Zug, die häufigen logischen Fehler seiner Begründungen vollständig. Es ist also erklärlich, daß die begeisterten Huldigungen seiner Bewunderer ihn schließlich seine anfängliche Scheu überwinden ließen und ihm Selbstvertrauen einflößten. So begann er 1871 die Niederschrift der »Abstammung des Menschen". War es nicht seine Pflicht, den Anforderungen der öffentlichen Meinung entgegenzukommen und entscheidende Beweise dafür beizubringen, daß auch der Mensch, dank natürlicher Zuchtwahl, mehr oder minder unmittelbar von den höheren Wirbeltieren abstamme?
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Für D a r w i n s Gedächtnis ist es vorteilhafter, bei den Fehlern dieses Werkes nicht zu verweilen. Es möge genügen, daran zu erinnern, daß er trotz vollkommener Unkenntnis der Grundgesetze der Psychologie es unternahm, den Tieren menschenähnliche Geisteskräfte und moralische Empfindungen zuzuschreiben. Er stützte seine Behauptungen auf allerorts gesammelte, ohne Prüfung und Methode zusammengestellte, banale Erzählungen. Wir geben nur ein Beispiel für die Art seiner Beweisführung. Vom Gottesglauben spricht er in folgenden Ausdrücken: „Diese Frage wird zweifellos von jener höheren zu unterscheiden sein, ob es einen Schöpfer, einen Herrn des Weltalls gibt, einer Frage, die von den größten Geistern aller Zeiten bejahend beantwortet ist.« Mit dem Freimut, der den Reiz seiner Schriften bildet, sagt D a r w i n in seinen Briefen von seinen eigenen Geisteskräften: „My power to follow a long and surely abstract train of thought is very limited; and therefore 1 could never have succeeded with metaphysics or mathematics." 1 Trotz seines aller Synthese abholden Verstandes gesteht D a r w i n in seiner Autobiographie zu, „daß sein Geist eine Art Maschine geworden sei, welche die allgemeinen Gesetze aus einer Unmenge von Beobachtungen erschließt." In einem Briefe an H y a t bewertet er sein Werk folgendermaßen: „Gestatten Sie mir hinzuzufügen, daß ich nie so unsinnig (so foolish) gewesen bin, mir einzubilden, daß es mir gelungen wäre, etwas anderes zu tun, als einige große Umrisse der Entstehung der Arten aufzuzeichnen (to lay down some of the broad outlines of the origine of Species). 2 In Hinblick auf das philosophische Denken welch ein Unterschied gegen L a m a r c k , der die ganze Tragik seines Lebens in folgende Zeilen zusammenfaßte: „Die Menschen, die sich in ihren Arbeiten um die Erweiterung der Grenzen des menschlichen Wissens bemühen, wissen, daß es sich nicht nur um Entdeckung und Nachweis einer Wahrheit handelt, sondern auch um ihre Verbreitung und Anerkennung. Der Einzelverstand und die öffentliche Meinung bilden aber, wenn sie irgend eine Veränderung wittern, meist ein solches Hindernis, daß es oft schwerer ist, einer Wahrheit zur Anerkennung zu verhelfen, als sie zu entdecken." 1 !
Life and Letters of Charles Darwin. Vol. I. More Letters of Charles Darwin. 1903.
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L a m a r c k vertrat außer mehreren höchst gewagten und unhaltbaren Hypothesen auch die richtige Ansicht, daß die Geistes- und Nervenkräfte an der Entwicklung einen großen Anteil haben. In der Tat spielen diese Kräfte eine große Rolle beim Einzelwesen und folglich auch bei der Art. » S h a k e s p e a r e s Keimzelle," schrieb ich in den ,Nerfs du Coeur', »enthielt bereits das nervöse Element, das sein mächtiges Hirn psychologischen Beobachtungen geneigt machte." Die Biologen pflegen heuer ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Einfluß zu richten, den das Leben und die Entwicklung der Zellen, insbesondere der Zellkerne, auf Geburt und Leben des Gesamtorganismus ausüben. Die umgekehrte Einwirkung des Gesamtorganismus auf Leben und Wachstum der Zellen beachten sie kaum. Und doch ist sie das Entscheidende; sie wirkt in der Hauptsache unmittelbar durch das Nervensystem oder mittelbar durch die Organe des Blutumlaufs und der Ausscheidung, sowie durch organische Absonderungen. L a m a r c k hatte solche Einflüsse erkannt. Es heißt ihm Gerechtigkeit erweisen, wenn man die Tragweite dieser Erkenntnis hervorhebt. Von D a r w i n s Theorien werden nur die zahlreichen, bewundernswerten, bienenfleißig zusammengetragenen Beobachtungen aus Tier- und Pflanzenleben fortdauern. Sein Hauptgedanke, die natürliche Zuchtwahl, war ein böser Irrtum. Die Beseitigung des Wortes E v o l u t i o n und dessen Ersatz durch das Wort E n t w i c k l u n g wird sich über kurz oder lang allen vorurteilsfrei Denkenden aufnötigen. Aus allen neueren Forschungen, die sich an G. M e n d e l s Untersuchungen anschlössen, ergibt sich, daß von einer f o r t l a u f e n d e n Umwandlung der organischen Formen nicht mehr die Rede sein darf. Neue Varietäten scheinen sich vielmehr durch p l ö t z l i c h e S p r ü n g e zu bilden. Gelehrte wie d e V r i e s , die M e n d e l s Untersuchungen fortführen, versuchen, für Evolution das sehr alte Wort M u t a t i o n in die Biologie einzuführen. T h o m a s v o n A q u i n o hat es schon häufig in seiner jetzigen Bedeutung angewandt. K. E. v o n B a e r empfahl die Ausdrücke M e t a m o r p h o s e oder T r a n s m u t a t i o n . Für künstliche Kreuzungsergebnisse ist das Wort Mutation ausreichend, doch müßte man bei seiner Anwendung die den Naturwissenschaften so verderblich gewordenen metaphysischen Verallgemeinerungen vermeiden. Jahrhunderte zahlloser Experimente und Beobachtungen über die
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Lebens- und Wachstumsbedingungen der Zellen wie über Vererbung und Züchtung künstlicher Varietäten werden vergehen, bevor eine Entwicklungsgeschichte der Arten in wirklich wissenschaftlicher Weise geschrieben werden kann. Vor allem aber wird die Entwicklungsgeschichte Jahrzehnte schwerer und ununterbrochener Arbeit zu verrichten haben, um die zahllosen Verstöße gegen Tatsachen und Prinzipien, die D a r w i n begangen hat, zu widerlegen und auszumerzen. § 7.
Die morphologischen Ursachen der Vererbung und der Verfall des Darwinismus.
Unter allen Naturwundern ist die Entwicklung des Embryos zweifellos das unbekannteste, weil es sich den fragenden Blicken des Naturforschers am hartnäckigsten verbirgt. Im 19. Jahrhundert haben sich seit K. E. von B a e r s ersten klassischen Arbeiten viele Forscher embryologischen Studien zugewandt. Da sie fast das ganze Tierreich in ihr Arbeitsgebiet einbezogen und besonders den Entwicklungsgang der niederen Tierwelt beobachteten, so haben sie gleichzeitig zahlreiche Hinweise auf die verschiedenen Entwicklungsphasen höherer Organismen gegeben. Gegenwärtig ist die embryologische Literatur so angeschwollen, daß selbst Spezialisten aller der an sie herantretenden Schriften nur schwer Herr werden. Diese sind freilich meist b e s c h r e i b e n d e r Art und liefern höchstens den Ausgangspunkt für einen Erklärungsversuch der exakt beobachteten Naturerscheinungen. Der Embryologe begleitet die Keimzelle von dem Augenblick, wo sie sich vom elterlichen Organismus trennt, durch alle Entwicklungsstadien bis zur Vollendung des Individuums. Alle Formveränderungen des Eies vom Augenblick der Befruchtung an sind beobachtet, studiert und ebenso ausführlich wie exakt beschrieben. Den Denker interessieren besonders zwei die Fortpflanzung betreffende Fragen: 1. Welche Kräfte der Keimzelle bedingen ihre Entwicklung und zwingen sie den ganzen Kreis regelmäßiger Veränderungen zu durchlaufen? 2. Wie kann diese Zelle durch hunderte von Pflanzen- und Tiergenerationen hindurch die charakteristischen Eigentümlichkeiten von Bau und Form übertragen? Die erste Frage betrifft die Gesetze der Entwicklung und des Wachstums; die zweite bezieht sich auf die der Vererbung. Der
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Embryologe muß häufig beide Probleme verknüpfen, da die gleiche Beobachtung sowohl zur Lösung des einen wie des anderen beitragen kann. Doch der Philosoph muß sie aufs strengste trennen. Die Lösung der ersten Frage liefert wahrscheinlich den Schlüssel zur zweiten. Wenn wir die bei der Entwicklung des Fötus waltenden Kräfte und die Gesetze seines Wachstums kennen, so werden wir zweifellos auch die Ursachen der Vererbung zu erklären vermögen. Dagegen könnten wir diese Ursachen bis in die kleinsten Einzelheiten kennen, ohne daß sie die Beantwortung der ersten Frage erleichterten. Wir wollen ruhig bekennen, daß wir der Lösung des ersten Problems bis jetzt keinen Schritt näher gekommen sind, ja daß wir sie überhaupt noch nicht ernsthaft versucht haben. Alle in dieser Hinsicht von H i p p o k r a t e s und A r i s t o t e l e s bis auf unsere Tage gemachten wissenschaftlichen Versuche beschränken sich auf Hypothesen, die größtenteils tieferes Eingehen nicht verdienen. H a e c k e l , der jedes Geständnis wissenschaftlicher Ohnmacht nur schwer erträgt und den bescheidenen Ehrgeiz hegt, alle die Menschheit seit Jahrtausenden bewegenden Fragen ganz allein zu lösen, damit die Nachwelt mit gekreuzten Armen in bewundernder Betrachtung seiner Werke verharren kann, — H a e c k e l , sagen wir, hat vor langen Jahren, wo nicht die Wissenschaft, so doch wenigstens die zoologische Literatur um einige Theorien über die wellenförmige Entwicklung der Keimsubstanz durch Übertragung der Fortpflanzungskraft und ähnliches bereichert. Eine einzige ernsthafte Theorie würde unsere Neugierde befriedigen; doch der Wortreichtum dient in Wirklichkeit nur zur Verschleierung der Gedankenarmut des Darwinismus. Hinsichtlich des Vererbungsproblems sind wir besser gestellt. Versuchen wir es zunächst genau zu formulieren. Wie kommt es, daß alle Eigentümlichkeiten, selbst die kleinsten Einzelheiten im Bau höherer Organismen, daß alle physischen und geistigen Eigenschaften sich ganze geologische Zeitalter hindurch unverändert von Generation zu Generation vererben? Diese Frage wird noch rätselhafter, wenn wir in Betracht ziehen, daß unter vielen tausend verschiedenen organischen Zellen n u r e i n e der Vererbung dient, nur eine das Vermögen besitzt, ein neues Individuum mit all den Eigentümlichkeiten des Organismus, aus dem sie hervorgeht, zu schaffen. Wie kommt es, daß diese einzige Zelle durch ihre Teilung und ihre
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fortwährende Vermehrung ein genaues Abbild jenes Organismus herstellt? Verschiedene Lösungen sind für diese Frage vorgeschlagen worden; wir nennen nur D a r w i n s pangenetische Hypothese, die mehr ihres Autors als ihres inneren Wertes willen eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Nach dieser Hypothese stößt jede Zelle „kleine Keime" ab, die im Organismus stets vorhanden sind und die sich in der zur Fortpflanzung der Art bestimmten Zellen anhäufen können; außerdem besitzen diese Keime selbst andauernd die Fähigkeit zur Schaffung neuer Zellen, die ihrem Erzeuger in den Hauptzügen wesensgleich sind. Ohne D a r w i n s geachteten Namen hätte diese Hypothese sofort durch ihre Naivität verblüffen müssen. Sie ist besonders in morphologischer Hinsicht unannehmbar. Auch B r o o c k s geniale Verteidigungsversuche stützen sich nur auf unhaltbare Hypothesen. Mehr noch, G a l t o n , D a r w i n s Verwandter und glühender Bewunderer, hat durch unwiderlegbare Experimente bewiesen, daß D a r w i n s „kleine Keime" in Wirklichkeit nicht existieren. A. W e i s m a n n hat der Vererbung zuerst eine Auslegung ge-geben, die im großen und ganzen noch jetzt für sehr wahrscheinlich gelten kann. Diese höchst einfache Hypothese beruht trotz ihrer scheinbaren Kühnheit lediglich auf Beobachtungen und unanfechtbaren Tatsachen. Und so hat sie denn die meisten der anfangs gegen sie erhobenen Einwände leicht überwunden, zumal sie keine neuen Hypothesen nötig macht. Überdies hat sie mehrere naturwissenschaftliche Grundfragen in ein ganz neues Licht gerückt. Anderseits hat gerade sie der damals noch sehr angesehenen evolutionistischen Lehre den empfindlichsten Schlag versetzt. Ihr Grundgedanke ist die „Kontinuität des Keimplasmas". 1 Nachdem D a r w i n s Lehre> die Keimzelle für einen Extrakt aller Körperzellen anzusehen, unhaltbar geworden war, blieben nur noch zwei physiologische Erklärungen der Vererbung übrig: entweder enthält die Keimzellensubstanz alle Eigenschaften, die zur Fortpflanzung des Einzelorganismus und zur Neubildung identischer Keimzellen erforderlich sind, oder die Keimzelle stammt nicht von 1
„Die Kontinuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung", von Professor A. W e i s m a n n , Jena 1885.
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dem Körper des Individuums, sondern direkt von einer Urkeimzelle ab. W e i s m a n n vertritt die letztere Annahme, die den Grund seiner Lehre bildet Er nimmt an, daß die Keimzelle verschiedene chemische und physikalische Eigenschaften und eine bestimmte Struktur der Moleküle besitzt und sich direkt von Generation zu Generation vererbt. Die Keimzelle, aus der unsere Nachkommen hervorgehen, enthält also Moleküle jener Substanz, aus der unsere entferntesten Ahnen geradenwegs hervorgegangen sind. Prof. W e i s m a n n nennt diese Substanz das Keimplasma. Dieses besondere, in der Keimzelle enthaltene Plasma nimmt folgerichtig n i c h t g a n z an der Bildung des neuen Organismus teil: ein Teil davon verbleibt als eine Art von Reserve in diesem Organismus und bildet die Keimzelle der folgenden Generation. Diese Theorie erschien zunächst als sehr gewagt und zugleich als sehr einfach. Der Grundgedanke ist unserem Geiste neu und ungewohnt, hat aber so viel Wahrscheinlichkeit für sich, daß wir ihn annehmen können, ohne irgend einer feststehenden Wahrheit Gewalt anzutun. Sie erklärt die Vererbung auf die einfachste Art, weil sie dieselbe auf die ununterbrochene Entwicklung, die bleibendste Erscheinung äes Lebens zurückführt. Wenn das Zeugiingsplasma wirklich nur ein Teil der in allen vorhergehenden Generationen enthaltenen Keimzellen ist, so muß es natürlich dieselbe Fortpflanzungsfähigkeit besitzen und, nachdem es alle Entwicklungsstadien durchlaufen hat, notwendig zum gleichen Endergebnis führen. Das Keimplasma würde somit den unsterblichen Teil unseres Organismus bilden. Wo befindet es sich? Die seitdem von H e r t w i g , S t r a s s b u r g e r und V a n B e n e d e n gemachten glänzenden embryologischen Untersuchungen schließen jeden Zweifel aus, daß die Keimzelle bei der Befruchtung eine untergeordnete Rolle spielt. Diese erfolgt in Wirklichkeit durch Verbindung der beiden in der männlichen und der weiblichen Keimzelle enthaltenen Kerne. Die Paarung erfolgt, wie V a n B e n e d e n bei Ascaris megalocephala beobachtet hat, durch Vereinigung des Spermatozoidenkerns mit dem Eikern. Sie bilden einen einzigen Kern, den Segmentärkern, aus dem sich der ganze Organismus entwickelt. Das Wesen dieses Kerns hat B o v e r i zu ergründen versucht. Die ihn umgebende Keimzelle dient nur zu seiner Ernährung. Keimplasma ist allein, was in den Kern eingeschlossen
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ist; was ihn umgibt, ist nur Nahrungsmittel. Diese Anschauung vom Idioplasma des Kerns ( N a e g e l i ) beherrscht jetzt die gesamte Embryologie. Wir haben den gegenwärtigen Stand der Frage und die große Wichtigkeit der Vererbung für die Frage nach der Entstehung der organischen Welt beleuchtet. Danach erklärt sich die erbliche Übertragung aller, den Eltern a n g e b o r e n e n Eigenschaften durch die »Kontinuität des Keimplasmas« ohne Schwierigkeit. Diese Theorie läßt sich nur schwer mit der Vererbung a n e r w o r b e n e r Eigenschaften in Einklang setzen, einer Annahme, die genau genommen die Grundlage aller evolutionistischen Lehren bildet. Mit anderen Worten: W e i s m a n n s Theorie schließt diese Vererbungsmöglichkeit, auf welcher der Darwinismus beruht, aus. Das ist um so bezeichnender, als W e i s m a n n selbst einer der eifrigsten Verbreiter des Darwinismus in Deutschland gewesen ist. Er hat es sich übrigens durchaus nicht verhehlt, daß seine Annahme der D a r w i n s c h e n Theorie von der Entstehung der Arten einen harten Schlag versetzte. In einer Spezialschrift über die Vererbung sucht er die geschlagene Wunde nach Kräften zu heilen. »Weder ist der Beweis erbracht, daß erworbene Abänderungen vererbt werden können, noch ist gezeigt worden, daß sich die Transmutationen der organischen Welt nur mit ihrer Hilfe erklären lassen." Er versucht Unmögliches, um diese Theorie zu retten, muß sich aber leider mit einigen unbestimmten Vermutungen begnügen. Man erkennt leicht, daß der Verfasser seine eigene Lehre verteidigen möchte, aber an der Rettung der Evolutionstheorie, nachdem ihr das Prinzip der Vererbung erworbener Fähigkeiten genommen ist, verzweifelt; die erste Aufgabe ist freilich nicht so schwer wie die zweite. W e i s m a n n beweist mühelos, daß es bis jetzt keine einzige Beobachtung, keine einzige Tatsache zum Beleg für die Erblichkeit erworbener Eigenschaften gibt. Der berühmte Physiologe P f l ü g e r ist der gleichen Meinung: «Ich habe mich genauer mit allen Tatsachen bekannt gemacht, welche für die Vererbung erworbener Eigenschaften beigebracht worden sind, d. h. solcher, welche ihren Grund nicht in einer eigentümlichen, ursprünglichen Organisation des Eies und des Samens haben, aus denen das Individuum entstanden ist, sondern durch spätere, rein zufällige äußere Einwirkungen auf den Organismus desselben sich ausbildeten. Keine dieser Tatsachen beweist die Vererbung erworbener EigenE. v. C y o n , Gott und Wissenschaft.
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Schäften.« Auch Du B o i s - R e y m o n d äußert sich hierüber nicht weniger absprechend: «Wollen wir ehrlich sein, so bleibt die Vererbung erworbener Eigenschaften eine lediglich den zu erklärenden Tatsachen entnommene und noch dazu in sich ganz dunkle Hypothese." 2 Unter den verschiedenen Beweisen, die diese Vererbungstheorie entkräften, führt W e i s m a n n auch N a e g e l i s Pflanzenforschungen an, welche die Unübertragbarkeit erworbener Eigenschaften dartun. Er hätte auch eine schlagende Tatsache gegen ihre erbliche Übertragbarkeit beim Menschen anführen können. Wie jedermann weiß, üben die orientalischen Völker aus religiösen Gründen seit undenklichen Zeiten die Beschneidung aus, ohne daß bis jetzt ein Kind geboren wäre, dessen angeborene Eigenschaft diese Operation erübrigt hätte. Ebenso ist es mit dem Hymen; noch nie ist sein Fehlen seit der Geburt festgestellt worden. Um die Darwinsche Theorie der »Entstehung der Arten" nach Kräften zu verteidigen, opfert W e i s m a n n zunächst den Grundgedanken L a m a r c k s von der durch Übung oder NichtÜbung bedingten Entwicklung oder Verkümmerung der Organe und von der Umwandlung der Arten durch die Vererbung aller dieser allmählichen Veränderungen. Dieser Lamarcksche Gedanke ist mit der Lehre von der Kontinuität des Keimplasmas in der Tat unvereinbar. Um den Schlag, den seine Theorie dem Darwinismus versetzte, zu dämpfen, greift W e i s m a n n jedoch zu einem andern, freilich recht gezwungenen Argument: Während des Lebens können äußere Einwirkungen das Keimplasma, das zur Übertragung erblicher Eigenschaften des Individuums dient, direkt beeinflussen, und diese Veränderungen würden sich dann von Geschlecht zu Geschlecht vererben. Das klingt nicht unwahrscheinlich und würde uns die Vererbung gewisser konstitutioneller Krankheiten vollständig erklären. Aber wie will man mit dieser Theorie organische Umbildungen, die nicht durch Einwirkung auf das Keimplasma selbst hervorgerufen sind, ohne Zuhilfenahme der Vererbung erworbener Eigenschaften erklären, wo der Evolutionismus doch gerade auf der Möglichkeit solcher Umbildungen fußt? . Jeder ehrliche Evolutionist wird diese Schwierigkeit für unüberwindbar halten. 1
Archiv für Physiologie, Bd. 32, 1883, S. 68. * »Über die Übung«, Berlin 1881.
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Von den beiden Hauptfragen, welche Kräfte den Keim in ein menschliches Wesen verwandeln, und wie sich die individuellen Eigenschaften von Geschlecht zu Geschlecht übertragen, hat nur die zweite den Anfang einer wissenschaftlich befriedigenden Lösung gefunden. Es ist unnütz, W e i s m a n n bei den zahlreichen Versuchen zu folgen, seine Theorie zu modifizieren und zu erweitern, da sie dieselbe nur verdunkeln. Die Hauptsache ist die Feststellung, daß der alte Glaube an die Vererbung erworbener Eigenschaften endgültig zerstört ist. Die einfache Erklärung der A l l m a c h t der natürlichen Auslese, zu der W e i s m a n n greift, genügt nicht, um den Darwinismus neu zu beleben. Wie bereits betont worden ist, deckt sich die Annahme natürlicher Auslese ohne Endzweck, d. h. ohne daß im Urorganismus die Elemente bereits existieren, welche die ganze Reihe der Verwandlungen zu höheren Organismen bestimmen, mit der Behauptung, daß die ganze transformistische Evolution auf dem Zufall beruhe. Der ausgezeichnete Biologe O s k a r H e r t w i g , der sich in seinen embryologischen und anatomischen Forschungen an K. E. v o n B a e r s schöne naturwissenschaftliche Auffassungen anschließt, charakterisiert W e i s m a n n s Ultradarwinismus sehr richtig mit den Worten: »Die aus unbekannten Ursachen erfolgende, zufällige und richtungslose Variabilität der Keimzellen, welche sich der sinnlichen Untersuchung und direkten Beobachtung ganz entzieht, wird für W e i s m a n n die einzige Quelle, welche der Naturzüchtung das Material zur Bildung der einzelnen Arten liefert." 1 In der Tat gesteht W e i s m a n n selbst: »Das Überleben des Passendsten ist sicher, aber wir wissen im einzelnen Falle nicht, wo das Passendste ist und wie oft es in jeder Generation überlebt und überleben muß, um zum Siege zu gelangen. Wir können also den Beweis, daß eine bestimmte Anpassung durch Naturzüchtung entstanden ist, für gewöhnlich nicht leisten.« 2 Behauptungen ins Blaue hinein, selbst wenn sie unter einem volltönenden Titel veröffentlicht werden, können den vollständigen Mangel an Beweisen eben nicht ersetzen. 3 Der Zufall, zum einzigen 1
O s k a r H e r t w i g : »Die Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert", S. 38, 2. Aufl., Jena 1908. 8 W e i s m a n n : »Die Allmacht der Naturzüchtung", S. 60, 1893. s Ebenda. 4*
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Faktor der Entwicklung der organischen Welt erhoben, schließt nicht nur das Prinzip der Finalität aus, das in allen Wandlungen des Embryos deutlich hervortritt, sondern auch das der Kausalität, das nur in seinen Wirkungen zu fassen ist. Diese Weltauffassung ist die widersinnigste übernatürliche seit Empedokles.
Zweites
Kapitel.
Der Kampf der Wissenschaft gegen die Lehren Haeckels. § 1. Die Psychologie Haeckels. Am Anfang des vorigen Kapitels ist auf den großen Anteil hingewiesen, den H a e c k e l durch seine bis zum Widersinn getriebenen Schlußfolgerungen am Verfall des Darwinismus gehabt hat. Der Mißbrauch der darwinistischen Theorien sollte auf die Geistesströmungen am Ende des vorigen Jahrhunderts einen Einfluß ausüben, dessen Wirkungen auf das politische und soziale Leben verderblich sein mußten. Die Erschütterung tausendjähriger Überlieferungen, auf denen die Kultur der zivilisierten Welt beruht, hat die allgemeine Anarchie des Denkens erzeugt, die zum herrschenden Zuge des modernen Geisteslebens geworden ist. H a e c k e l hat in Berlin und Würzburg Morphologie, vergleichende Anatomie und Embryolpgie studiert. Seine ersten zoologischen Arbeiten waren nicht ohne Wert. Die Gier nach ungesunder Popularität, deren Vorteile er nicht verschmähte, ließen ihn, nachdem er in Jena eine Professur erhalten hatte, nur noch der Propaganda der Darwinschen Lehren leben. Er verbreitete sie durch öffentliche Vorlesungen, deren Tragweite er später durch Bücher und volkstümliche Broschüren erhöhte. Als Redner und Schriftsteller ebenso weitschweifig wie oberflächlich, weiß er den niederen Instinkten seiner Zuhörer und Leser zu schmeicheln und auch den Ungebildeten die gewagtesten Phantasien als wissenschaftlich unwiderlegliche Wahrheiten mundgerecht
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zu machen, wobei ihm ein unbestreitbares Talent populärer Darstellungsweise zu Hilfe kommt. In seinen zahllosen Schriften, die es zu hohen Auflagen gebracht haben und in alle Sprachen übersetzt sind, sucht man vergebens nach einem neuen oder persönlichen Gedanken, der es verdiente, auf die Nachwelt zu kommen. Er behandelt die D a r w i n s c h e n Theorien wie heilige Dogmen, die weder Beweise nötig haben, noch irgendeine Diskussion erlauben, und verbreitet sie mit allen Mitteln im Volke. Bald spinnt er sie mit großem Geschick weitläufig aus, um ihre schwachen Seiten zu verhüllen, bald zieht er aus ihnen die gewagtesten Schlüsse. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Sektierer. Beschränkt und halb unbewußt, wie es Sektierer zu sein pflegen, besitzt er in hohem Maße den Starrsinn des Fanatikers, der sicherer zum Erfolge führt als der klare Verstand des Denkers, zumal wenn das Ziel, das der Fanatiker erstrebt, und der Ehrgeiz, der ihn antreibt, völlig harmonieren. Der verfolgte Zweck und der Gegenstand des Ehrgeizes sind hier leicht zu erkennen. Sie kehren als ewiges Leitmotiv in den zahlreichen Schriften wieder, mit denen H a e c k e l seit mehr als 40 Jahren um so verschwenderischer ist, als es eigentlich immer dasselbe Buch bleibt, nur mit anderen Titeln und in verschiedenen Formaten. Von der «Generellen Morphologie", der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte", der „Anthropogenie" und den »Welträtseln« bis zu seinen letzten Veröffentlichungen:- »Das Menschen-Problem und die Herrentiere L i n n e s « , und »Abstammungslehre und Kirchenglaube", handelt es sich stets um die gleiche These: die Zerstörung der christlichen Kirchen, zumal der katholischen Kirche, deren machtvolle Hierarchie dem Hereinbrechen der allgemeinen Anarchie noch widersteht. Durch Entschleierung der Naturgeheimnisse soll Gott entthront, die Bibel durch die »Schöpfungsgeschichte«, die Kirchen durch phylogenetische Museen und das Christentum durch den Protozoenkult ersetzt werden, dessen unsterblicher Prophet H a e c k e l für ewige Zeiten sein wird. Erst 1898, beim Erscheinen der »Welträtsel", die außer einem anthropologischen Teil drei andere, der Psychologie, Kosmologie und Theologie gewidmete enthalten, entschlossen sich Philosophen, Theologen und Physiker zu einem näheren Eingehen auf die H a e c k e l s c h e n Lehren. Solange er sich auf dem Boden der beschreibenden Naturwissenschaften bewegt hatte, war er nur von maß-
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gebenden Biologen bekämpft worden, die für die Ehre ihrer Wissenschaft eintraten. Da Physiker und Philosophen etwas spät auf dem Kampfplatz erschienen, so waren sie um so unerbittlicher. Der bedeutende petersburger Physiker C h w o l s o n , Verfasser höchst bemerkenswerter kritischer Studien, 1 hat H a e c k e l s wissenschaftliche Irrtümer auf 60 Seiten eingehend analysiert. Für den Mann, der die Welträtsel zu entschleiern vorgab, war diese Beweisführung vernichtend. Wir führen einige Schlußfolgerungen Chwolsons an: „ H a e c k e l hält es nicht für notwendig, sich mit dem Energiegesetz auch nur oberflächlich bekannt zu machen, indem er ein elementares Lehrbuch der Physik zur Hand nimmt. — Er hat keine Ahnung von dem Inhalt des Energiegesetzes. — Alles, aber auch alles, was H a e c k e l bei der Berührung physikalischer Fragen sagt, erklärt und behauptet, ist falsch, beruht auf Mißverständnissen oder zeugt von einer kaum glaublichen Unkenntnis der elementarsten Fragen. Selbst von dem Gesetze, welches er selbst als »Leitstern' seiner Philosophie proklamiert, besitzt er nicht die elementarsten Schulkenntnisse. Und mit solch' totaler Unkenntnis 'ausgerüstet, hält er es für möglich, das Fundament der modernen Physik, die kinetische Substanztheorie, für ,unhaltbar' zu erklären und zu behaupten, daß eine der großartigsten, vielleicht die großartigste Errungenschaft menschlichen Geistes, das Entropiegesetz oder der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, »aufgegeben' werden muß.« C h w o l s o n gab sich ferner die Mühe nachzuweisen, daß H a e c k e l in den andern Zweigen der exakten Wissenschaft, z. B. in der Astronomie, auf die er sich bei der Entwicklung seines Weltgedankens stützt, ebensowenig Bescheid weiß. Ich selbst bin in der Lage, ein schlagendes Beispiel für H a e c k e l s physikalische Kenntnisse anzuführen. Im Jahre 1878 nahm ich in Saint-Cloud an einem Festessen zu Ehren H a e c k e l s teil. Als man ihn fragte, welchen Eindruck Paris und die Ausstellung auf ihn gemacht hätte, erschöpfte er sich in Lobeserhebungen und Bewunderung für alles, was er bisher gesehen hatte; das Wort „wunderbar" kehrte dabei immerfort wieder. Man fragte ihn, was ihm an den Franzosen die meiste Bewunderung abnötigte, worauf er 1
Gebot.«
O. D. C h w o l s o n : „Hegel, Haeckel und Kossuth, und das zwölfte Braunschweig 1906.
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ohne Zaudern erwiderte: „Das Geschick, womit sie ein großes Stück Eis in eine Wasserflasche mit engem Halse hineinbringen." Alles war starr, was H a e c k e l nicht entging. „Ich dachte", setzte er hinzu, „der Flaschenboden ließe sich abschrauben; aber ich habe genau darauf geachtet: dies war nicht der Fall. Diese französische Geschicklichkeit bleibt mir ein Rätsel." Also diesem Gelehrten, der alle Welträtsel zu lösen vorgibt, war eine f r a p p i e r t e Flasche ein unerklärliches Geheimnis. Wie wir sahen, wurden H a e c k e l s Streifzüge in die verschiedenen, ihm gänzlich fremden Gebiete der exakten Wissenschaft für seinen Ruf als Gelehrter sehr verhängnisvoll. Den philosophischen und theologischen Betrachtungen der «Welträtsel" ist es nicht besser ergangen. Mehrere Theologen, unter anderen der gelehrte F r i e d r i c h L o o f s aus Halle, haben sie so streng verurteilt, daß wir von einer Wiedergabe absehen, zumal der theologische Teil des H a e c k e l schen Werkes uns nur sehr mittelbar angeht. Die Aufzählung aller Schriften, in denen Philosophen wie die Professoren J u l i u s B a u m a n n , E r i c h A d i c k e und viele andere die H a e c k e l sehen Lehren bekämpft haben, ist hier ebenfalls unmöglich. Wir wollen uns nur den Schluß einer Reihe sehr eingehender kritischer Studien ins Gedächtnis rufen, die wir der Feder des jüngst verstorbenen, scharfsinnigen Denkers F r i e d r i c h P a u l s e n in Berlin verdanken. Sein Werk » E r n s t H a e c k e l als Philosoph", rief in Deutschland eine wahrhaft niederschmetternde Wirkung hervor; H a e c k e l fühlte sich diesmal aufs tiefste getroffen. »Ich habe mit brennender Scham dieses Buch gelesen", sagt P a u l s e n , »mit Scham über den Stand der allgemeinen Bildung und der philosophischen Bildung unseres Volkes. Daß ein solches Buch möglich war, daß es geschrieben, gedruckt, gekauft, gelesen, bewundert, geglaubt werden konnte bei dein Volk, das einen K a n t , einen G o e t h e , einen S c h o p e n h a u e r besitzt, das ist schmerzlich." 1 Wie schon gesagt, hatten die Biologen nicht so lange gewartet, um im Namen der Wissenschaft gegen H a e c k e l s gelehrte Ketzereien zu protestieren. Sie warfen ihm den vollständigen Mangel an Beweisen f ü r seine Behauptungen und an Logik in 1 F r i e d r i c h P a u l s e n : „Ernst H a e c k e l als Philosoph." Preußische Jahrbücher, Bd. 101.
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seinen Erörterungen, seine phantastische Genealogie, und vor allem die plumpen Fälschungen embryologischer Zeichnungen und Tafeln vor, die er sogar den Werken anderer Naturforscher entnommen hatte. Ein bemerkenswerter Umstand ist, daß sich erklärte Parteigänger des Darwinismus, wie K a r l V o g t , unter den ersten Gegnern H a e c k e l s befanden. Sie sahen mit Recht voraus, daß seine Werke den Darwinismus ernstlich gefährden würden. Der eigentliche Feldzug der Gelehrten gegen ihn begann 1878, durch eine kecke Unvorsichtigkeit von ihm provoziert. Nicht zufrieden mit den Neuauflagen seines Feuilletonromans über die Abstammung des Menschen, 1 scheute er sich nicht, auf dem deutschen Naturforscher- und Ärztetag in München laut für die Einführung seiner Lehren in das Schulprogramm als Grundlage des Jugendunterrichts einzutreten. H a e c k e l begründet sein Verlangen mit der Behauptung, seine Lehre vom Ursprung des Menschen liefere das mächtigste Werkzeug öffentlicher Erziehung. »Sie darf nicht nur geduldet werden", fügt er hinzu, »sie muß zur Richtschnur des Unterrichts dienen." Das Verlangen, Philosophie und Religion in den Schulen durch H a e c k e l sehe Schöpfungsgeschichte zu ersetzen, öffnete endlich auch den Naturforschern, die bis dahin verachtungsvoll geschwiegen hatten, die Augen für die Gefährlichkeit H a e c k e l s . V i r c h o w , der am Kongreß teilnahm, ließ einen technischen Vortrag ausfallen und hielt am folgenden Tage eine flammende Rede gegen die Wahnhoffnungen seines ehemaligen Schülers. Diese Rede machte in der ganzen Welt großes Aufsehen. V i r c h o w begann mit der Darlegung seines prinzipiellen Standpunktes: »Es ist selbstverständlich, daß wir für das, was wir als vollkommen gesicherte, wissenschaftliche Wahrheit betrachten, auch die vollkommene Aufnahme in den Wissensschatz der Nation verlangen müssen. Das muß die Nation in sich aufnehmen, und die Gelehrten haben die Pflicht, nicht allein mit Tatsachen die Nation zu bereichern, die zu ihrem materiellen Fortschritt beitragen, sondern auch mit spekulativen Erörterungen, die ihr geistiges Wissen vermehren. Auch über den Einfluß, den die zeitgenössische Wissenschaft auf die Erziehung ausüben muß, muß man noch r e d e n . . . . 1 »Wenn ich einen Roman lesen will, so kenne ich bessere als Haeckels Schöpfungsgeschichte", hat Du Bois-Reymond eines Tages erklärt.
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Wenn die Descendenzlehre so sicher ist, wie Herr H a e c k e l annimmt, dann müssen wir verlangen, daß sie auch in die Schule muß. . . . Wir dürfen doch nicht vergessen, daß das, was wir hier vielleicht noch mit einer gewissen schüchternen Zurückhaltung aussprechen, von denen da draußen mit einer tausendfach gesteigerten Zuversicht weiter getragen wird. . . . Nun stellen Sie sich einmal vor, wie sich die Descendenztheorie heute schon im Kopfe eines Sozialisten darstellt. . . . Ich will hoffen, daß die Descendenztheorie für uns nicht alle die Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorien wirklich im Nachbarlande angerichtet haben. Immerhin hat auch diese Theorie, wenn sie konsequent durchgeführt wird, eine ungemein bedenkliche Seite, und daß der Sozialismus mit ihr Fühlung genommen hat, wird Ihnen hoffentlich nicht entgangen sein." Trotz dieser Gefahr erbot sich V i r c h o w zur Verbreitung dieser Theorie, falls sie tatsächlich wissenschaftlich wahr sein sollte. Aber gerade, weil er sie für einen Knäuel unbewiesener Hypothesen hielt, widersetzte er sich im Namen der Wissenschaft ihrer Einführung in den Unterricht. „Bevor wir solche Thesen als den Ausdruck der Wissenschaft bezeichnen, bevor wir sagen, das ist moderne Wissenschaft, müßten wir erst eine ganze Reihe von langwierigen Untersuchungen durchführen. Wir müssen daher den Schullehrern sagen, lehrt das nicht. Jeder Versuch, unsere Probleme zu Lehrsätzen umzubilden, unsere Vermutungen als die Grundlagen des Unterrichts einzuführen, der Versuch insbesondere, die Kirche einfach zu depossedieren und ihr Dogma ohne weiteres durch eine Descendenzreligion zu ersetzen, dieser Versuch muß scheitern und wird in seinem Scheitern zugleich die höchsten Gefahren für die Stellung der Wissenschaft überhaupt mit sich bringen." Trotz V i r c h o w s maßgebender Warnung, trotz der Einstimmigkeit, womit Biologen, Philosophen und Physiker die Haltlosigkeit der H a e c k e l s c h e n Lehren nachwiesen, ist ihr Einfluß auf die große Masse, zum mindesten in gewissen Ländern, noch gewachsen. 1 1
Aus leicht begreiflichen Gründen ist England von der H a e c k e l schen Seuche verschont geblieben. Dort hat schon einige Jahre vor D a r w i n s Tod die biologische Sektion der »British Association" durch einstimmiges Votum ihrem Präsidenten, Doktor Q w y n J e f f r e y s , darin beigepflichtet, daß die transformistischen Theorien jedes Beweises entbehrten.
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In Deutschland haben ihre fanatischen Anhänger zahlreiche „Monistenbünde" gegründet. Die berliner Sektion dieser Gesellschaften richtete vor einigen Jahren ein dringliches Zirkular an die provinzialen Vereine, worin sie auf die Notwendigkeit eines öffentlichen Protozoenkults hinwies. Zu diesem Zweck sollten besondere Tempel erbaut werden. H a e c k e l war als künftiges Haupt oder Hoherpriester der neuen Religion bezeichnet. Die Form des Rundschreibens erschien selbst befreundeten Zeitungen lächerlich: sie hielten die Vorschläge für verfrüht und versuchten den Übereifer der berliner Monisten zu dämpfen. Trotzdem weihte Professor H a e c k e l am 30. Juli 1908 während des Jubiläums der Universität Jena den ersten Tempel des Protozoenkults feierlich ein. Er vermied zwar die Namensnennung, legte die Bestimmung seiner Kirche aber folgendermaßen fest: «Dem Dienste dieser vernunftgemäßen Weltanschauung soll auch das neue Museum für Entwicklungslehre gewidmet sein, das ich am Anfang dieses Jahres hier gegründet habe. Hoffen wir, daß dieses ,Phyletische Museum', dessen Bau sich jetzt ,an der Pforte des Paradieses' 1 erhebt, ein Tempel für die .Religion der reinen Vernunft', für den Kultus des ,Wahren, Guten und Schönen' wird. Indem wir an der Hand der Stammesgeschichte seine festen Fundamente legen, lösen wir zugleich das große Menschenproblem." Die Erregung über diese feierliche Einweihung, die in Deutschland ausbrach, veranlaßte den erfahrenen Embryologen Dr. B r a s s , sich das zum Evangelium der neuen Religion bestimmte »Menschenproblem" etwas näher anzusehen. Die Prüfung fiel für den Apostel recht ungünstig aus. Dr. B r a s s stellte fest, 3 daß mehrere dem Buche beigegebene Tafeln, nach der Versicherung des Verfassers »sehr getreue Wiedergaben" aus Werken bekannter Naturforscher, regelrecht gefälscht waren, um zu beweisen, daß der menschliche Embryo in gewissen Entwicklungsphasen mit dem der Fledermäuse, Fische und Menschenaffen völlig übereinstimmt. Der Embryo einer Schwanzmeerkatze (Cercocebus cynomolgus) wird für den eines Gibbon (Hylobates), eines schwanzlosen Menschenaffen ausgegeben. An dem Professor S e l e n k a entliehenen Embryonenbild 1
Paradies ist der Name des Stadtparkes von Jena. Dr. Brass: »Das Affenproblem. Professor E r n s t H a e c k e l s neueste gefälschte Embryonenbilder." 40 Figuren. Leipzig, 1908. 2
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hat H a e c k e l einen Teil des Leibes weggelassen und die Umrisse des Kopfes verändert. Bei einem Fledermausembryo nach v a n Ben e d e n läßt er einen Teil der Eingeweide fort, gibt dem Schwanz einen eleganten Schwung und tauft dieses Machwerk dann Hufeisennase (Rhinolophus). Das Bild eines menschlichen Embryos nach H i s ist derart verändert, daß es dem eines Gibbon ähnelt usw. Schon vor mehr als 30 Jahren hat, wie wir weiterhin sehen werden, der berühmte Embryologe H i s ganz ähnliche Fälschungen H a e c k e l s in der schärfsten Weise gegeißelt. Trotzdem erregten die Enthüllungen von B r a s s großes Aufsehen. Die gesamte deutsche Presse beschäftigte sich mit diesem Fälschungsskandal, und eine heute noch nicht verhallte, heftige Polemik entbrannte. H a e c k e l versuchte sich zuerst durch plumpe Ausfälle auf seinen Gegner zu verteidigen. Da er aber schon den bekanntesten Naturforschern, wie K. E. von B a e r , V i r c h o w , K ö l l i k e r , H e n s e n , H i s , S e m p e r und vielen anderen im gleichen Tone geantwortet hatte, so befand sich Dr. B r a s s hier in guter Gesellschaft. Das gegen derartige Ausfälle abgestumpfte Publikum forderte andere Beweise. Da lehnte H a e c k e l alle Verantwortlichkeit für die Fälschungen ab und erklärte sie für Fehler seines Zeichners, wurde aber schließlich doch in die Enge getrieben und mußte reumütig um mildernde Umstände bitten. In der »»Berliner Volkszeitung" vom 29. Dezember 1908 veröffentlichte er eine Erklärung, aus der wir Folgendes entnehmen: «Um dem ganzen wüsten Streite kurzerhand ein Ende zu machen, will ich nur gleich mit dem reumütigen Geständnis beginnen, daß ein kleiner Teil meiner zahlreichen Embryonenbilder (vielleicht 6 oder 8 von hundert) wirklich (im Sinne von Dr. B r a s s ) „gefälscht" sind — alle jene nämlich, bei denen das vorliegende Beobachtungsmaterial so unvollständig oder ungenügend ist, daß man bei Herstellung einer zusammenhängenden Entwicklungskette gezwungen wird, die Lücken durch Hypothesen auszufüllen!" H a e c k e l erzählt dann, wie schwer es ihm geworden sei, seine Fälschungen auszuführen. »Nun würde ich," fährt er fort, »nach diesem belastenden Eingeständnis der ,Fälschung' mich für ,gerichtet und vernichtet' halten müssen, wenn ich nicht den Trost hätte, neben mir auf der Anklagebank Hunderte von Mitschuldigen zu sehen, darunter viele der zuverlässigsten Beobachter und der angesehensten Biologen." Diese letzte Verleumdung ist der ge-
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wohnliche Gegenschlag H a e c k e l s auf unwiderlegliche Anklagen. Sie hat aber wenig zu bedeuten, da es hier allein auf sein Geständnis ankommt. Zu Beginn des Jahres 1911 überraschte H a e c k e l die Welt mit seinem öffentlichen Austritt aus der protestantischen Kirche! Wie wir weiter oben sahen, hatte er am Anfang seines Feldzuges gegen die christlichen Religionen nur seinem Haß gegen den Katholizismus Ausdruck gegeben. Jetzt warf er seine Maske ab. In einer Erklärung, die von mehreren deutschen Zeitungen abgedruckt wurde, erklärte er sein Vorgehen als verursacht durch die gegen ihn geführten Angriffe und die Anschuldigungen wegen seiner naturwissenschaftlichen Fälschungen. H a e c k e l wäre demnach unwürdig, einer Kirche anzugehören, deren Lehren er mit wissentlich gefälschten Daten bekämpft hatte — ein Geständnis, das nicht ohne eine gewisse Logik ist. Allerdings kamen die schwersten Anklagen gegen H a e c k e l von Universitätsprofessoren, die ihm vor allem vorwarfen, die Wissenschaft und die Universität kompromittiert zu haben; es wäre also viel logischer gewesen, seinen Lehrstuhl an der Universität Jena zu verlassen, damit sein schlechtes Beispiel gegenüber dem gelehrten Nachwuchs ein Ende nahm! Auch in Deutschland galt ja vor H a e c k e l die wissenschaftliche W a h r h a f t i g k e i t als erste Eigenschaft eines Gelehrten, der auf einen Lehrstuhl Anspruch erhebt. Jetzt ist es anders geworden: sein Beispiel war zu schlecht, um nicht ansteckend zu wirken. Nachdem wir die Psychologie des Verfassers genugsam beleuchtet haben, bleibt uns noch die Widerlegung des Werkes in seinen Hauptzügen. Wir werden dabei möglichst zahlreiche Zitate aus dem Original anführen. Auch werden wir unsere Einwände auf Urteile maßgebender Spezialisten, die jeder Gebildete kennt, stützen. Diese Seiten richten sich besonders an die Philosophen und an Gelehrte, die mit der Biologie nicht vertraut sind. Der phantastische Charakter der H a e c k e l sehen Lehren erlaubt nicht immer den ernsten Ton kritisch-wissenschaftlicher Erörterung, weshalb denn auch ihre meisten wissenschaftlichen Gegner, wie H i s , V i r c h o w , S e m p e r , Karl V o g t und andere, Ironie und Satire zu Hilfe genommen haben. Dies Verfahren hat überdies den Vorzug, bei der Prüfung der langweiligen Haeclfelschen Beweisführung die Aufmerksamkeit des Lesers rege zu halten.
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§ 2. Die Klassifikation H a e c k e l s und sein biogenetisches Gesetz. Die ersten Ideen H a e c k e l s über den Ursprung des Menschen finden sich in seiner « Generellen Morphologie" kurz zusammengefaßt; doch hat er sie zugleich in zwei dicken Büchern volkstümlich breitgetreten: in der »Schöpfungsgeschichte" und in der »Anthropogenie«. Das erste behandelt insbesondere die Schöpfung der organischen und unorganischen Welt; das zweite befaßt sich nur mit dem U r s p r u n g des Menschen. Beide sind Wiedergaben von Vorlesungen, die der Verfasser zu verschiedenen Zeiten in Jena gehalten hat. H a e c k e l betont darin, daß ihn die Ablehnung seiner Lehre von Seiten der Forscher zur Abfassung beider Werke veranlaßt habe. Diese Aufmerksamkeit hat sich in einer f ü r die H a e c k e l s c h e n Lehren wenig schmeichelhaften Weise geäußert. Übrigens hätte schon der T o n , worin ihr fanatischer Apostel sie vortrug, genügt, um sie an maßgebender Stelle zu diskreditieren. Die gewagtesten Folgerungen der D a r w i n s c h e n Lehren werden von H a e c k e l nicht als einfache Vermutungen oder Hypothesen, sondern als unverbrüchliche Gesetze hingestellt. Seine Werke wimmeln von geschmacklosen Ausfällen gegen die Unfehlbarkeit des Papstes, den Neukatholizismus und tausend andere Dinge, die den Naturforscher nichts angehen. Doch er zweifelt keine Minute an D a r w i n s Unfehlbarkeit, noch an seiner eigenen Wissenschaft. Daß der Mensch von der Monere oder dem sagenhaften Bathybius abstamme, ist ihm ein Glaubensartikel. Alle Augenblicke erfindet er Arten, die er zur Ausfüllung der zahlreichen Lücken seiner erdichteten Genealogie benötigt, und er spricht von diesen fragwürdigen Wesen so bestimmt, als ob er sie mit eigenen Augen gesehen hätte. Mehr noch: er schiebt in den Text seiner Bücher zahlreiche, sorgfältig gezeichnete Bilder dieser Fabelwesen ein, als ob sie ihm vor ihrem Tode ihre Photographien vermacht hätten. Der Anthropoide, jener schwanzlose Affe, der unser unmittelbarster Ahnherr sein soll, ist ihm ein bekanntes Wesen, dessen G e wohnheiten und Lebensweise er so genau schildert, als ob es ein alter Schulkamerad von ihm wäre. Die ritterliche Ehrfurcht vor dem Andenken seiner Ahnen, die einen Gottfried von Bouillon nach Palästina begleitete, ist nichts gegen die Verehrung, die H a e c k e l dem »ehrwürdigen Amphioxus" bezeugt Dabei hat er
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ihn nie mit eigenen Augen gesehen und kennt ihn nur aus K o v a l e w s k y s Beschreibungen! Der dünkelhafte Dogmatismus des Eingeweihten, für den die Natur keine Geheimnisse birgt, der Anstrich wissenschaftlicher Strenge, den der Schriftsteller seinem System zu geben weiß, die zahllosen Abbildungen, mit denen er seine Werke anfüllt, die fortwährenden gelehrten Ausdrücke, die er dem griechischen Wörterbuch entlehnt, alle diese Kniffe, die von alters her dazu dienen, dem Leser Sand in die Augen zu streuen, müssen dem Laien natürlich imponieren. In der wissenschaftlichen Welt hatten diese Maßlosigkeiten eines Sektierers eine ganz andere Wirkung: H a e c k e l verlor persönlich die ehrenvolle Stellung in der Wissenschaft, die seine ersten Arbeiten ihm verschafft hatten, und zugleich versetzte er dem Darwinismus einen Schlag, von dem er sich nicht wieder erholt hat. H a e c k e l führt alle tierischen Formen auf eine Urform zurück, die aus. einer einzigen Zelle besteht, und unternimmt die Riesenaufgabe, alle Veränderungen, welche die organische Welt im Laufe von Jahrmillionen vermutlich erfahren hat, gedanklich zu verknüpfen, die Tierarten, die in den verschiedenen geologischen Epochen unsern Erdball bevölkerten, die Gesetze und die bestimmenden Einflüsse, unter denen sie ihr Äußeres änderten und von einzelligen Wesen zu Menschen wurden, kurz, den vollständigen Stammbaum aller lebenden Tierarten zu bestimmen! Während der drei ersten geologischen Perioden (der laurentinischen, kambrischen und silurischen), die fast die Hälfte der seit der Entstehung des organischen Lebens verflossenen Zeit umfassen', haben nach H a e c k e l alle Tiere und Pflanzen im Wasser gelebt. Fossile Organismen, die Spuren eines Wohnens auf dem Lande bieten, erscheinen erst beim Beginn der devonischen Formation. Von der Monere bis zum Menschen zählt H a e c k e l einundzwanzig verschiedene Ahnenformen, von denen etwa die Hälfte im Meere lebte. Die ersten acht davon waren wirbellose Geschöpfe, die letzten vierzehn Wirbeltiere. Die gesamte Tierwelt wird in zwei große Gruppen geteilt: in Protozoen und Darmtiere. Die erste Gruppe (Urtiere, Protozoa) zerfällt in zwei Unterabteilungen: die Piastiden und die mehrzelligen Organismen. Die erste Form der Piastiden ist die Monere, ein kleines Kügelchen von eiweißhaltiger Substanz, dem sogenannten
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Protoplasma; die zweite ist die Amöbe. Sie besitzt den Bau einer Zelle, das heißt, sie setzt sich aus Protoplasma und Zellerikern zusammen. Die mehrzelligen Organismen zerfallen in zwei Abteilungen, die Synastroebien und die Planaeaden. Die zweite Gruppe, die der Darmtiere (Metazoen), umfaßt Wirbellose und Wirbeltiere. Unter den ersteren sei die Gastraea erwähnt, ihre älteste Stammform, deren Körper nur aus einem Darmkanal mit zwei Öffnungen zur Nahrungsaufnahme und Ausscheidung besteht. Ferner die Chordonier, die zuerst wie Würmer ohne inneren Hohlraum und Blut aussehen, jedoch später einen Rückenstrang (Chorda) bekommen. In dieser letzten Gestalt nähern sie sich den Ascidien. Zu den Wirbeltieren gehörten anfänglich nur Acranier, Schädellose, wie der Amphioxus. Dann erschienen Monorhinen mit kieferlosem Saugmunde, wie bei der Lamprete, Ichthyoden und endlich Amnioten, das heißt Tiere, deren Keim in Amnion eingeschlossen ist. Diese letzteren waren zuerst Protamnioten, dann Promammalien von der Art der Monotremen. Aus den Promammalien entstanden die Beuteltiere (Marsupialien); diese verwandelten sich nach und nach in Halbaffen (Prosimien) und dann in Affen. Die unmittelbaren Ahnen des Menschen waren in erster Linie die Affen der alten Welt (Simiae catarhinae), also Schwanzaffen, und ferner der von H a e c k e l als Menschenaffe (Anthropoide) bezeichnete schwanzlose Affe. Das ist in großen Zügen die genealogische Abstammung des Menschen. H a e c k e l begnügt sich aber nicht mit der Beschreibung der Hauptmerkmale all dieser angeblichen Ahnen des Menschengeschlechts, sondern er schildert auch, ohne Übergehung einer Zwischenstufe, ihre anatomischen und physiologischen Eigenschaften aufs genaueste, bestimmt die geologische Periode, in der sie lebten, und illustriert seine Beschreibungen auch noch durch eingehende, anatomische Zeichnungen. Auf welche Beweise stützt sich nun diese^so lückenlose Genealogie? Offenbar wäre es H a e c k e l s erste Pflicht gewesen, das wirkliche Vorhandensein dieser verschiedenen Tiere in den angegebenen Epochen nachzuweisen. Das aber hätte nur geschehen können, wenn man ihre Überreste in den entsprechenden Lagen der Erdrinde entdeckt hätte. Aber auch dann wären diese Fossilien noch kein Beweis dafür, daß ein Tier aus dem andern hervorgegangen
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ist. Um das Verwandtschaftsverhältnis der verschiedenen Arten klar zu legen, hätte man zudem noch Reste von Übergangsformen zwischen zwei Arten finden müssen. Ja, um sie mit Fug und Recht als unsere Ahnen hinstellen zu können, hätte man unbedingt die Überreste eines wirklichen Anthropoiden und einiger zwischen ihm und dem Menschen stehender Formen finden müssen. Wie gleich betont werden möge, hat sich bisher nichts diesen Übergangsformen ähnliches gefunden, da die meisten der von H a e c k e l zu unsern Urahnen erhobenen Tiere verschwunden sind, ohne uns irgendwelche Spur ihres Erdenlebens zu hinterlassen. H a e c k e l gesteht das Fehlen paläontologischer Dokumente, welche die Richtigkeit seines Stammbaumes bestätigen könnten, auch selbst zu. »Auf je eine uns im versteinerten Zustande erhaltene, ausgestorbene Art kommen wahrscheinlich Hunderte, vielleicht aber Tausende von ausgestorbenen Arten, die uns keine Spur ihrer Existenz hinterlassen haben." 1 So muß er denn auch weiter zugeben, daß die von ihm auf bloße Vermutungen hin geschaffenen Tierarten keinen großen wissenschaftlichen Wert beanspruchen können, glaubt aber trotzdem, daß sie Beachtung verdienen; »denn," sagt er, „die Linguistik hat auch keine anderen Beweise für -erloschene Idiome, als deren in lebenden Sprachen zu findende Spuren, und sie läßt doch die Annahme einer allgemeinen Sprachform, dem primitiven Stamm aller bekannten Idiome, zu." Es heißt das eigentliche Wesen der exakten Naturwissenschaften merkwürdig verkennen, wenn man in ihnen mit ungefähren Beweisen, die den Philologen genügen mögen, fürlieb nehmen will. Doch umsonst beschönigt H a e c k e l den Mißbrauch, den er mit der Paläontologie treibt; er fühlt selbst, daß diese Wissenschaft seinem System keine einzige feste Stütze bietet. Wie wir am Schluß dieses Kapitels sehen werden, zeugen die neuesten paläontologischen Entdeckungen sogar einwandfrei g e g e n die Abstammung des Menschen vom Affen. H a e c k e l bemüht sich also, seine These auf die Daten der Embryologie zu bauen. Er beruft sich auf ein angebliches naturwissenschaftliches Prinzip, das von ihm selber stammt, und wonach 1
Anthropogenie, 5. Aufl. S. 528. Auflage entnommen.
Alle unsere Zitate sind der fünften
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die Keime der verschiedensten Arten in ihren verschiedenen Entwicklungsstufen die hauptsächlichsten Veränderungen wieder durchmachen, die diese Arten selbst im Laufe der Entwicklung von der einfachsten Form bis zur jetzigen Gestalt erfahren haben. Dieses b i o g e n e t i s c h e G e s e t z , wie er es nennt, bildet die Grundlage seiner Anthropogenie. Danach wäre die Ontogenie oder die Entwicklung des Einzelwesens nichts anderes als die a b g e k ü r z t e W i e d e r h o l u n g d e r P h y l o g e n i e , das heißt der Entwicklung der Art. Und so würden wir also die einundzwanzig Hauptformen, die unsere Ahnen, mit der Monere beginnend, in Jahrmillionen durchlaufen haben, bevor sie zum menschlichen Organismus wurden, in den neun Monaten der Schwangerschaft rasch erledigen. Der Leser versteht jetzt, was die Aufstellung des genealogischen Stammbaums veranlaßt hat. H a e c k e l s biogenetische Hypothese war ihm der unbestritten wahre Ausdruck des Gesetzes, das bei der Entstehung des organischen Lebens waltet. Er hat einundzwanzig Formen gewählt, die der menschliche Keim ,in den ersten Entwickln ngsphasen durchlaufen muß, und für jede von ihnen eine Generation entsprechender Ahnen geschaffen. Umgekehrt hat er lebenden Wesen, die ihm geeignet schienen, ein Glied in der Kette seiner erdichteten Genealogie zu bilden, Ähnlichkeiten mit dieser oder jener Form des menschlichen Fötus zugeschrieben. Wie der Keim sich von einfachen zu komplizierteren Formen entwickelt, so haben sich auch die angeblichen Ahnen des Menschen von dem imaginären Urwesen, der formlosen Monere, bis zu dem fragwürdigen Anthropoiden unausgesetzt vervollkommnet. Nach H a e c k e l s Annahme ist das unbefruchtete menschliche Ei ein kaum wahrnehmbares Protoplasmakügelchen: deshalb mußte die Monere unser erster Ahne sein. Das befruchtete Ei entspricht der Amöbe. Nach der Furchung besteht das Ei aus einer Gruppe von Zellen; und so schafft H a e c k e l uns einen neuen, unmittelbar von der Amöbe stammenden Ahnen herbei, die Synamöbe. Dem folgenden Stadium des Keimes mit der Furchungshöhle entspricht die Planäa. Wir kommen sodann zur Gasträa, dem interessanten Tier, das nur aus einem Darmkanal besteht. Diesen fünften Ahnen erhalten wir, wenn der Keim in das Entwicklungsstadium tritt, in dem sich zwei Keimblättchen bilden: das Darmdrüsenblatt, das die Quelle der hauptsächlichsten Organe des vegetativen Lebens ist, und das Hautsinnesblatt, aus dem alle anderen Organe hervorgehen. E. V. C y o n ,
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Die außerordentliche Wichtigkeit der Gasträa in H a e c k e l s System als Stammutter der verschiedensten Tiere ist schon berührt worden. Alle diese müssen nach seinem biogenetischen Gesetz im Laufe ihrer Entwicklung die Form einer Gasträa annehmen, oder sie bestehen, um H a e c k e l s Ausdruck zu gebrauchen, aus einer Gastrula, das heißt, aus einem Darmkanal mit einer Öffnung, die zur Nahrungsaufnahme und zur Ausscheidung bestimmt ist. 1 Übrigens ist diese Gasträa-Theorie von fast allen Zoologen und Embryologen, als den unwiderlegbarsten Tatsachen zuwiderlaufend, abgelehnt worden. Unser Autor folgt also nur einer Laune seiner eignen Phantasie, wenn er annimmt, daß vor einigen Jahrmillionen ein derartiges, nur aus einem Darmsack bestehendes Tier gelebt habe. Auf ihrem weiteren Entwicklungsgange verwandelt sich H a e c k e l s Gastrula in einen W u r m und wird zur Ascidie. Demnach müssen wir in einem gewissen Entwicklungsstadium gleichfalls Würmer sein. Hierauf werden wir zum Amphioxus, einem Tier, das weder Schädel, noch Herz, noch Gliedmaßen hat. Der Amphioxus, dieser angebliche direkte Abkömmling der Ascidie, ist zugleich der Vater aller Wirbeltiere. Die Metamorphosen, die uns H a e c k e l zu Ehren unserer Ahnen im Mutterleibe durchmachen läßt, sind eilt wahres Kinderspiel im Vergleich zu den Schwierigkeiten, welche die Verwandlung der Monere zum Amphioxus bietet. Im achten Stadium sind wir eine Salzwasserlamprete; im neunten ein gewöhnlicher Fisch, im zehnten werden wir urplötzlich zu einem höheren, mit einer Embryonenhülle versehenen Säugetier, dem A m n i o n . . . . Und so geht es weiter; wir müssen uns Schlag auf Schlag in ein Kloakentier (Monotrem), in ein Beuteltier, in einen Halbaffen, einen wirklichen geschwänzten und in einen ungeschwänzten Affen verwandeln, ehe wir die Ehre haben, Menschen zu werden. Der Leser wird mir eine Aufzählung weiterer Einzelheiten dieser stufenweisen Beförderung, des Keims erlassen. Für unsern Zweck genügt es festzuhalten, daß wir nach H a e c k e l durch all diese Umbildungen hindurch müssen, weil uns sein unwandelbares biogenetisches Gesetz zwingt, dem guten Beispiel zu folgen, das uns unsere Ahne, die Monere, vor einigen Jahrmillionen gegeben hat. 1 Diese sogenannte Oasträa-Theorie hat Haeckel zuerst in einer Monographie, »Über die Kalkschwämme" aufgestellt.
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Wenn man dem Autor glauben darf, so war es übrigens kein frivoler Ehrgeiz, der die Monere dazu trieb, ihr schlichtes, aber sorgloses Leben auf dem Meeresgrunde mit dem unruhvollen menschlichen Dasein zu vertauschen. Es haben viel wichtigere, von ihrem Willen gänzlich unabhängige Gründe dabei gewaltet. Unter diesen stehen der Kampf ums Dasein und die Zuchtwahl an erster Stelle; dann folgen die Anpassung an die äußere Umgebung und die Vererbung. Nimmt man noch geologische Katastrophen, wie die Verschiebung der Eisgürtel, das Austrocknen des Bodens, Erderschütterungen, Überschwemmungen usw. hinzu, so wird auch der geschworene Misanthrop zugeben müssen, daß es der armen Monere schwer fiel, all diesen Kalamitäten standzuhalten und sich nicht in Qasträa, Ascidie, Amphioxus, Lamprete und Mensch zu verwandeln! Ihr blieb unter diesen Umständen offenbar keine Wahl. H a e c k e l ist jedenfalls so überzeugt davon, daß er es für vollkommen unnötig hält, uns die Verbindung zwischen den angeblichen geologischen oder meteorologischen Katastrophen und den Veränderungen im Tier- und Pflanzenorganismus nachzuweisen. Wir müssen das alles wie Glaubensartikel hinnehmen; schlimm genug für uns, wenn unsere Neugierde Erklärungen verlangt und die Verwandtschaft, von der er spricht, uns rätselhaft bleibt. § 3. H a e c k e l s Methode. Im vorstehenden haben wir uns bestrebt, das nackte Skelett der H a e c k e l sehen Lehren zu geben, die nach der Meinung seiner Anhänger in der Geschichte der kosmogenetiscjien Anschauungen Epoche machen müssen. Im übrigen bemüht sich der Verfasser dieses dickleibigen Buches — wenn auch völlig erfolglos — um nichts anderes als um die Verschleierung aller gezwungenen und unlogischen Seiten seines Systems. Ideen, deren Haltlosigkeit in die Augen springt, ein pseudowissenschaftliches Ansehen zu verleihen — das ist in der Tat H a e c k e l s Hauptbestreben. Seine Argumente fließen um so reicher, je vollständiger die Beweise versagen, und die seiner Theorie fehlenden Grundlagen werden durch ermüdende Weitschweifigkeit der Beschreibungen ersetzt. Wer die »Anthropogenie« aufmerksam und ohne Voreingenommenheit liest, gewinnt daraus notwendigerweise die Überzeugung, daß H a e c k e l nur deshalb seine Gegner, d. h. eigentlich 5*
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die ganze wissenschaftliche Welt, mit Hohn und Verleumdungen überschüttet, weil er ihnen die Kritiken nicht verzeiht, die ihn zur Herbeischaffung von Beweisen zwingen, wo er sich lieber mit einfachen Behauptungen begnügt hätte. Bisweilen freilich entspringt die Schwäche von H a e c k e l s Beweisführung nicht nur der Absicht, den Leser irre zu führen, sondern sie zeigt auch, daß dieser Autor strengwissenschaftliches Denken überhaupt nicht besitzt und deshalb der Wissenschaft nicht von Nutzen sein kann. Welche allgemeinen Ansichten hegt nun H a e c k e l zunächst über die Bedeutung der von ihm behandelten Fragen und über die Methoden, mit denen er seine Arbeiten zu fördern vermeint? Bei dieser Prüfung treffen wif auf haarsträubende wissenschaftliche Ketzereien und müssen mehr denn je zu wörtlichen Zitaten greifen. Diese bieten überdies den Vorteil, einen Begriff von dem Schriftsteller zu geben. B u f f o n s Wort: „Le style c'est Thomme«, paßt auf niemanden besser als auf H a e c k e l . Das Ziel, das er mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten unmittelbar anstrebt, bekennt er laut in der Vorrede zur »Anthropogenie« (1. Aufl.), die mitten im K u l t u r k a m p f entstand. »In diesem Qeisteskampfe, der jetzt die ganze denkende Menschheit bewegt und der ein menschenwürdigeres Dasein in der Zukunft vorbereitet, stehen auf der einen Seite unter dem lichten Banner der Wissenschaft: Qeistesfreiheit und Wahrheit, Vernunft und Kujtur, Entwicklung und Fortschritt; auf der anderen Seite unter der schwarzen Fahne der H i e r a r c h i e : Geistesknechtschaft und Lüge,. Unvernunft und Roheit, Aberglauben und Rückschritt. . . . In diesem gewaltigen, weltgeschichtlichen »Kulturkämpfe', in welchem mitzukämpfen wir uns glücklich preisen dürfen, können wir nach unserem persönlichen Ermessen der ringenden Wahrheit keine bessere Bundesgenossin zuführen, als die ,Anthropogenie'!" Wie lächerlich erscheinen diese Phrasen heute nach zwanzig Jahren, wo dieser unselige Kulturkampf längst mit einem Gang nach Canossa geendet hat! Nach H a e c k e l s Dafürhalten sollte die „Anthropogenie" also eine Waffe im Kampfe gegen die katholische Hierarchie sein. Damit ist das parteilose Suchen nach Wahrheit, das bis dahin als Hauptgegenstand der Wissenschaft galt, ins Hintertreffen geraten. Wenn man die Wahrheit als Kampfeswaffe nicht brauchen kann, so muß man sie biegen oder ihr Gewalt antun. Wehe dem Gelehrten, der
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eine Theorie aufstellt, die den Beifall der Ecclesia militans erlangen kann! In solchen Fällen greift H a e c k e l sofort zu seinem gewohnten Verfahren, er überhäuft diesen Gelehrten mit Schmähungen. Irgendwelchen Einwürfen ist er unzugänglich; er entzieht sich ihnen durch einen Purzelbaum. So antwortet er auf das D u B o i s R e y m o n d s c h e „ Ignorabimus" in dem oben zitierten Vorwort: »Wenn wir unseren einzelligen Amöbenahnen aus der laurentischen Urzeit hätten begreiflich machen wollen, daß ihre Nachkommen dereinst in der kambrischen Periode einen - vielzelligen Wurmorganismus mit Haut und Darm, Muskeln und Nerven, Nieren und Blutgefäßen bilden würden, so würden sie uns das nimmermehr geglaubt haben; so wenig als diese Würmer, wenn wir ihnen hätten erzählen können, daß ihre Nachkommen sich zu schädellosen Wirbeltieren, gleich dem Amphioxus — und so wenig als diese Schädellosen, wenn wir ihnen hätten sagen können, daß ihre späten Epigonen sich zu Schädeltieren entwickeln würden. . . . Sie alle würden uns einstimmig geantwortet haben: ,Wir werden uns niemals ändern und wir werden niemals unsere Entwicklungsgeschichte erkennen. Nunquam mutabimur! Semper ignorabimus!'" H a e c k e l s Anhänger zitieren diese schwülstigen Phrasen triumphierend als schlagende Widerlegung derer, die eine Begrenzung unseres Begriffsvermögens annehmen. Gibt es aber etwas Hohleres als diese Begründung? Hätten Amöben, Würmer und Amphioxi H a e c k e l s Worte verstehen und beantworten können, sie hätten allen Grund gehabt, ihm zu sagen, daß seine Behauptungen zwar sehr schmeichelhaft für sie, doch leider unzutreffend seien. Die Amöbe würde H a e c k e l versichern, daß sie noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Amöbe sei; der Wurm würde für sich das gleiche sagen, und der Amphioxus würde hinzufügen, daß er noch nie so kopflos wie in H a e c k e l s Jahrhundert gewesen sei. Selbst wenn man die H a e c k e l s c h e Genealogie als richtig gelten ließe, so hätten alle diese Tiere doch wohl vollständig Recht gehabt, zu erklären: »Wir werden niemals unsere Entwicklungsgeschichte kennen." Wenn man nicht gerade annimmt, daß H a e c k e l s »Anthropogenie" die Lieblingslektüre des Amphioxus ist, so kann dieser heutigentags doch unmöglich wissen, daß sich unter seinen armen, aber achtbaren Ahnen die . Gastrula und Ascidie befanden und daß er die Ehre hat, zu seinen zahlreichen Nachkommen einen Professor der Universität Jena zu rechnen!
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Wie schon gesagt worden, fußt H a e c k e l s ganzes System auf zwei Grundgesetzen: dem angeblichen biogenetischen Gesetz, kraft dessen die Entwicklung eines tierischen Keims nur die verkürzte Wiederholung der Entwicklung der ganzen Art ist, und der sogenannten Gasträatheorie, der zufolge die sechs höheren Tiertypen in einem gewissen Entwicklungsstadium alle aus einem mit einer Ö f f n u n g versehenen Darmschlauch bestehen. K ö l l i k e r prüft in seinem Hauptwerk: »Entwicklungsgeschichte des Menschen und der höheren Tiere", sowohl das biogenetische Gesetz, als auch die Gasträahypothese sehr genau und beweist an der Hand vieler Tatsachen der Embryologie und der vergleichenden Anatomie mühelos, daß sich beide im offenbarsten Widerspruch zur wissenschaftlichen Wahrheit befinden. Wir werden weiterhin Gelegenheit finden, mehrere dieser Tatsachen anzuführen; hier sei nur die eine erwähnt, daß bei Säugetieren und Vögeln nichts der H a e c k e l s c h e n Gastrula ähnliches existiert. Diese beiden Tierklassen sind wichtig genug, um alle H a e c k e l s c h e n Kartenhäuser umzuwerfen. Mit vollem Recht darf K ö l l i k e r am Ende seiner Beweisführung die H a e c k e l s c h e Phylogenie aus der Wissenschaft verweisen, weil sie nicht mit der Wahrheit übereinstimmt. Auf diese starken Einwände, die sich auf das Fehlen der Gastrula bei Säugetieren und Vögeln gründen, antwortet H a e c k e l mit der bloßen Behauptung, daß v a n B e n e d e n s und v a n R e u t e r s neuste Entdeckungen einer c e n o g e n e t i s c h e n Gastrula beim Kaninchen und beim H u h n , die sich nach seiner Gasträatheorie leicht auf die p a l i n g e n e t i s c h e Form der Gastrula des Amphioxus zurückführen läßt, schon genügten, um diese Einwände zu entkräften ! Auf den ersten Blick sieht diese Antwort tatsächlich wie ein Beweis aus; H a e c k e l ruft den geachteten Namen van B e n e d e n s an; er bedient sich wissenschaftlicher Ausdrücke, wie »cenogenetisch« und »palingenetisch«. Was will man mehr? Indessen widerlegen v a n B e n e d e n s Beobachtungen K ö l l i k e r s Behauptungen keineswegs. Es handelt sich um weiter nichts als um die beiden zitierten Ausdrücke und um den Sinn, den H a e c k e l ihnen beilegt. Wir werden sogleich sehen, auf welche schwankende Grundlage er einen Hauptpfeiler seines Systems zu bauen sucht.
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§ 4. Die Fälschungen der Natur nach Haeckel. Bei der Aufstellung der einundzwanzig Tiertypen, welche die Zwischenstufen zwischen Monere und Mensch bilden sollen, geht H a e c k e l von seinem biogenetischen Gesetz aus und benutzt Tatsachen aus der Entwicklungsgeschichte des Keims. Die meisten dieser Typen haben aus dem einfachen Grunde keine Spuren hinterlassen, weil sie nie anderswo gelebt haben, als in der Phantasie des Autors. Zu ihrer Beschreibung benutzt er einerseits die hervorstechendsten Züge der Keime in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien, andrerseits zieht er die vergleichende Anatomie heutiger oder fossiler Tiere heran, die unsren angeblichen Ahnen nach seiner Meinung am nächsten kommen. Diese doppelte Aufgabe zwingt ihn fortwährend, einmal die o f f e n k u n d i g e n A b w e i c h u n g e n zwischen den Keimen verschiedener Tiere möglichst vers c h w i n d e n z u l a s s e n , und zweitens große Übereinstimmungen'in der Struktur oder doch wenigstens im äußeren Aussehen der Keime und der einander entsprechenden Tiertypen zu finden. Trotz der großen Geschicklichkeit, womit er auch da Ähnlichkeiten entdeckt, wo es keine gibt, trotz der Freiheit, womit er die unwiderleglichsten Daten der Embryologie benutzt, verstößt H a e c k e l auf Schritt und Tritt gegen Tatsachen, die sich trotz aller Bemühungen seinem biogenetischen Gesetz nicht beugen wollen. Nun aber beziehen sich diese Tatsachen ausnahmslos auf die wichtigsten morphologischen Eigentümlichkeiten, sie bieten also in Wahrheit den besten Beweis für die Falschheit des Gesetzes. Aber H a e c k e l versteht es nicht so. Für ihn erklären sich diese Tatsachen durch Fälschungen, die sich die Natur nach und nach im Verlaufe von Jahrmillionen zu begehen erlaubt hat; auf diese Weise hat sie die Spuren der Verwandtschaft zwischen den verschiedenen Arten verwischt. Mit anderen Worten, die Natur selber hat sein biogenetisches Gesetz beständig gefälscht! Nachdem H a e c k e l diese seltsame, aber bequeme Theorie einmal aufgestellt hat, nimmt er beim weiteren Ausbau seines Systems beständig seine Zuflucht zu ihr, sobald die Tatsachen seinen Theorien zu widersprechen wagen. »Natürlich,« sagt er, n wird es bei dieser phylogenetischen Deutung der ontogenetischen Erscheinungen vor allem darauf ankommen, scharf und klar zwischen den ursprünglichen palingeneti-
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sehen und den späteren cenogenetischen Vorgängen der Entwicklung zu unterscheiden. P a l i n g e n e t i s c h e P r o z e s s e oder keimesgeschichtliche Wiederholungen nennen wir alle jene Erscheinungen in der individuellen Entwicklungsgeschichte, welche durch die konservative Vererbung getreu von Generation zu Generation übertragen worden sind und welche demnach einen unmittelbaren Rückschluß auf entsprechende Vorgänge in der Stammesgeschichte der entwickelten Vorfahren gestatten. C e n o g e n e t i s c h e P r o z e s s e hingegen oder keimesgeschichtliche Störungen nennen wir alle jene. Vorgänge in der Keimesgeschichte, welche nicht auf solche Vererbung von uralten Stammformen zurückführbar, vielmehr erst später durch Anpassung der Keime oder der Jugendformen an bestimmte Bedingungen der Keimesentwicklung hinzugekommen sind. Diese cenogenetischen Erscheinungen sind fremde Zutaten, welche durchaus keinen unmittelbaren Schluß auf entsprechende Vorgänge in der Stammesgeschichte der Ahnenreihe erlauben, vielmehr die Erkenntnis der letzteren geradezu fälschen und verdecken. . . . " »Zwar ist jene Unterscheidung der ,PaIingenesis oder Auszugsentwicklung' und der »Cenogenesis oder Fälschungsentwicklung' bisher von vielen Naturforschern nicht entfernt gewürdigt worden; ich halte sie aber für die erste Bedingung jedes wahren Verständnisses der Entwicklungsgeschichte, und ich glaube, daß man demgemäß in der Keimesgeschichte geradezu zwei verschiedene Hauptteile unterscheiden muß: die Palingenie und die C e n o g e n i e . . . . " Nachdem H a e c k e l mehrere Entwicklungsprozesse beim Menschen und den höheren Wirbeltieren aufgezählt hat, fährt er fort: »Alle diese und viele andere Erscheinungen sind offenbar von den uralten Vorfahren getreu durch beständige Vererbung übertragen und demnach unmittelbar auf entsprechende paläontologische Entwicklungsvorgänge in deren Stammesgeschichte zu beziehen. Hingegen ist das durchaus nicht der Fall bei folgenden Keimungsvorgängen, die wir als cenogenetische Prozesse zu beurteilen haben: die Bildung des Dottersackes, der Allantois und Placenta, des Amnion, Serolemma und Chorion, überhaupt der verschiedenen Eihüllen und der entsprechenden Blutgefäßverästelungen; ferner die paarige Anlage des Herzschlauches", die vorübergehende Trennung von Urwirbelplatten und Seitenplatten, der sekundäre Verschluß der Bauchwand und Darmwand, die Bildung des Nabels usw. — Alle diese und viele andere Erscheinungen . . . sind durch Anpassung an
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die eigentümlichen Bedingungen des Keimlebens oder Embryolebens (innerhalb der Eihüllen) entstanden. . . . Die cenogenetischen Störungen oder Fälschungen des ursprünglichen palingenetischen Entwicklungsganges beruhen zum großen Teile auf einer allmählich eingetretenen Verschiebung der Erscheinungen, welche durch die Anpassung an die veränderten embryonalen Existenzbedingungen im Laufe vieler Jahrtausende langsam bewirkt worden sind. Diese Verschiebung kann sowohl den Ort, als die Zeit der Erscheinung betreffen. Jene erstere nennen wir Heterotopie, diese letztere Heterochromie." (»Anthropogenie", S. 9—11.) Man muß die naive Art bewundern, wie er die Entwicklung der Eihüllen dadurch erklärt, daß sich der Keim «innerhalb der Eihüllen" dem Leben anpasse. Noch merkwürdiger ist diese jahrmillionen währende Cenogenese mit ihren Modifikationen durch Zeit und Ort und ihren Schöpfungen von Allantois, Amnion oder der Placenta (zweifellos bringt sie alle tausend Jahre ein Stückchen hervor), ihrer Trennung der Urwirbelplatten, der Schließung der Darmwände usw. Mehr noch, all diese Phänomene werden als durchaus »natürlich« und »offenbar« hingestellt; ja, um den Leser noch mehr zu blenden, schafft H a e c k e l mit Hilfe des griechischen Wörterbuchs barbarische Benennungen herbei, die allen Sinnes bar sind. »Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein," sagt G o e t h e . Dies Verfahren wendet niemand so häufig an wie H a e c k e l . Der deutsche Zoologe F r i t z M ü l l e r stellte zuerst in allgemeinen Ausdrücken den Gedanken auf, daß die historische Entwicklung einer Art in der Entwicklungsgeschichte jedes Artangehörigen sich spiegeln müsse, daß folglich die Entwicklung der Nachkommen die der vorausgegangenen Ahnen abgekürzt wiedergäbe. Müller äußert diesen Gedanken nur als einfache Mutmaßung, deren Richtigkeit, wie er sagt, jetzt in der Entwicklung bestimmter Individuen nicht nachgewiesen werden könne. Um seine Hypothese einzuschränken, fügt er hinzu: »Die in der Entwicklungsgeschichte erhaltene geschichtliche Urkunde wird allmählich verwischt, indem die Entwicklung einen immer geraderen Weg vom Ei zum fertigen Tiere einschlägt, und sie wird häufig gefälscht durch den Kampf ums Dasein. . . . " 1 1
Für D a r w i n , S. 77.
Leipzig 1864.
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Diese Einschränkung soll im Grunde genommen nur erklären, weshalb eine Prüfung jener Mutmaßung, wonach die Ontogenie eine bloße Wiederholung der Phylogenie wäre, jetzt unmöglich sei. Hiermit wird also zugestanden, daß es für das biogenetische Gesetz, selbst in Form einer bloßen Hypothese, keine Beweise gibt. H a e c k e l hat sich F r i t z M ü l l e r s Vermutung samt ihrer EinAus der ersteren machte er sein schränkung zu eigen gemacht. Grundgesetz für die Entstehung des organischen Lebens, und aus der zweiten eine sehr wichtige Ausnahme, die dieses Gesetz aufs beste bestätigt. Für jeden denkenden Naturforscher ist es klar, daß, wenn man zu der Annahme gezwungen ist, die Natur fälsche beständig ihre eignen Gesetze, hiermit schon der Beweis geliefert ist, daß diese angeblichen Gesetze überhaupt nicht existieren. Und besagte Fälschungen finden sich tatsächlich in H a e c k e l s System, nicht bloß ein- oder zweimal, sondern fast auf jeder Seite der „Anthropogenie" und just bei den wichtigsten Entwicklungsprozessen des Keims. Alle diese Phänomene und viele andere sind nach dem Verfasser als Fälschungen anzusehen. Zählt man alle ähnlichen, in seinem Buch angegebenen »Fälschungen" zusammen, so ergibt sich, daß Dreiviertel der Entwicklungsformen des Keims Fälschungen sind; mit andren Worten, daß sie dem berühmten, biogenetischen Gesetz stracks zuwiderlaufen. Ein Beispiel. Nachdem H a e c k e l die Furchung des Eis bei gewissen Tieren beschrieben und die angebliche Ähnlichkeit dieser Erscheinung bei verschiedenen Arten schlecht und recht erklärt hat, zieht er den Schluß, daß der bezeichnete Furchungsmodus die palingenetische Form dieses Prozesses SCI. n Bei der großen Mehrzahl der Tiere," fährt er fort, »ist das aber nicht der Fall. Vielmehr ist bei diesen der ursprüngliche Vorgang der Keimung im Laufe vieler Millionen Jahre allmählich mehr oder minder abgeändert, durch Anpassung an neue Entwicklungsbedingungen gestört und modifiziert worden. Sowohl die Eifurchung, als auch die darauf folgende Gastrulation haben infolgedessen ein mannigfach verschiedenes Aussehen gewonnen. Ja, die Verschiedenheiten sind im Laufe der Zeit so bedeutend geworden, daß man bei den meisten Tieren die Furchung nicht richtig gedeutet und die Gastrula überhaupt nicht erkannt hat." (S. 177.) »Wenn irgendeine Naturerscheinung nicht in der angenommenen Richtung ihren Verlauf nimmt," sagt K a r l V o g t treffend,
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«so klagt man sie als gefälscht an und übergeht sie. So ist es mit der ontogenetischen Entwicklung des Menschen und der Säugetiere im allgemeinen, endlich aller derjenigen Tiere, die sich nicht nach der Gastrulatheorie entwickeln wollen, oder welche sich widersetzen, die primitive Öffnung der Darmeinstülpung als After statt als Mund zu gebrauchen; sie kann nur gefälscht sein und weicht von der normalen Richtung infolge einer unbekannten Ursache ab. Diese Erklärung ist sehr bequem, aber wenig einleuchtend." H a e c k e l fühlt selber recht gut, daß seine Art der Beweisführung unwissenschaftlich ist. Mehr als einmal, wenn seine Ergebnisse gar zu phantastisch werden, hält er es für angezeigt, den Leser darauf hinzuweisen, daß seine Beweise keinen wissenschaftlichen Charakter tragen. Er beeilt sich freilich hinzuzufügen, daß in der Anthropologie und Embryologie • eine zu große Exaktheit nicht nur unmöglich, sondern auch überflüssig sei. In Wirklichkeit stehen die Wissenschaften, auf denen d ebenso wie sie Todesangst oder die peinlichen Gefühle der Brustbeklemmung hervorrufen ? Hierauf könnte der Physiologe antworten: aus demselben Grunde, aus dem die pathologischen Veränderungen des Ohrlabyrinths oder die künstlichen Erregungen seiner Nerven1
Siehe meine »Nerven des Herzens", Kap. IV. Ich sehe hier ganz von den zahlreichen Gefühlen ab, die durch Herzaffektionen entstehen. Siehe hierüber meine »Nerven des Herzens", S. 161 ff., wo ich meine Selbstbeobachtungen mitgeteilt habe. * Siehe »Die Nerven des Herzens", Kap. IV, § 7. !
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fasern nie, auch nicht g e l e g e n t l i c h , ähnliche Gefühle auslösen, wie wir sie beim Anhören einer M o z a r t sehen Sonate oder einer B e e t h o v e n sehen Symphonie haben. In seiner bahnbrechenden Arbeit über die Reflextätigkeit des Rückenmarks hat E d u a r d P f l ü g e r um die Mitte des letzten Jahrhunderts den Ganglienzellen des Rückenmarks sensorische, d. h. seelische Funktionen zugeschrieben. 1 Zahllose Forschungen haben seitdem die Richtigkeit der P f l ü g e r s c h e n Lehre erwiesen. Bei der von mir vorgeschlagenen Differenzierung der psychischen Funktionen liegt keinerlei Grund vor, ähnliche sensorische Funktionen denjenigen Ganglienzellen des großen sympathischen Nervs zuzuschreiben, deren reflektorische Fähigkeiten in unzweifelhafter Weise erwiesen sind, besonders aber den Hals- und obersten Brustganglien, deren Reflexe, wie ich dies gezeigt habe, eine große funktionelle Bedeutung für die Herztätigkeit besitzen. Mit der gleichen Befugnis darf man auch gewissen Herzganglien selbständige seelische Funktionen zuschreiben. Die endgültige Lösung dieser Frage, die wir auf Grund von Tierexperimenten aufgeworfen haben, stößt indes noch auf große Schwierigkeiten. Und so könnten nur neue Beobachtungen, besonders an Herzkranken, zu ihrer Lösung beitragen. 2 § 4. Das Ohrlabyrinth und das Geistesleben. Die Grenzen zwischen seelischen Funktionen und geistigen Leistungen. Die Verrichtungen der Sinnesorgane bilden das wichtigste Grenzgebiet, auf weichen die Untersuchungen der Physiologen und Philosophen zu fruchtbarer Arbeit zusammentreffen können. In den folgenden Abschnitten soll der Versuch gemacht werden, möglichst scharfe Grenzlinien zu bezeichnen, bis wohin die experimentelle Forschung des Physiologen sich ausdehnen kann; jenseits dieser Linie soll das Gebiet der spekulativen Philosophie beginnen. Der Naturforscher darf den festen Boden der experimentell erwiesenen oder unzweifelhaft beobachteten Tatsachen nicht verlassen, wenn er vollgültige Gesetze von ihnen ableiten will. Der Philosoph dagegen besitzt reichhaltige, während Jahrtausenden von den größten 1 E d u a r d P f l ü g e r , „Die sensorischen Funktionen des Rückenmarks der Wirbeltiere», Beriin 1853. 4 Über die hierbei einzuschlagenden Methoden siehe meine Schrift „Leib, Seele und Geist« in P f l ü g e r s Archiv, Bd. CXXVII, 1909.
E. v. C y o n , Gott und Wissensehaft. Bd. 2.
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Denkern der Menschheit angehäufte Schätze; von Lehren, Hypothesen und Theorien über das Denkvermögen und die Denkgesetze, die es ihm mit viel größerer Leichtigkeit als dem Physiologen gestatten; die Errungenschaften der Sinriesphysiologie für die Erkenntnis der geistigen Vorgänge zu verwerten. Er braucht dabei nicht unbedingt von präzisen Apparaten und von mathematischen Formeln Gebrauch zu machen. Maß und Zahl können an den rein geistigen Erscheinungen und Vorgängen nur selten mit Nutzen angewendet werden. Nur die seelischen Funktionen werden räumlichen und zeitlichen Messungen unterzogen und dies dank den beiden mathematischen Generalsinnen im Ohrlabyrinth, die einen notwendigen Faktor unseres Denkvermögensi bilden. Unter Zuhilfenahme der bei dem Studium der Funktionen des Ohrlabyrinths gewonnenen Erfahrungen soll hier der Versuch gemacht werden, die Grenzlinie zwischen den seelischen Funktionen und den geistigen Vorgängen etwas näher zu bezeichnen. Die Zeitund Raumwahrnehmungen galten bis jetzt als rein geistige Prozesse, deren Erforschung allein, den Philosophen und Mathematikern zukommt. Trotzdem ist deren Forschen bisher erfolglos geblieben, obwohl sie oft genug versucht haben, den rein geistigen Ursprung der Zeit- und Raumvorstellungen spekulativ zu beweisen. Noch vor kurzem hat C a r l S t u m p f zugeben müssen, daß es bis jetzt den Mathematikern, trotz der neuen Richtung, die sie mit der nichteuklidischen Geometrie einschlugen, nicht gelungen sei, »weder diesen Ursprung nächzuweisen noch diese Neubildungen in den Rahmen der allgemeinen Erkenntnisprobleme befriedigend einzufügen, sie zu den Begriffen von :Erfahrung und aprioristischer Erkenntnis, zu denen wir von anderen Seiten unweigerlich geführt werden, in einleuchtende Beziehung zu setzen«. 1 Der Grund dieses Mißlingens rührt aber nicht, wie S t u m p f sagt, daher, daß »sie nicht in der Erkenntnistheorie aufgewachsen", sondern daß diese Probleme überhaupt w e d e r v o n P h i l o s o p h e n n o c h v o n M a t h e m a t i k e r n gelöst werden konnten.. Allein die experimentelle Physiologie ist im Besitze der notwendigen Methoden, um die Existenz von Sinnesorganen nachzuweisen, deren Wahrnehmungen zu Vorstellungen von Raum und Zeit führen. Es gibt keine unmittelbare Vorstellung ohne Wahrnehmungen, 1 Garl S t u m p f , Berlin 1907.
D i e Wiedergeburt der Philosophie.
Rektoratsiede.
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keine Wahrnehmung ohne vorhergehende Empfindung; keine Empfindung ohne Erregung von Nervenfasern — oder deren Endigungen — und keine Erregung ohne Einwirkung äußerer oder innerer Reize. Diese Unmöglichkeiten hätten die Empiristen unter den Philosophen davon abhalten sollen, von sinnlichen Wahrnehmungen zu sprechen, wenn sie nicht imstande waren, die Sinnesorgane aufzuweisen, deren Empfindungen wahrgenommen werden sollen. Keine mathematischen Formeln oder dialektischen Spitzfindigkeiten, keine noch so geistreiche Sophistik vermögen über diese unbedingten Notwendigkeiten hinwegzuhelfen. Der Erfolg allein entscheidet über den Wert der zur Forschung verwendeten Methoden. D i e E n t s c h e i d u n g ist aber zugunsten der experimentellen Physiologie ausgef a l l e n , d e r es g e l u n g e n ist, im O h r l a b y r i n t h d i e E x i s t e n z spezieller S i n n e s v o r r i c h t u n g e n nachzuweisen, denen wir die W a h r n e h m u n g der drei G r u n d r i c h t u n g e n v e r d a n k e n , die u n s e r e m Bewußtsein die Vorstellung eines d r e i d i m e n sionalen Raumes sowie die Z a h l e n k e n n t n i s aufzwingen. Diese Sinneseinrichtungen bestehen in dem System der drei senkrecht zueinander stehenden Bogengänge, welche ihrer anatotomischen Lagerung wegen dem rechtwinkligen D e s c a r t e s ' s c h e n Koordinatensystem entsprechen. Die unmittelbare Vorstellung dieses Koordinatensystems in unserem Bewußtsein oder dessen ideale Abstraktion könnte bei der Schöpfung der analytischen Geometrie von D e s c a r t e s sehr gut als Ausgangspunkt gedient haben. D i e s e G e o metrie würde also ihren U r s p r u n g ebenfalls den Verricht u n g e n d e s B o g e n g a n g a p p a r a t e s v e r d a n k e n , g e n a u wie d i e v o n E u k l i d , Schon 1878, als ich das Zustandekommen dieses idealen Systems dreier rechtwinkliger Koordinaten in unserem Bewußtsein darlegte, erkannte ich diesen Ursprung, zauderte aus den angeführten Gründen jedoch, der Frage näher zu treten. Ein Mathematiker, der sich die Fortsetzung dieser Nachforschungen zur Aufgabe machte, könnte der Philosophie sicherlich wertvolle Daten aus seiner Wissenschaft liefern. § 5. Die Entstehung unserer Vorstellung des rechtwinkligen Koordinatensystems von Descartes. Die Umkehr der Netzhautbilder. »Bei keinem anderen unserer Sinnesorgane", schrieb ich schon im Jahre 1878, »haben wir es so leicht wie beim Bogengangappa10*
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rate, das Zustandekommen der Vorstellung von der Natur der Empfindungen herzuleiten. Der anatomische Bau der in drei auf einander senkrechten Ebenen gelegenen Bogengänge hätte schon genügen sollen, um ihre funktionelle Bestimmung zu erkennen, welche ist, uns die Empfindungen der von den drei Grundrichtungen des Raumes herkommenden Schallwellen wahrnehmen zu lassen." Noch ehe die zahllosen Versuche an den Bogengängen — von F l o u r e n s bis zu mir — unzweideutig dargetan haben, in welchen genauen Beziehungen die Nervenenden der drei Ampullen zu den Richtungen unserer Bewegungen stehen, konnte man schon mit Wahrscheinlichkeit aus ihrem Bau eine solche Funktionsweise erschließen, wie dies A u t e n r i e t h schon im Jahre 1803 getan hat. Als im Jahre 1875—76 mir der Nachweis gelang, daß die drei Bogengangpaare die Bewegungen unserer beiden Augäpfel beherrschen, welche für die räumlichen und zeitlichen Vorstellungen von so außerordentlicher Wichtigkeit sind, bestand für mich kein Zweifel mehr, daß die Richtungsempfindungen, welche bei den Tieren für die Orientierung in den drei Richtungen des äußeren Raumes dienen, beim Menschen auch die Bildung seiner Vorstellungen und Begriffe eines Raumes von drei Dimensionen ermöglichen. Gleichzeitig häuften sich die experimentellen Belege 1 dafür, daß die U m k e h r u n s e r e r N e t z h a u t b i l d e r , d i e u n s g e s t a t t e t , ä u ß e r e G e g e n s t ä n d e in ihrer a u f r e c h t e n und n i c h t in v e r k e h r t e r S t e l l u n g w a h r z u n e h m e n , e b e n f a l l s auf d i e Verr i c h t u n g e n d e r B o g e n g ä n g e z u r ü c k g e f ü h r t w e r d e n muß. S o e n t w i c k e l t e s i c h a l l m ä h l i c h d i e Lehre, d a ß d i e R i c h t u n g s e m p f i n d u n g e n die unmittelbare V o r s t e l l u n g eines r e c h t w i n k l i g e n K o o r d i n a t e n s y s t e m s b i l d e n , auf w e l c h e s alle anderen E m p f i n d u n g e n , b e s o n d e r s die der Tast- und Gesichtsorgane, projiziert werden. D i e s e Projektion gestattet d i e f ü r d i e O r i e n t i e r u n g im R ä u m e e r f o r d e r l i c h e L o k a l i s i e r u n g d e r ä u ß e r e n G e g e n s t ä n d e und b e s o r g t , w i e g e s a g t , d i e U m k e h r der N e t z h a u t b i l d e r , e h e s i e zu u n s e r e m Bewußtsein gelangen. Es wurde schon angedeutet, daß die neu festgestellten Verrichtungen des Ohrlabyrinths sich besonders dazu eignen, die Grenz1
Siehe „Das Ohrlabyrinth", Kap. I, §§ 4, 8 ii. 9; Kap. V, §§ 12 u. 13, sowie Figg. I—VII auf Taf. I.
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linie zwischen den seelischen Hirnfunktionen und den geistigen Vorgängen, also zwischen den Forschungsgebieten der Physiologen und der Philosophen, zu ziehen. S o l a n g e e s s i c h bei d i e s e n V e r r i c h t u n g e n um E m p f i n d u n g e n , W a h r n e h m u n g e n u n d u n m i t t e l b a r e V o r s t e l l u n g e n h a n d e l t , u n t e r l i e g t es k e i n e m Z w e i f e l , d a ß m a n es m i t r e i n s e e l i s c h e n P r o z e s s e n zu t u n hat, deren weitere E r f o r s c h u n g der experimentellen P h y siologie obliegt. Zweifel könnten darüber entstehen, ob die Umkehr des Netzhautbildes und die Bildung des Koordinatensystems zu den seelischen Funktionen oder zu den geistigen Leistungen gehören. Die ausführliche Darlegung dieser physiologisch wichtigen Funktionen des Ohrlabyrinths zeigt, daß diese Prozesse sich zwischen den peripheren Sinnesorganen und denjenigen Ganglienzentren abspielen, wo die Wahrnehmungen der äußeren Eindrücke stattfinden. Der Begriff einer Funktion bedingt notwendig die Existenz von Organen, von denen sie ausgeübt wird; nun aber beherrscht nach meiner Auffassung der Geist in ausgedehntem Maße die seelischen Funktionen des Gehirns. Der Geist besitzt keine angeborenen (aprioristischen) Inhalte noch Organe. Er benutzt die in den Ganglienzellen angehäuften E m p f i n d u n g e n , E i n d r ü c k e , W a h r n e h m u n g e n und u n m i t t e l b a r e V o r s t e l l u n g e n , um sie in vorteilhaftester Weise nach den unwandelbaren Gesetzen des Denkens für die Bildung von B e g r i f f e n , a b s t r a k t e n I d e e n , U r t e i l e n usw. zu v e r w e n d e n . Er k a n n also s e l b s t n i c h t eine F u n k t i o n u n d am w e n i g s t e n e i n e F u n k t i o n d e r v o n i h m b e h e r r s c h t e n G a n g l i e n z e l l e n s e i n . Bei der Unmöglichkeit, auch nur Vermutungen über die Organe anzustellen, die als materielles Substrat oder auch nur als physisches Korrelat für seine Funktionen dienen, kann man wohl von geistigen A s s o z i a t i o n e n , E r s c h e i n u n g e n , V o r g ä n g e n und L e i s t u n g e n sprechen, aber nicht von geistigen Funktionen. D a d i e U m k e h r d e s N e t z h a u t b i l d e s s i c h im G e h i r n e s e l b s t a b s p i e l t , s o m u ß sie a l s e i n e s e e l i s c h e F u n k t i o n d e r H i r n z e n t r e n b e t r a c h t e t werden, wahrscheinlich derjenigen, wo die Nervenfasern des Opticus mit denen des Vestibularnervs zusammentreffen. Die Sinnestäuschungen, die man durch Verstellung des Kopfes oder mit Hilfe besonderer prismatischer Brillen hervorruft, um eine derartige Umkehr der Netzhautbilder zu erzeugen oder zu verhindern (jedesmal bej intaktem Ohrlabyrinth)»
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zeugen ebenfalls zugunsten ihres seelischen Ursprungs. 1 Die Unterschiede zwischen einer Sinnestäuschung und Urteilstäuschung sind beim Menschen zu evident, als daß man das Ausfallen d e r Umkehr für eine geistige Täuschung halten könnte. Nun habe ich derartige Ausfälle durch zahlreiche Versuche über die Täuschungen in den Richtungswahrnehmungen am Menschen klar dartun können.
§ 6. Die Bildung des Ichbewußtseins beim Menschen und des Sichempfindens bei Tieren. Die Verdoppelung der Persönlichkeit Viel größere Schwierigkeiten bietet schon eine andere Konsequenz der Bildung des idealen Koordinatensystems durch die drei Richtungsempfindungen des Ohrlabyrinths, nämlich die Annahme, daß der Nullpunkt dieses Systems unserem Ichbewußtsein entspräche. Von jeher hat der Naturforscher unser Ichbewußtsein als die Resultante sämtlicher individueller Empfindungen betrachtet, die zu unserem Bewußtsein gelangen. Die Projektion unserer sämtlichen Empfindungen auf das Koordinatensystem des Ohrlabyrinths geschieht zum Zwecke der Lokalisierung dieser Empfindungen im äußeren Räume. Der Gedanke lag daher nahe, das Zentrum 2 , wo die Wahrnehmungen aller dieser Empfindungen zusammentreffen, sei beim Menschen mit diesem Nullpunkt identisch. Auf Grund der ersten ausführlichen Mitteilung meiner experimentellen Untersuchungen über den Bogengangapparat als peripheres Organ des Raumsinns (1878), wo ich diesen Gedanken entwickelte, hat H e n s e n in seiner klassischen »Physiologie des Gehörs" ihn in folgenderWeise formuliert: «Wenn ich die Ansicht C y o n s richtig verstehe, würde also durch die Gefühle in den Kanälen für unseren Kopf und folglich für den ganzen Körper der festgelegte Nullpunkt der drei Koordinaten des Raumes geschaffen werden, von dem aus man den Raum mit Hilfe der Sinnesorgane und deren Bewegungen durchforschen kann. . . . Durch die Gefühle in den halbzirkelförmigen Kanälen würde also der Teil unseres Selbstbewußtseins eine Erklärung finden, welcher es bewirkt, daß wir nach unserem ursprüng1
Siehe Figur I u. IV des »Ohrlabyrinths" sowie Kap. V, § 13 desselben Werkes. ,
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Den p o i n t d ' o r i g i n e des Koordinatensystems nach D e s c a r t e s .
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liehen Gefühl uns als Mittelpunkt erscheinen, um welchen sich alle Körper drehen.« 1 In den zwei ersten Kapiteln dieses Bandes ist diese Frage vom Ursprung des Ichbewußtseins ausführlicher erörtert worden. Hier soll nur geprüft werden, ob der Sitz dieses Ichbewußtseins rn die Seele (Hirn) oder in den Geist verlegt werden muß. Vom Ausgange dieser Prüfung wird es abhängen, ob seine weitere Erforschung in das Bereich der Physiologie oder in das der Philosophie gehört. Wie bei allen Grenzgebieten, so werden auch zwischen diesen beiden Wissenschaften immer gewisse Streitgebiete übrig bleiben. Nur einige Gründe sollen hier noch angegeben werden, die eher zugunsten der Physiologie sprechen. Im Gegensatz zum allgemeinen Bewußtsein besitzt das Ichbewußtsein keinerlei intellektuelle Inhalte. Die verwirrende Vielstimmigkeit in den philosophischen Auffassungen des Ichbewußtseins rührt zum großen Teile davon her, daß seit L e i b n i z die Ansicht vorherrscht, das Ichbewußtsein sei mit dem Bewußtsein identisch. Die Definition von D a v i d H u m e , das Ichbewußtsein sei ein «Bündel von Vorstellungen", sowie die Auffassung H e r b a r t s , das Ich sei »eine Vorstellungsmasse", beruhen eben auf einer derartigen Identität. Die gegenüberstehende Definition, das Selbstbewußtsein sei nur ein » Gefühlskomplex" oder ein » Totälgefühl« ( W u n d t ) , befinden sich im vollen Widerspruch mit den eben erwähnten. Die ersten stammen von Philosophen, die letzteren von Psychophysiologen. Auch diese sind übrigens von jeder Einstimmigkeit entfernt; die eine Schule will das Ichbewußtsein nur aus s i n n l i c h e n E m p f i n d u n g e n entstehen lassen; die anderen geben den G e f ü h l e n den Vorzug. Die Ausschaltung des Geistes aus den seelischen Funktionen würde vielleicht dazu beitragen, alle diese Gegensätze, wenn nicht zu versöhnen, so doch wenigstens zu klären. Diese Ausschaltung schließt die Identitätslehre, wenigstens in der schroffen L e i b n i z s c h e n Formulierung aus. Der von mir verteidigte Ursprung des Ichbewußtseins beim Mennschen aus der Projektion sämtlicher sinnlicher Empfindungen und inneren Gefühle auf das ideale Koordinatensystem des Ohrlabyrinths gibt dagegen Anhaltspunkte, um den 1 M e n s e n , Physiologie des Gehörs. H e r m a n n , Bd. 3, S. 141.
Handbuch der Physiologie von
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Beziehungen zwischen dem Ichbewußtsein und dem allgemeinen Bewußtsein nachforschen zu können. Was die Widersprüche unter den Psychophysiologen betrifft, so gleichen sie sich von selbst aus, wenn die oben (in § 3) erörterten Bedingungen näher berücksichtigt werden, unter welchen die Einflüsse der sinnlichen Empfindungen sowohl die zentralen Emotionsorgane im Gehirn als auch die des Herzens beherrschen und regulieren. Wie dem auch sei, d i e d a b e i in B e t r a c h t k o m m e n d e n F u n k t i o n e n w e r d e n s ä m t l i c h von G a n g l i e n - und N e r v e n a p p a r a t e n a u s g e ü b t ; s i e g e h ö r e n a l s o zu den s e e l i s c h e n Verrichtungen. Der Geist vermag die Gefühle und Gemütsbewegungen nur indirekt zu beeinflussen und dies nur in sehr beschränktem Maße. D a h e r r ü h r t es a u c h , d a ß g e i s t i g e U r teile nicht imstande sind, irgendwie die T ä u s c h u n g e n r i c h t i g z u s t e l l e n , die auf falscher P r o j e k t i o n unserer Empf i n d u n g e n oder G e f ü h l e auf das ideale rechtwinklige K o o r d i n a t e n s y s t e m , d e s s e n N u l l p u n k t dem I c h b e w u ß t s e i n e n t s p r i c h t , b e r u h e n . Da die Lokalisierung unserer Empfindungen im äußeren Räume oder in unserem eigenen Organismus mit Hilfe dieses Koordinatensystems zustande kommt, so gehört auch die Bildung des Ichbewußtseins in das Gebiet der räumlichen Funktionen des Ohrlabyrinths. Die Vorstellungen von Raum und Zeit (diese letzteren nur, soweit sie von den Wahrnehmungen der Richtungsempfindungen herrühren) 1 müssen also* bei der Bildung unseres Ichbewußtseins in erster Linie in Betracht gezogen werden. Sämtliche Tiere, welche sich im äußeren Räume mit Hilfe der Bogengänge oder der Otozysten zu orientieren vermögen, können bis zu einem gewissen Grade ihr individuelles I c h von der äußeren Welt unterscheiden, sie besitzen also ein Ichbewußtsein o d e r r i c h t i g e r ein S i c h e m p f i n d e n . Der Stolz eines arabischen Vollbluthengstes, wie die Mißachtung gutgepflegter Rassenhunde für minder begünstigte und vernachlässigte, auf der Straße herumlaufende Stammesgenossert, spricht sogar für ein ziemlich entwickeltes Selbstgefühl bei gewissen Wirbeltieren, ohne daß man deswegen bei ihnen auf geistige Vorgänge zu schließen brauchte. Das Tier empfindet, daß es außerhalb der ihn umgebenden 1
Siehe Kap. VII, §§ 3 u. 4 des „Ohrlabyrinths«.
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Dinge f ü r s i c h ist. Seine Empfindungen und Gefühle vermag es nur durch reflektorische Bewegungen, durch Laute und Töne auszudrücken. Ohne Sprache kann aber keine Ideenbildung stattfinden. Das B e w u ß t s e i n e i n e r i n d i v i d u e l l e n E x i s t e n z ist d e m T i e r e daher unzugänglich. Es vermag sich als gesondert im Räume wahrzunehmen, also sich im R ä u m e zu o r i e n t i e r e n , dies aber nur mit Hilfe der Gesichts- und Richtungsempfindungen. Diese Orientierung im Räume äußert sich bei den höheren Wirbeltieren, die ein vollständiges Ohrlabyrinth besitzen, darin, daß sie die Bewegungen ihrer Körperteile w i l l k ü r l i c h u n d z w e c k m ä ß i g in den drei Richtungen des Raumes auszuführen, ihre Lage in bezug auf die sie umgebenden Gegenständen zu nähern oder zu entfernen vermögen usw. A b e r v o n i r g e n d w e l c h e n b e w u ß t e n V o r s t e l l u n g e n o d e r g a r r ä u m l i c h e n B e g r i f f e n k a n n a u c h bei d e n h ö c h s t e n W i r b e l t i e r e n keine Rede sein. Die Bildung des Begriffes des idealen rechtwinkligen Koordinatensystems ist ein rein geistiger Vorgang und d e u t e t auf d i e B e z i e h u n g e n z w i s c h e n dem Ichbewußtsein und dem allgemeiner. Bewußtsein. Den wahren Begriff dieses Systems hat erst D e s c a r t e s gebildet. Meine Untersuchungen haben nur seinen sinnlichen Ursprung erwiesen. Diese Grenze der seelischen Funktionen der Tiere ist an sich so bezeichnend, daß man glauben könnte, daß Verwechslungen und Irrtümer, besonders beim Naturforscher, kaum möglich wären. Leider ist dem nicht so; und gerade beim Studium der Verrichtungen des Gehörorgans sind derartige Verirrungen noch gang und gebe. Die einen, meistens Schüler von M a c h , schrieben sogar den wirbellosen Tieren geometrische Kenntnisse zu, indem sie aus Versuchen an Krebsen den Schluß zogen, daß die Otolithen ihnen dazu dienen, d i e S e n k r e c h t e zu b e s t i m m e n ! Ja gewisse Mathematiker glauben, ich hätte mit meinen Versuchen über die Verrichtungen der Bogengänge beweisen wollen, die Tiere besäßen, dank dem Ohrlabyrinth, die Fähigkeit, Begriffe und Vorstellungen von einem drei-, zwei- ja sogar eindimensionalem Räume zu bilden. Unzählige Male bin ich im Laufe der Erörterungen im «Ohrlabyrinth" derartigen Verirrungen entgegengetreten. Ein ganzes Kapitel dieses Buches ist hauptsächlich der Analyse der experimentellen Tatsachen gewidmet, welche eben die Grenzen zwischen den Verrichtungen des Ohrlabyrinths beim Menschen und bei verschiedenen Wirbeltieren und Wirbellosen
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scharf hervortreten lassen. 1 Dort habe ich auch die Quellen für die von einigen meiner Gegner begangenen Irrtümer und Verwechslungen aufgedeckt. Wirbeltiere und sogar wirbellose Tiere besitzen Sinnesorgane, die dem Menschen fehlen. Von den mit dem Menschen gemeinschaftlichen Sinnesorganen sind mehrere, wie z. B. der S p ü r s i n n für die Fernorientierung 2 , bei Tieren viel feiner ausgebildet als beim Menschen: trotzdem gehen ihre Verrichtungen nicht über die Grenze der rein seelischen Funktionen hinaus und bringen keine Vorstellungen und Begriffe hervor. Ich verweilte etwas länger bei dem seelischen Ursprung des Ichbewußtseins, weil mit seiner Bildungsweise noch manche andere physiologische und pathologische Fragen verknüpft sind, die von psychologischem Interesse sind. So z. B. die Frage nach der rätselhaften Verdoppelung der Persönlichkeit. Diese krankhafte Erscheinung, eine der geheimnisvollsten der Psychopathologie, hat bis jetzt allen Erklärungsversuchen getrotzt; oder richtiger: es gelang den Psychiatern nicht einmal, eine annähernde Erklärung dieser Erscheinung zu versuchen. Die Entstehungsweise des Ichbewußtseins aus den drei Richtungsempfindungen des Ohrlabyrinths liefert uns eine Handhabe, um den Mechanismus der Verdoppelung der Persönlichkeit einigermaßen einer Analyse zu unterziehen. Das ideale Koordinatensystem, auf welches, unter anderen, die Netzhautbilder projiziert werden, wird durch die V e r s c h m e l z u n g der beiderseitigen Koordinatensysteme des rechten und linken Ohrlabyrinths gebildet. Ohne eine derartige Verschmelzung würden die Netzhautbilder der beiden Seiten immer g e s o n d e r t zum Bewußtsein gelangen; sie würden auf zwei gesonderte rechtwinklige D e s c a r t e s ' s c h e Koordinatensysteme projiziert und folglich auch gesondert im äußeren Räume lokalisiert werden. Wir besäßen dann auch zwei Ichbewußtseine, "und da die zur Wahnehmung gebrachten Bilder nicht vollkommen identisch sind, so müßten wir uns als zwei verschiedene Personen empfinden, wahrnehmen und vorstellen. 1
Siehe „Das Ohrlabyrinth", Kap. IV, § § 6 - 9 . Zur Verdeutlichung des Unterschiedes zwischen der Orientierung in den drei Grundrichtungen des Raumes und der Fernorientierung, wie sie z. B. die Wandertauben vornehmen, habe ich die Bogengänge des Ohrlabyrinths mit dein Steuer eines Schiffes verglichen, wogegen das Nasenlabyrinth und die Sehorgane bei der Fernorientierung als Kompaß fungieren. 4
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Nun werden aber auf diese Koordinatensysteme nicht allein die G e s i c h t s e m p f i n d u n g e n projiziert: alle Empfindungen, äußere und innere, die zu unserer Wahrnehmung gelangen, tun das gleiche. Von der rechten und linken Körperhälfte nehmen wir Empfindungen wahr, die, wie gesagt, bei weitem nicht identisch sind. Im Falle der Verdoppelung der Persönlichkeit kann man also annehmen, daß zwei g a n z v e r s c h i e d e n e B i l d e r von ihnen zum Bewußtsein gelangen, infolge deren sich das Individuum als aus z w e i g e t r e n n t e n P e r s o n e n bestehend wahrnimmt. Dieser Versuch einer plausiblen Erklärung der rätselhaften Verdoppelung der Persönlichkeit gestattet jedenfalls eine anschauliche Vorstellung von ihrem Mechanismus. Selbstverständlich würde eine derartige Entstehungsweise der Verdoppelung ebenfalls zugunsten des sinnlichen Ursprungs des Ichbewußtseins sprechen.
§ 7.
Die Abgrenzung der Gebiete der Physiologie und Philosophie im Raum- und Zeitproblem. Terminologisches.
Die angeführten Beispiele liefern schon genügende Anhaltspunkte, um gewisse Grenzlinien zwischen den seelischen Funktionen und den geistigen Leistungen im Sinne der hier entwickelten Auffassung zu entwerfen. Alle psychischen Geschehnisse, die durch die sinnliche Erfahrung, also durch bestimmbare Funktionen des zentralen oder peripheren Nervensystems erzeugt sind, g e h ö r e n in d a s B e r e i c h d e r S e e l e , also in das Gebiet der Physiologie, Anatomie und Psychiatrie. Die bisher als h ö h e r e p s y c h i s c h e bezeichneten Funktionen der Seele sind keine F u n k t i o n e n im eigentlichen Sinne des Wortes; sie wurden bis jetzt auch häufig als E r s c h e i n u n g e n oder A s s o z i a t i o n e n bezeichnet. Ich gebrauche hier die Bezeichnungen V o r g ä n g e oder L e i s t u n g e n ; die letztere Bezeichnung bietet den Vorzug, daß sie die s c h ö p f e rische Fähigkeit des Geistes anzeigt. Nach der vorges c h l a g e n e n D i f f e r e n z i e r u n g k ö n n e n sie n u r dem M e n s c h e n e i g e n t ü m l i c h sein. Die Erforschung der geistigen Leistungen gehört also bis auf weiteres in das Gebiet der Philosophie. Nur die Philosophen besitzen die notwendige Freiheit, um Fragestellungen zu formulieren, auf welche sie im voraus sicher sind, keine entscheidende Antwort
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erhalten zu können, um Definitionen von abstrakten Gedanken und Begriffen zu geben, deren Ursprung ihnen nicht immer klar ist, und Hypothesen zu bauen, über deren ephemären Charakter kein Zweifel möglich sein kann. Dieses hindert nicht, daß ihre Fragestellungen, Definitionen und Hypothesen für die weitere erfolgreiche psychologische Forschung sich häufig als fruchtbar erwiesen habend Psychologen wie Philosophen, die darauf ausgehen, das tiefste Wesen der Dinge zu ergründen, sind ja seit Jahrtausenden daran gewöhnt, bei ihren Forschungen auf definitive Ergebnisse Verzicht zu leisten. Der Naturforscher dagegen, dessen Aufgaben viel bescheidenere sind, dessen Untersuchungen sich auf greifbare, meßbare und wägbare, also reelle Werte beschränken, muß auch darauf abzielen, möglichst greifbare und nachweisbare Resultate zu erhalten. Um auf die psychologische Bedeutung der Verrichtungen des Ohrlabyrinths zurückzukommen, so ist es mir endlich gelungen, die seit mehr als einem Jahrhundert zu verschiedenen Zwecken von V e n t u r i , S p a l l a n z a n i , A u t e n r i e t h , F l o u r e n s , E. H. W e b e r , K. V i e r o r d t u. a. verfolgten experimentellen Forschungen bis zum Nachweis der Existenz besonderer Sinnesorgane zu führen, deren Empfindungen und Wahrnehmungen es gestatten, den sinnlichen Ursprung unserer Raum- und Zeitvorstellungen, sowie der Zahlkenntnis zu demonstrieren. Durch diese Erkenntnis wurde die eigentliche Aufgabe des Physiologen bei der Lösung des Zeit- und Raumproblems mit Erfolg erledigt. Wenn ich mich dennoch in das Gebiet der Philosophie hineinwagte, so geschah dies aus folgenden Gründen. Aus der Existenz der genannten mathematischen Sinnesorgane folgt mit Notwendigkeit, daß der bei mehreren Naturforschern und Mathematikern so tief eingewurzelte Glaube an den aprioristischen Ursprung der Raum- und Zeitvorstellungen von nun an halt- und gegenstandslos geworden ist. Bei der engen Verknüpfung der Frage nach dem Ursprünge der geometrischen Axiome mit der nach der Herkunft unserer räumlichen Anschauungen war es unvermeidlich, diese Frage ebenfalls in den Bereich meiner Forschungen hineinzuziehen. Auf Grund der Empfindungen der drei Grundrichtungen des Raumes gelang es mir, 1
Häufig genug wird von Methaphysikern die Aufstellung einer Frage auch als mit deren Beantwortung gleichwertig betrachtet.
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den sinnlichen Ursprung dieser Axiome und Definitionen abzuleiten und so die Möglichkeit des synthetischen Aufbaues der E u k l i d i s c h e n Geometrie zu demonstrieren. Dadurch wurden gleichzeitig die Angriffe der Meta-Mathematiker siegreich zurückgewiesen, die es unternommen hatten, » E u k l i d die Herrschaft über die Menschen" zu entreißen, »die er länger ausgeübt hat als irgend ein Königshaus", um mich der Worte von K. E. v o n B a e r zu bedienen. Weiter habe ich das Eindringen auf das philosophische Gebiet nicht verfolgen wollen und will es auch jetzt den Philosophen überlassen, die von der Physiologie gewonnenen Errungenschaften mit den ihnen zu Gebote stehenden Methoden weiter zu entwickeln und zu verwerten. Die Bildung der abstrakten Begriffe von R a u m u n d Z e i t ist e i n e g e i s t i g e O p e r a t i o n , deren Aufklärung in erster Linie den Philosophen gehört. Dem Mathematiker dagegen Hegt die dankbare Aufgabe ob, den Mechanismus derjenigen geistigen Vorgänge zu erforschen, mit deren Hilfe seine Wissenschaft es vermocht hatte, aus der Kenntnis der Zahl und der vier Spezies der Arithmetik das. grandiose Gebäude der höheren Analysis und der transzendentalen Geometrie zu errichten. Der physiologische Ursprung der Axiome und Definitionen der E u k l i d i s c h e n Geometrie kann der mathematischen Philosophie zahlreiche Ausgangspunkte für die erfolgreiche Erforschung dieser Geometrie sowie über den Wert oder Unwert der neuen mehr oder minder imaginären Geometrien liefern. Die Physiologie des Ohrlabyrinths hat gezeigt, daß der Beg r i f f d e r U n e n d l i c h k e i t v o n R a u m u n d Z e i t uns zuerst durch die Richtungsempfindungen geliefert werden konnte. Die Wahrnehmung einer Richtung erzeugt, wie dies schon G a u s s behauptet und U e b e r w e g nachzuweisen versucht hat, die Vorstellung der geraden Linie. Meine Versuche an Tieren und Menschen haben experimentell die Richtigkeit dieses Ursprungs erwiesen. Nun aber können wir uns die Richtungen nicht anders als u n t e i l b a r u n d o h n e G r e n z e n , also als unendlich, vorstellen. Diese geistigen Vorgänge zu erforschen und aufzuklären, die von dieser unmittelbaren Vorstellung der Richtung bis zur Bildung des Begriffes der Unendlichkeit des Raumes führen, ist die Aufgabe der Zukunft. Bei der Lösung dieser Aufgabe muß besondere Aufmerksamkeit den Gegensätzen gewidmet werden, die zwischen dem immensen, aber b e g r e n z t e n S e h r a u m , der unserer direkten Anschauung zugänglich
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Leib, Seele und Geist
ist, und dem für uns unsichtbaren und deswegen als u n b e g r e n z t e r s c h e i n e n d e n , aber tatsächlich viel weniger ausgedehnten Hörraum bestehen. Bei der Abstraktion des Begriffes der Unendlichkeit von Zeit und Raum sind diese Gegensätze sicherlich von entscheidender Bedeutung. Bis jetzt waren Philosophen und Psychologen gezwungen, ihre Begriffe von diesen Größen ohne jede positive Grundlage, auf rein metaphysischem Wege, sozusagen aus sich selbst zu schaffen; daher die Sterilität ihrer tausendjährigen Bemühungen, dauernde und wissenschaftlich verwertbare Begriffe zu bilden. Die Begriffe sind aber die Grundelemente der geistigen Tätigkeit. Ohne klare und unwandelbare Begriffe vermag daher der Psychologe seine Hauptaufgabe, die E r k e n n t n i s d e r D e n k g e s e t z e , unmöglich zu erfüllen. Die anarchische Vielstimmigkeit, die seit jeher in der Psychologie herrscht, wird zum großen Teil durch die erwähnte Sterilität bedingt. V o n n u n an ist es d e m P h i l o s o p h e n n i c h t m e h r m ö g l i c h , e r n s t l i c h an d i e B i l d u n g d e r B e g r i f f e v o n R a u m u n d Zeit heranzutreten, ohne die nachgewiesene Existenz bes o n d e r e r S i n n e s o r g a n e im O h r l a b y r i n t h zu b e r ü c k s i c h tigen, denen wir die E m p f i n d u n g e n , W a h r n e h m u n g e n und Vorstellungen der drei G r u n d r i c h t u n g e n des Raumes und die Z a h l e n k e n n t n i s verdanken.1 Die zahlreichen Errungenschaften der experimentellen Physiologie in bezug auf die Verrichtungen dieser Sinnesorgane müssen von den Philosophen vollauf angeeignet werden, wenn sie Fruchtbares und Dauerndes in der Psychologie des Menschen leisten wollen. Damit aber ein paralleles Arbeiten der Physiologie und der Philosophie auf verwandten Gebieten ersprießlich wird, muß vorher eine gewisse Übereinkunft über die Bezeichnungen der zu erforschenden Elemente und Faktoren zustande kommen. Die bis jetzt gebräuchliche Terminologie kann ohne gewichtige Modifikationen nicht länger in Kraft bleiben. Wie schon erwähnt, dürfte nach Ausschaltung der geistigen Leistungen aus den seelischen Funktionen das Wort P s y c h o l o g i e streng genommen nur auf die Lehre von der letzteren angewendet werden. Dann wird dieses Wort ohne 1
D i e Abhängigkeit der Zeit von der Zahl ganz richtig erkannt!
hat schon
Aristoteles
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
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B e d e n k e n aueh für Studien an Tieren gebraucht werden können, während man jetzt nur zu oft geneigt ist, aus Beobachtungen an der Psyche der niederen, sogar der wirbellosen Tiere Schlüsse über die geistigen Errungenschaften der Menschen zu ziehen, was unweigerlich zu den wunderlichsten Irrtümern führt. 1 In letzterer Zeit wird von Laien und Dilettanten und leider auch von manchen Naturforschern mit den Worten »Psychische Studien", „Psychismus" und sogar n Psychologische Institute« 2 arger Mißbrauch getrieben. Man müßte daher, der Würde der wissenschaftlichen Forschung entsprechend, für die Lehre vom menschlichen Geiste eine neue Bezeichnung wählen. Über diese zu entscheiden, ist Sache der Philosophen. Das Wort M e n t o l o g i e währe vielleicht das unverfänglichste, wurde aber, wenn ich nicht irre, schon auf ganz anderem Gebiete angewendet. Vorläufig könnte man sie als „ s c h ö p f e r i s c h e P s y c h o l o g i e " oder als „ P s y c h o l o g i e d e s M e n s c h e n " bezeichnen. Ich gebrauchte hier häufig das Wort V o r g ä n g e für die Tätigkeitsäußerungen des Geistes, weil dieses Wort keinerlei Voraussetzungen über das Wesen dieser Tätigkeit bedingt. Die Bezeichnungen A s s o z i a t i o n e n , E r s c h e i n u n g e n und F u n k t i o n e n passen mehr für die rein seelischen als für die g e i s t i g e n Geschehnisse. Geläufige Assoziationen von Wahrnehmungen und Vorstellungen, von Eindrücken und Gedächtnisbildern, können auch ohne jede Einmischung des Geistes zustande kommen, und zwar dank den anatomischen Bahnen, den Fibrillen von A p a t h y , welche die Ganglienzellen, in denen sie angehäuft sind, verbinden. Auf derartigen Assoziationen beruhen die wichtigsten Äußerungen des Seelenlebens bei Menschen und bei Tieren. Das Wort E r s c h e i n u n g wird in verschiedenem Sinne gebraucht. Eine Erscheinung zeigt nur die äußere Seite eines Vorganges; sie wird von jedem Beobachter anders g e s e h e n und g e d e u t e t . Das Wort deutet auf etwas Vergängliches, Momentanes, Ephemäres, paßt daher kaum für die schaffende Tätigkeit des Geistes. M a c h , der sich durch immer verkehrte Deutungen der einfachsten und klarsten Erscheinungen auszeichnet, hat übrigens durch seine verunglückte Auffrischung des heraklitischen „Alles 1
Siehe „Ohrlabyrinth", Kap. IV, § 5. Zum großen Teil handelt es sich dabei um verschämte spiritistische Studien nnd 11111 verkappte Spirilistcnkunststiicke. 2
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Leib, Seele und Oeist
fließt" auch die Erscheinungspsychologie in den Augen der Naturforscher vollständig kompromittiert. 1 Der hervorragende Philosoph C a r l S t u m p f hat neuerdings, dem Beispiel einiger amerikanischen Philosophen folgend, den Ausdruck »geistige Funktionen« anstatt Erscheinungen eingeführt. Mit folgenden Worten präzisierte er seine Auffassung des Wortes: »Funktion im Unterschiede zu den Definitionen von D. S. M i l l e r , D e w e y u. a., ist also hier nicht im Sinn einer durch einen Vorgang erzielten Folge verstanden, so wie man etwa die Blutzirkulation als Funktion der Herzbewegung bezeichnet; sondern im Sinne der Tätigkeit, des Vorganges oder Erlebnisses selbst, so wie die Herzkontraktion selbst als eine organische Funktion bezeichnet wird." 2 Auch in dem so präzisierten Sinne ist es dem Naturforscher kaum gestattet, von geistigen Funktionen zu Sprechen. Für den Physiologen kann eine Funktion nur von einem entsprechenden Organ ausgeübt werden. Bei der hier vertretenen Auffassung des Geistes, die wohl nur bei verspäteten Materialisten Anstoß erregen wird, besitzt der Geist aber kein bestimmtes materielles Substrat. 8 » L e i s t u n g e n " des Geistes wäre daher eine viel zutreffendere Bezeichnung als » F u n k t i o n e n " . Der Geist beherrscht die seelischen Hirnfunktionen, er bestimmt die Gesetze, nach denen die Inhalte der Ganglienzellen als Produkte dieser Funktionen für das Denken und Schaffen verwendet werden. Der Geist kann also keinesfalls als eine Funktion dieser Ganglienzellen betrachtet werden. Der Geist bildet Begriffe, Urteile, Schlüsse, entwickelt Hypothesen und Theorien, auf Grund des Schatzes von sinnlichen Erfahrungen, von Gefühlseindrücken, die vom Herzen und von allen anderen sensiblen Gebilden unseres Organismus herstammen und die in den Archiven des zentralen Gangliensystems aufgespeichert sind, — »diesem vornehmsten Gebilde, welches die Natur hervorgebracht hat, . . . diesem größten Wunder der Welt, dem an geheimnisvoller Erhabenheit nichts vergleichbar ist" ( P f l ü g e r ) . Diese Denkgesetze abzuleiten, die Wege zu bezeichnen, auf 1
Siehe „Ohrlabyrinth", Kap. II, §§ 2—7 und den Anhang zu Kap. VI, § 5. Erscheinungen und psychische Funktionen. Abhandl. d. Berl. Akad. d. Wissensch. 1907. 9 Die Frage über die Substanzialität oder Nicht -Substanzialität des menschlichen Geistes ist durch die neue wissenschaftliehe Deutung des Wortes „Substanz" ganz verlegt und kann hier nicht erörtert werden. s
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
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denen, dank diesen Gesetzen, die Wahrnehmungen und Vorstellungen unserer Sinne durch Abstraktionen zum Aufbau von Begriffen benutzt werden, die ihrerseits als Ausgangspunkte für weitere geistige Leistungen dienen, — darin liegt die wichtigste Aufgabe der Philosophen. In seinen Leistungen ist der Geist unbeschränkt in Zeit und Raum. So wunderbar die Tätigkeit unserer Ganglienzellen auch ist, so ist sie doch räumlich und zeitlich beschränkt; w i r sind d a h e r a u ß e r s t a n d e , mit Hilfe der F u n k t i o n e n endl i c h e r O r g a n e d a s W e s e n d e s u n e n d l i c h e n G e i s t e s zu e r gründen. Nach seinen schöpferischen Leistungen vermögen wir ihn nur als eine Emanation der Urkräfte der Weltschöpfung zu erkennen. Der Geist offenbart dem Propheten ewige Wahrheiten, inspiriert den genialen Dichter, leitet die schöpferische Phantasie des Künstlers und enthüllt dem nach Wahrheit lechzenden Naturforscher die geheimnisvollen W u n d e r der Natur und die Gesetze ihres Geschehens, — dies alles, soweit deren Verständnis der Kapazität ihrer Ganglienkugeln zugänglich ist. Man kann daher nur von L e i s t u n g e n , von F ä h i g k e i t e n oder von P o t e n z e n des Geistes, nicht von seinen Funktionen sprechen. Noch weniger könnte man das Wort F u n k t i o n beim Geist im mathematischen Sinne verwenden; dies würde jedenfalls zu Mißverständnissen Veranlassung geben.
§ 8.
Die wahren Laboratorien für die experimentelle Psychologie des Menschen.
Bei der Erforschung des unübersehbaren und unbegrenzten Gebietes der geistigen Leistungen darf die Philosophie, um von ihnen die Gesetze des Denkens abzuleiten, sich nicht mit den subjektiven Studien der launenhaften inneren Anschauung und dem ewigen Durchwühlen der angehäuften Spekulationen früherer Jahrtausende begnügen. Das Unzureichende der Methoden der physiologischen Psychologie bei der Erforschung des menschlichen Geistes bedingt keineswegs den Verzicht der Philosophie auf experimentelle Studien. Das o b j e k t i v e , e x p e r i m e n t e l l e Forschen auf dem Gebiete der menschlichen Psychologie kann dem Philosophen die schönsten und die dauerhaftesten Früchte bringen. Der Philosoph verfügt beim Studium der geistigen Leistungen über Laboratorien, mit denen die modernen psychologischen Institute, und wenn sie mit hoch so kostspieligen, feinen Instrumenten ausgestattet sind, nicht E. v. C y o n , Gott und Wissenschaft. Bd. 2.
11
162
Leib, Seele und Geist
wetteifern können. Diese experimentelle Psychologie ist übrigens so alt wie die Menschheit. Die meisten ihrer während vieler Jahrtausende angehäuften Erfahrungen bewähren sich bis auf unsere Zeit; ihre Dauer bezeugt den unerschütterlichen Wert ihrer Errungenschaften. E v a hat das erste psychologische Experiment angestellt; es war sogar ein Tierversuch. M o s e s hat in der arabischen Wüste vierzig Jahre lang an einer Herde entlaufener Sklaven ununterbrochen experimentelle Psychologie getrieben. Das schönste und glücklichste seiner Experimente bestand darin, daß er zwei Generationen von Sklaven in der Wüste sterben ließ, bevor er ihre freigeborenen Kinder ins gelobte Land führte. Der gotterfüllte Schöpfer der Völkerpsychologie, der Apostel P a u l u s , der erste Philosoph, der die geistigen von den seelischen Leistungen und den geistigen von dem seelischen Menschen ausdrücklich unterschied, 1 hat uns in seinen Briefen die glänzendsten Denkmäler erfolgreicher experimenteller Forschung auf geistigem Gebiete hinterlassen. Die Ergebnisse seiner Erfahrung stehen noch heute unangetastet da. Gründer von Religionen, Sammler von Volksstämmen, siegreiche Feldherren waren vor allem großartige Psychologen und meisterhafte Experimentatoren. Der Geist, und nicht die rohe Kraft, gewinnt die Siege auf den Schlachtfeldern wie in den Kabinetten der Staatsmänner und entscheidet die Geschicke der Menschheit. Die beiden Mächte, welche sich in die Beherrschung der zivilisierten Welt teilen — England und das Papsttum — sind in höchstem Maße geistige Kräfte; und der wirkliche Kampf um die Weltherrschaft spielt sich zwischen dem Vatikan und Westminster ab, den beiden Großmächten der christlichen Welt, deren jede mehrere hundert Millionen von Seelen regiert. Wort und Feder sind die mächtigsten Waffen des Menschen geworden. Für das Studium der Leistungen des menschlichen Geistes gibt es kaum ein fruchtbareres Forschungsfeld als die Geschichte der Menschheit; und wenn ein moderner Philosoph experimentelle Psychologie des Menschen treiben will, so soll er die Laboratorien, in denen die Zeitgeschichte gemacht wird, nicht verschmähen. In keiner Epoche hat sich .die Beherrschung der Weltereignisse durch den Geist gewaltiger und greifbarer geäußert, als in der unsrigen. Wenn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Philosophen 1
Siehe den I. Brief an die Korinther, XV, 4 4 - 4 7 .
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
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sich durch den gewaltigen Aufschwung der Naturwissenschaften nicht hätten einschüchtern lassen, wenn sie vielmehr deren Errungenschaften zu verwerten verstanden hätten, statt sich auf das engere Gebiet der Geschichte der Philosophie zurückzuziehen, dann würden sie sich zu geistigen Herrschern der souverän gewordenen Volksmassen emporgeschwungen haben; ebenso wie ihre großen Vorgänger im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, die gekrönten Häupter und deren Höflinge geistig beherrschten. Die Philosophie unserer Tage wäre dann nicht zur Einflußlosigkeit auf die intellektuelle Bewegung verdammt; marktschreierische Gelehrte und metaphysische Dilettanten hätten den Geist der Wissenschaft nicht fälschen und die Massen niemals betören können. Auch der neueste Zweig der Philosophie, die Soziologie, wird, erst dann Anspruch auf wissenschaftlichen Wert erheben und einen wohltuenden Einfluß auf den G a n g der modernen sozialen Bewegung ausüben können, wenn sie aufhören wird, reine Kathederweisheit zu sein, wenn sie ihre Gesetze nicht auf spekulativem Wege, sondern von reellen Beobachtungen und experimentellen Studien ableiten wird, die an den Orten gemacht werden, wo der soziale Kampf stattfindet.
§ 9.
Der Geist und die schöpferische Intuition bei wissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen.
Der Wert der geistigen Leistungen hängt nicht allein von den Fähigkeiten der G a n g l i e n z e l l e n ab, aus denen der Geist seine Inhalte schöpft, sondern auch vom Werte dieser Inhalte selbst und der Art, w i e s i e a n g e h ä u f t und a n g e o r d n e t worden sind. Für die Erkenntnis der geistigen Leistungen und der Gesetze ihres Entstehens liefert daher die Psychologie der großen Denker und der schaffenden Forscher aller Zeiten unerschöpfliche Studienquellen. Auch hier bietet das Studium der Werke der Schöpfer der modernen Naturwissenschaften ein viel wertvolleres, weil weit sicherer abschätzbares Material für den Psychologen als das ewige Durchwühlen der griechischen Philosophen, die uns sowohl zeitlich als räumlich in ihren Denkzielen und Methoden fernstehen. Kerne anderen psychischen Leistungen eignen sich besser f ü r die Unterscheidung des Anteils, der dabei dem Geiste und dem Gehirn zukommt, als die epochemachenden Entdeckungen, welche unser Wissen im vorigen Jahrhundert vollständig umgewälzt haben. 11*
164
Leib, Seele und Geist
»War es ein Gott, der diese Zeilen schrieb?" fragte B o l t z m a n n bei seinen Erörterungen über die M a x w e l l sehen Gleichungen. Diese Frage könnte auch als Motto dienen für die Gesetze der Entropie von C a r n o t und C l a u s i u s , der H e r t z s c h e n Wellen, der Radioaktivität von C u r i e und R a m s a y , um nur von den neuesten Wundern der Naturforschung zu reden. Nirgends tritt mit solcher Klarheit die entscheidende Rolle des Geistes hervor, wie bei der Intuition dieser Entdeckungen. „Geheimnisvoll am lichten Tag Läßt sich die Natur des Schleiers nicht berauben, Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben."
(Faust.)
Der Naturforscher, der selbst neue Entdeckungen zu machen Gelegenheit hatte, kann freilich das kompetenteste Zeugnis ablegen, welcher Anteil dabei der forschenden Tätigkeit seines Gehirns, welcher der plötzlichen und schaffenden Intuition seines Geistes zukommt. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Inspirationen des Künstlers und des Dichters, für die Voraussicht des Staatsmannes und die Weissagungen des Propheten. Es ist nicht immer leicht, die Grenzen zwischen den gewöhnlichen Leistungen des Geistes, welche die Frucht langen Nachdenkens, mit Benutzung der in den Ganglienzellen der Naturforscher angehäuften Erfahrungen von fremden und eigenen Beobachtungen und Experimenten sind, und denen zu erkennen, die auf spontaner Intuition beruhen. Intuitionen treten fast immer plötzlich und unerwartet, und manchmal gerade in Momenten auf, wo der Forscher an die Möglichkeit, die monatelang gesuchte Lösung des seinen Geist beherrschenden Problems zu finden, zu verzweifeln beginnt. Sie blitzen in seinem Geist auf, meistens unter besonders günstigen äußeren Umständen, bei einem Spaziergang in den Schweizer Bergen ( H e l m h o l t z ) , am Ufer eines wunderbar beleuchteten Sees oder bei einer nächtlichen Fahrt auf dem Meere bei Vollmondschein, also unter Umständen, w o d i e A u f m e r k s a m k e i t des Forschers von dem sonst ihn bes c h ä f t i g e n d e n P r o b l e m a b g e l e n k t ist u n d s i c h in d i e Naturschönheiten versenkt. Die fruchtbarsten Entdeckungen in den experimentellen Naturwissenschaften haben ihren letzten Ursprung oft in erneuter Beobachtung oder in der Wahrnehmung auffallender tatsächlicher Erscheinungen, die einem zur Intuition angelegten Geiste sofort als
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
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bedeutungsvoll erscheinen. Solche Entdeckungen werden daher meistens in Laboratorien gemacht. Als leuchtendes Beispiel kann die Entdeckung der Spektralanalyse durch K i r c h h o f f und B u n s e n gelten. Im Jahre 1857 erhielten sie das erste von F r a u e n h o f e r selbst geschliffene Flintprisma und untersuchten die Beziehung des gelben Streifens zur D-Linie des Spektrums. Während sie im Sonnenspektrum die D-Linie betrachteten, führten sie eine kochsalzhaltige Flamme ins Gesichtsfeld ein;, die schwarze D-Linie, so erwarteten sie, würde dabei h e l l werden. Beim trüben Wolkenlichte war dies auch der Fall, aber beim hellen Sonnenschein wurde sie noch b r e i t e r und sch w ä r z c r. » Das scheint mir eine fundamentale Geschichte", rief K i r c h h o f f aus und verließ das Zimmer. Am nächsten Tage war auch die Ursache gefunden, und bald darauf die Beziehungen zwischen Absorptions- und Emissionsvermögen erkannt: der Satz von der Umkehrung der Spektrallinien war gefunden. Die wunderbaren Anwendungen dieses Satzes auf die Physik, Chemie, Physiologie und Astronomie, wo der Nachweis des Vorkommens irdischer Stoffe in der Sonne die Gleichartigkeit der Materie in der, unseren Sinnen zugänglichen Welt dargetan hat, — das alles ging also aus der genialen Intuition K i r c h h o f f s bei der Wahrnehmung der breiten und schwarzen D-Linie im hellen Sonnenlicht hervor. Die Entdeckung des Planeten Neptun durch Le V e r r i e r , eine ebenso gewaltige geistige Leistung wie die vorangehende, wurde auf ganz entgegengesetztem Wege gemacht. Die von B o u v a r d entdeckten Abweichungen zwischen den in den astronomischen Tabellen ausgerechneten Bewegungen des von H e r s c h e l entdeckten Planeten Uranus und seinen tatsächlich beobachteten Bewegungen schienen im Widerspruche zum N e w t o n s c h e n Gravitationsgesetz zu stehen. Auf Anraten A r a g o s versuchte Le V e i r i e r festzustellen, ob die Abweichungen in den Uranusbewegungen nicht vom Saturn und Jupiter hervorgerufen würden. Er vermutete daher in der Nähe des Uranus die Existenz eines noch unbekannten Planeten, und am 18. September 1846 teilte er als definitives Resultat seiner mathematischen Berechnungen der Pariser Akademie die Existenz dieses neuen Planeten mit und bezeichnete dabei genau dessen Stejlung am Sternenhimmel; ja er sagte die Stelle voraus, wo er am 1. Januar 1847 gesehen werden könnte. Auf Grund dieser genauen Angaben fanden bald darauf H a l l und D ' A b r e s t im Berliner Observatorium den Neptun genau an der von Le V e r r i e r bezeichneten Stelle mit
166
Leib, Seele und Geist
dem Fernrohr auf. «Le V e r r i e r hat den neuen Planeten entdeckt, ohne einen Blick auf den Himmel zu werfen," erklärte A r a g o in der Sitzung vom 5. Oktober 1846. «Er h a t i h n a n d e r S p i t z e s e i n e r F e d e r g e s e h e n . Allein durch seine Berechnungen hat er die Größe und die Lage eines Körpers bestimmt, der sich außerhalb der bis jetzt bekannten Grenzen unseres Planetensystems und in einer Entfernung von mehr als 1200 Millionen Meilen befindet, der auch in dem feinsten Teleskop nur als kaum sichtbare Scheibe erscheint." Diese glänzende Entdeckung L e . V e r r i e r s hat den exakten Beweis des N e w t o n s c h e n Gravitationsgesetzes geliefert, einen Beweis, der erkenntnistheoretisch dem Werte eines wirklichen Experiments an den Himmelskörpern gleichkommt. Zehn Jahre später haben K i r c h h o f f und B u n s e n Sonne und Fixsterne in das Gebiet der experimentellen Naturforschung hereingezogen. Auf die Frage, wie er auf das Weltgesetz der Anziehung gekommen, antwortete N e w t o n bekanntlich: «Indem ich ununterbrochen daran dachte". In der Tat bildet die Konzentration der Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Problem und das lange Nachdenken über seine mögliche Lösung die wesentlichste Vorbedingung geistiger Intuitionen. „Intuitionen werden nur dem zuteil, dessen Geist darauf vorbereitet ist, sie zu empfangen," erklärte P a s t e u r . Den ersten Anstoß zu N e w t o n s Nachdenken über das Wesen der Anziehungskraft soll aber, der Überlieferung nach, doch auf einer Intuition beruhen. Während N e w t o n bei seinem Aufenthalt auf dem Lande in Whoolstorpe sich im Parke ausruhte, fiel von einem Baum ein Apfel zu seinen Füßen. Seine Aufmerksamkeit wurde sofort auf die Tatsache gelenkt, daß naheliegende Körper zum Erdmittelpunkt angezogen wurden, wogegen der entfernte Mond, der am Himmel stand, vom Falle verschont blieb. Soweit die Überlieferung, wie sie zuerst von seinem Bewunderer V o l t a i r e , nach der Erzählung einer Nichte N e w t o n s , als wahrheitsgetreu veröffentlicht worden ist. Viel wahrscheinlicher ist es, daß N e w t o n s Geist schon vor diesem Fall lange mit dem Problem der Gravitation beschäftigt war; der Gegensatz zwischen der Wirkung der Anziehung auf den Apfel und auf den Mond hat ihm nur intuitiv den Weg zur Lösung des Problems gewiesen. Die Spontanität und das Unerwartete ihres Entstehens sind die Hauptmomente, welche den geistigen Ursprung der Intuition bezeugen. Naturforscher, Psychologen und Mathematiker stimmen
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
über diese Spontanität der Intuitionen daß
gewisse
Schlaf
Intuitionen
plötzlich
167
überein, wie auch
beim
Erwachen
darüber,
aus
tiefem
entstehen, bzw. erst dann zum Bewußtsein gelangen.
Auf
die Herkunft und den Mechanismus solcher Intuitionen komme ich ausführlich im nächsten Paragraphen zurück.
Es wird dort gezeigt,
daß der Wert d i e s e r Intuitionen häufig sehr überschätzt wird. Wirklich intuitive Gedanken stehen meistens im Gegensatz zu den als
herrschenden
Ansichten
unwahrscheinlich
unmittelbaren wöhnlich
auf
praktischen großen
und Lehren
betrachtet. Anwendung
Widerstand.
und werden im
Wenn
sie
führen,
Es
Beginn
nicht gerade so
gehören
stoßen oft
zur
sie
viele
ge-
Jahre
schwerer Kämpfe dazu, um sie zur allgemeinen Geltung zu bringen. Ihr Gegensatz zu den herrschenden Ideen ist oft so groß, daß es selbst ihrem Entdecker einige Mühe kostet, sie in seinen gewohnten Ideengang einzuflechten. dank diesem danken.
Wirklich
Ursprünge
inspirierte Gedanken
meistens
auch
ganz
sind
richtige
Ge-
Man kann sogar behaupten, daß ihre Unwahrscheinlich-
keit oder ihr Widerspruch günstiges Zeichen
zu den herrschenden Ansichten als ein
für ihre Richtigkeit
gelten kann. 1
«Bei
vielen
meiner wissenschaftlichen Forschungen", so schrieb ich in der Vorrede zum » Ohrlabyrinth", gelangte ich zu Lösungen, die anfänglich immer den Eindruck der U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t
machten, und zwar nur,
weil sie mit den augenblicklich herrschenden Ansichten und Lehren im Widerspruche standen.
Später staunte man im Gegenteil darüber,
daß die Richtigkeit augenscheinlicher, einfacher und auf der Hand liegender Lösungen jemals als unwahrscheinlich erscheinen konnte." Als ich im Jahre 1 8 6 5 die Untersuchung über den Einfluß der hinteren
Rückenmärkswurzeln
auf
die
Erregbarkeit
der
vorderen
unternahm, schien die Existenz des B r o n d g e e s t s c h e n Tonus de T finitiv widerlegt, besonders seitdem die völlige Unzulänglichkeit der B r o n d g e e s t s c h e n Methoden physiologisch nachgewiesen war. 8 1
Dieses Kriterium
deckungen. und
gilt aber
nicht allein
für wissenschaftliche
Auf Ent-
„Die Pläne eines Staatsmannes wie die Intuitionen des Künstlers
die Entdeckungen
der Gelehrten
sind
nur
dann wirklich g r o ß
fruchtbar, wenn sie — wenigstens zu Anfang — auf die Feindschaft
und der
Menge stoßen", schrieb ich schon im Jahre 1895 in der Vorrede zu meiner „Geschichte des russisch-französischen Bündnisses" (Paris, Eichler). 2
E d u a r d P f l ü g e r , Untersuchungen aus dem physiologischen Labora-
torium zu Bonn.
1865.
J168 Grund klinischer Erfahrungen an der Tabes dorsalis hielt ich trotzdem an der Überzeugung fest, die Integrität der hinteren Wurzeln des Rückenmarks müsse auf die Funktionen der motorischen Wurzeln von großem Einflüsse sein; und ich beschloß, eine neue experimentelle Prüfung der Frage zu unternehmen. Von den Ergebnissen dieser Prüfung und deren großer Bedeutung für die Gehirnfunktionen ist oben im § 2 die Rede gewesen. Ein ausgeschnittenes Froschherz tagelang funktionsfähig zu erhalten, indem es selbsttätig einen künstlichen Kreislauf von Kaninchen^ serum zu seiner Speisung herstellt und dabei noch mittels eines Quecksilbermanometers seine Schläge auf einer rotierenden Trommel aufzeichnet, schien ein Ding der Unmöglichkeit. Wenige Monate, nachdem ich unter L u d w i g s Leitung Versuche nach dieser Richtung hin unternommen, im Herbst 1865, war das Unmögliche zur Wahrheit geworden und die Methode zur Wiederherstellung der Lebensfunktionen eines vom übrigen Körper isolierten Organs war geschaffen. Die fruchtbare Anwendung dieser Methode in den verschiedensten Zweigen der experimentellen Physiologie ist bekannt. Dreiunddreißig Jahre später (1898) gelang es mir mit Hilfe der gleichen Methode, die abgestorbenen Hirnzentren der Herz- und Gefäßnerven, sowie die der Atmung und des Augenlidreflexes wiederherzustellen. 1 Als im Jahre 1864 die Aufsehen erregenden Untersuchungen von L u d w i g und T h i r y erschienen, welche die Irrtümer in den Methoden und Schlußfolgerungen B e z o l d s aufdeckten, galt die Frage nach der Innervation des Herzens vom Rückenmark aus auf lange Jahre als im negativen Sinne erledigt. Im Jahre 1866 unternahm ich neue Untersuchungen über die Nerven des Herzens, und ich entdeckte, dank glücklicher Intuitionen und mit Hilfe geeigneter Methoden, die sensiblen Herznerven (N. depressores) und die motorischen Herznerven (N. acceleratores), die letzteren in Gemeinschaft mit meinem Bruder, noch ehe das Jahr verflossen war. 2 Die Geschichte der Entdeckung des Bogengangsystems als Organ des Raumsinnes (1873), der physiologischen Verrichtungen der 1
Siehe „Die Nerven des Herzens" Kap. V, § 9. Über die physiologische Bedeutung dieser Entdeckungen siehe den Bericht von C l a u d e B e r n a r d an die Pariser Akademie der Wissenschaften (1867), die mir einstimmig den Preis für experimentelle Physiologie (Prix Monthyon) verlieh. 8
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Schilddrüse, der Hypophyse u n d der Zirbeldrüse ( 1 8 9 7 — 1 9 0 2 ) habe ich an anderer Stelle berichtet. Diese Entdeckungen waren teils die Folge von geistigen Intuitionen, bei gleichzeitiger Anwesenheit scheinbar heterogener Inhalte in meinem Bewußtsein, teils von mehr oder minder plötzlichen u n d spontanen Ideenassoziationen zwischen W a h r n e h m u n g e n oder Vorstellungen, die in meinen Ganglienzellen angehäuft waren und die sich im Gehirn auf dem W e g e der anatomischen Fibrillenverbindungen gewisser Ganglienzellen verknüpften. Diese letzteren Assoziationen können ohne Teilnahme des Geistes und unseres allgemeinen Bewußtseins zustande kommen. Diese rein zerebralen Assoziationen sollte man als seelische Assoziationen bezeichnen; sie entstehen unabhängig vom Willen im Ichbewußtsein und werden erst nachträglich dem allgemeinen Bewußtsein zugeleitet. Die rein geistigen Inspirationen hingegen sind von Anfang an bewußt; sie gelangen aus unserem allgemeinen Bewußtsein in unser Ichbewußtsein. Es wäre nützlich, die Bezeichn u n g »Intuitionen" f ü r die rein geistigen Inspirationen und Ahnungen beizubehalten und die seelischen Intuitionen, die auf Assoziationen im Gangliensystem beruhen, als G e f ü h l e oder Vorgefühle zu bezeichnen. In diesem Sinne gebrauchte auch C l a u d e B e r n a r d das Wort G e f ü h l in seiner denkwürdigen » E i n f ü h r u n g " . Der rein zerebrale U r s p r u n g gewisser Intuitionen, die auf der Assoziation unmittelbarer Vorstellungen mit Gedächtnisbildern beruhen, verhinderte C l a u d e B e r n a r d nicht, Entdeckungen zu machen, die mehrere Zweige der Physiologie befruchtet haben. In solchen Fällen dient das so verstandene Gefühl zum Anstoß des Denkens; es leitet die Untersuchungen aufs beste und erschließt erfolgreiche Wege zu rein geistigen Leistungen. Ein Beispiel einer Intuition durch einfache Assoziation ist das folgende. Als ich von der Entdeckung des Jodothyrins durch B a u m a n n e r f u h r , blitzte in meinem Gedächtnis eine Assoziation zwischen den vor vielen Jahrzehnten gemachten Erfahrungen bei der B a s e d o w s c h e n Krankheit, der Heilwirkung des Jods und bestimmten Funktionen der Herznerven a u f , und ich ahnte sofort, daß in der physiologischen W i r k u n g des Jodothyrins auf. die Herznerven und in deren Erforschung der Schlüssel f ü r das Problem der Verrichrichtungen der Schilddrüse lag. Die Intuition, die zur Entdeckung der Hypophyse führte, war hingegen eine rein geistige. Die Unwahrscheinlichkeit, d a ß ein so
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Leib, Seele und Geist
winziges Organ, das von vielen Physiologen und Anatomen als ein funktionsloser Oberrest embryonaler Entartung betrachtet wurde, eine so wichtige Lebensfunktion ausüben soll, gab mir einen neuen Antrieb, die Sache experimentell zu untersuchen. Der gleiche Ideengang führte mich auch zur Entdeckung der Funktionen der Zirbeldrüse. Unlängst hat S i r W i l l i a m R a m s a y in einem Vortrag „ Ü b e r die Vorzüge d e r U n t e r s u c h u n g v o n U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t e n " , gehalten in der Society of Chemical Industry, den gleichen Gedanken mit vielen Belegen aus seinen eigenen wissenschaftlichen Erfahrungen demonstriert. »Es war durchaus unwahrscheinlich, daß die Luft fünf Elemente enthält, die bisher übersehen wurden. Der Gipfel der Unglaublichkeit war, daß ein Gas, das aus Radium verdrungen, frei wird, sich spontan teilweise in Helium umsetzt.« Auch die Erfindung neuer Forschungsmethoden, die in der Physiologie von entscheidender Bedeutung sind, ist eine rein geistige Leistung und beruht häufig auf einer Intuition, der langes Nachdenken vorangehen muß. Die einmal geschaffenen Methoden, die ihren Ursprung der Intuition eines hervorragenden Forschers verdanken, können manchmal bei gewissenhafter Verwendung, auch durch minderwertige Gelehrte, der Wissenschaft wesentliche Dienste leisten. Dieser Umstand führt häufig zur Annahme, daß weder Intuition noch besondere geistige Fähigkeiten dazu erforderlich seien, um produktiv zu arbeiten. W i l h e l m O s t w a l d hat unlängst in einem Aufsatz über die Technik des Erfindens sich dahin ausgesprochen, daß „ d e r V o r z u g (im Erfinden) e i n i g e r u n a b h ä n g i g e r G e i s t e r s i c h a l s auf S c h ü l e r u n d N a c h f o l g e r ü b e r t r a g b a r e r w e i s t " . . . . Dies ist bei E r f i n d u n g e n schon möglich, aber auch nur dann, wenn man das Glück hat, mit den von einem Meister geschaffenen Methoden und unter seiner Leitung zu arbeiten. Um wahre E n t d e c k u n g e n auf dem Gebiete der Naturwissenschaften zu machen, besonders solche, die neue Bahnen der Forschung eröffnen, dazu reicht die bloße Möglichkeit, fremde Methoden geschickt zu verwenden, keinesfalls aus. Besondere geistige Anlagen sind dazu nötig. Die Geschichte der Naturwissenschaften ist reich an Beispielen dafür. Auch viele andere Betrachtungen über die Psychologie der Entdeckungen, insbesondere über die Differenzierung der geistigen Funktionen und der geistigen Leistungen, wären von großem Interesse. w Beim Studium der Verrichtungen des menschlichen Geistes",
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
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1
schrieb ich vor einigen Jahren, „pflegen die modernen Psychologen fast ausnahmslos q u a n t i t a t i v e Messungen als die wichtigste und ersprießlichste Untersuchungsmethode zu betrachten. Die physiologische Psychologie hielt diese Methode sogar f ü r die allein zulässige, weil sie einer präzisen Wissenschaft am meisten zu entsprechen schien. Dies war ein völliger Irrtum: die q u a l i t a t i v e n Unterschiede der Leistungen des menschlichen Geistes sind nicht nur von höherer erkenntnistheoretischer Tragweite, sie sind auch in methodologischer Beziehung der streng wissenschaftlichen Analyse viel zugänglicher. Ein Psychologe, der es sich zur Aufgabe stellen w ü r d e , die Irrtümer des menschlichen Geistes auch n u r auf einem Gebiete, wie z. B. in der Geschichte der exakten Naturwissenschaften, von diesem Standpunkt aus zu studieren, wird uns sicherlich der Erkenntnis des menschlichen Verstandes viel näher bringen, als dies sämtliche physio-psychologischen Messungsversuche bis jetzt zu tun vermocht haben." Ich habe damals ein Ergebnis dieser Studien folgendermaßen formuliert: «Die menschlichen Geister müssen in zwei ungleiche Kategorien eingeteilt werden: Geister, die fast immer die Wahrheit unmittelbar erkennen, und solche, die stets dem Irrtum verfallen." Erkenntnis und Irrtum erklärte ich als qualitative Eigentümlichkeiten verschiedener. Geister, nicht als Funktionen desselben Geistes, und als ganz unabhängig von der mehr oder minder sorgfältigen und fleißigen Arbeit. »Auch die größte Gelehrsamkeit, die sorgfältigste und allseitigste P r ü f u n g einer Frage wird einen zum Irrtum angelegten Geist nicht zur wahren Erkenntnis führen, wie dies M a c h in seinem Werke ,Erkenntnis u n d I r r t u m ' behauptet hat.« Mach selbst bietet übrigens das eklatanteste Beispiel eines fleißigen, vielseitigen und kenntnisreichen Gelehrten, der z u r Kategorie der immer verkehrt Denkenden gehört. Fast jede Seite dieses Werkes legt davon Zeugnis ab. 2 Die Zahl der richtig denkenden Forscher ist aber auf allen Gebieten n u r sehr gering. Die erste Bedingung f ü r richtiges Denken ist die Fähigkeit, die sinnlichen Empfindungen richtig wahrzunehmen.
1
E. v. C y o n , „Myogene Irrungen. Ein Schlußwort." P f l ü g e i s Archiv, Bd. 113, S. 111 (1906). s In Kap. II, §§ 2 , 3 und 7 sowie im Anhang zu Kap. VI des „Olirlabyrinths" werden dafür zahlreiche Beispiele beigebracht.
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Leib, Seele und Geist
Sodann handelt- es sich darum, das Wahrgenommene richtig vorzustellen, was meistens von einer richtigen Anordnung und Gruppierung der im Gedächtnis angehäuften Vorstellungsbilder abhängig ist. An den Tast- und besonders Gesichtsempfindungen verschiedener Individuen, die gleichzeitig dieselben Eindrücke erhalten, läßt es sich am leichtesten erkennen, wie gering die Zahl derer ist, die richtig s e h e n oder f ü h l e n . Bei der Verwertung der Beobachtungen für das richtige Erkennen wird diese Zahl noch bedeutend verringert, und dies auch, wenn das Erkennen von Leuten gleichen Wissens erstrebt wird. Die Fähigkeit, richtig zu denken, äußert sich bereits bei der Bildung der Begriffe. Die schöpferische Intuition greift erst in dem Augenblick ein, wo der Forscher versucht, das Wesen der Erscheinungen, welche die ersten sinnlichen Wahrnehmungen und deren Bewußtwerdung herbeigeführt haben, mit Hilfe fertiger Vorstellungen oder Begriffe zu deuten und zu beurteilen. Aber auch ohne Intuition können richtig denkende Forscher durch lange und gewissenhafte Arbeit Fruchtbares in der Naturforschung leisten. Bahnbrechend sind ihre Leistungen aber nie, und unsere Kenntnis der Wahrheit wird dadurch nicht befruchtet. Die Intuition der Wahrheit wird, wie gesagt, nur den richtig denkenken Forschern zuteil, weil nur diese die Fähigkeit besitzen, sie auch allseitig richtig zu verwerten. Für eine solche s c h ö p f e r i s c h e Intuition genügt aber weder das richtige Denken, noch eine ausgedehnte Gelehrsamkeit. Es gehört noch ein drittes, rein ethisches Element dazu: »Die Wahrheit o f f e n b a r t sich nur dem, der sie leidenschaftlich, ihrer selbst wegen und ohne jede Nebenabsichten sucht", schrieb ich in der Vorrede zu den »Nerven des Herzens«. Selbstverständlich gehören viele Jahre anhaltender Arbeit dazu, um auch bei den günstigsten geistigen Anlagen Beweise dafür zu liefern, daß die intuitiven Ideen und Lösungen schwieriger Probleme auch die Wahrheit darstellen. Als sicherster Beweis nach dieser Richtung gilt ihre Fruchtbarkeit für fernere Forschungen: »Das Beweisen, nicht das einfache Finden hat die Schöpfer der modernen Naturforschung groß gemacht und ihre Namen mit unvertilgbarer Schrift in den Tempel des Ruhmes eingegraben", sagt K. E. v o n B a e r am Schluß seiner Darlegung über die langen Kämpfe und schweren Prüfungen, die einem K o p e r n i k u s , K e p l e r , G a l i l e i u. v. a. beschieden waren, bevor ihre großen Entdeckungen allgemeine Anerkennung fanden.
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
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Die Kategorie der immer verkehrt sehenden, urteilenden und denkenden Gelehrten ist selbstredend zu produktiver wissenschaftlicher Forschung unfähig. Diese Gelehrten können, mit oder ohne f r e m d e Leitung, wohl einige schlecht angelegte und meistenteils mäßig ausgeführte Untersuchungen machen, ja durch Zufall sogar ein neues Resultat gewinnen. Aber sie werden stets unfähig sein, dessen wahre Tragweite zu erkennen u n d gültige allgemeine Schlüsse daraus zu ziehen. In jeder dieser Kategorien gibt es natürlich viele Zwischenstufen. Dagegen kommen Ü b e r g ä n g e von der zweiten zur ersten nur äußerst selten vor. In der ersten Kategorie müßte man außer den intuitiven Geistern noch zwei Unterabteilungen machen: einerseits die reinen I n t e l l e k t u e l l e n , bei denen das Gemütsleben a u f i h r e G e i s t e s o p e r a t i o n e n keinerlei Einfluß hat und allein der Verstand alle Untersuchungen leitet; u n d zweitens die, denen geistige Tätigkeit durch W ü n s c h e , Interessen u n d Leidenschaften zwar angeregt, letzten Endes aber doch vom Verstände beherrscht wird. Eine dritte Kategorie von Menschen, die in der Gelehrtenwelt viel seltner sind, sonst aber die überwiegende Mehrzahl bilden, sei hier schließlich noch besücksichtigt. Ich meine diejenigen, d i e d a s D e n k e n im w a h r e n S i n n e d e s W o r t e s ü b e r h a u p t nicht kennen. Bei dieser dritten Kategorie wäre die Annahme zulässig, daß sie n u r seelische Funktionen, die vom Gehirn ausgeübt werden, aber keinen leistungsfähigen Geist besitzt. Ihre minderwertigen psychischen Prozesse könnten auf dem Funktionieren rein automatischer Hirnmechanismen beruhen, also n u r in einer q u a n t i t a t i v und q u a l i t a t i v vollkommeneren Weise, als dies bei den höheren Wirbeltieren der Fall ist. Setzt man diese Einteilung als richtig voraus, so entsteht die Frage, inwieweit der Geist f ü r die Anlage zum Irrtum bei der zweiten Kathegorie verantwortlich ist. Gewichtige G r ü n d e sprechen d a f ü r , daß die Anlage zum Irrtum bei solchen Individuen nicht ihrem Geiste, sondern ihren Ganglienzellen zuzuschreiben sind, die an sich minderwertig und mit nutzlosen, unproduktiven oder schlecht angeordneten Inhalten erfüllt sind. Die streng wissenschaftliche D u r c h f ü h r u n g der hier entwickelten Auffassung und Einteilung würde schon jetzt, auf G r u n d der vorhandenen Erfahrungen, gestatten, die Unterschiede zwischen den seelischen Hirnfunktionen und den geistigen Leistungen in anschau-
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Leib, Seele und Geist
licher Weise zu demonstrieren. Die Ausschaltung des Geistes aus den seelischen Funktionen würde uns schon jetzt eine Schlußfolgerung von weittragender Bedeutung aufzwingen: Es g i b t k e i n e G e i s t e s k r a n k h e i t e n im e i g e n t l i c h e n S i n n e d i e s e s W o r t e s * s o n d e r n n u r S e e l e n - c d e r G e h i r n k r a n k h e i t e n . Die deutsche Bezeichnung « G e m ü t s k r a n k h e i t e n " würde schon viel genauer den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen. 1 Ein erfahrener Psychiater, der die hier vorgeschlagene Differenzierung ohne Rückhalt für das Studium der Symptomatologie der sogenannten Geisteskrankheiten anwenden wollte, müßte sich zuerst bestreben, in systematischer Weise zu prüfen, ob Erkrankungen der Hirnteile, wie Zerstörungen, Erweichungen oder sonstige pathologische Veränderungen, welche deren seelische Funktionen aufheben oder wesentlicli modifizieren, an sich schon genügen, um über die Herkunft intellektueller Störungen Aufklärung zu geben.
§ 10.
Die Beziehungen zwischen Leib, Seele und Geist; Hypophyse und Zirbeldrüse. Der Schlaf und das Unbewußte.
Die Frage nach den Beziehungen und den etwaigen Verbindungsbahnen zwischen Leib, Seele und Geist hat seit Jahrhunderten das Interesse von Philosophen und Naturforschern in hohem Grade erregt. »Über wenige Gegenstände wurde anhaltender nachgedacht, mehr geschrieben, leidenschaftlicher gestritten, als über die Verbindungen zwischen Leib und Seele im Menschen," sagt mit Recht E. d u B o i s - R e y m o n d . Nur zwei vorgeschlagene Lösungen, die von D e s c a r t e s und von L e i b n i z , sollen hier kurz erwähnt werden, weil sie, dank dem hohen wissenschaftlichen Denken dieser Philosophen, in gewissem Sinne nicht unfruchtbar waren. Geist und Körper sollen nach D e s c a r t e s sich nur in einem Punkte berühren, nämlich in der Zirbeldrüse des Gehirns. D e s c a r t e s suchte also eine anatomische Grundlage für dieses Problem. Der anatomische Bau der Zirbeldrüse schien zwar am wenigsten dazu geeignet, eine derartige Rolle zu spielen. Intuitionen genialer 1 Die russische Sprache kennt den Ausdruck G e i s t e s k r a n k h e i t gar nicht; geistige Störungen werden allgemein als seelische Krankheiten bezeichnet. Irrsinnige werden auch vom Volke als „vom Verstand Herabgestiegene" benannt.
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
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Leute enthalten aber fast immer ein Körnchen Wahrheit. Wir werden sogleich sehen, daß dieses winzige O r g a n , wie es sich aus meinen Untersuchungen von 1903 zu ergeben scheint, bei der Lösung der vorliegenden Frage eine wichtige Rolle spielt. L e i b n i z wollte es durch einen rein mechanischen Vergleich unserem Verständnis zugänglich machen: das Bild von zwei Uhren, die den gleichen G a n g h a b e n , sollte die Beziehungen zwischen Leib und Seele darstellen. Er zieht dabei drei Möglichkeiten in Erwägung, von denen n u r die dritte den Erfinder der »prästabilierten H a r m o n i e " befriedigt hat. D e r Künstler, der die beiden Uhren konstruiert hat, war so geschickt, sie, obschon ganz unabhängig voneinander, gleichgehend zu machen. Der m o d e r n e Naturforscher kann sich natürlich mit dieser allzu schlichten Erklärung nicht zufrieden geben. Von einem Parallelismus der geistigen Leistungen mit den Funktionen des G e h i r n s kann bei unserer Auffassung des Geistes weder im Sinne von L e i b n i z noch in d e m von S p i n o z a die Rede sein. Die Frage nach den Beziehungen zwischen Leib und Seele wird durch die Ausschaltung des Geistes aus den seelischen Funktionen völlig umgestaltet. Diese Funktionen können auch vom idealistischen Philosophen nur als organische Verrichtungen der Hirnzellen betrachtet werden. Der kühne Ausspruch K a r l V o g t s , der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts so viel Aufsehen und Streit hervorgerufen hat, »daß alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem N a m e n Seelentätigkeiten begreifen, nur Funktionen des G e h i r n s sind, o d e r , um es einigermaßen g r o b auszudrücken, daß die G e danken etwa in demselben Verhältnisse zum G e h i r n stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren«, beruht auf einer leidigen Verwechslung der Drüsen mit den Ganglien, welche letzteren d u r c h a u s nichts ausscheiden können. Immerhin kann man, sobald das reine D e n k e n nicht mehr zur S e e l e n t ä t i g k e i t gehört, sondern in dem oben entwickelten Sinne vom Geiste ausgeübt wird, gegen diesen Ausspruch V o g t s , trotz seiner Plumpheit, keine prinzipiellen Bedenken m e h r erheben. Infolge der hier vorgeschlagenen Differenzierung reduzieren sich die Beziehungen zwischen Leib u n d Seele in W i r k l i c h k e i t a u f d i e B e z i e h u n g e n zwischen Organen v o n äußerst komplizierter Struktur und deren physiologischen Verrichtungen. Für diese Beziehungen aber hat die Physiologie seit fast hundert Jahren fortwährend so viele präzise Daten beigebracht, d a ß es heute nicht
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Leib, Seele und Geist
mehr erlaubt ist, sie dem menschlichen Verstände als verschlossen hinzustellen. Die höhere Sinnesphysiologie ist seit der Mitte des letzten Jahrhunderts der am eingehendsten erforschte und am festesten begründete Zweig der Biologie. Sie hat in ihren Fortschritten noch niemals Halt gemacht. Dank ihren Forschungsmethoden, die den Methoden der Physik und Astronomie an Strenge gleichkommen, ja diese bisweilen übertreffen, sind unsre Kenntnisse von den wunderbar komplizierten Funktionen des Ohrs und des Auges so reichhaltig, daß wir deren Erforschung endgültig in das Gebiet der exakten Wissenschaften einbegreifen können. Die Psychologen, die gegen diese Errungenschaften der Physiologie lediglich mit den Mitteln einer veralteten Dialektik vorgehen, lassen die Vergeblichkeit der Bemühungen ihrer Vorgänger dadurch nur doppelt hervortreten. Räder, die man auf der Stelle dreht, und sei es noch so geschickt, bringen einen Handwagen nicht vorwärts, noch können sie gar die Geschwindigkeit einer Lokomotive überflügeln. Eine Psychologie, die nicht auf gründlicher Kenntnis der Sinnesphysiologie in ihrem jetzigen Umfang beruht, hat keinerlei Bedeutung mehr; im Gegenteil, sie stellt einen bedeutenden Rückschritt gegenüber der Psychologie des A r i s t o t e l e s dar, welcher dank seinem intuitiven Genius die Grundlagen einer wissenschaftlichen Psychologie auf dem Gebiete der inneren Anschauung schuf. Größeren Schwierigkeiten begegnet die experimentelle Physiologie da, wo es gilt, mit Hilfe präziser Methoden die Funktionen der Milliarden von Ganglienzellen zu erforschen, in die unsere Sinnesorgane münden. In der Erforschung des Gehirns sind die Embryologie, die Anatomie und Histologie der experimentellen Physiologie bedeutend voraus; doch auch hier: wie viele methodologische Fortschritte, wie viele wertvolle und endgültige Entdeckungen von F l o u r e n s bis H e r m a n n M u n c k ! Die gegenwärtige Bedeutung dieser Forschritte läßt sich vielleicht nicht besser kennzeichnen, als durch ein Zitat aus einer der letzten Experimentalforschungen über die Sinnessphären der Hirnrinde. Der berühmte Physiologe H e r m a n n M u n c k , 1 dem wir dieses Zitat entlehnen, hat bei seinen, während dreißig Jahren ver1
„Über die Funktionen von Hirn und Rückenmark". Mitteilungen, neue Folge. Berlin 1909, S. 234.
Gesammelte
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
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folgten Untersuchungen über die Funktionen der verschiedenen Hirnteile keinen Augenblick den Boden exakter Forschung verlassen. Die Feinheit und Präzision seiner Operationsmethoden und die scharfe, aber unparteiische Kritik, der er sowohl eigne als f r e m d e Ergebnisse zu unterziehen pflegt, verleihen seinen klassischen Studien » O b e r die A u s d e h n u n g der Sinnessphären" einen ganz besonderen Wert. »Indem die Sinnesnervenfasern, die als Projektionsfasern zur Rinde in deren ganzer A u s d e h n u n g gehen, dort f ü r jeden Sinn nebeneinander ihr Ende finden, ohne d a ß Fasern eines anderen Sinnes sich untermischen, stellt sich die Rinde als ein Aggregat den verschiedenen Sinnen zugeordneter Abschnitte, der Sinnessphären, d a r ; und es kommen in den zentralen Elementen jeder Sinnessphäre, die unmittelbar oder fast unmittelbar mit den Projektionsfasern zus a m m e n h ä n g e n , die spezifischen E m p f i n d u n g e n , W a h r n e h m u n g e n und Vorstellungen eines Sinnes zustande. Für die darüber hinausgehenden Funktionen der Rinde, g e b u n d e n an Assoziationsfasern u n d andere zentrale Elemente, die wiederum über die Rinde in deren ganzen Ausdehnung verbreitet sind, eine jede Funktion natürlich an bestimmte morphologische Gebilde g e b u n d e n , hat bezüglich des Zustandekommens die Abgrenzung der Sinnessphären keine durchgreifende Bedeutung m e h r ; doch sind des weiteren wir noch im Dunkeln, da bisher der Versuch am Tiere versagt und die pathologische Beobachtung in den Aphasien, Alexien,, Agraphien usw. n u r sehr spärliche und nicht genügend durchsichtige Aufschlüsse geliefert hat." Wie man sieht, sind in der Lokalisierung der Sinnesfunktionen schon beträchtliche Fortschritte gemacht worden, welche die Bezirke der E m p f i n d u n g e n , W a h r n e h m u n g e n und Vorstellungen genau zu bestimmen gestatten; d. h. die Lokalisierung ist fast bis zu den äußersten Grenzen gelangt, wo Tierversuche noch präzise Resultate liefern können. Die allzu kühnen Streifzüge mehrerer Embryologen und besonders der Irrenärzte auf dem Gebiet der geistigen P r o zesse können auf endgültigen wissenschaftlichen Wert keinen Anspruch e r h e b e n , besonders nicht bei der Lokalisierung der sogenannten Denkzentren. Man sieht, die Frage nach den Beziehungen zwischen Leib und Seele ist hinsichtlich der Lokalisierung und der allgemeinen Mechanismen genügend geklärt. Es bleibt also n u r die zweite Frage offen: die nach den Beziehungen zwischen Seele u n d Geist, oder E. v. C y o n , Gott und Wissenschaft. Bd. 2.
12
mit
anderen
Worten,
zwischen
z e n t r e n und dem Geiste.
den
Funktionen
der
Hirn-
Aber auch in dieser Formulierung ist
diese Frage für unseren Verstand nicht völlig unlösbar. ziehungen zwischen einer Funktion
Die
Be-
und deren Verwertung für die
Geistesoperationen lassen sich leichter untersuchen, als die unmittelbaren Beziehungen zwischen Leib und Geist. auf die Feststellung an,
auf welchen
Es kommt vor allem
Bahnen
die Inhalte
unserer
Ganglienzellen zum Geiste gelangen, der sie zur Bildung von Begriffen, Ideen, Urteilen usw. benutzt.
Aber auch in dieser Gestalt
bietet eine direkte Beantwortung der Frage noch große Schwierigkeiten.
Diese suchte ich zu umgehen, indem ich die Frage indirekt
angriff.
Anstatt
die
Bahnen
zu
bestimmen,
welche
den
zwischen
Geist und Seele vermitteln, versuchte ich zu
wodurch
dieser Verkehr
unterbrochen
wird
und
Verkehr
ergründen,
wiederhergestellt
werden kann. Dieser Versuch
führte mich zur Erweiterung
meiner
Studien
über die Rolle der Hypophyse und der Zirbeldrüse bei dem beschäftigenden
Problem.
eine Mitteilung
über
uns
In der Einleitung habe ich bereits auf
die
Funktionen
dieser beiden
Gefäßdrüsen
hingedeutet, die ich im Jahre 1 9 0 7 der Pariser Akademie der Wissenschaften machte. In dieser Mitteilung habe ich die wichtigsten Ergebnisse meiner zehnjährigen
Untersuchungen
über
die Verrichtungen
der Schild-
drüse, der Hypophyse und der Zirbeldrüse zusammengefaßt. Untersuchungen
wurden
seinerzeit
fast sämtlich
Archiv für die gesamte Physiologie« veröffentlicht. 1 auf diese Veröffentlichungen
in
Diese
»Pflügers Es genügt hier,
zu verweisen und ihre Ergebnisse in
den Hauptzügen anzudeuten: 1. Die Hypophyse ist im Autoregulator des Blutdrucks in der Schädelhöhle. die
Sie wacht über die Sicherheit des Gehirns und über
Erhaltung
funktionen.
der
Leistungsfähigkeit
seiner
Lebens-
und
Seelen-
Sie erfüllt diese Aufgabe, indem sie auf mechanischem
Wege, mit Hilfe eines Systems von Schleusen, von denen die Schilddrüsen
die wichtigsten
sind,
das Gehirn
vor gefährlichem
Blut-
andrang bewahrt.
1
Band 7 0 — 1 0 1 . — Mein Werk, das alle diese Untersuchungen zusammen-
faßt, erschien unter dem Titel: „Die Gefäßdrüsen als regulatorische Schutzorgane des Zentralnervensystems", bei Julius Springer, Berlin 1910.
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
179
2. Der Drüsenteil der Hypophyse erzeugt zwei wirksame Substanzen, welche das Herz- und Gefäßnervensystem in guter Leistungsfähigkeit erhalten; die eine dieser Substanzen, das Hypophysin, vermag die Stärke der Herzschläge bedeutend zu erhöhen; sie ist außerdem ein mächtiges Gegengift gegen Atropin und Nikotin lind wahrscheinlich gegen schädliche, im Körper selbst entstehende Zersetzungsprodukte. 3. Die Hypophyse erzeugt und unterhält die tonische Erregung der hemmenden Nerven. 4. Durch ihre wirksamen Substanzen, welche die Tätigkeit des Sympathicus und des Vagusnervensystems beherrschen, reguliert sie den Stoffwechsel der Gewebe und die Ausscheidungen wichtiger Drüsen. Sie vermag die Harn- und Geschlechtsorgane erregend zu beeinflussen. Durch die Regulierung des Stoffwechsels übt die Hypophyse eine mächtige Wirkung auf die Entwicklung und das Wachstum der Gewebe, besonders des Knochengewebes, aus. 5. Erkrankungen der Hypophyse und auch bloße Störungen ihrer Funktionen erzeugen gewisse Komplexe von organischen und psychischen Leiden, die meistens unheilbar sind und oft zum Tode führen. Die plötzliche Zerstörung der Hypophyse oder ihre völlige Entfernung erzeugt einen komatösen Zustand, B e w u ß t l o s i g k e i t und führt nach Verlauf weniger Tage den Tod herbei. 6. Die Zirbeldrüse wirkt hauptsächlich auf mechanischem Wege als Regulator des Zu- und Abflusses der Zerebrospinalflüssigkeit durch den A q u a e d u c t u s S y l v i i . Die Notwendigkeit, ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Blutmengen und der Zerebrospinalflüssigkeit in der Schädelhöhle fortwährend zu unterhalten, bedingt selbstverständlich ein harmonisches Zusammenwirken in den Verrichtungen der Hypophyse und der Zirbeldrüse. Die in einer Kapsel mit starren Wandungen eingeschlossene Hypophyse, die durch die leisesten Druckschwankungen in Erregung versetzt wird, beherrscht wahrscheinlich die Funktionen der Zirbeldrüse. Ich schloß diese Mitteilung mit dem Hinweise, d i e H y p o p h y s e sei v i e l l e i c h t d a z u b e f ä h i g t , in g e w i s s e m S i n n e d i e R o l l e zu e r f ü l l e n , w e l c h e D e s c a r t e s d e r Z i r b e l d r ü s e z u g e s c h r i e b e n hat. Es sei hier noch hervorgehoben, daß, wie das Ohrlabyrinth von den übrigen peripherischen Sinnesorganen die bestgeschützte 12*
.180
Leib^Seele^uiid^Oe^
Lage im Schädel einnimmt, so auch die Hypophyse, in einer festen Kapsel auf dem Türkensattel der Schädelbasis eingeschlossen, von allen Oehirnorganen am sichersten gegen äußere Eingriffe geschützt ist. Es sind also ganz außerordentliche morphologische Einrichtungen geschaffen, damit diese Organe in möglichster Sicherheit und ungestört ihre wichtigen Funktionen ausüben können. Die H y p o p h y s e kann infolge ihrer vielseitigen Verr i c h t u n g e n f ü r die R e g e l u n g der E r n ä h r u n g , des Stoffwechsels, der B l u t u m l a u f s - und A u s s c h e i d u n g s o r g a n e gew i s s e r m a ß e n a l s ein V e r b i n d u n g s k n o t e n g e l t e n , w o s ä m t l i c h e L e b e n s f ä d e n z u s a m m e n t r e f f e n . In dem Sinne, den die alten Philosophen dem Worte L e b e n s s e e l e b e i z u l e g e n p f l e g t e n , k ö n n t e man die H y p o p h y s e als Sitz d e r L e b e n s s e e l e bezeichnen. Ihre p s y c h o l o g i s c h e Rolle ist nicht von minderer Bedeutung. Die Pathologen der letzten Jahrhunderte haben eine Fülle klinischer Beobachtungen gewonnen, die auf diese Rolle schon schließen ließen. Aber erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts ist diese in unwiderleglicher Weise klargelegt worden. Pathologische Veränderungen der Hypophyse, sehr häufig von entsprechenden Erkrankungen der Schilddrüse und der Zirbeldrüse begleitet, erzeugen fast immer ausgesprochene Störungen: anfangs geistige Depression und Trägheit, große Neigung zum Schlaf; allmählich aber entwickeln sich Anfälle v o n p e r i o d i s c h e i n t r e t e n d e r B e w u ß t l o s i g k e i t , die endlich zum völligen Blödsinn führen können. »Das höhere Erkenntnisvermögen, welches sich in den Begriffen, Urteilen und Schlüssen ausspricht, ist bei Alterationen der Hypophyse selten getrübt, und nie im Beginne der Krankheit.. . In einer näheren Beziehung scheint die Hypophyse zu dem niederen Erkenntnisvermögen zu stehen. . . Das Gedächtnis erlahmt, Vorstellungen niederer Art, den körperlichen Zustand betreffend, aus diesen hervorgehend, auf diesen zurückwirkend, erdrücken allmählich den Kranken; die immer rege Phantasie, die nie an Raum, nie an Zeit sich bindet, ist gleichsam gefangen in der kranken irdischen Hülle, und erhebt sich nie mehr zum vorigen Schwünge. So entstehen die so häufigen Verstimmnngen des Gemütes, die man bei Abnormitäten des Hirnanhanges-bemerkt, so wie diese auch häufig jenen ihren Ursprung verdanken." Dieses allgemeine Bild der Erkrankungen der Hypophyse, die von der der Zirbeldrüse* begleitet waren, ist einer sehr sorgfältigen
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
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pathologischen Untersuchung J o s e p h E n g e l s , «Über den Hirnanhang und den Trichter«, entnommen, die im Jahre 1839 als Dissertation in W i e n 1 erschien und gleichzeitig die gesamte Literatur der beiden vorhergehenden Jahrhunderte genau berücksichtigt hat. Diese alten sowie einige neuere Beobachtungen erklären sich am leichtesten durch die S t ö r u n g e n in d e r R e g u l i e r u n g d e s G e h i r n d r u c k e s , welche d u r c h die k r a n k h a f t e n V e r ä n d e r u n g e n d e r H y p o p h y s e e n t s t e h e n . Wie meine experimentellen Untersuchungen gezeigt haben, ist aber die autoregulatorische Tätigkeit der Hypophyse nicht, wie die der Zirbeldrüse, nur eine rein mechanische. Dank den von ihr produzierten wirksamen Substanzen vermag sie allein oder im Verein mit den Ausscheidungen der anderen Gefäßdrüsen das gesamte Zentralnervensystem in leistungsfähigem Zustande zu erhalten. Diese wirksamen Produkte scheinen aber auch d i r e k t und f u n k t i o n e l l den Stoffwechsel in den Geweben und die Ausscheidungen zu beeinflussen, und zwar teils auf rein chemischem Wege. Die eben genannten seelischen Störungen sind bei weitem nicht die einzigen, die durch die Veränderungen in den Verrichtungen der Gefäßdrüsen, dieser wahren Schutz- und Regulierungsorgane des Zentralnervensystems, erzeugt werden. Für den hier verfolgten Zweck wäre es aber überflüssig, auf weitere Einzelheiten einzugehen; die angeführten Tatsachen genügen zur Aufstellung der oben gestellten zwei Fragen n a c h d e n W e g e n u n d M i t t e l n , w e l c h e die A u f h e b u n g und die W i e d e r h e r s t e l l u n g der Verbind u n g e n zwischen Geist und Seele ermöglichen. Der völlige o d e r teilweise A b b r u c h oder die W i e d e r a u f n a h m e d i e s e r V e r b i n d u n g e n k a n n p e r m a n e n t o d e r in g r ö ß e r e n o d e r kleineren I n t e r v a l l e n g e s c h e h e n bei V e r ä n d e r u n g e n d e s D r u c k e s in d e r S c h ä d e l h ö h l e , u n d z w a r s o w o h l i n folge plötzlicher Steigerungen oder Senkungen des Blutd r u c k e s in d e n H i r n g e f ä ß e n , a l s a u c h d e r S c h w a n k u n g e n im A b - u n d Z u f l u ß d e r z e r e b r o s p i n a l e n F l ü s s i g k e i t i n den Hirnhüllen und -höhlen. 1 Ich zitiere aus E n g e l s , unter R o k i t a n s k y s Leitung ausgeführter Arbeit, die eine größere Anzahl klinischer Beobachtungen mit Sektionsbefunden, sämtlich von hervorragendem Interesse, enthält. Merkwürdigerweise ist sie den modernen Forschern auf diesem Gebiete völlig entgangen.
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Die momentane Aufhebung der seelischen Funktionen schneidet natürlich dem Geiste die Möglichkeit ab, das in den Archiven der Ganglienzellen angehäufte Material für die Denkvorgänge zu verwerten. D a s I c h b e w u ß t s e i n , d a s , w i e o b e n g e z e i g t , a l s e i n e s e e l i s c h e F u n k t i o n zu b e t r a c h t e n ist, e r l i s c h t z u g l e i c h mit dem aligemeinen Bewußtsein, sobald diese V e r ä n d e r u n g e n d e s D r u c k s in d e r S c h ä d e l h ö h l e g e w i s s e o b e r e o d e r u n t e r e G r e n z e n e r r e i c h e n . Um einen krassen Vergleich zu gebrauchen: die Beziehungen zwischen Seele und Geist werden etwa so unterbrochen, wie bei eintretender Dunkelheit die Arbeit eines Gelehrten in einem Archiv. Die Frage, was mit dem geistigen Bewußtsein geschieht, wenn die Inhalte der Ganglienzellen unverwendbar sind, gehört in das Gebiet der Philosophie. Der Physiologe soll nur noch einige experimentelle und pathologische Erfahrungen hinzusetzen, die für die Entscheidung dieser Frage in Betracht kommen. Unter den Symptomen der Hypophysenkrankheiten wurden soeben die periodische Wiederkehr der Bewußtlosigkeit und- die anhaltende Schläfrigkeit aufgezählt. Solche periodisch wiederkehrende Bewußtlosigkeit tritt normalerweise und in regelmäßigen Intervallen bei M e n s c h e n und auch bei T i e r e n in Form des Schlafes auf. In der Tat beruht der normale Schlaf, zum großen Teil wenigstens, auf bestimmten Schwankungen des Blutdruckes in der Schädelhöhle, die sich bei Menschen durch Veränderungen des Volumens der Blutgefäße des Gehirns äußern. Da dieser Blutdruck aber von der Hypophyse reguliert wird, so drängt sich der Schluß auf, daß der Schlaf von den Funktionen der Hypophyse und der Zirbeldrüse abhänge. Es sind in der letzten Zeit mehrere Spezialuntersuchungen veröffentlicht worden, die diese Annahme scheinbar bestätigen. So gelangte A. S a l m o n zu der Annahme, der physiologische Schlaf hänge von den Drüsenausscheidungen der Hypophyse ab. Andererseits hat A. G e m e l l i interessante Beobachtungen über die histologischen Veränderungen der Hypophyse bei Murmeltieren während des Winterschlafes veröffentlicht. So z. B. soll die Menge gewisser Hirnzellen, nämlich der zyanophilen, während des Schlafes vermindert werden. Sollte diese Tatsache sich bestätigen, so dürfte jedenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit daraus geschlossen werden, daß die Tätigkeit der Drüse während des Winterschlafes beim Murmeltiere ebenso abnimmt, wie viele andere Funktionen. Um eine annähernd präzise Erklärung der Tätigkeit der Hypo-
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physe bei der Erzeugung der Bewußtlosigkeit während des Schlafes geben zu können, wird es aber vorteilhafter sein, vorläufig von etwaigen chemischen Einflüssen abzusehen. Solche Einflüsse erkennen wir bis jetzt nur an den Endresultaten. Die Zwischenstufen dieser Einflüsse können erst dann mit einiger Sicherheit aufgeklärt werden, wenn die chemische Zusammensetzung des Hypophysins genau bekannt ist. Inzwischen muß man sich auf die Analyse der schon aufgeklärten m e c h a n i s c h e n Wirkungen der Hypophyse beschränken. Eine Verminderung der Tätigkeit der Hypophyse während des Schlafes muß sich in einer Abnahme der Geschwindigkeit des Blutabflusses aus den Hirnvenen — also in einer gewissen Zunahme der Blutmengen in der Schädelhöhle — äußern. Eine jede Blutstauung im Gehirn aber setzt, wenn sie eine gewisse Höhe erreicht, die Tätigkeit sämtlicher Ganglienzellen mehr oder minder herab. Es wurde soeben angedeutet, daß zwischen den Blutmengen und denen der zerebrospinalen Flüssigkeit in der Schädelhöhle ein gewisses labiles Gleichgewicht bestehen muß. Die Zunahme der Blutmenge z. B. müßte daher schon a u s r e i n m e c h a n i s c h e n G r ü n d e n von einer Abnahme der Hirnflüssigkeit begleitet sein und umgekehrt. Diesen mechanischen Wirkungen könnte die Hypophyse nur durch einen N e r v e n r e i z entgegenwirken, der den funktionellen Zustand der Zirbeldrüse verändert. Leider besitzen wir keinen unmittelbaren Anhaltspunkt für ein derartiges Eingreifen, das trotzdem zur Erhaltung der Hirnfunktionen erforderlich ist. Handelt es sich um eine periodische funktionelle Veränderung des Blutdruckes durch die Hypophyse, so könnte die Tätigkeit der Zirbeldrüse nur in einer Weise stattfinden, die dem physiologischen Zweck dieser Veränderung entspricht. Diese Tätigkeit wäre also völlig unabhängig von dem mechanischen Gleichgewicht der beiden Flüssigkeitsmengen in der Schädelhöhle. Durch sie könnte der Abfluß der zerebrospinalen Flüssigkeit durch den Aquaeductus Sylvii beschleunigt oder verlangsamt werden. Nun mehren sich in letzter Zeit die Anzeichen, daß die erhöhte Spannung in den Hirnhöhlen auf die Tätigkeit der Ganglienzellen, die am intellektuellen Leben am meisten beteiligt sind, einen direkt fördernden Einfluß ausübt. Es soll in dieser Richtung nur auf die wichtigen Schlußfolgerungen hingewiesen werden, welche H a n s e m a n n aus der genauen Untersuchung der Gehirne von H e l m h o l t z und M e n z e l hinsichtlich des großen Volumens ihrer Höhlen gezogen hat.
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Z w e i F a k t o r e n s i n d a l s o im S c h l a f e t ä t i g , u m d i e seelischen Funktionen der Gehirnganglien abzuschwächen u n d um e v e n t u e l l S t ö r u n g e n in i h r e n V e r b i n d u n g s b a h n e n zu e r z e u g e n . D i e s e b e i d e n M o m e n t e , E r h ö h u n g des D r u c k e s in d e n G e f ä ß e n u n d A b n a h m e d e r S p a n n u n g in d e n H ö h l e n , h ä n g e n direkt von der Funktionsweise der H y p o p h y s e und d e r Z i r b e l d r ü s e ab. In welcher Weise äußern sich im Schlafe die Abnahme der Tätigkeit der Hirnzellen und das Auftreten von Störungen in ihren verbindenden Leitungsbahnen? Jeder denkende und an geistige Beschäftigung gewöhnte Mensch kann durch Selbstbeobachtung eine positive Antwort auf diese Frage geben: Der Beginn des Schlafens äußert sich zuerst in einer Verwirrung der Bewußtseinsinhalte, in einer stufenweisen Abnahme des Ichbewußtseins und in einer Ideenflucht, die auch die größten Anstrengungen der Aufmerksamkeit nicht mehr zu verhindern vermögen. Die heterogensten Wahrnehmungen, Vorstellungen und Eindrücke werden in sinnloser Weise assoziiert. M a n e r h ä l t d e n E i n d r u c k , Hemmungsvorrichtungen als wären plötzlich sämtliche aus den H i r n a p p a r a t e n entfernt, welche sonst diese Assoz i a t i o n e n b e h e r r s c h e n . Die Zeitdauer dieser Periode des Einschlafens ist sehr mannigfaltig und kann bis auf Bruchteile einer Sekunde herabgesetzt oder durch äußere oder innere Einflüsse auf mehrere Minuten ausgedehnt werden. Die konstanteste und auffälligste Erscheinung im Momente des Einschlafens ist die zunehmende Verwirrung in den Gedanken, die in unser Bewußtsein gelangen, und in unseren Sinneseindrücken. Nur das völlige Erwachen kann dieser Anarchie ein Ende machen, sonst geht sie in einen tiefen Schlaf mit mehr oder minder völligem Verlust des Bewußtseins über. Was während dieses Schlafes in dem Innern unserer Psyche vorgeht, darüber können nur mehr oder weniger wahrscheinliche Vermutungen angestellt werden. Aus den Äußerungen des Schlafenden, die der Beobachtung zugänglich sind, wie z. B! aus den reflektorischen Bewegungen, mit denen der Schlafende auf äußere Reize reagiert, lassen sich keine bestimmten Schlüsse ziehen. Die sogenannte unbewußte Tätigkeit der Seele oder des Geistes, von der manche Philosophen so ausführlich zu erzählen wissen, kommt für den Physiologen wenig in Betracht, eben weil sie seinem eigenen Bewußtsein unzugänglich sind. Was uns von dem Geträumten
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sofort oder erst durch Oedächtnisbilder zum Bewußtsein gelangt, stammt eben nicht 'aus den Geschehnissen w ä h r e n d d e s t i e f e n S c h l a f e s , sondern während der Zustände des Halberwachens, das entweder dem völligen Erwachen vorangeht oder den tiefen Schlaf n u r zeitweise unterbricht. N u n lehrt die allgemeine Beobachtung, d a ß , wenn das E i n s c h l a f e n eine sinnlose Verwirrung von Ideen und Vorstellungen erzeugt, das E r w a c h e n im Gegenteil sich manchmal in einer Klärung der Gedanken und Vorstellungen äußert. Schaffende Gelehrte haben Gelegenheit, die Erfahrung zu machen, daß manchmal der erste klare G e d a n k e beim Aufwachen ihnen sofort die richtige L ö s u n g von Fragen lieferte, die sie während monatelangen Suchens nicht haben finden können. Auch der gemeinen Erkenntnis der Völker ist diese Tatsache nicht unbekannt. „ D e r Morgen ist klüger als der A b e n d " lehrt ein russisches Sprichwort. «Die Nacht bringt R a t " , sagen die Franzosen. Aus zahlreichen eigenen Erfahrungen habe ich die Ü b e r z e u g u n g g e w o n n e n , d a ß der Abend und der Morgen an sich nichts mit dem plötzlichen Auftreten glücklicher Einfälle zu schaffen haben. Es handelt sich dabei nur um ein zufälliges Zusammentreffen zwischen dem A b e n d und dem Moment des Einschlafens einerseits und dem M o r g e n und der Zeit des Erwachens andererseits. Seit Jahrzehnten, besonders während anhaltend geistiger Anstrengung, dauert mein Schlaf selten mehr als zwei oder drei Stunden u n d dies ganz unabhängig von der Zeit des Schlafengehens. 1 Die S t u n d e des Erwachens wie die D a u e r des Schlafes üben nach meinen vieljährigen Erfahrungen keinerlei merklichen Einfluß, weder auf die Leistungsfähigkeit des Geistes gleich nach dem Erwachen, noch auf das Auftreten glücklicher Einfälle im Augenblick des Erwachens aus. N u r die T i e f e des Schlafes ist f ü r diese beiden Momente von großer Bedeutung, da n u r der t i e f e Schlaf erholend auf die bei der geistigen Tätigkeit in Anspruch genommenen G a n g lienzellen wirkt. 2 Am tiefsten ist aber der Schlaf im normalen Z u stand schon in der ersten Stunde nach dem Einschlafen; darin stimmen fast sämtliche Beobachter und Experimentatoren überein,
1
Siehe „Das Ohrlabyrinth", Anhang zu Kap. III, § 8. Der Geist kennt an sich keine Ermüdung: nur die überangestrengten Ganglienzellen verweigern dem stets wachen Geist ihre Mitarbeit. 2
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die, wie K o h l s c h ü t t e r , M i c h e l s o h n und andere, den Schlaf näher studiert haben. Zwei bis drei Stunden tiefen Schlafes genügen daher auch bei geistigen Anstrengungen zur sofortigen Erholung und zur unmittelbaren Wiederaufnahme der Arbeit; aber nur unter der Bedingung, daß das Erwachen von s e l b s t auftritt, ohne durch äußere Umstände; wie Geräusche, Berührungen usw., hervorgerufen zu werden. Intuitive Gedanken, welche zu Lösungen schwieriger Probleme, denen man oft wochen- oder monatelang durch anstrengendes Denken vergeblich nachgeforscht hat, können daher manchmal gleich beim Erwachen entstehen. Man erhält den E i n d r u c k , d a ß d i e s e s A u f b l i t z e n d i e u n w i l l k ü r l i c h e U r s a c h e d e s E r w a c h e n s war. Das Erwachen mit dem neuen Gedanken bedeutet aber keineswegs das vollständige Aufhören der Bewußtlosigkeit; der aufgeblitzte Gedanke erscheint allein im geistigen Bewußtsein. Das Ichbewußtsein kehrt meistens später und nur allmählich zurück. Erst mit der Rückkehr dieses S e l b s t b e w u ß t s e i n s wird der neue Gedanke stufenweise mit den früheren Gedanken in Beziehung gebracht, welche v o r dem Schlafe den Geist beschäftigt haben. Es vergeht eine merkliche Zeit, bis der Ideengang, der zur Lösung des Problems geführt hat, sich klar in unserem Bewußtsein aufrollt. Häufig fehlen dabei einige Glieder in der Gedankenkette, und zwar an der Stelle, wo die neue intuitive Idee anfängt. Wie lange diese Zeitperiode dauert, darüber lassen sich keinerlei bestimmte Angaben machen. Nur das eine glaube ich mit Bestimmtheit behaupten zu können: diese Periode des halben Erwachens kann in ziemlich weiten Zeitgrenzen variieren, und die angedeuteten geistigen Vorgänge spielen sich merklich langsamer ab als bei der zusammenhanglosen Ideenflucht im wirklichen Traum. Diese, vielen Philosophen und Psychologen aus der Selbstbeobachtung geläufigen Tatsachen haben Anlaß zu zahlreichen Erklärungsversuchen gegeben. Die Philosophie des Unbewußten beruht in letzter Instanz auf ähnlichen Tatsachen, deren naheliegendste und auch gangbarste Erklärung darauf hinausgeht, daß ein großer Teil der Tätigkeitsäußerungen des Gehirns, der Seele oder des Geistes — je nach der Weltanschauung des betreffenden Philosophen — ohne Teilnahme unseres Bewußtseins vor sich geht und entweder unbewußt bleibt oder nur fragmentarisch früher oder später zum Bewußtsein gelangt. Der Physiologe kann diese Erklärung nicht ohne
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weiteres als vollgültig annehmen. Geistige Erscheinungen, die nicht zu unserem Bewußtsein gelangen, können überhaupt nicht Gegenstand exakter Forschung werden. Über den näheren Hergang bei solchem Auftauchen neuer Ideen und Einfälle ist es meistens unmöglich, auch nur annähernd ein bestimmtes Urteil zu bilden. Man ist selbstverständlich dabei auf Selbstbeobachtungen angewiesen. Solche haben aber auch nur Wert, wenn sie zahlreich genug sind und in den Hauptzügen eine gewisse Übereinstimmung zeigen. Fremde Selbstbeobachtungen dürfen in solchen Fällen mit der äußersten Zurückhaltung berücksichtigt und nur dann für Erklärungsversuche verwendet werden, wenn sie von absolut glaubwürdigen Forschern herrühren und mit den eigenen, wenigstens in den Hauptzügen, übereinstimmen. Mit diesem Vorbehalte soll hier, unter Zugrundelegung der vorgeschlagenen Differenzierung der seelischen Funktionen, eine Erklärung mehrerer der in Frage stehenden Erscheinungen versucht werden. Als Richtschnur sollen uns dabei die bisher gewonnenen Kenntnisse über die physiologischen Verrichtungen der Hypophyse und der Zirbeldrüse dienen, soweit sie mit dem periodischen Eintreten der Bewußtlosigkeit (beim Schlaf) oder bei komatösen, pathologischen Zuständen zu schaffen haben, oder schließlich experimentell hervorgerufen werden. Die Tätigkeit unseres Zentralnervensystems kann während des Schlafes' herabgesetzt werden, aber nicht ganz erlöschen. Unser sensibles und sensorisches Nervensystem kennt keine erregungsfreien Intervalle. Die Erregungen, ob sie von der Peripherie oder von den inneren Organen herrühren, werden fortwährend den peripherischen und zentralen Ganglienzellen zugeführt, wo sie zur Aufspeicherung psychischer Energien in den Energiespeichern dienen und nur zum Teil dazu verwendet werden, die gesamte Muskulatur in tonischer Spannung zu erhalten. Besondere Hemmungsvorrichtungen, von denen die wichtigsten im Ohrlabyrinth ihren Sitz haben, beherrschen und regulieren die Verteilung, und Verwendung dieser Reizkräfte und verhindern deren Verschwendung durch unnütze oder übermäßige Auslösungen von Innervationen. Auf diesen, im «Ohrlabyrinth" 1 beschriebenen Mechanismen beruht die eigentliche Ökonomie unserer geistigen Funktionen. 1
Siehe „Ohrlabyrinth", Kap. III, §§ 7, 8 usw. und auch oben, § 2.
188 Während des Schlafes werden die von der äußeren Welt dem Zentralnervensystem zugeführten Erregungen nicht unbedeutend reduziert; dementsprechend werden auch dessen verschiedene Funktionen herabgesetzt. Unter den soeben erörterten Einflüssen der Hypophyse und der Zirbeldrüse wird, gleichzeitig mit dem völligen Erlöschen des Ichbewußtseins, auch das ganze psychische Leben allmählich aufgehoben. V o n e i n e r u n b e w u ß t e n g e i s t i g e n Tätigkeit während- des Schlafes kann daher wohl kaum d i e R e d e s e i n . Die unzusammenhängenden, episodisch auftretenden Assoziationen von dunklen Vorstellungen und Wahrnehmungen beruhen auf zufälligen äußeren oder inneren Erregungen. Sie kommen kaum in Betracht bei den Leistungen des intellektuellen Lebens und sind jedenfalls weit davon entfernt, die entscheidende Bedeutung zu haben, die ihnen die Philosophen des Unbewußten zuschreiben wollen. Wie gesagt, gelangen sie nur zufällig in zusammenhängenden Fragmenten und in unklaren Umrissen zu unserem Ichbewußtsein, und dies nur dann, wenn irgendwelche äußeren Reize auf einige Augenblicke den Schlaf mehr oder weniger verflachen. Wie könnte auch eine unbewußte Tätigkeit des Geistes während des Schlafes zustande kommen und eventuell fruchtbar werden? Nach unserer Auffassung besitzt der Geist keine eigenen Inhalte, sondern nur Fähigkeiten und Potenzen. Für seine Tätigkeit bedarf er notwendigerweise der in unseren Gehirnzentren angehäuften Inhalte. Während des Schlafes könnte der Geist nur über die Inhalte einer beschränkten Gruppe von Ganglienzellen zum Zwecke der Gedankenbildung verfügen, die zufällig dem einschläfernden Einfluß der Hypophyse und Zirbeldrüse entgangen sind. Als solche wachgebliebenen Zentren könnten nur die in Betracht kommen, welche in der dem Schlafe vorhergehenden Zeitperiode andauernd für geistige Leistungen in Anspruch genommen waren. Die Ganglienzellen, die längere Zeit für anstrengende geistige Arbeit benutzt wurden, müssen schon im wachen Zustande viel mehr Reizkräfte, d. h. psychische Energie verbrauchen, als die in relativer Ruhe verbleibenden. Werden nun die letzteren Ganglienzellen durch den Schlaf ganz außer Tätigkeit gesetzt, so könnten die noch wachen Zentren, da die Mitbewerber ausfallen, die in Nachbarzentren gespeicherten Reizkräfte für sich verbrauchen. D e r G e i s t k ö n n t e a l s o s e i n e s c h ö p f e rische Tätigkeit fortsetzen, und seine Leistungen w ü r d e n
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bei plötzlichem Erwachen zum Bewußtsein gelangen und zu i n t u i t i v e n G e d a n k e n w e r d e n . Diese Erklärung ist jedoch nicht die einzig mögliche. In viel wahrscheinlicherer Weise würde die Herkunft der durchaus seltenen Intuitionen beim Erwachen etwa in folgender Weise zu erklären sein: D e r Geist knüpft die d u r c h d e n S c h l a f v ö l l i g unterb r o c h e n e n B e z i e h u n g e n zu d e n v o r h e r in A n s p r u c h g e n o m m e n e n H i r n z e n t r e n e r s t w i e d e r a n in d e r m e h r o d e r w e n i g e r kurzen P e r i o d e des H a l b w a c h e n s , wo das seelische I c h b e w u ß t s e i n n o c h n i c h t g a n z z u r ü c k g e k e h r t ist. In dieser Periode kehrt das Ichbewußtsein,-das nach unserer Auffassung dem Nullpunkt des Koordinatensystems entspricht, auf das alle unsere äußeren und inneren Schmerzempfindungen projiziert werden, langsam zurück. Dieser Zustand des unklaren Bewußtseins, den die Philosophen als U n t e r b e w u ß t s e i n bezeichnen, könnte bei unserer Auffassung der geistigen Tätigkeit sich wirklich f ü r schöpferische Denkleistungen eignen. Der Inhalt der Hirnzentren, die schon seit einer gewissen Zeit die Aufmerksamkeit des Geistes auf sich gelenkt haben, m u ß auch zuerst in den Geist gelangen, sobald das Ichgefiihl erwacht. Hingegen kann man a n n e h m e n , daß die anderen, noch in Schlaf versunkenen Hirnzentren untätig bleiben und g r o ß e Mengen psychischer Energie nicht zu verbrauchen imstande sind, da nämlich jede Ablenkung der Aufmerksamkeit auf gewisse Hirnzentren hemmend auf die Tätigkeit der Nachbarzentren wirkt, und zwar infolge ihrer notwendigen Bewerbung um psychische Energien. Die ersteren können also über ganz andere Energiemengen verfügen. Bei einer derartigen Auffassung vom U r s p r u n g der Intuitionen kann aber noch weniger als bei der erstgenannten von unbewußter Geistestätigkeit während des Schlafes die Rede sein. Es handelt sich dabei also n u r um eine ganz kurze Tätigkeit während der kurzen Periode des Halbwachens, wo die aufgehobenen Beziehungen zwischen dem g e i s t i g e n o d e r a l l g e m e i n e n Bewußtsein und dem Ichbewußtsein sich allmählich wiederherstellen. Von dem wirklichen Werte solcher, während des Halbbewußtseins entstehender Intuitionen gibt man sich erst Rechenschaft nach dem völligen Erwachen, d. h. erst wenn der Geist im Vollbesitz aller Inhalte der Ganglienzellen ist, die beim Nachdenken mit der intuitiven Idee in V e r b i n d u n g gebracht werden können. Diese Ganglienzellen müssen also zu einem leistungsfähigen Zustand
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zurückgekehrt sein. Nach P f l ü g e r s in den Hauptzügen noch jetzt völlig gültigen »Theorie des Schlafes" geschieht das volle Erwachen erst »nach einer Summation der äußeren und inneren Reize, indem allmählich diejenige Größe der lebendigen Kraft der intramolekularen Schwingungen erzielt wird, wie sie der ganz wache Zustand notwendig voraussetzt". 1 Dazu bedarf es. eines Zuflusses von Reizkräften aus allen Energienquellen, besonders aber der beiden höheren Sinne, des Gesichts- und des Gehörsinns. Was in der Finsternis auch bei geschlossenen Augenlidern unserem Unterbewußtsein noch als genialer Einfall erscheint, entpuppt sich häufig bei hellem Lichte als ein wertloses Hirngespinnst. Nur der Naturforscher kann durch experimentelle Prüfung zur Gewißheit über den wahren Wert der erhaltenen Intuition gelangen. Die unkontrollierbaren Einfälle der Metaphysiker behalten nur den gewöhnlichen imaginären Wert und können folglich mit den wahrhaft schöpferischen Intuitionen des Naturforschers nicht auf eine Stufe gestellt werden. Sämtliche Forscher, die den Schlaf zum Gegenstand ihrer Beobachtungen und Experimente gemacht haben, erkennen die ganz besondere Bedeutung, welche dem Gehörorgan in dem Mechanismus des Einschlafens oder Aufwachens zukommt. Die Gehörempfindungen verschwinden am letzten beim Einschlafen, wie sie auch gewöhnlich am leichtesten den Schlaf zu verhindern und eventuell zu unterbrechen vermögen. Auch beim künstlich durch Narkose hervorgerufenen Schlaf dauern die Gehörwahrnehmungen am längsten. Bei der Anwendung von Skopolamin z. B. soll das Gehörorgan sogar das einzige Sinnesorgan sein, das während der ganzen Zeit der Narkose seine Funktion aufrecht erhält. In Anbetracht der Rolle des Ohrlabyrinths bei der Erzeugung des Ichbewußtseins als des Nullpunktes des D e s c a r t e s s c h e n Koordinatensystems erhalten .diese Beziehungen des Gehörorgans zu den schlaferzeugenden Organen eine ganz neue Bedeutung. Sie scheinen dafür zu sprechen, daß die Nervenenden des Ohrlabyrinths in funktionellen, ja in anatomischen Beziehungen zur Hypophyse stehen. Wir haben weiter oben die Ergebnisse der physiologischen Experimente und der pathologischen Beobachtungen mitgeteilt, auf Grund deren man die Hypophyse als Zentrum der wichtigsten •Eduard Bd. 10, 1875.
P f l ü g e r , Theorie des Schlafes. Archiv f. Physiologie,
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Lebensfunktionen ansehen kann. Ihre Verbindungen mit dem wichtigsten intellektuellen Sinnesorgan, dem wir die Bildung des Ichbewußtseins verdanken, werfen ein helles Licht auf die Natur der Beziehungen zwischen Seele und Geist. Ein neues Forschungsgebiet eröffnet sich hier für den Physiologen. Es handelt sich dabei um genauere Feststellung der Einflüsse, welche die Erregung des Gehörnervs auf das Herz- und Gefäßnervensystems auszuüben vermag, dessen Tätigkeit, wie ich nachgewiesen habe, großenteils durch die Hypophyse geregelt wird. Bei der experimentellen Prüfung dieser Frage müßten die Vestibularnerven und Cochlearnerven e i n z e l n erregt werden; und zwar müßten außer den Schallerregungen auch mechanische und elektrische Reizungen erprobt werden. Die Ausführung solcher Versuche würde freilich große technische Schwierigkeiten bieten; dafür aber wären ihre Ergebnisse wohl auch von entscheidender Bedeutung. Den operativen Maßnahmen müßte besondere Sorgfalt gewidmet werden; aber für einen Forscher, der derartige Probleme lösen will, darf es keine unausführbaren Vivisektionen geben. Kurz, die Untersuchung unserer jetzigen Kenntnisse über die Funktionen der Hypophyse und der Zirbeldrüse sowie über den Mechanismus des Schlafes deutet darauf hin, daß die rein geistigen Leistungen des Gehirns im Zustande des Schlafes nur sehr mangelhaft, unvollkommen und völlig unzusammenhängend sind. Die Tätigkeit des Geistes kann also während des völligen Schlafes als tatsächlich ausgeschaltet gelten. Nur in der Periode des Halbschlafes, oder besser, des halben Erwachens, kann eine solche Tätigkeit stattfinden, aber nur in den eben angegebenen Grenzen. Wir haben bei unseren Erörterungen die Frage über die unbewußte geistige Tätigkeit im w a c h e n Zustand absichtlich beiseite gelassen. Nach der gegebenen Aufklärung der Vorgänge im Schlafe und während des sogenannten Unterbewußtseins kann für den Physiologen von einer irgendwie produktiven u n b e w u ß t e n T ä t i g k e i t d e s G e i s t e s in k e i n e m S i n n e d i e R e d e sein. Der Geist arbeitet immer bewußt. §11.
Die Grenzen des menschlichen Verstandes. — Der Mechanismus der Empfindungen und Wahrnehmungen.
Es ist fast vierzig Jahre her, daß der berühmte Physiologe d u B o i s - R e y m o n d in einer Aufsehen erregenden Rede über die
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Grenzen unseres Naturerkennens sein berühmtes I g n o r a b i m u s aussprach. Er wollte damit die Grenzen bezeichnen, welche die Wissenschaft nie überschreiten darf. 1 Unter den Problemen, die er für unseren Verstand unlösbar hielt, befanden sich Empfindung, Bewußtsein und Denken. Diese Fragen lagen damals wie heute den Physiologen und Psychologen besonders am Herzen. Von allen Schranken, die nach d u B o i s - R e y m o n d s Ansicht dem menschlichen Geiste gesetzt sind, erschien ihnen keine demütigender und schwerer erträglich. Im Jahre 1873 habe ich meine Stellung gegenüber dieser Behauptung meines alten Lehrers folgendermaßen formuliert. - »In der Geschichte der Physiologie der letzten Zeit", sagte ich damals, »kam ein Augenblick, wo die Physiologen, durch die beispiellosen Erfolge geblendet, die man der Einführung mechanistischer Anschauungen in das Studium der Lebensvorgänge verdankte, sich einbildeten, daß man nur die gleichen Anschauungen und exakten Förschungsmethoden auf das Studium der geistigen Vorgänge anzuwenden brauchte, um ebenso ruhmvolle Lorbeeren zu erntenr »In ihren Augen konnten Tatsachen, wie die Abhängigkeit der geistigen Erscheinungen von der jeweiligen Stufe der Gehirnentwicklung, der große Einfluß, den zahlreiche physiologische Ursachen, wie Narkose, Delirium, Mikrozephalie, auf die Richtung und den Verlauf unserer Gedanken ausüben, zum Ausgangspunkte der Erforschung des geistigen Gebiets dienen. Einige Erfolge der PsychoPhysiologie scheinen den Physiologen die Aufklärung des Mysteriums zu verheißen, das den höchsten Anstrengungen der größten Denker aller Zeiten und Länder getrotzt hatte. So erblickt das Kind am Horizont die scheinbare Brücke zwischen Himmel und Erde und wähnt, daß es diese imaginäre Grenze nur zu erreichen brauche, um in den Himmel zu klettern. Die Vergeblichkeit seiner Anstrengungen erweckt in ihm zuerst das Gefühl von der Schwierigkeit des Unternehmens. Aber sein Verstand sieht die Unmöglichkeit erst dann ein, wenn man ihm die wirklichen Beziehungen zwischen unseren Planeten und dem Sonnensystem klar gemacht hat. »Das Bewußtsein der Schwierigkeit, das zu erklären, was bisher unerklärlich blieb, erwacht bei manchen Physiologen gewiß ziemlich früh. Aber das wirkliche Ziel, das sie erreichen könnten, offenbarte ' E. d u B o i s - R e y m o n d ,
„Reden", 1. Band, 2. Aufl. Leipzig 1912.
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sich ihnen erst nach Erlangung der ersten wichtigen Resultate auf dem Gebiete der seelischen Funktionen, die durch die Anwendung der psychischen Methode gewonnen waren. Nun erkannten sie deutlich die Grenzen ihres Forschens, die der menschliche Verstand nicht zu überschreiten vermag. „Wie die Erforschung aller geistigen Erscheinungen, so müssen auch die Untersuchungen über die Natur der seelischen Funktionen in der Zurückführung dieser Funktionen auf die bekannten Atombewegungen gipfeln — Bewegungen, die von ihren immanenten Kräften hervorgerufen werden —; kurz, die Mechanik der Gehirnatome muß geschaffen werden. Indem die Physiologie in der exakten Erforschung der Sinnesorgane fortfährt, welche gewissermaßen die Vermittler zwischen Leib und Seele sind, wird es ihr eines Tages vielleicht mit großer Mühe gelingen, die Mechanik der Gehirnfunktionen zu schaffen. Gesetzt aber, es käme der Augenblick, wo wir im Vollbesitz dieser Mechanik wären, wo die Molekularbewegungen, die in unseren Nervenzellen stattfinden, während die höchsten Gedanken des menschlichen Geistes entstehen, uns ebenso klar und verständlich wären, wie der Mechanismus einer einfachen Rechenmaschine; oder auch, um eine Wendung von d u B o i s - R e y m o n d zu gebrauchen, wenn wir den Tanz der Atome von C, H, N, O, P, welcher die musikalischen Verzückungen hervorruft, und den Wirbel der Molekularbewegungen, die den neuralgischen Schmerz erzeugen, bis in ihre geringsten Einzelheiten kennten, so stünden wir der Erkenntnis dessen, was das Selbstbewußtsein und unser Denken ist, ebenso fern wie jetzt. Zwischen der Erkenntnis der mechanischen Vorgänge, welche das Denken hervorrufen, und dem Verständnis der Art, wie sie es hervorrufen, klafft ein Abgrund, den der menschliche Verstand nie überschreiten wird. „Man braucht nur mit einigem Nachdenken in den Kern dieser Frage einzudringen, um sich von der völligen Unmöglichkeit zu überzeugen, daß der Verstand es je fassen wird, welche Beziehungen zwischen gewissen Bewegungen der physikalischen Gehirnatome und der Tatsache der Lust- und Schmerzempfindung, des Hörens von Tönen, des Sehens von Farben sowie zwischen diesen Bewegungen und unserem Daseinsbewußtsein bestehen. Die Unmöglichkeit, diese Beziehungen zu erfassen, ist gleichgroß bei dem elementarsten Lust- und Schmerzgefühle eines niederen Tieres wie bei dem Denken E. v. C y o n , Gott und Wissenschaft. Bd. 2.
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eines D e s c a r t e s und der schöpferischen Phantasie eines S h a k e s p e a r e oder R a f f a e l . Hier wie dort ist uns das Verständnis dafür versagt, warum die Atome O, C, H, N oder P bei dieser Verbindung Lust und bei jener Unlust empfinden, und wie gewisse chemische Verbindungen das Newtonsche Gesetz oder M o z a r t s Requiem' hervorbringen können." 1 Seit ich diese Worte aussprach, hat die Psychologie des Menschen, die einzige, die uns hier interessiert, in jeder Hinsicht beträchtliche Fortschritte gemacht. Das schwierigste Problem, welches seit Jahrtausenden den notwendigen Ausgangspunkt für jede psychologische Theorie bildete, ist ausreichend gelöst worden. Durch die Entdeckung der beiden mathematischen Sinne für Raum und Zeit ist eine wissenschaftliche Grundlage geschaffen, auf der die künftige Geisteswissenschaft sicher aufgebaut werden kann. V i e r o r d t s Ahnung, daß die Lösung dieses Problems uns gestatten würde, »das Wesen der Psyche selbst« zu erfassen2 und die Art der Beziehungen zwischen unserem Ichgefühl und der Außenwelt zu entschleiern, regte mich an, den Mechanismus der Beziehungen zwischen Leib und Seele, sowie zwischen Seele und Geist zu ergründen. Zu diesem Zwecke glaubte ich im Interesse künftiger Forschungen den Geist von den seelischen Funktionen ausschließen und das Ichbewußtsein, eine seelische Funktion, vom allgemeinen Bewußtsein, einem reinen Geistesprodukt, völlig trennen zu müssen. Den Mechanismus der Entstehung des Ichbewußtseins konnte ich in großen Zügen darstellen, von seinem sinnlichen Ursprung in den Verrichtungen des Bogengangapparates bis zu seiner Idealisierung im Geiste.3 Auf Grund meiner Studien über die Hypophyse, den eigentlichen Sitz der Lebensseele (s. S. 178 ff.) und deren sehr wahrscheinliche Beziehungen zur Zirbeldrüse, versuchte ich die Natur dieser Beziehungen zwischen Seele und Geist, und folglich auch zwischen Ichbewußtsein und allgemeinem Bewußtsein, noch tiefer zu erfassen. Das Hauptergebnis dieses Versuches ließe sich folgendermaßen formulieren: Die Hypophyse scheint in diesen Beziehungen, wo nicht als Brücke, so doch als Brückenkopf zu dienen und somit die 1
Auszüge aus meiner akademischen Rede „Herz und Hirn", zitiert in § 3. * Siehe Kap. II, § 7. ^ ' Siehe weiter oben, §§ 5—6.
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Unterbrechung sowie die Wiederherstellung der Verbindungen zwischen Hirn und Seele einerseits und dem Geist andererseits zu bestimmen. Wie wir sahen, haben auch unsere Kenntnisse über die Art der Funktionen des Herzens, als Hauptorgan des Gemütslebens, seit 1870 sich beträchtlich vertieft und erweitert. Die Mechanismen, auf denen die Wechselbeziehungen zwischen Herz und Hirn, oder besser gesagt, zwischen der affektiven und der sensorischen Seele beruhen, waren Gegenstand zahlreicher Untersuchungen, die uns deren psychologische Bedeutung jetzt besser erkennen lassen. Schließlich ist auch die Hauptquelle der psychischen Energien, von denen sämtliche Verrichtungen unseres Zentralnervensystems abhängen, festgestellt worden, desgleichen der allgemeine Mechanismus der Verteilung dieser Energien zwischen dem Bewegungs- und dem Empfindungsleben. Die Physiologie hat also zweifellos beträchtliche Fortschritte auf dem Gebiet der seelischen Funktionen gemacht, seit d u B o i s R e y m o n d sein berühmtes I g n o r a b i m u s sprach, das in der Welt der Denker so großes Aufsehen hervorrief. Das Gebiet unserer Kenntnisse über die Psychologie des Menschen hat sich in einer Weise erweitert, welche die kühnsten Hoffnungen von vor vierzig Jahren weit übertroffen hat, und von neuem drängt sich die Frage nach den Grenzen unseres Verstandes auf. Gestatten uns die weiten Horizonte, die der Erforschung der seelischen Funktionen erschlossen sind, zunächst eine weitere Aufklärung der Mechanismen, die bei der Entstehung unserer Sinnesempfindungen mitwirken, und ferner die tiefere Erfassung ihrer Beziehungen zu den Wahrnehmungen und dem Ichbewußtsein? Die berühmtesten Philosophen haben, wie wir wissen, dieses Problem stets für unlösbar erklärt. D e s c a r t e s behauptete, daß die mechanistische Weltauffassung angesichts der Unmöglichkeit halt machte, das Wesen der elementaren Empfindung zu erklären. Weder die Atome unseres Leibes, noch die Eigenschaften unserer Seele konnten uns, a l l e i n g e n o m m e n , die Empfindung begreiflich machen. D e s c a r t e s ' Versuch, diese Schwierigkeit zu überwinden, indem er einen Verbindungspunkt zwischen Leib und Seele suchte, mißlang, wie man im Anfang von § 10 gesehen hat. Einer der Begründer der modernen Philosophie, L o c k e , beschäftigte sich in seinem »Versuch über den menschlichen Ver13»
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stand" gleichfalls mit der Natur der Empfindungen, die er für die Grundlage des Bewußtseins hielt. Als Gegner angeborener Ideen schrieb er dem Verstände nur die Fähigkeiten der Perzeption, der Abstraktion und des Vergleichens zu. Den Ursprung der Gedanken, welche uns die Beziehungen zwischen den Objekten der Außenwelt und unseren Vorstellungen ermöglichen, mußte er also wo anders suchen. Aber unser Geist war nach ihm außerstande, eine denkbare Beziehung zwischen den körperlichen Gegenständen und. den Empfindungen herzustellen, die jene in uns hervorrufen. »Wir sind unfähig zu begreifen", sagte er, »wie Gestalt, Lage und Bewegung in uns die Empfindung von Farbe, Geschmack und Klang hervorrufen können. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen d i e s e n m e c h a n i s c h e n V o r g ä n g e n u n d u n s e r e n Vorstellungen." K a n t versuchte in seiner »Kritik der reinen Vernunft" den Ursprung unserer Vorstellung von der Außenwelt sowie unserer Raum- und Zeitbegriffe zu begründen; er hat das Rätsel jedoch nur scheinbar gelöst. Ich habe in diesem Buche auf die Grundirrtümer des Kantschen Apriorismus und alle seine Konsequenzen hingewiesen und brauche nicht darauf zurückzukommen. Betont sei nur noch, daß Kant, indem er sich an Locke anschloß und ihm den Begriff der »Dinge an sich« (things themselves) entlehnte, diesen Begriff als v o r der sinnlichen Erfahrung bestehend annahm. Von Hume übernahm er die scharf geprägten Begriffe der Wahrnehmungen (Perzeptionen) und Vorstellungen; durch seine Behauptung aber," daß ein Urteil a priori zum Zustandekommen einer Sinneserfahrung notwendig sei, entfernte er sich von Humes System und näherte sich dem Idealismus Berkeleys. Was schließlich seine angebliche Anlehnung an Newtons Theorien betrifft, so leugnete Kant die Wirklichkeit eines absoluten Raumes und wandte sich damit ganz von Newtons Vorstellungen ab. Wenn die Physiologie in ihrem Streben nach Erklärung der Natur unserer Empfindungen und Wahrnehmungen nicht mehr Glück hatte, so liegt die Schuld größtenteils daran, daß Helmholtz, obwohl er gewisse Übertreibungen des Kantschen Denkens bekämpfte, in dieser Grundfrage der Sinnesphysiologie Kants Einfluß unterlegen ist. Er selbst faßt den Mechanismus der Empfindungen folgendermaßen auf: »Unsere Empfindungen sind Wirkungen, welche durch äußere
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Ursachen in unseren Organen hervorgebracht werden, und wie eine solche Wirkung sich äußert, hängt natürlich ganz wesentlich von der Art des Apparates ab, auf den gewirkt wird. Insofern die Qualität unserer Empfindung uns von der Eigentümlichkeit der äußeren Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht gibt, kann sie als ein Z e i c h e n derselben gelten, aber nicht als ein A b b i l d . Denn vom Bilde verlangt man irgend eine Art der Gleichheit mit dem abgebildeten Gegenstände, von einer Statue Gleichheit der Form, von einer Zeichnung Gleichheit der perspektivischen Projektion im Gesichtsfelde, von einem Gemälde auch noch Gleichheit der Farben. Ein Zeichen aber braucht gar keine Art der Ähnlichkeit mit dem zu haben, dessen Zeichen es ist. Die Beziehung zwischen beiden beschränkt sich darauf, daß das gleiche Objekt, unter gleichen Umständen zur Einwirkung kommend, das gleiche Zeichen hervorruft, und daß also ungleiche Zeichen immer ungleicher Einwirkung entsprechen." 1 Zum Beweis für diese Auffassung von der Natur der Empfindungen führt H e l m h o l t z die Tatsache an, daß die Zeichen und Symbole ausreichen, um uns die Gesetzmäßigkeit in den Vorgängen der Außenwelt erkennen zu lassen. „Da gleiches in unserer Empfindungswelt durch gleiche Zeichen angezeigt wird, so wird der naturgesetzlichen Folge gleicher Wirkungen _ auf gleiche Ursachen auch eine ebenso regelmäßige Folge im Gebiete unserer Empfindungen entsprechen.« Nachdem H e l m h o l t z der Auffassung K a n t s beigetreten war, daß die Qualitäten der Empfindung die Form unserer Anschauung bilden, war er auch zur Annahme des a p r i o r i s t i s c h e n Ursprungs des Kausalitätsprinzips gezwungen. 2
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„Physiologische Optik", 2. Aufl., Berlin 1896, S. 586. Die Herausgeber der 3. Auflage haben seitdem beschlossen, diese Lehre von den Z e i c h e n ganz wegzulassen. * In Wahrheit steht der empirische Ursprung unseres Kausalitätsbegriffs außer Zweifel. Es ließe sich nachweisen, daß dieser Ursprung in erster Linie aus der Wahrnehmung der Empfindungen zweier Sinnesorgane von verschiedener Bestimmung stammt, die sich gegenseitig kontrollieren. Die Wahrnehmung einer Ursache folgt oft der Wahrnehmung der Wirkung n a c h und die Wahrnehmungen von Ursache und Wirkung finden oft in u m g e k e h r t e r Reihenfolge ihres wirklichen Geschehens statt. Wir hören ein fernes Geräusch, b e v o r wir mit den Augen dessen Ursache entdecken.
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Trotz des großen und berechtigten Ansehens, das H e l m h o l t z in der Sinnesphysiologie besaß, wurde seine rein metaphysische Anschauung nur mit großen Vorbehalten aufgenommen. Ewald H e r i n g , Adolf F ick und viele andere lehnten eine solche Einmischung der reinen Spekulation in das Gebiet der exakten Wissenschaft kategorisch ab; sie konnte das Problem der Empfindung, statt es zu lösen, nur verdunkeln. Die Tatsache, daß die gleichen Gegenstände der Außenwelt bei uns die gleichen Empfindungen auslösen und uns nach H e l m h o l t z »die Abbildung der Gesetzmäßigkeit in den Vorgängen der wirklichen Welt" geben, beweist nichts zugunsten der Auffassung der Empfindungen als »Zeichen«. Im Gegenteil, sie spricht für die" entgegengesetzte Hypothese, d a ß d i e E m p f i n d u n g e n u n s g e treue Bilder der Objekte der Außenwelt geben. Wenn diese Zeichen und Symbole uns annähernd genaue Daten über die äußeren Gegenstände liefern sollen, so ist man zu der Annahme gezwungen, daß in unserem Geiste eine Anschauung der Formen und Eigenschaften existiert, welche die Bedeutung dieser Zeichen erklärt. Bei der tatsächlichen unendlichen Mannigfaltigkeit der Objekte, welche Gesichtsempfindungen auslösen, müßte unser Geist also die A n s c h a u u n g von Milliarden bestimmter Formen besitzen, die sich auf ebenso viele Zeichen beziehen. Man denke einmal an den Geistesinhalt eines L i n n é , C u v i e r , D a r w i n oder eines modernen Asien- oder Afrikaforschers! Nun aber verwarf H e l m h o l t z mit Recht die Kantische Vorstellung von der Existenz irgend eines I n h a l t s im Verstände. Zum Ersatz für diesen Inhalt griff er zunächst zu den Empfindungen der Augenbewegungen, dann, als das Fehlen der Muskelempfindungen erwiesen war, zu den angeblichen Innervationsempfindungen. Wie weiter oben erwähnt wurde, hat er in der letzten Auflage seiner »Tatsachen der Wahrnehmung« auch hierauf verzichtet. Übrigens erinnere ich an eine von allen Physiologen anerkannte Tatsache, die niemand schärfer betont hat, als H e l m h o l t z selbst, Diese Tatsache widerlegt die Hypothese von den »Zeichen« völlig. U n s e r V e r s t a n d ist g ä n z l i c h m a c h t l o s , u n s e r e w i r k l i c h e n S i n n e s t ä u s c h u n g e n zu b e e i n f l u s s e n o d e r zu b e r i c h t i g e n . Dies gilt sowohl für die optischen wie für alle anderen Sinnestäuschungen, insbesondere für die Täuschungen über die Richtung, die aus dem Ohrlabyrinth kommen.
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In meinem » Ohrlabyrinth « konnte ich mit Hilfe der graphischen Methode ein ganzes Kapitel (Kap. V) den mannigfachsten Experimenten widmen, welche diese Machtlosigkeit des Geistes gegenüber unseren Sinnen beweisen. Ja diese Machtlosigkeit hat uns weiter oben (§ 6), anläßlich der Abgrenzung zwischen den seelischen Funktionen und den geistigen Leistungen, als sicheres Kriterium zur Unterscheidung der Sinnestäuschungen und der Irrtümer des Urteils gedient. Wir sehen den Mond in Gestalt einer flachen Scheibe, obwohl wir ihn uns als Kugel denken. Ebenso nehmen wir die Sonne nach wie vor als gelbe Scheibe wahr, obwohl wir ihre wirkliche Gestalt im Geiste haben (E. H e r i n g ) . Trotz K o p e r n i k u s , G a l i l e i und N e w t o n sehen wir die Sonne Tag für Tag auf- und untergehen und verfolgen ihren Lauf am Himmel. Ebenso machtlos ist unser Geist zur Berichtigung der zahllosen optischen Täuschungen, die wir in unseren Laboratorien bei physiologischen Experimenten willkürlich hervorbringen. Diese Unfähigkeit des Geistes, unsere falschen Empfindungen in den Hirnzentren zu berichtigen, muß auf dem Bau u n d d e n f u n k t i o n e l l e n Eigenschaften dieser Zentren selbst ber u h e n , u n d k e i n e s w e g s auf d e n F e h l e r n d e s V e r s t a n d e s . Da wir richtig d e n k e n , sind es in der Tat die beschränkten Fähigkeiten unserer Ganglienzellen, die sich unseren Gedanken nicht anpassen können. Wie ich weiter oben auseinandergesetzt Habe, gilt ein gleiches für die Ganglienzentren, denen wir unsere Gemütsbewegungen verdanken. Unser Geist ist machtlos, unsere Gefühle zu verändern, selbst wenn ihre Ursachen eingebildet und dem Geiste als solche bekannt sind. So entlockt eine Sterbeszene, die von einem großen Schauspieler gut gespielt wird, uns leichter Tränen als ein wirklicher Tod im Krankenhause. Ein gleiches gilt vom Lesen eines Werkes der Phantasie. Alle diese Tatsachen zwingen uns zwei allgemeine Schlüsse auf; 1. Die Empfindungen sind keine Zeichen oder Symbole, die der Verstand uns a priori gibt oder a posteriori deutet, sondern vielmehr w i r k l i c h e B i l d e r d e r A u ß e n w e l t , die unser Leben lang unauslöschlich bleiben können, 2. Die angeblichen Grenzen unseres Verstandes sind in Wirklichkeit nichts als Grenzen der Hirnzentren, der unserem Geiste dienenden Organe.
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Der letztere Schluß rechtfertigt auch die Notwendigkeit, den Geist von den Hirnfunktionen zu trennen, und spricht zugunsten der dualistischen Auffassung von Leib und Geist im Sinne von D e s c a r t e s und L e i b n i z . Es ist hier nicht der Ort, auf die zahlreichen Beobachtungen und Experimente einzugehen, welche die höhere Sinnesphysiologie gesammelt hat und durch welche die Übereinstimmung oder Ähnlichkeit zwischen unseren Empfindungen und den Gegenständen der Außenwelt bewiesen ist Ich will nur von den Sinnesorganen reden, dem wir unsere drei Richtungsempfindungen verdanken. Meine Forschungen über die Bogengänge des Ohrlabyrinths, die in drei sich rechtwinklig schneidenden Ebenen liegen und denen wir die Anschauung der drei Grundrichtungen des Raumes verdanken, hatten seit 1878 meine Aufmerksamkeit auf eine derartige Übereinstimmung gelenkt Der Ausbau meiner Theorie hat diese Vermutungen vollauf bestätigt, und die Vorstellung des Descartesschen Koordinatensystems in unserem Bewußtsein sollte sie schlagend beweisen. Entsprechende Beziehungen zwischen der Natur der äußeren Erreger und der unserer Gehörempfindungen existieren in dem Organ des Zeit- und Zahlensinnes in der Schnecke. Die verschiedenen Schwingungszahlen der Schallwellen, welche die auf verschiedene Töne abgestimmten Nervenfasern des Cortischen Organs erregen, liefern uns Tonempfindungen von verschiedener Höhe. Dieser Stufenfolge danken wir unsere Zahlen- und Zeitvorstellungen.1 Für das Auge erinnere ich an die Entdeckung der Farbkörper in den Zellen der Netzhaut ( B o h l ) und des Sehpurpurs ( K ü h n e ) , sowie an die Feststellung photochemischer und elektrischer Prozesse in der Netzhaut während des Sehvorganges. Die Optogrämme, die K ü h n e auf der Netzhaut von Fröschen und Kaninchen gewonnen hat, stellen in Wirklichkeit photographische Proben dar. Nicht minder lehrreich sind in dieser Hinsicht die roten oder rosa Substanzen, die der Netzhaut entnommen sind; sie bleichen im Lichte aus und werden nur im Auge selbst wieder farbig; wenn die Netzhaut auf Pigmentzeilen ruht Die große Geschwindigkeit, womit die Bilder auf der Netzhaut sich verändern, erheischt natürlich eine schwindelhaft schnelle Abwicklung der chemischen Prozesse. Dieselbe photographische ' Siehe Kap. II, § 7.
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Platte, die das Bild aufgenommen und es den Nervenzentren übermittelt hat, muß sich im selben Augenblick automatisch erneuern, um ein neues Bild aufnehmen zu können. Man begreift leicht, welche großen Schwierigkeiten sich der objektiven Erforschung dieser Netzhautbilder und der chemischen Prozesse der Wiederherstellung der Netzhaut entgegenstellen. Man denke sich einen automatischen, sich selbst regulierenden Kinernatographen, der mit wunderbarer Schärfe alle Bilder, die an seiner Linse vorbeiziehen, abbildet und immerfort selbst die lichtempfindlichen Platten erneuert, nachdem er sie in guter Ordnung in den Archiven des Hirns niedergelegt hat. Werden nun die auf der Netzhaut fixierten Bilder in derselben Form den Ganglienzentren des Sehnervs übermittelt, um dort die zur Wahrnehmung bestimmte Empfindung hervorzurufen, oder findet die Empfindung schon in der Netzhaut infolge des bildlichen Eindruckes statt, und müssen wir diese Empfindung, die sich hernach den Wahrnehmungszentren mitteilt, jedesmal auf die Netzhaut projizieren, wenn wir uns das ursprüngliche Bild vorzustellen wünschen? Die Tatsache, daß wir, selbst nach Zerstörung der Netzhaut, einmal wahrgenommene Bilder wieder hervorrufen können, steht zu keiner dieser beiden Möglichkeiten in völligem Widerspruch. Da die Vorstellung dieser Empfindungen in unserem Gedächtnis aufbewahrt wird, so kann sie beliebig hervorgerufen werden. Die erstere Möglichkeit, als die einfachere, ist als die wahrscheinlichere anzusehen; sie läßt sich leichter mit unseren Kenntnissen von der Sinnesphysiologie vereinbaren. Früher zweifelte man an der Möglichkeit einer direkten Übertragung der Bilder der äußeren Gegenstände durch die Nervenfasern. Heute, wo wir das Telephon, den Phonographen, die Farbenphotographie ( L i p p m a n n ) , den Kinernatographen ( M a r e y ) , die Übertragung von Bildern und Zeichnungen auf elektrischem Wege usw. kennen, ist man anderer Ansicht geworden. Nach so vielen wunderbaren Entdeckungen, die unsere Anschauungen von den physikalischen Erscheinungen wesentlich erweitert haben, erscheint die Photographie der äußeren Gegenstände auf der Netzhaut und die direkte Übermittelung unserer Bildempfindungen an unsere Ganglienzentren durch die Nervenfasern nicht mehr als unwahrscheinlich noch für unseren Verstand als unfaßlich. E. H e r i n g , der stets die Einheitlichkeit, oder besser die Einheit der psycho-
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physischen Prozesse in der Netzhaut wie in den Hirnzentren vertreten hat, versuchte mehrfach festzustellen, ob den qualitativen Verschiedenheiten der Nervenzentren nicht eine Verschiedenheit der sie verbindenden Nervenfasern entspricht. Eine solche Verschiedenheit der Nervenleitungen erscheint uns nicht mehr als sehr zweckmäßig, seit wir sehen, wie die gleichen Metalldrähte das Spiel eines Orchesters, die menschliche Stimme oder die Form von Bildern und Zeichnungen mit mathematischer Genauigkeit auf besonders eingestellte elastische Platten oder auf kompliziertere, zweckentsprechende Apparate übertragen. In der Physiologie herrscht noch heute die Lehre, daß man nur die Zentralendung des Sehnervs durchzuschneiden und mit der peripheren Endung des Gehörnervs zu verbinden brauchte, und umgekehrt, um den Donner zu s e h e n und den Blitz zu h ö r e n . Es ist durchaus richtig, daß, wenn eine derartige Verbindung des Sehnervs mit dem Gehörnerv ausführbar wäre, der Schall, der an unser Trommelfell schlägt, eine heftige Lichtempfindung auslösen könnte, so gut wie jede mechanische Erregung des Sehnervs; aber sicherlich würde diese Empfindung dem Blitz so wenig gleichen, wie eine durch die Erregung der Netzhaut hervorgerufene Gehörsempfindung dem Donnergeräusch gleichen würde. Die N e t z h a u t b i l d e r können von den Ganglienzentren der Gehörsphäre so wenig empfunden oder perzipiert werden, wie die T o n h ö h e n von den Zentren der Gesichtssphäre.. Der Erfolg derartiger Kreuzungen zwischen Nerven, die zu Muskelfasern von verschiedener Funktion führen, entscheidet nichts über die Art, wie die Sinnesorgane sich im Fall einer Kreuzung verhalten würden. .Wie muß sich in unserem Bewußtsein die Reihenfolge der Wahrnehmungen und Vorstellungen vollziehen, wenn die Empfindungen wirklich die mehr oder minder genauen Abbilder der äußeren Erreger darstellen? L e i b n i z , der die Grenzen unseres Verstandes weiter ausdehnte, als seine Vorgänger, insbesondere bis zur Wahrnehmung, formulierte das Problem folgendermaßen: »Man muß einräumen, daß die Wahrnehmung und was von ihr abhängt, durch mechanische Ursachen, d. h. durch Figuren und Bewegungen, nicht zu erklären ist. Nähme man eine Maschine an, die durch ihre Einrichtung Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen erzeugt, so kann man sie sich größer oder in den gleichen Verhältnissen denken, so daß man hineingehen könnte, wie in eine Mühle. Dies ange-
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nommen, wird man, wenn man sie sich von innen ansieht, nur Teile finden, die gegeneinander stoßen, aber nichts, was eine Wahrnehmung erklärte" (Monadologie). Gesetzt, ein Physiologe vertaut mit den Fortschritteen der Sinnesphysiologie sowie der neuesten technischen und mechanischen Entdeckungen dränge in die M a s c h i n e r i e u n s e r e s G e h i r n s ein wie in e i n e M ü h l e und begänne die Abfolge der psychischen Vorgänge von der Erregung der Netzhaut bis zur Wahrnehmung der Gesichtseindrücke im Bewußtsein zu erforschen, so wird er zunächst auf der Netzhaut das verkehrte Bild des belichteten äußeren Gegenstands erblicken, das in seinen Umrissen im großen und ganzen genau wäre. Darauf gelangt das .Bild durch die Nervenfasern in die entsprechenden Ganglienzentren der Gesichtssphäre. Vor seiner Perzeption wird dieses Netzhautbild auf das Koordinatensystem projiziert, das wir der Tätigkeit des Ohrlabyrinths verdanken; dort wird seine Gestalt präzisiert und lokalisiert, und das umgekehrte Bild wird aufrecht gestellt. Die Lokalisierung und Aufrechtstellung der komplizierteren Bilder wird oft ihre vorangehende Projektion auf das äußere Objekt nötig machen, begleitet von einigen Bewegungen der Augäpfel, die der Bogengangapparat dirigiert Die Perzeption des so berichtigten Bildes findet im Nullpunkt des Koordinatensystems statt, der nach meiner Theorie dem Sitz des Ichbewußtseins entspricht Befindet sich der äußere Gegenstand im Augenblick der Perzeption in Bewegung, so wird diese Bewegung während der Projektion der Bilder auf das Koordinatensystem erkannt »Auf dieses System«, schrieb ich 1878, »übertragen wir die Zeichnung, die den gesehenen Raum darstellt, d. h. das Bild unseres Gesichtsfeldes. So oft diese Zeichnung ihre Lage gegenüber dem Koordinatensystem verändert, haben wir eine Bewegungsempfindung. Ob die Veränderung durch eine wirkliche Bewegung der äußeren Gegenstände oder nur durch eine Ortsveränderung der Netzhaut stattfindet, die Wirkung bleibt die gleiche: wir sehen den Gegenstand sich bewegen.« Die Bewegung des Bildes wird in unserem Gedächtnis Wie in einem Kinematographen fixiert. Die zahlreichen Erscheinungen des Gesichtsschwindels, die durch die verschiedensten Ursachen entstehen, haben die Richtigkeit dieser Erklärung vollauf bestätigt 1 1 S. meine „Recherches expérimentales sur les fondions des canaux semi-circulaires", Paris 1878; „Ohrlabyrinth", Kap. II.
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Die Abfolge aller dieser seelischen Vorgänge gemahnt den Beobachter an die kunstvolle Tätigkeit eines geschickten Photographen in seinem mit allen vervollkommneten Apparaten ausgestatteten Laboratorium, einschließlich der Apparate, die zur elektrischen Fernphotographie, zur Kinematographie usw. dienen. Die Aufrichtung des umgekehrten Netzhautbildes gemahnt ihn an den gleichen Vorgang mit Hilfe eines einfachen Prismas in der Dunkelkammer des Photographen. Er wird das tadellose Arbeiten der verschiedenen Teile dieser Maschine bewundern, wird die ungemeine Überlegenheit des wunderbaren Hirnmechanismen, die Feinheit und unvergleichliche Kompliziertheit ihres Funktionierens bewundern. Die vollendetsten Erfindungen der modernen Mechanik werden ihm im Vergleich dazu wie Kinderspielzeuge erscheinen. Doch in dieser wunderbaren Maschinerie wird er nichts finden, was seinen Verstand überstiege. Erst in dem Augenblick, wo der menschliche Verstand zum Zweck der Bildung von Begriffen, Urteilen und allgemeinen Ideen die angehäuften Wahrnehmungen und Vorstellungen zu verwerten beginnt, stößt sich der Physiologe, der in das Funktionieren der Gehirnmaschinerie eingedrungen ist, an den Schranken seiner sinnlichen Erfahrung. Die g a n z e Macht s e i n e s s i n n l i c h e n E r k e n n t n i s v e r m ö g e n s v e r s a g t , s o b a l d er in d a s G e b i e t d e s G e i s t e s e i n z u d r i n g e n v e r s u c h t . Das bisher mechanische Problem wird transzendental und hängt nur noch von d e r r e i n geistigen Erkenntnis ab. Der menschliche Geist unterliegt der mechanischen Gesetzmäßigkeit nicht; auch die volle Einsicht in die Grenzen unserer Sinne vermag den in seinem Fassungsvermögen und in seinen Fähigkeiten unbegrenzten Geist in keiner Weise zu beeinflussen. Die verschiedenen Leistungen und Kundgebungen des Geistes sowie deren Verkettung sind das Einzige, was unseren Sinnesorganen und ihren Hirnzentren zugänglich bleibt. Aber zur Ableitung der Denkgesetze wie zur Aufdeckung ihrer Übereinstimmung mit den Gesetzen der sinnlich erfaßbaren physikalischen Welt ist das Zusammenwirken der beiden — sinnlichen und geistigen — Erkenntnisse unerläßlich. Die in unserem Gehirn aufgespeicherten Schätze unserer sinnlichen Erfahrung liefern unserem Geiste feste Grundlagen zur Ableitung der Gesetze und zur etwaigen Feststellung ihrer Richtigkeit. Die Gesetze der Logik können nur dann Anspruch auf absolute Richtigkeit erheben, wenn die sinnliche Er-
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fahrung ihre Wahrheit kontrolliert hat. Die E u k l i d i s c h e Geometrie muß als die vollkommenste logische Schöpfung gelten, eben weil ihre Gesetze jahrtausendelang durch alle astronomischen Beobachtungen, alle physikalischen und mechanischen Experimente bestätigt worden sind. Wie wir weiter oben (Kap. I) sahen, dankt sie diese Vorzugsstellung dem sinnlichen Ursprung ihrer Axiome und Definitionen. Die harmonische Übereinstimmung zwischen den beiden Quellen unserer Erkenntnis, der sinnlichen Erfahrung und der Tätigkeit des Geistes, die zu allen Zeiten den Gegenstand endloser philosophischer Diskussionen, Behauptungen und Spekulationen gewesen ist, findet ihre natürliche Erklärung in der Theorie der Empfindungen und Wahrnehmungen der Außenwelt, so wie ich sie hier entwickelt habe. Sobald diese Elemente unserer sinnlichen Erfahrung uns die Abbilder der wirklichen Welt und der sich in ihr vollziehenden Erscheinungen liefern, müssen die Gesetze, die unser Geist aus diesen Gegebenheiten ableitet, in völliger Übereinstimmung mit den mathematisch genauen Gesetzen stehen, die bei der Schöpfung gewaltet haben und die alle Naturerscheinungen beherrschen. Eine andere erfreuliche Folge der Auffassung, daß die Empfindungen getreue Abbilder der äußeren Gegenstände sind, ist die Beendigung der ewigen Spekulationen über die Realität der Welt, welche die Psychologie seit Jahrhunderten in ihrer Entwicklung hemmen. Ein Ende hat ferner die wunderliche Annahme, daß das Licht, die Töne, die Gerüche und die anderen Erreger unserer peripherischen Sinnesorgane nicht wirklich existieren und nur Produkte unserer Empfindungen sind. Schon zur Zeit G a l i l e i s entsprach diese Idee der menschlichen Eitelkeit mehr als den Anforderungen der strengen Logik. Das Argument, daß die Lichtstrahlen auf die Haut anders wirken als auf die Netzhaut, oder daß die mechanischen und elektrischen Erregungen der Netzhaut eine unbestimmte Lichtempfindung hervorufen, war schon lange vor den M a x w e l l - H e r z s c h e n Entdeckungen hinfällig. Die Sonne wird nach wie vor die Erde beleuchten, selbst wenn jede Spur von Lebewesen von ihr verschwunden ist, so gut wie sie jetzt andere unbewohnte Trabanten beleuchtet. Indem Moses die Erschaffung des Lichtes vor die der Pflanzen, Tiere und Menschen setzte, traf er durchaus das Rechte. Ohne das Sonnenlicht war und ist auf Erden kein Leben möglich. Die Netzhaut empfängt und empfindet das Licht, sie bringt es nicht hervor. Ein Gleiches gilt für die anderen Sinnesorgane.
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Bei dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse kann von Identität zwischen Geist und Materie nicht die Rede sein, wie man die letztere auch immer definieren möge. Selbst L e i b n i z e n s Auffassung, wonach die Energie das Wesen der Materie ist, findet auf den Geist keine Anwendung, auch wenn man den Begriff der Energie im modernsten Sinne faßt. Getreu dem Prinzip der Arbeitsteilung zwischen Physiologen und Philosophen, das ich in diesem Kapitel aus methodologischen Gründen empfahl, enthalte ich mich jeder Erörterung über das Wesen des Geistes: H y p o t e s e s n o n f i n g o . Diese vierte N e w t o n sche Regel ist für jeden Physiologen bindend. Er kann nur die tatsächlichen L e i s t u n g e n des G e i s t e s u n d die B e d i n g u n g e n s e i n e r T ä t i g k e i t verzeichnen. Auf diesem Gebiete glaube ich bis an die äußerste Grenze unserer jetzigen Kenntnisse über den Geist gelangt zu sein, und ich fasse meine Anschauung in eine Formel zusammen, die ich meiner betreffenden physiologischen Arbeit entnehme: „Der Schöpfer herrscht, und sein Geist regiert."
A n h a n g z u m d r i t t e n Kapitel.
D|e seelischen Verirrungen. § 1. Spiritismus und Wissenschaft Am Schluß eines Werkes, das der Differenzierung der seelischen Funktionen und insbesondere der schärferen Grenzbestimmung des geistigen Gebietes gewidmet ist, scheint es mir nötig, noch ein paar Worte über gewisse seelische Verirrungen, wie Spiritismus, Hypnotismüs und andere, dem Geiste — oder den Geistern — zugeschriebene Erscheinungen anzufügen. Diese Erscheinungen, die früher lediglich von Marktschreiern, Abenteurern und Zauberkünstlern ausgenutzt wurden, haben seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts das Interesse gewisser gelehrter Kreise erregt, ja ihnen Sogar als Stüdienobjekt gedient. Unter dem Vorwande, uralten Aberglauben zu bekämpfen, hat man diesen Studien einige Laboratorien und Kliniken geöffnet, und män: hat nicht gezaudert, unglückliche, mit Wahnsinn geschlagene Kranke der ungesunden Neugier der Menge preiszugeben. Zwischen
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Gelehrten und Klinikern einerseits und berufsmäßigen Hypnotiseuren, Spiritisten und Medien andererseits ist eine unerfreuliche Intimität eingetreten. Das Ergebnis davon war, daß der Wirkungskreis der letzteren bedeutend erweitert wurde und daß ihre marktschreierischen Praktiken den Stempel der anerkannten Wissenschaft erhielten, so daß der abgeschmackteste Aberglaube unter angeblich wissenschaftlichen Bezeichnungen einen unverhofften Aufschwung und große Verbreitung erfahren hat. Nachdem der Hypnotismus sich scheinbar vom Spiritismus getrennt hatte, nahm dieser, um sich ein respektables Aussehen zu geben, den Namen Psychismus an. Für die ernste Psychologie ist er darum nicht minder kompromittierend geblieben, ja er droht eine in jeder Hinsicht bedauerliche Verwirrung hervorzurufen. Es liegt mir fern, die Erscheinungen des Hypnotismus oder des Psychismus hier eingehend zu erörtern und ihre Täuschungen und Gefahren aufzudecken. Es fehlt mir zwar nicht an dem nötigen Material für eine derartige Darlegung: höchstens könnte die Überfülle an Dokumenten, die ich besitze, mir hinderlich werden. In der Tat nahm ich im Interesse der wissenschaftlichen Wahrheit mehrfach Gelegenheit, die Manipulationen von Spiritisten, die wegen ihrer Wundertaten einen Weltruf genossen, in der Öffentlichkeit oder in eigens eingesetzten Kommissionen zu entlarven. Da ich ferner dem Aufblühen des hypnotischen Aberglaubens in mehreren Pariser Kliniken nicht ohne Trauer beigewohnt hatte, so hatte ich Gelegenheit, diese Erscheinungen aus der Nähe zu studieren und die Täuschungen und oft kindlichen Betrügereien zu erkennen, auf denen sie gewöhnlich beruhten. Ich beschränke mich hier auf zwei bezeichnende Beispiele. Der erste Fall betrifft den berühmten D o u g l a s H o m e , den Erfinder des Tischrückens und Beschwörer der Klopfgeister, der im Anfang der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Hauptstädte Europas durch seine Geschicklichkeit und die seltsamen Erscheinungen, die er hervorzubringen verstand, betörte. H o m e war in Wirklichkeit der Schöpfer und Bahnbrecher des heutigen Spiritismus in all seinen Spielarten. In Compiegne wie in Windsor und im Winterpalast regierte er den Geist der Herrscher, der Höflinge und der hohen Gesellschaft. Im Jahre 1853 schwoll die durch H o m e hervorgerufene Erregung in England derart an, daß dieser die englischen Gelehrten
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herauszufordern wagte, an seinen Sitzungen teilzunehmen, die von ihm hervorgerufenen Erscheinungen zu prüfen und den Nachweis zu führen, daß sie durch das Spiel bekannter physischer Kräfte zustande kämen. Die Erregung wurde so stark, daß die englische Presse den berühmtesten Physiker der Zeit, F a r a d a y , fast einstimmig zur Annahme dieser Herausforderung zu bewegen suchte. Er lehnte es ab; aber nachdem er in seinem Laboratorium einige Experimente gemacht hatte, erklärte er in den „Times", daß H o m e nichts als ein geschickter Zauberkünstler sei und daß die Wunder des Tischrückens ganz einfach durch absichtliche oder unbewußte Bewegungen der auf dem Tische liegenden Hände hervorgerufen würden. 1 F a r a d a y s Erklärung erregte einen Sturm des Unwillens in der Presse. Heftige Angriffe, verleumderische Anschuldigungen wurden gegen den Gelehrten erhoben, der mit Recht das höchste Ansehen in der wissenschaftlichen Welt genoß. Im Winter 1871 tauchte H o m e nach sehr langer Abwesenheit wieder in Petersburg auf, knüpfte dort seine alten Beziehungen von neuem an und wurde, dank der noch lebendigen Erinnerung an seine früheren Wunderleistungen, auch diesmal das Orakel der vornehmen Welt. Seine mysteriösen Sitzungen im Winterpalais im Beisein des Zaren A l e x a n d e r II. bildeten den allgemeinen Gesprächsstoff und erregten ernste Besorgnis bei den wenigen russischen Patrioten, die in die hohe Politik eingeweiht waren. Ein Professor der Chemie von der Petersburger Universität, B o u t l e r o f f , der diesen Sitzungen beiwohnte, unterstützte H o m e s Herausforderung, indem er sich für die Wirklichkeit der unerklärlichen Erscheinungen verbürgte, die jener hervorgerufen zu haben behauptete. Diese Parteinahme verursachte Aufsehen und große Erregung in der gelehrten Welt. Gelegentlich einer Fakultätssitzung wurde B o u t leroff deswegen heftig zur Rede gestellt. In der Hoffnung, diesen 1 Nachstehend der Auszug aus einem Privatbrief, den F a r a d a y damals in seiner Entrüstung an seinen Freund, Professor S c h ö n b e i n , richtete: »Wie abergläubisch, ungläubig, irreligiös, vermessen, feig und lächerlich ist unsere Welt, wenn es sich um den menschlichen Geist handelt! Welch ein Haufen von Widersprüchen und menschlicher Dummheit! Wenn ich den Durchschnittswert vieler mir begegnender Personen nehme, die ich für normal halte, so muß ich zugeben, daß ich den Hund in allem, was Gehorsam, Anhänglichkeit und Instinkt betrifft, vorziehe. . . Doch verraten Sie das keinem." Zitiert nach den psychographischen Studien über F a r a d a y von O s t w a l d . in den „Annalen der Naturphilosophie", Bd. VIII, 1909.
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peinlichen Zwischenfall zu beenden und auch unserm Kollegen die Augen zu öffnen, schlug ich vor, H o m e s Herausforderung anzunehmen, und erklärte mich bereit, alle Verantwortung zu tragen, falls einige Gelehrte sich mit mir zu einer Prüfungskommission zusammentun wollten. T s c h e b y s c h e f f , Professor der Mathematik und korrespondierendes Mitglied defr Pariser Akademie, der Physikprofessor P e t r o u s c h e w s k i sowie der Professor O w s i a n i k o f f boten mir ihre Beihilfe an. Ferner zog ich den Dr. P e l i k a n , Direktor der Medizinalabteilung im Ministerium des Innern, zu unserer Kommission hinzu. Eine Vorverhandlung fand bei dem letzteren statt, um mit H o m e s Vertretern, dem Baron N i k o l a s M e y e n d o r f und A l e x a n d e r A k s a k o w , die Bedingungen für die Untersuchung der spiritistischen Erscheinungen festzustellen. H o m e bestand darauf, daß die Kommission nur aus acht Mitgliedern einschließlich seiner beiden Zeugen bestehen dürfte. Da B o u t l e r o f f schon als Anhänger des Spiritismus anzusehen war, so wären vier Spiritisten in der Kommission gewesen. Auch die anderen von ihm geforderten Bedingungen waren höchst bedenklich. Alle Anwesenden sollten sich um einen Tisch setzen und die Hände darauf legen; die Türen sollten geschlossen und die Sitzung durch keinen Zuruf von draußen gestört werden. Die Luft im Zimmer sollte kühl sein und die Temperatur 14° R nicht übersteigen. P e t r o u s c h e w s k i , der gegen die Anwesenheit von H o m e s Zeugen und gegen die von diesem gemachten Vorschriften protestierte, verließ uns; erst nach langer Diskussion brachte ich endlich eine Einigung zustande, nachdem ich das Recht ausgewirkt hatte, H o m e zu fesseln, falls die Art der Erscheinungen es erheischte. Nachfolgend das Protokoll der ersten Sitzung: Anwesend: die Herren P e l i k a n , Direktor der Medizinalabteilung; T s c h e b y s c h e f f , O w s i a n i k o f f und B o u t l e r o f f , Professoren an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, C y o n , Professor an der Universität zu St. Petersburg, H o m e und seine Zeugen, A k s a k o w und Baron v o n M e y e n d o r f . Die Sitzung wurde eröffnet am 10. März 1871 9iL' Uhr abends in einem Saale des Physikalischen Laboratoriums der Universität zu St. Petersburg; die Temperatur des Raumes betrug 14 bis 15° R. In der Mitte desselben befand sich ein Tisch mit grüner Tuchdecke. Auf C y o n s Frage, ob der Stoff, aus dem der Tisch bestand, Einfluß auf die Entstehung der zu prüfenden Erscheinungen hätte, E . v . C y o n , Gott und Wissenschaft. Bd. 2.
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210 antwortete H o m e , daß der Stoff des Gegenstands ihm völlig gleichgültig sei. Dann nahmen alle Anwesenden um den Experimentiertisch Platz und die grüne Tuchdecke wurde entfernt. Der Tisch bestand aus einer über 2 m langen und etwa 1 m breiten Glasplatte, die frei auf den vier Füßen des hölzernen Gestells ruhte. Darunter war ein weißes Tuch ausgebreitet. »Auf dem Glastische standen zwei Leuchter, die den inneren Raum erleuchteten, sodaß die Füße aller Anwesenden sichtbar waren. Diese saßen in folgender Reihenfolge: H o m e saß zwischen T s c h e b y s c h e f f und C y o n , ihm gegenüber O w s i a n i k o f f , rechts und links von diesem P e l i k a n und B o u t l e r o f f ; A k s a k o w und M e y e n d o r f nahmen die beiden Tischenden ein. Auf H o w e s Aufforderung legten die Anwesenden ihre Hände auf die Tischplatte. Während der ganzen Sitzung haben sie alle Anweisungen H o m e s über die Lage ihrer Hände, über die Notwendigkeit, ihre Aufmerksamkeit durch Gespräche, die dem Gegenstand fern lagen, zu zerstreuen, usw. befolgt. Fünfzehn bis zwanzig Minuten nach Eröffnung der Sitzung machte H o m e die Anwesenden auf ein sichtbares Beben des Tisches aufmerksam, das sich auch den Flammen der daraufstehenden Lichter mitteilte. C y o n erklärte dieses Beben durch das Zittern der auf den Tisch gelegten Hände und behauptete, daß er selbst leichte Kontraktionen in den Muskeln der Mittelfinger und der kleinen Finger verspürte. H o m e ließ diese Erklärung nicht gelten; im Gegenteil betrachtete er dieses Beben als das Vorzeichen der bevorstehenden Erscheinungen. Nach Verlauf einiger Zeit hörte das Beben des Tisches auf, was H o m e zugab. Kurz darauf lenkte er die Aufmerksamkeit auf die Beschleunigung seines Pulses. Nach P e l i k a n s Zählung zeigte sein Puls in der Tat 100 Schläge. Doch gleichzeitig trat auch bei mehreren der Anwesenden eine Erhöhung der Pulsfrequenz ein. Der Grund war leicht einzusehen (die Temperatur hatte sich erhöht). P e l i k a n stellte bei C y o n ebenfalls eine Frequenz von 100 Schlägen, bei O w s i a n i k o f f eine von 95 Schlägen in der Minute fest. Dreißig bis vierzig Minuten darauf erklärte H o m e , einen Luftzug zu spüren, der nach ihm die gleiche Bedeutung wie das Beben des Tisches hatte. C y o n führte diesen Luftzug auf eine offene Ofenklappe zurück, die er einfach schloß.
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Hierauf behauptete H o m e , schwaches Klopfen im Tische zu hören; die anderen Anwesenden vernahmen nichts davon. Eine Stunde nach Eröffnung der Sitzung war keine Erscheinung eingetreten, weder am Tische, noch im Zimmer. H o m e riet nun, den Versuch zu machen, das Gewicht des Tisches durch den Willen der Anwesenden zu vergrößern. C y o n hängte den Tisch an einem Dynamometer aus dem physikalischen Kabinett auf, welche Art des Wägens große Präzision besaß. Das Gewicht des Tisches mit den daraufliegenden Händen betrug ungefähr 65 Pfund; dieses Gewicht nahm trotz dem Willen Horn es und der Anwesenden nicht zu. Eine andere entsprechende Wägung, die B o u l t e r o f f veranstaltete, blieb gleichfalls erfolglos. Die Kommissare blieben noch bis 1112 U h r um den Tisch sitzen, doch es trat keine der Erscheinungen ein, die bei derartigen Sitzungen für gewöhnlich stattfinden sollen. Infolgedessen trennten sich die Anwesenden unter der Verabredung, daß die nächste Zusammenkunft am 11. März um 8 Uhr abends stattfinden sollte. Alle Vorbereitungen für die Sitzung waren auf Verlangen der Kommission von C y o n ausgeführt worden. Die Wahl des Lokals, die Beschaffenheit des Tisches und der Wägeinstrumente waren durch ihn bestimmt worden, so daß weder H o m e noch seine Zeugen etwas von den Einzelheiten der Anordnung wußten. Alle an den Saal, in dem die Sitzung stattfinden sollte^ anstoßenden Zimmer waren am Morgen des 10. geschlossen und von C y o n , der die Schlüssel behielt, versiegelt worden. Dieses Protokoll wurde unterzeichnet von P e l i k a n , O w s i a n i k o f f , T s c h e b y s c h e f f , C y o n und Boutleroff. A k s ä k ö f f und M e y e n d o r f veröffentlichten dieses Protokoll ohne Ermächtigung der Kommission. Die Erregung, welche diese Veröffentlichung hervorrief, war groß und rief eine Preßpolemik hervor, die durch das Eingreifen einer s e h r h o h e n Persönlichkeit peinlich wurde. Als Mitglied der Kommission hielt ich es trotzdem für notwendig, diesem Protokoll einige Erklärungen folgen zu lassen, die in der »Petersburger Zeitung« erschienen. Ich gebe sie hier auszugsweise wieder. »Es war aus vielen Gründen wünschenswert, daß die von H o m e hervorgerufenen Erscheinungen der Prüfung maßgebender Persönlichkeiten unterworfen wurden, die an wissenschaftliche Beobachtungen gewöhnt und imstande waren, neue Tatsachen zu unter14*
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suchen und zu erfassen. Jede Erscheinung, die aus dem gewöhnlichen Rahmen herausfällt, ja im Widerspruch zu den physikalischen Gesetzen zu stehen scheint, muß die Aufmerksamkeit des Naturforschers erregen. Der bloße Verdacht, daß die fragliche Erscheinung das Produkt taschenspielerischer Geschicklichkeit sei, enthebt den Naturforscher nicht der Pflicht, sie zu prüfen. Indem dieser den Betrug enthüllt und verbreitete Irrtümer zerstört, fällt er nicht aus seiner Rolle, welche darin besteht, die wahren Ursachen der natürlichen oder künstlich hervorgerufenen Erscheinungen zu suchen. »Die Prüfung der Erscheinungen des Spiritismus hatte ferner das Gute für sich, daß sie die Erforschung der psychischen Faktoren ermöglichte, mit deren Hilfe die Scharlatane zu jeder Zeit das Publikum zu blenden wußten und selbst geistig hochstehenden Personen Vertrauen in ihre wunderbare Kraft einzuflößen vermochten. «Die Kommission von Gelehrten, die H o m e so lebhaft gefordert hat, ist also in St. Petersburg zusammengetreten und hat ihm die Gelegenheit geboten, die Erscheinungen, die er hervorzurufen behauptet, einer strengen Prüfung zu unterziehen. «Nach dem Mißerfolge der ersten Sitzung hat die Kommission auf H o m e s ausdrücklichen Wunsch beschlossen, sich am 11. März abermals zu vereinen. Am Abend desselben Tages entschuldigte sich H o m e , wegen Krankheit nicht erscheinen zu können; am nächsten Tage bat er uns, die Sitzung auf den 14. März anzuberaumen; aber auch diesmal entschuldigte er sich mit plötzlicher Krankheit. Am 15. abends traf ich H o m e im Theater: er sah kerngesund aus, sagte mir aber, daß er keine Sitzung mehr abhalten könnte, da er fühlte, daß seine spiritistischen Fähigkeiten unter dem Einfluß des Wetters nachließen. Am 16. März reiste er plötzlich nach London ab. Wie man sieht, war die Niederlage vollkommen. »Im Verlaufe der Polemik, die nach Veröffentlichung des Protokolls entstand, bemühten sich H o m e s Zeugen, seinen Mißerfolg auf Rechnung des Glastisches zu setzen, der für die Kundgebung psychischer Kräfte ungünstig sei. Das trifft insofern zu, als ein Glastisch, der alles, was darunter geschieht, zu sehen gestattet, in der Tat wenig vorteilhaft ist für Kunstgriffe, die vor allem mit Hilfe der Füße geschehen müssen. Überdies hatte H o m e selbst zu Anfang erklärt, daß der Stoff, aus dem der Tisch bestand, ihm einerlei sei. . . Die Kommission bestimmte nichtsdestoweniger, bei
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der nächsten Sitzung einen Holztisch zu benutzen; doch H o m e zog es vor, zu verschwinden. «Was den Mißerfolg des Experiments der Vergrößerung des Tischgewichtes betrifft, so behauptete H o m e , daß die Aufhängung des Tisches am Dynamometer zu kompliziert sei; es war trotzdem die einzige Art zur Vermeidung von Irrtümern, die sicher vorgekommen wären, wenn man den Dynamometer in der Hand gehalten hätte. Kurz, alle Vorbeugungsmaßregeln gegen die gewöhnlichen Kunstgriffe verhinderten zugleich die Kundgebung der Erscheinungen, die hervorzubringen H o m e sich berühmte. Das genügt für den Nachweis, daß die fraglichen Erscheinungen in der Tat nur Taschenspielerkünste waren. »Angesichts dieses kläglichen Mißerfolges fragt man sich, wie H o m e dreißig Jahre lang ungestraft alle Welt täuschen konnte, wo es doch nur der einfachsten Vorsichtsmaßregel, einen Glastisch zu benutzen, bedurfte, um ihm jede Möglichkeit zur Wiederholung seiner Zauberkünste zu benehmen. »Die von den Spiritisten hervorgerufenen und von vertrauenswürdigen Zeugen bestätigten Erscheinungen beschränken sich darauf, daß man in einem fast stets mit einem grünen Tuche bedeckten Tische, an dem alle Teilnehmer sitzen, von Zeit zu Zeit schwache Schläge verspürt: die Anwesenden fühlen plötzliche Berührungen in Kniehöhe, die Damen fühlen sich am Rocke gezupft, der Tisch neigt sich zur Seite, erhebt sich ein wenig oder beginnt sich zu drehen. H o r n es komplizierteres Kunststück besteht darin, das Gewicht des Tisches, auf dem die Hände der Teilnehmer liegen, nach seinem Willen zu vergrößern oder zu verringern. Bei einiger Geschicklichkeit kann der erste beste diese: Taschenspielerkunststücke wiederholen. Das Klopfen geschieht mit den Füßen, oder, was einfacher ist, durch den Druck eines in der Tasche verborgenen Apparates. Die Täuschung über den Herkunftsort der Klopftöne ist leicht erklärlich: Jedermann kennt die auf der Bühne hervorgerufenen Effekte, wenn man ein Echo oder eine ferne Stimme vortäuschen will. Die Berührungen der Kniee, das Zupfen an den Röcken und die Bewegungen des Tisches können durch unmerkliche Hand- und Fußbewegungen erzeugt werden, ohne irgend einbesonderes Werkzeug. Die Gewichtsveränderungen des Tisches entstehen aus der Erhöhung oder Verringerung des Druckes der darauflieg^nden Hände oder daraus, daß der Tisch mit den Knieen ge-
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halten wird. Man kann sein Gewicht durch stärkeren Fingerdruck ohne Mühe beträchtlich vergrößern, ohne daß die Teilnehmer das Bewußtsein haben, daß die Spannung ihrer Finger zunimmt. . . «Damit aber diese Erscheinungen gelingen, muß die Aufmerksamkeit der Anwesenden durch irgendwelche Unterhaltungen und durch unnötige, irreführende Vorsichtsmaßregeln abgelenkt werden; und vor allem muß die Einbildungskraft der Teilnehmer durch Erzählungen von den Wundern des Spiritismus erregt werden, so daß die einfachsten Erscheinungen einen Schauder auslösen. Alle diese Eigenschaften besitzt H o m e in hohem Maße, und darin liegt seine Macht. Als Taschenspieler mittelmäßig, ist er ein feiner Psychologe. Er redet von den unmöglichsten Dingen mit solcher Sicherheit, er erzählt die angeblichen, von ihm vollbrachten Wunder so ohne jeden Anschein der Überredung, daß die Mißtrauischesten anfangs einen Verrückten und nicht einen Scharlatan vor sich zu haben glauben. Von seiner angeblichen Beschwörungskraft spricht H o m e nur ungern, als ob er sich einer solchen Schwäche schämte. »Wie weit die Kunstgriffe der Spiritisten zur Hervorrufung eines ganz besonderen Seelenzustandes beim Publikum gehen können, sodaß. dieses die geschicktesten und gewöhnlichsten Taschenspielerkünste für Wunder ansieht, das haben die Brüder D a v e n p o r t , H o m e s Nebenbuhler im Spiritismus, gezeigt. Ihre Kunst beruhte auf der sehr einfachen Berechnung, daß ein Mensch, der zum ersten Male vor einer zahlreichen Menge öffentlich auftritt, naturgemäß sehr verlegen ist. Durch Besichtigung des geheimnisvollen Schrankes, des Fußbodens, durch Prüfung der Festigkeit des Strickes usw. verwirrt man ihn derart, daß er, um seine Verlegenheit loszuwerden, beim Fesseln der Zauberkünstler die Knoten macht, die diese ihm wie zufällig und ohne besondere Absicht angeben. Im Jahre 1867 hatte ich in Leipzig Gelegenheit, einen der D a v e n p o r t s zu fesseln. Ohne auf seine Angaben zu hören, schlang ich ihm einen laufenden Knoten um den Hals und befestigte den Strick, indem ich seine Hände und Füße fesselte, derart an dem Stuhle, daß er sich bei der geringsten Bewegung erdrosselt hätte. Totenbleich blieb D a v e n p o r t eine halbe Stunde lang unbeweglich in dem Schranke sitzen, bis sein Bruder kam und ihn befreite. «Weder H o m e s Niederlage noch die Erklärung seiner Kunstgriffe werden die Meinung seiner überzeugten Anhänger ändern. Doch ich hoffe, daß die, welche in spiritistischen Kreisen verkehren,
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in meiner Erklärung Handhaben genug finden werden, um die Taschenspieler zu entlarven. Wenn es auch schwer ist, jemanden vom Spiritismus zu heilen, so kann man doch verhindern, daß diese Ansteckung sich ausdehnt, indem man dem Publikum die nötigen Vorsichtsmaßregeln einschärft, die im Verkehr mit Spiritisten zu beachten sind. Deshalb erscheint es mir auch angebracht, noch ein paar Worte über die Maßregeln zu sagen, die für die zweite geplante Sitzung H o m e s getroffen wurden. Diesmal hatte ich mein anatomisches Amphitheater zum Schauplatz gewählt. Der Seziertisch, der für die Experimente benutzt werden sollte, war aus Holz, jedoch so hoch, daß man die Füße der Teilnehmer sehr gut beobachten konnte, auch wenn man sitzen blieb. H o m e hatte erklärt, es sei ihm gleich, ob die Hände, statt den Tisch selbst zu berühren, auf elastischen Kissen lägen, und so hatte ich für die Hände Gummiblasen mit verborgenen Pfeifen anfertigen lassen. Der geringste Druck auf diese Blasen hätte ein furchtbares Pfeifen verursacht. «Wenn alle Teilnehmer an spiritistischen Sitzungen entsprechende Vorsichtsmaßregeln ergriffen, so kann man sicher sein, daß H o m e und seinesgleichen außerstande wären, die geringsten Kunstgriffe anzuwenden. Aber die wichtigste Vorsichtsmaßregel in solcher Umgebung. besteht darin, daß man niemandem traut, selbst den eignen Organen nicht. Das Vergnügen, sich über seine Mitmenschen lustig zu machen und sie aufs Glatteis zu führen, reicht oft hin, um zum Mitschuldigen des Spiritisten zu werden. Ferner darf man nicht vergessen, daß auch Leute, die es sonst ehrlich meinen, sobald sie blind an die Wunder des Spiritismus glauben, nicht davor zurückschrecken, dem Medium zu helfen, nur um die Zweifler zu überzeugen. Auch die Anwesenheit von Frauen trägt viel zum Gelingen solcher Sitzungen bei. Wenn die Spiritisten beider Geschlechter sich nicht mehr zusammenfänden, so würden diese Sitzungen bald ein Ende haben. »Zum Schluß erlaube ich mir einen wohlmeinenden Rat an die Gläubigen des Spiritismus. Seit einiger Zeit haben die Medien die Gewohnheit, ,Memoiren' zu hinterlassen, in denen sie ihre Anhänger grausam verspotten und die sehr eirffachen Mittel beschreiben, mit deren Hilfe sie die wunderbarsten Wirkungen hervorbrachten. Der Gedanke, in den Memoiren eines H o m e auf die Nachwelt zu kommen, wird vielleicht hinreichen, um die Begeisterung einer großen Zahl von Neulingen abzukühlen.«
216 Die Veröffentlichung des Protokolls und meiner Studie »Spiritismus und Wissenschaft" in den Petersburger Zeitungen rief in Rußland ein gewisses Aufsehen und in England, wo der Spiritismus in all seinen Spielarten die meisten Anhänger hat, große Erregung hervor. Die englische Presse griff mich heftig an. Einige Blätter, wie der »Standard«, hatten die volle Tragweite von Horn es Niederlage begriffen und erklärten, daß dieser sich zur Wiederherstellung seines Rufes der Prüfung einer Kommission von englischen Gelehrten unterwerfen müßte, um sich von den Anklagen Cyons, der a thorn in the side of the spirits geworden sei, zu reinigen. Von allen Seiten bestürmt, ging H o m e darauf ein. Eine Kommission trat zusammen, unter deren Mitgliedern der Astronom Higgins, der Chemiker Crookes und, wie ich glaube, der berühmte Zoologe A l f r e d W a l a c e waren. Soviel ich weiß, erschien damals kein Protokoll; die Einzelheiten der Sitzung sind mir also unbekannt. Aber Higgins erklärte sich in einem Brief an die „Times" außerstande, die seltsamen Erscheinungen, deren Zeuge er gewesen, zu erklären. C r o o k e s war bekanntlich der erste, der die Geisterphotographien einführte. Alfred Walace, der evolutionistische Nebenbuhler D a r w i n s , war auch einer der eifrigsten Verbreiter des Spiritismus. In seinem Werke »Die Wunder und der moderne Spiritismus", in dem die Wundertaten H o m e s einen großen Platz einnehmen, übergeht Walace die Niederlage dieses Mannes vor der wissenschaftlichen Kommission von St. Petersburg völlig. Auch auf die Sitzung in London im Jahre 1871 nimmt er keinerlei Bezug. Dagegen steht auf Seite 223 des Werkes die kühne Behauptung: » H o m e s Leben war im weitesten Sinne öffentlich. Zwanzig Jahre lang war er der Prüfung und dem nie beruhigten Verdacht zahlloser Wißbegieriger ausgesetzt. Trotzdem wurde nie ein Nachweis von Betrug geführt und nie ein Stück irgend eines Apparates oder Mechanismus gefunden.«1 In den zahllosen spiritistischen Schriften, in denen ich heftig angegriffen wurde, hat man stets vermieden, die Einzelheiten unserer Sitzung zu erwähnen. Offenbar fürchtete man, die Aufmerksamkeit auf den Glastisch und die anderen, von mir erdachten Maßregeln 1
Französische Übersetzung, Paris, Librairie des Sciences psychologiques.
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zur Vereitlung eines Betruges der Medien zu lenken. In den »Incidents of my life" hat H o m e , wie man mir versichert, nie auf den ernstesten «Zwischenfall« seines Lebens Bezug genommen. Zwei Jahre darauf, 1873, erschien D o u g l a s H o m e wieder in St. Petersburg. T s c h e b y s c h e f f traf ihn und schlug ihm vor, der Kommission die beiden Sitzungen zu gewähren, die er ihr schuldig geblieben war. H o m e nahm das Anerbieten mit Freuden an, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, daß ich nicht dabei sein sollte. « C y o n ist den Geistern antipathisch; sie werden in seiner Gegenwart nie erscheinen," erklärte er. Infolgedessen traten auch T s c h e b y s c h e f f und die übrigen Mitglieder der Kommission zurück. Diese lächerliche Ausflucht hinderte nicht, daß H o m e einen anderen Gelehrten, den Professor der Zoologie an der Petersburger Universität, W a g n e r , einen begeisterten Evolutionisten wie W a l a c e , zum Spiritismus bekehrte. Ich muß gestehen, daß ich nicht der erste war, der H o m e entlarvte. Gleich nach der Veröffentlichung meines Aufsatzes über die Sitzung vom 10. März 1871 ließ der General Graf F l e u r y , früherer Gesandter in Petersburg, mir durch Dr. P e l i k a n die Einzelheiten einer Sitzung in Compiegne mitteilen, wo es ihm gelungen war, H o m e in flagranti zu ertappen. Bei dieser Sitzung waren der Kaiser, die Kaiserin, die Fürstin M e t t e r n i c h und einige andere Intime des Hofes zugegen. An dem Tische saß H o m e rechts neben der Kaiserin und links von ihr N a p o l e o n III. Dem Grafen F l e u r y , der H o m e gegenüber saß, fiel es auf, mit welcher Beharrlichkeit dieser die Unterhaltung so zu leiten wußte, daß die Kaiserin sich beständig zum Kaiser wenden mußte, um ihm Fragen zu stellen. Da der General F l e u r y einen Taschenspielertrick vermutete, so bat er um Erlaubnis, hinausgehen zu dürfen; er entfernte sich durch die Tür rechts von dem Tische, kehrte aber unvermerkt durch eine andere Tür zurück, die sich hinter H o m e befand. Da sah er, wie dieser einen Augenblick die Sohle seines rechten Fußes öffnete und seinen bloßen Fuß ein paar Augenblicke auf dem Marmorfußboden stehen ließ, um dann plötzlich mit rascher, außerordentlich behender Bewegung, die Hand der Kaiserin mit den Fußzehen zu berühren. Diese fuhr empor und rief: »Eine tote Kinderhand hat mich berührt!" Da trat der General F l e u r y vor und enthüllte, was er gesehen. Am folgenden Tage wurde H o m e
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Leib^Seele^und^Geist
von zwei Polizisten in Calais zu Schiffe gebracht, mit der Weisung, das Geschehnis geheim zu halten.1 Zufällig traf ich H o m e 1876 in einer Pension in Ciarens, wo ich dank der Bosheit einer mit ihm befreundeten Amerikanerin sein Tischnachbar wurde. Trotz seiner übernatürlichen Macht erkannte er mich nicht und richtete ein paar nichtssägende Worte an mich. Als seine Freundin nach Tisch meinen Namen nannte, fiel er fast in Ohnmacht und beklagte sich, daß sie ihm seinen w schlimmsten Feind^-der ihn öffentlich zu entehren versucht hätte", vorgestellt habe. Sieben gessenheit.
oder acht Jahre später starb H o m e in völliger Ver-
Kurzum, die aufsehenerregende Aufdeckung der Betrügereien des Schöpfers der spiritistischen Praktiken hat es nicht verhindert, daß der Spiritismus seine Verheerungen bis in die Gelehrtenwelt ausdehnte und sich Anhänger von der wissenschaftlichen Bedeutung eines C r o o k e s und W a l a c e gewann. Da ist es denn nicht zu verwundern, wenn die berühmten Sitzungen, in denen so viele Berufsgelehrte Frankreichs und Italiens sich durch ein gewöhnliches Medium wie E u s a p i a P a l a d i n o betrügen ließen, ohne ihre Kunstgriffe zu enthüllen, zur Verbreitung des spiritistischen Aberglaubens in den Kreisen der Intellektuellen, ja selbst unter den Universitätsprofessoren und Akademikern, viel beigetragen haben! Und doch hätte es genügt, ein einziges Mal einen Glastisch zu benutzen, um E u s a p i a s Macht zu brechen.
§ 2.
Spiritismus und Religion.
Es ist für den psychologischen Ursprung des Spiritismus nicht belanglos, auf die eigenartige Tatsache hinzuweisen, daß der spiritistische Aberwitz namentlich in protestantischen Ländern und teils auch in den höheren Schichten des orthodoxen Rußland gedeiht. Leipzig und London und neuerdings auch Genf, besonders dessen theosophische Kreise, sind die Hauptzentren der spiritistischen 1 Man machte mich auf eine Darstellung dieses Vorfalls von Seiten der Fürstin M e t t e r n i c h aufmerksam, die vor einigen Jahren in einer kleinen Wiener Wochenschrift »Die W o c h e " erschien. Die Fürstin wohnte der Sitzung in Compiegne bei, ihre Darstellung deckt sich, mit Ausnahme unwichtiger Einzelheiten, mit der, welche mir der General F l e u r y gab.
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Propaganda in Europa. Auch in Nordamerika sind es die protestantischen Staaten, wie z. B. Chicago, welche die meisten Anhänger H o m e s zählen. In dem oben zitierten Werke beziffert A l f r e d W a l a c e die Spiritisten Amerikas auf neun Millionen und die Englands auf drei Millionen. Seit der Veröffentlichung seines Werkes hat die spiritistische Ansteckung solche Verheerungen in diesen Ländern angerichtet, daß die Berechnung von W a l a c e der Wirklichkeit sehr wohl entsprechen kann, besonders wenn man in diese Oesamtzahl der Spiritisten alle die einbegreift, die unter verschiedenen Bezeichnungen, wie Psychisten, Metapsychologen, Myersschüler oder bloß Psychologen, ihre spiritistischen Verirrungen sowie ihren inbrünstigen Glauben an die übernatürlichen Fähigkeiten der Medien und an die Wirklichkeit der von diesen mehr oder minder absichtlich hervorgerufenen Erscheinungen verbergen. Die katholischen Länder sind von der spiritistischen Ansteckung fast völlig unberührt geblieben; unter den gläubigen und nach den Geboten ihres Glaubens lebenden Katholiken findet man keine Spiritisten. Die Gründe für diese Immunität sind zu verwickelt, um hier eingehend erörtert zu werden. Trotzdem sind einige von ihnen leicht zu erkennen. Sie sind von großer psychologischer Tragweite. Der katholische Kult befriedigt die Bedürfnisse des Mystizismus und des Glaubens an das Übernatürliche, die jedem phantasievollen Menschen eingeboren sind, durch Mittel, die den religiösen Glauben zu erheben und zu befestigen vermögen und die die Gläubigen vor den stets lächerlichen und oft grotesken Praktiken bewahren, welche die Medien und ihre Adepten benutzen. Die katholischen Frauen und vor allem die jungen Mädchen finden in den zahlreichen Kultübungen und in den verschiedenen frommen Werken eine Beschäftigung, die sie vor dem Müßiggang bewahrt. Sie besitzen ferner in ihren Beichtvätern wertvolle Ratgeber, deren Einfluß genügt, um sie vor den spiritistischen Verirrungen zu bewahren, die übrigens von der Kirche streng verurteilt werden. Die Auffassung, daß der menschliche Geist eine Ausströmung des Heiligen Geistes ist, den die Katholiken anbeten, schließt bereits die Annahme der Möglichkeit aus, daß die beschworenen Geister ihre Zeit unter Tischen oder in anderen ungenügend beleuchteten Gegenständen verbringen, daß sie die naiven Teilnehmer in die Kniee zwicken, Klopftöne hervorbringen oder
Albernheiten erzählen, die stumpfsinniger sind, als das dümmste Kindergewäsch. Die katholischen jungen Mädchen, die sich durch inneren Beruf oder mystische Strebungen zur Ehelosigkeit bewogen fühlen, finden ein Obdach in den Klöstern, wo edle Wirksamkeit und zahlreiche Gegenstände hoher Kontemplation, wie die Anbetung der Heiligen Jungfrau und des Herzens Jesu ihre mystischen Bedürfnisse in weitem Maße befriedigen. Der protestantische Kultus mit seinem kalten Formalismus, der Nüchternheit seiner Zeremonien und der Trockenheit seiner Lehre, bietet der hochgespannten Einbildungskraft wenig Anregung. Und so stellen denn auch die alten Jungfern und die kinderlosen Witwen dem Spiritismus die meisten Anhänger in den protestantischen Ländern. Vor etwa dreißig Jahren fiel mein Augenmerk zuerst auf die Immunität der Katholiken gegen den spiritistischen Aberglauben. Es war im Jahre 1882, als die Agitation gegen die Vivisektion in England und Deutschland, speziell in Sachsen, in voller Blüte stand. Damals forderte mich der Herausgeber der großen englischen Zeitschrift «The Contemporary Review" zum Eingreifen in den heftigen, damals in der Presse, in den öffentlichen Versammlungen und im Parlamente entbrannten Kampf der Gegner der Vivisektion gegen Physiologie und Physiologen auf. Ich nahm dieses Anerbieten um so freudiger an, als mein erst kürzlich erschienenes Werk: „Die Methodik der physiologischen Experimente und Vivisektionen", ein dickes Buch mit einem Atlas von fünfzig künstlerisch ausgeführten Tafeln, 1 den kriegslustigen Gegnern der Vivisektion als Hauptwaffe diente. Riesige Plakate mit angeblichen Abbildungen aus diesem Tafelwerke erschienen zunächst in verschiedenen illustrierten Zeitschriften und wurden danach in Hunderttausenden von Exemplaren an den öffentlichen Anschlagssäulen, in den Bahnhöfen, in allen Winkeln des Landes verbreitet. Der Titel dieses Plakats lautete: «The horrors of vivisection». Und unter den Abbildungen stand: «These engravings are reproduäicns from Cyons celebrated work». Auf diesem Plakat befand sich in der Tat ein Dutzend Abbildungen aus meinem Atlas, Darstellungen der gebräuchlichsten Instrumente für Vivisektionen, anatomische Bilder der Lage der 1
Das Buch erschien 1876 in deutscher Sprache in Gießen bei Karl Ricker und in St. Petersburg.
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Drüsen, der Nerven des Herzens usw. bei den verschiedenen Tieren. Alle diese anatomischen Zeichnungen waren natürlich nach Tierleichen gemacht; überdies bot ihr Anblick nichts Furchtbares noch auch nur Peinliches. Dagegen standen über diesen Darstellungen wahrhaft widerliche Aufschriften, die von den Verbreitern f r e i erf u n d e n und meinem Werke zur Last gelegt waren. Das »Clou" des Plakats aber war der Gipfel der Geschmacklosigkeit. Am unteren Teil befand sich eine riesige Zeichnung, betitelt: « The mute appeal of the poor monkey» (Der stumme Ruf des armen Affen); diese stellte einen auf den Seziertisch festgebundenen Affen dar, dessen Augen gen Himmel blickten und dessen Hände wie zum Gebet gefaltet waren! Um den Affen stand der Professor mit seinen Studenten, alle mit den Galgengesichtern englischer Verbrecher ausgestattet. Sie hielten Folterinstrumente in den Händen und krümmten sich vor Lachen. Die ganze Zeichnung war selbstredend frei erfunden; nichts dergleichen befand sich in meinem Atlas; außerdem hatte ich bis dahin noch nie an Affen operiert. Bei dieser Gelegenheit sah ich mir die Hunderte von Broschüren und Petitionen und die Bände der Parlamentsenquete etwas genauer an, und mir fiel die merkwürdige Tatsache auf, daß unter den Urhebern dieses Feldzuges sich viele bekannte Spiritisten befanden, von denen mich schon mehrere ein paar Jahre zuvor mit ihren Angriffen beehrt hatten, als ich die Kniffe des Spiritisten H o m e enthüllte. Ein noch lehrreicheres Zusammentreffen war dies, daß der geistige Leiter dieses Bundes der Spiritisten und Gegner der Vivisektion kein anderer war, als der Professor Z ö l l n e r aus Leipzig, mein alter Lehrer in der höheren Mathematik,1 ein Gelehrter von wirklicher Bedeutung, also ein hervorragender Geist, der aber infolge zahlreicher Sitzungen mit dem Medium S l a d e wahnsinnig wurde. Dieser Slade hatte ihn mit Hilfe einiger Bindfadenknoten (ähnlich denen, welche die Brüder D a v e n p o r t benützten) vom Vorhandensein der vierten Dimension überzeugt! 2 Z ö l l n e r s Buch war voll von zusammenhangsloser Abschweifungen über S l a d e s übernatürliche Macht, über die vierte Dimen1
Siehe weiter oben, Kap. II, § 7.
* Übrigens war Z ö l l n e r mit erblicher Anlage zum Wahnsinn belastet. Bei einem Besuche in der Klinik der Berliner Charité machte mich Professor W e s t p h a l auf einen Bruder Z ö l l n e r s aufmerksam, der dort interniert war.
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sion, über die Nichteuklidische Geometrie, über die Schönheit der Kantischen Philosophie usw., und es wimmelte von groben Anwürfen gegen seine alten Freunde, wie Karl L u d w i g und mich, und zwar wegen meiner Experimentalforschungen über das Ohrlabyrinth, die er noch vor ein paar Jahres in L u d w i g s Laboratorium in Leipzig mit lebhaftem Interesse verfolgt hatte. Dieses Buch war die erste Kundgebung seines Wahnsinns. Ihm folgte eine noch heftigere Schmähschrift gegen mich, die er an den Reichstag gerichtet hatte; darin behauptete er, daß der nächste, der ein Attentat auf Kaiser W i l h e l m I. verübte, aus einem physiologischen Laboratorium hervorgehen würde! Diese Schmähschrift bildete das Entzücken der spiritistischen Kreise in Leipzig und England. War ich im Jahre 1871 «a thorn in the side of the spirits» gewesen, so ergab sich von selbst, daß ich im Jahre 1882 die Zielscheibe der Gegner der Vivisektion in den gleichen Ländern wurde. Übrigens blieb mir der falsche Ruf der Grausamkeit gegen die Tiere in denselben Kreisen aller anderen Länder, in denen sich der antivivisektionistische Wahn seitdem verbreitet hatte. Dieses seltsame Bündnis zwischen Spiritisten und Gegnern der Vivisektion erklärte mir indessen die eigentümliche Tatsache, daß die katholischen Länder, wie Frankreich, Italien und Spanien von beiden Geistesepidemien gleich verschont geblieben sind. Wie ich schon in einer Studie in der »Contemporary Review" hervorgehoben hatte, rekrutierten sich die Anhänger des Spiritismus fast durchweg aus Freidenkern und Atheisten. Ich gestattete mir sogar die Voraussage, daß, wenn die Bewegung gegen die Vivisektion in Frankreich je Wurzel schlüge, dies in den gleichen Kreisen geschehen müßte. Als Professor C o r n i 1 im folgenden Jahre eine Übersetzung meines Aufsatzes aus der »Contemporary Review" über die antivivisektionistische Bewegung in sei nein « Journal de Médecine" veröffentlichte, konnte ich zu meiner Genugtuung in einer Fußnote feststellen, daß meine Vorhersage eingetroffen war. Die Liga der Vivisektionsgegner, die sich in Paris bildete, hatte zum Präsidenten C l o v i s H u g u e s und zählte unter ihre Ehrenmitglieder S c h o e l c h e r , A u r é l i e n S c h o l l , Maria D e r a i s m e , L o u i s e Michel u. a. m. Erst kürzlich fand meine vor dreißig Jahren gemachte Vorhersage eine noch viel schlagendere Bestätigung. Sie ist von großer Bedeutung für die uns beschäftigende Frage, weil sie den psychologischen Ursprung aller dieser geistigen Verirrungen auf das Sinn-
Anhang zum dritten Kapitel
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fältigste dartut. Ebenso beweist sie, wie richtig meine Erklärung der Immunität der Katholiken gegen den Spiritismus war. Zwei kürzlich verstorbene, berühmte Philosophen, die beide von der Naturwissenschaft ausgegangen, beide anerkannte Materialisten waren, und zwar L o m b r o s o , ein Schüler von M o l e s c h o t t und Begründer der Kriminalanthropologie, sowie W i l l i a m J a m e s , ein pluralistischer Materialist unter der Maske des Pragmatikers, hatten sich vor ihrem Tode öffentlich zum Spiritismus bekannt. Diese gelehrten Naturforscher, die ihr Leben lang die These von der Stofflichkeit der Seele vertreten und den Geist für ein bloßes Produkt der Tätigkeit der Hirnganglien erklärt hatten, — diese Philosophen, die aus ihrer Verachtung für jede Offenbarungsreligion, ja selbst für den Spiritualismus nie ein Hehl gemacht hatten, gaben ihren Freunden vor ihrem Tode das feierliche Versprechen, daß ihre Geister zu einer bestimmten Zeit auferstehen und ihnen die Geheimnisse des Jenseits offenbaren würden! Ja, L o m b r o s o hat sogar die Person bezeichnet, durch deren Vermittlung er diese sensationellen Enthüllungen machen würde: es war das berüchtigte Medium E u s a p i a P a l a d i n o , das dank diesem Verteidiger des Verbrechertums seit Jahrzehnten zur wahren Gottheit der Spiritisten geworden ist. In dieser Hinsicht ist es nicht belanglos, an eine andere, diesmal wahre Enthüllung zu erinnern, nämlich die, woher diese Gottheit ihre Kenntnisse von den Mysterien der anderen Welt hatte. Sie war mit fünfzehn Jahren Kindermädchen bei dem berüchtigten A k s a k o f f , dem D a l a i l a m a der Spiritisten gewesen, der bei der oben erzählten berühmten Sitzung in Petersburg einer der Zeugen von H o m e war! Übrigens sei erwähnt, daß ich in dem Augenblick, wo der Tisch auf H o m e s Geheiß leichter werden sollte, A k s a k o f f dabei ertappte, wie er mit seinen Fingern die Tischplatte von unten hob, als sie dem Befehle von H o m e nicht Folge leistete. In der Schule dieses A k s a k o f f hat die kleine neapolitanische Dienstmagd gelernt, Naturforscher und Philosophen zum besten zu haben! § 3.
Eine hypnotische Sitzung in Moskau.
Trotz scheinbarer Unterschiede beruhen Spiritismus und Hypnotistnus auf dem gleichen psychologischen Prinzip, der Suggestion, einem Prinzip, das so alt ist wie die Welt, da Eva es ja zuerst angewandt hat. Es ist stets die gleiche Geschichte: die Schlechtesten
224 und Durchtriebensten, wo nicht die Klügsten, suggestionieren die Naiven und Leichtgläubigen mit Hilfe mannigfacher Kunstgriffe. Im Anfang der Bewegung, als der Hypnotismus in einigen Kliniken Einlaß fand, waren die Ärzte meist nicht die Hypnotiseure der Kranken, sondern die Kranken hatten die Ärzte zum besten. Ich will hier nicht auf die peinlichen Vorfälle eingehen, die sich bei der Entstehung des medizinischen Hypnotismus ereigneten. Ich will nur von einer merkwürdigen hypnotischen Sitzung berichten, die in Moskau vor einer Versammlung von Ärzten und Universitätsprofessoren stattfand. Der Hypnotiseur war ein gewisser F . . . ., der im Winter 1886/87 durch seine angeblichen Wunderkuren großes Aufsehen in jener Stadt erregte. Mein Freund, der berühmte Publizist K a t k o f f , gab mir die Einladung zu dieser Sitzung, über die ich am folgenden Tage in der »Moskauer Zeitung" folgendes berichtete: »Gestern abend fand im polytechnischen Museum in Gegenwart von Universitätsprofessoren, Ärzten und Vertretern der Presse eine Sitzung statt, in deren Verlauf Herr F verschiedene hypnotische und mentevistische (?) Experimente ausführen und eine Kranke heilen sollte, die auf einem Auge völlig erblindet und auf dem anderen farbenblind war. »Bei Eröffnung der Sitzung erklärte der Präsident, daß eine Kommission von fünf Mitgliedern, die zum Studium der von Herrn F hervorgerufenen Erscheinungen eingesetzt war, ihren Auftrag gewissenhaft erfüllt hätte. Dann stellte er den Hypnotiseur der Gesellschaft vor und drückte sein Bedauern aus, daß mehrere Gelehrte der Einladung nicht gefolgt wären. „Herr F , ein Mann von etwa 35 Jahren, mit ausdruckslosem Gesicht, trägt eine Brille mit dunklen Gläsern, die seine Augen völlig verbergen. Bekanntlich spielt der Blick eine große Rolle bei der Hervorrufung der sogenannten hypnotischen Erscheinungen, und so überraschte es mich, daß er diese Brille trug. »Die Kranke, deren Heilung uns versprochen war, erschien nicht. Aber F erklärte unerschütterlich, sie würde am nächsten Freitag vor 7 Uhr abends geheilt sein. Hierauf erklärte er, am vorhergehenden Tage einem Studenten suggeriert zu haben, daß er um 71/« -Uhr nach dem Polytechnischen Museum gehen, dort nach dem Dr. P fragen und ihn bitten sollte, ihn in den Saal zu führen, wo die Versammlung stattfand. O Wunder! Um 7 x / 4 Uhr
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erscheint der Student wirklich und wird in den Saal geführt. Demselben Studenten hatte F suggeriert, sich eine Stunde nach seiner Ankunft bei ihm vorzustellen, ihn bei der Hand zu nehmen, ihn zum Professor Ch zu führen und den letzteren zu fragen, welche Bewandtnis es mit dem Hypnotismus habe. Die festgesetzte Zeit war bereits um eine Viertelstunde überschritten und der Student, der sich in ein Gespräch mit seinen Nachbarn vertieft hatte, mußte die Suggestion wohl vergessen haben. Da wiederholte F das bekannte Wunder Mohammeds, der den Berg nicht zwingen konnte, zu ihm zu kommen: er ging selbst hin und holte den Studenten, nahm ihn bei der Hand und ließ ihn neben sich auf der Bank Piatz nehmen. „Einige Minuten darauf verließ der Student in Begleitung von F die Bank, trat auf den Professor Ch zu und sagte ihm den Satz, der ihm am Vorabend suggeriert war. Danach ließ F den Studenten in einem Lehnstuhle Platz nehmen, und nun begann die eigentliche Sitzung, die über eine Stunde währte. Eine Sitzung wovon? Wir wären in Verlegenheit, es zu sagen. Da wir der Zusammenkunft nur als einfache Vertreter der Presse beiwohnten, so können wir nichts tun, als getreu zu berichten, was wir sahen und welchen Eindruck wir hatten. Und dieser Eindruck war der, daß die ganze Sitzung nur den Zweck hatte, dem Studenten Gehorsam beizubringen. Insofern war der Erfolg glänzend, und obwohl wir den schneidigen Ton mißbilligten, in dem der Erzieher F seine Befehle gab, so müssen wir doch gestehen, daß der Student pünktlich gehorchte. „Sie schlafen. Sagen Sie, daß Sie schlafen! Hören Sie? Sagen Sie, daß Sie schlafen!" schrie ihn F an.-— »Ich schlafe«, wiederholte der Student. — »Heben Sie den rechten Arm und senken Sie den linken! Hören Sie? Führen Sie sofort meinen Befehl aus!" Und der Student gehorchte. Die Professoren, die Ärzte, die Vertreter der Presse, besonders die ersteren, gerieten angesichts dieses Wunders in Ekstase. „Wir wollen hier nicht alle Befehle des F wiederholen, denen der Hypnotisierte in einer Weise gehorchte, die alle Studentenaufseher mit Neid erfüllen könnte. Nur einige, besonders merkwürdige, seien hier erwähnt: „Wie heißen Sie? Wie alt sind Sie? Ich befehle Ihnen, Sie heißen S t e p a n o f f und Sie sind fünf Jahre alt! Verstehen Sie mich? Sie heißen S t e p a n o f f und sind fünf E. v. C y o n , Gott und Wissenschaft. Bd. 2.
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Leib, Seele und Geist
Jahre alt!« — „Ich bin fünf Jahre alt und heiße S t e p a n o f f " , stammelt der Student. — «Spielen Sie mit dieser Puppe (er gibt ihm einen Bleistift). Verstehen Sie? Dies ist eine Puppe!" — „Ja, es ist eine Puppe!" — „Lachen Sie!« — Der Student lächelt. „Weinen Sie!" — Der Student macht eine traurige Miene. Ein Wunder! „Sie sind neun Jahre alt und können schreiben. Schreiben Sie Ihren Namen in großen Buchstaben!« Der Student schreibt. „Jetzt sind Sie zwanzig Jahre alt. Schreiben Sie Ihren Namen«. Es geschieht. „Jetzt sind Sie sechzig Jahre alt; Ihre Hände zittern. Schreiben Sie Ihren Namen«. Die Hände des Studenten beginnen zu zittern und er schreibt seinen Namen. „Sie sind hundert, hundertundzwanzig Jahre alt. Schreiben Sie Ihren Namen". Der Student schreibt wiederum seinen Namen, und alle Anwesenden, Professoren, Ärzte, Vertreter der Presse, erkennen sofort die Handschrift eines Greises von hundert, dann von hundertundzwanzig Jahren und geraten in Ekstase ob der wunderbaren Macht von F . . . . „Sie frieren, Sie zittern, schlagen Sie doch Ihren Kragen hoch!" Der Student schlägt seinen Kragen hoch und sagt, daß er friere. „Sie sind in einem Garten; neben Ihnen blühen Blumen, Rosen. Riechen Sie an einer Rose. Sagen Sie, dies ist eine Rose!« schreit F , indem er ihm ein Salmiakfläschchen unter die Nase hält. Der Student riecht, schneidet ein Gesicht und zeigt sich zum erstenmal ungehorsam. „Dies ist Alkohol", sagt er, und niest heftig. „ F . . . . läßt ihm seinen Willen und reicht ihm ein Stück Zitrone. „Dies ist ein Apfel. Ist er nicht gut? Sagen Sie, dies ist ein Apfel. Essen Sie ihn!" Der Student beginnt die Zitrone zu kauen und speit sie sofort wieder aus; er ist in Worten folgsamer als in Taten. „Von einem der Anwesenden aufgefordert, befiehlt F nun der Versuchsperson, den griechischen Vers herzusagen, den er ihr am gestrigen Tage suggeriert hatte. Diesmal weigert sich der Student hartnäckig, den Befehl auszuführen, sei es aus Mißachtung der klassischen Studien, sei es, weil er die Poesie nicht liebt. Umsonst hält F den Magneten auf den Schädelteil, in dem nach seiner Meinung der griechische Vers stecken mußte. Dann sagte er den Vers laut und langsam her, und oh Wunder! der Student betet die Worte schlecht und recht nach. »Aufgefordert, einen georgischen Satz zu wiederholen, ver-
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weigert der Student völlig den Gehorsam, trotz der Auflegung des Magneten auf seinen Hinterkopf, in dem sich jedenfalls das Fach für die orientalischen Sprachen befindet, und trotz der klugen Vorsicht von F , der den Satz selbst laut vorgesagt hat. Besser gelang der Versuch beim Armenischen: auf F 's Geheiß stammelte der Student etwas, das mir wie reines Volapük vorkam, aber nach der Behauptung des geschickten Lehrers der Dialekt der verschlagenen Bewohner Kleinasiens war. «Danach befahl F dem Studenten noch, ihn vom Stuhle zu stoßen und sich selbst darauf zu setzen, was der Student mit sichtlichem Vergnügen tat. »Und nun erwachen Sie und behalten Sie keine Spur mehr von dieser Sitzung", sagte F zum Schlüsse. „ Tragen Sie mir nichts nach, und wenn Sie mir begegnen, schlagen Sie mich nicht!" „Der Student stand auf, „ohne eine Spur zu behalten«, und was noch erstaunlicher war, ohne jemanden zu schlagen. Er ging ganz ruhig auf seine Bekannten zu, und nun steckte er sich aus eigner Initiative eine Zigarette an und trank eine Tasse Tee." Man ersieht aus dieser Wiedergabe, wie leicht es für den ersten besten Possenreißer, der sich Hypnotiseur nannte, war, eine Versammlung von Gelehrten mit Hilfe kindlicher Betrügereien anzuführen, die noch alberner waren, als die gewöhnlichen Praktiken der berufsmäßigen Medien. Dank seiner Erfolge konnte F in ganz Rußland auftreten, überall Sitzungen abhalten und sogenannte Wunderkuren vornehmen. In mehreren Fällen mußten die Behörden einschreiten und die Sitzungen verbieten, da während der Vorführungen mehrere Ausbrüche von Wahnsinn erfolgt waren. Diese Zwischenfälle hinderten den Mann aber nicht, seine Wunderkuren in Amerika fortzusetzen und dort, trotz mehrerer Todesfälle, sich den Ruf eines alle Krankheiten heilenden Hypnotiseurs zu erwerben. Im Winter 1892/93 lud mich Dr. E r n s t H a r t , damals Herausgeber des „British Médical Journal" ein, als Zeuge einer Reihe von hypnotischen Experimenten über die bekannten Versuchspersonen der Pariser Kliniken beizuwohnen. Anwesend waren L o u i s O l i v i e r , der berühmte Begründer der „Revue générale des Sciences", der Oberst R o c h a s und mehrere Ärzte. Gelegentlich dieser Sitzungen schrieb Dr. H a r t in seiner Zeitschrift eine Reihe von Aufsätzen, betitelt < The new Mesmerism», die in England, ja selbst 15*
228 in den Vereinigten Staaten, großes Aufsehen erregten. Ich gab ihm auf seinen Wunsch folgende Bestätigung, die er veröffentlichte: »Ich bescheinige, daß die Experimente, denen ich beiwohnte, genau so stattfanden, wie Sie sie beschrieben haben. Die von Ihnen angewandten Methoden zur Aufdeckung der Betrügereien der Versuchspersonen, vor allem die Vertauschung der Puppen und die Ersetzung des Magneten und Wassergläser durch andere sind so einfach, daß man sich schwer vorstellen kann, wie die Ärzte, welche sich zu Aposteln dieses neuen Schwindels aufwerfen, in gutem Glauben handeln. Ich selbst habe mehrere Experimente nach der Art des Dr. L u y s vorgenommen und stets ohne Mühe die dabei benutzten Kunstgriffe aufgedeckt. Durch sie lassen sich nur d i e täuschen, die getäuscht sein wollen. Getäuschte oder Mitschuldige — dies scheint die Alternative für die Anhänger dieser Lehren zu sein, welche die Medizin nur in Mißkredit bringen und um Jahrhunderte zurückwerfen können... Ich bin vollkommen Ihrer Meinung über die Moralität der Personen, die sich zu diesen Fastnachtsscherzen hergeben" usw. Durch den Erfolg ermutigt, unternahm Dr. H a r t eine Reihe von Vorträgen in Chicago während der Weltausstellung zum Zweck der Bekämpfung des Spiritismus und Hypnotismus. Das sollte ihm übel bekommen, denn während einer Sitzung, wo er die Kunstgriffe und Betrügereien der Medien und der Hypnotiseure aufdeckte, wäre er von einem Auditorium fanatischer Spiritisten fast in Stücke gerissen worden.. Mundus vult decipi!
Schlußbetrachtungen.1
Die Rückkehr zu Gott durch die Wissenschaft. Als ich im Begriffe stand, meine Rundfrage: „Wie vertragen sich die christlichen Religionen mit der modernen Wissenschaft?" 1 Die Rückkehr zu Gott durch die Wissenschaft sollte das vierte Kapitel dieses Bandes bilden. Ein schweres Leiden, das mich sieben Monate ans Bett gefesselt hat, zwingt mich, nur diese Schlußbetrachtungen hier zu veröffentlichen.
228 in den Vereinigten Staaten, großes Aufsehen erregten. Ich gab ihm auf seinen Wunsch folgende Bestätigung, die er veröffentlichte: »Ich bescheinige, daß die Experimente, denen ich beiwohnte, genau so stattfanden, wie Sie sie beschrieben haben. Die von Ihnen angewandten Methoden zur Aufdeckung der Betrügereien der Versuchspersonen, vor allem die Vertauschung der Puppen und die Ersetzung des Magneten und Wassergläser durch andere sind so einfach, daß man sich schwer vorstellen kann, wie die Ärzte, welche sich zu Aposteln dieses neuen Schwindels aufwerfen, in gutem Glauben handeln. Ich selbst habe mehrere Experimente nach der Art des Dr. L u y s vorgenommen und stets ohne Mühe die dabei benutzten Kunstgriffe aufgedeckt. Durch sie lassen sich nur d i e täuschen, die getäuscht sein wollen. Getäuschte oder Mitschuldige — dies scheint die Alternative für die Anhänger dieser Lehren zu sein, welche die Medizin nur in Mißkredit bringen und um Jahrhunderte zurückwerfen können... Ich bin vollkommen Ihrer Meinung über die Moralität der Personen, die sich zu diesen Fastnachtsscherzen hergeben" usw. Durch den Erfolg ermutigt, unternahm Dr. H a r t eine Reihe von Vorträgen in Chicago während der Weltausstellung zum Zweck der Bekämpfung des Spiritismus und Hypnotismus. Das sollte ihm übel bekommen, denn während einer Sitzung, wo er die Kunstgriffe und Betrügereien der Medien und der Hypnotiseure aufdeckte, wäre er von einem Auditorium fanatischer Spiritisten fast in Stücke gerissen worden.. Mundus vult decipi!
Schlußbetrachtungen.1
Die Rückkehr zu Gott durch die Wissenschaft. Als ich im Begriffe stand, meine Rundfrage: „Wie vertragen sich die christlichen Religionen mit der modernen Wissenschaft?" 1 Die Rückkehr zu Gott durch die Wissenschaft sollte das vierte Kapitel dieses Bandes bilden. Ein schweres Leiden, das mich sieben Monate ans Bett gefesselt hat, zwingt mich, nur diese Schlußbetrachtungen hier zu veröffentlichen.
Die Rückkehr zu Gott durch die Wissenschaft
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zu veranstalten, zweifelte ich nicht an deren Ergebnis. Im Verlauf meiner Studien an verschiedenen deutschen, französischen und österreichischen Universitäten um die Mitte des verflossenen Jahrhunderts hatte ich rasch die Überzeugung erlangt, daß der Atheismus, — der in Rußland unter dem Deckmantel des freien Denkens die höheren Schulen und die Universitäten, und zwar sowohl die Lehrkörper wie die Studenten in Bann schlug — hier beinahe unbekannt war oder doch nur in gewisse isolierte und beschränkte Kreise eindrang. Es war zu der Zeit, wo D a r w i n s „Ursprung der Arten" auf dem Kontinent Eingang fand. Die gelehrte Welt, die Interesse für dieses Werk zeigte, sah damals ebensowenig, wie der Verfasser selbst, die ganze Tragweite dieses Werkes für die philosophischen und religiösen Anschauungen voraus. Erst seit der Verbreitung dieser Lehre durch M o l e s c h o t t , B ü c h n e r und K a r l Vogt ergab sich als unvermeidliche Folge der transformistischen Entwicklungslehre der grobe Materialismus, besonders bei dem großen Publikum, dem jede Geisteskultur fehlte. Dagegen beeinflußten selbst H a e c k e l s popularisierende Schriften, trotz dem Aufsehen, das ihr erstes Erscheinen machte, die Lehrkörper der westeuropäischen Universitäten kaum. Hier verfolgte man die Entwicklung der evolutionistischen Theorien nach wie vor mit reichlich skeptischer Aufmerksamkeit. Erst seit den Ereignissen von 1870 begann ein gewisser Umschwung des öffentlichen Geistes an den Universitäten sich zu zeigen: ein Teil der jungen Gelehrten-Generation huldigte den materialistischen Doktrinen und dem Atheismus, der von den Anhängern des neuen Monismus systematisch gepredigt wurde. Die wahren Naturforscher dagegen, besonders die, welche tätigen Anteil an den staunenswerten Umwandlungen der physikalischen, chemischen und biologischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts nahmen, blieben den Traditionen ihrer glorreichen Vorgänger größtenteils treu, wie es meine Umfrage beweist, deren Ergebnisse ich im 3. Kapitel des I. Bandes dieses Werkes mitgeteilt habe. Der Weg, den ich einschlug, um die Frage: „Wie verträgt sich Religion und Wissenschaft?" zu lösen, war vorgezeichnet. Es galt, ohne Parteilichkeit und nach unanfechtbaren, authentischen Dokumenten sorgfältig zu prüfen, welches die religiösen und philosophischen Überzeugungen der großen schöpferischen Gelehrten des letzten
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Leib, Seele und Geist
Jahrhunderts, namentlich seit der Wiedergeburt der Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert waren. Als Beweise von unanfechtbarem Werte gelten ja nur die für unsre sinnliche Erkenntnis bewiesenen oder beweisbaren Tatsachen. Die philosophischen und theologischen Kontroversen, ja selbst die wissenschaftlichen Diskussionen und Polemiken führen selten zu bündigen Ergebnissen. Und so hat mich diese Umfrage denn doppelt befriedigt, erstens, weil ihre Ergebnisse meine kühnsten Erwartungen hinsichtlich der von mir vertretenen These übertrafen, und zweitens, weil die neuen Dokumente, die ich durch diese Umfrage von allen Seiten erhielt, meine These nur erweitert und bestätigt haben, ohne daß eine einzige Polemik deswegen entstand, ohne daß von den Gegnern eine einzige Tatsache angeführt werden konnte, die als Widerlegung oder Anfechtung meiner Behauptung hätte gelten können. Die Wirkung dieses Ergebnisses meiner Umfrage in philosophischen Kreisen war vielmehr Überraschung, ja sogar ein gewisses Erstaunen. Die Gründe sind leicht begreiflich, wenn man sich der tiefen Kluft entsinnt, die seit der Wiedergeburt der Wissenschaften im 17. Jahrhundert zwischen Religion und Wissenschaft einerseits und der Philosphie andrerseits sich aufgetan hatte und deren psychologische Ursache wie bereits in der Vorrede zum ersten Bande von „Gott und Wissenschaft" dargetan haben. Mit dem Wachstum und der schwindelnden Entwicklung der exakten Wissenschaften seit dem Ende des 18. und im Verlaufe des 19. Jahrhunderts hat diese Kluft sich zum Abgrund erweitert. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts beginnt ein sehr beträchtlicher Umschwung sich in philosophischen Kreisen zu zeigen. Die verhängnisvollen, in der ganzen Welt sich zeigenden Folgen des Atheismus, der als »freies Denken" den Geist des Publikums mehr und mehr beherrscht und eine geistige Anarchie herbeiführt, gewinnen allmählich Gestalt und drohen unter verschiedenen Formen, von denen die literarische die gefährlichste ist, die zivilisierte Welt Katastrophen entgegenzuführen. Auch heute noch sind die Philosophen selten, deren Geist von einem echt religiösen Hauche berührt wird. Die religiöse Bewegung rührt mehr von der Voraussicht künftiger Katastrophen her, als von der richtigen Erkenntnis der tiefen Zusammenhänge zwischen Religion und Wissenschaft und ihres gleichen Ursprungs sowie der gemein-
Die Rückkehr zu Gott durch die Wissenschaft
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samen Ziele, die sie verfolgen. Der Wunsch, die Kluft, die seit Jahrhunderten zwischen Religion und Philosophie besteht, zu überbrücken, besteht offenbar, aber die Mittel, die man zu dieser Überbrückung vorschlägt, zeigen, daß man sich auf falschem Wege befindet. So sieht man die Philosophen, besonders in Deutschland, bestrebt, den öffentlichen Geist mit der Religion auszusöhnen, in der Überzeugung, daß es ihre erste Pflicht sei, die Hindernisse fortzuräumen, welche die moderne Wissenschaft dieser Aussöhnung angeblich in den Weg legt! Diese Hindernisse aber sind völlig imaginär. Die durch die Unwissenheit der einen, durch den Fanatismus und die Böswilligkeit der andern künstlich gezogenen Schranken zwischen Wissenschaft und Religion sind rein illusorisch. Die Resultate der genannten Umfrage zeigen im Gegenteil, daß die wahren Naturforscher in völliger Harmonie mit den Offenbarungsreligionen, insbesondere mit dem Christentum leben. Der wahre Weg, auf dem die Philosophie selbst zur Religion zurückkehren kann und soll, und auf dem sie vor allem den verirrten Geist des Publikums zu ihr zurückleiten muß, ist der Weg der Wissenschaft, den wir schon in unseren früheren Werken kurz angedeutet haben. (Siehe „ D a s O h r l a b y r i n t h als O r g a n der m a t h e m a t i s c h e n S i n n e f ü r R a u m u n d Z e i t " und auch „ L e i b , S e e l e u n d G e i s t " , Pflügers Archiv, 1909). Die definitive experimentelle Feststellung der großen und entscheidenden Bedeutung des Geistes als der am meisten charakteristischen Eigentümlichkeit des Menschen, die zwischen ihm und der Tierwelt eine absolute. Scheidewand bildet, die durch keinerlei Transformationen und Evolutionen weggeschafft werden kann, erklärt, warum der Geist den Menschen zu Gott führen muß. Ja noch mehr, er muß ihn zum Christentum führen. Die christliche Religion ist die erste, welche die religiöse Bedeutung des Geistes, seinen göttlichen Ursprung und seine Unsterblichkeit ausdrücklich anerkannt hat. Der Apostel P a u l u s war es, der in seinen Briefen an die Korinther diese Rolle des menschlichen Geistes zuerst präzisiert hat: „Es wird gesäet ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib" „Wie es geschrieben stehet: Der erste Mensch, Adam, ward zu einer lebendigen Seele, und der letzte Adam zum Geist, der da lebendig macht. Aber der geistliche Leib ist nicht der erste, sondern der natürliche, darnach der geistliche." (Korinther I, 15, 44—46. Übersetzung von L u t h e r ) .
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Leib, Seele und Geist
Der Kirchenvater A u g u s t i n u s hat in seinem Sendschreiben an die Manichäer schon den Titel „Leib, Seele und Geist" benutzt, den ich an die Spitze des vorigen Kapitels gestellt habe. A r i s t o t e l e s , der Begründer der Psychologie, war es, der den Nus zuerst hervorgehoben und seinen Ursprung sowie die Art und den Moment seines Erscheinens im Embryonalleib des Menschen richtig erkannt und beschrieben h a t : . . „während A r i s t o t e l e s aufs bestimmteste leugnet, daß im Samen und sogar noch im befruchteten Keim in den ersten Stadien der Entwicklung irgend eine Seele, sei es die vegetative, sei es die sensitive, sei es die intellektive, sich finde, und von der intellektiven behauptet, daß sie, die der eigentliche Zweck sei, auf welchen der ganze Erzeugungsprozeß abziele, zuletzt als Abschluß der Entwicklung von dem Fötus empfangen werde. Von diesem Augenblicke an hat der Fötus die spezifisch menschliche Natur gewonnen und ist Mensch geworden." 1 Die erste Differenzierung von Leib, Seele und Geist rührt also von A r i s t o t e l e s her. Wenn die Scholastiker, mit T h o m a s v o n A q u i n o an der Spitze, sich der A r i s t o t e l i s c h e n Lehre so eng angeschlossen haben, so geschah dies hauptsächlich seiner genialen Psychologie wegen. In der Kosmogonie konnte und mußte A r i s t o t e l e s i r r e n , weil ihm eben die Methoden und Mittel fehlten, um durch sinnliche Erfahrung den Wert seiner Intuitionen zu kontrollieren. In der Psychologie dagegen haben ihn seine Intuitionen nie irre geführt, weil er hier, vom Geiste geleitet, seine eigenen seelischen Funktionen beobachten konnte. Die größten Naturforscher des letzten Jahrhunderts haben die Bedeutung dieses Geistes richtig erkannt und gewürdigt. K a r l E r n s t v o n B a e r hat in seinen meisterhaften Reden über Zielstrebigkeit im gleichen Sinne wie früher L e i b n i z die Entelechien des Aristoteles zu Ehren gebracht. Er zitiert in einer dieser Reden mehrere glückliche Erörterungen und Beispiele, welche die wahre Bedeutung des Geistes so zu sagen ad oculos demonstrieren. Karl E r n s t v o n B a e r erteilte bei dieser Gelegenheit d e n w o h l d u r c h d a c h t e n R a t , n i e ü b e r d e n G e i s t m i t 1
Diese Worte sind dem schönen Werke von F r a n z B r e n t a n o , („Aristoteles' Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes", Veit & Comp., 1911, S. 58) entnommen. Von allen Kommentatoren des Aristoteles hat B r e n t a n o am richtigsten dessen Grundgedanken über den Geist verstanden und erläutert.
Die Rückkehr zu Oott durch die Wissenschaft
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L e u t e n zu d i s k u t i e r e n , die s e i n e E x i s t e n z l e u g n e n und zwar a u s dem e i n f a c h e n G r u n d e , weil sie selbst keinen besitzen. Von den Physiologen hat zuerst der geniale P f l ü g e r die Bedeutung des A r i s t o t e l i s c h e n N u s in seiner ganzen Tragweite erkannt. Seinen Ursprung und seinen Eintritt in den Embryo faßt er fast genau im gleichen Sinne wie F r a n z B r e n t a n o auf. Als hervorragender Embryologe und Psychologe hat P f l ü g e r auch die Verknüpfung der Frage vom Ursprung des Geistes mit dem Problem von der Zweckmäßigkeit der Lebenserscheinungen richtig erkannt. 1 Er hat meine D i f f e r e n z i e r u n g von L e i b , S e e l e und G e i s t mit großer Freude begrüßt. . In meinem Nachruf auf P f l ü g e r (Archiv, Bd. 132) habe ich hervorgehoben, daß seine religiösen Überzeugungen mit seiner Verehrung des A r i s t o t e l e s und dessen Entelechien, sowie mit der Rolle des dem Menschen allein zukommenden Geistes im Zusammenhange stand. 2 Man kann leidet den meisten Psycho-Physiologen in diesen Grundproblemen der Biologie nicht die gleiche Weitsichtigkeit nachsagen, wie K a r l E r n s t v o n B a e r , P f l ü g e r und einigen SinnesPhysiologen. Von den Philosophen hat allein F r a n z B r e n t a n o 3 seine Psychologie, dem damaligen Stande der Physiologie entsprechend, auf streng wissenschaftlichen Boden gestellt. Mit Recht habe ich schon den Namen des A r i s t o t e l e s an die Spitze des dritten Kapitels meiner neuen wissenschaftlichen Psychologie gestellt; geschichtlich gebührt ihm in der Psychologie der erste Platz, schon wegen seiner richtigen Erkenntnis des Gehörorgans als des wichtigsten aller menschlichen Sinne. Thomas v o n A q u i n o , der gewaltigste Nachfolger des A r i s t o t e l e s , hat dieses intellektuellste aller Sinnesorgane auch in seiner Beziehung zu Gott richtig erkannt. Der griechische Monismus ist durch die A r i s t o t e l i s c h e Lehre vom Geiste, besonders durch deren wissenschaftliche Bestätigung 1
Archiv für die gesarate Physiologie von P f l ü g e r , Bd. 15. „Die teleologische Mechanik der lebendigen Natur." 5 Siehe darüber auch den ersten Band von G o t t u n d W i s s e n s c h a f t , Kap. III, § 3. 3 Leider ist nur der erste Band von B r e n t a n o s Psychologie erschienen.
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Leib, Seele und Geist
und Erweiterung definitiv beseitigt, als einer der verhängnisvollsten Irrtümer der Philosophen. Seit A r i s t o t e l e s und den ihm folgenden scholastischen Philosophen bis auf D e s c a r t e s und L e i b n i z haben sämtliche schöpferische Denker und Naturforscher dem Dualismus gehuldigt. Hoffentlich wird er von nun an, sowohl in der Philosophie wie in der Physiologie, die Alleinherrschaft bewahren. Ein Blick auf die vollständige Sterilität der Bücher und Schriften der modernen Psychologen wird endlich den Philosophen und Biologen die ganze Vergeblichkeit ihres Vorhabens aufdecken, auf materialistischen Grundlagen eine Psychologie des Menschen zu schaffen. Die Rückkehr zu Gott durch die Wissenschaft bedarf in erster Linie der Beihilfe einer auf dem festen Boden der exakten Wissenschaften stehenden Psychologie des Menschen. Der alte Satz der Materialisten lautet: „ N i h i l est in i n t e l l e c t u , q u o d n o n f u e r i t p r i u s in s e n s u " . L e i b n i z hat diesen Satz modifiziert und wesentlich verbessert: „Nihil est in intellectu, quod non fuerit prius in sensu, n i s i i p s e i n t e l l e c t u s " . In dieser Form hat K a n t und mit ihm so ziemlich sämtliche moderne Philosophen den Satz von L e i b n i z angenommen. Dieser Satz war aber nur ein Notbehelf: ein Inhalt kann sich n i c h t s e l b s t enthalten. Bei dem jetzigen Stande der wissenschaftlichen Differenzierung von Leib, Seele und Geist muß der Satz folgendermaßen lauten: „Nihil est in intellectu, quod non fuerit prius in sensu, seu in s p i r i t u " . Der Satz, der sich mir am Schlüsse meiner Differenzierung von Leib, Seele und Geist aufdrängte: „Der Schöpfer herrscht und sein Geist regiert", erlangt auf diese Weise seine wahre Bedeutung in der neuen wissenschaftlichen Psychologie.
Nachtrag. Der neuste Stand der Abstammungslehre des Menschen. Die unerbittliche Strenge, mit welcher die Haeckelsche Lehre von der Abstammung des Menschen im Kapitel II des ersten Bandes von »Gott und Wissenschaft" zurückgewiesen wurde, hat manche oberflächlichen Leser meines Buches, die im treuen Glauben an die
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und Erweiterung definitiv beseitigt, als einer der verhängnisvollsten Irrtümer der Philosophen. Seit A r i s t o t e l e s und den ihm folgenden scholastischen Philosophen bis auf D e s c a r t e s und L e i b n i z haben sämtliche schöpferische Denker und Naturforscher dem Dualismus gehuldigt. Hoffentlich wird er von nun an, sowohl in der Philosophie wie in der Physiologie, die Alleinherrschaft bewahren. Ein Blick auf die vollständige Sterilität der Bücher und Schriften der modernen Psychologen wird endlich den Philosophen und Biologen die ganze Vergeblichkeit ihres Vorhabens aufdecken, auf materialistischen Grundlagen eine Psychologie des Menschen zu schaffen. Die Rückkehr zu Gott durch die Wissenschaft bedarf in erster Linie der Beihilfe einer auf dem festen Boden der exakten Wissenschaften stehenden Psychologie des Menschen. Der alte Satz der Materialisten lautet: „ N i h i l est in i n t e l l e c t u , q u o d n o n f u e r i t p r i u s in s e n s u " . L e i b n i z hat diesen Satz modifiziert und wesentlich verbessert: „Nihil est in intellectu, quod non fuerit prius in sensu, n i s i i p s e i n t e l l e c t u s " . In dieser Form hat K a n t und mit ihm so ziemlich sämtliche moderne Philosophen den Satz von L e i b n i z angenommen. Dieser Satz war aber nur ein Notbehelf: ein Inhalt kann sich n i c h t s e l b s t enthalten. Bei dem jetzigen Stande der wissenschaftlichen Differenzierung von Leib, Seele und Geist muß der Satz folgendermaßen lauten: „Nihil est in intellectu, quod non fuerit prius in sensu, seu in s p i r i t u " . Der Satz, der sich mir am Schlüsse meiner Differenzierung von Leib, Seele und Geist aufdrängte: „Der Schöpfer herrscht und sein Geist regiert", erlangt auf diese Weise seine wahre Bedeutung in der neuen wissenschaftlichen Psychologie.
Nachtrag. Der neuste Stand der Abstammungslehre des Menschen. Die unerbittliche Strenge, mit welcher die Haeckelsche Lehre von der Abstammung des Menschen im Kapitel II des ersten Bandes von »Gott und Wissenschaft" zurückgewiesen wurde, hat manche oberflächlichen Leser meines Buches, die im treuen Glauben an die
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Nachtrag
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Unfehlbarkeit des Monismus lebten, sehr unangenehm überrascht. Sie wollten in dieser Strenge und in der Offenheit meiner Sprache durchaus persönliche Motive wittern. Daß dies nicht im entfernsten der Fall war, davon hätten sie sich durch ein aufmerksames Lesen des betreffenden Kapitels leicht überzeugen können. Der Kampf der Wissenschaft gegen den H a e c k e l i s m u s ist der Titel des Kapitels; aber die strengsten Verurteilungen des H a e c k e l i s m u s stammen nicht von mir, sondern von den zahlreichen, fast ausschließlich deutschen Naturforschern, die in den letzten vierzig Jahren, im Interesse der wissenschaftlichen Wahrheit und der Würde der Naturforschung, die haltlosen und meistens sinnlosen Hypothesen der Abstammung des Menschen vom Affen unaufhörlich bekämpft haben. Diese Verurteilungen habe ich sämtlich im Originaltext wiedergegeben, gleichgültig ob sie V i r c h o w , K a r l E r n s t v o n B a e r , W i l h e l m H i s , K a r l Vogt, R ü t i m a y e r , C h w o l s o n oder anderen berühmten Forschern entnommen wurden. In den zahlreichen polemischen Schriften gegen den H a e c k e l i s m u s , die ich seit 1877 in russischen und französischen Zeitschriften veröffentlicht habe, folgte ich immer dieser rein objektiven kritischen Methode. Wenn die Lehre von der A f f e n a b s t a m m u n g d e s M e n s c h e n sich als u n b e w i e s e n , p h a n t a s t i s c h und u n w i s s e n s c h a f t l i c h ergab, so war dies nicht mein eignes Verdienst, sondern das der eben genannten Forscher. Wer die Veröffentlichungen über die Abstammung oder Herkunft des Menschen in den letzten Jahren verfolgt hat, der wird den Umschwung, der sich auf diesem Gebiete vollzogen hat, leicht erkennen. Die einsichtsvollen und tonangebenden Forscher haben sich vollständig von den Jenenser Fesseln emanzipiert, und einer nach dem anderen hat den alten Standpunkt verlassen. Früher erachtete man die Lehre von der Affenabstammung des Menschen als k e i n e s w e g s e r w i e s e n ; 1 jetzt sind unzählige wissenschaftliche Beweise angehäuft worden, die diese Abstammung g e r a d e z u widerlegen. Auch hier wollen wir mit Zitaten aus den Schriften der hervorragendsten unter den modernen Anthropologen vorgehen. Das Werk von dem holländischen Anthropologen K o h l b r ü g g e 1 über die 1
K o h l b r ü g g e : »Die morphologische Abstammung des Menschen". Kritische Studien über die neueren Hypothesen, Stuttgart 1908.
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körperliche Abstammung des Menschen gelangt zu folgenden Schlüssen: »Die Grundleger der Deszendenz- oder Selektionshypothese haben geglaubt, mit Siebenmeilenstiefeln einen Weg zurücklegen zu können, der wohl noch Jahrhunderte'eifrigsten Forschens bedarf . . . Die ältere, allzu abgerundete Darstellung (die von D a r w i n - H a e c k e l ) wirkte geisttötend, sie war in mancher Hinsicht despotisch . . . Die obigen Zusammenstellungen werden wohl jeden, der noch in solchen Auffassungen unbefangen ist, überzeugen können, daß wir eigentlich noch nichts Sicheres von dem großen Problem der Evolution wissen. Alles muß von neuem aufgebaut werden." Was wir heute mit Sicherheit vom fossilen Menschen wissen, das spricht g e g e n die Affenabstammung. Einer der eifrigsten Gegner H a e c k e l s , der ihn schon seit Jahrzehnten schonungslos bekämpft, hat im Jahre 1892 diesen Umschwung in der Lehre von der Abstammung des Menschen vorausgesehen; das war der Zoologe O t t o H a m a n n , der in seiner Schrift: „Entwicklungsgeschichte und Darwinismus" sich mit Entschiedenheit zugunsten einer p o l y p h y l e t i s c h e n Entwickelung der Tiere und nicht einer m o n o p h y l e t i s c h e n aussprach. Der bedeutendste jetzige Embryologe, O s k a r H e r t w i g , steht jetzt auf diesem Standpunkt. 1 Professor K l a a t s c h 2 sagt: „Die ältesten Funde zeigen uns heute keine Menschen, die von affenähnlichen Vorfahren hergeleitet werden könnten, sondern Menschen, wie wir selbst sind. Wäre die Affentheorie richtig, so müßten ja alle Skeletteile desto affenähnlicher sein, aus je älteren Schichten sie stammen. Gerade das Gegenteil ist aber der Fall. Die Skelettreste zeigen keine spezifische Tierähnlichkeit; die fossilen Menschenreste verraten keine Annäherung an die Affen im H a e c k e l s c h e n Sinne. Der anthropoide Affe ist aus der Reihe der Vorfahren des Menschen zu streichen." Das Hauptergebnis der Forschungen von K l a a t s c h ist, daß die ältesten Skelettreste des Menschen uns Menschen zeigen, wie wir selbst sind. Zwischenglieder zwischen Mensch und Tier, zwischen Mensch und Affe sind niemals gefunden worden. Der Altmeister der Anthropologie, J o h a n n e s R a n k e , und neuestens noch B r a n c a , 1 Die „Entwicklung der Biologie im XIX. Jahrhundert." Jena 1908. * K l a a t s c h : „Die Stellung des Menschen in der Primatenreihe". Korrespondenzblatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, 1899, S. 33. Zeitschrift für Ethnologie, 1909, S. 41.
Nachtrag behaupten dies mit Bestimmtheit. Das Werk von J o h a n n e s R a n k e „Der Mensch", von dem jetzt (1912) in Leipzig die 3. Auflage erschien, ist allbekannt, ich brauche es hier wohl nicht zu zitieren. Dagegen kann ich der Versuchung nicht widerstehen, aus dem Werke des Berliner Anthropologen B r a n c a folgendes anzuführen: „Der Gottesgedanke, der Gedanke an einen geistigen Inhalt der Welt, braucht also niemand zu hindern, voll und ganz ein Naturforscher zu sein und jede alte wie neu gefundene naturwissenschaftliche Tatsache oder Konsequenz aus derselben, sowie jedes Naturgesetz als selbstverständlich anzuerkennen. Es ist ein Märchen, daß ein Naturforscher notwendig Atheist sein müßte." 1 1 B r a n c a , „Der Stand unserer Kenntnisse vom fossilen Menschen." Leipzig, Veit