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German Pages 596 Year 2004
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER
BAND 105
TINA HARTMANN
Goethes Musiktheater Singspiele, Opern, Festspiele, >Faust
Alceste< 4.2. Zu Goethes Kritik an Wielands >Alceste
Erwin und ElmireClaudine von Villa BellaLila< - ein Festspiel 4.1. Handlung und Struktur der beiden Spätfassungen . . . . 5. Das Melodrama 5.1. Entwicklung des Melodramas 5.2. >Proserpina< und >Der Triumph der Empfindsamkeit . . 6. Goethe und die opera buffa I 7. >Jery und Bätely< 7.1. Handlung und dramatische Struktur 7.2. Die Italienische Fassung 7.3. Goethes Briefe an Kayser - eine erste Poetologie des Singspiels
27
59 61 68 70 79 82 84 91 95 99 101 103 104 112 114 VII
7·4·
IV. V.
>Jery und Bätely< - Gelegenheitswerk oder musikdramatischer Idealtypus? 8. Exkurs: Zu Goethes Liedästhetik 9. >Die Fischerin< - Goethes Konzeption eines Liederspiels . . . 9.1. Handlung und dramatischer Struktur 10. Der Themenkreis der frühen Singspiele
123 124 126 128 131
Exkurs: Das Musiktheater in den Schauspielen
135
Die erste Oper
139
ι. Exkurs: Die Genese der italienischen komischen Opernformen Intermezzo und opera buffa 2. Goethe und die opera buffa II 3. >Scherz, List und Rache< 3.1. Briefwechsel Goethe-Kayser 3.2. Handlung und Struktur
139 148 155 155 168
Die opera buffa
185
ι. Goethes erste opera buffa: >Die Ungleichen Hausgenossen< . . i . i . Dramatische Struktur 2. Musiktheater im Spiegel der italienischen Reise< 3. Goethes Umarbeitungen der Singspiele unter dem Einfluß der italienischen opera buffa 3.1. >Claudine von Villa Bella< 3.2. >Erwin und Elmire< 3.3. Die Italienischen Fassungen: Primat des Textes versus Autonomie der Musik? 4. Die reine Opernform als die günstigste aller dramatischen: >Die Mystifizierten (>Groß-CophtaDer Zauberflöte zweyter Theil< 3.1. Handlung und dramatische Struktur
257 259 265
VI.
VIII
217 225 234 238
270 273 279 283 293 299 302
IX.
X. XI.
Die Oper als episches Drama
315
ι. Der Goethe-Schiller-Briefwechsel 2. Die Oper als episches Drama
315 324
Exkurs: >Rameaus Neffe
Faust I
Faust I< 2.1. >Nacht< 2.2. >Vor dem Tor< 2.3. >Studierzimmer< 2.4. >Auerbachs Keller< 2.5. >Hexenküche< 2.6. >Abend< 2.7. >Gretchens Stube< 2.8. >Zwinger< 2.9. >Nacht< 2.10. >Dom< 2 . 1 1 . >Kerker< 3. Die Lieder der Gretchentragödie 4. >Walpurgisnacht 5. Das Musiktheater >Faust I< 5.1. Die Chöre 6. Das Intermezzo >Walpurgisnachtstraum< - die Keimzelle des zweiten Teils 6.1. Die Genese allegorischer Verhältnisse - und deren Herkunft aus dem Musiktheater 7. Die Verfahrensweisen der Oper als Folie des Schauspiels >Faust
Proserpina< um 1815
407
XIII.
>Faust I< - Aufführungsversuche
411
XIV.
Goethes Festspielkonzeption
417
ι . >Pandora< 2. >Des Epimenides Erwachen
Der Löwenstuhl< und >Feraddedin und Kolaila
Faust II
Anmutige Gegend
Mummenschanz< 3.1. Vom Maskenzug zur >Mummenschanz< 4. »Klassische Walpurgisnacht« 4. ι. >Felsbuchten des ägäischen Meeres< 4.2. Das dramma eroicomico per musica als Integrationsmodell »klassischer Bildung< 5. Der Helena-Akt: Eine klassisch-romantische Oper 6. Musik als dritte Dimension: Mdodramatik und Zwischenmusiken im vierten Akt 7. Das lieto fine in >Bergschluchten
FaustZauberflötekomparatistischen GrenzgebietesWalpurgisnachtstraum< und größere Passagen des zweiten Teils, deutliche Affinität zum Musiktheater des 17. und frühen 18. Jahrhunderts aufweisen, insbesondere zu den semioperas Henry Purcells >King Arthur< und >The Fairy QueenFaust< am Ende als das letzte und sicherlich folgenreichste der Goetheschen Werke für das Musiktheater erweist, dessen Traditionen und Poetologie er in hohem Maße verpflichtet ist. Die ursprüngliche Konzeption der Untersuchung sollte sich auf eine Analyse der Faustdichtung in ihren Bezügen zu Goethes Ästhetik des Musiktheaters und vor dem Horizont der zeitgenössischen Einflüsse beschränken. Allerdings erwies 4 5
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Thomas Bauman: North German Opera in the Age of Goethe. Cambridge 1985. Benedikt Holtbernd: Die dramaturgischen Funktionen der Musik in den Schauspielen Goethes. Frankfurt a.M. 1992. Wie Steven Paul Scher in seinem fundamentalen Sammelband: Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Berlin (West) 1984.
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sich Goethes späte Ästhetik des Musiktheaters bald als nur vor dem Horizont der frühen und mittleren Werke und Reflexionen rekonstruierbar, weshalb der Gegenstandsbereich auf Goethes gesamtes musiktheatralisches Werk ausgedehnt werden mußte, obgleich insbesondere für die frühen Singspiele bereits Untersuchungen vorliegen. 7 Denn erst die genaue Untersuchung von Goethes Musiktheater in seiner Gesamtheit und dessen Verfahrensweisen erschließt das analytische Instrumentarium, mit dem der bedeutsame Einfluß des Musiktheaters, insbesondere der Oper auf die Faustdichtung (auf den die Mehrzahl der Faustkommentare verweist) 8 erstmals verifiziert und in seiner ganzen Bedeutungsvielfalt nachgewiesen werden kann. Für ein derart komplexes und umfangreiches Forschungsgebiet kann die vorliegende Arbeit noch keine abschließende Behandlung darstellen; sie versteht sich vielmehr als Anfang, der einen neuen und ausgesprochen fruchtbaren Blickwinkel auf Goethes Werk eröffnen soll. Zu diesem Ziel ist neben der Sichtung 9 des gesamten mit dem Musiktheater verknüpften Werkes eine streng chronologische Gliederung der Untersuchung erforderlich, die alleine die konstanten Paradigmen innerhalb des beständigen Wandels transparent werden läßt. Daß den Einzelwerken dabei keine abschließende Interpretation zukommen kann, liegt in der Natur eines solchen Ansatzes. Insbesondere die Untersuchung der Faustdichtung fokussiert die Aspekte des Musiktheaters und ihre Folgen für die Interpretation der Szenen. Während für >Faust I< dabei eine enge Verflechtung von Musik· und Sprechtheater diagnostiziert werden kann, die durch die zeitgenössische Rezeption und Goethes eigene Inszenierungsversuche zusätzlich bestätigt wird, erweist sich das Musiktheater und insbesondere die Oper für den zweiten Teil des >Faust< nicht nur als konstitutive Gattung, sondern erschließt zudem völlig neue Ergebnisse für die Interpretation der Dichtung.
1 Vgl. S. 20. 8 Vgl. S. 23-24. ' U m einen praktikablen Umfang der Untersuchung zu erhalten, mußte auf die Besprechung der kleineren Werke für das Musiktheater leider verzichtet werden: >Concerto Dramaticcx, und >Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern< werden nicht gesondert untersucht und auch die Maskenzüge für das Weimarer Hoftheater können nur in ihren Bezügen zu >Des Epimenides Erwachen< und >Faust< behandelt werden. Ebenso fehlen ausführliche Besprechungen von Goethes Kantaten >Rinaldo< und zum Reformationstag, die ebenfalls mit Goethes Konzeptionen für das Musiktheater, insbesondere seiner Vorstellungen vom Oratorium, im Zusammenhang stehen.
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Zur Zitierweise: Goethes Werke und Selbstzeugnisse sowie die Gespräche mit Eckermann werden in der Regel nach der Frankfurter Goethe-Ausgabe (FA) zitiert. In F A nicht enthaltene Texte (z.B. einige in diesem Zusammenhang sehr wesentliche Briefe) werden nach der Weimarer Ausgabe (WA) zitiert. Einzige Ausnahme bilden die Briefwechsel Goethe-Schiller und Goethe-Zelter, die weder in F A noch in W A als vollständige Komplexe vorliegen. Im Dienste einer optimalen Benutzbarkeit dieser Arbeit werden sie nach der Münchner Ausgabe (MA) zitiert.
ι.
Methodik
i . i . Das Libretto als Forschungsgegenstand Der Text einer Oper gehört unter die Dichtungsarten, welche sehr schwer zu beurtheilen sind [...]. Man hat sie in Bezug auf Musik, den Componisten, die Bühne, das Publikum zu betrachten, ja sogar auf kurz vorher gegebene und andere bekannte Opern Rücksicht zu nehmen. 10
Die Librettoforschung steht, trotz verstärkter Bemühungen besonders seit den 70er Jahren, noch immer am Beginn ihrer Fachgeschichte. Während jedoch Klaus Günther Just 1976 das Opernlibretto noch als »unbekannte literarische Größe« 1 1 beschreiben konnte, und Calvin S. Brown ihm eine »fatal attraction for the dilettante, the faddist and the crackpot« 12 bescheinigte, hat sich inzwischen zumindest von Seiten musikologischer und komparatistischer Forschung die Position durchgesetzt, wonach das Libretto unabhängig von seinen Vertonungen einen legitimen Forschungsgegenstand darstellt. Die teilweise stiefmütterliche Behandlung des Librettos als Gattung der Kunst durch Musikologie und vor allem die Literaturwissenschaft, wie sie nicht nur die ältere Forschung immer wieder beklagt, 13 bedient sich zur Rechtfertigung des immer wiederkehren10
Goethe am 7 . 1 0 . 1 8 1 2 an Fürst von Lobkowitz. W A IV, Bd. 23, S. 1 1 0 - 1 1 1 . " Klaus Günther Just: Marginalien. Probleme und Gestalten der Literatur. München, Bern 1976, S. 27. " Calvin S. Brown: Comparative Literature. In: Georgia Review X I (1959), S. 175. ,J Vgl. Albert Gier: Oper als Text. Romanistische Beiträge zur Libretto-Forschung. Hrsg. von Albert Gier. Heidelberg 1986, S. 10. Vgl. außerdem Just (1976), S. 27-30; Ulrich Weisstein: Librettology: The Fine Art of Coping with a Chinese Twin. In: Komparatistische Hefte 5/6 (1982), S. 23-24; Arthur Groos and Roger Parker: Reading Opera. Ed. A r thur Groos and Roger Parker. N e w Yersey 1988, S. 1 - 2 ; Dieter Borchmeyer: >LibrettoFidelioZauberflöteMetastasio< in: Smith (1971), S. 74-100, außerdem: M G G , >LibrettoMetastasio< in: Smith (1971), S. 74-100, außerdem: M G G , >LibrettoAlceste Smith (1971), S. 73.
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zer in sein Tagebuch: »Ich wenigstens wüßte keinen jetzt lebenden Dichter, der mit Metastasio in die Schranken treten könnte«.26 Quinaults Libretti für die tragédie lyrique hatten »bis ins 18. Jh. ein durchaus mit dem Ansehen der Tragödien Racines vergleichbares Renommee«.27 Voltaires Libretti waren ausgesprochen einflußreich, nicht zuletzt auf Goethes >PandoraGhettoisierung der Librettisten< bezeichnet,32 sieht er ein Ergebnis der Romantisierungsbewegung im 19. Jahrhundert, deren Abwertung des Operntextes dialektisch mit der Aufwertung der (absoluten) Musik durch die Kunsttheorie der Romantik verbunden ist.33 Smith bemüht sich, die zumeist als Hindernis für gute Texte interpretierten Zwänge der Librettistik retrospektiv positiv zu wenden: »To consider the librettist merely a poet is to denigrate his function in the creation of an opera, for [...] [he] supplied the original, motive force for the composition of the opera and created the dramatic node around which the final work was constructed.«34 Demnach ist der Librettist nicht in erster Linie als ein in seiner Kunst beschnittener Dichter zu betrachten, sondern im Gegenteil mit weitreichenden Zusatzkompetenzen ausgestattet: »he is at once a dramatist, a creator of word, verse, situation, scene, and character, and - this is of vital importance - an artist who [...] can often visualize the work as a totality more accurately than the composer.«35 26
Zitiert nach: M G G , »Libretto«, S. 1 1 1 7 . Ebenda. 28 Vgl. F A I , Bd. 6, S. 1235. 2 » Vgl. S. 208. 30 Vgl. Bauman (1985), S. 1 5 0 - 1 5 2 . 31 M G G , >LibrettoDer Dichter und der Komponist, »der Operndichter müsse, dem Dekorationsmaler gleich, das ganze Gemälde nach richtiger Zeichnung, in starken, kräftigen Zügen hinwerfen«42 und »es würde hinlänglich sein, die Situation nur auf edle und kräftige Weise anzudeuten.«43 Mit dem sze36
Gier (1988), S.6. Vgl. Smith (1971), S.xxi. 38 Nach Gier (1988: S. 25) ist die Deutung des Begriffs in der Forschung nicht abschließend geklärt: Strittig ist insbesondere, ob der Begriff eine Qualität des Librettos alleine oder die Anlage des Librettos im Vorgriff auf die künftige Vertonung, also im Endeffekt erst des vollständigen Kunstwerks aus Wort und Musik, beschreibt. Festgehalten werden kann jedoch die ausdrückliche Intention sowohl einer prägnanten Begrifflichkeit in der Sprachwahl als auch szenischer Prägnanz des gesamten Librettos. Diese Annahme wird von Harald Frickes Untersuchung >Schiller und Verdi. Das Libretto als Textgattung zwischen Schauspiel und Literaturoper< bestätigt, der diese Tendenzen für die Umgestaltung von Schillers Schauspielen durch Verdis Librettisten nachgewiesen hat. In: Fischer (1985), S.95-116. 3 ' Weisstein (1982), S.29. 40 Gier (1988), S.7-8. 41 Just (1976), S.30. 42 E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder, Bd. 1, München 1963, S.92. 43 Ebenda, S. 94. 37
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nisch-pantomimischen und damit visuellen Element verschafft sich das Libretto gewissermaßen >GesichtGehör< nimmt. Carl Dahlhaus geht so weit, die Eignung eines Textes als Literaturoper (-text) davon abhängig zu machen, daß er »statt von den Zufällen der Verständlichkeit oder Unverständlichkeit des Textes abzuhängen, in jedem Augenblick pantomimisch sinnfällig und faßlich sein müsse.«44 Daraus ergibt sich zwar nicht zwingend, aber fast zwangsläufig die Neigung der Oper zur Ritualisierung ihrer Handlungen45 und zu mythischen Stoffen. Im Gegensatz zum Trauerspiel, das im Barock den historischen Menschen und später einen individuellen Konflikt darstellt, zielt die Oper auf allgemeine Konflikte und auf nichts weniger als die Totalität der Weltzusammenhänge:46 »In mythologischer Abbreviatur liefert das Opernlibretto des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts Schau-Bilder der menschlichen Existenz schlechthin.«47 Wie schwer, um nicht zu sagen unmöglich es ist, im Medium der Oper eine emotional differenzierte Privatgeschichte zu erzählen, mußte Wieland mit seiner >Alceste< und Goethes spitzer Satire in >Götter, Helden und Wieland< schmerzlich erfahren. Selbst die opera buffa, gemeinhin als Sieg des bürgerlichen Theaters in der Oper gefeiert, bedient sich zur Darstellung des Privaten zunächst typisierter Verfahrensweisen in der Tradition der commedia dell'arte. Tatsächlich bildet die Oper die zentrale und populäre Vermittlungsquelle antiker Mythologie im 18. Jahrhundert48 und darüber hinaus: »Eine Geschichte des Nachlebens der Antike zu schreiben, ohne die vorrangige Rolle des Opernlibrettos hervorzuheben, wäre kaum möglich«,49 wobei sie jedoch eher auf epische, denn dramatische Vorbilder zurückgreift.50 Es ist also kein Zufall, wenn Goethe für die enzyklopädische Darstellung antiker Bildung in >Klassische Walpurgisnacht gerade Verfahrensweisen der Oper verwendet. Das Libretto bei literaturgeschichtlichen Untersuchungen außer acht zu lassen, heißt nach Borchmeyer denn auch, seine »eminente Bedeutung 44
In: Zur Dramaturgie der Literaturoper. Zitiert nach Weisstein (1982), S. 29. Ebenda. 46 Just (1976: S. 33) zieht zum Vergleich den begrenzten Raum des barocken Trauerspiels heran, das symptomatisch oft im Kerker endet und kontrastiert es mit der Oper: »Hier öffnet sich der umbaute Raum. Ein großer Raum wird sichtbar: das weite Land, das wogende Meer, der gestirnte Himmel. Nicht um die Existenz des geschichtlich gebundenen Menschen geht es, sondern um das ungebundene, in sich ruhende Dasein der Elemente.« 45
" J u s t (1976), S.37. Vgl. Ruth Zinar: The Use of Greek Tragedy in the History of Opera. In: Current Musicology X I I (1971), S. 80-95. 4 » Vgl. M G G , >Libretto° Just (1976), S.29-30.
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als Traditionsträger nicht nur theatralischer Strukturen und Topoi, sondern auch allgemeinen Kulturwissens« zu verkennen. 51 Das Opernlibretto ist zumal die große Brücke, die über den Kontinuitätsbruch im 18. Jh., welcher die Moderne einleitet, hinwegführt und manches an verdrängten Traditionen fortsetzt [...]. Das gilt vor allem für das Nachleben des antiken Mythos, der im Opernlibretto einen seiner wichtigsten Vermittler gehabt hat, ferner für das Fortwirken der tragischen Affektenlehre, der Auffassung des Theaters als Pathos- und Erschütterungskunst, im Musiktheater, das der Tragödie im wirkungsästhetischen antik-humanistischen Sinne ein Fortleben sicherte, während sie auf der Schauspielbühne mehr und mehr zum Anachronismus wurde, und generell für die Tradition des emblematischen, mythologisch-allegorischen Theaters, das durch die zunehmend mimetisch-realistisch orientierte Dramaturgie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Mißkredit geraten ist.' 2
Gerade über die anti-mimetischen Qualitäten der Oper sowie ihre Eignung zum Pathos reflektiert Schiller gegenüber Goethe bei ihrer Suche nach einer adäquaten Dramenform nicht nur für >FaustLibretto2 [sie!] Ebenda, S . 1 1 1 8 . » Im Brief vom 29. Dezember 1797. M A , Bd. 8.1, S.478. 54 Carl Dahlhaus: Die Musik des 19. Jahrhundert. Laaber 1989 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, 6), S. 308. » V g l . Gier (1988), S . u . ' 6 Den teilweisen Widerspruch dieser Beobachtung zur Definition von Carl Dahlhaus, wonach »Die Substanz einer Oper das Sichtbare, nicht das Erzählbare« ist, erklärt er damit, daß Dahlhaus erklärtermaßen den Operntypus des 19. Jahrhunderts als Idealtypus betrachtete. Vgl. Gier (1988), S. 12. 57 Gier (1988), S.14.
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tung.«' 8 Borchmeyer sieht zudem einen Zusammenhang zwischen der epischen Struktur der Oper, die sich in der Dissoziation von Spielzeit und gespielter Zeit ausdrückt, und ihrer Affinität zu epischen Stoffen: »Nicht zuletzt deshalb stößt die Transformation einer epischen Dichtung in eine Opernhandlung häufig auf weniger dramaturgische Probleme als die eines Schauspiels.«59 Ein Phänomen, dem im Zusammenhang mit dem Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller über epische und dramatische Dichtung und >Faust< ein eigenes Kapitel gewidmet werden soll. Oper und Drama sind mindestens im 17. und frühen 18. Jahrhundert so eng miteinander verzahnt, daß man die Bühnenproduktionen übergreifend als Musiktheater charakterisieren kann. Dies gilt für die barocken Fastnachtsspiele, die einen Nachklang in Goethes von Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach vertontem >Jahrmarktsfest zu Plundersweilern< finden, ebenso für das geistliche Jesuitendrama, die autos sacramentales Calderóns, Shakespeares und Drydens Dramen mit ihren Gesangseinlagen und den Schauspielmusiken Purcells und insbesondere Molières Komödien, die im Diskurs mit Lullys musikalischer Bearbeitung entstanden und nur mit ihnen vollständig sind. Die Operntraditionen der europäischen Länder bilden keine >Inseln< im Sprechdrama, sondern lediglich Kulminationspunkte gesungenen Musiktheaters, gegenüber dessen Umfang und Kontinuität das reine Sprechdrama der französischen klassizistischen Tragödie und seiner Nachahmungen eher als eine Ausnahmeerscheinung zu betrachten ist.60 Jörg Krämer faßt die Durchdringung von Oper und Sprechdrama im Bild einer gemeinsamen Achse, deren Enden auf der einen Seite von der Oper und auf der anderen vom Sprechtheater mit akzidentieller Musik markiert werden, die jedoch von einer Fülle von Zwischenformen verbunden sind und in beständiger gegenseitiger Wechselwirkung stehen.61 Aus dieser lebendigen und gesamteuropäischen Tradition musikalisch bearbeiteten Theaters und der ihr zugrundeliegenden Auffassung des Theaters als sprachliche und gesangliche Äußerung ist auch die Diskussion um eine adäquate Wiederbelebung der antiken Chortragödie durch Schiller und Herder zu verstehen, die ebenso wie Goethes lebenslange Bemühungen um eine Verbin!» Gier (1988), S. 10. " M G G , >LibrettoSchillers ChordramaVorspielDichtung und Wahrheit< erwähnten Anregungen. Alle genannten Arbeiten verweisen auf den Zusammenhang >Der Zauberflöte zwey ter Theil< mit dem zweiten Teil des >FaustFaustZauberflöte< als deren maßgebliche Qualität betont hat.79 Aus diesem Grund haben Komponisten wie Gluck, Salieri, E.T. A. Hoffmann und insbesondere Mozart massiven Einfluß auf ihre Librettisten genommen, bzw. an der Gestaltung der Libretti nach Kräften aktiv mitgewirkt. 80 Das Determinationspotential des Librettos für das Kunstwerk Oper, auf das u.a. Smith verweist, 8 ' macht sich aktuell auch die musikologische Opernanalyse zunehmend zunutze. 82 Die Untersuchung wird zeigen, daß Goethe diese Verfahrensweisen sogar noch über die zeitgenössische Praxis hinausgehend verdichtet. Die genaue Einzelanalyse der Goetheschen Li75
Ferdinand van Ingen: Goethes Singspiele. Literarischer Anspruch und Autonomie der Musik. In: Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Revolution. Hrsg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1990, S. 1 1 9 . 76 Elmar Bötcher hat in seiner noch immer ausgezeichneten Arbeit (Goethes Singspiele >Erwin und Elmire< und >Claudine von Villa Bella< und die >opera buffaDon G i o v a n n k Frankfurt a.M., Bern, N e w York, Paris 1989, S. 22-23. Vgl. S. 23-24. Vgl. Gier (1988), S. 19 und 155.
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Form und Inhalt der Gesangseinlage können konform gehen, oder sich in sinnstiftender Weise widersprechen, wobei die bloße Verwendung einer durch die Tradition semantisch vordefinierten Form in hohem Maße sinnstiftend wirken kann (wie beispielsweise das Duett oder die Pastorale). Die Oper hat in weitaus stärkerem Maße als das Sprechtheater die Tendenz, mit sich selbst in intertextuellen Diskurs zu treten.88 Die häufigste Form ist dabei die Parodie der ernsten Opernformen durch die komischen. Das Zitat struktureller oder topischer Verfahrensweisen kann jedoch eine große Bedeutungsvielfalt haben: Auf Grund ihrer hohen Popularität und der für die Oper charakteristischen hohen Wiederholungsfrequenz 89 konnten Librettisten, Textarrangeure und besonders Komponisten den Wiedererkennungseffekt beim Publikum einsetzen, wie Sabine Henze-Döhring diese Vorgehensweise, bei der bekannte Verfahrensweisen in sinnstiftender Weise benutzt bzw. abgewandelt werden, für die ernste Oper an einem Beispiel aus Händeis >Alcina< beschrieben hat.90 Komponisten aller Operngattungen bedienten sich solcher Techniken, sie treten jedoch verstärkt in der ohnehin stark intertextuell auf die opera seria ausgerichteten opera buffa auf 91 und selbst Johann Adam Hiller greift in seinen Singspielen auf solcherart >beredteLesen gesorgt< werden," dem Paradigma des dramma per musica in der Tradition Metastasios. 100 Holtbernds Arbeit ist die erste, die spezifisch librettistische Strukturen auf die Analyse von Goethes Texten überträgt. Sie bildet daher einen der wichtigsten Anknüpfungspunkte, auf den wiederholt zurückzukommen sein wird. 101 Allerdings rückt Holtbernd Goethes als Idealtypus verstandenes Singspiel >Jery und Bätely< ins Zentrum der Darstellung, hinter den nach seiner These die anderen Stücke zurückfallen. Zudem wird die Chronologie der Ereignisse weitgehend vernachlässigt, wenn er z.B. die Weimarer Aufführungen von Mozarts und Glucks Opern ab den späten 1790er Jahren als Beweis für die Seria-Kenntnis des Weimarer Publikums angesichts der 1780 in >Jery und Bätely< verwendeten Verfahrensweisen heranzieht. 102 Holtbernd hat durch seine Untersuchung der dramaturgischen Funktionen der Musik in den Schauspielen Goethes eine Methodik entwickelt, wie die Elemente des Musiktheaters jenseits einer bloßen Konstatierung ihrer Existenz, wie beispielsweise Cotti sie in seiner Untersuchung vornimmt, 103 in ihren spezifischen Bedeutungen für den Text beurteilt werden können. Walduras Anregungen zu Goethes metrischer Gestaltung der Singspiele 104 können zudem auf der Basis
' 8 F A II, B d . 2 , S.619. 99 F A I, Bd. 1 5 / 1 , S. 554. Der Brief war ursprünglich am 9.2. 1788 an Herder geschrieben worden. M G G , >Libretto Cotti zählt verschiedene Arienformen innerhalb der Faustdichtung auf, weitgehend ohne seine Definition zu begründen und ohne die Auswirkungen seiner Betrachtungsweise für die Interpretation im einzelnen zu erläutern. A m Ende kommt er zu dem etwas schlichten und im übrigen auch nicht haltbaren Ergebnis, daß die >Musik< die Sphäre des Göttlichen und des Dämonischen markiere. Vgl. Cotti (1957), S.64-78. ,0 4 In: Goethe H B , Bd. 2 (1997), S. 1 7 3 - 1 9 4 .
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von Ciupkes'° s grundlegender Untersuchung der metrischen Gestalt der Faustdichtung und vor dem Hintergrund der metrischen Traditionen des Musiktheaters zu einem präzisen Definitionsmittel der Gesangseinlagen anhand Strophenformen und Metren entwickelt werden, mit dem sich zeigen läßt, wie die von Goethe zwischenzeitlich als dramatisches Ideal forcierte »reine Opernform« 106 zunehmend in eine Textform übertragen wird, die beides ist - wirksames Libretto und vertonungsunabhängiges Drama. Die Analyse folgt über Strecken der von Gier als komparatistischem Ansatz beschriebenen Verfahrensweise, indem Goethes Verfahren denen der ihm bekannten Opern gegenübergestellt werden. Bei der Untersuchung einer so stark politisch und gesellschaftlich konnotierten Gattung wie der Oper spielt zudem der soziale Kontext eine kaum zu überschätzende Rolle, wie sich nicht nur in den frühen Libretti, sondern auch in den poetologischen Überlegungen ab ca. 1800, namentlich in Goethes Ubersetzung von Diderots Dialog >Rameaus NeffeFaustJery und Bätely< darstellt,108 gibt es tatsächlich nicht. Meiner These zufolge bleibt das Primat des Textes eine Konstante innerhalb der Goetheschen Werke für das Musiktheater. Für die frühen Fassungen der zeitgenössisch teilweise ausgesprochen erfolgreichen Singspiele geht Goethe dabei mit der Tradition des Norddeutschen Singspiels konform, für die späteren Arbeiten bis 1790 erweist sich dieses inzwischen widersprochene und dennoch unterschwellig mehr oder weniger präsente Primat als ein zentrales Hindernis für die Wirksamkeit der Libretti als Werke des komischen Paradigmas. 109 Mit der Orientierung am klassizistischen Musikdrama, das die Tradition des dramma per musica explizit weiterschreibt, wendet sich Goethe ab 1795 schließlich (wieder) dem für seine Arbeiten für das Musiktheater adäquaten Paradigma zu. Von der großen Anzahl Goethe bekannter Opern bietet sich ein Werk für die Gegenüberstellung zu Goethes >Faust< besonders an, das die für den Vergleich mit Goethes Dichtung zentralen Elemente epischer Verfahrensweisen und den Topos des Welttheaters exemplarisch verbindet und für das zudem Goethes genaue Werkkenntnis zum relevanten Zeitpunkt gesichert ist: Beaumarchais/Salieris >TarareTasso< nachgewiesen hat. 110 Gerade die Faustdichtung ist in allen Stadien mit dem Musiktheater verbunden: Bereits der >Urfaust< und stärker noch die Fragmentfassung von 1790 sind von Singspielelementen durchsetzt, für die sich enge Wechselbeziehungen zu den parallel entstandenen Libretti und die Verwendung derselben Verfahrensweisen und musikdramatischen Konzeptionen nachweisen lassen, dies insbesondere für die Lieder der Gretchentragödie. Die Endfassung des I. Teils von 1806 integriert zudem Verfahrensweisen der klassizistischen Oper, die sich gemeinsam mit den Festspielen >Pandora< und >Des Epimenides Erwachen< auf Goethes Fortsetzung von Mozarts >Zauberflöte< beziehen. In den um die Jahrhundertwende entstandenen Szenen des ersten Teils wird das Musiktheater bereits von einer dramaturgischen in eine strukturelle Verfahrensweise überführt, die im zweiten Teil zunehmend auch in ihren poetologischen Möglichkeiten reflektiert wird. Dabei zeigt sich auch die Ursache für die weitreichende Formanalogie des >Faust< zu Purcells semi-operas: Das Weltspiel von Faust speist sich nicht nur auch als Gesamtform aus der Tradition des barocken Welttheaters und den Verfahrensweisen des Musiktheaters, es setzt sich darüber hinaus kritisch mit diesen Traditionen und den aus ihnen erwachsenden Möglichkeiten für ein abstrakteres, artifizielles und tendenziell episches Theater auseinander. Erst durch die Analyse der Arbeiten für das Musiktheater können jedoch Goethes Verfahrensweisen, etwa bei der Definition und Gestaltung der verschiedenen Gesangsformen, eindeutig erschlossen werden. Diese Verfahrensweisen dienen wiederum als Vergleich für die Analyse der Elemente des Musiktheaters in der Faustdichtung und ermöglichen damit erstmals ein e präzise Definition dieser Elemente. Auf die Rolle der Musik im allgemeinen und der Oper insbesondere im zweiten Teil des >Faust< wird in zahlreichen Kommentaren hingewiesen. Exemplarisch sei-
' 1 0 Vgl. Holtbernd (1992), S. 1 2 3 - 1 5 4 . 2
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en hier genannt: Schöne, 111 Emrich, 1 1 2 Lohmeyer, 113 Arens," 4 Trunz," 5 Schmidt, 116 allerdings stets mit dem Manko, daß Untersuchungen eines Musikdramas ohne eine präzise Definition der Textgestalt dieser musikalischen Elementes eine gewisse Beliebigkeit anhaftet und sie daher ohne tiefergreifende Folgen für die Interpretation bleiben müssen. 117 Die ausführlichsten, musikhistorisch fundierten Verweise auf Musik und Musiktheater in der Faustdichtung, insbesondere für den ersten Teil, bietet Gaiers Faustkommentar, 118 ohne ihnen in diesem Rahmen eine abschließende Interpretation zukommen lassen zu können. 1 1 ' Auch für Gaiers Verweise gilt jedoch, daß sie ohne eine eindeutige Definition der Gesänge auskommen müssen und daher ähnlich beliebig bleiben wie die der zuvor genannten. Wie für das analytische Instrumentarium bilden die zwischen 1773 und 1800 entstandenen Singspiele und Opern nicht nur die Folie für die im >Faust I< verwendeten Elemente des Musiktheaters, sondern darüber hinaus die Basis für Goethes späte Ästhetik des Musiktheaters, wie sie die Festspiele und den zweiten Teil des >Faust< bestimmt. Erst auf ihrer Grundlage und unter Berücksichtigung ihrer chronologischen Entwicklung lassen sich die Mängel der bisherigen Auseinandersetzungen mit dem Musiktheater in >Faust< vermeiden. Die librettobezogene Dramaturgie als Ansatz für eine Analyse der Faustdichtung unter in dieser Konsequenz gänzlich neuem Blickwinkel drängt sich sowohl unter strukturellen, werkgenetischen als auch intertextuellen Gesichtspunkten geradezu auf und es muß verwundern, daß sie bisher noch nicht ernsthaft verfolgt wurde. Allerdings setzt sie die Bereitschaft voraus, Goethes Werken ohne einen bereits durch Vorstellungen von >highlow culture< verstellten Blick entgegenzutreten und sich auf neue und für die Gesamteinschätzung der Faustdichtung folgenreiche Interpretationsergebnisse einzulassen. " • F A I , Bd. 7.2, S.619. 112 Wilhelm Emrich: Die Symbolik von >Faust IIFaust IIFaustSingeschauspielEvolutionsvorteil< gegenüber der opera seria: »Die in den weltlichen Residenzen an die Stelle der fremdsprachigen Theater gesetzten >Nationaltheater< sind weniger ein >Sieg< des Bürgertums als das Resultat verfehlten fürstlichen Finanzgebarens. Daß sich einige bürgerliche Theoretiker über die Beweggründe dieser Reform täuschten und in echt bürgerlicher Untertänigkeit dem vermeintlichen fürstlichen Patriotismus huldigten, ändert nichts an den tatsächlichen Verhältnissen.« 15 Vgl. Holtbernd (1992), S. 1 2 3 - 1 5 3 . "t Meyer (1981), S.72.
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diese Veranstaltungen, den Bedürfnissen des an die Darbietungen der commedia dell'arte gewöhnten Publikums nachzukommen. 15 Allen Versuchen des Königs zum Trotz, diese erfolgreiche Konkurrenz der institutionalisierten Comédie-Française einzuschränken, entwickelte sich auf den Jahrmarktsbühnen die populäre Form des Vaudevilles: Dessen Gerüst bildeten beim Publikum bekannte und beliebte Lieder und Gassenhauer, um die sich die oft stereotypen Situationen mit den Figuren der commedia dell'arte rankten. »So wird der Zuschauer ständig daran erinnert, daß er einem Spiel beiwohnt, und der [sic!] opéra comique wird zum Ort (problematisierender und karnevalisierender) Reflexionen über das Theater und speziell über die von den hohen Gattungen vermittelte Weltsicht.« 16 A b den 1720er Jahren etablierte sich die neue Gattung langsam in der Struktur eines vornehmlich gesprochenen Textes, der mit oft populären Liedern oder Arien einfachen Zuschnitts untermischt war. Der Buffonistenstreit,' 7 in dessen Folge die italienische opera buffa aus Paris verbannt wurde, ließ die Ansprüche an die französischen Darbietungen rapide ansteigen, so daß ab den 1750er Jahren an die Stelle der einfachen Vaudevilles, der parodistischen und an aktuellen Ereignissen orientierten Harlekinaden, die comédie mêlée d'ariettes mit jeweils neu komponierter Musik trat. Der gestiegene artifizielle Anspruch an das Genre wurde durch die stärkere Orientierung am Sprechtheater erfüllt: Den zentralen Bezugspunkt bildete nun nicht mehr die italienische commedia dell'arte, sondern die französische comédie larmoyante, das bürgerliche Rührstück. Die grundsätzliche Charakteristik eines gesprochenen Schauspiels mit Gesangseinlagen, die das zentrale, operngeschichtliche Novum der französischen Gegenströmungen zur durchgehend gesungenen tragédie lyrique darstellte, sollte der französischen opéra comique 18 ebenso erhalten bleiben, wie die Tendenz zur Adaption bereits bestehender Werke des Sprechtheaters. ' ' V g l . Gier (1988), S . 1 0 1 . 16 Ebenda, S. 103. ' 7 Diesem Kapitel der französischen Operngeschichte, bei dem die Enzyklopädisten mit Diderot und Rousseau für die Überlegenheit der italienischen (komischen) Oper plädierten, wie sie sich exemplarisch an Pergolesis >La serva padrona< manifestierte; die königstreue Partei dagegen auf dem ästhetischen Absolutheitsanspruch der tragedie lyrique beharrte, wird im Zusammenhang mit Goethes Ubersetzung >Rameaus Neffe< ein eigenes Kapitel gewidmet. 18 N o c h stärker als für die Terminologien opera buffa und Deutsches Singspiel gilt für die Bezeichnung >opéra comiques wie sie hier verwendet wird, daß sie keinesfalls eine homogene Gattung beschreibt, sondern als terminus technicus für eine Pluralität verschiedener Gegenströmungen zur tragédie lyrique verwendet wird, denen grundsätzlich vor allem die Mischung aus deklamiertem Dialog und Liedeinlagen gemeinsam ist.
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Simon Favart, der seine librettistische Laufbahn noch mit parodistischen comédies en vaudevilles begonnen hatte, begründete den Typus der frühen opéra comique, der zumindest teilweise Diderots Forderungen nach einem zwischen Tragödie und Komödie angesiedelten bürgerlichen Drama folgte 19 und der »die Neigung Diderots, rührende Szenen zum statischen Tableau erstarren zu lassen«,20 teilte. Marmontels comédie larmoyante >Lucile< ( 1769), deren großbürgerlicher Heldin kurz vor der Heirat mit einem Sproß des Amtsadels ihre bäuerliche Herkunft enthüllt wird, die sich als gute Tochter jedoch sofort zu ihrem leiblichen Vater bekennt und am Ende dennoch von ihrem Bräutigam in einem die drei Klassen des dritten Standes verbündenden Akt 2 1 geheiratet wird, exemplifiziert jenen Topos von Herzensadel und Geburtsadel, den Carlo Goldoni bereits 1760 mit seiner Dramatisierung von Richardsons >Pamela< in die opera buffa eingeführt hatte.22 Rousseaus anläßlich des Buffonistenstreits eigentlich als Exempelstück für ein französisches Intermezzo (Intermède) mit Rezitativen nach italienischem Vorbild konzipierter >Devin du village< (1752) gab der jungen opéra comique die entscheidende stofflich-ästhetische Ausrichtung, die sie endgültig von ihrem italienischen Pendant ablöste: Strukturell reintegrierte Rousseau die in der französischen Theatertradition so beliebten Tänze (Ballette), die fortan ihren Anteil an der opéra comique behaupten sollten. Wesentlich einflußreicher waren jedoch die stofflichen Neuerungen: In einer als ideal und weitgehend statisch verstanden bäuerlich-ländlichen Gesellschaft wird die aufrichtige Liebe zweier junger Menschen kurz durch die bzw. den von außen (und das bedeutet: aus dem Urbanen bzw. aristokratischen Raum) hereintretenden Fremden gefährdet. Der Dorfwahrsager hilft den Liebenden mit scheinbarer oder wirklicher Magie wieder zusammenzufinden. Favart machte den Gegensatz zwischen einem als pastorale Idylle ausführlich gestalteten Landleben und dem als verderbt kontrastierten höfisch-städtischen Leben (das jedoch zumeist nur im Bericht gegenwärtig ist) zum Haupttopos seiner Librettistik, in deren Zentrum die weibliche Hauptperson in Gestalt eines 15 bis 16jährigen, naiv-sentimentalen Mädchens steht.23 Strukturell verbinden die Libretti Prosadialog (seltener Vgl. Smith (1971), S. 125. Gier (1988), S. 104. " Vgl. Gier (1988), S. 106-107. " >La buona figliuola» gehört zu den einflußreichsten Werken der italienischen opera buffa. 23 Nach Smith (1971: S. 1 2 6 - 1 2 7 ) war der Grund für diese Vorliebe nicht zuletzt der, daß Mdme. Favart, die erste bedeutende Sängerin der opéra comique, die zudem einen nicht 20
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Versdialog) mit kürzeren Versen für die Gesänge, die ähnlich wie in der opera seria24 den Emotionen der Handlung entspringen oder situationsbezogenen Liedcharakter haben. Ausgesprochen einflußreich auf das Norddeutsche Singspiel war Favarts auf ein Werk seines Freundes Goldoni 1 ' zurückgehende opéra comique >Ninette à la cour< (1755), deren Titelgestalt das Dorf und ihren betrübten Liebhaber verläßt um an den Hof zu gehen, in ihrer sympathischnaiven Art die Heuchelei des Hoflebens entlarvt und sich erfolgreich gegen die Nachstellungen des Prinzen wehrt. A m Ende versöhnt sie letzteren in einer nächtlichen Rendezvous-Szene (die Beaumarchais/Da Ponte für >Le nozze di Figaro< adaptieren sollten) mit seiner Verlobten und kehrt zu Dorf und Bräutigam zurück. Markant ist der Wandel der Titelgestalt, die ihre italienische Keckheit weitgehend zugunsten von Frohsinn, Anstand und Natürlichkeit eingebüßt hat. Favarts >Soliman second< bzw. >Les trois sultanes< (1761) gehört zu den wenigen Werken der opéra comique, die sich auch auf dem Sprechtheater behaupten konnten. Die Versgestalt setzt sich aus Alexandrinern, vornehmlich für den Dialog, und kürzeren Versen für die Gesänge zusammen, eine Verteilung, die typisch ist für französische Libretti insbesondere der tragédie lyrique 26 bis ins 19. Jahrhundert. Das Stück gehört zu den Vorbildern von Stephanies >Entführung aus dem Serail< und eröffnete der jungen Gattung eine neue Palette exotischerer Stoffe, die sich bald mit Favarts >La Fée Urgèle< (1765), erst von Duni, später erneut von Grétry vertont, auch auf den Topos des Feenmärchens erweiterte. Während Favarts Libretti der institutionalisierten tragédie lyrique im wesentlichen eine als realistisch verstandene Pastorale entgegensetzten, entwickelte sein Nachfolger Jean-Michel Sedaine das Libretto zum Sprachrohr eines politisch aufzufassenden bürgerlichen Standes: Sein erstes ausgesprochen einflußreiches Libretto >Le Roi et le fermier< (1762) fußt auf einer englischen Vorlage (>The King and the Miller of Mainsfield< von Robert Dodsley) und verbindet eine wesentlich realistischere Schilderung des Landlebens mit einer tatsächlich dramatischen Handlung, deren glückliches Ende nicht mehr primär in den Händen des tugendsamen
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unwesentlichen Anteil an den Libretti ihres Mannes hatte, diesen Typus bis zur Perfektion verkörperte. In der opera seria vollzieht sich die Handlung im Rezitativ, während die durch die Handlung in den dramatis personae ausgelösten Emotionen in den (statischen) Arien besungen werden. >Bertoldo, Bertoldino e Cacasenno< von 1749. Ein Bezug, auf den im Kontext von Goethes Intermezzo »Scherz, List und Rache< noch zurückzukommen sein wird.
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Mädchens liegt, sondern beim als deus ex machina fungierenden Souverän. An die Stelle von Favarts vorhersehbar glücklichen Schlüssen setzte Sedarne in seinem berühmtesten Libretto >Le Deserteur (1769) eine rasche Folge dramatischer Situationen: Der heimkehrende Soldat Alexis sieht seine Geliebte als Braut einer fingierten Hochzeit und in seiner Verzweiflung beschließt er, das Land zu verlassen. Als Deserteur wird er festgenommen und zum Tode verurteilt. Das einzige komische Element ist sein Zellenbruder, der betrunkene aber herzensgute Montauciel, dessen Späße den Zuschauer wechselweise trotz der aussichtslosen Lage des Helden zum Lachen bringen, um letztere anschließend umso bedrückender hervortreten zu lassen. Alexis' Braut Louise erlangt beim König eine Begnadigung, doch als sie das Gefängnis erreicht, sinkt sie ohnmächtig nieder während Alexis zur Hinrichtung gebracht wird. Nur der soeben eintreffende König kann mit einer erneuten Begnadigung das scheinbar unabwendbare tragische Ende auflösen. Mit dem weitgehend schuldlos in Bedrängnis geratenen Helden, seiner Rettung aus aussichtsloser Lage in letzter Minute und einer schnörkellos finalen Dramaturgie ist hier bereits die Grundstruktur der späteren Revolutions- und Rettungsoper vorgezeichnet. Allerdings fehlt bei Sedaine das personifizierte böse Prinzip: Nur ein unglücklicher Zufall, eine unbedachte Handlung reichen aus, um ein glückliches Leben an den Rand der Katastrophe zu führen. Gier sieht hierin zurecht eine Gegenposition »gegen das wohlgeordnete Universum der aufgeklärten Optimisten, die davon überzeugt sind, daß sich durch zielgerichtete Arbeit jedes Ziel erreichen läßt« und einen Vorverweis »auf das Melodram der Revolutionszeit und der Romantik«.27 Dies spiegelt sich einmal in den an die große Oper gemahnenden, zu tragischer Tiefe und pathetischem Habitus gelangten dramatis personae wieder sowie in der Einführung eines Chors. An dieser Stelle ihrer Entwicklung hört die opéra comique bereits auf, >komisch< im Sinne eines heiteren Schauspiels zu sein.
2. Vorgeschichte des Norddeutschen Singspiels Die Entwicklung des Musiktheaters im 18. Jahrhundert wurde stark von der staatlichen und sozialen Organisation Deutschlands beeinflußt. Musiktheater bedeutete in Deutschland bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem italienische opera seria, die eng verbunden war mit 2
7 Gier (1988), S.108. 34
höfischer Repräsentation und sich dementsprechend auf die Theater der größeren deutschen Fürstenhöfe beschränkte. Herausragend war die Musikpflege am Hof zu Dresden, der einen so hervorragenden Komponisten wie Johann Adolf Hasse dauerhaft an sich zu binden vermochte und mit dessen Frau, der gefeierten Sopranistin Faustina Bordoni sowie dem Soprankastraten Domenico Annibali auch sängerisch an die Qualität der großen Opernhäuser von London und Venedig heranreichte. Auch Stuttgart verfügte mit Niccolò Jommelli über einen bedeutenden Komponisten, die italienische Opernbühne Friedrichs II. in Berlin wurde von Carl Heinrich Graun mit Opern italienischen Stils ausgestattet und von international ausgezeichneten Sängern wie Salimbeni und Porporino gesungen. Ende des 17. bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts war der höfischen Oper mit dem Hamburger Gänsemarkttheater ein bürgerliches ernstes Musiktheater in der Tradition der italienischen opera seria gegenüber gestanden. Die Opern Reinhard Keisers, etwa >Masaniello furioso< (1706) nach einem Libretto von Barthold Feind, als die heute zu Unrecht fast vergessenen Werke dieser kurzen Blüte, verbanden anders als die italienischen Opern der höfischen Theater deutschsprachiges Rezitativ und weitgehend auch deutsche Arientexte 28 mit einer der italienischen Oper ihrer Zeit ebenbürtigen Musiksprache. Die Hamburger Bühne präsentierte Georg Friedrich Händeis frühe Opern 29 und Telemann überführte hier mit seinem >Pimpinone oder: Die ungleiche Heirat< (1725), einem italienisch-deutschen Intermezzo, als erster den charakteristischen Buffostil in den deutschsprachigen Raum. 30 Daneben fanden sich bereits frühe Singspiele, die ihre Form aus französischen und italienischen Vorbildern sowie aus kirchlich-pädagogischen Traditionen zusammensetzten. Die ersten beiden Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts brachten den ernsten deutschen Opernbühnen jedoch fast überall den finanziellen Ruin. Der Publikumsgeschmack hatte sich entweder den leichteren Komödien zuoder unter dem Einfluß der Pietisten ganz vom Musiktheater abgewandt. Das Programm der höfischen Musiktheater wurde zudem noch stärker von italienischen Opern dominiert bzw. von deutschen Komponisten, die streng im Stil der italienischen Oper komponierten. Dem höfischen Thea28
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Keiser fügte in seine Opern populäre italienische Arientexte ein, deren dramaturgische Funktion oft als eine lyrische Steigerung zu verstehen ist, nicht etwa parodistischen Charakter hat. Vgl. Silke Leopold: Aufstieg und Fall des Tommaso Aniello - ein barockes Lehrstück über die Ordnung der Welt. In: Reinhard Keiser: >Masaniello furiosos Programmbuch der Produktion der Staatsoper Stuttgart. Stuttgart zoo i, S. 14. Vgl. Christopher Hogwood: Händel. Stuttgart 1992, S. 20-23. Vgl. ebenda.
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ter standen umdieMittedesi8. Jahrhunderts vor allem wandernde Schauspielertruppen sehr unterschiedlicher Qualität gegenüber, die in wechselnder Besetzung an verschiedenen Orten auftraten. Darunter auch Wandertruppen italienischer Buffonisten, die ihre Darbietungen nicht nur dem bürgerlichen Stadtpublikum zeigten, sondern auch an kleineren Höfen den Standard musiktheatralischer Darbietungen bestimmten. Die Geschichte der deutschen "Wandertruppen ist eng mit der Entstehung und Ästhetik des frühen deutschen Singspiels verknüpft: Bereits in den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts erzielte die Schönemannsche Truppe in Berlin mit einer musikalischen Neuigkeit einigen Erfolg: einer Adaption der englischen Bailad Opera >The Devil to Pay< von Charles Coffey (ι 728). Trotz dieses Erfolges nahm Schönemann jedoch keine weiteren komischen Opern in sein Programm auf. Im Repertoire der Schauspieltruppe des Prinzipalen Heinrich Gottfried Koch dagegen hatten italienische Intermezzi bereits einen festen Platz zwischen den Akten von Komödien und Tragödien. 1752 beauftragte Koch den angesehenen Dichter Felix Weiße mit einer Neuübersetzung von >The Devil to Pay< und ließ das Libretto von dem seiner Truppe nahestehenden Komponisten Johann Standfuss vertonen. Der Erfolg des neuen Stücks in Dresden ließ ihn sein Repertoire in der Folgezeit um weitere sog. Farce-Opern ergänzen. Als die Kochsche Truppe, die während des siebenjährigen Kriegs in Hamburg und Lübeck gespielt hatte, bei Friedensschluß 1765 nach Leipzig zurückkehrte, übernahm die aus Ostpreußen vertriebene Truppe Konrad Ackermanns ihren Platz in Hamburg. Dank der inzwischen gewachsenen Vorliebe des Publikums für musikdramatische Darbietungen spielten auch in seinem Repertoire komische Opern eine zunehmend wichtige Rolle. Nach Kriegsende erneuerten Koch und Weiße ihre Zusammenarbeit mit einer Neuproduktion von >Der Teufel ist los< und >Der lustige Schuster (>The merry CoblerDie Jagd< (1770) fließen die zentralen Topoi von Weißes Libretti (die entführte Unschuld, der Gegensatz von Land- und Hofleben und die versöhnende Macht des edlen Herrschers) in idealer Weise zusammen, was dem Stück den Status eines Prototypus für das Norddeutsche Singspiel verlieh. 36 Der Text basiert auf Collés dreiaktiger Prosakomödie >La Partie de chasse de Henri IV< und übernimmt zudem Elemente von Sedaines opéra comique >Le Roi et le fermier< (1762). Weiße nationalisiert den Stoff und läßt einen warmherzigen deutschen König ohne historische Bezüge auftreten, wenngleich für das sächsische Publikum in Weimar oder Leipzig unschwer der Bezug zu seinem Regenten in Dresden herzustellen war. 37 Der König verirrt sich auf der Jagd und kehrt inkognito bei einem älteren Ehepaar ein. Deren Tochter Röschen und ihr Töffel bilden das komische Paar, der Sohn Christel und sein Hannchen das ernste. Eine Unterteilung, welche die italienische opera buffa bzw. semiseria Goldonis ebenfalls aufweist. 38 Röschen darf jedoch erst heiraten, wenn Christel versorgt ist, und dessen Hannchen wurde vom bösen Grafen Schmetterling, einem Höfling des Königs, entführt. Christel ist zum Grafen aufgebrochen, um Hannchen zu suchen - kehrt aber unverrichteter Dinge zurück, während es Hannchen gelingt, selbst zu entkommen und Christel von ihrer gewahrten Unschuld zu überzeugen. Der König gibt vor, sein eigener Gefolgsmann zu sein, wird Zeuge der Ereignisse und hört sein Lob aus dem Mund seiner Untertanen. A m Ende verbannt der König den Grafen Schmetterling vom Hof und die Tugendhaften werden belohnt. Im Unterschied zu den Vorlagen gestaltet Weiße einen stark reflektierenden und moralisierenden König, der sich ganz in das rustikale Milieu einpaßt und am Ende auch nicht höfisch, sondern >bürgerlich< bzw. >menschlich< reagiert. Er repräsentiert den aufgeklärten Monarchen der deutschen Kleinstaaten, der zugleich als Freund und Beschützer seiner Untertanen erscheint.
" Reichardt hat »Die Jagd< als ideales Singspiel ins Zentrum seiner Schrift >Über das deutsche Singspiel· von 1774 gestellt. 36 Wie beispielsweise Reichardt in seiner Abhandlung >Uber die deutsche komische Oper< (1774 : 1974, S.75—83) darstellt. 37 Eine früher Klavierauszug nennt den König tatsächlich >ChurfürstLisuart und Dariolette< von Schiebeler/Hiller (1766) 44 zeichnet die Entwicklung zu ernsthafter Handlung voraus und bietet einen zukunftsträchtigen Ortswechsel: die Handlung spielt im Mittelalter; eine historische Erweiterung, der die opéra comique erst mit Sedaines Erfolgslibretto zu Grétrys >Richard Coeur de Lion< (1784) zum Durchbruch verhelfen sollte. >Die Muse< (Schiebeler/Hiller, Leipzig 1767) und >Walmir und Gertraud< (Johann Benjamin Michaelis/Schweitzer) greifen antike Stoffe auf und verweisen auf die Bedeutung des festlichen Vorspiels (wie sie sich in Goethes >Claudine von Villa Bella< und >Lila< manifestieren sollte), für die Rettung der jungen Gattung aus ihrer rasch sich einstellenden Stereotypie;45 denn die musikalischen Alternativen zu Hillers liedhafter Eleganz waren zunächst noch ähnlich limitiert wie die textlichen Alternativen zu Weißes Libretti. Wie bereits erwähnt, ist charakteristisch für das Norddeutsche Singspiel, im Unterschied zu seinen Geschwistergattungen opéra comique und insbesondere opera buffa, daß es sich weniger stark von den ernsten Operngattungen abgrenzte. Vielmehr verstanden gerade die anspruchsvolleren Librettisten wie Herder, Wieland und Goethe das Singspiel als Ansatzpunkt für eine deutsche Oper ernsten oder zumindest ernsteren Inhalts, wie sie Herder in seiner Tagebuchnotiz von 1769 emphatisch for43
Etwa Andreas Schöpfel in seiner Vorrede zu >Die FrühlingsnachtDichtung und Wahrheit Vgl. Bauman (1985), S . 9 1 . 44
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derte, »oh, daß eine neue deutsche Oper geschaffen werde« 46 und in seinem >Brutus< von 1772 (der wie Wielands >Alceste< eine konsequente Seria-Konzeption ist)47 in die Tat umsetzte. Ein weiteres Indiz für die im Norddeutschen Singspiel charakteristische Gattungsmischung ist das durchkomponierte Vorspiel: Funktional und strukturell der italienischen festa teatrale verwandt, 48 handelte es sich zumeist um ein durchgängig versifiziertes und entsprechend in Rezitativen vertontes einaktiges Vorspiel, das mit der nachfolgenden Handlung gar nicht oder nur locker verbunden sein konnte. Im Unterschied zu den in einer als realistisch verstandenen Gegenwart angesiedelten Singspielen bezogen die Vorspiele ihre Stoffe oft aus der klassischen oder christlichen Mythologie, um diese als Allegorie auf das zu feiernde Ereignis, meist Geburtstag, Hochzeit oder ähnliche Jubiläen des Regenten und seiner Familie, zu gestalten.49 Das Vorspiel fungierte somit als Brücke zwischen dem eher bürgerlich orientierten Singspiel und höfischer Selbstdarstellung und machte das Singspiel als die >kleine Oper< für die höfische Repräsentation der deutschen Fürstenhöfe nutzbar, wie am Beispiel Weimars noch zu zeigen sein wird. Zugleich fungierte das Vorspiel als Experimentierfeld für Librettisten und Komponisten, wenn es galt, die rasch ausgereizten engen Grenzen des Singspiels sukzessive auszuweiten. 50 Eine solche Erweiterung bildeten auch die der französischen opéra comique nachempfundenen Ballette, die vor allem von den späteren Nachahmern Hillers aufgegriffen wurden. Trotz der beschriebenen Experimente blieb das Norddeutsche Singspiel bis zu seinen Spätformen der Liederspiele Reichardts und der zweiten Berliner Liederschule um 1800 in seinen librettistischen Grundzügen weitgehend konstant: Das Grundprinzip bildet ein Schauspiel mit gesprochenem Dialog und eingefügten Gesängen. Der Prosatext überwiegt bei weitem den Anteil der Gesänge, und die Handlung vollzieht sich hauptsächlich innerhalb der gesprochenen Partien. Das Norddeutsche Singspiel erweist sich damit als eine in hohem Maße schauspieldominierte Form des Musiktheaters, ganz im Gegenteil zum Süddeutschen Singspiel, das seine Verfahrensweisen ab den 1780er Jahren von der italienischen opera buffa
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Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: Herders Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. 24, Berlin 1878 (Reprint: Darmstadt 1968), S. 26. 47 Vgl. Bauman (1985), S. 1 5 0 - 1 5 1 . 48 Vgl. ebenda, S. 13. « Ebenda. >° Ebenda, S . 9 1 .
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bezog und damit rasch jene gesamtdeutsche Dominanz entwickelte, die den Weg für Mozarts Opernschaffen ebnete. Für das Norddeutsche Singspiel gilt (weitgehend analog zur opéra comique) das auch für die ernsten Opernformen opera seria und tragédie lyrique verbindliche Primat des Textes, wonach das Musiktheater ein Drama oder Schauspiel für Musik (eben ein dramma per musica) ist, das von der Vertonung zwar erweitert wird, aber bereits ohne sie einen hinreichenden Grad an Vollständigkeit hat bzw. haben sollte. So versteht sich, weshalb Metastasios Operntexte ebenso wie Quinaults Libretti auch als reine Sprechdramen aufgeführt werden konnten. Goethes Anforderung an seine Werke für das Musiktheater, wonach sie als Lesedramen neben seinen übrigen Schauspielen bestehen können sollten,'1 spiegelt letztlich dieses Paradigma des dramma per musica wieder. Für das Norddeutsche Singspiel der 1770er und 1780er Jahre war es durchaus gängige Praxis, ein Libretto zu veröffentlichen, ohne daß ein Komponist bereits sein Interesse signalisiert hatte. Eine Verfahrensweise, die auch Goethe für seine frühen Singspiele mit teilweise gutem Erfolg praktizierte.
4. Goethes Kontakte zum Musiktheater bis 1770 Goethe wuchs auf, umgeben von der Musik Johann Adolf Hasses, Carl Heinrich Grauns, Niccolò Jommellis und natürlich Christoph Willibald Glucks. Auch wenn er kaum Gelegenheit gehabt haben dürfte, in den frühen Jahren Bühnenaufführungen ihrer Werke zu sehen, wie sie hauptsächlich in den Residenz-Städten gegeben wurden, kannte er die Musik ihrer Opern zweifelsohne aus konzertanten Aufführungen. Solche Aufführungen, zu denen meist die gesanglich gut ausgebildeten Sänger aus Kirchenchören oder höfische Kammersänger herangezogen wurden, bildeten die wichtigste Verbreitungsform der ernsten Oper im Deutschland des 18. Jahrhunderts.'2 Der alles überragende Komponist seiner Zeit war der international wie in Deutschland gleichermaßen geschätzte Johann Adolf Hasse, dessen berühmteste Arien Goethe neben vielen anderen auch aus
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Italienische Reise. Rom, 1 0 . 1 . 1788. F A I, Bd. 15, S. 5 1 1 . ! 2 Eine Praxis, die auch für die Aufführungen von Wielands >Alceste< maßgeblich war. Vgl. Bauman (1985), S. 1 1 1 . Für die 1780er Jahre weist Bauman zudem fünf durchkomponierte, ernste deutsche Opern nach, die (ausschließlich) konzertant aufgeführt wurden. Vgl. ebenda, S. 230-243.
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dem Munde seiner singenden Mutter hörte.53 In >Wilhelm Meisters Theatralischer Sendung< wird von deutsch-italienischen Operntextbüchern berichtet, die der mit deutlichen autobiographischen Zügen gestaltete Held unter den Büchern seines Vaters findet und auf die Bühne seines Puppenspiels bringt.54 Es ist stark anzunehmen, daß die Bibliothek von Goethes Vater tatsächlich eine Reihe italienischer opera seria-Libretti umfaßte, die entweder Begleithefte zu konzertanten Aufführungen (italienischdeutsch) waren, oder die der Kaiserliche Rat von seiner Italienreise in den Jahren 1739-1741 mitgebracht hatte. Der junge Wolfgang eignete sich bereits früh die Verfahrensweisen Metastasios spielerisch an, und unter dem Eindruck einer 1764 in Frankfurt spielenden italienischen Opern-Wandertruppe fand seine Begeisterung für die italienische Seria ihren Niederschlag in dem später vernichteten Libretto >La sposa rapitaEphemerides< nachweisen. Vgl. Borcherdt: Die Entstehungsgeschichte von >Erwin und ElmireZauberflöte< ist jedoch die 1780er Aufführung von >La Fée Urgèle< in Wien naheliegender. Vgl. Bauman (1985), S. 35. 6
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Während seiner Studienzeit in Leipzig, das dank der Zusammenarbeit von Weiße und Hiller und des von ihnen begründeten Typus der sächsischen OperAlcesteDichtung und Wahrheit< ein freundliches Andenken 71 und es ist stark anzunehmen, daß erst dessen 66
Die Terminologie folgt Bauman (1985), S. 21-90. ^ Vgl. ebenda, S. i n . 68 Vgl. Wilhelm Stauder: Johann André. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Singspiels. In: Archiv für Musikforschung I (1936), S. 339 und Bauman (1985), S. 1 1 1 . 69 Gothaer Theaterkalender 1777, S. 1 1 7 . Vgl. Stauder (1936), S.340. F A I , Bd. 14, S.752.
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Darbietungen den Keim für Goethes produktive Auseinandersetzung mit dem Musiktheater legten. Nach Borcherdt lernte Goethe André im September oder Oktober 1773 möglicherweise durch die Vermittlung des jungen Musikers Philipp Christoph Kayser kennen. 72 André hatte gerade seine erste Oper >Der Töpfer< beendet, über deren Qualität Goethe sich gegenüber Johanna Fahimer zunächst in seiner Bitte um eine »anlockende« Rezension vom 3 1 . Oktober 1773 recht abwertend äußert. 73 Die ausführliche Beschreibung an dieselbe Adressatin drei Wochen später zeugt dagegen von Goethes gutem Sachverstand und liefert ein durchweg positives Urteil: Das Stück ist um der Musick willen da, zeugt von der guten menschenfreundlichen Seele des Verfassers und ist dem Bedürfniss unsers Theaters gewachsen [...]. Die Musick selbst ist auch mit vieler Kenntniss der gegenwärtigen Kräffte unsrer Theater komponirt. Der Verfasser hat gesucht richtige Deklamation, mit leichter fliessender Melodie zu verbinden, und es wird nicht mehr Kunst erfordert seine Arietten zu singen als zu den beliebten Kompositionen Hillers und Wolfs nötig ist. Um dabey das Ohr nicht leer zu lassen, wendete er all seinen Fleis auf Akkompagnement, welches er so vollstimmig und harmonisch zu setzen suchte als es ohne den Nachteil der Singmelodie thunlich war. Zu dem Ende hat er offt Blasinstrumente gebraucht [...] Man kann ihm nicht nachsagen dass er kopirt noch raubt. Und es läßt sich immer mehr von ihm hoffen. In einigen Arien könnte das da-Capo kürzer seyn wie z. E. in der Ariette wie so mancher plumper Baueriunge p. 78.74 Offenbar hatte die intensivere Auseinandersetzung mit dem Werk und seinem Verfasser Goethes Einsicht in die Erfordernisse der Gattung gefördert und entsprechend sein Urteil gewandelt. Rückblickend ordnete Goethe in >Dichtung und Wahrheit< den >Töpfer< genetisch in die Entwicklungsreihe des Deutschen Singspiels ein, w o bei Marmontel/Grétrys bereits auf romantische Stoffe und Verfahrensweisen vorverweisende opéra comique >La belle et la bête< als Kontrast dient: Diese, in ihrer Art wohlgelungene Oper näherte sich jedoch dem edlen Styl und war geeignet die zartesten Gefühle zu erregen. Dagegen hatte sich ein realistischer Dämon des Operntheaters bemächtigt; Zustands- und Handwerksopern taten sich hervor. Die Jäger, der Faßbinder und ich weiß nicht alles, waren voraus gegangen, André wählte sich den Töpfer. Er hatte das Gedicht selbst ge71
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Vgl. Borcherdt ( 1 9 1 1 ) , S. 77. Nach Gero von Wilpert lernten Goethe und André sich bereits 1764 kennen. Vgl. Wilpert: Goethe-Lexikon. Stuttgart 1998, S. 34. »Der Mann hat Frau und Kinder, und Geld hinein gesteckt. Bios in der Rücksicht, wenn auch das Ding nicht würklich musikalischen und andern Werth hätte, sollte man ihm den Liebesdienst nicht versagen.« F A II, Bd. 1, S. 327. Ebenda, S. 3 3 1 - 3 3 2 .
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schrieben und in den Text der ihm angehörte sein ganzes musikalisches Talent verwendet. 75
Die opéra comique erkennt Goethe nachträglich als zukunftsweisende Gattung an, wogegen der deutsche Sonderweg des rustikalen Singspiels zumindest stofflich ein Zeitphänomen darstellte. Aus der Sicht der 1820er Jahre, in denen diese Passage geschrieben wurde/ 6 der eine erneute intensive Auseinandersetzung mit der französischen Operngeschichte für Goethes Ubersetzung von >Rameaus Neffen< vorausgegangen war, 77 ist diese Einschätzung kaum verwunderlich. Allerdings bestätigt die Gestaltung von >Erwin und ElmireHandwerksopern< ist jedoch keineswegs die Schilderung des Handwerks als Gegenstand der Oper zu verstehen, wie Stauder annimmt;78 letzteres ist in der opéra comique der Zeit ohnehin selten. Vielmehr distanziert sich Goethe in der leicht ironischen Schilderung von dem betont rustikalen Milieu des frühen Singspiels, zu dem die Rousseausche Natürlichkeit des >Devin du village< unter der Feder Favarts und Sedaines, vor allem aber ihrer weniger talentierten Nachahmer, geworden war. Auch Andrés Singspiel verwendet den >Töpfer< des Titels nur als soziale Standortbestimmung; 79 im Zentrum der Handlung steht dagegen dessen Tochter Hannchen und ihr Geliebter, der Bauernsohn Gürge, als das sentimentale Liebespaar in der Tradition der opéra comique. Ihre Liebe äußert sich ausschließlich in zarten und elegischen Ausdrucksformen, heftigere Leidenschaften bleiben ausgeklammert.80 Die Liebenden haben zwar den Segen des Vaters, der sich jedoch gegen seine, Weißes >Verwandelten Weibern< entlehnte, zänkische Gattin nicht durchzusetzen vermag. Im Zentrum der Darstellung steht das Familienleben, wobei im Unterschied zur französischen opéra comique, die in der Regel nur ein Elternteil auftreten läßt (eine Verfahrensweise, die Goethe in seinen Singspielen 75
Dichtung und Wahrheit (Vierter Teil, 17. Buch). F A I, Bd. 14, S. 752-753. Vgl. F A I , Bd. 14, S.1005. 77 Goethes Ubersetzung wird ein gesondertes Kapitel gewidmet. 78 Stauder (1936), S. 345. 79 Der >Töpfer< ist im übrigen das einzige Singspiel Andrés mit kleinbürgerlichem Milieu. Seine späteren Arbeiten zeigen eine bereits auf die romantische Oper vorausweisende, exotische Stoffwahl. Vgl. ebenda, S. 3 51. 80 Hierin liegt vielleicht ein Abgrenzungsversuch Goethes begründet, der eine so unerhörte* Handlung wie eine versuchte Vergewaltigung in seinem Singspiel >Claudine von Villa Bella< auf die Bühne bringt. Diese Passage bildet das >Undarstellbare< an dem Stück vor der Tradition des Singspiels, auf das Goethe in Briefen verwies. 76
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übernehmen sollte), beide Elternteile in Erscheinung treten. Andrés Erweiterung des Singspiellibrettos des Weißeschen Typus liegt in der Behandlung der Komik, die mit ihrer Volkstümlichkeit unter Vermeidung des Derben bereits auf das Erfolgsrezept Dittersdorfs vorausweist.81 Formal orientiert sich das Libretto mit seiner Gliederung in Prosatext und Versgesänge sowie in seiner einaktigen Form am Vorbild Weißes.82 Die Gesangspartien sind bezüglich Strophenform, Versmaß, Zeilenlänge und Metrik sehr frei gestaltet, wobei die Personalunion von Librettist und Komponist den Vorteil brachte, daß die Vertonung den im Libretto angelegten Tempo- und Stimmungsschwankungen genau folgen konnte. 83 Andrés Vertonung orientiert sich insgesamt stärker an französischen Vorbildern als die Kompositionen Hillers (der bekanntlich die französische Musik ablehnte), das Stück enthält jedoch keine Ballette und verfügt über da capo-Arien kleineren Zuschnitts ohne Koloraturen und von betont volkstümlichem Charakter.84 Strophige Lieder, wie Hiller sie häufig verwendete, findet man bei André selten. 8 ' Neben einer auch bei Hiller anzutreffenden kleinen Mischform aus Lied, Arie und Arioso 86 verwendete André zwei Formen der da capo-Arie: Die vor allem aus der italienischen opera seria bekannte dreiteilige Form A B A ' , die den mit A identischen Teil A' nach einem in Tempo und gelegentlich Tonart 87 variierten Β Teil wiederholt, und zweiteilige da capo-Formen verschiedener Variation: Das zweiteilige Dacapo ist entweder als einteilig wiederholte F o r m (lied- bis arienförmig) ausgebildet (AA), oder als zweiteilige Form, deren beide Teile wiederholt werden (ABAB). Vereinzelt wird auch die einfache zweiteilige kavatinenartige F o r m angetroffen (AB, langsam-schnell oder schnell-langsam). [...] Im allgemeinen bringen die Sologesänge keinen Handlungsfortschritt. Sie drükken die augenblicklichen Empfindungen der Personen aus und bilden einen lyrischen Ruhepunkt innehalb des Ablaufs der Szene, gehen aber aus der Handlung hervor und beachten auch zum größten Teil schon die Geste und Darstellung auf der Bühne. 8 8
Andrés Arien folgen demnach im wesentlichen noch dem Prinzip der Affektarie, wie dies allgemein für das Norddeutsche Singspiel gilt, was sich 8
'Vgl. Stauder (1936), S.349. Vgl. ebenda, S. 346. 83 Ebenda. 84 Ebenda, S. 346-348. 8i Ebenda, S.352. 86 Ebenda, S. 347. 87 Vgl. ebenda, S. 353. 88 Ebenda. 82
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weitgehend durch seine Vorbilder erklärt, denn die opéra comique hatte den Wechsel zwischen, in ihrem Fall Prosahandlung und statischen Gesangseinlagen, ebenfalls beibehalten. Den zweiten Bezugspunkt bildet zu diesem Zeitpunkt die ohnehin auf der Affektlehre basierende Librettistik Metastasios. Es liegt nahe anzunehmen, daß der soeben fertiggestellte >Töpfer< Gegenstand engagierter Gespräche zwischen André und Goethe war und daß letzterer sich durch die Auseinandersetzung mit dem Libretto und seinem ihm freundschaftlich verbundenen Schöpfer zu eigenem Schaffen angeregt fühlte. Wahrscheinlich ist, daß André ihn ermutigte, seine Kritikpunkte allgemein an der Gattung wie insbesondere am >Töpfer< in einem Exempel umzusetzen. Entsprechend erweist sich auch Goethes spätere Charakterisierung der Situation in >Dichtung und Wahrheit< als kontrastierender Kommentar zu seinem eigenem Werk, der dessen Neuerungen umso deutlicher herausstreicht. Die Konzeption von >Erwin und Elmire< als Singspiel läßt sich direkt im Anschluß an Goethes Bekanntschaft mit André und die Auseinandersetzung mit dessen >Töpfer< nachweisen: Ende Oktober 1773 empfahl Goethe Andrés Singspiel Johanna Fahimer erstmals mit der Bitte um eine günstige Rezension und bereits in seinem Brief an Johann Christian Kestner vom 25. Dezember 1773 berichtete Goethe von einem »Lustspiel mit Gesängen«, das er in Arbeit habe.89 Auf eine weitere Anregung weist Borcherdt hin: Anfang 1773 war Wielands >Alceste< erschienen, doch erst im Spätherbst 1773 schrieb Goethe seine Satire >Götter, Helden und Wieland< als Reaktion auf Wielands >Briefe an einen Freund über das deutsche Singspiel Alceste< bzw., wie Borcherdt annimmt, auf zwei überschwengliche Rezensionen in der »Allgemeinen deutschen Bibliothek< und in den »Frankfurter gelehrten Anzeig e n hin.9° Gut möglich, daß die Art und Weise, wie Wieland als erster deutscher Librettist von literarischem Rang gefeiert wurde, Goethe zusätzlich motivierte, mit dem ehemals verehrten Vorbild in Wettstreit zu treten. Stoffliche und stilistische Parallelen zwischen beiden Werken bestehen zunächst nicht, was kaum verwundern muß, da Wieland sich ausdrücklich an Metastasio orientierte, wogegen Goethe sein Stück wiederholt als »Potpourri« und »Posse« 91 charakterisierte. Dennoch lohnt ein Vergleich der beiden Ansätze, da Wielands >Alceste< angesichts ihres sofortigen und für eine ernste deutsche Oper großen Erfolgs sowie des sehr positiven Qualitätsurteils der Zeitgenossen, vor allem aber wegen der li»? FA II, Bd. i, S. 341. 9° Vgl. Borcherdt ( 1911 ), S. 78-79. »' Vgl. Frantzke (1998), S.21-23.
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brettistisch neuartigen Verfahrensweise einen bedeutsamen Bezugspunkt nicht nur für Goethes frühes Opernschaffen darstellt. 4.1. Exkurs: Wielands >Alceste< Als Wieland Ende 1772 nach Weimar übersiedelte, hatte er bereits ein Werk für das Musiktheater mit Schweitzer vollendet, das allegorische Ballett >Idris und ZenideAuroraAlceste< eignete es sich einmal wegen des hohen Anspruchs an die drei Gesangsrollen und indem bereits der rezitativische Gesang gegenüber dem Dialog vorherrscht.95 Spätestens nach der Zusammenarbeit an >Aurora< stand Schweitzer für Wieland als der ideale Komponist für sein Vorhaben einer durchkomponierten, deutschsprachigen und ernsten Oper nach Metastasianischem Vorbild fest. Wieland betonte die künstlerische Harmonie zwischen ihm und seinem Komponisten.96 Kein Wunder, bezogen sie sich doch auf dieselben (veralteten) Vorbilder: Wie aus seinen Briefen deutlich wird, besaß Wieland ausgezeichnete Kenntnisse des französischen, deutschen und italienischen Musiktheaters, verehrte Metastasio (»Sie wissen, daß Euripides unter den alten und Metastasio unter den neuern dramatischen Dichtern meine Lieblinge sind«)97 und nahm daher dessen Librettistik ganz zu seinem Vorbild. Mit seiner Begeisterung für Metastasio stand er keineswegs alleine: Der Italiener wurde von den meisten Librettisten des 18. Jahrhunderts 92 Vgl. Bauman (1985), S. 102. 93 >Aurora< ist ebenso wie >Alceste< als >Singspiel< untertitelt, obgleich es sich formal beim ersten um ein Vorspiel, beim zweiten eindeutig um eine Oper nach italienischem Vorbild handelt. Wieland wollte seine in deutscher Sprache abgefaßten Werke einmal in die Tradition des (Nord-)deutschen Singspiels (zu dem ja die Tradition des Vorspiels gehört) stellen und zugleich zum Muster für die weitere Entwicklung der Gattung machen. Wie Goethe reagierte er auf die Unzulänglichkeit der bestehenden Gattung nicht mit Ablehnung und Abgrenzung seiner eigenen Werke, sondern gerade mit der aus formaler Sicht naiv erscheinenden Integration des völlig Anderen. 94
Bauman (1985), S. 102. »s Ebenda. «6 Wielands Werke, Bd. 1 1 , S. 65. 57
Briefe an einen Freund über das deutsche Singspiel >AlcesteAlceste« wortreich verteidigt und den Goethe in >Götter, Helden und Wieland< als anmaßende Fehlinterpretation der antiken Dichtung entlarvt. Formal bemühte sich Wieland dagegen um eine möglichst analoge Nachschöpfung der Metastasianischen Libretti, indem er auf Chöre und Ensembles, die Errungenschaften der Gluckschen Opernreform107 bzw. der opera buffa, verzichtete. Der sich anbietende Vergleich mit Calzabigi/ Glucks >Alceste< ist insofern hinfällig, als Wieland keine >Reform< im eigentlichen Sinne anstrebte, sondern ganz im Gegenteil die Ubersetzung einer als Ideal empfundenen Form aus einer anderen Sprache und Kultur intendierte. Damit fand er sich in ausgesprochenem Einklang mit seinem Komponisten Schweitzer, dessen Musiksprache sich an der opera seria von ca. 1760 orientierte, und der Glucks Opernreform wenig abgewinnen konnte.108 In einem, allerdings mehr inhaltlichen Punkt, ähneln sich jedoch Wielands und Calzabigi/Glucks Ansätze und liegen damit gemeinsam in der allgemeinen Entwicklung der Zeit: Beide machen das Gefühl im Sinne einer intimen, menschlichen Regung zum zentralen Gegenstand der Oper und wollen einen natürlicheren Menschen auf die Bühne bringen als die historischen oder mythologischen Figuren der barocken Oper. Tatsächlich bezieht sich Glucks vielzitierter Satz von der >Musik als der Sprache des Herzens< aus der Vorrede zur >AlcesteAlceste< einen Meilenstein in der Entwicklung der deutschen Oper, insbesondere durch die beachtlichen musikalisch-technischen Anforderungen an Sänger und Orchester. Kaum ein Jahr nach der Premiere brachte Marchand das Stück in Frankfurt auf die Bühne, wo Goethe es möglicherweise zuerst gesehen hat. Die Oper erfreute sich bis zum Ende des Jahrhunderts großer Beliebtheit sowohl bei höfischem wie bei städtischem Publikum, 112 wobei konzertante Aufführungen die Regel gewesen sein dürften, da außer Marchand nur wenige Theatertruppen über Sänger verfügten, die den Ansprüchen dieser Oper gewachsen waren - eine weitere Gemeinsamkeit mit den Opern Glucks, deren zentrale >Bühne< ja ebenfalls der Konzertsaal war. 1 ' 3 4.2. Goethes Kritik an Wielands >Alceste< Bereits 1773 erschienen im >Teutschen Merkur< Wielands >Briefe an einen Freund über das deutsche Singspiel >Alceste«. Goethe bekam diese also vermutlich zu lesen, ehe er Gelegenheit hatte, die Oper auf der Bühne anzusehen. Im ersten Brief rechtfertigt Wieland sein Vorhaben einer deutschen Oper: Die Singbarkeit der deutschen Sprache sei so schlecht nicht, wenn der Dichter nur eben auf die Singbarkeit des von ihm zu schreibenden Textes achte und zudem verfüge er, Wieland, mit Schweitzer über einen Komponisten, der den großen italienischen Komponisten der Vergangenheit" 4 ebenbürtig sei. 110
Abgedruckt in: Roland Tenschert: Christoph Wilibald Gluck. Der große Reformator der Oper. Ölten 1 9 5 1 , S. 182. Briefe an einen Freund..., Werke, Bd.9, S. 382-409. 1,2 Vgl. Bauman (1985), S. 109. 11 ' Vgl. ebenda, S. 1 1 1 . 114 Wieland nennt Pergolesi, Sacchini, Galuppi. In: Briefe an einen Freund..., Werke (1933),
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Die strukturellen Äußerungen zu den Verfahrensweisen des Librettos bzw. der Oper sind eher dürftig: Den Verzicht auf Chöre, die als ein wesentliches Element der Gluckschen Reformoper zur Disposition standen, begründet er lapidar; »weil ich nicht Athem genug hatte, in diesem Stücke mit dem Griechischen Dichter in die Wette zu lauffen«, 1 1 ' und das Verhältnis von Text und Gesang wird auf die Glucksche Formel gebracht: »Aber nirgends sind lange Reden weniger zu dulden, als im Singspiel. Hier, w o die Sprache der Musen allein geredet wird, muß alles warme Empfindung oder glühender Affekt seyn.«" 6 Wieland betont weiterhin die Einbindung der Arie in den Handlungskontext, sie solle wie zwangsläufig aus der Handlung hervorquellen," 7 eine Position, die bei Gluck bereits angelegt ist, wenn auch nicht in dieser Konsequenz, die aber vor allem in Goethes Brief an Kayser vom 29.12. 1779 in der Wendung, »der Dialog muß wie ein glatter goldener Ring sein, auf dem die Arien und Lieder wie Edelsteine aufsitzen« ihr Echo finden sollte." 8 Auf die Verwendung des Rezitativs, die Ubersetzung des italienischen Librettoschemas 119 von Metastasio ins Deutsche, das Wagnis einer durchkomponierten Oper überhaupt, geht Wieland nicht ein. So vollzieht er auch keine Abgrenzung gegen Metastasio oder überhaupt eine Begründung dafür, warum er das klassische Sujet gerade in der noch immer wenig angesehenen Gattung der Oper behandelte, sondern breitet in den folgenden Briefen eine elaborierte Kritik an Euripides aus, vor deren Folie er die Vorzüge seiner Neudichtung herausstreicht. 120 Auch wenn er dabei immer wieder beteuert, die Schwächen des Euripides (der im übrigen sein Lieblingsschriftsteller unter den antiken Dichtern sei) rührten aus der Differenz der neuern Zeit gegenüber der antiken Welt und seine, Wielands, Änderungen seien in erster Linie der Versuch einer adäquaten Übersetzung, gerät die Verteidigungsrede doch zu einer etwas peinlichen Selbststilisierung zu Lasten des antiken Autors. Goethes zunehmender Widerspruchsgeist gegen den einstigen geistigen Lehrer und die Enttäuschung über die mit Spannung erwartete Zeitschrift 121 erreichten offenbar mit den >Briefen über AlcesteErwin und Elmire< [...] eine Vorliebe des Dichters für zweihebige Kurzverse in vorherrschend daktylischem Metrum zu bemerken [ist].« 126 Diese in den Textbüchern der opera buffa ebenfalls häufig vorkommende Versform verwendet Wieland für den Großteil der Arien in >AlcesteScherz, List und RacheAlceste< den zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig etablierten Blankvers und den jambischen Vierheber ohne Endreim. Für die durchkomponierte deutsche Oper ist dies ein geradezu genialer Wurf: Diese Form der gebundenen Rede ist ausreichend variabel, die dramatische Handlung zu fassen und langweiligem Gleichmaß vorzubeugen, und zugleich so regelmäßig, daß sie sich zur Vertonung anbietet. Die mit Endreim gefaßten Arien heben sich ganz selbstverständlich daraus hervor, und sind doch über das Metrum mit dem Rahmentext abgestimmt.
126
Ebenda, S. 175. Briefe an einen Freund ..., Werke, Bd.9, S.360. 128 Ebenda, S. 355-356. 12 ? Ebenda, S. 362-363. •5° Ebenda, S.367. "J" Ebenda, S.365. ,J2 Nach Waldura wird diese Versart »geradezu zu einer Kennmarke Goethescher Libretti«. Vgl. Goethe H B , Bd. 2, S . 1 7 5 . 127
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Goethe griff später für seine Italienischen Fassungen der frühen Singspiele,' 33 deren versifizierten Text er ausdrücklich rezitativisch verstanden haben wollte,' 34 genau auf dieses Verfahren zurück. Aufführungspraktisch sah Goethe in den rezitierten Jamben zudem durchaus eine >kleine Lösung< für die idealerweise durchkomponierte Oper, wie seine Briefe an Reichardt belegen.' 35
133
Wolfgang Kayser befindet sich also durchaus auf richtiger Fährte, wenn er konstatiert: »Nachklänge der flüssigen Verse [der >AlcesteIphigenie< unüberhörbar. « H A , Bd. 4, S. 5 73. Allerdings übersieht er dabei den wesentlicheren Befund, wonach Wielands Verfahrensweise in den parallel entstandenen Italienischen Fassungen der Singspiele Verwendung findet. 134 Wie er im Brief an Reichardt vom 15. Juni 1789 betont. F A II, Bd. 3, S.492. " " Ebenda. Vgl. Kapitel V I . j .
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III. Goethes frühe Singspiele
ι.
>Erwin und ElmireTöpferDichtung und Wahrheit< berichtete Goethe später über diese Arbeitsphase: Die Oper, Erwin und Elmire, war aus Goldsmiths liebenswürdiger, im Landprediger von Wakefield eingefügten Romanze entstanden, die uns [Lilli Schönemann und Goethe] in den besten Zeiten, vergnügt hatte, wo wir nicht ahneten, daß uns etwas Ahnliches bevorstehe. 4
Die stoffliche Anregung aus Goldsmiths Roman geht nach Borcherdt möglicherweise bereits auf eine noch nicht als Singspiel konzipierte Früh1
A n Kestner, 2 5 . 1 2 . 1 7 7 3 . F A II, Bd. 1, S . 3 4 1 .
' Vgl. Frantzkes (1998: S. 2 1 - 3 2 ) ausführliche Darstellung der Entstehungsgeschichte. J F A II, Bd. ι, S. 349. « F A I , Bd. 14, S. 8 3 2 - 8 3 3 .
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fassung zurück, die vor Herbst 1773 entstanden sein kann.5 Borcherdt trifft mit seiner Formulierung »die Cardinalfrage lautet also: Warum und wie ist >Erwin und Elmire< als Operette entstanden?«6 den Kern des Problems, ohne jedoch eine Antwort zu finden, denn seine Frage läßt sich nur dann beantworten, wenn die Gattungsspezifika der musikdramatischen Gattung berücksichtigt und dementsprechend nach Zusammenhängen zwischen der Gattungswahl und der Gestaltung des Stückes gesucht wird. Frantzkes Argumentation, wonach Goethe die musikdramatische Gattung wegen ihrer Beliebtheit wählte, 7 mag zwar zutreffen, vermag aber letztlich weder Goethes Gattungswahl zu erklären, da das Lustspiel zeitgenössisch ebenso erfolgreich war, noch die Gestaltungsweise des Stücks als Musikdrama. Goethe bezeichnete das Stück 1773 als »Lustspiel mit Gesängen«, 8 als eine heitere Unterhaltung, die als ein »Potpourri« den »Moralischen Wortkram« mit einschließen sollte.9 Daraus läßt sich schließen, daß er im Unterschied zu dem auf stringente Handlungsführung angewiesenen reinen Lustspiel, die eher lockere Struktur des >Lustspiels mit GesängenEmbleme und Sprüche< in satirischer, zumindest jedoch deutlich kritischer Absicht 12 wird spätestens in der zweiten Arbeitsphase unter dem Eindruck biographischer Erfahrungen mit Lilli Schönemann und Cornelia Goethe 13 mit einer ernsten Liebesgeschichte verknüpft, was seinen Niederschlag in der Änderung der Gattungsbezeichnung zu >Schauspiel mit Gesang< findet. Als zusätzliche Anregung für die Fabel des Stücks kommt Rousseaus >Devin du village< in Betracht, 5
Vgl. Borcherdt ( 1 9 1 1 ) , S. 73-74. Ebenda. 7 Frantzke (1998), S. 21. 8 A n Johann Christian Kestner, 2 5 . 1 2 . 1773. W A IV, Bd. 2, S. i3of. 9 Zitiert nach: Frantzke (1998), S. 24. 10 Die Terminologie erscheint parallel zu der französischen comédie mêlée d'ariettes. " Vgl. ebenda, S. 22. 11 Vgl. ebenda. 13 Eine ausführliche Darstellung der biographischen Bezüge liefert Frantzkes Untersuchung (1998), S . 2 1 - 2 5 . 6
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die Parallelen in der strukturellen Gestaltung sind jedoch weniger ausgeprägt: Rousseaus >Intermèdie< folgte bekanntlich dem Vorbild des italienischen Intermezzos, war rezitativisch gestaltet und mit funktional in die Handlung eingefügten Balletten ausgestattet. i . i . Handlung und dramatische Struktur Elmire hat ihren Verlobten Erwin mutwillig vertrieben und bereut es nun. Das Stück beginnt mit einem Gesang ihrer Mutter Olympia, die der betrübten Tochter die Lockungen der blühenden Natur schildert. Das zehnzeilige Stück mit unregelmäßigem Metrum und wechselnder Verslänge, einfachem Paarreim und dialektalen Wendungen (»Komm, laß uns in Garten gehen.«)'4 verdeutlicht sofort den rustikalen Typ der Mutter Olympia (sie ist damit der einzige dem deutschen Singspiel entnommene Typus), den sie in dem nachfolgenden langen Prosa-Abschnitt entfaltet. Die ausgesprochen variable Gestaltung des Gesangs kopiert zudem Andrés Verfahrensweise in >Der Töpfer< und erscheint damit als ein Zitat von dessen betont rustikalen dramatis personae samt ihrer Ausdrucksweise.15 Es entspinnt sich ein Diskurs über Töchtererziehung, bei dem die Mutter die Position der (empfindsamen) Aufklärung einnimmt, wonach die Töchter besserer Familien mit ärmeren Kindern gemeinsam in natürlicher und ungezwungener Umgebung erzogen werden (»unsre leinene Kleidchen waren bald gewaschen«)16 und mehr Wert auf die Ausbildung weiblicher Tugenden gelegt wird als auf Kenntnisse und letztere sich auf den Rahmen des zukünftigen Tätigkeitsfeldes der bürgerlichen Hausfrau beschränken sollen. Mit dieser Beschreibung einer >Erziehung zum Glücklichsein< übt sie indirekte Kritik an Elmires höfisch orientierter Erziehung durch den Vater, die ihr Kenntnisse und Selbstbewußtsein vermittelt hat, welche sie nun daran hindern, mit ihrer Rolle als zukünftige bürgerliche Hausfrau und Mutter glücklich zu werden.17 Goethe thematisiert nicht einfach Erziehungsformen an sich (etwa die Ideen Rousseaus im Verhältnis zu Formen höfischer Erziehung), sondern ganz konkret Formen der Töchtererziehung; ein feiner Unterschied, der 14 15
16 17
F A I, Bd.4, S.503. »Die Strophen weisen große Freiheit in der Form auf; auch werden Zeilenlänge, Reim, Versmaß und Versfuß innerhalb eines Liedes nicht streng beibehalten«. Stauder (1936), S.346. F A I , Bd. 4, S.505. Nach Frantzke (1998: S. 27-33) hat Goethe hier das Dilemma seiner Schwester geschildert, die mit ihm eine sonst Söhnen vorbehaltene Erziehung genossen hatte, die sie nun daran hinderte, in ihrer Rolle als Ehefrau aufzugehen.
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symptomatisch für Goethes frühe Singspiele werden sollte, die sich alle mit der Situation einer jungen Frau in der Gesellschaft befassen.'8 Dabei ist die geschilderte Familiensituation untypisch für das 18. Jahrhundert: Als Familienvorstand tritt nicht der Vater, sondern die Mutter auf. Auch existiert kein Vormund für die Tochter, der die Mutter überdies freie Partnerwahl zugesteht und ihr zudem noch verspricht, sie bei jeder Wahl zu unterstützen (!). Trotz dieser zeitgenössisch völlig realitätsfernen >Idealbedingungen< läßt die Mutter keinen Zweifel an der Bestimmung einer Frau zur Mutter und Hausfrau. Mit der Präsenz von nur einem Elternteil folgt Goethe dem Vorbild der französischen opéra comique19 und grenzt sich mit der ihre Tochter in allem unterstützenden Mutter deutlich von Andrés wiederum von Weiße übernommenen Typus des zänkischen Weibes (bei André als die das Glück der Tochter behindernde Mutter) ab. Goethe läßt seine beiden Figuren die Vorzüge der bürgerlichen und der höfischen Erziehung schildern und wechselseitig dem Spott preisgeben, ohne daß der Text Position bezöge. Die Einschätzung bleibt zunächst dem Leser vorbehalten. Es kristallisiert sich jedoch ein unlösbarer Grundkonflikt heraus: Für Olympia ist es Elmires >Uberbildung< und die daraus resultierende (überspannte) Empfindsamkeit, die sie daran hindern, mit ihrem Los zufrieden zu sein. Mit einem verzweifelten Lamento in Form einer da capo-Arie versucht Elmire nach dem Abgang der Mutter den Liebestod herbeizusingen (»O Liebe! gib mir den Tod.«)20 und verleiht damit ihrem Zugehörigkeitsgefühl zur höfischen Sphäre Ausdruck. Die Verfahrensweise, einen seelisch edlen Charakter unabhängig von seinem Stand durch die der opera seria entstammende da capo-Arie zu charakterisieren, ist für das Singspiel seit Hillers Bearbeitung der >Verwandelten Weiber< bekannt. Goethe kombiniert sie zudem mit der Verfahrensweise, mittels der Wahl der Arienform dem Selbstgefühl der dramatis persona Ausdruck zu verleihen, wie Hiller, der in >Die Jagd< den König eine einfache Liedform singen läßt und damit sein bürgerliches Ethos akustisch sinnfällig macht. Der >Hofmeister< Bernardo rügt bei seinem Auftritt Elmires affektuose Ubersteigerung der Situation.21 Unschwer läßt sich in ihm das Vorbild von Rousseaus Dorfwahrsager aus dem >Devin du village< erkennen,22 der 18
Das Stück wurde 1775 im Märzheft der >Iris< veröffentlicht, einer von Johann Georg Jacobi herausgegebenen Frauenzeitschrift. Es richtete sich damit ausdrücklich an ein weibliches Publikum, was die Thematik in diesem Fall zu motivieren scheint. •» Vgl. Gier (1988), S. 105. " F A I , Bd. 4, S.509. 21 Ebenda. 22 Das Goethe ja seit seiner Jugend vertraut war.
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wie in Rousseaus exemplarischem Singspiel als Freund, Mentor und Vertrauter zugleich auftritt. 23 Allerdings greift er für die Versöhnung der Liebenden nicht mehr auf tatsächliche oder vorgespiegelte Magie zurück, sondern verwendet lediglich das Mittel der Täuschung. Im Unterschied zu Rousseaus Wahrsager verkörpert er (scheinbar) das reine Verstandesprinzip, gegen das die Emotionen des eben noch empfindsamen Mädchens zunächst zu heftiger Wut aufkochen. 24 Bernardo beantwortet Elmires Gewissensbisse mit einer weiteren da capo-Arie, die doppelbödiger kaum sein könnte: Der Text fordert sie ähnlich wie vorher die Mutter dazu auf, sich nicht weiter zu grämen und den nächst besseren jungen Mann an Erwins Stelle zu nehmen. Während bei der Mutter jedoch die Wahlfreiheit der Tochter im Vordergrund stand, der die >gute Frau< in ihrer herzlich-naiven Weise Ausdruck verleiht, besingt Bernardo damit ironisch die Herzenskälte und das Kalkül junger Damen, das im Kontext der Norddeutschen Singspiels (und der opéra comique) durch die Herzensgüte der Bauernmädchen kontrastiert und zum Gegenstand empfindsamer Kritik wurde. Die Form der da capo-Arie betont zusätzlich die >HeiratspolitikDas Veilchen Ebenda, S. 5 1 1 . 26 Ebenda. 17 Ebenda, S. 5 1 0 - 5 1 1 . 28 Ebenda, S. 512. 19 Folgendes Reimschema: aa b cc d e / ff b gg h e / etc. 24
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dem feinen, natürlichen Kunstverstand seines mutmaßlichen Schöpfers Erwin. Der folgende Wortwechsel zwischen Elmire und ihrem Hofmeister, während dessen Bernardo den Rat eines Einsiedlers in Aussicht stellt, wird beschlossen von einem kleinen dramatischen Duett, das die unterschiedlichen Erwartungen nochmals pointiert und Elmire als Abgangsarie dient. 30 Bernardos darauffolgende Abgangsarie zitiert nur noch in ihrer Dreiteiligkeit das Schema der da capo-Arie, denn der Text des A-Teils wird bei der Wiederholung deutlich modifiziert. Auch das Metrum wechselt, dem emphatischen Inhalt entsprechend, und entlarvt seine vorherige Kälte als Verstellung, unter der sich nun die in der Logik des Singspiels natürliche Empfindung und die ernste Teilnahme des Greises an dem künftigen Glück seiner Schützlinge ausspricht. 31 Erwin erscheint in der Einsiedelei mit einem Lamento in typischer Volksliedform (vier Strophen zu jeweils vier Versen in vierhebig trochäischem Metrum und mit Kreuzreim). 32 Die kunstlose Form ist Garant für sein aufrichtiges Gefühl und entspricht seinem natürlichen, bürgerlichen Charakter. Im folgenden Prosamonolog jedoch wallen seine Emotionen wieder auf und verschaffen sich in einem achtzeiligen Arioso Luft, das ohne da capo-Formen auskommt. Erwin begründet Bernardo gegenüber seine Weltflucht nicht allein mit dem Liebesleid, sondern mit seinem Ekel am Stadtleben, Amtsüberdruß und der Enge des bürgerlichen Lebens. Der für die Gattung des Singspiels paradigmatische Gegensatz von Stadt/Hof und idyllischem Landleben wird überspitzt, indem das bürgerliche Landleben kaum besser erscheint, und als Alternative nur noch das Einsiedlerdasein bleibt. Bernardo greift Erwins Gesang in seiner formalen Gestaltung auf und entwirft in derselben Form ein positives Gegenbild zu seiner Schwarzmalerei, eine Form des >ins Gewissen Redens° F A I, Bd.4, S.515. 31 Ebenda, S. 516. Ebenda, 8 . 5 1 6 - 5 1 7 . 33 Ebenda, S. 518-519.
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Lili Schönemann sieht.34 Trotzig badet er im Selbstmitleid: »Sein ganzes Herz dahin zu geben/Und Götter so verachtet sein!/Das untergräbt das innre Leben,/Das ist die tiefste Höllenpein.«3' Bernardo bemüht sich daraufhin wiederum, mittels der modifizierenden Adaption von Erwins Äußerungen diesen zu beruhigen, diesmal jedoch erfolglos: Erwin wiederholt nur seine vier Zeilen und verweigert jede Einsicht.36 Erst das Auftauchen Elmires bringt Erwin schlagartig zur Räson. Dabei ist es markanterweise ihr Gesang, an dem der verzweifelte Liebhaber sie sofort erkennt, als sie selbst noch nicht zu sehen ist,37 eine Technik, die Sedaine/Grétry erst 1784 in ihrer Erfolgsoper >Richard Coeur de Lion< zum Höhepunkt ihrer Dramaturgie machen sollten: Im Heraufschreiten hört man Elmire zwischen Lebensfreude und Liebeskummer schwanken, sinnfällig gemacht durch das Metrum der zwischen ein- und dreihebigen Daktylen wechselnden Verse. Der Blick zurück ins Tal läßt sie in ihren stürmischen Affekt zurückfallen, dem sie mit fast schon Metastasianischer Wortwahl Ausdruck verleiht. Bei Bernardos Auftreten versucht sie ihren Gefühlsausbruch und das Ziel ihres Weges gleichermaßen zu verbergen: »Ich schlenderte so das Tal herauf«,38 wodurch zwischen dem Handlungstext und dem Gesangstext (einer regelrechten Affektarie)39 ein komischer Kontrast entsteht. Elmire tritt dem >Einsiedler< mit kindlich-schlichter Demut entgegen. Ihr vierstrophiger Gesang steht im Gegensatz zu dem expressiven Ausbruch, mit dem sie kurz zuvor ihre emotionale Situation artikuliert hatte: In stereotyper Selbstanklage wiederholt sie litanei- oder refrainartig die beiden Anfangsund Schlußverse der ersten Strophe jeweils am Ende der Folgestrophen (»Sieh mich, Heilger, wie ich bin,/Eine arme Sünderin.« und »Sieh mich vor dir unverstellt,/Herr, die schuldigste der Welt.«).4° Erwin der Einsiedler schickt seine Geliebte fort und bricht, ohne eine Zeile Prosa vorwegzuschicken, in einen jubelnden, vorwiegend in daktylischen Zweihebern gehaltenen Gesang aus, in den der hinzutretende Bernardo einstimmt, dessen Quintessenz und beherrschender Vers »Sie liebt mich« ist, und an dessen stereotyper Wortwahl und Fröhlichkeit sich die Doppelbödigkeit der Konfliktlösung ablesen läßt.4' Elmires Arioso dage34 33 36 37 38 35 40 41
Frantzke (1998), S. 50-52. FA I, Bd.4, S.521. Ebenda. Ebenda, S. 522. Ebenda, S. 524. Ebenda, S. 522-523. Ebenda, S. 524-525. Ebenda, S. 525-526.
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gen vollzieht differenziert ihre Verwunderung und vorübergehende Orientierungslosigkeit und als Klimax den Anruf an die >Götterhimmlischen< Zukunft einer künftig >engelsgleichen< Elmire verknüpft wird.43 Trotz des gattungsgemäßen lieto fine darf nicht übersehen werden, daß die Grundproblematik Elmires weder gelöst wird noch gelöst werden kann: Die Wiedervereinigung beruht auf einer Täuschung, die dem Mädchen gegenüber nicht aufgelöst wird. Sie erfährt nicht, daß der Einsiedler und ihr Geliebter ein und dieselbe Person sind. Zudem ist sie in ihrem Grunddilemma keinen Schritt weiter gekommen: Die Freude über die glückliche Aussöhnung mit dem Geliebten wird sie kaum lange über die Aussicht als Hausfrau und Mutter hinwegtrösten. Im letzten Ensemble hat sie denn auch nicht mehr viel zu sagen: Von 25 Versen entfallen gerade mal vier auf die Heldin, so viele wie auf Bernardo. Die anfangs so beredte junge Frau ist im Laufe der Handlung langsam verstummt. Bereits in seiner ersten erhaltenen Arbeit für das Musiktheater setzt Goethe die Gesangsweisen sehr präzise zur Personencharakterisierung ein: Während die robuste Mutter mit einem formal unbeholfenen aber zutiefst aufrichtigen Gesang ihre unbedarfte Natürlichkeit vermittelt, äußert sich ihre höfisch sozialisierte Tochter wie ihr Lehrer in der Gesangsweise der opera seria, der da capo-Arie. Dies bedeutet hier keine Abwertung oder Parodie der dramatis personae, sondern bildet analog zur Singspieltradition ein neutrales Mittel zur ihrer Charakterisierung. Allerdings ist Goethes Anwendung wesentlich präziser: Sie beschreibt nicht relativ diffuse Wesenszüge wie bei Weiße/Hiller, sondern macht die Sozialisation der Figuren sinnfällig und verwendet die Formen als individuell zu handhabendes Ausdrucksmittel der dramatis personae: Erwin erscheint als ein bürgerlicher und von Haus aus mittelloser junger Mann, dessen wesentlichste Züge seine Aufrichtigkeit und eine natürliche Gefälligkeit sind. Entsprechend sind seine Gesänge je nach Gefühlslage strophige Lieder von differenzierter Gestalt. Elmires Entwicklung von einer angehenden 42
Ebenda, S. 5 2 6 - 5 2 7 .
43
Ebenda, S. 529.
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Hofdame zu einer (künftigen) bürgerlichen Hausfrau erfolgt über eine Demütigung, die ihren stärksten Ausdruck in der strophigen Selbstanklage als Büßerin findet, mit der sie ihre bisherige Ausdrucksweise in der höfischen da capo-Arie einstellt: Angesichts der Alternative, auf Erwin zu verzichten, ist Elmire bereit, künftig ihre Konflikte still mit sich auszumachen. Es ist denn auch diese Demutshaltung, die Erwin augenblicklich überzeugt und in einen wahren Freudentaumel versetzt. Bereits Jahre vor seiner programmatischen Beschreibung der Gesangsweisen als Mittel zur Charakterisierung der dramatis personae gegenüber Kayser 1779 setzt Goethe die ihm vertrauten Traditionen des Musiktheaters offenbar funktional für die Dramaturgie seines Singspiels ein. Allerdings verwendet er sie noch nicht zu Verknappung des Textes, sondern zur Bestätigung (und Erweiterung) der im Dialog dargestellten Sachverhalte. Die Gesangseinlagen erscheinen wie eine zum Text addierte Ebene, sie kommunizieren miteinander, etwa durch formale Abstufungen ästhetisch höher- bzw. niederstehender Formen oder indem Bernardo Erwins Gesang für seine Persuasio aufgreift, aber sie interagieren nicht in sinnstiftender Weise mit dem Prosatext. Goethes Verfahrensweise stellt damit eine deutliche Verfeinerung der Singspielpraxis bezüglich der Gestaltung der Gesangseinlagen dar, jedoch keine grundsätzliche Neustrukturierung. Goethe bleibt bei seinem ersten Ansatz zu einer Literarisierung des Norddeutschen Singspiels ausdrücklich innerhalb von dessen stofflichen und formalen Traditionen, allerdings mit aufschlußreichen Variationen: Das entzweite und wieder vereinte Liebespaar bildet den aus der opéra comique ererbten Standardtopos. Dort sind die Hindernisse der harmonisch Liebenden stets von außen hereinbrechende Hindernisse, in Form einer Entführung oder der Weigerung eines Elternteils oder in Gestalt der höfischen Verführer in Rousseaus >Devin du villager In >Erwin und Elmire< dagegen gibt es keinen äußeren Anlaß, das Hindernis liegt in der Psyche der weiblichen Zentralgestalt. Eine weitere markante Änderung ist, daß die in >Erwin und Elmire< gestalteten und der Gattung des Singspiels zugrundeliegenden Diskurse zu höfischer und bürgerlicher Lebensweise aus der Handlungsebene in die diskursive Dialogebene rückgeführt und damit verdoppelt dargestellt werden. Goethe führt damit bewußt ein reflexives Moment in die Gattung des Singspiels ein. Auf das dem Singspiel unähnliche, weil großbürgerliche Personal ist bereits verwiesen worden; Bauman betont zudem, daß der im Hintergrund der ländlichen Gegend stehende >Hof< eine schützende und ernährende Funktion hat, statt als verruchter Kontrast zum Landle-
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ben zu fungieren. Strukturell setzt lediglich der einleitende längere Prosadiskurs die Librettotechnik des Singspiels um, von Bernardos Auftritt an sind die Gesänge dagegen wesentlich dichter gesetzt und folgen damit eher dem Prinzip der opéra comique.44 Goethes Änderung der Gattungsbezeichnung von >Lustspiel mit Gesängen zu >Schauspiel mit Gesang< ist symptomatisch: Nach Bauman ist >Erwin und Elmire< nicht nur das erste Werk mit dieser Gattungsbezeichnung, er versteht den Begriff >Schauspiel< hier zudem als Anklang an das französische >drameErwin und Elmire< noch der für das musikdramatische Genre zentralen Liebesgeschichte, doch werden bei genauer Hinsicht vor allem soziale Konflikte bearbeitet. Die zeitgenössischen Kritiker honorierten Goethes differenzierte Gestaltung der Gattung ebenso wie die Komponisten.46 Andrés Vertonung war nur die erste, in den folgenden drei Jahren wurde es häufiger vertont als irgend ein deutsches Libretto zuvor.47 Andrés Komposition von 1775, die bereits im Jahr ihrer Aufnahme ins Berliner Repertoire 15 Wiederholungen erlebte,48 ließ den Berliner Theaterdirektor Theophil Döbbelin den Komponisten 1776 als Kapellmeiser nach Berlin berufen, wo dieser bis 1784 sehr erfolgreich auch als Komponist tätig war, ehe er nach Offenbach zurückkehrte.49 >Erwin und Elmire< gehörte bis dahin zu den wichtigsten Stücken des Berliner Spielplans.
2. >Claudine v o n Villa BellaClaudine< als die Wiederaufnahme einer älteren Konzeption. 50 An44
Bauman (1985), S. 170. Vgl. ebenda, S. 154. 46 Friedrich Daniel Schubart bezeichnete es in seiner Besprechung in der >Deutschen Chron i k 25 (September 1775) als das »beste deutsche Singspiel«. 47 Bauman (1985), S. 155. 48 Ebenda, S. 136. 4 ' Vgl. Stauder (1936), S.343. F A II, Bd. i, S.446. 45
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fang 1776 erschien das fertige Stück, sicherlich ermutigt durch den guten Erfolg von >Erwin und ElmireDichtung und Wahrheit< vermerkte Goethe: Claudine von Villa Bella war früher fertig geworden [als Stella], Als ich im Gegensatz von den Handwerks Opern, romantische Gegenstände zu bearbeiten trachtete und die Verknüpfung edler Gesinnungen mit vagabundischen Handlungen, als ein glückliches Motiv für die Bühne betrachtete, das zwar in spanischen Gedichten nicht selten ist, aber uns neu war zu jener Zeit [...].51 Die Frage nach der stofflichen Quelle ist von der Forschung eingehend wenn auch bislang ohne befriedigendes Ergebnis untersucht worden. 52 Hier interessieren vor allem die Komponenten, mit denen Goethe sich dezidiert von den Vorbildern Weiße und Hiller sowie der französischen opéra comique abgrenzt. Gerhard Sauders Hinweis, wonach Goethe sich bei der Stoffwahl (>edle Gesinnungen und vagabundische Handlungen^ an die Tradition des spanischen Mantel- und Degen-Stückes anlehnt ist, abgesehen davon, daß auch hier die Vermittlungslinie offen bleibt, 53 wenig hilfreich, da er nicht zu erhellen vermag, weshalb Goethe den Stoff als Musiktheater bearbeitete. Interessant ist jedoch sein Verweis auf die spanische Romanze, die als gesangliche Liebesdichtung bereits die Ausgangsgattung für >Erwin und Elmire< bildete. Mit dem Motiv der verfeindeten Brüder, deren einer durch sein vagabundierendes Leben zudem im Konflikt mit der Gesellschaft steht, und dem Topos der Frau zwischen zwei Männern, die gerade die beiden widerstrebenden Prinzipien verkörpern, verbindet Goethe typische Sturm und Drang-Motive. Das beliebte Thema der entführten Unschuld, an deren Schicksal Weiße und Hiller die polaren Gesellschaftsformen wirkungsvoll in Szene gesetzt hatten, wird hier von der dualistischen Persönlichkeit Crugantinos an den Rand gedrängt. Claudine gehört zudem wie alle Be51
Schema zum 17. Buch von >Dichtung und WahrheitOperette< Eschenburgs mit dem Titel >Sancho PansaIhr verblühet, süße Rosen< verwendet wurden. Bereits Herder hatte dieses Metrum für die Ubersetzung spanischer Romanzen verwendet und damit die viertaktigen Trochäen der spanischen Romanzendichtung in den Kanon deutscher Versformen übertragen, wo sie ihrer Herkunft entsprechend die Bezeichnung spanischer Trochäus< erhielten.56 Der kurze, einteilige Gesang gibt nicht nur über Claudines Gefühle, sondern auch über einen trotz Verwöhnung und Reichtum ungekünstelten Charakter Auskunft. Zudem schlägt er den Bogen zur einleitenden Festszene und verknüpft diese mit der Handlung. Als Pedro aufbricht, um ' " F A I , Bd. 4, S. 589-591. " Ebenda, S. 596. "·'' Vgl. Erwin Arndt: Deutsche Verslehre, r 1. Auflage. Berlin 1984, S. 165-166.
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die Spur seines Bruders weiter zu verfolgen, und er Claudine von den verlassenen Geliebten erzählt, die dessen Weg pflastern, kommt es zu einer ersten Aussprache der Liebenden im Duett.'7 Das komplexe Gesangsstück gliedert sich in vier formal und inhaltlich getrennte Teile: Claudine konstatiert jeweils die Verderbtheit der Männer, wogegen Pedro in dem von Bernardo bekannten Verfahren ihre Gesangsweise aufnimmt, und sie durch die Adaption ihrer Verse und die Verkehrung des Inhaltes davon zu überzeugen sucht, daß sie nur den guten Mann unter den schlechten herausfinden müsse, um glücklich zu werden. Claudine weicht ihm aus, indem sie nach jeder Antwort das Metrum wechselt. Sie beginnt mit beschwingten Zweihebern, wechselt zu dramatischeren Vierhebern und zieht sich über Dreiheber wieder auf ihr Anfangsmetrum zurück, scheinbar ohne überzeugt worden zu sein. Die klanglichen Möglichkeiten des Gesangs sind schon aus dem Text heraus sinnfällig: Das leicht begonnene Duett schwillt mit der Frage Claudines zu einer ersten Annäherung der Liebenden an, die im Tempo der länger und dramatischer werdenden Verse deutlich wird, um mit Claudines Rückzug wieder abzuebben. Das Duett, der Tradition nach Ausdruck für die Harmonie zweier Liebender, wird fast zum Streitgespräch. Allerdings signalisiert Pedro, indem er sich jedem Vers- und Metrumswechsel seiner dynamischen Geliebten angleicht, daß er um der Harmonie willen jetzt wie künftig darauf bedacht ist, ihren Vorgaben zu folgen - ein Wesenszug, der im Einklang mit seinem im Prosatext entfalteten eher schwachen und nachgiebigen Charakter steht. Die Situation wird erst entschärft durch die Cousinen Claudines, die mit einem stereotypen und analog zum Gesang Olympias metrisch groben Lobgesang auf ihr >Schätzel< hinzukommen und das Paar zwingen, in den Refrain mit einzufallen.'8 Mit dem gesungenen Streitgespräch und seiner ebenfalls gesungenen Beschwichtigung nähert Goethe das Stück bereits den Aktionsarien der opera buffa an, bei der die Gesänge nicht länger in der Schilderung von Affekten, also Wirkungen der Handlung verharren, sondern selbst Handlung beinhalten. Auch das mit vier Stimmen bereits über die Praxis des Singspiels hinausgehende Ensemble verweist auf die opera buffa. In einer schlechten Herberge und im Kreis seiner Vagabundenkumpane erscheint Crugantino, »den Degen an der Seite«, und gibt mit einem in dynamischen, vorwiegend in jambischen Versen wechselnder Zeilenlänge gestalteten Lied zur Zither sein Credo zum Besten: »Mit Mädeln sich ver57 F A I , Bd. 4, S. 598-599. 58 Ebenda, S. 599-600. 71
tragen,/Mit Männern 'rumgeschlagen,/Und mehr Kredit als Geld;/So kommt man durch die Welt.«59 Seine edle Seite zeigt sich in der Folge jedoch durch seine Wertschätzung Claudines, der er bei ihrer elegischen Liebesklage auf der mondbeschienenen Terrasse auflauert und nach demselben Prinzip wie zuvor Pedro mit ihr in ein Duett eintritt, jedoch mit wesentlich mehr erotischem Erfolg (»Claudine: Welche Stimme! Ich vergehe.«)/0 Letzterer tritt mit einem Arioso dazwischen, einer Liebesklage in spanischen Trochäen, die das Reimschema von Claudines gleichgebautem Liebesgesang kopiert, wird von Crugantinos Zwischenruf jedoch noch vor dem abschließenden Refrain unterbrochen und es kommt nicht zum Sängerwettstreit, sondern zum Duell. Hier findet bereits konkrete Handlung innerhalb des Duetts statt (Crugantino und Claudine tauschen einen Kuss aus) und zudem bildet der Gesangskomplex den Anlaß der nachfolgenden Handlung. Crugantino fügt seinem Bruder Pedro eine Armwunde zu und läßt daher den >edlen Fremden< von seinem Kumpan ins Gasthaus nach Saragossa bringen, wo er gepflegt werden soll. Er selbst wird von Claudines Vater ertappt und nach kurzem Wortwechsel als >edler Gast< eingeladen. Erst hier wird wieder gesungen. Crugantinos daktylisches Liedchen an Claudine leitet den Dialog über Volkspoesie ein, in dem Goethe Crugantino und Gonzalo die Positionen Herders61 vertreten läßt: Während Gonzalo die Volkspoesie, »die Liebeslieder, die Mordsgeschichten«, also Romanze und Bänkelsang, als Spiegel glücklicher, aber vergangener, natürlicher Zeiten rühmt,62 verweist Crugantino darüber hinaus auf die >neuesten Übersetzungen^ die die alten Lieder wieder aufleben lassen. Mit der Integration der Ballade in das Singspiel erweitert Goethe den Diskurs um Volkspoesie und gibt ihm eine neue Dimension: Der Singspieltopos vom natürlichen Land- und dekadenten Hofleben wird hier um die historische Komponente (goldene Vergangenheit bzw. aktuelle Renaissance) erweitert und, ähnlich wie in >Erwin und Elmire< der Diskurs um Töchtererziehung, auf poetologischer Ebene diskutiert. Das solcherart thematisierte Medium des Volksliedes wird zudem ästhetisch in die Gattung Singspiel eingebunden und fungiert zugleich als Einleitung für die zentrale Ballade >Es war ein Buhle frech genugHandlung< vom Zweifel zum Entschluß beinhaltet. 66 Die nächste Szene zeigt sie im Schutz der Nacht und in Männerkleidern vor der Herberge in Saragossa, wo Crugantino sie entdeckt: Von da ab setzt mit dem dramatischen Höhepunkt ein langer, vorwiegend zweihebig-daktylisch gestalteter, dynamischer Gesang an, den Bauman als das erste finale des deutschen Singspiels beschreibt: O n l y f r o m italian practice c o u l d G o e t h e have g l e a n e d the brilliant i n s p i r a t i o n of setting the first n o t e s of this finale at the m o m e n t C r u g a n t i n o r e c o g n i z e s C l a u d i n e b e n e a t h her m a l e c l o t h i n g , a n d in the finale itself the m o u n t i n g d r a m a tic t e n s i o n t h r o u g h the f o u r s e c i o n s d u p l i c a t e s in this d e a d l y s e r i o u s c o n t e x t the acceleration to i m b r o g l i o of an internal o p e r a b u f f a finale. 6 7
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6¡ 66 67
Das Potential der Volkslieder innerhalb einer Singspielhandlung sollte Goethe später in der >Fischerin< voll ausgestalten. FA I, Bd.4, S.616-618. Ebenda, S. 621. Bauman (1985), S. 1 7 1 . 73
Goethe läßt hier nicht nur die dramatische Handlung einer versuchten Vergewaltigung und eines Zweikampfes, gefolgt von der Gefangennahme der Liebenden und deren Duett im Kerker, in einem sechsstimmigen Ensemble ablaufen, was ein absolutes Novum innerhalb des Norddeutschen Singspiels darstellt, er überträgt zudem die komische Dramaturgie der opera buffa in einen der ernsten Oper mindestens ebenbürtigen dramatischen Kontext. 68 Entsprechend kann der überwiegend in Prosa verfaßte Schlußteil nur noch als Antiklimax empfunden werden. 69 Die Brüder erkennen sich erst jetzt und in der Zerknirschung Crugantinos offenbart sich dessen edles Herz. Sie verzeihen sich und Pedro und Claudine locken Crugantino in einem kurzen Gesang zum Bekenntnis brüderlicher Liebe zur begehrten Frau. Doch eigentlich sieht Crugantino nicht, wie er sich bessern soll angesichts einer Welt, die ihm an allen Enden zu eng erscheint und nur Knechtschaft zu bieten hat. Auch hier wird der Zentralkonflikt nicht gelöst, sondern nur überspielt: Claudines Ohnmacht bringt nochmals einen kurzen Spannungsbogen und Anlaß für ein knappes Schlußfinale, an dessen Ende der Chor ein glückliches Liebespaar verkündet. Sowohl die Behandlung der Arien als Teile der Handlung, im Unterschied zu den noch vorwiegend kontemplativen Gesängen in >Erwin und ElmireLa serva padronaClaudine< gedient zu haben. Daß Goethe auf die Darbietungen der italienischen Wandertruppe und ihre strukturellen Eigenheiten Bezug nimmt, ist höchst unwahrscheinlich, zumal der 68
Vgl. ebenda. Nach Bauman orientiert sich Goethes Verfahrensweise am großen Binnenfinale im zweiten A k t der dreiaktigen opera buffa. Entsprechend teilt der Prosaschluß von Goethes Singspiel das Problem des dritten Akts der Buffa: »It may be viewed as the case of the hereditary disease of operatic third acts, compelled to mob up after the confusion wrought in act-two finale.« Ebenda. 70 Ebenda, S. 1 7 0 - 1 7 2 . 71 F A I , Bd. 15.1,8.467-468. 71 Vgl. die Tagebucheintragung in W A III, Bd. 1, S. 32 und die ältere Fassung der Passage der italienischen Reise< in W A I, Bd. 36, S.404. 69
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Wechsel von dem fast durchgängig an der opéra comique orientierten >Erwin und Elmire< zu >Claudine< in zeitlich kurzem Abstand geschieht. Eine zweite opera buffa, die zu diesem Zeitpunkt bereits auf norddeutschen Spielplänen erscheint, ist Guglielmis >La sposa fedele< in der ausgesprochen populären deutschen Ubersetzung >Robert und KallisteLa buona figliuola< in der Vertonung von Piccini, ein bereits für die Entwicklung der opéra comique einflußreiches Werk, das die komischen Elemente der opera buffa weitgehend zurückgedrängt hat und sich in seiner Personengestaltung der opera semiseria (einer tragikomischen Mischform) und dem Rührstück annähert. Bei welcher Gelegenheit und an welchem Ort Goethe die Verfahrensweisen der opera buffa so gut kennen lernte, daß er sie derart präzise in seinem eigenen Schaffen wiedergeben konnte, muß demnach offen bleiben, die Entstehungsgeschichte von >Claudine< legt jedoch den Zeitpunkt auf die Jahre 1775 und 1776 fest. Für diese Annahme spricht auch ein Brief an Voigt vom 9.12.1808, der Goethe später als Vorlage zu seiner Genealogie der Oper in der italienischen Reise< diente, in dem er die beiden beschriebenen Werke als die ersten italienischen Buffen auf deutschen Theatern benennt, die in seiner Aufzählung direkt auf Andrés >Töpfer< folgen.74 Mindestens für eine weitere italienische opera buffa ist Goethes genaue Kenntnis nachzuweisen, bevor er überhaupt an eigene Singspielproduktionen dachte: Am 3.2.1772 schrieb er an Johann Heinrich Jung: »Du hast noch meine Oper Mondo alla riversa«7'' - gemeint ist Goldoni/Galuppis >Mondo alla rovescia< (Venedig 1752) - und bat um die Rückübersendung der Partitur. Obgleich Goethe die ausgesprochen avantgardistischen Verfahrensweisen der opera buffa verwendete, bestätigte er zugleich grundsätzlich die Singspielform: Ausgeprägter als in >Erwin und Elmire< noch erscheinen die Gesänge bzw. Gesangskomplexe als Inseln im Prosatext, der sich über längere Passagen hinzieht und mit seiner Masse an Motiven und Ortsverwandlungen das zeitgenössische Theater vor eine beinahe unlösbare Aufgabe stellte. Goethes Verfahrensweise ist jedoch nicht als dezidierte Re73
Bauman (1985), S.93 und 136. W A IV, Bd.20, S.255-256. 7' F A II, Bd. i, S.255 und 774. 74
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Orientierung an der ästhetischen Konzeption des Norddeutschen Singspiels zu verstehen, sondern ergibt sich aus seinem Bestreben, deutlicher noch als in >Erwin und Elmire< eine ernste Handlung (mit glücklichem Schluß) mit den Verfahrensweisen des Musiktheaters zu verbinden. Während Goethes erstes Schauspiel mit Musik die literarische Aufwertung der Gattung noch weitgehend innerhalb ihrer Traditionen versucht, bietet Claudine reichhaltig Stoff für eine Tragödie und trotz des lieto fine am Ende mit Crugantino einen auf ganzer Linie gescheiterten Helden. Crugantino erscheint als ein typischer Held des Sturm und Drang und kann wohl zu recht als ein >Bruder< von Schillers Karl bezeichnet werden/ 6 wenn auch bei Goethe das Vagabundentum weniger revolutionär konnotiert ist, sondern eher den Konflikt von Individuum und Gesellschaft behandelt. Das Ausbruchsmotiv zieht sich durch Goethes sämtliche Singspiele, doch sonst sind es stets die Frauen, die aus einer beklemmenden und beengenden Situation (vergeblich) zu entkommen versuchen. Auch in der Behandlung der Gesänge emanzipiert Goethe sich von den traditionellen Verfahrensweisen: Gehörte in >Erwin und Elmire< die da capo-Arie noch zu den zentralen Gestaltungsmitteln, sind nun, sicherlich unter dem Eindruck der opera buffa, die ebenfalls weitgehend auf da capoArien verzichtet, alle Sologesänge (bis auf die strophige Ballade) einteilig, zum Teil mit wiederkehrenden Passagen, die eine liedhafte Kompositionsweise mit Refrain implizieren. Goethe bildet bereits einen spezifischen Formenkanon an Versen und Metren für die verschiedenen Darstellungsgegenstände heraus: Der spanische Trochäus, der als typischer Romanzenvers eng mit der Genese der Singspiele verknüpft ist, bildet das Metrum für die elegischen Liebesgesänge Claudines und Pedros, erscheint aber auch in Baskos Liedchen über seine beiden Verehrerinnen und zeilenweise im Duett von Claudine und Pedro, vor allem aber zwischen Claudine und Crugantino; er ist das Metrum des Liebesgesanges. Der kurzzeilige, vorwiegend zweihebig daktylisch oder jambische Vers bildet u.a. das Binnenfinale und Claudines Entschlußarie, Pedro suchen zu gehen; er ist somit das Metrum starker innerer wie äußerer Bewegung. Jambische Form mit vorwiegend vier und drei Hebungen hat das Liedchen vom >Schätzel< der beiden Cousinen, Crugantinos Lied >Mit Mädeln sich vertragen< und die Ballade >War ein Buhle frech genugClaudine< verarbeiteten Konflikte eine Form, die ihnen dank ihres >leichten< Charakters die soziale Schärfe nahm und ihre vordergründige Unlösbarkeit zugleich bestehen ließ. Für diesen Darstellungsimpetus von zentraler Bedeutung ist die Tradition des lieto fine in der Oper: Die ernste Oper hatte sich aus ästhetischen, vor allem aber aus politischen Gründen in der Form einer ernsten, d.h. vornehmlich einer Tragödienhandlung (als der in der Gattungshierarchie höchststehenden Gattung) entwickelt, deren tragischer Schluß im letzten Moment zu einem glücklichen Ende abgewendet wird. Als eine aristokratische Kunstform realisiert die ernste Oper das Postulat einer prästabilierten Harmonie, in der die Effektivität guten Handelns, edler Gesinnungen und vor allem die Berechtigung des Herrschenden bestätigt werden sollten, welche durch den Untergang eines lauteren Helden in Frage gestellt worden wären. 77 Librettisten und Komponisten haben diese Konvention, die sie nur in seltenen Fällen vermeiden konnten und für deren Befolgung antike Tragödienstoffe so radikal verändert wurden, wie die Orpheussage in Calzabigis Libretto/ 8 bevorzugt dadurch in ihrer Unzulänglichkeit verdeutlicht, daß sie einer differenzierten Schilderung der Konflikte einen äußerst knappen und betont aufgesetzt wirkenden Schluß hinzufügten. Goethes Verwendung des lieto fine zitiert genau diese seria-Tradition, 79 allerdings nicht, um die Harmonie der Verhältnisse zu konstatieren, sondern, wie Crugantino in seinem Schlußmonolog ausspricht, um ihre Disharmonie sinnfällig zu machen. Goethe verband mit seiner Betätigung für das Musiktheater bereits zu diesem frühen Zeitpunkt den Anspruch, gattungsbildend zu wirken und den Kunstcharakter des Genres zu heben. 80 77
Zum lieto fine in der opera seria vgl. Gier (1988), S. 7 1 - 7 2 . Vgl. außerdem Oxford Dictionary of Opera. Oxford 1992, S. 408-409. 78 In dem Orfeo seine Gattin Euridice auf Amors Wink zurückerhält, statt von den Furien zerrissen zu werden. 79 Im Unterschied dazu waren die Schlüsse der opéra comique und des Norddeutschen Singspiels als wirklich glückliches Ende mindestens für die Zentralfiguren zu verstehen. 80 Der Begriff der >GelegenheitsdichtungenGelegenheitsdichtung< in ihrer poetologischen Bedeutung wird im Kapitel über Goethes Festspiele noch zurückzukommen sein.
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Sein Bestreben, dem Singspiel unabhängig von der Vertonung eine Berechtigung als literarische Gattung zu verschaffen, geht in diesem Stadium trotz der differenzierten und avantgardistischen Gestaltung der Gesangkomplexe hauptsächlich vom Prosatext aus und entwirft mit der von Goethe entwickelten Gattung des >Schauspiels mit Musik< eine ernste Gattung für das deutschsprachige Musiktheater, die vom Norddeutschen Singspiel ausgehend, dieses über Verfahrensweisen der Buffa in Richtung auf eine ernste Oper erweitert. Damit antizipierte Goethe nicht nur die weitere Entwicklung des (Süd-)deutschen Singspiels, sondern auch die der italienischen opera buffa und der französischen opéra comique, die sich erst bis ca. 1800 dahin entwickeln sollten, daß sie dramatischen und tragischen Inhalten eine adäquate Form geben konnten. >Claudine von Villa Bella< vermochte nicht an den großen Erfolg von >Erwin und Elmire< anzuknüpfen, was nur teilweise an der für das Singspiel gänzlich neuen Konzeption liegt: 8 ' >Erwin und Elmire< war vor allem deshalb so erfolgreich, weil es mit den Mitteln und Traditionen des Norddeutschen Singspiels und der opéra comique, auf die die Theatertruppen bereits eingestellt waren, Hervorragendes leistete. Die Personalanforderungen von sechs Sängern, ganz zu schweigen von den zahlreichen Schauplatzwechseln in >Claudine< überstiegen dagegen die Möglichkeiten der meisten norddeutschen Ensembles. 82 Andrés Vertonung von 1777/78 wurde nie aufgeführt, ebenso die von Seckendorff und Neefe. Spätere Aufführungspläne des Weimarer Liebhabertheaters 1779 wurden von Goethes zweiter Schweizreise unterbrochen, von der er mit gänzlich neuen Opernplänen wiederkehrte. Es ist symptomatisch, daß die erste überlieferte Aufführung 1780 in der Vertonung von Ignatz van Beeke am Wiener Hofburgtheater stattfand, dem Ort, an dem das Süddeutsche Singspiel auf die strukturell gleiche Weise entstand. Allerdings war Goethes Sonderweg eines ernsten deutschen Singspiels auch hier kein nennenswerter Erfolg beschieden, der auch in Wien erst einige Jahre später mit den komischen Singspielen Dittersdorfs einsetzte. Im Frühjahr 1776 beschloß Goethe, für längere Zeit in Weimar zu bleiben. Damit erschloß er sich einen Wirkenskreis, in dem bürgerliches deutsches Musiktheater bereits zu einer ersten Blüte gelangt war.
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Bauman (1985: S. 171): »North german composers had never seen the likes of Goethes operatic tour de force«. Vgl. Frantzke (1998), S. 97-98.
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3· O p e r n w e s e n in Weimar Bis zur Mündigkeit von Carl August hatte sich das Weimarer Hofleben ganz um dessen Mutter Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach konzentriert. Sie war eine im Geiste der Aufklärung erzogene, intelligente und vielseitig gebildete Frau, den Künsten und Wissenschaften gleichermaßen zugetan. Als Herzog Ernst August II. Constantin von SachsenWeimar-Eisenach 1758 nach nur zweijähriger Ehe verstarb, übernahm sie selbst die Regierungsgeschäfte und die Vormundschaft über ihre Söhne Carl August und Constantin. Sie reformierte das Fürstentum zu einem modernen Staatswesen 8 ' und legte mit der Berufung von Musäus als Pagenmeister und später Wieland als Prinzenerzieher den Grundstein zu einem posthum als >Musenhof< verklärten, geistig-kulturellen Zentrum Deutschlands. 1775 folgte Goethe dem Ruf nach Weimar, auf Goethes Empfehlung kam 1776 Herder,®4 Lenz und Klinger dagegen vermochten sich nicht in das auf den Hof zentrierte Leben einzufügen. 8 ' Von dem zeitgenössisch keinesfalls außergewöhnlichem Mäzenatentum an feudalen Höfen unterschied den Weimarer >Musenhof< vor allem der Umstand, daß sowohl unter Anna Amalia als auch später ihrem Sohn Carl August die Künstler weitestgehend bürgerlicher Abstammung in das Hofleben integriert wurden und zu hohen Staatsämtern aufsteigen konnten.86 A m Hof zu Braunschweig, dem Ort ihrer Jugend, war italienische Oper gepflegt und Anna Amalia selbst zu einer guten Laienkomponistin ausgebildet worden. Sie sollte später selbst einige Texte aus Goethes Feder vertonen. 87 Bereits nach ihrer Hochzeit hatte die junge Herzogin mit dem Aufbau des Weimarer Theaterwesens begonnen, dessen musikalischer Abteilung ab 1761 Ernst Wilhelm Wolf vorstand, dem es gelang, in den kommenden Jahren ein gutes Orchester aufzubauen. Die Aufführungen der Kochschen Theatertruppe, bei denen das Publikum aus geladenen Gästen bestand, fanden ab 1768 in dem kleinen Hoftheater in einem Flügel des Palastes statt und waren somit fester Bestandteil des Hoflebens. Bereits im Repertoire der Kochschen Truppe spielten >OperettenLila< entstand im Rahmen mehrerer Inszenierungen als eine Art >Work in Progresss von den drei bzw. nach Frantzke vier Fassungen 103 sind lediglich zwei vollständig überliefert. Die Forschung hat vor allem die Zustände am Weimarer Hof als Grundthematik ausgemacht und so gründlich untersucht, daß an dieser Stelle auf eine entsprechende Darstellung verzichtet werden kann. 104 Einig ist sich die Forschung, daß das Stück mit einem explizit erzieherischen Impetus gearbeitet wurde. Ob dieser sich nun primär auf die in >Lila< porträtierte junge Fürstin bezog, wie Rutloff-Hille 1 0 ' ausführt, oder eher auf Herzog Carl August Ioé eingewirkt werden sollte, ist für die Analyse zunächst ohne Bedeutung. In Anbetracht der Delikatesse des Themas und seiner damals noch nicht ganz gefestigten Stellung am Hofe bedurfte es für Goethe jedesfalls einiger Vorsicht bei der Gestaltung des Themas, die sich in der Wahl der Gattung ausspricht: Es versteht sich von selbst, daß sowohl die Tragödie, noch mehr aber das Lustspiel hierzu ausschieden. Das Musikdrama mit seinen weichen Gattungsgrenzen und seinem leichten, scheinbar unverbindlichen Charakter hatte Goethe bereits erfolgreich dazu verwendet, delikate Themen zu behandeln und zu einem wenngleich brüchigen lieto fine zu führen. Mit der der zweiten Fassung beigegebenen Bezeichnung >FeenspielMode< und ihre damals bekannteste Sammlung von Friedrich Immanuel Bierling >Das Cabinet der Feen oder gesammelte Feen-Märchen< von 1761 (Nürnberg) verweist, indem Altenstein ausruft: »Friedrich, reite hinüber und schaffe die Masken zusammen! In unseren beiden Häusern müssen sich so viele alte und neue finden, daß man das ganze Kabinett der Feen damit furnieren könnte.« F A I, Bd. 5, S. 847. Rutloff-Hille unterscheidet drei Fassungen, deren letzte in der B A wiedergegeben wird. Zu den verschiedenen Fassungen sowie zur Uberlieferung vgl. B A , Bd. 4, S. 1 8 1 - 2 2 6 und 683Í. - Frantzke rekonstruiert vier Fassungen, wobei er die vierte, nach der Italienreise entstandene, als nicht mehr zum Gegenstandsbereich der frühen Singspiele gehörig ausklammert. Vgl. Frantzke (1998), S. 1 1 3 f f . und 245ff. Die in der B A wiedergegebene Fassung folgt der W A und gibt die in Italien überarbeitete, vieraktige >dritte< Fassung wieder (also nach Frantzke die vierte). Die von Frantzke als repräsentativ angesehene Drittfassung ist fünfaktig, und wird in F A I, Bd. 5, S . } 5 f f . wiedergegeben.
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entstand schließlich in Italien und Weimar.109 Der Titel der Drittfassung (nach Frantzke) ist: >Festspiel/mit Gesang und TanzFestspiel< nicht in deutlicher zeitlicher Distanz zu den für einen Vergleich in Frage kommenden Werken >Pandora< und >Des Epimenides ErwachenGesang und TanzDeutschlandalte MGGSprache des Herzens< sein sollte, und der Entwicklung der musikalischen Ausdrucksmittel zu einer Sprache von individueller Emotionalität waren nicht nur die Voraussetzungen für das Melodram gegeben, praktisch dieselbe Linie verfolgten Calzabigi und Gluck auch mit ihrer Reform der opera seria. Allerdings war die Verbreitung der gesanglich für die Schauspieltruppen zu anspruchsvollen Gluckschen Oper auf der Bühne stark begrenzt, und das Norddeutsche Singspiel in der Nachfolge Weißes und Hillers vermochte weder die Forderung nach einer Emotionalisierung der Poesie durch die Musik in befriedigender Weise zu vollziehen noch das Bedürfnis des Publikums nach einem ernsten bzw. tragischen Musikdrama zu erfüllen. 5.1. Entwicklung des Melodramas Die >Erfindung< des Melodramas wird zurecht Rousseau zugeschrieben. Dessen >Pygmalion< (1770), der als erstes Melodrama gilt, entspringt Rousseaus These, wonach die französische Sprache nicht zum (dramatischen) Gesang geeignet sei.'49 Eine neue Gattung zu begründen war dabei jedoch kaum seine Intention; er betrachtete den >Pygmalion< ähnlich wie zuvor den >Devin du village< eher als ein Exempel, um seine Überlegungen sinnfällig werden zu lassen. Die Musik wurde teilweise von Rousseau selbst, teilweise von dem Liebhabermusiker Horace Coignet komponiert; allerdings spielt sie in Rousseaus >Pygmalion< die untergeordnete Rolle, sie bleibt auf das Nachahmungsprinzip beschränkt und folgt der Deklamation zeitlich nach, anstatt diese begleitend mitzugestalten. Der zeitgenössische Kritiker La Harpe zeigte sich deshalb auch wenig beeindruckt: Die Musik, die man in den Unterbrechungen des Monologs zu hören bekommt, stammt von irgend]emandem aus Lyon; sie ist mittelmäßig. Aber selbst, wenn sie besser wäre, hätte man ihr kaum gelauscht. Nichts erscheint schlechter ausgedacht, als mit Instrumenten wiederholen zu wollen, was zuvor in der Deklamation ausgedrückt wurde. 1 ® 0
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Vgl. Piper, Bd. 5, S.464. Jean François de La Harpe: Œuvres accompagées d'une notice sur sa vie et sur ses ouvrages. Paris 1 8 2 0 - 1 8 2 1 , S. 246. Allerdings hat La Harpe die Intention Rousseaus insofern
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Die Uraufführung fand 1770 in Lyon statt, wobei der Erfolg weniger der Aufführung als dem Stück in seiner neuartigen Konzeption beschieden war. Zwei Jahre später wurde es in Wien und Weimar in einer Neufassung, die die Rolle der Musik verstärkt hatte, mit besserem Erfolg aufgeführt. Wiederum zwei Jahre später komponierte Jiri Benda mit >Ariadne< und >Medea< die erfolgreichsten und gelungensten Stücke der nun rasch an Popularität gewinnenden Gattung. Jiri Antonin Benda, später auch >Georg Benda< (1722-1795), entstammte einer Musikerfamilie, die man zurecht als >böhmische Bachfamilie< bezeichnen kann. Aus Böhmen stammend gelangte der Sohn eines Komponisten und einer Sängerin (dessen vier Geschwister alle Musiker waren und in zwei Fällen ihr Talent an ihre Kinder weitergaben) 1742 als Violinist nach Berlin. 1750 wurde er Hofkapellmeister in Gotha, wo seine späteren Melodramen in Zusammenarbeit mit der Theatergruppe von Johann Christian Brandes entstanden. Die Hauptrollen waren explizit für dessen Ehefrau, die berühmte Schauspielerin Charlotte Brandes, sowie für Sophie Seyler geschrieben, eine Verfahrensweise, die für das Melodrama spezifisch werden sollte. 1772 wurde Rousseaus >Pygmalion< in der Vertonung von Schweitzer in Weimar aufgeführt. Benda bestand darauf, seine Melodramen >Medea< und >Ariadne auf Naxos< (beide 1775) ohne Kenntnis von Rousseaus >Pygmalion< geschrieben zu haben. Er selbst schrieb jedoch später die erfolgreichste Vertonung jenes in Goethes Worten »kleinen aber merkwürdig Epoche machenden Werks«, 1 ' 1 die Goethe noch 1797 im Briefwechsel gegenüber Schiller verteidigen sollte. 1 ' 2 Tatsächlich spielt der Rousseausche Vorläufer, selbst wenn Benda ihn gekannt haben sollte, kaum eine Rolle für Bendas Verfahrensweise. Der Ursprung der Bendaschen Melodramen liegt vielmehr in dessen Schulzeit in einer Jesuitenschule in Jicin, zu deren Lehrstoff neben klassischer Rhetorik und Musik auch Schuldramen melodramatischer Natur gehörten, die nach eigenen Aussagen zu den Vorbildern seiner späteren Melodramen wurden. Die Melodramen ergänzten das musikdramatische Repertoire der Schauspieltruppen in den größeren Städten und an kleineren Höfen. Die neue Gattung vermied (scheinbar) konsequent die Formen der italienischen Oper und füllte zugleich deren Gattungsposition einer >tragedia per musica< aus. Mit der Verbindung aus Deklamation und Instrumentalmusik umging sie die zentralen Probleme (ernster) Opern an deutschen Bühmißverstanden, als dieser vor allem an eine Unterstützung der Gestik durch die Musik dachte, der Worte nur insofern, als sie mit der Gestik korrespondieren. •>' Dichtung und Wahrheit. F A I, Bd. 14, S. 533. •s2 Vgl. M A , Bd. 8.1, S. 566.
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nen in geradezu genialer Weise: Der allgegenwärtige Kritikpunkt unverständlicher (weil italienisch und/oder gesungen) und unsinniger Texte entfiel ebenso wie das Zentralproblem der deutschen Schauspieltruppen: der Mangel an fähigen Sängern, denn die Melodramen wurden zumeist für die erste tragische Schauspielerin eines Ensembles geschrieben, also für eine ausgewiesene Meisterin ihres Faches. Der Vorwurf der Unnatürlichkeit wurde gegenüber dem Melodrama kaum laut. Und dies, obgleich der pathetisch-rhetorische Stil und Gestus der Melodramen der barocken Rhetorik weitaus mehr verpflichtet war als der individuell-psychologischen Sprache der Empfindsamkeit:' 53 Für die Darstellung von Gefühlen wurde teilweise auf rhetorische Figuren zurückgegriffen, die der barocken Affektdarstellung entstammen und die mit Partien der >antirhetorischen Rhetorik^ 54 der Empfindsamkeit bzw. des Sturm und Drang wechseln. Dieser Rückgriff auf das >genus grande< liegt sicherlich nicht in erster Linie in einem Mangel an Ausdrucksweisen begründet, die Empfindsamkeit hatte längst ihre eigene wirksame Sprache entwickelt, als vielmehr in der Stoffwahl: Die Handlung der Melodramen entstammte zumeist der griechischen Mythologie oder dem römischen Sagenkreis. Wie fast zwei Jahrhunderte zuvor die Oper sich als eine Wiederbelebung der antiken Tragödie verstand, konnte das Melodrama nun einen ähnlichen Anspruch geltend machen, insbesondere auf Grund seiner meist tragischen Schlüsse, mit denen das Melodrama konsequent das lieto fine der opera seria vermied und entsprechend in den meisten Fällen als Kurztragödie rezipiert wurde. Allerdings fehlte ihm das Moment der Katharsis zugunsten reiner Affekterregung ebenso wie die Didaxis des empfindsamen Trauerspiels. Die Heldinnen zeigen fast durchweg barocken Zuschnitt, sie sind ähnlich statisch wie die der Barockoper: In einer ausweglosen Situation klagen sie ihr Leid, ohne Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Situation bzw. ohne die Möglichkeit zu eigenem Handeln. Durch Rückblicke in glücklichere Zeiten, oft der Kindheit, und den Hilferuf an die Eltern werden Verzweiflung und Glückseligkeit kontrastiert und so die verschiedenen Situationen des Melodramas herbeigeführt, das dabei jedoch weitestgehend auf Handlung verzichten und meist ohne dialogische Struktur auskommen muß. Da die spannungserzeugenden Momente Dialog und Handlung fehlen, und Kontraste innerhalb einer monologischen Struktur erzeugt werden müssen, die reichlich Stoff für musikalischen Ausdruck Vgl. Küster (1994), S. 1 2 3 - 1 4 0 . ' S4 Ebenda, S. 133.
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geben sollen, ist der Text zwangsläufig auf die >starken< Mittel der (barokken) Rhetorik angewiesen. Im Kontext der Bestrebungen um eine neue Ästhetik von Poesie und Musik und ihrer Verbindung im Musiktheater wurde das Melodrama von Seiten der Dichter vor allem deshalb begeistert begrüßt, weil die Qualitäten der Texte trotz deren Vereinigung mit der Musik uneingeschränkt zur Geltung kommen konnten und zudem die Musik ungeachtet ihrer weitreichenden Freiheiten auf die Nachahmung der sprachlichen Situationen verpflichtet war. Die im Kontext der Sturm und Drang-Ästhetik begrüßte subjektive Expressivität erhielt das Melodrama jedoch erst durch die Vertonung. Mozarts Begeisterung für das Melodrama entzündete sich nach anfänglicher Skepsis an den Werken Bendas, die er draufhin >immer bei sich führteSemiramis< ist verloren gegangen; 1 ' 6 er fügte jedoch melodramatisch komponierte Szenen in seine Oper >Zaide< ein, womit er zugleich die zukünftige Position des Melodramas antizipierte: Nachwirkungen von Bendas Melodramen finden sich noch in der >ZauberflöteBrutus< in der Fassung von 1772 für melodramatische Vertonung geschrieben hatte, bezeichnete 1803 das Melodrama als ein »Mischspiel, das sich nicht mischt, ein Tanz, dem die Musik hintennach, eine Rede, der die Töne spähend auf die Fersen treten.« 157 Das rasche Abblühen der Gattung hängt zum einen mit der Reintegration ernster Elemente in die Oper zusammen und mit deren zunehmender Qualität im Zusammenhang mit einer sich Ende der 1780er Jahre verbessernden Ausbildung deutscher Sänger sowie mit dem allgemeinen Erstarken der Oper und dem Rückgang des Trauerspiels. Das Melodrama hatte von einer musikdramatischen Nische profitiert und von der sinnfälligen Erkenntnis, wie stark Musik die Semantik der Sprache beeinflussen kann. 155
Brief an den Vater vom 12. November 1778. Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe in 7 Bdn. Hrsg. von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch. Bd. 2, Kassel 1962-1975, S. 506. O b es überhaupt fertiggestellt wurde, ist aus heutiger Sicht nicht mehr eindeutig zu klären. Herder: Adrastea (1803). Viertes Stück Tanz und Melodrama. In: Werke ( 1 8 7 7 - 1 9 1 3 : 1967/68), Bd. 23, S.329ff. 98
5-2. >Proserpina< und >Der Triumph der Empfindsamkeit Bereits für das Jahr 1773 ist Goethes Lektüre des Rousseauschen >Pygmalion< nachweisbar, den er im Brief an Sophie von La Roche am 1 9 . 1 . eine »treffliche Arbeit« nannte. 1 ' 8 Der genaue Entstehungszeitraum für Goethes einzigen Beitrag zur Gattung des Melodramas ist jedoch umstritten: Bode sieht in >Proserpina< das >Gedicht< welches Goethe 1776' 5 9 auf Wielands Vermittlung hin anläßlich des Todes von Chr. W. Glucks geliebter Nichte Nannette schreiben wollte, 160 eine andere Interpretation versteht das Melodrama als Totenklage für den frühen Tod von Goethes Schwester Cornelia am 8.6. 1777. 1 6 1 Wahrscheinlicher ist jedoch, daß Goethe mit dem Werk eine Glanzrolle für Corona Schröter schreiben wollte.' 62 Auf ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten sowohl bezüglich Schauspiel und Deklamation als auch als Sängerin verweist zudem Seckendorffs Vertonung von 1779, die abweichend von der strengen Form des zeitgenössischen Melodramas rein deklamierte Passagen mit melodramatischer Behandlung wechseln ließ und überdies ariose Gesänge einfügte,' 63 und damit bereits in der frühen Fassung das monologische Grundprinzip des Melodramas (das daher auch die Alternativbezeichnung >Monodrama< trägt) um chorische Einschübe der Parzen erweitert. Im Wechsel der Protagonistin mit dem Chor überhöht Goethe die dramatische Steigerung des Textes mit einem Element der klassizistischen Choroper Glucks und verleiht dem Text damit bereits in seiner frühen Fassung die Tendenz zur Gattungsmischung. Der erste Einzeldruck des Textes anläßlich seiner Uraufführung am 2 8 . 1 . 1 7 7 8 sowie die separate Veröffentlichung im >Teutschen Merkur< (erstes Quartal 1778) gibt ihn in fortlaufenden Zeilen wieder. Auch wenn das Melodrama bereits bei seiner Uraufführung in den >Triumph der Empfindsamkeit integriert war, beweisen seine separate Drucklegung und Veröffentlichung seine Eigenständigkeit ebenso wie spätere gesonderte Aufführungen mit gutem Erfolg.' 64 Tatsächlich gibt es keine werkimmanenten Ironiesignale, die den Text als Parodie auf das Melodrama definieren würden, sie ergeben sich erst durch den Rahmen des >Triumph der Empfindsamkeit, in dem das Melodrama als Aufführung der überspann" 8 F A I I , Bd. i, S.285. Zu Frau v. Stein am 25. Mai 1776. W A IV, Bd. 3, S . 7 1 . 160 Vgl. Bode, S. 62-63. Vgl. außerdem das Kapitel über Chr. W. Gluck. 161 Vgl. F A I , Bd. 6, S.949. 161 Vgl. H A , Bd.4, S.665. ,6 3 Vgl. F A I , Bd. 6, S.950. 164 A b 1779 mit der Vertonung v. Seckendorffs. Vgl. ebenda.
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ten Königin, als Theater im Theater durch einen gereimten Prolog des Askalaphus alias Kammerdiener eingeführt wird: Hier wird der Bezug hergestellt zwischen den entzweiten Gatten (»Denn eh'mals war Elysium da drüben«)' 6 ' und dem Raub der Proserpina (»Abscheu und Gemahl,/O Pluto! Pluto!/Gib mir das Schicksal deiner Verdammten!/Nenn es nicht Liebe«). 166 Zugleich wird die empfindsame Mode schauerlich schöner Gärten ironisiert: »Dafür aber auch graben wir in den Hainen/Elysiums die schönsten Bäume aus,/Und setzen sie, wo wir es eben meinen,/An manche leere Stelle/Herüber in die Hölle,/Um des Cerberus Hundehaus,/Und formieren das zu einer Kapelle«,' 67 durch deren Schlehensträucher die empfindsame Königin wandelt und vergebens nach >edlen Früchten< fragt.' 68 Erst 1787 erfolgte die erneute Drucklegung der nun in freie Verse unterteilten >Proserpina< als integralem Bestandteil der dramatischen GrilleTag- und Jahresheften< bedauerte, weil »freventlich in den Triumph der Empfindsamkeit eingeschaltet [,...] ihre Wirkung vernichtet [wurde].«' 6 ' >Der Triumph der Empfindsamkeit, den Goethe in seiner ersten Erwähnung gegenüber Frau v. Stein als >komische Oper< mit dem Titel >Die ijmpfindsamen< ankündigte,' 70 verwendet auch außerhalb des Intermezzos von >Proserpina< die Verfahrensweisen des Melodramas: Bereits im ersten Akt wird das >Monodrama< als Gattung von König Andrason eingeführt: »Wenn ihr griechisch könntet, würdet ihr gleich wissen, daß das ein Schauspiel heißt, wo nur Eine Person spielt«' 7 ' und mit den Hoffräulein auch gleich exemplarisch eingeübt.' 72 Auch die szenische Verwandlung vom >Chinesischen Saal< zu >Wälder und Gegenden< erfolgt mit Musik, die noch den Anfang der folgenden Szene begleitet.' 73 Der dritte Akt beginnt mit einem kleinen Ballett, mit dem die Hofdamen versuchen, die Aufmerksamkeit des Prinzen zu erregen. Der kurze Monolog des Prinzen wird bereits von Musik begleitet, ehe er in freien Versen die Gestaltungsweise der später folgenden >Proserpina< vorwegnimmt: Die Szene erreicht ihren Höhepunkt, als eine wie die Königin gekleidete Gestalt 165
F A I, Bd. 5, S.94. Ebenda, S. 106. Ebenda, S.95. Ié8 Ebenda, S. 97. ' « ' F A I , Bd. 6, S. 95 3. '7° Am 12. September 1777. W A VI, Bd. 3, S. 174. • " F A I , Bd. 5, S. 77. '72 Ebenda, S. 79. Ebenda, S.85. 166
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den Prinzen zum überschwenglichen Bekenntnis seiner Liebe bewegt, worauf er in einer zweiteiligen Arie mit den für den Liebesgesang bereits erprobten spanischen Trochäen seiner Entzückung Ausdruck verleiht, um gleich darauf einzuschlafen. 174 Durch einen Tanz der Hofdamen aus seinen Träumen geweckt, äußert er sich erzürnt in einer metrisch unregelmäßigen Zornarie. 175 Den vierten Akt bildet das Melodrama. Im fünften Akt sind wiederum kleine musikalische Sequenzen mit Tanz und Pantomime eingefügt.' 76 Markant ist der Schluß im sechsten (!) Akt, der mit einem dreistimmigen Ensemblegesang die drei völlig unterschiedlichen Ausrichtungen der Königin Mandandine (die ihren Gemahl wiederholt um Verzeihung bittet), Prinz (der nun eine Puppe als Geliebte anbetet) und dessen Kavalier Merkulo, der als einziger den Spuk durchschaut hat, zusammenbindet. 177 In dem formal ausgesprochen symmetrischen Ensemble wird der traditionelle harmonische Schlußgesang von Singspiel und opéra comique ironisch gebrochen, eine Verfahrensweise, die an die italienische opera buffa bzw. das Intermezzo erinnert. Das Stück schließt mit einem großen Ballett nach dem Vorbild der opéra comique. >Der Triumph der Empfindsamkeit, für den Bode, leider ohne Angabe der Quelle, den frühen Titel >ein Festspiel mit Gesängen und Tänzen< nennt, 178 bildet das Satyrspiel zu >LilaJahrmarktsfest zu PlundersweilernClaudine von Villa Bella< als dem ersten deutschen Singspiel mit einem finale und das Ergebnis der Analyse, wonach bereits >Erwin und Elmire< finale-Tendenz aufweist, deuten jedoch auf Goethes intensivere Bekanntschaft mit den italienischen komischen Opernformen. Eindeutig zeigen Goethes sicherer Umgang mit der Terminologie im Brief an Kayser vom 20.1. 1780, 180 die Verfahrensweise des finales sowie die Annäherung des Singspiels an die Buffa in >Jery und Bätelys Goethes Vertrautheit mit der Gattung. Nachweise darüber, wie viele und welche Werke über die drei bereits erwähnten Stücke hinaus Goethe vor 1780 bereits gekannt hat, sind schwierig zu erbringen. Eine Vermittlungsquelle für italienische Opern war möglicherweise das Weimarer Liebhabertheater mit seiner Vorliebe für die musikdramatischen Gattungen. Wie Bötcher nachgewiesen hat, sind Burkhardts Angaben bezüglich des Repertoires jedoch teilweise falsch und somit mit Vorsicht zu verwenden, da sie mitunter Opern nennen, die erst deutlich später entstanden sind. 181 Übrig bleiben von ihnen die bereits benannte >La sposa fedele< von Guglielmi, die an deutschen Bühnen unter dem deutschen Titel >Robert und Kalliste< aufgeführt wurde. Das Stück entstand bereits 1767 in Venedig und gehörte in seiner Singspielfassung noch später zum Repertoire des Weimarer Hoftheaters. Eindeutig nachweisbar ist ferner Goethes Kenntnis der >Serva padrona< ab 1777: Goethes Tagebücher verzeichnen den Auftritt des Buffonisten Berger und seiner Frau in Weimar für 1777, 1 8 2 retrospektiv beschreibt Goethe in der italienischen Reise< dessen Auftritte als eine historische Stufe des deutschen Musiktheaters. 183 Von seiner ersten Reise in die Schweiz schrieb Goethe 1779 aus Straßburg an Frau v. Stein über eine Aufführung von Paisiellos >L'infante de Zamora 8 2 F A I I , Bd. 2, S.82. •'s Vgl. S.216. 28. September 1779. F A II, Bd. 2, S. 194. ,8
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7· >Jery und Bätely< Für >Jery und Bätely< griff Goethe scheinbar stärker als je zuvor auf den von Weiße geprägten Typus des Singspiels zurück. Weiße hatte die dreibändige Ausgabe seiner >Komischen Opern< von 1777 Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach gewidmet, und man kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß Goethe diese Publikation aufmerksam zur Kenntnis genommen hat. Anlaß der Komposition war die zweite Schweizreise Goethes, die er im August 1779 mit Herzog Carl August und einigen Mitgliedern des Weimarer Hofs unternahm. Die Idee entstand noch vor Ort, verfaßt wurde das Stück jedoch erst auf der Heimreise und in Weimar.' 8 ' Es sollte als eine Art >Nachbereitung< der Reise fungieren, weshalb Goethe seinen Komponisten und Jugendfreund Kayser zur Eile antrieb: Sollten Sie sich entschließen es zu komponieren, so muss ich bitten, sich fein balde drüber zu machen, damit es bei uns zu einer Zeit noch aufgeführet werden kann, w o das Interesse der Schweizererzählungen noch nicht verraucht ist. 186
Das poetische >Mitbringsel< sollte den für den Weimarer Hof hinlänglich exotischen Raum des Schweizer Hochgebirges den Daheimgebliebenen vorführen und den Mitgereisten wieder in Erinnerung rufen. Lediglich in diesem thematischen Aspekt ist es tatsächlich als >Saisonware< konzipiert. Der Weißesche Typus bildete das ideale Vorbild für die dramatische Umsetzung eines solchen, auch an den Geßnerschen Idyllen orientierten 187 dramatischen GemäldesAntiduetten< des ersten Teils folgt es jetzt der Vorgabe der Gattung für ein harmonisches Einverständnis, das zudem im Verlauf des Duetts erst zustande kommt. Einleitend begegnet Bätely Jery wieder mit ihrer doppelbödigen Sprechweise, indem sie mit der Bitte um die Hand zum Verbinden nach seiner Hand zur Heirat fragt. 22 ' Jerys Übung zahlt sich aus, er versteht ihre Andeutung richtig und ebenso die Frage nach seinen >WundenErwin und Elmire< sowie mit >Claudine von Villa Bella< verfahren war. Mit seinem Kooperationsgedanken näherte Goethe sich dagegen der Opernpraxis der italienischen opera buffa und später des Süddeutschen Singspiels an. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Waren es hier in der Praxis zumeist die Librettisten, die nach den Anforderungen der Komponisten arbeiteten, wie es insbesondere von Mozart bekannt ist, so verlangte Goethe von Kayser, er solle nach seinen Ideen komponieren. A m 29.12. 1779 erhält Kayser die erste Ankündigung und Charakterisierung des Librettos: Ich schicke Ihnen hier, lieber Kayser eine Operette die ich unterwegs für Sie gemacht habe. Es sind die aller einfachsten Umrisse, die Sie nunmehr mit Licht, Schatten und Farben herausheben müssen wenn sie frappieren und gefallen sollen. Uber das Stück selbst will ich Ihnen nichts sagen bis Sie es gelesen haben, alsdann bitt' ich daß Sie mir weitläufig schreiben ob Sie's unternehmen wollen und wie Sie's anzugreifen gedenken. Sie werden ohne meine Erinnerung sehen, daß es mir drum zu tun war, eine Menge Gemütsbewegungen in einer lebhaft fortgehenden Handlung vorzubringen, und sie in einer solchen Reihe folgen zu lassen, daß der Komponist sowohl in Ubergängen als Contrasten seine Meisterschaft zeigen kann. Hierüber ein mehreres, wenn Sie mir selbst Ihre Gedanken geschrieben haben. Nur eins muß ich noch vorläufig sagen: Ich bitte Sie darauf acht zu geben, daß eigentlich dreierlei Arten von Gesängen drinne vorkommen. Erstlich Lieder, von denen man supponieret, daß der Singende sie irgendwo auswendig gelernt und sie nun in ein und der andern Situation anbringt. Diese können und müssen eigene, bestimmte und runde Melodien haben, die auffallen und jedermann leicht behält. Zweitens Arien, wo die Person die Empfindung des Augenblicks ausdrückt und, ganz in ihr verloren, aus dem Grunde des Herzens singt. Diese müssen einfach, wahr, rein vorgetragen werden, von der sanftesten bis zur heftigsten Empfindung. Melodie und Akkompagnement müssen sehr gewissenhaft behandelt werden. Drittens kommt der rhythmische Dialog, dieser gibt der ganzen Sache die Bewegung, durch diesen kann der Componisi die Sache bald beschleunigen, bald wieder anhalten, ihn bald als Deklamation in zerrißnen Takten traktieren, bald ihn in einer rollenden Melodie sich geschwind fortbewegen lassen. Dieser muß eigentlich der Stellung Handlung und Bewegung des Akteurs angemessen sein und der Komponist muß diesen immer fort vor Augen haben, damit er ihm die Pantomime und Aktion nicht erschwere. Dieser Dialog, werden Sie finden, hat in meinem Stück fast einerlei Sylbenmaß und wenn Sie so glücklich sind ein Hauptthema zu finden, das sich gut dazu schickt, so werden Sie wohl tun solches immer wieder hervor kommen zu lassen und nur durch veränderte Modulation, durch Major und Minor, durch angehaltenes oder schneller fortgetriebenes Tempo die einzelne Stellen zu nüancieren. Da gegen das Ende meines Stücks der Gesang anhaltend fortgehen soll, so werden Sie mich wohl verstehen was
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ich sage, denn man muß sich alsdenn in acht nehmen daß es nicht gar zu bunt wird. Der Dialog muß wie ein glatter goldener Ring sein, auf dem Arien und Lieder wie Edelsteine aufsitzen. Es versteht sich daß ich hier nicht von dem vordem prosaischen Dialog rede, denn dieser muß nach meiner Intention gesprochen werden, ob Ihnen gleich frei bleibet nach Gefallen hier und da Akkompagnement einzuweben. Übrigens werden sie wohl von selbst finden, daß viel Gelegenheit da ist, manichfaltigen musikalischen Reichtum anzubringen. 233
Goethes Eingangsbemerkung, er wolle sich im Folgenden jedes Kommentars über das Stück enthalten, bezieht sich auf dessen Handlung und Fabel; sein ausdrückliches Interesse gilt bei >Jery und Bätely< von Anfang an den musiktheatralischen Möglichkeiten, die er unter dem Begriff musikalischer Effekt< subsumiert. Die Integration der Gesangseinlagen in den dramatischen Text bildet das Zentrum von Goethes Interesse. Inhalt der Gesangseinlagen, hiermit befindet Goethe sich weitgehend im Einklang mit dem Konzept der opera seria, sind vor allem Affekte. Entsprechend definiert er Kayser gegenüber nachdrücklich als zentrale Intention des Librettos »eine Menge Gemütsbewegungen in einer lebhaft fortgehenden Handlung vorzubringen«. Damit wird zwar der traditionelle Inhalt der Gesangseinlage gewahrt, zugleich aber ihr ebenfalls traditionell retardierender Charakter in Frage gestellt. Christian Felix Weiße formulierte noch 1778 m der Vorrede zu den k o mischen Operneinsetzen< (oder >einstreuenhervorbringen< der Gesänge kann als bewußte Intention Goethes zumindest für das deutsche Singspiel kaum überbewertet werden: Entsprechend Goethes besonderem Interesse an einer organischen Integration der Gesangseinlagen in die Dramenhandlung ist seine Typologie der Gesangsweisen ebenfalls auf die emotionale und situative Verortung der dramatis personae in der Handlung ausgerichtet: Dabei werden hier die Gesangsweisen nicht grundsätzlich hierarchisch gegliedert, wie etwa Reichardt es forderte,235 sondern 233
F A I, B d . 2 , S.232. Weiße: Komische Opern. Erster Teil. Vorrede von 1778. In: Schusky (1980), S. 51. 23 > Vgl. Reichardt: Briefe eines aufmerksamen Reisenden (1774). In: Schusky (1980), S. 32. 234
né
durch analoge oder konträre Verwendung der Operntraditionen ein individuelles Charakterprofil erstellt. Goethe geht hier über die zeitgenössische Singspiel- und Opernpraxis weit hinaus. Selbst für Mozart, der seinen Papageno nur Lieder, Tamino dagegen Arien singen läßt, 2j6 ist die Verbindung hoher und niederer Figuren mitsamt der ihnen zugewiesenen Ausdrucksweisen in einem musikdramatischen Gefüge eine Herausforderung. Entsprechend verfahren zeitgleich und bis zur Wende zum 18. Jahrhundert die Mischformen >semiseria< und >eroi-tragico< zumeist mit der bloßen Kombination eines hohen (ernsten) und eines niederen (komischen) Liebespaares, die mit ihren entsprechenden Ausdrucksweisen weitgehend unverbunden nebeneinander stehen. So betrachtet ist Hillers Personenverständnis, der mittels einer seria Bravour-Arie den edlen Charakter einer Kleinbürgerin beschreibt, außerordentlich progressiv. Goethe dagegen definiert die Gesangsweise unabhängig von der ständischen Stellung seiner Figuren als Mittel zur individuellen Charakterisierung, was ihn jedoch nicht daran hindert, die da capo-Arie zuweilen in ihren ganz spezifischen Konnotationen zu nutzen. 237 Die Gesangsweisen sind also nicht mehr an eine durchgängig durchgehaltene Stilhöhe gebunden, sondern erhalten ihre definitive Bedeutung erst durch den Kontext der Dramenhandlung und die Integration in sie. Indem die dramatis personae nicht mehr auf eine Stilhöhe festgelegt sind, können sie sich in unterschiedlicher Weise artikulieren, je nach Situation der Handlung. Zugleich gibt die durch die Figur getroffene Wahl der Gesangsform impliziten Aufschluß über ihr Innenleben, worüber sonst nur explizit der Affekt informiert. Die verschiedenen Gesangsformen Lied, Arie und >rhythmischer Dialog< werden also vor allem funktional definiert. Dabei ist Goethes Definition von Lied und Arie durchaus nicht neu: Das Lied als ein repitierbares, >auswendig gelerntes< und damit lediglich unterbewußt reflektives Medium deckt sich durchaus mit der zeitgenössischen Beschreibung des Volksliedes etwa von Sulzer.238 Auch die Forderung nach eingängigen Melodien, die vom Publikum leicht behalten werden, ist zeitgenössischer common sense und stimmt mit der Singspielästhetik Reichardts und der zweiten Berliner Liederschule überein. Abweichend beispielsweise von Reichardts rein auf das Lied ausgelegter Singspielästhetik verweist Goethe jedoch auf die dramatis persona, die sozusagen eigenverantwortlich das Lied auf die Handlungssituation bezieht ij6 îî7
2,8
Vgl. u.a. Holtbernd (1992), S. 28-29. In >Erwin und Elmire< als innere wie äußere Zuschreibung zu höfischer Lebensweise, in >Jery und Bätely< als Klimax und Zitat. Wie Holtbernd (1992: S. 22) nachgewiesen hat.
117
und es damit in seinem reproduzierbaren Charakter vom originären Charakter der Arie absetzt. Goethes Definition der Arie ist noch der barocken Auffassung verpflichtet: Die Arie der barocken opera seria ist ein Moment des Stillhaltens innerhalb der sich im Rezitativ abspielenden Handlung. Der Zeitfluß wird gewissermaßen unterbrochen und gibt dem Helden oder der Heldin Gelegenheit, seine/ihre Emotionen oder Entschlüsse zu besingen. Dabei handelt es sich um eine Art Kommentar der vorangegangenen Handlung, der diesen Abschnitt beendet. Inhaltlich behält Goethe diese Charakteristik bei, betont den situativen, emotionalen und originären Charakter der Arie gegenüber dem als reproduzierbares Gemeingut definierten Lied. Er nimmt damit formal eine Mittlerstellung zu der zweiten Berliner Liederschule ein, die, allen voran Reichardt,239 die Arie mit Verweis auf die italienische Seria (deren koloraturen-überladene Bravourarien auf Grund ihrer Künstlichkeit allgemein Gegenstand der Kritik waren), gänzlich ablehnten. Goethe fordert entsprechend von den Arien, daß sie »einfach, wahr, rein vorgetragen werden«, also nach den Möglichkeiten der Gattung >natürlich< erscheinen. Die Terminologie des rhythmischen Dialogs< ist zeitgenössisch nicht üblich. Auf der Grundlage von Goethes Brief läßt sich seine Vorstellung vom >rhythmischen Dialog< schon anhand der Versifizierung als eine Rezitativform beschreiben, unabhängig, ob er später auch entsprechend vertont wurde. Gegen eine melodramatische Auffassung spricht, daß Goethe melodramatische Passagen zu diesem Zeitpunkt noch als Prosatext verfaßt hat. Goethes Hinweis an Kayser, er könne ggf. den Dialog durch Modulation eines musikalischen Themas gestalten, bedeutet, daß er sich diese Passagen sogar gesangsnah und oder instrumental begleitet vorstellte, ganz gleich, ob dies sich als durchführbar erweisen sollte, oder nicht. Goethes Beschreibung des >rhythmischen Dialogs< als Mittel zur dramatischen Gestaltung der Handlung paßt auf die Verwendung des Accompagnato, des von kleinem Instrumental-Ensemble begleiteten Rezitativs. Das accompagnato Rezitativ ist eine melodische Variante des unbegleiteten secco (>trockenensecco< waren, neigte die opera buffa
235 2
Reichardt: Über das deutsche Singeschauspiel (1782). In: Schusky (1980), S. 62-68. t° Vgl. Wörner (1993), S. 289. 118
von Anfang an dem accompagnato Rezitativ zu, analog zu ihrer beginnenden Dramatisierung auch der Gesänge. Der >rhythmische Dialog< steht im Gegensatz zum gesprochenen >prosaischen Dialog< und erhält ihm gegenüber einen deutlichen dramatischen Mehrwert. In Goethes Definition spiegelt sich nicht zuletzt seine Erfahrung mit dem Melodrama wieder, wenn er davon ausgeht, daß die Musik die jeweilige Situation der Handlung verdeutlichen kann. Die musikalische Gestaltung sollte jedoch schlicht und der Sprache gemäß bleiben, damit Arien und Lieder noch klar daraus abgegrenzt werden können. Wenngleich nicht eindeutig definiert wird, ob der >rhythmische Dialog< noch andere Teile des Stücks umfaßt, oder nur das Ende »in dem der Gesang anhaltend fortgehen soll«, spricht doch Goethes Verweis darauf, daß er »fast einerley Sylbenmaß« 24 ' habe, dafür, daß der als >finale grande< angelegte Schlußteil ab Thomas' Quodlibet mit der Bezeichnung gemeint ist. Dieser ist in der Urfassung weitgehend im daktylischen Zweiheber gestaltet, der von Goethe bereits seit den frühen Singspielen erprobten Versform dynamischer gesungener Partien und somit ein weiteres Indiz für eine gesangsnähere Ausdrucksweise, als das secco Rezitativ sie darstellt. Goethe orientierte sich mit >Jery und Bätely< weitaus deutlicher als in den frühen Singspielen an Verfahrensweisen der opera buffa: Das durchkomponierte finale weist zudem bereits deutlich auf das in >Scherz, List und Rache< durchgeführte Ideal einer vollständig durchkomponierten komischen Oper hin. Geradezu avantgardistisch am Puls der zeitgenössischen Entwicklung befindet sich Goethe jedoch vor allem mit der funktionalen Einbindung der Gesänge in den Dramentext: Gegenüber den dynamischen Dialogformen, die »der Sache die Bewegung« geben, sind Arie und Lied allerdings weiterhin eher statische Elemente. Dieser statische Charakter ist bei den affektdominierten Gesängen des ersten Teils stärker und verliert sich etwas bei den Handlung beinhaltenden Gesängen des Schlußteils, die z.T. aus dem rhythmischen Dialog< nur noch ungenau abgrenzbar sind. Erstere werden aber sowohl poetologisch als auch in der Praxis mit dem Prosatext zu einer organischen Einheit verbunden, die als Pendant zur Entwicklung szenischen Gestaltens in der opera buffa betrachtet werden kann: Sabine Henze-Döhring beschreibt Paisiellos >Re Teodoro< (1784) als das früheste Beispiel für szenisches Gestalten.242 Goe-
241 242
F A I, Bd.2, S.233. Vgl. Sabine Henze-Döhring: Opera seria, Opera buffa und Mozarts >Don Giovanni. Zur Gattungskonvergenz in der italienischen Oper des 18. Jahrhunderts. Regensburg 1986, S. 1 1 0 - 1 2 1 . II9
thes Begeisterung für diese Oper ist ab 1785 nachweisbar 243 und sollte ein Leben lang anhalten. Gegenüber dem klanglichen Ansatz des Komponisten zu szenischem Gestalten schließt Goethe Gesang und Handlung vor allem semantisch zusammen, wobei er bereits auf die Kompositionstechnik vorausgreift und sie in seine Kalkulation einbezieht. Ansätze zu einer deutschen durchkomponierten Oper gab es immer wieder, jedoch zielten sie zumeist wie Herders >Brutus< oder Wielands klassizistischer Versuch einer deutschen Metastasio-Adaption auf eine ernste, idealistische Oper ab.244 Damit läßt sich das hartnäckige Pauschalurteil, Goethe sei »Feind jeden Durchkomponierens« 245 gewesen, bereits für dieses frühe Stadium seiner Ästhetik des Musiktheaters widerlegen. Daß Goethe hier jedoch noch keine vollständig durchkomponierte Oper vorgeschwebt hat, ist schon aus der stark an das Singspiel angelehnten Konzeption von >Jery und Bätely< abzulesen. Aber die Äußerungen gegenüber Kayser legen zugleich unmißverständlich nahe, daß ihm offensichtlich eine Mischform aus Singspiel und Oper vorschwebte. Eine Analyse der in >Jery und Bätely< verwendeten Gattungen des Musiktheaters läßt das Singspiel als ein Experiment und Exempelstück ersten Grades erscheinen und wirft damit auch ein ganz neues Licht auf Goethes Äußerung gegenüber Wolfgang Heribert von Dahlberg, das Stück sei »bloß auf den musikalischen und theatralischen Effekt gearbeitet.«246 Das Stück beginnt als ein Singspiel mit deutlichem Verweis auf dessen klassische Vertreter. Goethe setzt hier gerade den Typus des Norddeutschen Singspiels präzise um, von dem er sich in seinen frühen Arbeiten eher distanziert hatte. Der Liebeskonflikt zwischen der >edlen Amazone< Bätely und dem >Landmann< Jery (Georg) 247 steigert sich mit der da capo-Arie analog zu den >edlen Gestalten in Schweizerkleidern< in klassizistische Höhen, um mit dem Auftritt von Thomas dann den Weg zur opera buffa einzuschlagen. Durch zum Ende hin immer dichter werdende Gesänge, bis hin zum durchkomponierten finale wird diese Entwicklung auf der strukturellen Ebene gespiegelt. Die Anlage des zweiten Briefs vom 20.1. 1780, eine zweite Abschrift des Librettos »wo ich an die Gesänge mit roter Dinte das allgemeinste des 243
Brief an Frau v. Stein vom 2 3 . 1 1 . 1785. W A IV, Bd. 7, S. 1 2 7 - 1 2 8 . Goethe ließ Kayser die Partitur 1785 als Vorbild für das gemeinsame Intermezzo >Scherz, List und Rache< zukommen. Vgl. Brief vom 2 8 . 1 1 . 1785. W A IV, Bd. 7, S. 130.
244
Vgl. Bauman (1985), S. 1 5 1 . Wie beispielsweise Emrich (1964: S. 75) mit Verweis auf Abert (1922: S.79) behauptet. A m 2.3. 1780. W A VI, Bd.4, S.187. Wie Frantzke (1998: S. 169) darstellt.
245 246 247
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Tons beigezeichnet habe«, 248 gilt als verschollen. 249 In dem Schreiben schränkte Goethe diese Vorgaben auch gleich ein, die ihm: freilich nicht viel mehr als Ihnen die Verse selbst sagen werden. Den Charakter des Ganzen werden Sie nicht verkennen, leicht, gefällig, offen, ist das Element worin so viele andre Leidenschaften, von der innigsten Rührung bis zum ausfahrendsten Zorn u.s.w. abwechseln. Edle Gestalten sind in die Bauernkleider gesteckt und der reine einfache Adel der Natur soll in einem wahren angemessenem Ausdruck immer gleich bleiben. 2 ' 0
Der leichte Charakter des Genres Singspiel bildet (nur) den Rahmen für heftigere, gewissermaßen >ernste< Empfindungen. Mit den dramatis personae erscheinen edle Naturpersönlichkeiten in der Laboratoriumswirklichkeit der Schweizer Bergidylle, die zwar »Schweizerkleider anhaben und von Käs und Milch sprechen« 2 ' 1 aber doch »Leute aus meiner Fabrik« 2 ' 2 bleiben. Auffällig ist der wiederkehrende Verweis auf den Verkleidungs- oder Maskeradencharakter der Bergbauernidylle, in oder hinter der sich Goethes originäre Schöpfung und Aussage verbergen. Die Gattung des Norddeutschen Singspiels dient nur noch als Ausgangspunkt für Goethes eigene Konzeption des Musiktheaters. Hatten die frühen Singspiele verschiedene Traditionen eher widergespiegelt und kombiniert, setzte Goethe nun zu einer gezielten Verarbeitung verschiedener europäischer Gattungen an, unter zunehmendem Einfluß der italienischen. Während die ersten beiden Singspiele zwar den literarischen Horizont des Librettos anhand des Sturm und Drang-Dramas erweitert, den musikalisch-kompositorischen Aspekten jedoch wenig Beachtung geschenkt hatten, tritt mit Goethes ersten intensiveren Gedanken zum Funktionieren der Gattung jene Verschiebung seiner Intention ein, hin zu der hoch artifiziellen Durchgestaltung des Librettos unter Einbeziehung der musikalischen Kompositionsweisen, die auch seine zukünftigen Arbeiten kennzeichnen sollte. Entsprechend rückt auch das klangliche Kolorit in die Sphäre dichterischer Überlegungen: Sie haben [...] vielleicht schon mehr über das Stück nachgedacht als ich Ihnen sagen kann, doch erinnre ich Sie nochmals machen Sie sich mit dem Stücke recht bekannt ehe Sie es zu komponieren anfangen, disponieren Sie Ihre Melodien Ihre Accompagnements u.s.w. daß alles aus dem Ganzen und in das Ganze hinein arbeitet. Das Accompagnement rate ich Ihnen sehr mäßig zu halten nur in der 248
FA I, Bd. 2, S.238. Vgl. u.a. Holtbernd (1992), S. 19. 2 >°FA I, B d . 2 , S.238. 2 ' ' Goethe im Brief an v. Dahlberg am 2.3. 1780. W A V I , Bd.4, S. 187. 2(2 An Frau v. Stein am 3 . 1 . 1780. F A II, Bd. 2, S. 236. 2W
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Mäßigkeit ist der Reichtum, wer seine Sache versteht tut mit zwei Violinen, Viole und Baß mehr als andre mit der ganzen Instrumentenkammer. Bedienen Sie sich der blasenden Instrumenten als eines Gewürzes und einzeln; bei der Stelle die Flöte, bei einer die Fagot, dort Hautbo, das bestimmt den Ausdruck und man weiß was man genießt, anstatt daß die meisten neuere Componisten, wie die Köche bei den Speisen einen Hautgout von allerlei anbringen, darüber Fisch wie Fleisch und das Gesottne wie das Gebratne schmeckt. Récitatif brauchen Sie nach meiner Anlage gar nicht, wenn Sie an einem Orte den Gang einhalten, die Bewegung mäßigen wollen, so hängt es von Ihnen ab solches durchs Tempo, allenfalls durch Pausen zu bewürken, doch bleibts Ihnen ganz frei wie sichs Ihnen im geistigen Ohre vorstellt. 253
Wenn Goethe hier ausdrücklich schreibt, Rezitative seien nicht angelegt, so widerspricht das zunächst seiner Anlage des rhythmischen Dialogsrhythmischen Dialog< verwiesen, aber es ist anzunehmen, daß Goethe die Stelle als eine Abgrenzung gegen die traditionelle Verfahrensweise des Singspiels verstanden haben wollte. Die Einschätzung Walduras, wonach Goethe »nicht das übliche Rezitativ mit seiner durchgehend sprachnahen Deklamation, sondern ein Ablauf, der ariose und rezitativische Elemente mischt - eine zukunftsweisende formale Lösung, die sich damals gerade erst in der opera buffa entwickelte«, 254 definiert, wäre demnach für das finale sogar noch weiter zu fassen: Goethe intendiert hier eine durchgesungene Finalpassage, wie sie erst die Oper des 19. Jahrhunderts verwirklichte. Damit ergibt sich bereits an diesem Punkt ein differenziertes Verhältnis zu den verschiedenen Traditionen des Musiktheaters: Goethe greift das Muster des Norddeutschen Singspiels mit seinem ländlichen und damit eigentlich >niederen< Gegenstand auf, um es zugunsten >edler< Charaktere auszuhöhlen. Allerdings zielt er hierbei nicht auf einen edlen Naturmenschen im Rousseauschen Sinne, wie ihn die Weiße/Hillerschen Singspiele vorführen und er bereits in der Frühfassung von >Erwin und Elmire< Ge2
» F A I , Bd.2,8.238-239. Goethe HB, Bd. 2, S.179.
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genstand der Kritik ist, sondern auffällig ist die Metaphorik der >Verkleidungs des nur scheinbar Leichten. Der Einfluß der französischen Opernformen, der >Lila< noch weitgehend dominiert hatte, ist nur noch in der Vermittlung durch das Norddeutsche Singspiel spürbar. Die Verfahrensweisen der italienischen opera buffa waren Goethe zu diesem Zeitpunkt wenigstens teilweise bereits vertraut, und schienen ihm zumindest in technischer Hinsicht vorbildhaft. Wenigstens ein Terminus technicus der buffa wird explizit benannt: N o c h muß ich eins anführen! Von dem Moment an da Thomas das Quodlibet zu singen anfängt geht die Musik ununterbrochen bis zu Ende fort und wird wenn man es mit einem Kunstterm stempeln wollte zu einem ungeheuren langen Final. Ich bin gewiß daß ich mit jedem andern Musikus außer Ihnen viel Händel haben würde, weil so mancherlei Melodien und Ausdrücke auf einander folgen, ohne daß die schicklichen Pantomimen zu langen Vorbereitungen Ausführungen und Übergängen Platz ließen. 2 "
Das finale der opera buffa, das seinen Platz eigentlich an jedem der Aktschlüsse hat, wird in seinem Prinzip einer dramatischen Steigerung auf den Schluß hin begriffen und nach Bedarf modifiziert: Die Dramatik der Handlung ist ganz auf das Ende des Stücks hin ausgerichtet und dies soll sich in der steigenden Dichte musikalischer Mittel spiegeln. Auch diese Anregung begreift Goethe als ein Prinzip, das er für seine Produktion individuell gestaltete und in den Reigen der Gattungen integrierte. >Jery und Bätely< gliedert sich somit in zwei formal unterschiedliche Abschnitte: Während der erste Teil als Prosadialog mit wenigen eingestreuten Gesängen erscheint, ergibt sich für die zweite Hälfte eine nahezu durchkomponierte Form, eingeleitet durch das Quodlibet mit daraus e r wachsendem Wechselgesängen und (kleinen) Arien. 7.4. >Jery und Bätely< - Gelegenheitswerk oder musikdramatischer Ideal typus? Es handelt sich bei dem Singspiel >Jery und Bätely< gleichsam um ein Experiment in einem idealisierten und stilisierten Raum. 2 , ( 5
Goethe war stets an Kompositionen seiner Stücke sehr interessiert. Im Falle von >Jery und Bätely< ist sein Drängen auf eine besonders rasche Komposition dennoch bemerkenswert. 257 Seine Rechtfertigung gegenüber Kayser, daß das Sujet Gefahr liefe, bald uninteressant zu werden, ist 2
" FA I, Bd. 2, S.239. Holtbernd (1992), S. 29. Vgl. Frantzke (1998), S. 170-178.
256
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nachvollziehbar, bietet aber keine Erklärung für die späteren Anstrengungen. Die oft als Einschränkung der Ambitionen interpretierte, von Goethe immer wieder betonte >Ausrichtung auf den musikalischen Effekt< erweist sich jedoch als Schlüssel für Goethes Wertschätzung des kleinen Stücks, das nach Holtbernd Goethes >musikdramatischen Idealtypus< darstellt. 2 ' 8 Mit der Konzentration weg vom dominierenden Schauspiel in >Erwin und Elmire< und >Claudine< auf den Diskurs textlicher und kompositorischer Verfahrensweisen, zeichnet sich bereits vor der Italienischen Reise der für Goethes Musiktheater entscheidende Paradigmenwechsel ab, bei dem das Primat des Textes, wie es für die frühen Singspiele analog zum Norddeutschen Singspiel gegolten hatte, durch das Primat der Vertonung bzw. der musikdramatischen Mittel ersetzt wird, das die opera buffa bestimmte. Das erklärt auch, warum Goethe nach seiner Rückkehr aus dem Süden das Singspiel weitgehend in seiner F o r m bestehen ließ, was übrigens auch für die ebenso von den Gesangseinlagen dominierte >Fischerin< gilt. Der Briefwechsel mit Kayser gibt die bis dahin umfangreichsten Anweisungen Goethes zur Vertonung des Singspiels. Es liegt daher nahe, mit Holtbernd anzunehmen, daß Goethe sich zur Entstehungszeit erstmals intensiv mit diesem Problemfeld auseinandergesetzt hat.
8. Exkurs: Zu Goethes Liedästhetik Goethes Liedästhetik ist vor allem in der älteren Forschung ausgedehnt behandelt worden. 2 ' 9 Im Unterschied zu seiner Ästhetik des Musiktheaters blieb die Liedästhetik weitgehend konstant, wenngleich die Inhalte der Lieder sich wandelten. In diesem Zusammenhang ist die Liedästhetik lediglich insofern von Bedeutung, als sie im Zusammenhang mit dem Musiktheater steht. Im Brief an Kayser hat Goethe sie knapp zusammengefaßt: Formal sind Goethes Lieder zumeist strophig geschriebene Texte, die mit einer bei jeder Strophe wiederkehrenden Melodie vorzutragen sind, lediglich durch die Modulation des Sängers differenziert. Das Lied steht im Gegensatz zur Arie. Diese ist das Medium emotionaler und individueller Inhalte eines selbst-bewußten Individuums. Entsprechend ist die Arie auch das Medium artifizieller kompositorischer
2'8
Vgl. H o l t b e r n d (1992), S.27.
^ ' A u s f ü h r l i c h e Darstellungen geben u.a. Blume (1948), B o d e (1912) und Müller-Blattau (1969).
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Verfahrensweisen wie des >Durchkomponierensdas Lied singst du schlecht!< Dann ging er vor sich hinsummend eine Weile im Zimmer auf und ab und fuhr dann fort, indem er vor mich hintrat und mich mit seinen wunderschönen Augen anblitzte: >Der erste Vers, sowie der dritte müssen markig, mit einer art Wildheit vorgetragen werden, der zweite und vierte weicher, denn da tritt eine andere Empfindung ein.< Auf sein Verlangen wiederholte ich das Lied. Er war zufrieden und sagte: >So ist es besser, nach und nach wird es dir schon klar werden, wie man solche Strophenlieder vorzutragen hat.Tag- und Jahresheften< über den aus Hannover stammenden Sänger Wilhelm Ehlers eine weitere Begründung: Er war unermüdet im studieren des eigentlichsten Ausdrucks, der darin besteht daß der Sänger nach Einer Melodie die verschiedenste Bedeutung der einzelnen Strophen hervorzuheben und so die Pflicht des Lyrikers und des Epikers zugleich zu erfüllen weiß. 2 6 2
Die Liedform erscheint als Element des erzählenden Gesangs, der sich mit seiner sukzessiven Abfolge der Strophen vom dramatisch vergegenwärtigenden der Arie unterscheidet. Vor diesem Hintergrund wird Goethes Unverständnis gegenüber romantischen Liedkompositionen etwa Schu2i
° Vgl. Holtbernd (1992), S. 167-168. ' Zitiert nach: Samuel Fisch: Goethe und die Musik. Frauenfeld 1949, S. 57-58. 262 Tag- und Jahreshefte 1801. F A I, Bd. 17, S.72. l6
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berts, gerade den rhapsodischen Gesang der Ballade 203 mit dramatisch wechselnder Melodie (wie eine Arie) zu gestalten, einsichtig, ohne daß deshalb pauschal von einer »ausdrücklichen Opposition« gegen alles »Durchkomponieren« 264 gesprochen werden kann. Goethe kritisierte tatsächlich im Gespräch mit Tomaschek am 6. August 1822 die Vertonungen eines Liedtextes aus dem > Wilhelm Meister< von Beethoven und Spohr. Allerdings bestand seine Kritik darin, daß Beethoven den Charakter Mignons (der das Lied zugeordnet ist) mißverstanden habe, indem er eine Arie komponierte. Mignon könne ihrem kindlichen und erst halb-bewußten Wesen nach jedoch lediglich ein Lied singen, wie das auch aus dem in gleichförmigen Strophen gestalteten Text hinlänglich ersichtlich sei.265 Goethes Kritik bezieht sich also wiederum auf den bereits geschilderten Einsatz einer Kompositionsweise, die seiner im Text angelegten Charakterisierung der Figur gegenläufig ist. Goethe hat moderat durchkomponierte Gesänge Reichardts und Zelters zu seinen Gedichten durchaus geschätzt, wenn es sich dabei um szenische Gesänge handelte, wie beispielsweise Reichardts Vertonung des >VeilchensDie Fischerin< - Goethes Konzeption eines Liederspiels Mit dem Singspiel >Die Fischerin< scheint Goethe bereits die Liederspiele Reichardts und der zweiten Berliner Liederschule zu antizipieren, mit denen Reichardt ab 1800 versuchte, einem schlichten und scheinbar kunstlosen, volksliedhaften Tonfall auf dem Theater Raum zu geben.268 Auf den 263 264
265
266 167
l6S
Beispielsweise des >ErlkönigFischerin< scheinbar alles beiseite schob, um sich nur auf eine einzige Gesangsweise zu konzentrieren: Auf das Lied bzw. die Ballade. Der radikale Experimentcharakter auch dieses Stückes wird erst deutlich, wenn man es in der Reihe der Goetheschen Singspiele betrachtet, und er ist der Forschung daher auch bis heute weitgehend entgangen. Formal ist >Die Fischerin< zweifelsohne der am wenigsten aufwendige Beitrag Goethes zur Gattung des Singspiels. Dies und der Umstand, daß Goethe selbst es als »wie ein Protokoll tracktirt«269 beschrieben hat, sollte jedoch nicht dahingehend mißverstanden werden, das Stück automatisch als minderwertige Produktion nur flüchtig zu betrachten. >Die Fischerin< ist vor allem in der älteren Forschung oft als bloße >Einkleidung< der Balladen in eine, wie impliziert wurde, dürftige Handlung verstanden worden. 270 Die bekannteste der Balladen ist der >ErlkönigFischerin< zum ersten Mal veröffentlicht, und erst 1789 isoliert in die >Schriften< aufgenommen wurde. 27 ' Die Balladen entnahm Goethe Herders Volksliedsammlungen von 1778/79 um sie mehr oder weniger stark zu bearbeiten.272 Frantzke argumentiert entschieden dafür, daß die Grundkonzeption des Stücks zuerst entstand und die Balladen entsprechend ausgewählt wurden. 273 Die Fragestellung hat mehr als nur heuristische Bedeutung, ist sie doch für die Einschätzung des Textes und seines artifiziellen Charakters aufschlußreich, denn Holtbernd hat nachgewiesen, daß die Balladen dramaturgische Funktion für den Rahmentext haben und dessen Bedeutungen erweitern. 274 Goethe hat offenbar versucht, die dramaturgischen Möglichkeiten des Liedes, 275 insbesondere der Ballade, zu erproben und damit geradezu ein Gegenstück zu Reichardts späterer, doch etwas lauer Definition des Liederspiels als Medium zur Verbreitung des Gesanges< geschaffen:
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"> An Johann Heinrich Merck am 16. Juli 1782. WA IV, Bd. 6, S. 8. Vgl. M A , Bd. 2.1, S.695 und selbst noch FA I, Bd. 5, S. 1 1 2 3 . Vgl. außerdem Frantzke (1998), S. i 9 8 f f . 271 Vgl. H A , Bd. ι , S. 565. '7* Vgl. J . G . Herder: Stimmen der Völker, Zweiter Teil. Gesammelte Schriften. Hrsg. von Johann Georg Müller. Bd. 8. Stuttgart und Tübingen 1828. i7) Vgl. Frantzke (1998), S. 200. 274 Vgl. Holtbernd (1992), S . 9 1 - 1 0 4 . 275 Die Arien und Wechselgesänge haben ebenfalls erzählerischen Charakter und neigen somit dem Lied zu. 270
!27
Wie bereits die Ballade >Es war ein Buhle frech genug< in >Claudine von Villa Bella< stellte Goethe die von Herder gesammelten Volkslieder in einen Zusammenhang, in dem sie tatsächlich gesungen erscheinen, ihrer ursprünglichen Form gemäß. Die Wirksamkeit der Balladen sollte dabei unter Beweis gestellt werden, sowohl auf den Betrachter, als auch in der Logik der Dramaturgie auf die dramatis personae. Das Stück war in seiner Dramaturgie für eine Außenaufführung bei Fackelschein angelegt, also in einem Naturraum, der der Ursprünglichkeit der Gesangseinlagen gemäß war und ihrer Wirkung entgegenkam. Der von Goethe selbst bescheinigten Skizzenhaftigkeit des Textes steht die sorgfältige Probenarbeit gegenüber, mit dem Ziel, alles auf einen dramatischen Höhepunkt zuzuführen: Auf diesen Moment [das Wiedererscheinen Dortchens] war eigentlich die Wirkung des ganzen Stücks berechnet. Die Zuschauer saßen, ohne es zu vermuten, dergestalt, daß sie den ganzen schlängelnden Fluß hinunterwärts vor sich hatten. In dem gegenwärtigen Augenblick sah man erst Fackeln sich in der Nähe bewegen. Auf mehreres Rufen erschienen sie auch in der Ferne; dann loderten auf den ausspringenden Erdzungen flackernde Feuer auf, welche mit ihrem Schein und Widerschein den nächsten Gegenständen die größte Deutlichkeit gaben, indessen die entferntere Gegend ringsumher in tiefer Nacht lag. Selten hat man eine schönere Wirkung gesehen. Sie dauerte, unter mancherlei A b wechslungen, bis an das Ende des Stücks, da denn das ganze Tableau noch einmal aufloderte. 276
9.1. Handlung und dramatische Struktur Wie in >Jery und Bätely< wählt Goethe wiederum einen ländlichen Schauplatz, der nun jedoch noch weiter von einer Idylle entfernt ist als die Schweizer Berge; vielmehr seine Parallele in den realistischen Schilderungen der Schauspielergesellschaft in >Wilhelm Meisters Theatralischer Sendung< hat. Das Leben der Fischer ist mehr armselig denn naturverbunden. Den kärglichen Verdienst tragen die Männer allabendlich in die Schenke, während die Frauen zu Hause vergeblich auf sie warten und zusehen müssen, wie sie mit dem, was übrig bleibt, wirtschaften. Dortchen versorgt den Haushalt ihres Vaters, zu dem auch bereits Niklas, ihr Verlobter, gehört. Dieser benimmt sich jedoch nicht wie ein verliebter Bräutigam, sondern bereits wie ein Ehemann, der sich seiner Frau so sicher ist, daß er weder Rücksicht noch Einfühlungsvermögen zu zeigen braucht. Dortchen macht sich keinerlei Illusionen über ihr künftiges Leben: Es wird mit Hausarbeit und Warten auf einen lieblosen Gatten in ärmlichen 176
Anmerkung Goethes zu der entsprechenden Stelle. F A I, Bd. 5, S. 1 1 2 0 - 1 1 2 1 .
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Umständen verlaufen. Zeichen von Verliebtheit zeigt Dortchen keine. Daß auch Niklas sie nicht liebt, sondern als seinen Besitz betrachtet, ist ihr nur zu bewußt. Ihre Illusionslosigkeit spiegelt sich in ihren Liedern: Für Männer uns zu plagen Sind leider w i r b e s t i m m t . Wir lassen sie g e w ä h r e n , Wir f o l g e n i h r e m Willen: U n d w ä r e n sie n u r d a n k b a r , S o w a r ' n o c h alles g u t . 2 7 7
Ein wenig Dankbarkeit und Anerkennung von Seiten des Mannes oder bescheidener Wohlstand wären ihr schon genug, doch die Hoffnung auf beides ist vergebens. Wieder formuliert Goethe den Anspruch auf weibliche Individualität, an die Verhältnisse seiner Zentralfigur angepaßt nun auf niedrigster Stufe. N o c h ist die junge Frau nicht bereit zu resignieren, doch in Anbetracht ihrer aussichtslosen Lage kann ihr Ausbruchsversuch zwangsläufig nur eine unkoordinierte Verzweiflungstat sein. Dortchen, dem anders als den vorangegangenen Gestalten jede Freiheit fehlt, begehrt gegen ihre unterdrückte Situation mit dem einzigen Mittel auf, das ihr bleibt: Dem (vorgetäuschten) Selbstmord. In ihrer völligen Machtlosigkeit gegen die Verhältnisse bleibt als einziger Handlungsspielraum die Destruktion des Selbst: >Ins Wasser zu gehen< war die einzige Möglichkeit eines armen Mädchens, sich das Leben zu nehmen, wo einer wohlhabenderen Frau etwa Gift zur Verfügung gestanden hätte. Während Goethe durch seine einfühlsame Darstellung Dortchens beweist, daß er mit der Problematik vertraut ist, läßt er Dortchens Vater und den Bräutigam Niklas gerade ihr völliges Unverständnis der Situation und das krude Desinteresse am Leben der Tochter und künftigen Frau unter Beweis stellen: Als Dortchen bei ihrer Ankunft verschwunden ist, sorgen sie sich erst nur um das anbrennende Essen, das mit Branntwein und einem Trinklied gewürzt wird. Die Frage nach Dortchens Verbleib wird erst noch durch Niklas' Traum vom leichten Stadtleben überdeckt. Erst als er sich an ein altes Schauermärchen erinnert, begibt er sich auf die Suche nach der Verlobten, was der Vater noch immer nicht recht für nötig hält und lieber zu Bett gehen mag. 278 N u n erst fällt Niklas aus seiner dickhäutigen Gemütlichkeit heraus und auch aus der bisherigen Ausdrucksweise. Wie weit Goethe sich bereits vom Norddeutschen Singspiel entfernt und ganz selbstverständlich auf 177
FA I, Bd. 5, S.273. > Ebenda, S. 278.
27
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Verfahrensweisen der italienischen Oper eingelassen hat, zeigt sich hier, wenn gerade der dramatische Höhepunkt der Handlung in den wohlbekannten Zweihebern als ein >Binnenfinale< gestaltet wird: Die durchgesungene längere Passage enthält die Suche von Niklas und dem Vater gemeinsam mit dem Chor (!) der Fischer. Die Boote werden zugerüstet und schließlich tritt Dortchen hervor, löst die dramatische Situation auf und läßt die Schelte des Vaters über sich ergehen. Ausgeleitet wird das Libretto wiederum durch Prosadialog und Volkslieder. In verteilten Rollen muß Dortchen mit Niklas und Vater eine Ballade singen, in der das >Heiratsproblem< junger Mädchen wie zum Possen des eben vorgeführten Konflikts darauf reduziert wird, einen Bräutigam zu ergattern. Dortchen gibt ihren Widerstand auf, singt das >alte Lied< mit und willigt in die Hochzeit ein. Daß sie es nicht gerne tut, daran läßt sie kaum einen Zweifel. Das Brautlied, das sie daraufhin alleine singt, ist entsprechend schwermütig und läßt keinen Zweifel am unfreudigen Los einer jungen Ehefrau. Das Stück endet mit dem wendischen Spottlied >Wer soll Braut sein?< und der Wendung ans Publikum mit der Bitte um Beifall. Dortchen singt eingangs die berühmte Ballade vom >Erlkönigauswendig gelerntes Lied< zum Zeitvertreib und scheinbar ohne von dem schaurigen Inhalt angerührt zu werden. Die Ballade präfiguriert die Dramenhandlung im Gewand eines Mythos: Wie der Knabe im Arm des Vaters so ist auch Dortchen in ihre Familie aus Vater und Bräutigam >eingebundenJery und Bätely< tritt der Prosatext gegenüber den Gesängen weiter zurück. Gesungene und gesprochene Partien halten sich im Text nahezu die Waage. Daraus ergibt sich, daß in der Aufführung die gesungenen Passagen überwiegen, da sie wesentlich mehr Zeit beanspruchen. Goethe hat damit das Norddeutsche Singspiel, das erklärtermaßen ein Schauspiel mit Gesang war, in sein Gegenteil verkehrt: in eine Serie von Gesängen mit verknüpfender Handlung. Damit steht er der italienischen Opernästhetik bereits näher, als die äußere Erscheinung des Stücks auf den ersten Blick glauben macht. Dies insbesondere durch die Verfahrensweise, Bedeutungsvielfalt nicht wie im Schauspiel durch den Handlungsverlauf herzustellen, sondern durch die Einbindung der Gesänge in die Handlung und ihre situative Verortung in den Geschehnissen sowie durch die Bezüge der Balladen untereinander.
io. Der Themenkreis der frühen Singspiele Die frühen Singspiele variieren die Grundsituation der jungen, selbständigen Frau vor einem der Gegenwart Goethes nahestehenden Zeithintergrund. Durch ihre außerordentlich reichhaltigen Zeitbezüge unterscheiden sich die Singspiele von der thematisch verwandten >Iphigenie< oder i8
' Ebenda, S.278. Holtbernd (1992), S.99.
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den Schauspielen >Egmont< und >GötzErwin und Elmire< zeigt ein junges Paar aus dem deutschen Großbürgertum, >Claudine< den spanischen Landadel, >Lila< gewinnt die Exotik des Schauplatzes durch das inszenierte Festspiel. >Jery und Bätely< zeigt, daß selbst die vermeintliche Idylle der Schweizer Berge keine Alternative bietet und die >Fischerin< bringt die ausweglose Situation eines armen Mädchens radikal zur Darstellung. Goethes Singspiele erscheinen als zwar soziologisch konnotierte, aber von historischen Ereignissen weitgehend unberührte Privatgeschichten und grenzen sich damit vom dramma per musica ab, dessen Liebesgeschichten zugleich Staatsgeschichten sind. Thematisch bilden die Singspiele eine negative Entwicklungsreihe ihrer (weiblichen) Hauptfiguren, die in ihrer Thematik sicherlich noch als ein Erbe des Sturm und Drang betrachtet werden kann: Elmire ist noch dahingehend ambivalent gezeichnet, daß sie Erwin aufrichtig liebt und sich eine Ehe mit ihm eigentlich wünscht. >Lilatragische< Figur ist hier allerdings Crugantino, den Goethe in der Italienischen Zweitfassung dann Rugantino nennt, womit er seinem römischen Lieblingskastraten ein poetisches Denkmal setzt. Da der Namenspatron wenigstens im Kreise der Romreisenden als Frauendarsteller hinlänglich bekannt war, 283 bekommt die Figur damit einen androgynen Charakter, der den Helden noch näher an die Reihe der weiblichen Zentralfiguren in den Singspielen anschließt. Mit >Jery und Bätely< gewinnt der Konflikt an Prägnanz: Die junge Frau ist nicht verliebt und sträubt sich nach Kräften gegen eine Heirat; nur brutale männliche Aggression zwingt sie letztlich dazu, ihre Freiheit aufzugeben. Der >Fischerin< Dortchen fehlt schließlich die Selbständigkeit von Elmire und Claudine, die die Ehe wählen können, und selbst von Bätely, der zwar am Ende keine andere Wahl bleibt, die aber zuvor durch den eigenen Hof in hohem Maße autark war. Dortchen ist bettelarm, abhängig vom Vater und einem Bräutigam, den offenbar der Vater für sie ausgesucht hat und den sie weder liebt noch von dem sie respektiert wird. Auch hier wird 2β)
Vgl. Roberto Zapperi: Das Inkognito. Goethes ganz andere Existenz in Rom. München 1999, S. 128.
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in der scheinbaren Idylle der einfachen Fischer die bis zur Selbstdestruktion hoffnungslose Situation eines armen Mädchens geschildert, womit die Entwicklungsreihe der Singspiele ihren Höhepunkt erreicht und zugleich den Vorbildern von Weiße und Hiller ein hoch artifizieller, aber auf der Handlungsebene zugleich skandalös realistischer Spiegel vorgehalten wird. Entgegen der noch immer verbreiteten Ansicht, wonach die Singspiele als Gelegenheitswerke von minderer Qualität und für die Forschung von geringem Interesse seien,284 hat sich selbst aus der hier jeweils nur skizzierten Interpretation gezeigt, daß die Singspiele nicht nur inhaltlich von äußerster Brisanz sind, sondern zudem für ihren Entstehungszeitraum und ihre Gattung avantgardistische Maßstäbe setzen: Für das Text-Musik-Verhältnis hat bereits die Untersuchung der frühen Singspiele einen hohen Kunstcharakter nachgewiesen,28' in formaler wie inhaltlicher Hinsicht geht Goethes Bearbeitung der Gattung also weit über die Praxis seiner norddeutschen Zeitgenossen hinaus. Ein weiterer Aspekt, der bislang wenig Beachtung gefunden hat, ist Goethes Umgang mit der Tradition. Goethe greift in seinen Singspielen und dem Festspiel >Lila< auf verschiedene etablierte Gattungen zurück: die des Weiße/Hillerschen Singspiels, der opéra comique, des französischen Balletts, der Geßnerschen Idylle, des barocken Festspiels und zunehmend auf die Verfahrensweisen der opera buffa. Markant ist dabei vor allem Goethes Verarbeitung der aufgegriffenen Gattungen, die auf verschiedene Weise instrumentalisiert werden. In >Lila< wird das Festspiel seines transzendenten Inhalts entleert und nur noch als Verfahrensweise verwendet. Durchgängig wird die Folie der Singspielform als scheinbar anspruchslose Liebesgeschichte beibehalten,286 unter deren unterhaltsamer Oberfläche die Zeitkritik besonders schonungslos dargestellt werden kann. Keines der Singspiele hat von diesem Freiraum bis dahin so exzessiven Gebrauch gemacht wie die >Fischerinheiter< bezeichnet werden kann, ihnen damit das wesentliche Prädikat des Norddeutschen Singspiels fehlt. Das Thema wie seine formale Umsetzung erwiesen sich für Goethe nun als weitgehend ausgereizt und in ihren Mög284
Symptomatisch für diese Auffassung ist, daß die Singspiele und Opern bis auf die Erstfassung von >Claudine von Villa Bella< in H A , der wichtigsten Studienausgabe, nicht enthalten sind.
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A n dieser Stelle sei nochmals ausdrücklich auf Holtbernds Untersuchung verwiesen, die bei etwas anderen Schwerpunkten zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Wie gut Goethe dieser Anschein gelungen ist, beweist die Lage der Forschung.
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lichkeiten durchgespielt. Nicht die Italienische Reise, sondern die bereits auf sie vorausweisende Neuorientierung auf die italienische Oper vollzog den entscheidenden Schritt, der sich mit >Scherz, List und Rache< erstmals auch thematisch manifestierte.
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IV. Exkurs: Das Musiktheater in den Schauspielen
Wie Holtbernd ausführlich dargestellt hat,1 verwendet Goethe die in den Singspielen entwickelte dramaturgische Funktionalität von Musik und Gesängen auch für die semantische Aufladung der Schauspiele >Götz von Berlichingens >Tasso< und >EgmontGötz von Berlichingen mit der eisernen Hand< trifft das historische Drama mit seiner mimetischen Ausrichtung auf Liedeinlagen nach dem Vorbild von >Erwin und Elmire< sowie eine Volkstanzszene. Die Elemente des Musiktheaters bilden eine poetisch-utopische Rückzugswelt gegenüber der kruden und unausweichlichen Wirklichkeit des historischen Dramas, die entweder in zeitli1
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Das nachfolgende Kapitel faßt im wesentlichen Holtbernds Ergebnisse zusammen. Vgl. Holtbernd (1992), S. 1 2 3 - 1 5 3 . Ebenda, S. 124. Wilhelm Bernhard Schwan: Die opernästhetischen Theorien der deutschen klassischen Dichter. Diss. Leipzig 1928, S. 6.
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cher Ferne, der Vergangenheit geselliger Lieder deren >Zeiten vorbei sindneuen Helden< aufgebaut, daß sein Lied als letztes retardierendes Moment vor der Katastrophe erscheint, als eine Utopie, die zwar in der dargestellten Handlung an der Konfrontation mit der Realität zerbricht, gleichwohl jedoch »die prätendierte Freiheit unseres Wollens«7 zum Ausdruck bringt. Die weitreichenden Folgen, die die Auseinandersetzung mit der Gattung des Melodramas für Goethes Dramatik hatte, zeichnet sich bereits in >Clavigo< (1774), insbesondere dann in der Schlußszene des 1789 fertiggestellten >Egmont< ab. Bereits Jahre vor der Entstehung des Melodramas >Proserpina< und des >Triumph der Empfindsamkeit verwendete Goethe Melodramatik erstmals im bürgerlichen Trauerspiel.8 In >Clavigo< ist es jedoch nicht der Schlußmonolog, sondern die dramatische Schlußpassage mit allen zentralen Charakteren und Clavigos Tod am Sarg Mariens. Begleitet wird die Passage vom Leichengesang für Marie Beaumarchais; die Komposition folgt also nicht genau der dramatischen Handlung, wie das für das Melodrama gilt. Holtbernd sieht im Einsatz der Musik in den Schlußpassagen ein Moment der Verklärung des Helden, indem die Musik den Horizont des bürgerlichen Trauerspiels in Richtung auf das Hegelsche Postulat von der Darstellung des >Unendlichen und Göttlichen in der Individualität öffnet. 9 Dramaturgisch fungiert die Melodramatik wie im Melodrama als Klimax, die das Pathos des Dramenschlusses durch die Uberführung in die musikdramatische Gattung legitimiert. Als wesentlich differenzierter erweist sich das zudem mit Gesängen durchsetzte Trauerspiel >EgmontL'incoronazione di Poppea< ausgesprochen negativ gezeichnet, Jason erscheint in Cavallis >Giasone< (Venedig 1649) zugleich als Held und ausgemachter Prahlhans. Bereits im ersten Akt dieser Oper tritt mit Demo ein buckliger, stotternder Buffonist auf, dessen Szene zwar für den Verlauf der Handlung völlig unbedeutend, jedoch für die venezianische Oper zwischen 1648 und 1652 symptomatisch ist:5 Tragik und Komik, Pathos und Spott treffen in der venezianischen Oper unmittelbar aufeinander, etwa indem ein komisches Paar aus dem Volke, wie der Hauptmann der Soldaten aus dem Gefolge der Griechen und die Hofdame der Medea, die Liebeshandlung doppelt. 6 Dabei wird wie nebenbei eine Opernsatire eingefügt, wenn der Soldaten-Bass gegenüber der Dame vorgibt, er sei Sänger und zwar Sopranist (gemäß der Hierarchie der Barockoper die bedeutendste Stimmlage), worauf die Hofdame sofort erschrocken fragt, ob er dann etwa ein Kastrat sei. Der Bass verneint und so steht ihrer Liebe nichts mehr im Wege. Diesem >Detailrealismus< steht die ironisierte Haupthandlung gegenüber, deren viriler Titelheld (der bereits Kinder mit Medea gezeugt hat) selbstverständlich von einem Kastraten gesungen wurde. 7 Nicht von ungefähr war die Oper der bürgerlichen Handelsmetropole Venedig, deren Opernhäuser stets für jedermann zugänglich waren, zu al3 4
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Vgl. M G G , >Intermezzokomische< im Sinne einer unvorteilhaft gezeichneten und nicht ernstzunehmenden Figur markiert. Ein Verfahren, das übrigens noch Mozart in der >Zauberflöte< verwendet, um Sarastro zu ironisieren, der als Humanist auftritt, aber Sklaven hält und frauenfeindliche Parolen verkündet. Vgl. M G G , >IntermezzoGiasone< auch auf die spätere B u f f a kann man wohl kaum überschätzen: »Im Italien des 17. Jahrhunderts war sie die am häufigsten aufgeführte, am leidenschaftlichsten bewunderte und am heftigsten angefeindete Oper.« Angefeindet wurde sie vor allem wegen ihrer Vermischung sozialer Schichten.
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len Zeiten besonders stark mit komischen Elementen durchmischt, was den Anlaß für spätere Opernreformen, besonders der neapolitanischen Schule bildete, die erst die hochbarocke Seria mit ihren schematisierten Libretti und der regelmäßigen Abfolge von Rezitativ und Arie entstehen ließ. Komik und Heroik waren in der venezianischen Oper auf unterschiedliche Weise verbunden: Entweder in den scene buffe, in denen mit der Haupthandlung verknüpftes Personal (zumeist aus dem Volk) eine kritische oder lächerlicher Schilderung der zentralen Charaktere 8 oder Phänomene der Haupthandlung gibt, oder aber als reine komische Opern, deren Stoffe wie die der ernsten Oper ebenfalls aus der römischen und griechischen Geschichte und Mythologie entnommen wurden. Die frühe venezianische Oper, in die neben dem spanischen Theater vor allem Calderóns natürlich auch Elemente der commedia dell'arte eingegangen sind, nimmt bereits vereinzelt wesentliche Elemente wie Parlando,9 Stotter-Arie, die Szene im Dunkeln etc. der späteren opera buffa vorweg. Erst die Librettoreformen von Apostolo Zeno (1668-1750) und später die Werke des bedeutendsten Librettisten der opera seria Pietro Metastasio (1698-1782) machten ab ca. 1700 Schluß mit den komischen Elementen in der Oper, 10 woraus sich letztlich die Unterscheidung von Seria und Buffa zwangsläufig ergeben mußte, da die ausgegrenzten Elemente sich ihr eigenes Podium schufen. Die komischen Figuren, aus der Haupthandlung des Stückes verdrängt, erlebten ihre eigenen, zusammenhängenden Abenteuer nun in den Pausen zwischen den Akten der ernsten Oper. Die >Bereinigung< der Libretti von den komischen Elementen wirkte damit letztlich diametral entgegengesetzt zu ihrer Intention: Statt die Komik zu beseitigen, wurde ihr der Weg zur eigenen Gattung geebnet. Die Zwischenspiele, deren italienischer Name >intermezzo< sich aus dem lateinischen >intermedium< herleitet, waren von Anfang an in einem höheren Maße selbständig als der Name impliziert. Wenn auch die Personen der komischen Handlung zuweilen auf die Geschehnisse der Haupthandlung Bezug nahmen und die Intermezzi zunächst oft für eine bestimmte Oper geschrieben wurden, waren sie doch in so hohem Maße au8
Eine Verfahrensweise, die die opera seria als Möglichkeit der Mikrokritik innerhalb ihrer engen Gattungsgrenzen beibehalten sollte. U.a. Händel machte von dieser Möglichkeit Gebrauch: Besonders seine 1709 in Venedig entstandene Oper >Agrippina* zeigt die für die venezianische Oper charakteristische Vermischung ernster und komischer Elemente. 9 Der Parlando-Stil ist die Kompositionstechnik der opera buffa, bei dem das Orchester eine Melodie spielt, in die die Singstimmen zeilenweise einfallen, woraus sich eine Sprachnahe (>parlareMusiciHauptrollekünstlichen< Gesang der Kastraten und dem >natürlichen< der >echten< Männer der komischen Gattungen ist besonders von der älteren Forschung immer wieder hervorgehoben worden. 12 Die Sicht ist hier durch das >Realismuspostulat< des 19. Jahrhunderts und für den Bereich der Oper durch das Wagnersche Musiktheater 13 verstellt: Im Verständnis des 17. und frühen 18. Jahrhun-
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Die Sänger waren auch ausgebildete Komponisten und das Prinzip der da capo-Arie darauf ausgelegt, ihnen die Freiheit der Gestaltung weitgehend zuzugestehen. Eine Freiheit, die in der Spätzeit der italienischen Seria zentraler Kritikpunkt war. Im ausgehenden 18. Jahrhundert bildete diese Praxis zwar tatsächlich ein manieristisches Spätphänomen, aber im wesentlichen war es der veränderte Kunstbegriff des späten 18. Jahrhunderts der dem Genie des Komponisten uneingeschränkte Priorität einräumte und die Freiheit des Interpreten in einer Weise beschränkte, die kein hochqualifizierter Sänger der Barockoper zugelassen hätte. Nach meiner Auffassung spiegeln die ablehnenden Texte über die >Mißstände< der Seria und ihrer Sänger vor allem diesen Paradigmenwechsel wieder und in geringerem Maße die tatsächliche Situation. Denn auffällig oft läßt sich für die Verfasser der Pamphlete kaum eine intensive direkte Kenntnis des Gegenstands nachweisen und umgekehrt ist die Kritik der tatsächlichen Kenner eher moderat, wie sich beispielsweise an E.T.A. Hoffmanns emphatischem Lob von Crescentinis >Ombra adorata< zeigt. Vgl. Hoffmann: Fantasie- und Nachtstücke in Callots Manier, S. 33.
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Vgl. Wolff (1981), S. 66-69 und S. 134. Markanterweise spielte Wagner zeitweise mit dem Gedanken, die Rolle des Klingsor für
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derts wurde die Stimmverteilung dagegen hierarchisch geregelt (je höherstehend die Gestalt, desto höher die Stimmlage). Die >niederen< Stimmlagen der Männer in den Intermezzi ergeben sich also zunächst zwangsläufig durch ihren komischen d.h. niederen Charakter. Entsprechend sind in den Mischformen die parti serie auch stimmlich analog zur opera seria besetzt und lebt der männliche Held mit Sopran- und Altstimme in den Hosenrollen des 19. Jahrhunderts fort. Die Trennung war zudem nie so strikt, wie in der Forschung oft behauptet wird 14 faktisch wurden mindestens in Rom' 5 alle Frauenrollen der Seria wie der Buffa von Männern, und das heißt teilweise von Kastraten, gesungen.'6 Goethe beschreibt solche Aufführungen in der italienischen Reises und aus seiner Beschreibung wird deutlich, daß es sich dabei um eine spontane Formation engagementlos umherziehender Sänger handelte, die sich zur Truppe formierten.'7 Daß Kastraten auch in den Wandertruppen und damit in der Buffa außerhalb Roms ihren Platz hatten, beweist nicht zuletzt der Werdegang von Glucks erstem Orpheus, des Altkastraten Gaetano Guadagni, der lange Zeit mit verschiedenen Wanderbühnen umherzog, ehe er zu einem der letzten großen Gesangskastraten Europas wurde und der sich besonders durch seine an der Buffa geschulten Fähigkeiten zur psychologischen Darstellung ausgezeichnete. An der musikalisch-dramatischen Gestaltung der Rolle des Orfeo soll er zudem maßgeblich beteiligt gewesen sein.'8 Dieses Element ist deshalb bedeutsam, weil sich in ihm exemplarisch die gegenüber der späteren Operngeschichte abstraktere Barockästhetik manifestiert, und sich überdies nachweisen läßt, daß Goethe (Karl Philipp Moritz übrigens ebenso) dieser Tradition nicht nur völlig unverkrampft gegenüberstand,19 sondern sie sogar beträchtliche Faszination auf ihn ausübte. In der italienischen Reise< lobt er die Gesangskunst und schauspielerische Leistung der Sänger ohne jedes Befremden. In seinem kurz nach der Rückkehr entstandenen Aufsatz über >Frauenrollen auf dem Italienischen Theater, von Männern gespieltcross-dressing< als eine Möglichkeit zur abstrakteren und damit typischeden seinerzeit sehr berühmten Kastraten Domenico Mustafá zu schreiben. Vgl. Ortkemper(i993), S.364. 14 »Die opera buffa trat in größten Gegensatz zur italienischen opera seria, indem sie keine Kastratenstimmen verwandte, sondern die natürlichen Stimmlagen und sich auch in den Stoffen einer größeren Natürlichkeit und Realistik bediente.« Wolff (1979), S. 134. Auf Grund des Bühnenverbots für Frauen. Vgl. Strohm (1979), S. 178. 16 Vgl. M G G , »Intermezzos S. 1041. 17 3 1 . Juli 1787. F A I, Bd. 1 5 . 1 , S.400. 18 So die These des Musikologen und Sängers Alain Zaepffel. ' ' Was man von späteren Italienreisenden wie etwa Heinrich Heine nicht behaupten kann.
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ren Charakterisierung (des weiblichen Geschlechts) auf der Bühne insgesamt.20 Den Erfolg des frühen komischen Musiktheaters mit dessen angeblicher >Natürlichkeit< zu begründen, ist ohnehin verfehlt: Das Intermezzo wie die frühe opera buffa war mit seinen typisierten dramatis personae und Situationen nicht weniger stilisiert als die opera seria. Wo die ernste Oper jedoch einem hoch artifiziellen Regelkanon folgte, boten die komischen Formen zunächst nur vergleichsweise lose Traditionen und damit konkret ein hohes Maß an librettistischer wie kompositorischer Freiheit. Der Erfolg resultierte sicherlich zunächst nicht aus dem Kunstcharakter, sondern der zuweilen derben Komik und der zugespitzten Satire typisierter Lebenssituationen. Dabei verzichtete das Intermezzo zunächst auf psychologische Motivierung der Handlung. Nicht nur die frühen Intermezzi wurden den Darstellern, wandernden Buffopaaren, wie Goethe sie auch als ein Charakteristikum des frühen deutschen Musiktheaters schildert, 21 >auf den Leib< geschrieben. Weniger das reale Leben als vielmehr das Sprechtheater übten auf die Entwicklung der Intermezzi einen besonderen Einfluß aus. Der Florentiner Hofpoet Antonio Salvi (1664-1724), von dem das Libretto zu dem vor Pergolesis >Serva padrona< bekanntesten Intermezzo (>Bacocco e Serpillaunanständige< abendfüllende Komö20
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Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt. W A I, Bd. 47, S. 2692 74; Italienische Reise. F A I, Bd. 1 5 . 1 , 8.467-468. Vgl. Strohm (1979), S . 1 1 8 . Besonders für die neapolitanische commedia per musica gilt, daß sie eine »soziale Vogelschau« (Strohm 1979: S. 145) war, bei der der Höfling über das Verhalten des niederen Bürgertums oder Volkes lachen oder besten Falls gerührt sein konnte. Vergleichbar dem Norddeutschen Singspiel war sie zudem stark an das Sprechtheater angelehnt.
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die (commedia per musica) mit Ausnahme des Nordens in ganz Italien lange mit deutlichen Vorbehalten kämpfen mußte, waren die oft viel drastischeren Intermezzi - etwa Scarlattis scene buffe um 1700, die eher schockierten als unterhielten - dank ihrer Integration in die hohe Gattung weitgehend akzeptiert.24 Die Intermezzi Hasses und Telemanns in den 1720er Jahren, die besonders in Deutschland weite Verbreitung erreichten, waren dagegen eher heiter und spielerisch. Das intermezzo per musica übernimmt weitgehend die drastische Komik der aus der opera seria verdrängten scene buffe, strafft und verknappt jedoch die Handlung und ist darüber hinaus schon bald weitgehend unabhängig von der umgebenden Oper. Von der commedia per musica und der opera buffa unterscheidet es sich durch seine konsequent komische Ausrichtung, wogegen sich letztere mindestens in den parti serie (zumeist dem Hauptliebespaar) an die ernste Gattung anlehnte.25 Erst in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts hatte sich die komische Gattung so weit etabliert, daß Intermezzi selbständig auch an italienischen Höfen aufgeführt werden konnten. Pergolesis >La serva padrona< (1733) ist bereits ein Spätphänomen mit hoch artifiziellen musikalischen Strukturen. Sie ist und bleibt das Schlüsselwerk der Gattung, obwohl heute der >Livietta e Tracollo< (1734) eine vergleichbare Qualität bescheinigt wird. Daß die >Serva padrona< als wohl einziges Intermezzo auch heute noch allgegenwärtig ist, die musikalisch ebenfalls hochkarätigen Intermezzi eines Hasse oder Telemann dagegen weitgehend in Vergessenheit geraten sind, hängt wohl vor allem mit der Rezeptionsgeschichte zusammen: 26 A m 1. August 1752 entbrannte nach einer Aufführung des Stückes in Paris durch eine italienische Operntruppe als Zwischenspiel (ausgerechnet) zu Lullys tragédie lyrique >Acis et Galatée< der sog. Buffonistenstreit. Dabei ging es nur vordergründig um die Gestalt der komischen Oper zwischen den Polen der italienischen Intermezzi und des französischen Vaudevilles. Im Hintergrund stand die für die französische Operngeschichte des 18. Jahrhunderts symptomatische, konstante Furcht vor einer Überfremdung der Kultur durch die in Europa allgegenwärtige italienische Oper. 27 In den Buffonistenstreit griffen zudem Rousseau und die Enzyklopädisten ein, wodurch hier an Stelle der Oper grundsätzliche ästhetische (und letztlich auch politische) Positionen der Aufklärung verhandelt wurden. Goethe griff in seiner Ubersetzung
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Vgl. Strohm (1979), S. 1 1 8 . Vgl. M G G , >IntermezzoRameaus Neffe< und ihrem Kommentar diesen Disput nochmals auf.28 Der Buffonistenstreit wurde zwar von der italienischen Partei >verlorenServa padrona< wurden »zum Idol der Opéra comique«.29 Goethe verweist rückblickend in der italienischen Reise< auf die gattungsbildende Bedeutung der >Serva padrona< auch für die Entwicklung des deutschen Opernwesens, wobei Pergolesis Werk als eine »unschuldige« Stufe bezeichnet wird in dem Sinne, daß das Publikum begeistert auf die neue Gattung reagierte, ohne jedoch deren weitere Möglichkeiten zu erahnen.30 Gennaro Antonio Federico bietet in seinem Libretto der >Serva padrona< kaum wesentliche Neuerungen, sondern summiert vielmehr die Elemente vorangegangener Stücke, die er in Nuancen variiert. Diese kleinen Veränderungen lassen aber aus der stereotypen Grundsituation und der Situationskomik eine Charakterkomödie von ungewöhnlicher Stringenz entstehen: Die herrschsüchtige und dominante Serpina ist genauso wie der konfuse und schwache Umberto ein direkter Sproß aus der Familie des traditionellen Intermezzopersonals. Neu ist jedoch die absolut perfekte Abstimmung der dramatis personae aufeinander: Die Dialoge sind so scharf und präzise wie bei einer Gerichtsverhandlung. 31 Das Stück ist damit zwar witzig, aber viel zu aggressiv, um heiter zu sein. Wesentliches Element der Intermezzotradition ist das Verkleidungsmotiv, das auch als Verbindung der beiden Teile fungiert, indem die agierenden Personen in neuer Maske erscheinen. Letztlich geht es auf die Tradition der commedia dell'arte zurück, bei der alle >Personen< nur Masken sind. In der >Serva padrona< wird das Verkleidungsmotiv doppelt modifiziert: Serpina spielt gerade keine Rolle mehr. Sie hat ihre >Maske< so weit verinnerlicht, daß sie selbst zur Inkarnation des Typus geworden ist. Entsprechend verschleiert sie ihre Absichten, durch Heirat die Hausherrin zu werden, an keiner Stelle, und die Intrige bedarf auch keiner wirklichen Verstellung in Sinne etwa einer Verkleidung ihrerseits, sondern ist nur ein 28
Der Übersetzung und ihrem Kommentar ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Strohm (1979), S. 130. 3° F A I , Bd. 15.1,8.467-468. 3 ' Strohm vermutet, daß Federico wie viele andere Librettisten der Intermezzi und B u f f a ein Advokat gewesen ist. Vgl. Strohm (1979), S. 132. 19
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Schritt zum Ziel. Die tatsächliche Verkleidung wird auf die stumme Rolle übertragen, auf die auch das phantastische Element (sonst wesentlich für das Intermezzo) beschränkt ist. Der Diener Vapone wird als stumme Rolle, die für die Oper ja nur eine absolute Randerscheinung bedeutet, von Federico gewissermaßen als >Kleiderhaken< verwendet, über den sich die Traditionen des Intermezzos hängen lassen, die er eigentlich nicht mehr benötigte. Auf Tanz und Musizieren als Merkmale des heiteren Intermezzos wird folgerichtig gänzlich verzichtet. Auch die Opernparodie, sonst konstitutives Element des Intermezzos, fehlt fast gänzlich. Das Duett als Handlungsträger hat im Intermezzo Tradition. Im ersten Duett (Streitduett) stehen sich mit Serpina und Umberto nicht nur zwei Positionen gegenüber, sondern Serpina treibt Umberto bereits Stück für Stück in die Enge, wodurch der Handlungsverlauf präfiguriert wird. Neu ist dagegen, daß auch die Arien Handlung beinhalten, wenn Serpina ihre Manöver vollzieht und Umbertos Wutausbrüche sich Luft machen. Das Schlußduett schließlich ist die Besiegelung des Rechtsbündnisses Ehe als einem Stillhalteabkommen oder bestenfalls Friedensvertrag; von Liebe und Gefühl ist konsequenterweise kaum die Rede, 32 weshalb es im 19. Jahrhundert oft durch ein anderes Duett ersetzt wurde. Das Handlungsende projiziert das lieto fine der ernsten Oper, bei dem die Konflikte durch Heiraten gelöst werden, auf bürgerliches Niveau, und macht es als kaum weniger konventionelles und vor allem >machtpolitisches< Verfahren kenntlich. Ob dies eine ausdrückliche Anspielung auf die opera seria und damit eine Opernparodie ist oder eine eher zufällige Reproduktion ihrer Verfahrensweise, muß an dieser Stelle allerdings offen bleiben. Dem Intermezzo stand seit 1709 die allerdings nur in Neapel etablierte commedia per musica gegenüber, ab 1730 entstand von Venedig ausgehend die opera buffa. Zu diesem Zeitpunkt war die Emanzipation der Intermezzi von der Seria schon so weit fortgeschritten, daß Intermezzi inzwischen als abendfüllende Unterhaltungen an den europäischen Höfen sowie Bühnen mit bürgerlichem Publikum zugelassen waren. Entsprechend begannen sie, Verschmelzungen mit den anderen komischen Gattungen einzugehen. Wie bereits erwähnt, vertonten die Komponisten der opera seria auch Intermezzi und später opere buffe und umgekehrt. Dabei mochte der Erfolg die Waagschale nach der eigenen oder anderen Seite neigen, was zur >2 Vgl. ebenda, S. 133. l
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Folge hatte, daß das komische respektive das ernste Werk mancher Komponisten, ein Beispiel sind etwa Glucks frühe komische Opern, heute kaum noch im Bewußtsein ist.33 Aus der doppelten Arbeitsweise ergibt sich bereits ganz selbstverständlich ein reger wechselseitiger Austausch zwischen den polaren Gattungen, wobei die ernste von dem Innovationsgeist und der Aktualität der komischen profitierte und umgekehrt die komische langsam ernste Elemente und vor allem deren entsprechend artifizielle musikalische Verarbeitungsweisen integrierte. Für die Librettistik, deren Schöpfer eher finanziell unabhängig von ihrer Kunst waren, gilt dagegen eine konsequentere Trennung zwischen ernster und komischer Gattung. 34 Der Stammbaum der komischen Opernformen läßt sich grob wie folgt umreißen: Scene buffe mit zwei Personen und sechs Teilen gehören ab ca. 1670 zu den Frühformen. Das Intermezzo mit zwei Sängern und eventuell weiteren Schauspielern bildet sich ab 1 7 1 0 heraus. Eine Sonderform des Intermezzos, die in Goethes Musikbibliothek 3 ' häufig vertreten ist, ist die farsa oder farsetta per musica, eine kleine, zumeist einaktige Form mit vier bis acht Personen, die besonders zwischen 1780 und 1800, also zur Zeit der Italienischen Reise, ihre Hochzeit hatte und an das Ende eines beispielsweise zweiaktigen Stücks angefügt wurde. Hinzu kommen die neapolitanische commedia per musica und die ab 1730 entstehende opera buffa.
2. G o e t h e u n d die opera b u f f a I I Die zukunftsträchtigen Opernformen sind trotz der erfolgreichen Opernreform Glucks in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunächst die komischen Formen opéra comique und vor allem die vitale opera buffa. Letztere vor allem deshalb, weil sie aus dem musikalischen Formenreichtum und der hochentwickelten Kompositionstechnik der Seria schöpfen konnte und zudem teilweise deren ausgezeichnete Gesangstechnik zur Verfügung hatte. Auch wenn die Buffa sich explizit als Opposition zur Seria definierte, profitierte sie doch von deren Traditionen und hätte sich ohne den Rückgriff auf ihre kompositorischen Verfahrensweisen und Techniken nicht so rasant entwickeln können. 36 33 34 35 36
Vgl. M G G , >IntermezzoPamela< das Libretto >La buona figliuola< verfaßt, das Tendenzen des Rührstücks aufnahm. In der Vertonung von Nicola Piccinni von 1760, der die durch den Handlungsgang (ein Adeliger liebt aufrichtig ein elternloses Mädchen, das er wegen des Standesunterschiedes nicht heiraten darf) mannigfaltigen dramatisch-empfindsamen Szenen mit einer zarten, elegischen Musiksprache und verfeinerten Komik bearbeitete, wurde es zu einem für die Entwicklung nicht nur der opera buffa, sondern auch der opéra comique und des Singspiels ausgesprochen einflußreichen Erfolgsstück. 37 Goldoni hat in seinen Reformlibretti die Personenzeichnung hin zu einer natürlicheren verbessert, allerdings nicht so weitreichend wie in seinen Komödien: Weitgehend behielt er die Typik der Buffa-Charaktere bei und kontrastierte sie durch parti serie, ernste dramatis personae, die etwas von dem eleganten Pathos metastasianischer Seria-Texte mit sich brachten.' 8 In der >Buona figliuola< sind die Zentralfiguren Cecchina alias Mariandel und der Marchese zwischen Seria- und Buffagestalten angesiedelte >mezzo caratteres also dramatis personae, die sowohl ernste, als auch komische bzw. sentimentale Züge besitzen. Prinzipiell behielt die opera semiseria, also die um ernste Elemente bzw. sentimentale Tendenzen erweiterte Buffa, dieses Verfahren bei: Einem ernsten Liebespaar steht ein komisches gegenüber. Das ernste Paar ist zumeist adelig, der Mann oft noch eine Kastratenrolle, wie der adelsstolze Armidoro in Goldoni/Piccinis >Buona figliuolaprimo uomo< der tragédie lyrique, der sich wie seine Geliebte zumindest teilweise in Bravour- und da capo-Arien äußert. Das mehr oder weniger komische Paar stammt aus dem Volk oder ist das Die-
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Eine frühere Vertonung stammt von Egidio Duni (Paris 1756), sie bildet Dunis letzte Oper für das italienische Musiktheater, ehe er sich der französischen opéra comique zuwandte. 38 Goldoni gehört zu den prominenten Metastasio-Verehrern, die in ihm einen der bedeutendsten Vertreter der italienischen Literatur sahen. Vgl. M G G , >LibrettoRe Teodoro< gilt in der Forschung als das erste Beispiel für szenisches Gestalten in der Oper 6/ und ist ein frühes Beispiel für die Mischung komischer und ernster Elemente: »Castis Libretto gehört jener Richtung des >Dramma eroicomico< an, welche in parodistischer Manier, zumeist auf der Basis einer literarischen Vorlage, die Demaskierung eines vermeintlichen Helden zum Thema hat.«68
(wie er an anderer Stelle darauf verweist, daß ein >Don Juan< nicht der Mozartsche sei). Zudem wurde Sartis Oper am Wiener Burgtheater ab 1783 aufgeführt und wurde schnell so populär, daß Mozarts Tafelmusik im finale des >Don G i o v a n n i eine Arie aus dem ersten A k t zitiert (Vgl. Leopold in: Piper, Bd. 5, S. 560.). Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erfreute die Oper sich unter wechselnden Titeln in Deutschland großer Beliebtheit (Vgl. ebenda). - Das italienische Textbuch in Goethes Sammlung gibt den Titel mit >Tra due litiganti il terzo gode< an, was darauf hindeutet, daß selbst in Italien die Titel verwechselt wurden. Der korrekte Titel dieser, von Goethe später nur noch als >Litiganti< bezeichneten Oper lautet: >Fra i due litiganti il terzo godeIntermezzoVersagen< Kaysers wie späterer Komponisten in Goethes Umkreis. Bereits in diesem frühen Stadium des Projekts meldete Goethe erste Zweifel an der Durchführbarkeit seiner Konzeption an: »Bange macht mir, daß es für drei Personen beinahe zu viel Arbeit ist«.96 Im Brief vom 22. und 2 3 . 1 2 . 1 7 8 5 führt Goethe die >Entführung aus dem Serail< von Stephanie/Mozart als Beispiel dafür an, daß einem Kunstwerk, ganz gleich welcher Gattung, eine differenzierte Betrachtung zukommen muß: Eine originelle Arbeit muß sich erst den Weg zu Aug, O h r und Herzen bahnen den sie gehn will wenn man sie und sich übereilt, kommt man in Gefahr in Beyfall oder Tadel zu straucheln. 97
An sich ist diese Feststellung ein Gemeinplatz, doch verdeutlicht sie ums andere mal, daß Goethe den Gattungen des Musiktheaters mit derselben Ernsthaftigkeit entgegentrat wie anderen Gattungen der Kunst. A u f schlußreich ist diese Textstelle vor allem für Goethes spätere Auseinandersetzung mit der Oper in Italien, von deren Produktionen er zunächst ebenfalls wenig erbaut war und sich ihnen dennoch immer wieder zuwandte. Neulich ward die Entführung aus dem Serail, componiert von Mozart, gegeben. Jedermann erklärte sich für die Musick. Das erstemal spielten sie es mittelmäsig, der Text selbst ist sehr schlecht, und auch die Musick wollte mir nicht ein. Das zweyte Mal wurde schlecht gespielt, und ich ging gar heraus. [...] Als sie es zum fünftenmal gaben, ging ich wieder hinein. Sie agirten und sangen besser als iemals, ich abstrahirte vom Text und begreiffe nun die Differenz meines Urtheils und des Eindrucks aufs Publikum und weis woran ich bin. 98
»s Vgl. Holtbernd (1992), S. 154. 96 FA II, Bd. 2, S.585. Ebenda, S.611. 9» Ebenda.
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Hier wird deutlich, wie sehr Goethe bei seiner Beurteilung einer Oper vom Text ausging: Den schlechten Text zu ignorieren und sich ganz auf die Musik zu konzentrieren, beschreibt er als einen Abstraktionsvorgang, der ihm offenbar einige Mühe bereitete. Ihm ist bewußt, daß er sich erst mit dieser Anstrengung auf die Betrachtungsweise des Publikums einläßt, dessen positives Urteil ganz offenbar von der Qualität des Librettos kaum beeinflußt wird. Goethe tadelt diesen Umstand nicht, er akzeptiert ihn und es ist wohl nicht zu weitgehend anzunehmen, daß er sich vornahm, sich künftig danach zu richten. So auffällig wie aufschlußreich ist, daß dem späteren Mozartverehrer Goethe zunächst auch dessen Musik zu sperrig war: Angesichts seiner eigenen Bemühungen um eine Form des Singspiels, die Elemente der italienischen komischen Oper mit begrenzten Mitteln zur Geltung bringen sollte, hatte Mozarts Stück traumatisierende Wirkung: Die üppige Gestaltung, sowohl bezüglich der Varietät der auftretenden dramatis personae, der aufwendigen musikalischen Gestaltung von Arien, Ensembles und Chören sowie der neuartigen und modischen Orchestrierung (unter erstmaliger Verwendung des Beckens) erschien wie das erklärte Gegenbeispiel zu Goethes Experiment. Dabei liegt beiden Stücken ein ähnlicher struktureller Ansatz zugrunde: der, das deutsche Singspiel um Elemente der italienischen opera buffa zu erweitern. Während Goethe dies jedoch innerhalb der engen personellen Grenzen des intermezzo per musica bewerkstelligen wollte, die zugleich die Möglichkeiten der Vertonung stark limitierten, ging Mozart den historisch fruchtbaren Weg, über die Erweiterung des Personals und exotischer Schauplätze der Vertonung reichhaltige Möglichkeiten zu verschaffen. Goethes wenn auch noch uneingestandene Erkenntnis über die eingeschlagene Sackgasse trug sofort Früchte: Im selben Brief erwähnt er erstmals >Die Ungleichen Hausgenossenrastloser Handlung< hatte Goethe erkannt, daß die Vertonung notwendigerweise den Handlungsfluß retardiert. Dies führt, positiv gewendet, zur Konzentration auf den Moment, der damit auch unabhängig vom Gesamtzusammenhang betrachtet werden kann. Die intermezzi per musica machten sich gerade diese Unabhängigkeit der dramatischen Situation von der Handlung zunutze, um ein Höchstmaß komischer Effekte auf kleinem Raum zu erzeugen. Die Problematik dieser Verfahrensweise sieht Goethe jedoch im dritten Akt von >Scherz, List und Rache< manifest werden: Eine Vielzahl dramatischer Situationen drängt sich auf engstem Raum: Feuer, Vergiftung durch Ver111
Anm. T.H.: Beides Paisiello. Der Text des >Re Teodoro< stammt von Abbate Casti, den Goethe sehr verehrte. Unter dem Titel »Filosofi ignoranti (auch: >Gli filosofi immaginar i ) verbirgt sich die Oper >Gli astrologi immaginari von Bertati/Paisiello. Wobei hier nicht eindeutig ist, ob Goethe Librettist oder Komponist oder beide meint. ' " F A II, Bd. 2, S.630.
167
wechslung, die Seriaparodie mit der Unterweltsszene, Entdeckung und Erpressung, die Beseitigung der >LeicheEntführung< Mozarts kritisierte er sein Stück in der italienischen Reise< von der Warte der aktuellen opera buffa aus, die für seine künftigen Arbeiten den Ausgangspunkt darstellt. 3.2. Handlung und Struktur Anders als bei >Jery und BätelyScherz, List und Rache< als expliziten Aufgriff der Gattung des intermezzo per musica verstanden wissen. Zwar weist Holtbernd zurecht auf die Kontinuität der von Goethe verwendeten Verfahrensweisen hin, die das Stück trotz seines andersartigen Sujets in die Reihe des Singspiele integrieren," 3 und Goethe selbst hielt an der Bezeichnung >Singspiel< für den Druck fest; bedeutsamer ist jedoch der in den Briefen explizierte Rekurs auf das Intermezzo, der sich auch in den Kayser zu Vorbildern der Komposition empfohlenen Buffen von Paisiello und Sarti niederschlug." 4 Intermezzo und opera buffa waren zeitgenössisch vor allem in Süddeutschland bereits etablierte Gattungen, allerdings wegen ihres minderen dichterischen Gehalts verpönt." s Im Unterschied zum Norddeutschen Singspiel, das sich den moralischen Anspruch erfolgreich zu eigen gemacht hatte, bildeten Ehebruch und Betrug zentrale Topoi des Intermezzos, wobei die schlaue Hausfrau und der gewitzte Betrüger am Ende oft triumphierten. Während das intermezzo per musica in seiner reinen Vgl. Holtbernd (1992), S. 154-180. " 4 Besonders >Re Teodoro< von Casti/Paisiello und >Fra i due litiganti il terzo gode< von Sarti. " s Vgl. Margarete Treisch: Goethes Singspiele in Kompositionen seiner Zeitgenossen. Diss. Berlin 1951. Teildruck in: Wiss. Zs. der Humboldt-Universität Berlin, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe III (1953/54), S. 14. Goethe nahm sich also (wiederum) einer explizit >niederen< Gattung an, deren potentielle Qualitäten er zu entfalten strebte.
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Form in Italien bereits einigermaßen antiquiert war, bedeutete es für die an das Norddeutsche Singspiel gewöhnte Hörerschaft einen Meilenstein in der Entwicklung des Musiktheaters, sowohl in seiner neuartigen Stofflichkeit, als auch dank der an der opera seria geschulten Kompositionstechnik. Die anziehende (und leicht anzügliche) Leichtigkeit und Komik der vorgeblich niederen Gattung mit den Ansprüchen eines literarischen Textes bezüglich Handlungsmotivation und charakterlicher Stringenz der dramatis personae zu verbinden, erschien Goethe nicht nur prinzipiell reizvoll, sondern bot vor allem einen Ausweg aus den eintönig gewordenen Singspielen. Der Versuch einer Literarisierung gerade der komischen Gattung, die sich aus der commedia dell'arte, also der textlich nicht fixierten Stegreifkomödie, der Opernparodie und dem lockeren Bezug zu Werken der ernsten Gattung entwickelt hatte, bildete zweifelsohne ein besonders ambitioniertes Projekt. Als speziellen Reiz des Sujets benennt Goethe die »Lust mit Sparsamkeit und Kargheit in einem engen Kreise viel zu wirken«, 1 ' 6 womit sich bereits jenes Ideal >klassischer< Strenge der Mittel ankündigt, die in >IphigenieTasso< und den Umarbeitungen der frühen Singspiele unter italienischer Sonne voll zur Wirkung kommen sollte. Das Personal von >Scherz, List und Rache< beschränkt sich auf drei Personen, womit Goethe das zweistimmige Muster von Pergolesis >Serva padrona< um eine dritte Singstimme erweitert hat:" 7 Das Ehepaar Scrapin und Scrapine wurde von dem so erbschleicherischen wie geizigen Doktor, einem echten >dottore< in der Tradition der comedia dell'arte, um die Erbschaft einer alten Tante gebracht. Das junge Paar will sie sich nun durch eine List zurückholen, wozu Scrapin sich als Diener eingeschlichen hat und Scrapine als Patientin auftritt. Dem Doktor, der die Hübsche umgarnt und durch Tränklein von sich abhängig machen will, gaukeln die beiden vor, er hätte das Mädchen vergiftet und Scrapin erbeutet die ersten fünfzig Dukaten für die Beseitigung der >LeicheServa padronakunstreiche< dramaturgische Funktion als Erkennungszeichen für Scrapin und als Rahmen für die Exposition (Goethe bezeichnete den ersten Akt als >PrologL'ivrogne corrigé< ( 1760) eine unter dem Einfluß der Buffa stehende komische Oper als Persiflage auf die Unterweltsszenen der Seria geschrieben. Vgl. Wolff (1981), S. 90-91. 128 Ebenda, 8.700-701. 129 Holtbernd hat die verschiedenen Arienformen anhand von Kaysers Vertonung aufgelistet. Vgl. Holtbernd (1992), S. 167-168. Die Analyse beschränkt sich jedoch auf die im Libretto erkennbaren Formen. 1)0 F A I, Bd. 5, S. 3 7 1 . l
7l
Mit der Begegnung des Ehepaars beginnt die eigentliche Handlung, in die Scrapines kleines Arioso >Schlafe nur dein Mittagsschläfchen< 131 einführt. Scrapin schildert seiner Frau wie er sich beim Doktor eingeschlichen hat in einer für die Buffa typischen Parlandoarie' 32 mit rascher Diktion, deren >Sprechcharakter< hier noch durch die Schilderung in Rede und Gegenrede betont wird. Der erste Akt schließt mit einem Duett des Paares, mit dem es sein >Jagdglück< beschwört,' 33 nachdem die Vorgehensweise der Intrige verabredet wurde. Goethe dachte hier sicherlich an den für die Buffa typischen Einsatz der Blasinstrumente, für deren Instrumentierung er Kayser im Brief vom 20.1. 1780 präzise Anweisung gegeben hatte.' 34 Im zweiten Akt sieht man den Doktor beim Geldzählen. 135 Auch sein Gesang, mit dem er seinen auf Geiz und finanziellen Reichtum ausgerichteten, nur noch an der Erreichbarkeit aller Genüsse sich berauschenden Charakter offenbart, erscheint als ein szenisch erweitertes da capo. Der Anfangsteil kehrt mit kleinen Abwandlungen am Schluß wieder und markiert damit den Abschluß einer größeren, nicht unmittelbar zur Handlung gehörenden Passage. Der dazwischen liegende Teil ist in unregelmäßige Strophen untergliedert. Der aus den Singspielen bereits bekannte, zügige vierhebige Trochäus nähert das Metrum teilweise an das Rezitativ an und betont den Parlando-Charakter auch dieser Arie. Des Doktors Begeisterung darüber, was er sich alles kaufen könnte, steigert sich, bis ihm buchstäblich der Atem ausgeht: Die vorletzte Strophe verfällt mit den kostenspieligsten Tagträumen von Haus, Glücksspiel und Reisen in extatische Zweiheber, nach denen sein Geist nur noch mit kindischem Geplapper selbstverliebt um sich kreiselt. Die da capo-Arie bzw. die mehrteilige Arie mit wiederholtem Α-Teil erscheint als eine strukturelle wie inhaltliche Klammer: Größere gesangliche und/oder rezitativische Partien werden so (szenisch) zu einem Komplex zusammengefaßt, der die Möglichkeit bietet, außerhalb der Handlung liegende Bereiche darzustellen, wie die Exposition oder das Psychogramm des Doktors. Goethe greift dabei insofern auf die Seriakonzeption der Arie zurück, als sie den Handlungsfluß zunächst unterbricht. Weit entfernt von der Konzeption einer Affektarie erweisen sich die Arien jedoch mit ihren szenischen, rezitativischen oder Parlando-Teilen als Darstellun1)1
Ebenda, S. 372. Ebenda, S. 374-375. 133 Ebenda, S. 377-378. • ' « F A I , Bd. z, S.238. "3! F A I , Bd. 5, S. 379-380. 132
172
gen von (teilweise episch vermittelten) Binnenhandlungen, die somit zugleich statisch innerhalb der Handlung stehen, über die Tradition der Arie jedoch dramaturgisch in den Handlungsverlauf integriert werden. Auffällig ist auch die inhaltliche Verschiebung: Während Goethe bislang als Inhalt der Arie prinzipiell (im Einklang mit der Seria) die Affekte definiert hatte, ist die Befindlichkeit der Person nun nur noch die Einleitung, fungiert als Motivation und Integrationsrahmen für die Arie, die sich dann für andere Gegenstände öffnet: Entweder für szenische, handlungstragende Gesänge, oder für Selbstdarstellungen, Ergänzungen und Erläuterungen. Holtbernd verweist zurecht darauf, daß Goethe hier auf die Arienkonzeption der Seria zurückgreift, allerdings ist dies durchaus nicht als ein Rückschritt gegenüber >Jery und Bätely< zu werten.'36 Zum einen stand, wie dargestellt, Goethes Ariendefinition immer der Seria nahe, zum anderen entwickelt er sie hier gerade in besonders progressiver Weise zu einem Integrationsmodell für die Handlungsebene transzendierende Bereiche und als Modell für szenisches Gestalten. Das Spiel im Spiel beginnt mit dem »Ritornell«' 37 mit dem der Doktor und Scrapin die vermeintliche Fremde hereinbitten und Scrapine sich mit einem kleinen Arioso'38 als schüchternes Mädchen vorstellt. Auch hier zeigt Scrapine nicht ihr wahres Inneres, wie Goethe es noch von den n a türlichen und reinen< Arien für >Jery und Bätely< gefordert hatte, sondern sie stellt sich als etwas dar. Durchaus nicht schüchtern umgarnt sie darauf den Doktor mit einer szenischen, etwas rudimentären da capo-Arie, die ihre Kunstfertigkeit gegenüber der vorangegangenen schlichteren einsätzigen Form sinnfällig werden läßt. Eine von Scrapines Bravourarien ist >Gern in stillen MelancholienKahn< anredet. Charakteristisch für die Rezitative der Buffa ist neben zwei- bis vierhebigen Versen vor allem der fünfhebige Vers mit oder ohne Auftakt und oft mit einer angedeuteten Zäsur,144 bevorzugt nach der dritten Hebung. Auch Calzabigi verwendet dieses Metrum, dem Goethes Libretto ebenfalls folgt, in langzeiligen Partien. Auch die Rezitativ-Verse der opera seria waren von stark wechselnder Zeilenlänge (sechs bis vier Hebungen) in 140 141 142 143
144
Ebenda, S. 387-390. Ebenda, S. 390. Ebenda, S. 393. Bei Calzabigi und Gluck darf man Anklänge an die tragédie lyrique natürlich nicht als Persiflage mißverstehen. Auch Goethes Persiflagen sind keine Abwertung des Ritters, sondern der intertextuelle Bezug auf einen tradierten Topos. Ähnliches gilt für die meisten Seriapersiflagen der Buffa, deren Komponisten zumeist in Personalunion für beide Gattungen arbeiteten und daher durch die Parodie nicht grundsätzlich die Gattung in Frage stellen - sprechendes Beispiel hierfür ist Glucks eigene Persiflage des OrpheusStoffes. Vgl. Osthoff (1973), S . 7 1 2 - 7 1 3 . I74
mehr oder weniger regelmäßigem Wechsel. Dies gilt besonders für die venezianische Seria, die der Buffa näher stand als Metastasios und Zenos Reformoper. Der Rezitativtext vermeidet damit jene Gleichform, die für die Arie unabdingbar ist. 145 Nach Alcalde 146 handelt es sich beim Rezitativ daher um eine Sprachimitation, die sich von der Gesangsimitation in den Arien grundlegend unterscheidet. Es gilt jedoch zu bedenken, daß gerade die stark wechselnde Deklamation den Übergang zum Gesang geradezu herausfordert, indem sie eine starke Sprachmelodie vorgibt. Das italienische Rezitativ verwendet mit Acht- und Elfsilbern, bevorzugt dem >EndecasillaboAlceste< als Quelle der »überwiegend jambischen Verse mit gelegentlicher Reimbindung«. 1 4 7 Tatsächlich haben Goethes Rezitative hier denkbar wenig mit Wielands Blankversen gemein: Goethe hat seine Quelle ausdrücklich benannt und die Untersuchung erhellt seine Vorgehensweise: Er ortientierte sich an Calzabigis Verfahrensweise, die sich zudem darin weitgehend mit der Praxis der opera buffa deckt. Beide Quellen verwenden im Unterschied zu Wieland eine lockere Reimbindung, wie Goethe sie auch im Brief an Kayser beschreibt (»Ich habe im Rezitativ weder den Reim gesucht, noch gemieden«).' 48 Die Variabilität der Hebungen versucht Goethe durch gelegentliche Metrumswechsel und die von ihm gegenüber Kayser beschriebene Akzentsetzung gegen das Metrum zu simulieren. 149 Die Verse und die regelmäßige Reimbindung der tragédie lyrique haben in der Unterweltszene ihre Spuren hinterlassen, fungieren jedoch als Persiflagesignal, ohne die Gesamtstruktur des Librettos so nachhaltig zu beeinflussen wie Waldura impliziert. 1 ' 0 Als Anregung kommt zwar auch die Vermittlung Glucks in Frage, 1 s" naheliegender ist jedoch, daß Goethe sich an der Buffa-Tradition der (französischen) Seriapersiflage orientiert. Die tragédie lyrique kannte er zudem genau genug, um die Verfahrensweise auch selbst zu entwickeln.
I4i
Vgl. Goethes Hinweis an Kayser vom 23. i. 1786: »daß die Italiäner niemals vom eingeleiteten fliesenden Rhythmus abweichen«. W A IV, Bd. 7, S. 165. •I6 Alcalde (1989), S.40. 147 Goethe H B , Bd. 2, S. 183. '••8 Brief vom 2 3 . 1 . 1786. W A IV, Bd. 7, S. 165. •«» Ebenda. '5° Vgl. Goethe H B , Bd. 2, S. 183. Wie Waldura feststellt. Vgl. ebenda, S. 184. r
75
Scrapines zweiteilige Arie >Hinüber, hinüberl· 1 ' 2 steht mit ihren beiden aufeinander bezogenen Strophen ohne Binnenreim einzigartig innerhalb des Stücks. Der fehlende Binnenreim und der starke Bezug der Strophen aufeinander betonen das Regelmaß und die Zweiteiligkeit des Gesangs. Obgleich kein da capo, ist dies eine regelmäßige, klassizistische SeriaArie, wie Calzabigi/Gluck sie für ihre Reformoper an Stelle des italienischen da capo entwickelt hatten. Das entsprechende Reimschema (das auch bei Calzabigi eher die Ausnahme ist) weist der Chor zu Beginn des zweiten Akt in >Orfeo< auf, wenn er Orpheus Eintritt in die Unterwelt und seine Begegnung mit Cerberus beschreibt und kommentiert (!). Des Doktors dreiteiliger Gesang 1 ' 3 folgt dagegen keinem bestimmten Vorbild. Auf den in regelmäßigen dreihebigen Trochäen gestalteten Anfangsteil folgt ein langzeiliger Mittelteil, der sich mit seinem jambischen (Parlando-) Metrum und der wechselnden Verslänge an die Rezitative anlehnt. Der szenische Gesang schließt mit dem markant in Kurzversen gestalteten Gebell des Cerberus alias Doktor. Scrapines Rachegesang ist zweiteilig, im i. Teil dreihebig-jambisch mit trochäischem Einschub, und im 2. Teil zweihebig-daktylisch mit Auftakt. Während der erste Teil sich noch verschmitzter Buffa-Sprache bedient (»Ich schlepp ihn bei den Haaren/Ich zerr ihn bei der Krause«) 154 gerät der Schlußteil zur ekstatischen Rachearie. Der Doktor und Scrapin übernehmen das Metrum und verhindern damit einen Bruch der Handlung, wie er in >Jery und Bätely< nach Jerys da dapo-Arie entsteht. Die restlichen Gesänge sind allesamt Ensembles und Duette zwischen Doktor und Scrapin, die die Beseitigung der Leiche und dafür zu leistende Bezahlung verhandeln. Der vierte Akt spielt im Keller. Scrapines elegische da capo-Arie 1 " wird durch Scrapins Tritte unterbrochen. Der Einschub erscheint in anderem Metrum (jambisch gegenüber trochäisch), rezitativnäher und gibt Scrapines leiser Furcht Ausdruck. Die Wiederholung des elegischen Α-Teils erscheint daher wie ein Versuch der jungen Frau, sich selbst zu beruhigen eine bereits vertraute Verfahrensweise von Goethes Heroinen. Scrapin greift ihren Mittelteil auf, als er sich zu erkennen gibt und ihre Furcht zerstreut, in der ebenfalls in den Singspielen entwickelten >persuasio mittels Adaptions Mit der gemeinsamen Wiederholung des Α-Teils stellen die
• s ' F A I , Bd. 5 ) S. 394. Ebenda, S. 395-396. 's4 Ebenda, S. 396-397. Ebenda, S.402.
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Eheleute die Harmonie und Zuversicht wieder her. 1 ' 6 Holtbernd verkennt Goethes Bemerkung, u.a. mit dieser Arie sei >dem Gesang ein schickliches Opfer gebracht^ wenn er sie als eine reine Seria-Konzeption interpretiert. Goethes Liste umfaßt so verschiedene Arien, daß damit kaum eine gemeinsame Konzeption gemeint sein kann, sondern ihnen allen ist gemeinsam, daß sie sich als elegische Arien innerhalb der dynamischen Handlung für sanftere Töne des Komponisten anbieten. Mit einem infernalischen Gesang unter Zitat der vielbemühten SturmAllegorie für den Zorn des Sängers157 ruft Scrapine den Doktor herbei, um ihm ihren Anteil der Dukaten abzutrotzen. Dieser erscheint und versucht sie mit einer zweisätzigen Cavatine 1 ' 8 zu beschwichtigen. Mit einem zweiteiligen Lamento bringt sie den Doktor in Bedrängnis, ihr zu helfen. Die beiden Teile ihrer Arie sind durch Rezitativ unterbrochen und zeigen in Kaysers Vertonung in Moll und darauf in Dur 1 ' 9 das (vermeintliche) Aufblühen neuer Hoffnung. Im Duett mit dem Doktor erpreßt sie darauf die restlichen fünfzig Dukaten. Scrapin schaltet sich in das finale ein und in einem wilden Tanz enthüllen sie dem betrogenen Betrüger ihre List. Die Doppelung der Erpressung, die aus Gründen der Symmetrie zwischen Scrapin und Scrapine nötig war, dehnt das Stück zu einer Länge von vier Akten aus. Bedenkt man, daß das Intermezzo ursprünglich eine reine Zwischenaktunterhaltung in den Aktpausen war, so gerät das Stück schon dadurch zu einem >Monstrumkeinen Platz< mehr für eine wirkungsvolle Vertonung. Die vielen Gesänge, auf nur drei Personen verteilt, machten es schlicht unaufführbar. Zudem boten die drei Personen zu wenig Möglichkeiten für den Komponisten, über eine Strecke von vier Akten das Gehör zu beschäftigen. All diese Mängel hat Goethe spätestens in der Zeit der Italienischen Reise erkannt und bei der Umarbeitung seiner Singspiele berücksichtigt. Dennoch ist seine Vorgehensweise in >Scherz, List und Rache< ausgesprochen progressiv. Die Ariendisposition verbindet verschiedene Arienkonzepte, und anders als in der zeitgenössischen Semiseria stehen die ver'>6 Ebenda, S.403. 157 Eines von Metastasios zentralen Bildern. 158 F A I, Bd. 5, S.404. Vgl. Holtbernd (1992), S. 168.
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schiedenen Arientypen sich nicht unverbunden gegenüber, sondern werden szenische- und Aktionsarien aus dem Prinzip der statisch im Text stehenden Affektarie entwickelt. Indem Goethe auf der Grundlage des Intermezzos auch ernste Töne zuläßt, vollzieht er eine für die Semiseria typische Mischung. Allerdings arbeitet er nicht mit der zeitgenössisch üblichen Kombination ernster und komischer dramatis personae, sondern er läßt die komischen dramatis personae auch ernste Empfindungen haben, bzw. motiviert die komische Gestalt des Doktors psychologisch, eine Vorgehensweise, die sich fast zwangsläufig aus seinen vorangegangenen Werken ergibt. Goethe hatte bei aller Begeisterung für die >kleine Gattung< deren Limitationen bezüglich der Logik, Stringenz und vor allem der Integrität der dramatis personae erkannt: Er verlagert daher die maskenhafte Verschrobenheit auf die Gestalt des Doktors, der damit gänzlich verworfen erscheint und auf dessen Kosten Scrapin und Scrapine als ernstzunehmende Charaktere >gerettet< werden. Mit der psychologischen Motivierung sprengt er jedoch bereits die engen Gattungsgrenzen des intermezzo per musica und vollzieht den Schritt zur opera buffa. Mit seiner Bemühung um die Integration ernster Elemente in die komische Gattung befindet Goethe sich auf der Höhe der Zeit. Seine Vorgehensweise, beide Elemente in einem Charakter zu verbinden, steht dem dramma giocoso gegenüber, dessen Interesse zunächst vor allem auf die Handlung gerichtet war. Castis >Re Teodoros eines der wichtigsten Bezugslibretti Goethes zu dieser Zeit und später, zeigt mit seiner tragikomischen Titelfigur Goethes Weg vor. Goethes Intention war, ein Intermezzo von literarischem Niveau zu schreiben und obgleich er die Gattungen gut genug kannte, um ihre zentralen Charakteristika ausmachen zu können, übersah er, daß die abrißhafte Handlungsführung und Charakterzeichnung, der >lose FadenFigaro< die Handlung von einer »Ermöglichungsstruktur komischer Handlungen«161 im Intermezzo, in der Buffa selbst komisch wird, also zur komischen Fabel. Dabei mischen sich in Goethes Intermezzo Ernst und Scherz in ähnlich prekärer Weise wie in Pergolesis >Serva padronac Die Streiche sind von existenziellem Ernst. Betrug, Raub und Erpressung zeigen sich im scheinbar leichten ,δ
° Horst Weber: Der Serva-padrona Topos in der Oper. Komik als Spiel mit musikalischen und sozialen Formen. A f M w X L V (1988), Heft 2. ,6 ' Ebenda, S.90.
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Gewand und setzen damit einmal mehr die spezifisch Goethesche Technik ein, ernste Themen und Sachverhalte in die vorgeblich >heiteren< bzw. >komischen< Verfahrensweisen des Musiktheaters zu kleiden. Analog zu seiner früheren Singspieltechnik verfährt Goethe ähnlich wie Mozart mit dem dramma giocoso, indem er Konzepte verschiedener Gattungen mischt: Goethe erweitert in >Scherz, List und Rache< das Intermezzo in seinen musikdramatischen Mitteln analog zu opera buffa und dramma giocoso, ohne daß jedoch das Personal dieser Erweiterung Rechnung trägt. Erst in Italien wurde ihm diese Diskrepanz völlig klar. Letztlich erweist sich >Scherz, List und Rache< als ein Anachronismus: Goethe greift auf eine bereits historische Gattung zurück, die er mit den neuesten Verfahrensweisen aufzuwerten versucht. Entsprechend empfiehlt er Kayser, sich u.a. an den neuesten opere buffe zu orientieren, ohne daß der Text ausreichend Anknüpfungspunkte für den musikalischen Reichtum der Buffa (exotische Schauplätze, Chöre, Ensembles zu vier und mehr Stimmen) geboten hätte. Auch fehlt im Intermezzo die Liebeshandlung, die für die Buffa (für die Oper allgemein) den zentralen roten Faden bildet. Wolfgang Osthoff' 62 hat als den grundlegenden Unterschied zwischen Seria und Buffa deren völlig verschiedene Ursprünge dargestellt: während die Seria, das >dramma per musicaScherz, List und Rache< ist eine, bei der dem Betrachter die Freude über das lieto fine nicht lange vorhält und das Lachen im Hals stekken bleibt. Letztlich war es Goethe weder möglich >leicht< und komisch zu schreiben, noch besaß er die schneidende und konkrete Gesellschaftskritik eines Beaumarchais. Goethes spätere Abwendung von der komischen Gattung und seine Orientierung an den großen und, unter Berücksichtigung des lieto fine, ernsten Opernformen ist daher sicher mitbegründet von diesem grundsätzlichen Paradigma, das ihm mit dem Scheitern seiner >komischen< Opern langsam bewußt wurde. An Kaysers autorisierter Vertonung von >Scherz, List und Rache< hat Holtbernd die Kontinuität zwischen den musikdramaturgischen Verfahrensweisen und ihrer Komposition unter der Fragestellung aufgezeigt: »ob Goethes musikdramaturgische Vorstellungen sich auch kompositorisch wirkungsvoll umsetzen ließen«. 104 Dabei erweist sich das determinierende Potential des Librettos auch darin, daß die problematischen Aspekte dieser Verbindung verschiedener musikdramatischer Konzeptionen sich in der Vertonung multiplizieren: 165 Bis auf eine Arie,' 6 6 die im Text nicht vorgegeben war, hält Kayser sich bei der Vertonung an Goethes Verteilung der Gesänge und entsprechend spiegelt auch die Vertonung die Kombination verschiedener Arienkonzepte wieder. Damit mußte auch das im Libretto bereits festgestellte Ubergewicht der Gesänge für die kleine Gattung des Intermezzos in der Vertonung noch verstärkt werden, ein Problem, dem Kayser nur durch rücksichtslose Kürzungen hätte entgehen können, die jedoch die Gesamtkonzeption der fein aufeinander abgestimmten und dramaturgisch funktionalisierten Gesänge zerstört hätte. Insgesamt überwiegt auch in der Vertonung die Konzeption der opera buffa, zugleich verhindert Goethes stringente Semantik jedoch eine >leich-
166
Holtbernd (1992), S. 154. »Kayser konnte gleichsam nicht anders als >pedantisch-philiströs< und >etwas breit< komponieren.« Ebenda, S. 176. Im Bestreben um eine ausgewogenere Verteilung der Gesänge fügte Kayser von V. 450454 eine Aria parlante ein. Vgl. ebenda, S. 167-168.
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te< Vertonung: Die charakteristische Buffa-Technik, abgebrochene Satzteile verschiedener dramatis personae musikalisch zu verknüpfen und zum dynamischen Ensemble zu verdichten, unterblieb, da der Komponist die ausgeschriebenen Dialoge auch musikalisch zu Ende führen mußte.' 67 »Eine musikalisch geprägte Struktur der Mehrstimmigkeit der singenden dramatis personae [wie Osthoff sie als konstitutives Merkmal des musikalischen Dramas definiert hat]' 68 kann sich mithin aus diesen Dialogen kaum entwickeln.« ,69 Besonders markant spiegeln sich gerade Goethes spezifische Modifikationen der musikdramatischen Verfahrensweisen in der Vertonung: Kayser setzt sogar Goethes sinnstiftenden Einsatz der da capo-Arienform um, indem er auch in der Vertonung die Wiederholung des mit A identischen Teils A' nicht durch die Anweisung >da capo< markiert, sondern in voller Notenschrift ausschreibt, wobei er Motive des A und B-Teils kombiniert. 170 Damit ist die da capo-Arie endgültig von einem Demonstrationsmedium gesanglicher Virtuosität zu einer im Gefüge des musikalischen Dramas vollständig definierten und entsprechend Goethes dramaturgischem Einsatz >sprechenden< Form festgeschrieben. So wird in Scrapines Auftrittsgesang >Will niemand kaufen< die auf der formalen Ebene (strophiges >Lied< in da capo-Form) gespiegelte Maskerade in die Vertonung umgesetzt, indem Kayser die als Lied der (>zufällig< vorbeikommenden) Scrapine verschleierte da capo-Arie als entsprechende Mischform vertont. Der als verabredetes Zeichen an ihren Ehemann codierte Α-Teil erscheint mit einer einfachen liedhaften Melodie. Die ungeduldige Reaktion in der zweiten Strophe, mit der das vorgebliche >Lied< tatsächlich nicht nur deutlichen Bezug auf die Handlung nimmt, sondern deren Intrige bereits ankündigt, erscheint dagegen als ein rascher >B-TeilEntführung< dem dramma giocoso wesentlich näher steht als dem deutschen Singspiel. Letztlich hatte er mit seiner Mischung verschiedener musikdramatischer Konzeptionen ja auch einen ähnlichen Weg beschritten. Die Erkenntnis, daß die Zukunft der Oper (wieder) in ihren großen, üppigen Formen liegt, setzte sich bei Goethe während der Italienischen Reise durch, fand ihren ersten Niederschlag jedoch bereits zuvor in der Konzeption der >Ungleichen HausgenossenUngleichen Hausgenossen< bereits während der Komposition von >Scherz, List und Rache< und den daran anschließenden Überlegungen zur Gattung und ihren Wirkungsmöglichkeiten. In einem Brief an Frau von Stein vom 6. November 178 5 schreibt Goethe, er »habe [...] eine alte Operette wieder vorgenommen und reicher ausgeführt«,' was impliziert, daß der Plan der Oper schon weiter zurücklag. In der Tat mischt das Sujet Elemente der frühen Singspiele wie sie in Claudine von Villa BellaErwin und Elmire< und vor allem in >Lila< ausgeführt sind. Inhaltliche Parallelen zu Geschehnissen am Weimarer Hof, auf den auch dieses Singspiel in mehr oder weniger verhüllter Form anspielt, verweisen auf das Datum 1782, sowie auf die 1781 erschienene Komödie >Das offene Geheimnis< von Gotter nach Gozzi als früheste Daten.2 Obgleich derartige Parallelen eine sehr unsichere Datierungsmethode darstellen, wie die mannigfaltigen Deutungsversuche von >Lila< zeigen,3 darf man sich hier wohl anschließen, vor allem deshalb, weil die Stoffwahl das Stück in die Nähe der Singspiele rückt und damit zumindest der Plan vor dem Eintreffen der Bellomoschen Truppe in Weimar 1784 entstanden sein muß. Anlaß für die Wiederaufnahme der Arbeit war nach FA 4 das Erscheinen der deutschen Ubersetzung von Beaumarchais' Erfolgsstück >Le mariage de Figaro ou la folle journeéSuzanneFigaro< bezöge, sondern auf Beaumarchais' Komödie. Die Bezüge zu beiden Werken sind jedoch nicht wirklich grundlegend. Auf >Figaro< verweist lediglich das genannte Schema, das vermutlich eher ' F A I , Bd. 5, S. 1 1 8 7 . Ebenda, S. 1 1 9 1 .
2
5 Vgl. B A , Bd.4, S.679. Vgl. Frantzke (1998), S. 1 1 8 - 1 3 3 . F A I, Bd. 5, S . 1 1 9 1 .
4
185
zu den späteren Paralipomena gehört. Der Grundkonflikt von Beaumarchais' Komödie wie von der Da Ponte/Mozartschen Adaption, nämlich das Abhängigkeitsverhältnis des Liebespaares vom Grafen, fehlt bei Goethe. Auch befindet Rosette sich nicht wirklich in der Position der bedrängten jungen Frau, da sie den beiden Buffo-Gestalten Pumper und Poet ständisch eher über- als untergeordnet erscheint und an Witz in jedem Falle haushoch überlegen ist. Den beiden harmlosen Tölpeln gelingt es nicht einmal, Valerio ernsthaft eifersüchtig zu machen. Gegenüber Beaumarchais' politischer Skandalkomödie ist Goethes Text vielmehr ein Lehrstück in Sachen menschlicher Konfliktlösung, das durchaus als originär Goethesche Schöpfung zu werten ist. Die wohl bedeutsamste Quelle haben alle Kommentare bislang übersehen: Wie bereits geschildert, betrachtete Goethe zwischen 1784 und 1786 Sartis dramma giocoso >Fra i due litiganti il terzo gode< neben Casti/Paisiellos >Re Teodoro in Venezia< als eines der maßgeblichen Exempelstücke für die Neuorientierng seines Musiktheaters. Tatsächlich beinhaltet das Libretto im Unterschied zu den sonst angeführten Vorbildern eine Reihe der zentralen Momente: Wie in Goethes Oper bildet der Ehezwist zwischen Graf und Gräfin den Hintergrund der Handlung, der von den Günstlingen der jeweiligen Parteien, Titta, dem Lakai des Grafen und Mingone, dem von der Gräfin begünstigten Gärtner, daran entschieden werden soll, wer Dorina, die Zofe der Gräfin, zur Frau bekommt. Das Motiv vom Recht der ersten Nacht fehlt hier ebenso wie in Goethes Fragment. Wie bei Goethe Rosette, arrangiert hier der Verwalter Masotto (man beachte die Ähnlichkeit der Namen!) die Konflikte, in deren Verlauf das gräfliche Paar versöhnt wird und er als lachender Dritter am Ende Dorina zur Frau gewinnt, die damit, nebenbei, eine wesentlich bessere Partie macht und die wie in Goethes Entwurf die Entscheidung über ihren künftigen Gatten selbst fällen darf. Am 22.12. 1785 erwähnte Goethe die neue Oper erstmals gegenüber Kayser im Sinne einer Umsetzung der an >Scherz, List und Rache< gemachten Erfahrungen: Ich habe schon wieder eine neue zu sieben Personen angefangen, also thun Sie bald dazu ehe ich fortfahre. In dieser werde ich auch für die Rührung sorgen, welche die Darstellung der Zärtlichkeit soleicht erregt und wornach das gemeine Publikum so sehr sich sehnt. Es ist auch natürlich ieder Laffe und Läffin sind einmal zärtlich gewesen und an diesen Saiten ist leicht klimpern, um höhere Leidenschafften und Geist, Laune, Geschmack mit zu empfinden muß man ihrer auch fähig seyn, sie auch besitzen. [...] Einigen geschmackvollen Personen habe ich den Plan vorgelegt und ich kann Beyfall hoffen. 5 5
FA II, Bd.2, S.614.
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Gegenüber >Scherz, List und Rache< wird zunächst vor allem die inhaltliche Orientierung auf die Darstellung der Liebesintrige hervorgehoben, was Goethe etwas abfällig mit dem Geschmack des Publikums begründet. Tatsächlich ist das Motiv der Zu- und Abneigung zwischen Paaren der Hauptgegenstand des Stücks, demgegenüber die Liebeshandlung zurücktritt. Durchaus ungewöhnlich ist die >spannungslose< Handlungsführung, bei der im Unterschied zu den genannten Vorlagen das Liebespaar auf Grund seiner seelischen Übereinstimmung und seiner gesellschaftlich autonomen Position (anders als in Beaumarchais' Komödie stehen Flavio und Rosette nicht in einem Dienst- sondern eher einem Hofverhältnis zu Baronesse und Gräfin) 6 gar nicht in ernste Bedrängnis gelangen kann. Aus dem ersten Akt und den Fragmenten lassen sich Handlungsverlauf und Intention des Fragments weitgehend rekonstruieren. Auf einem deutschen Rittersitz hängt der Haussegen schief, da Baron und Baronesse sich auseinandergelebt haben, und jeder seinen, dem anderen lästigen Leidenschaften anhängt: Die Baronesse ihrer empfindsamen Schwermut, der Baron der Jagd. Keiner ist willens, auf den anderen Rücksicht zu nehmen, wobei vor allem die Jagdmanöver des Hausherrn auf die Vögel im heiligen Hain< der Baronesse geschildert werden. Vertieft wird der Konflikt noch durch die Vertrauten der Herrschaften, die deren Marotten noch verstärken. Der empfindsame Poet Immersüß 7 unterstützt die Baronesse bei ihrer poetischen Weltflucht und der naivgrobe Pumper heizt das Jagdfieber des Baron sowie dessen ohnehin schon beträchtliche Grobheit 8 (!) noch an. Um zwischen den beiden zu schlichten, kommt die Schwester der Baronesse mit ihrem Vertrauten Flavio aus Paris. Dieser, obgleich früher eher ein Leichtfuß, ist in ehrlicher und ernster Liebe zu Rosette entbrannt, weshalb er der Gräfin vorauseilt. Rosette teilt seine Gefühle, die beiden sind sich rasch einig, verbergen ihre Gefühle nur scheinbar, der Etikette folgend, voreinander. Die dritte Paarung bilden Pumper und der Poet, die eine Haßliebe verbindet und die stellvertretend für ihre Herrschaften deren Konflikte austragen. Nach FA besteht die Brisanz des Stückes darin, daß die Eintracht auf dem deutschen Rittersitz von >Franzosen< wiederhergestellt wird. 9 Der dargestellte Unterschied ist jedoch keinesfalls als ein nationaler im en6
Vgl. B A , Bd.4, S.705. In dem B A eine Karikatur Wielands oder Goethes selbst erblickt, F A dagegen auf den Prinzen Oronaro aus dem >Triumph der Empfindsamkeit< verweist. 8 Rosette berichtet von Pumpers Martyrien, die die Späße seines Herrn ihm bescheren und die einem anderen wohl schon das Leben oder zumindest den Verstand gekostet hätten. F A I, Bd. 5, S. 420-421. » Vgl. F A I, Bd. 5, S . 1 1 9 0 . 7
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geren Sinne zu verstehen, sondern als einer der Lebensart: Den beiden >deutschen< Fehlern Grobheit und übersteigerter Empfindsamkeit steht die feine, galante, französische Lebensart gegenüber. Die Gräfin ist als die Schwester der Baronesse ebenso wenig französischer Nationalität wie Flavio, dessen Name unschwer nach Italien weist. Beide haben lediglich in Paris eine entsprechende Sozialisation erfahren. Doch auch Rosette, die als einzige einen französischen Namen führt, hat Teil an den Qualitäten der Fremdlinge, die offenbar also auch in Deutschland erworben werden können. Die drei spinnen eine Intrige, um das Ehepaar zu versöhnen und Poet und Pumper (die es beide auf Rosette abgesehen haben) von ihren extremen Verhaltensweisen zu heilen. F A sieht im nicht ausgeführten zweiten Teil den zentralen Topos des Parisurteils: Poet und Pumper sollen zwischen den Frauen wählen um den Baron eifersüchtig zu machen. Dies könnte jedoch höchstens dem Poeten gelingen, nicht aber Pumper, wie im Kommentar von F A angenommen wird, 10 da letzterer in seiner Naivität sogleich Rosette wählen würde. Die Thematik von rechter und falscher Wahl, Wahrheit und Lüge sowie Höflichkeit, Trug und Selbstbetrug wird im Text variiert. Hinzu kommt noch der Topos der Instrumentalisierung (Mißbrauchs) durch andere sowie Heilung durch Betrug (Pumper von seinem Glauben der hohen Geburt). So >belanglos< wie F A leichtfertig behauptet 11 ist das Stück nicht, wie sich bereits aus der Rekonstruktion des Inhalts ergibt. Ein zweiter Arbeitsabschnitt läßt sich bis zum Beginn der Italienischen Reise aus Goethes Briefen ersehen, ohne daß dieser Anteil als eine explizite Fassung nachweisbar wäre. 12 Die Arbeit wurde jedoch bald durch den Aufbruch nach Italien unterbrochen. Ob Goethe im Zuge der Umarbeitungen von >Claudine< und >Erwin und Elmire< auch an den >Ungleichen Hausgenossen< weitergearbeitet hat, muß Spekulation bleiben. Vermerke sind jedenfalls nicht überliefert und auch der Reisebericht schweigt sich dazu aus. Es erscheint jedoch wahrscheinlich, daß angesichts von zwei überarbeiteten alten Konzeptionen die Neukonzeption des >Groß-Cophta< deutlich im Vordergrund des Interesses gestanden haben dürfte. Der Erstdruck des Fragments erfolgte 1789 und gibt erstmals einen datierbaren Textstatus wieder. Das Werk sollte ursprünglich für die Ausgabe der >Schriften< fertiggestellt werden, wurde dann jedoch offenbar in einem plötzlichen Entschluß als >Fragment< veröffentlicht. Dies ermöglicht, die 10
Ebenda, S.1189. " Ebenda, S. 1187. 12 Vgl. BA, Bd. 4, S.707. 188
vielzitierte Resignation Goethes gegenüber der Opernform zeitlich relativ genau einzugrenzen: Sie beginnt etwa um das Jahr 1789 und sie wird spätestens um 1795 mit der Fortsetzung der Schikaneder/Mozartschen >Zauberflöte< wieder aufgelöst. Die ebenfalls auf das Jahr 1789 datierte Eintragung in den >Tag- und Jahresheften< vermag kaum Licht auf die wahren Beweggründe für die Aufgabe des Plans zu werfen: Diese reine Opernform, welche vielleicht die günstigste aller dramatischen bleibt, war mir so eigen und geläufig geworden, daß ich manchen Gegenstand darin behandelte. Ein Singspiel: die ungleichen Hausgenossen, war schon ziemlich weit gediehen. Sieben handelnde Personen, die aus Familienverhältnis, Wahl, Zufall, Gewohnheit auf Einem Schloß zusammen verweilten, oder von Zeit zu Zeit sich daselbst versammelten, waren deshalb dem Ganzen vortheilhaft, weil sie die verschiedensten Charaktere bildeten, in Wollen und Können, Thun und Lassen völlig einander entgegen standen, entgegen wirkten und doch einander nicht los werden konnten. Arien, Lieder, mehrstimmige Parthien daraus vertheilte ich nachher in meine lyrischen Sammlungen und machte dadurch jede Wiederaufnahme der Arbeit ganz unmöglich.' 3
Ein Grund wird nicht benannt, wohl aber die auch für das >Zauberflötenfragment< verwendete Verfahrensweise, die besten Stücke an anderer Stelle wiederzuverwerten. Möglicherweise schwingt in der Schlußbemerkung sogar etwas Bedauern mit, da das in Teilen nahezu ausgearbeitete Stück tatsächlich eine außerordentliche Dichte und librettistische Qualität aufweist. i . i . Dramatische Struktur Der erste Akt gliedert sich in ungereimten Text und gereimte, eingezogen gedruckte Gesänge. Der ungereimte Text in jambischem Metrum mit zwei bis fünf Hebungen hat bis auf die fehlende Reimbindung die gleiche Form wie die Rezitative in >Scherz, List und RacheScherz, List und Rache< aufweist. Flavio nimmt Rosettes Gesang auf " F A I , Bd. 17, S.17. 189
und variiert ihn, wobei die c-Reime identisch sind. Obgleich inhaltlich eine Arie, wird der Gesang durch seine teilweise Wiederholung dem (reproduzierbaren) Lied angenähert, erscheint wie die >zweite Strophe< zu Rosettes Gesang. Allerdings ist es keine erlernte Reprise, denn Flavio hat Rosette zwar gesehen, ihre Worte jedoch nicht vernommen. Die liedhafte Arie bildet vielmehr das gemeinsame Gedächtnis der Liebenden, vor dessen Folie sich deren Zusammengehörigkeit manifestiert und in deren gemeinsamer Wortwahl die Gleichstimmung beider Persönlichkeiten sinnfällig wird. Daß diese >Gleichstimmung< durchaus auch im akustischen Sinne zu verstehen ist und zudem als Schlüsselbegriff für das Libretto erscheint, zeigt Rossettes Kommentar über Graf und Gräfin: »Sie sind nicht gleich gestimmt,/Sie finden nichts was sie vereinigt« 14 womit sie auch bereits den Grund für die schwierige Situation im Schloß angibt. In Umkehrung des aus >Jery und Bätely< bekannten Prinzips, im Duett Uneinigkeit zu demonstrieren, wird hier gerade in getrennten Gesängen die Zugehörigkeit zweier Personen zueinander gezeigt. Es handelt sich gewissermaßen um ein >Duett über eine zeitliche Distanza Flavios emphatisches Rezitativ ist knapp von gleicher Länge wie Rosettes, auch hier zeigt sich die Ebenbürtigkeit der beiden Liebenden, und daß eher Rosette die Handlung arrangieren wird, als ihr liebenswerter Freund. Als sie sich gegenübertreten sind nur vier Verse nötig, ehe sie zum Duett übergehen: In den ersten beiden Strophen des Gesangs werden noch Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht, Strophe drei und vier offenbaren die emotionale Situation der Liebenden und in Strophe fünf und sechs folgt schon die Liebeserklärung, die zwar noch von jedem abseits artikuliert und so zumindest formal vor dem anderen verborgen wird, für den Zuschauer jedoch das Ende des Stückes in einer epischen Vorausdeutung bereits vorwegnimmt. Damit wird zugleich klargestellt, daß die Liebeshandlung nicht der zentrale Gegenstand des Stückes ist, da angesichts dieser idealen Ubereinstimmung keine echten Konflikte auftreten können. Anders als die Frauen in >Jery und Bätelys >Erwin und Elmire< und vor allem der >Fischerin< gibt es für Rosette keinen Grund, sich gegen den Liebhaber zu wehren: Sie steht offenbar in gehobener gesellschaftlicher Position, genießt das Privileg, über ihre Partnerwahl selbst entscheiden zu können, und erscheint Flavio mindestens ebenbürtig. Entsprechend sind ihre Abwehrreaktionen, wenn Flavio ihr hinter denselben Busch folgen will, die schalkhaften und gelassenen Verweise einer selbstbewußten Buffa-Heroi-
14
FA I, Bd. 5, S.418.
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ne. Weiß sie doch, daß von dem Geliebten, der in so tiefer Übereinstimmung mit ihr steht, keine Gefahr für sie ausgehen kann. Auf Rosettes Schilderung des Konflikts und seiner Kontrahenten im Rezitativ folgen Pumper und Poet jeweils mit einem Gesang, der wiederum genau Rosettes und Flavios Gesangsform inklusive der wiederkehrenden Reime aufnimmt und variiert, also auf dasselbe integrative Grundmuster zurückgreift. Die beiden Gestalten erscheinen dadurch nicht als vollständig verwerflich oder lachhaft, es sind nur die Abweichungen von der richtigen, man könnte auch sagen: harmonischen oder ausgewogenen Stimmung, die sie komisch erscheinen lassen und die Konflikte heraufbeschwört. Denn Rosette sagt von beiden, daß sie im Grunde herzensgute Menschen, sogar mit einiger Sympathie füreinander seien 1 ' und beides tüchtige Vertreter ihrer Zunft.' 6 Goethe verzichtet damit im Unterschied zu >Scherz, List und Rache< auf echte parte buffe. Poet und Jäger sind von ihrer Anlage her wie alle anderen dramatis personae parte semiserie, die nur durch ihre Mißstimmung verhindert und vorübergehend zu parte buffe verschoben werden. Entsprechend gibt sich der von der Herrin begünstigte Hofpoet dem berufsmäßigen Weltschmerz hin, dessen Unangemessenheit sich in der Schlußzeile: »Verhehle dein Glück« offenbart. Wie der überfeinerte Jammer des Poeten drückt sich die Plumpheit Pumpers in seiner Variation des Grundgesangs aus, der das Lebensglück auf die Anzahl erlegten Wildbrets reduziert. Auch das ungleiche Paar verwendet dieselben c-Reime, jedoch mit dem Effekt, daß in der Ähnlichkeit die Differenz komisch zum Ausdruck kommt. Als Pumper auf den Poeten trifft und ihm die toten Drosseln unter die Nase hält, entfaltet sich sofort ein Streitgesang, dessen Wortwahl und Reimschema beide als ein eingespieltes Team ausweist. Pumper:
Poet:
Pumper:
Teilen Sie doch mein Vergnügen, O der zarte H e r r von Butter, Alle Vögel kann er fliegen, Keinen Vogel hangen sehn. Welch ein grausames Vergnügen! Mit dem schönen eignen Futter Diese Tierchen zu betrügen, Gräßlicher kann nichts geschehn. E u c h erwartet mehr Vergnügen, Wenn sie mit der braunen Butter Zierlich in der Schüssel liegen, Werdet Ihr sie lieber sehn.
15 16
Ebenda. Ebenda, S.419 und 421.
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Auch hier resultiert die Komik aus der Wiederholung und Variation einzelner Verse, die den Streit als das von Rosette bereits erwähnte Ritual ausweisen. Sie schaltet sich auch gleich ein: Rosette:
Pfui, Ihr Herren, welch Vergnügen! I m m e r f o r t die alten T ü c k e n , Stets sich in den H a a r e n liegen, Wie zwei H ä h n e dazustehn.
Mit dem Streit und Rosettes Versuch, ihn zu schlichten oder zumindest zu unterbinden, erreicht das finale einen ersten Höhepunkt im Trio mit zweiversigem Wechsel. Als Flavio auftritt, der erklärte Rivale der beiden Streiter, legen sie ihren Zwist blitzartig bei und konzentrieren sich ganz auf die neue Situation. Flavio zitiert den vierversigen Gesang vom Anfang des Streitgesprächs: Flavio:
Wenn nicht O h r u n d A u g e trügen, Soll mich dieser Wald beglücken.
Herbeitretend: Welch ein köstliches Vergnügen Allerseits Sie hier zu s e h n ! ' 7
Mit dem Reimpaar auf >Vergnügen< nimmt er chiastisch die Verse des Poeten auf und führt das Motiv des Trugs ein, aus dem der folgende Teil sich konstituiert. Der ehrlichen und nur halb verborgenen Freude Rosettes steht der verheimlichte Ärger des Poeten entgegen, der sich jedoch freundlich stellt und der unverhohlene Groll Pumpers, den dieser mit der Begründung »Nein, ein Deutscher soll nicht lügen;« dem Gast ungeschminkt entgegenbrummt. Die Äußerungen der einzelnen dramatis personae sind durch Wiederholungen der Reimworte und des Reimschemas (Flavio und Rosette bilden ein Paar, ebenso Poet und Pumper) ineinander verschränkt und steigern sich zu zweiversigem Wechselgesang, der seine Komik und Dramatik aus der Variation gewinnt von echter Freude (Flavio), echter Freude und dem Versuch sie der Konvention gemäß zu verbergen (Rosette), geheuchelter Freude und dahinter verborgener Abneigung (Poet, der damit einen Chiasmus zu Rosette bildet) und Pumpers gradliniger Abneigung, die Flavios Offenheit kontrastiert. Die Dramatik wird durch die Regieanweisungen leise, laut und beiseite18 noch verstärkt und der Gesang erhält das für die Buffa typische räumliche bzw. pantomimische Element in Verbindung mit dem mehrstimmigen Gesang des vierteiligen Ensembles. Am 17 18
Ebenda, S.424. Ebenda, S.425.
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Ende des Wechselgesangs geht Flavio wieder zum Vierverser über und verweist auf den schönen Garten. Rosette nimmt den Fingerzeig mit der Erwiderung auf, der Garten sei am Abend erst richtig schön.' 9 Weder Poet noch Pumper durchschauen die heimliche Verabredung und überlegen statt dessen ihre Strategie, den Rivalen loszuwerden: während der Poet dabei ganz auf den höheren Wert seiner eigenen Persönlichkeit vertraut, brütet Pumper bereits über >handfesteren< Methoden. Das finale ist virtuos gestaffelt: Es beginnt mit dem Streit von Pumper und Poet, in den Rosette sich einschaltet und mit ihrem Schlichtungsversuch den ersten Höhepunkt herbeiführt. Mit dem eintretenden Flavio ist das Personal des ersten Akts komplett und wird zugleich das Thema gewechselt. Das Doppelfinale verknüpft die Themenbereiche des ersten Akts, die Vorstellung der vier Personen mit ihren Eigenarten und die Ankunft Flavios, wobei letztere wiederum zur Charakterisierung verwendet wird. Zusätzlich wird auf die nachfolgende Handlung übergeleitet. Das finale erhält damit resümierende und verknüpfende Funktion. Der erste Akt zeigt deutlich die Lehren, die Goethe aus >Scherz, List und Rache< gezogen hatte: Der stoffliche Rückgriff auf das Singspielmuster tritt zurück gegenüber der Begrenzung der Gesänge und deren Mehrfachnutzung, durch die sie dramaturgisch aufgeladen werden und dem ersten Akt eine kompakte Struktur geben. Das musikalische Grundprinzip von Wiederholung und Variation, wie Goethe es schon in >Jery und Bätely< zur Personencharakterisierung verwendet hatte, bildet das Prinzip, nach dem dieser Abschnitt funktioniert. Zugleich manifestiert sich darin der Verzicht auf Außenseiterfiguren, wie Thomas in >Jery und Bätely< noch eine bildet, zugunsten eines integrativen Menschenbildes. Die Nähe zu den Italienischen Fassungen der Singspiele ist markant, vor allem durch die konsequent librettistische Struktur und die virtuose Gestaltung der Gesänge. Goethe hat unbestreitbar aus den Fehlern von >Scherz, List und Rache< gelernt und beim Schreiben die Bedürfnisse und Möglichkeiten von Komponist und Sängern im Blickfeld gehabt. Das mehrteilige finale hatte Goethe u.a. in >Scherz, List und Rache< (2. Akt) bereits angewendet, nun jedoch auf zwei Elemente reduziert. Die Technik, am Ende des finales in der konkreten Gegenständlichkeit des Stückes zu verbleiben bzw. auf die weitere Handlung vorauszuweisen, deckt sich eher mit den vorangegangenen Werken Goethes, vor allem Ebenda, S.426. O b Goethe eine Gesangsszene im Dunkeln geplant hatte, wie sie sowohl in den >Litiganti< wie in Beaumarchais/Da Pontes >Figaro< vorkommt, ist aus dem Fragment nicht zweifelsfrei zu entscheiden.
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>Scherz, List und RacheFigaro< am ι. 5. 1786 geschrieben worden sind.20 Die Ähnlichkeit zwischen Goethes Libretto und Mozarts Oper ist damit eine Analogie, die Holtbernds These von der >Affinität< Goethes zu Mozart eine weitere Facette hinzufügt,21 welche jedoch vor allem damit zu erklären ist, daß die bereits als Vorbild genannte, in Wien ab 1783 aufgeführte Oper >Fra i due litiganti il terzo gode< Sartis so beliebt war, daß Mozart sie sogar im finale des >Don Giovanni< zitierte22 und sie damit auch den Entstehungsprozeß des >Figaro< in Libretto und Vertonung begleitete. Lediglich der erste Akt liegt vollendet vor, von Akt zwei und drei existiert nur ein Schema, in dem die auftretenden Personen und ihre Gesänge gelistet sind. Von Akt vier und fünf sind wiederum einige Gesangspartien ausgestaltet. Es fällt sowohl bei den Schemata als auch bei den vollendeten Passagen auf, daß Rezitativ bzw. Prosatext vollständig fehlen. Goethe ging bei der Gestaltung der Oper offenbar inzwischen primär von den Gesängen aus. Damit hatte er sich vom Prinzip des Norddeutschen Singspiels vollständig abgekehrt, das ein Schauspiel mit >eingestreuten< Gesängen war. Die Versgestaltung der Gesänge basiert auf der Romanze (bzw. Madrigalversen) und dem zweihebigen Daktylus. Daher ist nicht einsichtig, weshalb Waldura konstatiert: »Was die Versgestaltung anbelangt, behält Goethe in den >Ungleichen Hausgenossen< die in >Scherz, List und Rache< io
Vgl. Goethe HB, Bd. 2, S. 184. " Vgl. Holtbernd (1992), S.6-7. " Vgl. Silke Leopold in: Piper, Bd. 5, S. 560.
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gefundene Lösung - die Synthese aus Wielandschen und französischen Elementen - bei.« 23 Die Alexandriner der französischen tragédie lyrique, deren spezifische Funktion als Opernparodie für >Scherz, List und Rache< bereits nachgewiesen wurde, sucht man in den >Ungleichen Hausgenoss e n vergeblich. Die daktylischen Gesangsverse sind zudem inzwischen soweit zum festen Repertoire Goethescher Libretti geworden, daß man an dieser Stelle kaum noch von Wielandschen Einflüssen sprechen kann. Die beiden zentralen Versformen werden bei den Konzerten der beiden Höflinge für die Gräfin gegeneinander kontrastiert: Die vierhebige R o manze des Poeten bildet die erläuternde und damit recht mechanische Einleitung zu seiner daktylischen Serenade empfindsamen Inhalts. Pumpers militärisches Morgenlied hebt analog mit dem vierhebigen Trochäus in acht Versen mit zwei retardierenden Zweihebern an, differiert jedoch inhaltlich, woraus sich die Intention einer klanglichen Kontrastierung derselben Melodie ergibt. Auslassungszeichen verweisen auf den geplanten daktylischen Teil. Die nachfolgende Serenade des Poeten gliedert sich in neun Strophen zu vier bis sieben daktylischen Versen, deren Inhalt ab Strophe vier ganz der klanglichen Manifestation der Serenade gewidmet ist. Die begleitenden Stimmen der Bläser (Flöten, Fagotte, Klarinetten) werden durch den Sänger vorgestellt und den Geräuschen der Natur verwoben. Die Vertonung wird damit im Stück bereits thematisiert und festgelegt. Kontrastiert und ironisiert wird dieses >Eigenleben< der Instrumente in der nahtlos sich anschließenden Reaktion des Poeten auf Pumpers Marschmusik, die er gegenüber seiner eigenen »göttlichen Stimmung« als schmerzliche »Höllenmusiken« 24 empfindet. Die Kontrastierung der beiden Versfomen zeigt sich nochmals in des Poeten Jammergesang angesichts Rosettes nächtlichem Stelldichein mit Flavio: Während die daktylischen Verse seinen dramatischen Emotionen Ausdruck verleihen, bis hin zu geradezu metastasianischen Bildern: Schon rollen des Zornes Lautbrausende Wellen, Und Blitze der Eifersucht Erhellen Schäumende Felsen, Die tobende Flut. 2 5
'3 Goethe HB, Bd. 2,8.185. FA I, Bd. 5, S.429. 25 Ebenda, S. 431. 24
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zeigt sich in den beiden eingeschobenen Romanzenstrophen sein »sanftes Herz« und empfindsames Wesen. Wie ein ironischer Verweis auf die heroischen da capo-Arien der (nun italienischen) Seria wird am Ende nochmals die Strophe »Schon rollen die Wogen« wiederholt. Uber das Verhältnis von Rezitativ und Gesängen fehlt in diesen Entwürfen jeder Hinweis. Waldura wertet Goethes Briefpassage an Charlotte v. Stein: Meine arme angefangene Operette dauert mich, wie man ein Kind bedauern kann, das von einem Negersweib in der Sclaverey gebohren werden soll. Unter diesem ehernen Himmel! den ich sonst nicht schelte, denn es muß ia keine Operetten geben. Hätte ich nur vor zwanzig Jahren gewusst was ich weis. Ich hätte mir wenigstens das Italiänische so zugeeignet, daß ich fürs Lyrische Theater hätte arbeiten können, und ich hätte es gezwungen. Der gute Kayser dauert mich, daß er seine Musick an diese barbarische Sprache verschwendet. 16
als Hinweis darauf, daß die >Ungleichen Hausgenossen< wie >Scherz, List und Rache< als durchkomponierte Oper konzipiert, und »daß G.[oethe] bereits damals zu der Einsicht gelangt war, daß sich eine deutsche Oper mit gesungenem Rezitativ auf deutschen Bühnen nicht werde durchsetzen lassen.«27 Goethe hat die Frage nach Bestehen oder Nichtbestand seiner Oper auch später nicht von der Vertonung der Rezitative abhängig gemacht, obgleich er bekanntlich seit >Scherz, List und Rache< die komplett gesungene Oper als Ideal betrachtete. Die eindrückliche Bildlichkeit der Briefpassage steht nur scheinbar im Widerspruch zu Goethes eifriger und zuversichtlicher Arbeit an dem Libretto im Winter 1785/86: Das verwendete Gleichnis parallelisiert ihn, Goethe, als den Schöpfer der Oper, mit einer versklavten Exilantin, deren Kind, ergo das Werk, deplaziert geboren und entsprechend in seiner Entwicklung behindert wird. Der deutsche >eherne< Himmel ist nichts für die Oper, sie braucht genau wie ihr Schöpfer den italienischen Himmel und vor allem die italienische Sprache, um zur Entfaltung zu kommen. Die hyperbolische Klage um die versäumte italienische Sprache ist eine rhetorische Figur; aus seinen Briefen an Kayser ist jedoch ersichtlich, daß er durchaus der Ansicht war, daß dieser Lernprozeß noch gut zum Ziel führen konnte. So ermahnt er Kayser am 28.2. 1786, also vier Wochen später, »wie steht es mit dem Italiänischen? Üben Sie Sich fleisig in dieser einzigen Sprache des Musikers.« 28 Für sich selbst nahm er in Anspruch, mit einiger lebhafter Übung selbst Werke in italienischer 26
28
26.1. 1786. F A II, Bd. 2, S. 623-624. Goethe HB, Bd.2, S.185. W A IV, Bd. 7, S.188.
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Sprache schreiben zu können (was er während des zweiten römischen Aufenthaltes ja auch vorhatte).29 Der Brief ist damit wohl eher als ein Signal für seine bevorstehende Flucht nach Italien zu verstehen, als für seine Aufgabe des lyrischen DramasScherz, List und Rache< werden durchaus nicht als ein gescheitertes Experiment gegenüber dem >Idealtypus< >Jery und Bätely< verworfen, wie Holtbernd impliziert, sondern weitergeführt und bestätigt. Das Ideal einer Begrenzung der Elemente wird beibehalten, jedoch von den Personen auf die verwendeten Mittel und Motive übertragen. So arbeitet Goethe in den >Ungleichen Hausgenossen< nun statt mit einer begrenzten Anzahl Personen, mit einer begrenzten Menge im Text bereits bezüglich der Komposition genau definierter Gesangseinlagen, in deren Wiederholung und Modifikation Bezüge der dramatis personae und der Handlungssituationen hergestellt bzw. bestätigt werden. Er gestaltet damit eine musikdramaturgische Verfahrensweise, die die >große Oper< erst einige Jahre später, etwa in Form von Erinnerungsmotiven, als eine ihrer wegweisenden Neuerungen entwickeln sollte. Das Fragment bildet einen wichtigen Schritt, auf den die Italienischen Fassungen der Singspiele aufbauen. Die in den >Ungleichen Hausgenossen durchgehaltene Begrenzung der kompositorischen Mittel ist denn auch der Schlüssel zu der Frage, warum Goethe das in seiner Gestaltung und Anlage sehr dichte und versprechende Stück nicht mehr weitergeführt hat: Die Italienischen Fassungen der Singspiele weisen vielfältigere Gesänge auf sowie eine neue Sprache. Das Stück in der im ersten Akt vor allem durch die Anlage des Stoffs am Singspiel orientierten Form weiterzuführen, war Goethe nicht mehr möglich. Es aber dem aktuellen Stand seiner Ästhetik anzupassen, hätte eine gänzliche Änderung der Konzeption erfordert, weshalb das Stück zugunsten neuer Projekte liegen blieb. F A gibt einen weiteren Grund für die Beilegung des Projekts an:3° Die erfolgreiche Premiere von Mozart/Da Pontes Oper am i. Mai 1786. Die terminliche Ubereinstimmung ist tatsächlich bestechend, doch weist das 2
» Vgl. S.2I2.
>° FA I, Bd. 5, S. 1192. ï
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Stück ja neben den Entsprechungen zu Mozarts Oper eine weitaus deutlichere Nähe zu den >Litiganti< auf und zudem neue Motive wie das des Paris-Urteil und eine veränderte Grundkonstellation sowie andere Zentralkonflikte. Zudem war es durchaus üblich, einen erfolgreichen Stoff mehrmals zu bearbeiten, wobei die Folgebearbeitungen nicht unbedingt gegenüber dem >Original< im Nachteil sein mußten, sondern, war ein Stoff einmal erschlossen und beliebt, von dem Erfolg eines populären Stücks durchaus profitieren konnten. In den >Tag- und Jahresheften< gibt Goethe zwar keine echten Gründe für die Aufgabe des Stückes an, immerhin aber einen Bericht. Und dieser erwähnt Mozarts Oper mit keiner Silbe, obgleich an anderer Stelle die i t a lienische Reise< Mozarts >Entführung< durchaus als einen Grund für das Scheitern von >Scherz, List und Rache< bzw. einen Indikator für dessen Rückständigkeit angibt. Ungeklärt bleibt, ob Entsprechungen wie die Arie der Baronesse »Ach wer bringt die schönen Tage« 31 und Mozarts >Dove sono< Analogien sind, oder ob Goethe Eindrücke aus Mozarts Oper später in den Paralipomena verarbeitet hat. Letzteres spräche dafür, daß Goethe die Arbeit an dem Fragment nach der Italienischen Reise wieder aufgenommen hat, und zudem, daß er die Nähe zu Mozarts Oper durchaus nicht als Hindernis empfand. Vielleicht näherliegender ist hier jedoch der Einfluss von Salieris >La scuola de' gelosi< (Venedig 1778), über die Goethe sich bereits 1784 lobend geäußert hatte und in der ganz ähnlich eine Baronesse ihr verflossenes Eheglück beklagt.
2. Musiktheater im Spiegel der italienischen Reise< Die in Weimar gastierenden Truppen von Busoni und Bellomo hatten Goethe zwar mit den wichtigsten Werken der italienischen opera buffa vertraut gemacht, dennoch fühlte er sich in Sachsen fern von den aktuellen Entwicklungen des Musiktheaters, die in den italienischen Großstädten und in Wien vor sich gingen. Wie sehr er sich die südliche Sonne gerade auch für seine >armen Operetten< wünschte, davon legt sein bereits zitierter Brief an Frau v. Stein vom 26.1. 1786 beredtes Zeugnis ab.32 Die italienische Reise< und die aus dieser Zeit erhaltenen Textzeugnisse dokumentieren den zweiten Komplex von Goethes Ästhetik des Musik>' Ebenda, S. 1 1 9 5 . ' 2 An Frau v. Stein am 26.1. 1786. F A II, Bd. 2, 8.624. 198
theaters sowie ihren langsamen Wandel und geben zudem Aufschluß darüber, wie und mit welchen Intentionen Goethe sich der musikalischen Gattung annäherte. Im Zusammenhang mit Goethes Opern steht daher nicht der Kunstcharakter der italienischen Reise< im Zentrum der Betrachtung, sondern ihr Status als Quelle. Anders als bei den Briefen an Kayser setzt sich das Textkonvolut jedoch aus unterschiedlichen Textsorten zusammen: Einmal die Briefe, bei deren Untersuchung die verschiedenen Adressaten und damit auch die unterschiedlichen Intentionen hinter Goethes Äußerungen bezüglich des Musiktheaters zu berücksichtigen sind: Diese bilden die Texte, die tatsächlich für den Zeitabschnitt 1787/88 sprechen und sind sorgsam von den wesentlich später entstandenen Berichten zu trennen. Um tatsächlich stichhaltige Erkenntnisse über den Wandel von Goethes Ästhetik des Musiktheaters zu erhalten, ist im Einzelfall zu klären, ob der Bericht die Situation während der Italienischen Reise wiedergibt oder eine Reflexion aus der Entstehungszeit um 1815 ist und somit Kommentarfunktion hat. In diesem Fall sind die Berichte bereits Zeugnisse von Goethes später Ästhetik, in der das Musiktheater unter dem Aspekt des Festspiels erscheint. Goethe nimmt von Anfang an am Opern- und Theaterleben seiner Reisestationen Teil, wobei er die Darbietungen mit dem Blick des Librettisten und Kenners betrachtet, nicht als einfacher Zuschauer: Gestern war Oper [...]. Die drei Sultaninnen [>Soliman II oder die drei Sultaninnen< Charlotte Dorothea Biehl nach Favart/Sarti' 3 ] und die Entführung aus dem Serail haben manche Fetzen hergegeben, woraus das Stück mit weniger Klugheit zusammengeflickt ist. Die Musik hört sich bequem an, ist aber wahrscheinlich von einem Liebhaber, kein neuer Gedanke der mich getroffen hätte."
Goethes Meinung vom italienischen Opernwesen erscheint hier zunächst alles andere als vorteilhaft. Allerdings muß auch der Empfänger in Betracht gezogen werden: Frau v. Stein gegenüber tendiert Goethe hier wie später dazu, in seinen Briefen und Berichten an die strenge Freundin die Bedeutung des Musiktheaters wie auch später des Carnevals einzuschränken. Roberto Zapperi argumentiert diesbezüglich, daß Goethe gegenüber Frau v. Stein durchgängig den Bildungs- und Erkenntnisaspekt seiner Rei33
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Goethe zieht hier natürlich nicht eine >Verskomödie< als Vergleich für die Oper heran, wie die Kommentare von H A (Bd. 1 1 , S. 549) und F A (I, Bd. 15. 2, S. 1198) übereinstimmend behaupten, sondern die später in der Bearbeitung von Süßmeyer/Huber auch in Weimar aufgeführte comedie mêlée d'ariettes Sartis (Kopenhagen 1770). F A I, Bd. ι j . i , S. 58.
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se betonte, um seinen langen Aufenthalt fern von Hof und angebeteter Geliebter zu rechtfertigen. 3 ' Während er sich am Folgetag »nicht entschließen [kann] das Opus nochmal zu leiden«,36 freut er sich dennoch Ende September auf die beginnende Opernsaison: »Auf künftigen Montag geht Opera buffa und zwei Comödien theater auf. Da wollen wir uns auch was zugute thun. Ich hoffe es soll besser werden als in Vincenz.« 37 Doch seine Hoffnungen finden sich wiederum enttäuscht: Anders als im Originalbrief an Frau v. Stein38 ist die Opernaufführung in der italienischen Reise< programmatisch zwischen zwei andere, >gelungene< Aufführungen eingepaßt, die alle unter dem 3. Oktober verzeichnet sind. Die Trilogie beginnt mit einem Oratorium in einem Frauenkloster, dessen Musik und Besetzung Goethes vollen Beifall finden. 39 Von der Oper heißt es dagegen: »Es fehlt dem Poëm, der Musik, den Sängern eine innere Energie, welche allein eine solche Darstellung auf den höchsten Punkt treiben kann.«40 Gerade diese >innere Energie< äußert sich in der anschließend berichteten >Komödie< im herzoglichen Palast, denn »der eine Advokat war alles, was ein übertriebener Buffo nur sein sollte.«41 Die ästhetische Konzeption der italienischen Reise< bietet die Möglichkeit, die Mängel des Musiktheaters (nicht gelungene Präsentation der Musik und des Schauspiels) aufzuzeigen und im erzählten Text abzugleichen. Zugleich werden die Spannungspole der Oper aufgezeigt, die sich zwischen dem ernsten, dramatischen Gesang des Oratoriums und der karikierenden Komödie konstituiert. Hierin spricht sich natürlich vor allem Goethes Position von 1813 und später aus, wonach das Musiktheater Scherz und Ernst verbinden, bzw. zwischen den beiden Polen changieren und hohe Gehalte und Ästhetik mit dem buffonesken, niederen Leben verbinden soll. Bei der Oper handelt es sich um >Le donne fanaticheJuno< an und fährt fort: »Künftige Woche haben wir das volle Carneval, Morgen gehn die neuen Opern an und ob mich gleich das Theater so wenig mehr, als der 45
Ebenda, S. 1 5 2 - 1 5 3 .
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Pfaffen Mummerey freuen oder interessieren kann; so muß man es doch sehn.«50 Goethes Herabsetzung der >Spaßfaktoren< Theater und Carneval gegenüber der ernsthaften Auseinandersetzung mit der Kunst der klassischen Antike hat deutlich den Charakter einer Rechtfertigung und fügt sich in die bereits erwähnte Auffassung Zapperis ein. Zugleich charakterisiert er sein Interesse für die Gattung als ein >zwanghaftesAlexander in Indiens allerdings ohne den Komponisten zu nennen. Im selben Atemzug lobt er das Ballett >Eroberung von Troja< und wünscht ganz aufrichtig, sein Zögling Fritz v. Stein, der Ballette sehr mochte, hätte es sehen können. Das >Grauen< vor den Aufführungen ist eine spätere Stilisierung, bei der Goethe jedoch offen ließ, ob er die Darbietungen tatsächlich angesehen hat. Bei der Bearbeitung der Briefe für die italienische Reise< hat Goethe jedoch wohl den falschen Komponisten für >Alessandro nell'Indie< angegeben. Die Komposition stammt aller Wahrscheinlichkeit nicht von Pasquale Anfossi, sondern Luigi Caruso (Text von Francesco Clerico), das Textbuch der entsprechenden Produktion für die Saison 1786/87 brachte Goethe aus Italien mit. Goethes wenig emphatische Beschreibung der Oper findet ihr Pendant in seinem Vorurteil gegenüber dem Carneval. An Herder schreibt er am 3.2. 1787: »Die Mummereyen des Carnevals mögen noch vor meinen Fenstern vorüber gehn, dann nach Neapel.« 52 Analog zu den musikdramatischen Belustigungen ist Goethe auch das Carneval als genuiner Ausdruck italienischer Lebensfreude befremdlich. Entsprechend nimmt sich wenig später sein Bericht an Charlotte v. Stein ( 1 3 . - 1 7 . 2 . 1787) aus: »Das Carneval in Rom muß man gesehen haben, um den Wunsch völlig los zu werden es wiederzusehen. Beschreiben kann FA II, Bd. 3, S.240. ' " F A I , Bd. 15.i, S. 167. íz FA II, Bd. 3, S. 242.
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und mag ich nichts davon, mündlich wird es einmal ein tolles Bild geben.«' 3 Die Einschätzungen von Karneval und Oper erscheinen parallelisiert und kontrastieren den ersten vom zweiten römischen Aufenthalt: Sie sind im ästhetischen Konzept Schritte derselben Entwicklung des Reisenden von einer kritischen und durch seine mitgebrachten ästhetischen Konzepte in seiner Wahrnehmung beschränkten, zu einer sowohl staunenden und genießenden, als auch die Eindrücke kreativ umsetzenden Individualität. Zunächst ist jedoch Goethes Bericht bezüglich der Oper auch an Kayser nicht sehr begeistert: Das Theater erbaut mich wenig in Rom, ich besuche es fast gar nicht. Die große Oper ist ein Un[ge]häuer ohne Lebenskraft und Saft. Die Ballette sind noch das unterhaltendste, die Opera Buffa hat auch die erwünschte Runde und Vollkommenheit nicht, es ist alles Flickwerk. [...] Nun liegt die Geschichte des Italienischen Opern Theaters von Arteaga auf meinem Tische, ich weiß nicht ob viel daraus zu profitiren seyn wird. Inzwischen nimmt man sich doch immer hier und da etwas weg, die Künste sind so verwandt, daß man in einer seine Kenntnisse kaum erweitern kann, ohne auch in den andern in gewißem Maaße fortzurücken. 54
Die Äußerung über die >Große OperScherz, List und Rache< aufzuwerten, wie der Nachsatz des Briefes beweist, der die pauschale Negativbilanz deutlich relativiert: Diese Woche hat Anfoßi mit einem Intermezz in Valle viel Beyfall erworben. Es ist eine glücklich leichte Composition. 59
Das Stück, das er im Brief vom 7 . - 1 0 . 2 . 1 7 8 7 an Herzog Carl August wiederum mit fast identischer Wortwahl lobt, éo ist eine >Farsetta per musica< mit dem Titel >La pazza de' gelosi«, die 1787 im Teatro alla Valle aufgeführt wurde. Das Textbuch hat sich in Goethes Sammlung erhalten. Das, freilich nur aus den originalen Briefen ersichtliche, Urteil Goethes über Anfossis Kurzoper markiert den Wendepunkt in Goethes Einschätzung der italienischen Oper: Von der Enttäuschung über unerfüllte Erwartungen seinerseits, hin zu vorurteilsfreier Anschauung, bei der sich valent beurteilt wurde: So fehlt in Müller-Blattaus >Goethe und die Meister der Musik< ein Kapitel über Gluck. Gleiches gilt für Karl Blechschmidt (1937: S. 15 und 25), der berichtet »Auch zu Gluck fand Goethe nie ein inniges Verhältnis«, fortfährt »Schiller und Goethe waren große Verehrer des Meisters«, um später die Chöre der >Zauberflöte zweyter Theil< auf Glucks Einfluß zurückzuführen. Ein später Widerhall dieser Fehleinschätzungen klingt bei Markus Waldura nach, der kategorisch behauptet, »Die Opera seria lehnte Goethe zeitlebens ab.« U m in der Folge den Einfluß von Glucks Reformoper, also einer Form der opera seria, auf Goethes Opernkonzeption um 1800 en detail nachzuweisen. Vgl. Waldura: >Der Zauberflöte Zweyter T h e i k Konzeption einer nicht komponierten Oper. In: A f M w L (1993), S. 265, Fußnote 15. - Eine weitere Folge des Diktums von Goethes Ablehnung der Seria ist, daß die ernsten Opern des Weimarer Spielplans kaum erwähnt, geschweige denn ihre Einflüsse auf Goethes Werk untersucht wurden. 58
F A II, Bd. 3, S.252. Bei dem Werk handelt es sich um die Erstkonzeption des >GroßCophta< als opera buffa unter dem Titel >Die Mystifizierten«. « F A II, B d . 3 , S.252. 60 Ebenda, S. 254.
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ihm in der Folge sukzessive die besonderen Qualitäten der Gattung erschlossen. Ebenfalls nur im Originalbrief an Frau v. Stein vom 25.5. 1787 vorhanden ist eine weitere >Erfolgsmeldung< Goethes: »Eine gute neue komische Oper von Cimarosa habe ich vorgestern gehört«. Bei dem Stück handelt es sich um >11 fanatico burlato< (Text von Saverio Zini), das 1787 in Neapel aufgeführt wurde. Auch dieses Textbuch brachte Goethe aus Italien mit. Goethes zu diesem Zeitpunkt bereits exquisite Kenntnis des italienischen Opernwesens belegt auch der Bericht von A. Gyrowetz über die zweite Hälfte des Mai 1787: Zur nämlichen Zeit war es, daß Göthe aus Sicilien nach Neapel zurückkam, und Gyrowetz auf der Promenade al giardino Reale traf, w o sie beide öfters zusammen auf- und abgingen, und nebst anderen Gegenständen Vieles über Musik und den Zustand der Musik in Italien überhaupt sprachen. Göthe bewies dabei, daß er sehr große Kenntnis in der Musik besitze; er behauptete auch, daß die alten italienischen Meister in ihren Opern mehr contrapunktische Figuren anzubringen suchten, und mehr für den Sänger als für das Orchester in ihrem Satz gesorgt hätten. Auch hatten die alten Meister vermieden, die Stimme des Sängers durch starke Instrumentierung [...] zu bedecken. 6 '
Im Folgenden referiert der Schreiber eine Anekdote über Paisiello und Guglielmi, die Goethes Einblick in die zeitgenössischen Diskussionen bezüglich Stil und Kompositionsweise der italienischen Oper demonstriert.62 Woher Goethe die Anekdoten kannte, bleibt offen, wahrscheinlich hatte er sie von Bury oder einem anderen befreundeten Musiker gehört. Goethes Lektüre von Arteagas Operngeschichte 63 hatte offenbar gefruchtet und ihm einige Kenntnis der Barockoper verschafft, die später durch Kaysers Anwesenheit, der sich erklärtermaßen für >Alte Musik< interessierte, noch vertieft worden sein dürfte. Dies wird besonders für die spätere Betrachtung der Gattungsmischung noch bedeutsam sein. In der italienischen Reise< findet das Opernwesen erst im zweiten römischen Aufenthalt wieder Erwähnung. Goethes Auseinandersetzung mit der italienischen Oper intensiviert sich ab Juli 1787 in steigender Linie, bringt ihn dazu, seine eigenen Bemühungen um die Oper historisch einzugliedern und mündet mit dem neuen Jahr 1788 in die Überarbeitung der frühen Singspiele. él 61 63
F A II, Bd. 3, S. 292. Vgl. ebenda. Die hier verwendete Ausgabe: Estephan Arteaga: Geschichte der italienischen Oper von ihrem ersten Ursprünge bis auf gegenwärtige Zeit. Aus dem Italienischen mit Anmerkungen von Nicolaus Forkel. 2 Bde. Leipzig 1789.
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Aus der Zeit des zweiten römischen Aufenthalts stammt der Großteil der in Goethes Bibliothek befindlichen Textbücher, darunter auch einige opere serie. Das erste Zeugnis von Goethes nun eindeutiger Sympathie für die italienische Oper berichtet unter dem 16. Juli 1787 von einem Essen mit Abbate Giambattista Casti: Ich schätzte ihn schon als den Verfasser meines beliebten Re Teodoro in Venezia. Er hat nun einen Re Teodoro in Corsica geschrieben, wovon ich den ersten Akt gelesen habe, auch ein ganz allerliebstes Werk. 64
Das erste der genannten Libretti, ein dramma eroi-comico per musica, hatte Goethe Kayser bereits 1785 als Vorbild für >Scherz, List und Rache< empfohlen. Goethes Interesse gilt hier eindeutig dem Libretto, dessen gattungsbildende Qualitäten er erkannt hatte. Mit seiner Wertschätzung Castis stand Goethe keinesfalls vereinzelt: Arteaga beschreibt Casti als den Hoffnungsträger der opera buffa, einen Metastasio der komischen Gattung, der ihr zu echter literarischer Größe verhelfen sollte. 6 ' Im Juli berichtet Goethe von einem Hauskonzert, zu dem er Freunde geladen hatte: Ich lud diejenigen Personen dazu die mir hier manches Vergnügen verschafft haben, und ließ durch die Sänger der komischen Oper die besten Stücke der letzten Intermezzen aufführen. Jedermann war vergnügt und zufrieden. 66
In einer Spiegelung der Sequenz um den 3. Oktober 1786 in Venedig zeigt sich hier in Rom alles von der Oper durchdrungen: Auf die Schilderung von Goethes >Ständchen< für seine Freunde folgen die der echten Römer: »Bis gegen Morgen sind immer Partien auf der Straße, die singen und spielen, man hört mancherlei Duette, so schön und schöner als in einer Oper oder Konzert«, 67 vervollständigt durch die öffentliche Aufführung: Nachts in die komische Oper. Ein neues Intermezz, L'Impresario in Angustie ist ganz fürtrefflich und wird uns manche Nacht unterhalten, so heiß es auch im Schauspiele sein mag. Ein Quintett, da der Poeta sein Stück vorlies't, der Impressar und die prima donna auf der einen Seite ihm Beifall geben, der Komponist und die seconda donna auf der anderen ihn tadeln, worüber sie zuletzt in einen allgemeinen Streit geraten, ist sehr glücklich. Die als Frauenzimmer verkleideten Kastraten machen ihre Rollen immer besser und gefallen immer mehr. Wirklich für eine kleine Sommertruppe, die sich nur so zusammengefunden 64
F A I, Bd. 1 5 . 1 , S.395. > Arteaga (1789), B d . 2 , S.419. 66 F A I , Bd. 1 5 . 1 , S. 398. 67 Ebenda, S. 400. 6
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hat, ist sie recht artig. Sie spielen mit einer großen Natürlichkeit und gutem Humor.68
Der Originalbrief an Kayser vom 14.7. 1787 erwähnt nur Cimarosa, ohne den Titel der Oper zu nennen.69 Selbst wenn man davon ausgehen will, daß die Qualität der Aufführung besser gewesen sein mag als die von Goethe früher erwähnten, und das beschriebene Stück von Cimarosa zu den auch heute noch bekannteren seiner Gattung gehört, so hat sich doch vor allem Goethes Einstellung zu den Darbietungen geändert: Anfangs suchte er noch nach >neuen Gedanken< und maß die Stücke mit dem literarischen Niveau des Norddeutschen Singspiels, was notwendigerweise eine Frustration seiner Erwartungen zur Folge hatte. Nun empfindet er dagegen Cimarosas kleines Stück als >ganz vortrefflich^ so daß es auch in der häufigen Wiederholung nicht langweilig zu werden droht. Goethe brachte das Textbuch aus Italien mit und bearbeitete es 1791 für das Weimarer Theater. Dabei verzichtete er auf eine durchgängige Literarisierung des, gemessen an der deutschen Singspieltradition, etwas krausen Textes, der seine Komik im wesentlichen aus der Kontrastierung von Versatzstücken des Seria-Operntextes mit der Buffa-Handlung bezieht. Im Kontrast zu den >Störenden Naturbetrachtungenunterhaltenvergnügt und zufried e n zu machen und im (hier beschriebenen) Idealfall eine vollkommene NachtlustDes Epimenides ErwachenFiktion< erhält durch die zahlreichen Personenangaben so glaubhaften Realitätscharakter, daß er offenbar keine Uberprüfung der Quellen für nötig hielt. E r geht davon aus, daß Goethe die unter dem 23. Juli im italienischen Briefverzeichnis< (FA II, Bd. 3, S. 1 0 4 1 - 1 0 4 8 ) verzeichneten Briefe an Frau v. Stein und Herder, die die Angaben der Zeit (also auch über das Portrait Angelika Kaufmanns) enthielten, später vernichtet hat (vgl. Zapperi: 1999, S. 174). Herder und Frau v. Stein sind jedoch gerade die beiden Adressaten, denen Goethe kaum von privaten Opernaufführungen berichtet hätte. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kann man dagegen davon ausgehen, daß Goethe Kayser von einem solchen Ereignis berichtet hätte, was jedoch nicht geschah.
7
' Bd. I i , S.668-669. Bd. 15. 2, S. 1 3 6 6 - 1 3 6 7 . 77 Vgl. Kapitel 14. 2. 76
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chen Studien ist zudem ein Indiz dafür, daß die Oper als ästhetisches Konzept zunehmend in die Textur der italienischen Reise< überführt wird/ 8 Die authentischen Zeugnisse aus dem zweiten römischen Aufenthalt belegen, daß Goethes Ästhetik des Musiktheaters sich durch die Konfrontation mit dem italienischen Opernwesen offenbar stark gewandelt hatte: Da er anfangs (zu) hohe Erwartungen an die inhaltliche Qualität der Libretti und die schauspielerischen Leistungen der Sänger stellte, wollten ihm die Darbietungen nicht recht gefallen. Selbst wenn man in die Betrachtung einbezieht, daß Rom auch zu Goethes Zeit noch über ein größeres Sängerpotential verfügte als viele der früheren Stationen auf Goethes Reiseweg, so ist es doch vor allem Goethes Betrachtungsweise, die sich bis zu seinem zweiten römischen Aufenthalt gewandelt hat: Inzwischen konnte er nicht nur die besonderen Qualitäten der italienischen Buffa-Libretti besser beurteilen (über die er später noch genauer berichtet), sondern auch die Aufführungen, die ihm ungeachtet eventueller Unvollkommenheiten großen Genuß bereiteten. Goethes Anspruch an das Musiktheater hatte sich von einem inhaltsdominierten, in Richtung zu einem funktionalen und synästhetischen gewandelt: Stand bisher die literarische Qualität des Librettos im Zentrum seiner Bemühungen, ist er nun bereit, diese zugunsten der Gesamtwirkung des Schauspiels einzuschränken. Zwischen Juli und Oktober 1787 vollzieht sich der entscheidende Schritt, mit dem Goethe die gesammelten Erfahrungen in sein eigenes Schaffen übersetzen will. Ich erwarte ihn [Kayser] in einigen Tagen, mit der vollendeten Partitur unserer Scrapinereien. Du kannst denken was das für ein Fest sein wird! Sogleich wird Hand an eine neue Oper gelegt, und Claudine mit Erwin, in seiner Gegenwart, mit seinem Beirat verbessert. 79
Goethe war inzwischen mit der Praxis der italienischen Oper vertraut, bei der Librettist und Komponist Hand in Hand arbeiten, im Gegensatz zur Verfahrensweise des Norddeutschen Singspiels mit seinen separat publizierten Textbüchern.80 Im Brief an Bertuch vom 27.10. 1787 spricht sich Goethes Begeisterung für die Oper und sein diesbezüglicher Tatendrang aus: 78
Die Funktion des Musiktheaters für die ästhetische Konzeption der italienischen Reise< zu untersuchen, muß aus Gründen des Umfangs an dieser Stelle unterbleiben, schlösse sich jedoch mit der Frage nach der ästhetischen bzw. poetologischen Funktion der Oper in anderen Prosatexten Goethes, z.B. in > Wilhelm Meister< (>Lehrjahre< und t h e a t r a l i scher SendungScherz, List und Rache< war aus der deutschen Theatersituation heraus folgerichtig gedacht: Bei der Beliebtheit der komischen Gattung müßte diese, literarisch aufgewertet und geringfügig, d.h. um eine Stimme erweitert, sich zu einer Mischform zwischen Intermezzo, Buffa und Singspiel erweitern lassen. Retrospektiv erkennt Goethe, daß seine Konzeption wegen des Mißverhältnisses von Länge des Stücks zu nur drei Stimmen nicht aufführbar war, Kaysers Kompositionsweise in ausgedehnten Arien konnte diesen Fehler nur noch verstärken, nicht verursachen. Goethes Fehler lag darin, den Anachronismus des (Nord-) Deutschen Musiktheaters fortsetzen zu wollen, indem er eine bereits vierzig Jahre zurückliegende Grundkonzeption aufgriff, und innerhalb ihrer engen Konzeption verbleibend mit für das Musiktheater ausgesprochen progressiven Verfahrensweisen bearbeitete. Die von Mozart bearbeiteten Libretti bleiben zwar textlich in vieler Hinsicht hinter Goethes Entwürfen zurück, 52 dennoch bestimmten sie mit ihrer zeitgemäßen Mischung der Stoffe und Verfahrensweisen die Zukunft der deutschen Oper. 93 Goethes Auseinandersetzung mit Musik während der Italienischen Reise bezog sich natürlich nicht allein auf die Oper, aber sie erweist sich zunehmend als das Zentrum seiner Interessen, auf das selbst Erfahrungen mit Kirchenmusik bezogen werden: Ich erinnere mich, an einem Cäcilientage zum erstenmale eine Bravour-Arie mit eingreifendem Chor gehört zu haben, sie tat auf mich eine außerordentliche Wirkung, wie sie solche auch noch immer, wenn dergleichen in den Opern vorkommt, auf das Publikum ausübt. 94
3. Goethes Umarbeitungen der Singspiele unter dem Einfluß der italienischen opera buffa Die wenigen Forscher, die sich um eine »Ehrenrettung« 9 ' von Goethes Singspielen bemühen, wählen dazu meist die frühen, schauspieldominier9
' Ebenda, S.468. Auf diesen Aspekt wird noch im einzelnen zurückzukommen sein. 95 Vgl. Norbert Miller: Das Erbe der Zauberflöte. Zur Vorgeschichte des romantischen Singspiels. In: Dichtung und Musik. Kaleidoskop ihrer Beziehungen. Hrsg. von Günter Schnitzler. Stuttgart 1979, S. 9 9 - 1 2 1 . ' i F A I , Bd. 1 5 . 1 , 8 . 4 6 9 . 92
95
So bezeichnet v. Ingen Hans Albrecht Kochs Nachwort zu seiner Edition der Singspiele (Stuttgart 1974: S. 295). Vgl. v. Ingen (1990), S. 120.
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ten Fassungen.' 6 Für Goethes in Italien erfolgte Umarbeitungen wird dagegen eine derartige Verflachung der Texte postuliert, 97 daß eine weitere Untersuchung sich erübrige, woraus sich zwangsläufig der Fortbestand der Forschungslücke ergibt: Die dominierende Position der Forschung, 98 die mit v. Ingens Behauptung, die Überarbeitung bedeute »die Streichung all jener Züge, die den literarischen Wert der frühen Fassungen ausmachten«, 99 ihren traurigen Höhepunkt erreicht, ist beeindruckend. Borchmeyer formuliert umsichtiger »daß die Neufassung den Singspielen in poetischer Hinsicht nicht zum Vorteil gereicht, daß Personenzeichnung und Dialog an Charakter verloren haben, ist heute wohl allgemein anerkannt.« 100 Allerdings sollte gerade diese Einmütigkeit, die zudem in den meisten Fällen ohne eine eigenständige Untersuchung auskommt, sondern sich aus einem (oberflächlichen) Vergleich der Erst- und Zweitfassungen ergibt, mißtrauisch machen. Gemein ist den genannten Forschern, daß sie die Stücke als Dramentexte behandeln, deren Bedeutungstiefe sie allein aus der inhaltsbezogenen Interpretation gewinnen. Während dieses Vorgehen für die Frühfassungen ein zwar defizitäres, aber auf der Basis von deren Nähe zum Schauspiel praktikables Verfahren ist, bedeutet es für die italienischen Fassung e n schlicht, die falschen Prämissen anzulegen: Wenn ein Musikdrama nur als Drama behandelt wird, so muß zwangsläufig ein beachtlicher Teil seines Gehalts unerkannt bleiben. Dabei ist es durchaus möglich, der Singspielform auf der Basis des Librettos gerecht zu werden, wenn man dessen Gestaltungsprinzipien in die Untersuchung mit einbezieht. Entsprechend konnte Holtbernd, als einer der wenigen Interpreten, der die Singspiele unter librettologischen Gesichtspunkten betrachtet hat, auf dieser Basis die hochgradig artifizielle Gestaltung der Spätfassungen 101 ebenso nachweisen, 101 wie zuvor bereits Goethes subtilen Einsatz der >Musik< als Bedeutungsträger und Gestaltungsmittel für das Singspiel >Jery und BätelyErwin und Elmire< sowie >Claudine< in ihrer formalen Gestaltung noch wesentlich zu wünschen übrig ließen, empfand er die später entstandenen Werke >LilaJery und Bätely< und das Liederspiel >Die Fischerin< als prinzipiell in ihrer Konzeption kohärent, weshalb kleinere Änderungen ausreichend erschienen: >Lila< wird zwar um den letzten Akt verkürzt und damit in seiner Aussage wesentlich beeinflußt, bleibt aber in seiner Sonderstellung als Hybrid zwischen Fest- und Singspiel erhalten. An >Jery und Bätely< wird Goethe bis 1825 noch mehrmals feilen, jedoch ohne die Grundkonzeption zu ändern. Die >Fischerin< bleibt als Liederspiel unverändert. Goethe hat die Frühfassungen von Italien aus und mit seiner nun intimen Kenntnis der italienischen Oper als »Schülerarbeit oder vielmehr Sudelei« 107 beschrieben, die er im Falle von >Erwin und Elmire< nur auf Grund der Gesangseinlagen ab Herbst 1787 einer Neubearbeitung unterzog. 108 Sicherlich reizte ihn an der Überarbeitung auch die Möglichkeit als eingebürgerter Italiener mit vergleichsweise geringem Aufwand seine 10
4 Krämer (1998), S.535. Bötcher (1912), S . 4 9 - 1 5 2 . ,o6 Vgl. Holtbernd (1992), S. 52-54. 12. September 1787. F A I, Bd. 1 5 . 1 , S.425. 108 Ebenda.
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Kenntnisse der opera buffa in poetische Tat umzusetzen. Goethes Selbstkritik bezieht sich vor allem auf die formale Gestaltung, die Stoffe werden nicht grundsätzlich verworfen: Claudine ist nun in der Arbeit, wird, so zu sagen ganz neu ausgeführt, und die alte Spreu meiner Existenz herausgeschwungen. 1 0 9
Claudines Überarbeitung bedeutet nach dieser Äußerung auch einen A b straktionsprozeß, bei dem die in das Sturm und Drang-Singspiel eingeflossenen Elemente persönlicher Erfahrung eliminiert werden sollen. Zugunsten w o v o n wird noch nicht definiert, sondern nur, daß es sich um einen Destillations- und Ausleseprozeß handelt. Die Arbeit scheint rasch vonstatten gegangen zu sein, am 3. November stimmt Kayser noch das Klavier, um aus >Scherz, List und Rache< vorzuspielen, am 24. berichtet Goethe bereits: »meine Opern sind nahe fertig zu sein.« 110 Im Gepäck hatte Kayser u.a. auch die Schauspielmusik zu >EgmontScherz, List und Rache< begonnen hatte. 111 Die Symphonie zu Egmont brachte er mit, und so belebte sich [auch] von dieser Seite mein ferneres Bestreben, welches gegenwärtig mehr als jemals, aus N o t wendigkeit und Liebhaberei, gegen das musikalische Theater gerichtet war. 1 1 2
Goethes Wunsch nach einer zumindest begleitenden und zuweilen eingreifenden musikalischen Bearbeitung auch der Schauspiele, die Holtbernd bereits für den >Götz< nachweisen konnte und die in der Überarbeitung des >Egmont< wiederum bestätigt wurde," 3 erhielt durch Kaysers Anwesenheit einen neuen Schub. Daß die Wendung vom >Nachbar EgmontEgmont< immer wieder mit Kommentaren zu den Opern, so daß sich der Eindruck einer auch inneren Verschwisterung der Werke geradezu aufdrängt. 1 ' 5 Borchmeyer verweist darauf,
'"»Am). November 1787. FA I, Bd. 15.1,8.463. Ebenda, S.465. Vgl. ebenda, S.466. " 2 Ebenda. "3 Vgl. Holtbernd (1992), S. 123-153. " 4 FA I, Bd. 15.1, S. 511. FA I, Bd. ι j.i, S.448-449, 466-467, und 510-511.
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daß der von Schiller später als >Salto mortale in eine OpernweltEgmont< lediglich das Rudiment einer zwischenzeitlich viel weitergehenden Konzeption ist. 1 ' 7 Erwin und Elmire so wie Claudine von Villa bella sollten nun auch nach Deutschland abgesendet werden; ich hatte mich aber durch die Bearbeitung Egmonts in meinen Forderungen gegen mich selbst dergestalt gesteigert, daß ich nicht über mich gewinnen konnte sie in ihrer ersten Form dahin zu geben. Gar manches Lyrische was sie enthalten, war mir lieb und wert; es zeigte von vielen zwar törig aber doch glücklich verlebten Stunden, wie von Schmerz und Kummer, welchen die Jugend in ihrer unberatenen Lebhaftigkeit ausgesetzt bleibt. Der prosaische Dialog dagegen erinnerte zu sehr an jene Französischen Operetten, denen wir zwar ein freundliches Andenken zu gönnen haben, indem sie zuerst ein heiteres singbares Wesen auf unser Theater herüber brachten, die mir aber jetzt nicht mehr genügen wollten, als einem eingebürgerten Italiäner, der den melodischen Gesang durch einen rezitierenden und deklamatorischen wenigstens wollte verknüpft sehen." 8
Goethe strebte grundsätzlich eine gleichwertig artifizielle Gestaltung seiner Musikdramen im Vergleich mit den Sprechdramen an, wie er auch an anderer Stelle immer wieder betonte. Daß er seine Produktionen für das Musiktheater, im Rahmen natürlicher Qualitätsschwankungen, keinesfalls als Werke zweiter Klasse betrachtete, beweist deren Aufnahme in die erste Werkausgabe und in jede weitere zu Lebzeiten des Autors. 119 Während die Gesangseinlagen als ohnehin verschlüsselte Bedeutungsträger ihre Existenzberechtigung grundsätzlich behielten, sollte der Prosadialog als das zentrale Merkmal von opéra comique und Norddeutschem Singspiel nun einer artifiziell und musikalisch anspruchsvoller gestalteten Form weichen, die sich an den italienischen Opernformen orientierte. 120 Für die Umarbeitung wird die Versifizierung als Annäherung an das italienische Rezitativ hervorgehoben: Die versifizierte, als eine der Tradition gemäß rezitativische (»rezitierende und deklamatorische«) Sprache, wird durch die Satzstellung dem >Gesang< zugeordnet, 116
In seiner anonymen Rezension in der >Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitungs im September 1788. Vgl. F A I, Bd. 5, S. 1 2 5 3 - 1 2 5 6 . 117 Vgl. v. Ingen (1990), S. 1 2 8 - 1 2 9 . 1,8 F A I , Bd. 1 5 . 1 , S. 466-467. '"9 Vgl. Goethe H B , Bd. 2, S. 188. 120 Dabei sei an dieser Stelle einem verbreiten Mechanismus vorgebeugt: Wenn Goethe hier die französische Operette< lediglich als historische Zwischenstufe der deutschen Oper vom Singspiel zur >Großen Oper< eines Mozart (denn auf die bewegt sich der Text zu) gelten lassen will, bedeutet das natürlich keine generelle Abwertung. Die Textstelle korrespondiert vielmehr mit dem Abschnitt von >Dichtung und WahrheitErwin und Elmire< sowie >Claudine von Villa Bella< zuvor, ungeachtet aller von Goethe verwendeten Terminologien, Singspiele und damit Schauspiele mit Gesangseinlagen, also eine Mischform zweier grundverschiedener Medien waren, werden nun gesungene und sprech-gesungene Sprache einander angenähert. Sie sollen mittels dieser Annäherung >verknüpft< werden, also miteinander noch stärker interagieren, als dies in den Frühfassungen bereits angelegt war. Welche Konsequenzen dies für die inhaltliche Vernetzung der einzelnen Abschnitte hat, wird die Einzelanalyse zeigen. Eine weitere Bedeutung des Satzes ist jedoch noch markanter: Goethe bezeichnet die >Verknüpfung< durch Rezitative als eine Mindestanforderung. >Wenigstens< impliziert, daß eine >Verbindung< des Gesangs als noch wesentlich vorteilhafter angesehen würde, womit Goethe sogar über die zeitgenössische italienische Opernpraxis hinausgeht und auf eine durchkomponierte bzw. durchgesungene Oper verweist. Denn die zeitgenössische Buffa machte sich zu dieser Zeit mit dem Beginn szenischen Gestaltens, dem verstärkten recitativo accompagnato und dem Arioso als Uberleitung zur Arie 121 gerade erst auf den Weg zur durchgesungenen Oper. In diesem Sinne wird man nunmehr beide Opern bearbeitet finden; ihre K o m positionen haben hie und da Freude gemacht, und so sind sie auf dem dramatischen Strom auch zu ihrer Zeit mit vorüber geschwommen. 1 2 2
Der Nachsatz ist deutlich ein Kommentar, in dem die Enttäuschung darüber mitschwingt, daß die Kompositionen eben nur >hie und da Freude gemacht< haben und ansonsten weitgehend folgenlos geblieben sind: Es war Goethe sowenig wie Wieland gelungen, eine vollständig gesungene deutsche Oper zu etablieren.123 Unter dem 10. Januar 1787 vermeldet Goethe an Frau von Stein: Erwin und Elmire kommt mit diesem Brief, möge dir das Stückchen auch Vergnügen machen. Doch kann eine Operette, wenn sie gut ist, niemals im Lesen genug tun; es muß die Musik erst dazu kommen, um den ganzen Begriff auszudrücken den der Dichter sich vorstellte. Claudine kommt bald nach. Beide Stükke sind mehr gearbeitet, als man ihnen ansieht, weil ich erst recht mit Kaysern die Gestalt des Singspiels studiert habe. 1 2 4
· " Vgl. Holtbernd (1992), S. 165. ' " F A I , Bd. 14, S. 467. ,2 ' Goethe HB, Bd. 2, S. 173. 124 FA I, Bd. 15.1,8.509-510.
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Goethe weist die mit den Regeln der Librettistik offenbar wenig vertraute Dame ausdrücklich auf den offenen Charakter der Texte hin. Dabei betont er, daß sich hinter dem scheinbar schlichten Text eine auf den ersten Blick nicht unbedingt sofort deutliche artifizielle Gestaltung verbirgt. Die Warnung hielt Goethe offensichtlich für nötig, um einem vorschnellen Werturteil der Freundin vorzubeugen. Gegenüber Frau v. Stein hebt er die Bedeutung Kaysers für die Umarbeitung der Stücke hervor: »um meinen Opern einen Grad von Vollkommenheit zu geben, kam der Züricher Kayser nach Rom«, 1 2 ' mit dem Goethe einen Fachmann der Komposition zur Seite hatte und in der engen persönlichen Zusammenarbeit die Struktur der Texte auf deren Vertonbarkeit ausrichten konnte. Ebenfalls am 10. Januar ging ein Brief an Herder ab, mit ähnlichem Inhalt: Hier kommt aus Rom abermals ein Pröbchen Deutscher Art und Kunst, Erwin und Elmire. Es ward eher fertig als Claudine, doch wünsch' ich nicht daß es zuerst gedruckt werde. Du wirst bald sehen daß alles aufs Bedürfnis der lyrischen Bühne gerechnet ist, das ich erst hier zu studieren Gelegenheit hatte: alle Personen in einer gewissen Folge, in einem gewissen Maß zu beschäftigen, daß jeder Sänger Ruhepunkte genug habe pp. Es sind hundert Dinge zu beobachten, welchen der Italäner allen Sinn des Gedichts aufopfert, ich wünsche, daß es mir gelungen sein möge, jene musikalisch theatralischen Erfordernisse durch ein Stückchen zu befriedigen, das nicht ganz unsinnig ist. Ich hatte noch die Rücksicht, daß sich beide Operetten doch auch müssen lesen lassen, daß sie ihrem Nachbar Egmont keine Schande machten. Ein italiänisch Opernbüchelchen lies't kein Mensch, als am Abend der Vorstellung, und es in Einen Band mit einem Trauerspiel zu bringen, würde hier zu Lande für eben so unmöglich gehalten werden, als daß man Deutsch singen könne.126 Von Herder erwartet Goethe, daß die artifizielle Struktur des Textes sich ihm erschließen sollte, schließlich hatte Herder selbst Librettoerfahrung. 127 Entsprechend hebt er die technischen Details des Textes hervor, und die Bedeutung seiner >Opernstudien< vor Ort, die ihm das Auge für die praktische Verwendung der Texte erst geschärft habe, ihn also davor bewahrte, die grundlegenden Fehler von >Scherz, List und Rache< zu wiederholen. Im Unterschied zu der Jahre später entstandenen Passage des >BerichtsSinn< der italienischen Texte ausdrücklich verteidigt, kritisiert er zumindest implizit Herder gegenüber noch deren Verfahrensweise, nach der den technischen Details mehr Gewicht beigelegt wird als 125 126 127
Ebenda, S. 510. Ebenda, S. 5 1 0 - 5 1 1 . Vgl. Bauman (1985), S. 150-152.
dem »Sinn« des Gedichts. Goethes eigene Intention ist damit klar umreißbar: Die umgestalteten Texte sollen den technischen und stofflichen Anforderungen der Gattung gerecht werden, also gut vertonbar und sangbar sowie heiter sein, und zugleich eine den Schauspielen vergleichbare artifizielle Gestaltung und Dichte haben - letzteres bedeutet vor allem Stringenz der Charaktere und Handlungsführung. Wenn Goethe noch ironisch vom Unverständnis der Italiener über seinen Anspruch, einen Operntext literarisch zu behandeln, sowie über die Sangbarkeit der deutschen Sprache reflektiert, so ist diese Ironie jedoch eher auf das deutsche Publikum gemünzt: Zwar nicht die Texte der Intermezzi, wohl aber die der Seria wurden im Italien des 18. Jahrhunderts als hohe Literatur betrachtet. Metastasio galt in Italien unangefochten als der größte Dichter italienischer Zunge seiner Zeit, was Goethe durch seine Lektüre Arteagas hinlänglich bekannt war. Auch aus der Buffa und Semiseria gibt es genügend Zeugnisse literarischer Textvorlagen: Angefangen mit Cavallis >GiasoneErsatz-GesangAlcesteErwin und Elmire< und >Claudine von Villa Bella< auf. Daß er dabei die 128 129
F A I , Bd. 1 5 . 1 , S. 5 I i . Eine Verfahrensweise, die auch Herder praktisch zeitgleich für seinen >Brutus< verwendete. Vgl. Goethe H B , Bd.2, S. 187 und Bauman (1985), S. 150.
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Quelle nicht nannte, ist verständlich. Obgleich der Streit über >Alceste< zu diesem Zeitpunkt beigelegt war, wollte Goethe einen Vergleich sicherlich vermeiden. Denn Wielands Oper war im Rahmen ihrer Möglichkeiten außerordentlich erfolgreich, was man von Goethes Versuch einer durchkomponierten Oper bislang nicht behaupten konnte. Unter dem 6. Februar schreibt Goethe (tatsächlich am 9. Februar an Herder): Hier ist nun der dritte Akt Claudinens; ich wünsche daß er dir nur die Hälfte so wohl gefallen möge, als ich vergnügt bin, ihn geendigt zu haben. Da ich nun die Bedürfnisse des lyrischen Theater genauer kenne, habe ich gesucht durch manche Aufopferungen dem Komponisten und Akteur entgegen zu arbeiten. Das Zeug worauf gestickt werden soll, muß weite Fäden haben, und zu einer komischen Oper muß es absolut wie Marli 1 3 0 gewoben sein. Doch hab' ich bei dieser, wie bei Erwin, auch fürs Lesen gesorgt. Genug ich habe getan was ich konnte. 131
Nochmals geht es um die Balance zwischen literarischem Gehalt und Vertonbarkeit des Textes. Dabei betont Goethe den offenen Charakter des Librettos, das mit Zwischenräumen auskommen muß, im Idealfall mit ihnen arbeiten kann. Die »musikalisch-theatralischen«132 Erfordernisse sollten sich mit artifiziellen Strukturen des Textes dergestalt verbinden, daß letztere auch unabhängig von der Vertonung deutlich werden sollten. Damit versuchte Goethe die nach dem Vorbild der opera buffa umgestalteten Singspiele ans Lesedrama wenigstens anzunähern und ihnen damit den Rang zu verschaffen, den die Libretti der opera seria und zumindest die besten Werke der italienischen Buffa hatten. 3.1. >Claudine von Villa Bella< Bei der Überarbeitung des Stückes wird das Personal reduziert und den dargestellten charakterlichen Aspekten stringenter zugeordnet: Im Zentrum stehen nun zwei Liebespaare, Rugantino (ehemals Crugantino) und Lucinde, die Nichte Claudines, sowie Pedro und Claudine. Die Doppelung des Liebespaares ist zwar nicht ausschließlich eine Verfahrensweise der opera buffa,' 33 sondern findet sich (im Unterschied zur opéra comique) auch im Norddeutschen Singspiel, wird aber in der italienischen Oper' 34 sehr viel konsequenter durchgeführt. Mit diesem Personalwech130
Anni. T.H.: Gazeartiges Gewebe mit gitterförmigem Fadenlauf. ' J ' F A I , Bd. 1 5 . ι , S. 554. 131 Vgl. Brief an Herder (Vgl. H A , Bd. 1 1 , 8.691) vom 10. Januar 1788. F A I, Bd. 1 5 . 1 , S. 5 1 1 . •33 Vgl. Bötcher (1912), S.58. '3-t Diese Verfahrensweise gilt für Seria, Semiseria und B u f f a gleichermaßen.
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sel ermöglicht Goethe, was in der ursprünglichen Konzeption ausgeschlossen war: ein echtes lieto fine. Goethe läßt jedoch nicht ein komisches und ein ernstes bzw. hohes und niederes Liebespaar aufreten, wie in der opera semiseria und auch im Norddeutschen Singspiel üblich, sondern zwei ernste und ebenbürtige Paare, die allein durch ihre charakterlichen Unterschiede dem Stück seine Variabilität geben. Pedro und Rugantino erscheinen jetzt als ebenbürtige Brüder: Pedro präsentiert sich in seinen Arien noch immer als der sanftere und empfindsamere, aber er ist nicht mehr der handlungsunfähige Schwächling der Erstfassung. Rugantino ist nicht aus Querköpfigkeit Vagabund, sondern weil sein (vom begünstigten Bruder so charakterisierter!) >harter Vater< ihn nach dem Tod der beschützenden Mutter davongejagt hatte. Pedro reist denn auch ohne Vormund und Strafintention (und ebenso wie sein Bruder inkognito) einzig mit dem Ziel, seinem älteren Bruder zurückzugeben, was diesem zusteht. Die sanfte Claudine ist dem ruhigen Pedro zugeordnet, ihre lebhafte Cousine Lucinde, die nun diejenige ist, die in Männerkleidern ihren Geliebten sucht und sich sogar mit dem Degen dem angreifenden Basco entgegenstellt, dem dynamischen Rugantino. Die Ambivalenz der Charaktere aus der Erstfassung ist zugunsten einer klar umrissenen Charakterzeichnung aufgegeben. Letztere ermöglicht nun, den charakterlichen Gehalt der dramatis personae in den Musikeinlagen zu vertiefen und so die Möglichkeiten der musikdramatischen Gattung voll auszuschöpfen. Für den Beginn des Stückes behält Goethe das durchkomponierte Vorspiel in Form eines Festzuges bei, in dem bereits das Verhältnis Lucindes zu Claudine geklärt wird. Die beiden Mädchen, die im Mittelteil hauptsächlich gemeinsam oder im Wechsel singen und damit beinahe identisch erscheinen, charakterisieren sich eingangs unverwechselbar durch ihre Arien. Dabei erscheint bezeichnenderweise als erste Lucinde, die in der überarbeiteten Fassung tatsächlich die Titelfigur dominiert. Goethe hatte an dieser robusten und lebenslustigen >Schwester< zu Rosette offenbar so viel Gefallen gefunden, daß er sie im Gegensatz zu der etwas blassen Claudine zu einer echten Buffaheroine gestaltete: Auf Claudines rezitativische Beschreibung Lucindes als »frohes Mädchen«, das »vom Morgen bis zur Nacht geschäftig, munter, das Mütterchen des Hauses«, also zugleich zufrieden und gegenüber der vom Vater verhätschelten und verträumten Claudine ausgesprochen aktiv und >bodenständig< ist, antwortet die so Beschriebene mit einer rokokohaften Arie auf Amors Pfeile, in der Momente der Bewegung und charakteristische Zischlaute dominieren: 226
Hin und wieder fliegen Pfeile; Amors leichte Pfeile fliegen Von dem schlanken goldnen Bogen; Mädchen seid ihr nicht getroffen? Es ist Glück! Es ist nur Glück.' 35 In dieser scheinbar leichtsinnigen, zweiteiligen Arie mit zwei aufeinander bezogenen Strophen ohne Binnenreim greift Goethe die aus >Scherz, List und Rache< bereits bekannte Arienform in der Nachfolge Glucks auf, die zugleich die häufigste Arienform der opera buffa ist.' 3é Die rokokohaftverkünstelte Terminologie bildet hier ein, allerdings sehr moderates, Persiflagesignal. Der strenge Bau der Arie steht im Gegensatz zu ihrem leichten Inhalt und drückt gemeinsam mit der Terminologie vom aggressiven Flug der Pfeile' 37 die Gefahren der Liebe aus, derer sich die realistische Lucinde in Anbetracht ihres unbekannten und offensichtlich auch etwas lichtscheuen Verehrers bewußt ist. Den Kontrast bildet Claudines romantischer (und nicht weniger topischer) Gesang auf die Blumen des Geliebten, die alle anderen Geburtstagsgaben an Wert übersteigen.' 38 Ihre Arie ist einsätzig mit am Ende wiederkehrenden Anfangsversen. Claudine ist, nach den Regeln der Oper, durch die Anzahl ihrer Gesänge als Heldin des Stücks definiert, sie hat drei Soloarien, Lucinde nur eine. Von der Handlung her betrachtet, >verschwindet< Claudine jedoch, sie erweist sich als handlungsunfähig. Am Ende reagiert Claudine markant mit einer gesungenen Klage auf den Verlust Lucindes, die stumm mit dem Degen zur Tat geschritten war.' 3 9 Pedro verabschiedet sich von Claudine mit einer fünfteiligen, szenischen Arie, in der er die Suche nach dem Bruder als eine Frage der Ehre der Liebe zu Claudine entgegenstellt. Goethe spielt hier mit dem beliebten Opern- und Oratorienstoff von der Wahl des Herakles, der sich zwischen Ruhm und Müßiggang entscheiden muß, respektive dem Opernhelden, der seine Geliebte für Ruhm und Reich (zeitweilig) verlassen muß. Ohne daß hier eine konkrete Oper auszumachen wäre,' 4 ° wird in Pedro eine Standardsituation der Seria persifliert, die den >Helden< hier in leicht ironiFA I, Bd. 5, S.669. '>6 Vgl. Goethe H B , Bd. 2, S. 187. 137 Der von dem topischen Penetrationssubtext des Bildes begleitet wird. ]>s F A I, Bd. 5, S.671. Die Geliebte, die in Männerkleidern und Waffen als zeitweilige Amazone nach ihrem verschollenen Geliebten sucht, ist eine ausgesprochen beliebte Konstellation der opera seria, die u.a. aus Ariosts >Orlando furioso< entnommen wurde. M ° Wieland hatte 1773 ein lyrisches Drama< mit dem Titel >Die Wahl des Herakles< publiziert. Vgl. Timpe (1977), S. 206.
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schem Licht zeigt: Sein ganzes Ruhmesstreben gilt nicht Krieg und Macht, sondern beschränkt sich auf die >EhreMit Mädeln sich vertragenIn dem stillen MondenscheineRugantino< ist eine Figur der römischen Stegreifkomödie, die den >typischen< Römer verkörpert, vergleichbar dem Pulcinell für den Neapolitaner. 1 ' 2 Goethe hatte wie auch Moritz und andere deutsche Romreisende die als >Intermezzi< betitelten opere buffe 1 S3 samt ihrer Darsteller ins Herz geschlossen: Zu den erklärten Lieblingen der Römer gehörte zur Zeit von Goethes zweitem Romaufenthalt der junge Kastrat Domenico Caporalini, dem Goethe und Bury in ihren Briefen den Beinamen Rugantino gaben.' 54 Auf Grund seines weiten Stimmregisters konnte er neben Frauenrollen (Sopran/Alt) nachweislich auch Männerrollen (Tenor) singen und wäre daher als Besetzung für Goethes gleichnamige Figur durchaus in Frage gekommen. 1 " Als seine große Stärke wurde sein natürlicher und leicht naiver Vortrag der Frauen und Mädchenfiguren gelobt. 1 ' 6 Wenn Goethe seinem Lieblingskastraten, dessen Stimme er bei der Umarbeitung im Ohr gehabt haben mag, wieder >die Hosen< anzieht und in seinem Namen den ambivalenten Helden der Frühfassung zu einem charismatischen Publikumsliebling umgestaltet, so ist dieser in keinem Fall als Karikatur zu verstehen. Tatsächlich ist Rugantino zum Prototyp der Sängerfigur nach bester Buffa-Manier geworden: Charmant, temperamentvoll, ein wenig draufgängerisch, aber absolut harmlos erscheint er als ein >Bruder< Figaros. Wo in der Frühfassung noch von den vielen unglücklich verlassenen Mädchen die Rede war, bleibt bei Rugantino nur noch der Liedanfang »Mit Mädeln sich vertragen ...«,' 57 was durchaus auch zu seinem Namenspatron paßt: Ihm gelingt das, wofür die jungen Kastraten bewundert und zuweilen auch gefürchtet wurden 1 ' 8 - durch den bloßen Gesang zu verführen. 1,2
Roberto Zapperi (1999), S. 128. ' » Moritz erzählt, daß in R o m außerhalb des Karnevals lediglich Kindertheater aufgeführt werden durfte. Daher fügte man die Kurzopern zwischen die Akte solcher Kinderstücke ein, welche damit als >Tarnung< für die Lustbarkeiten der Erwachsenen fungierten. Vgl. Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786-1788. Berlin 1981,8.329-333. IS4 Vgl. Zapperi (1999), S. 128. Bauman (1985: S. 255), Piper, Bd. 5, S. 201 geben den Namen des Vorbilds mit Rugantino Caporalini an, was impliziert, daß >Rugantino< vielleicht tatsächlich dessen Bühnenname war. Vgl. Zapperi (1999), S. 130. Vgl. ebenda, S. 1 3 1 . 157 Ebenda, S. 134. 's8 Etwa von Casanova, der unter der vorgeblichen Abscheu dieser femininen Männer seine Faszination nur unzureichend zu verbergen vermochte (wie sich in der sog. Bellino-Episode zeigt).
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Ohne die Benennung überstrapazieren zu wollen, läßt sie die Hauptfigur in androgynem Licht erscheinen: D a die Buffa, was dem Zeitgenossen selbstverständlich geläufig war, mit der Tradition der hohen Männerstimmen gebrochen hatte und im Unterschied zur Seria geschlechtsspezifische Stimmen (also Tenor und Bass für die männlichen Figuren) verwendete, war das Zeitalter des Kastratengesangs im Sinken begriffen. N u r in Rom waren sie auf Grund des Bühnenverbots für Frauen auch für die Buffa noch zwingend erforderlich: Für Frauenrollen, mit denen traditionell die jungen Kastraten debütierten und für die sie vom Publikum besonders verehrt wurden. Goethe und Moritz 1 5 9 reihten sich in diese Verehrung ein, was sich in Moritz' Reisebericht direkt niederschlug und Goethe nach seiner Heimkehr zu einer kleinen Abhandlung über >Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt< veranlaßte.' 60 Vergleichbar dem Thomas in >Jery und Bätely< bleibt Basco ambivalent: Als ehemaliger Verbündeter Rugantinos und Vagabundenhauptmann mit Gemeinschaftssinn ist er zwar durchaus sympathisch geschildert, aber seine gleichzeitige Brutalität zeigt sich beim Angriff auf Lucinde, der nicht weniger als eine intendierte Vergewaltigung ist. Die widerstrebenden Tendenzen in den Charakteren der Frühfassung sind in der Italienischen Fassung in verschiedene Figuren aufgeteilt, die nun miteinander in Wechselgesang treten können, wodurch die dramatischen Möglichkeiten der musikdramatischen Gattung erst voll ausgeschöpft werden. D i e s f ü h r t d a z u , d a ß d a s d i a c h r o n e P r i n z i p der H a n d l u n g s f ü h r u n g teilweise mittels m u s i k a l i s c h e r o d e r s z e n i s c h e r E l e m e n t e d u r c h d a s s y n c h r o n e P r i n z i p ersetzt w i r d [...]. D a s m u s i k a l i s c h e P r i n z i p , d u r c h d a s eine s o l c h e S t r u k t u r erm ö g l i c h t w i r d , ist die M e h r s t i m m i g k e i t . D i e d r a m a t i s p e r s o n a e k ö n n e n gleichzeitig z u s a m m e n singen, o b w o h l sie m ö g l i c h e r w e i s e einen jeweils a n d e r e n Text haben.16' Vgl. Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien, S. 330. 1788 im >Teutschen Merkur< veröffentlicht. Vgl. WA I, Bd. 47, S. 270-274. Goethe faszinierte gerade der erhöhte Abstraktionsgrad der Darbietungen: »so entsteht ein doppelter Reiz daher, daß diese Personen keine Frauenzimmer sind, sondern sie vorstellen. Der Jüngling hat die Eigenheiten des weiblichen Geschlechts in ihrem Wesen studiert; er kennt sie und bringt sie als Künstler wieder hervor; er spielt nicht sich selbst, sondern eine dritte und eigentlich fremde Natur.« (S. 272). Auch wenn die Betrachtung sich explizit auf die Darbietungen des Sprechtheaters bezieht, »Von den Opern kann eigentlich hier die Rede nicht sein, indem die schöne und schmeichelhafte Stimme der Kastraten, welchen noch überdies das Weiberkleid besser als Männertracht angemessen scheint, gar leicht mit allem aussöhnet, was allenfalls an der verkleideten Gestalt unschickliches erscheinen möchte.« (S. 270), so steht doch Caporalini deutlich hinter diesen Beschreibungen, dessen Spezialität gerade in der Darstellung junger Frauen und einer buchstäblich >bezaubernden< Naivität seines (Bühnen-)Charakters lag (vgl. Moritz: 1981, S. 330). ,Scherz, List und Rache< im Wege steht. Während die erste Fassung mit einer deutlich ambivalenten Konfliktlösung aufwartete, weist die Spätfassung durch Ironiesignale auf die Ambivalenz der Gattung hin: Basco: Und wie man sonst ein theatralisch Werk Mit Trauung oder Tod zu enden pflegt; So, fürcht' ich, unser schwärmend lustig Leben Wird sich mit einer schalen Ordnung schließen. 162
Das >Ordnungsbedürfnis< (tot oder verheiratet) der (musik-) theatralischen Gattungen wird später nochmals von Pedro als künstlich-künstlerisches Harmoniebedürfnis reflektiert: »Kaum ist der Bruder mir wiedergefunden,/ist ihm auch eine Geliebte nicht weit.«'63 War in >Jery und Bätely< mit Thomas der Kommentar einer Außenseiterfigur zugewiesen, wird er nun verschiedenen dramatis personae in den Mund gelegt, die damit ihre eigene Geschichte kommentieren. Die Mehrschichtigkeit der Charaktere aus der Frühfassung ist zu einer Mehrschichtigkeit der Dramaturgie geworden, die durch die Varietät der verwendeten dramatischen Formen noch erweitert wird: die reichhaltigen Ensembles und die finali der Aktschlüsse sowie der verstärkte Einsatz der Pantomime sind Elemente der opera buffa, ohne daß >Claudine< jedoch akribisch deren Verfahrensweisen umsetzte: So widerspricht die individuelle Charakterzeichnung gerade den relativ fest umrissenen Typen der Buffa, die diese aus der commedia dell'arte übernommen hatte und die sich in den 1780er Jahren erst langsam auflöste. Die Italienische Fassung der >Claudine< ist eine dramaturgische Verbesserung des Singspiels unter Verwendung von Elementen der Buffa 104 und entlang der in >Jery und Bätely< entwickelten dramaturgischen Fuktionalisierung der Gesänge 16 ' hin zu »einer sich Buffa-Strukturen annähernden musikdramatischen Konzeption«.166
162
164
,66
F A I , Bd. 5, S. 709. Ebenda, S. 716. Vgl. Bötcher ( 1912), S. 60-134. Vgl. Holtbernd (1992), S . 2 7 f f . Ebenda, S . 7 1 .
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3-2. >Erwin und Elmire< >Erwin und Elmire< wurde nach ähnlichem Prinzip umgestaltet wie >ClaudineDie Laune des Verliebten< zurück, in dem ein glückliches Paar einem problematischen zum Glück verhilft (und dabei beinahe selbst seine Harmonie einbüßt). Valerio und Rosas Eingangsduett, mit dem das Stück eröffnet, ist im Wechsel von drei- und vierhebigen Daktylen, einer zumindest für die Singspiele ungewöhnlich langzeiligen Versform verfaßt. Der Daktylus gehört zu den wichtigsten Metren für die Nachdichtung antiker Epen. Hier schöpft sein klangvoller, edler und zugleich heiter-gelassener Charakter die Stimmung einer Pastorale nach: Valerio und Rosa erscheinen als idealharmonisches Liebespaar, und der erste Auftritt macht bereits deutlich, daß der später auftretende Eifersuchts-Konflikt nur temporärer Natur sein kann. Bernardos dreiteilige Arie aus der Erstfassung übernimmt nun Valerio. Sie wird pantomimisch ergänzt, am Ende fällt Rosa mit ein und so kommt das Paar in der Welt der Buffa an. Die dreisätzige Arie mit abschließendem Duett ist eine szenische Parlandoarie, die den antikisch-idealen Gesang vom Anfang greifbar werden läßt, indem sie die Vertrautheit eines Paares zeigt, in dessen Zusammengehörigkeit sich die Harmonie des Kosmos spiegelt: »Das ist euer Bild, ihr Götter/Sehet, Götter, euer Bild.« 107 Die trotz gelegentlicher Streitereien einander genau wie Rosette und Flavio zugeordneten Valerio und Rosa sind schon durch ihre Namen dem südlichen, arkadischen Prinzip bzw. der heiteren Buffa näher als Erwin und Elmire, die als Konfliktpaar weiterhin die Vertreter des Singspiels bilden. Wie in >Claudine von Villa Bella< ist keines der beiden Paare noch ihre Situationen wirklich >komischClaudine< fehlen die >erwachsenen< Mittler- und Vormundsfiguren. Die auftretenden jungen Leute sind erwachsen, mündig und selbstverantwortlich geworden und stehen in einem idealen Umfeld, von dem sie in keiner Weise abhängig sind. Die Konflikte sind daher nun nicht mehr gesellschaftliche, sondern reine Beziehungskonflikte. Dies als eine >Verflachung< des Stücks zu bezeichnen,' 68 übersieht, wie differenziert die Konflikte dargestellt werden. 167 168
F A I, Bd. 5, S.630. Vgl. v. Ingen (1990), S. 120.
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Anders als in der frühen Fassung, deren Gesänge den Prosatext doppelten und bestenfalls ergänzten, beginnen die Gesänge nun zu interagieren: Rosa und Valerio übernehmen den Anfangsgesang der Mutter aus der ersten Fassung, in dem sie Elmire für die Lockungen der Natur und des Frühlings begeistern, und so von ihrem Kummer ablenken wollen. Elmire wehrt sich nun nicht wie in der Erstfassung gegen die Intervention, sondern geht mit der Übernahme und Modifikation des Gesangs auf ihre Argumentation ein. Sie macht jedoch deutlich, daß das gut gemeinte Ablenkungsmanöver ihre Konflikte nicht lösen kann. Der idealen Harmonie im Eingangsgesang steht der zentrale Konflikt im Lied >Das Veilchens gegenüber. Vielleicht nicht zufällig wählte Mozart das Stück zur Vertonung, 169 die zur »dramatic scene« und »miniatur opera«' 70 geriet. Tatsächlich ist diese Tendenz in dem Lied bereits angelegt, wenn man seine Einbindung in den Dramenkontext berücksichtigt: Das Lied Erwins wird von den drei verbleibenden dramatis personae vorgetragen, wodurch Erwin, in Gestalt seines geistigen Eigentums, erstmals in Erscheinung tritt. Rosa und Valerio übernehmen die handlungsbeschreibenden Abschnitte, Elmire singt die Empfindung des Veilchens, das eine Projektion Erwins ist, und beweist damit, daß sie sich bereits in dessen Situation einfühlen kann. In der nachfolgenden Exegese des Liedes analysiert sie denn auch selbständig ihr Fehlverhalten, wodurch sie unter Beweis stellt, daß sie tatsächlich weder einen Vormund noch eine eingefädelte Täuschung wie in der ersten Fassung zur Lösung ihres Konflikts benötigt. Die Gesangseinlage wird zwar als Lied definiert 171 und entspricht auch Goethes Definition eines tradierten Gesangs, jedoch offenbart sie durch ihren allegorischen Zusammenhang mit der Dramenhandlung den (hochgradig) ariosen Charakter. Das >Lied< erscheint als Spiel im Spiel, als Spiegel der Handlung, den Elmire sich vorhält. Da Elmire anders als in der Erstfassung den ariosen Charakter (es handelt sich um eine Schilderung der emotionalen Situation Erwins) des Liedes erkennt und akzeptiert, kann sie den Konflikt in der dem Gesang nachgestellten Allegorese auch ohne die Hilfe übergeordneter Mentoren selbst analysieren und damit die Basis für seine Lösung legen.
169
Der einzige Text Goethes, den Mozart vertont hat, und dies im Falle des >Veilchens< ohne den Verfasser zu kennen: Das Veilchen war anonym in einer Gedichtsammlung abgedruckt, die Mozart verwendete. 170 Carl Schachter: Mozart's Das Veilchen. In: The Musical Times, Bd. C X X X , Nr. 1753, March 1989, S. 1 5 5 - 1 5 9 . • 7 ' F A I , Bd. 5, S.634.
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Der in >Das Veilchen< geschilderte Zentralkonflikt ist als einziger von den zahlreichen überlappenden Konflikten der Frühfassung verblieben, das gesamte Libretto wird damit zur Exegese des >VeilchensScherz, List und Rache< den zunächst zeitlich außerhalb der Dramenhandlung liegenden Sachverhalt und fungiert damit als nachgestellte Exposition. Zusätzlich ermöglicht sie in der Kombination von Allegorie und Gesang Elmire die distanzierte Analyse ihrer eigenen Probleme, auf die unmittelbar die entsprechende Handlung folgen kann. »Mittels der Konzentration auf ein Lied gelangt Goethe zu einer neuen Form des Theaters, in dem das lyrische Element zum Träger der dramatischen Handlung wird.« 172 Elmires da capo-Arie ist der dramatische Höhepunkt und wirkt in dieser Linie sich steigernder Gesänge nicht mehr überspannt. Zugleich erfüllt sie wie Jerys da capo eine Brückenfunktion zum nächsten Konflikt der Handlung: Weil Valerio sich so intensiv um die verzweifelte Freundin kümmert, wird Rosa eifersüchtig und entfernt sich schmollend. Valerios Vorschlag, den Einsiedler um Rat nach dem verschwundenen Erwin zu fragen, ist keine List, da Valerio diesen noch am Leben vermutet. An Stelle von Bernardo singt nun Valerio das Tröstungsduett, wobei er Elmires Hände nimmt. Die vorbeikommende Rosa nimmt die >Tröstung< Valerios wörtlich, was ihr dann doch zu weit geht, und schaltet sich in bester BuffaManier scheltend in das Duett ein. Das Versprechen zu helfen, Hoffnung auf der einen, das MißVerständnis und Wut auf der anderen Seite vollziehen sich in dem dreiteiligen Ensemble. Die nachfolgenden Rezitative sind nur noch Erläuterung und vermögen den Eindruck des Duetts nicht mehr auszulöschen. Noch bemüht sich Valerio um Aufklärung, aber als Rosa ihm ihre unbegründete Eifersucht in einer Arie entgegenschleudert, ist er so verletzt, daß er aufbrausend ebenfalls in einer Arie die Trennung von Rosa verkündet. In einem für die Buffa typischen Streitduett vollzieht sich die Entzweiung des zuvor harmonischen Paares. Den Gesängen wird dramaturgisch höheres Wirkungspotential verliehen als dem rezitativischen Text: Sie erscheinen als die Knotenpunkte, in denen sich die Umschwünge der Handlung vollziehen. Dabei können sie sowohl erkenntnisfördernd als auch täuschend wirken. Valerio geht nach einer pathetischen zweisätzigen Abgangsarie, die die Mädchen als den kümmerlichen Rest der Partie zurückläßt. Ihnen bleibt das finale als bloßes Duett überlassen, was jedoch durch den Reichtum an dramatischer Handlung aufgefangen wird: Rosa wird durch den Abschiedsbrief ValeHoltbernd (1992), S.83.
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ríos in Verzweiflung versetzt, wodurch Elmire aus ihrer Lethargie erwacht und nun beide sich zum Einsiedler aufmachen. Auf seiner >Flucht< ins Gebirge trifft Valerio auf Erwin, der inzwischen an Stelle des verstorbenen Eremiten dessen Hütte bewohnt. Sein Gesang »Ihr verblühet, süße Rosen« wird gefolgt durch eine klassische da capoArie. D e r Α-Teil verknüpft die Ruhe des verstorbenen Einsiedlers mit der Ruhe, die sein Andenken in Erwins Herz bringt. Der aufbrausende B-Teil demonstriert dagegen die noch immer nicht überwundene Sehnsucht nach Elmire. Mit dieser von ernsthaften Gefühlen getragenen, traditionellen Arienform erhält der Liebeskonflikt eine von Ironiesignalen freie, klassische Größe. Zudem wird der Einsiedler, der in der Frühfassung als bloße Hilfskonstruktion erschienen war, als ein Ratgeber eingebunden, der über seinen Tod hinaus beruhigenden Einfluß hat. Der tote Einsiedler erhält durch die Arie (vergleichbar Erwins zuvor durch das >Veilchengoldnen< Locken den >Nymphen dieser Stilles wobei die Wortwahl bereits zeigt, daß er durchaus nicht daran denkt, dem schönen Geschlecht vollständig zu entsagen. Als Valerio Erwin Trost und Glück andeutet, zeigt dieser in einer emphatischen zweisätzigen Arie seine Zerrissenheit: Im ersten Teil bittet er Valerio um Ruhe, um ihn im zweiten Teil kopfwendend auszufragen. U n terdessen erspäht Valerio bereits die Mädchen auf der Suche nach ihren flüchtigen Freunden. Die Intrige beschränkt sich nun darauf, Erwin kurz als den verstorbenen Einsiedler auftreten zu lassen. Valerio erschreckt derweil Rosa mit düsterer Mine und kurzgeschorenem Haar, was sie in einer elegischen zweisätzigen Arie das vermeintliche Gelübde ihres Geliebten betrauern läßt. Elmires Auftritt ist mitsamt ihrer Gesänge aus der Frühfassung übernommen und bildet mit dem hoffnungsvollen, jambischen Schlußteil eine durchgesungene Szene mit nur einem kurzen rezitativischen Einschub. Auf Elmires Gesang >Sieh mich Heilger, wie ich bin,< folgt eine melodramatische Pantomime und auch die anschließende Anrede an den >Heiligen< ist für den Fall einer nur deklamierten Aufführung in jedem Fall als melodramatischer Text definiert, wodurch ihre schlichte Rede etwas von dem ernsten Pathos des Melodramas erhält. Erwins begeisterter Freudengesang ist gegenüber der Frühfassung auf eine zweisätzige Arie reduziert, deren Text im wesentlichen aus den Zeilen »Sie liebt mich« besteht. Die Gesänge der neunten Szene übernahm Goethe weitgehend aus der Frühfassung, wobei Valerio Bernardos Part zukommt. Lediglich durch ein kurzes Rezitativ unterbrochen, schließt 2
37
das finale mit Erwin und Elmires Versöhnung, (Valerio und Rosas hat sich nebenbei schon vollzogen) und vereint alle Stimmen im Schlußchor. 3.3. Die Italienischen Fassungen: Primat des Textes versus Autonomie der Musik? In den Spätfassungen wird der Schauspielcharakter zurückgedrängt, zeitgenössische Themen und Diskussionen wie die über Töchtererziehung und Volkspoesie entfallen zugunsten einer komplexeren Gestaltung der Gesänge und ihrer Bezüge. Die Mehrdeutigkeit von Personen und Handlungszusammenhängen wird durch eindeutige Zeichnung der dramatis personae aufgelöst und ermöglicht damit eine vielschichtige Darstellungsweise. Die Anlage eliminiert die >unlösbaren Konflikte< der frühen Fassungen und ermöglicht damit das echte lieto fine der Oper, dennoch werden in beiden Stücken ernste und dramatische Konflikte verhandelt. Die Zentralfiguren sind >erwachsen< geworden: Sie sind nicht mehr von Eltern und Mittlerpersonen umgeben, die zuraten oder eine Intrige zu ihrem Wohl spinnen müssen. In >Claudine< und besonders in >Erwin und Elmire< treten die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zurück, wodurch die Konflikte von der Gesellschaft auf das Individuum verlagert und damit erst zum lieto fine vollständig lösbar werden. 173 Das seit >Jery und Bätely< entwickelte Verfahren, der Handlung die entscheidenden Impulse durch die Gesangseinlagen zu geben,' 74 und die Dramatik damit gerade in das vorgeblich statische Element des Musiktheaters zu verlagern, wird in den Italienischen Fassungen von >Claudine< und >Erwin und Elmire< weitergeführt. Die Italienischen Fassungen lassen sich daher »eher als eine Weiterentwicklung denn als Gegenmodell zu den Erstfassungen verstehen.« 175 Die literarischen Qualitäten aus den Prosapartien der frühen Fassungen werden somit nicht >ersatzlos gestrichen^ wie v. Ingen behauptet, 176 sondern durch spezifisch librettistische und hochgradig artifizielle Strukturen ersetzt. V. Ingen postuliert, die Singspiele, beginnend mit den frühen Fassungen über >Jery und Bätely< sowie der >Fischerin< zu den Italienischen Fassungen, bildeten bezüglich ihres literarischen Werts eine absteigende 171
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Entsprechend hat Goethe in der späten Überarbeitung von >Jery und Bätelys das gerade keinen harmonischen Schluß hat, den Schluß dem Kommentar des Thomas überlassen. Vgl. Holtbernd (1992), S.35. Ebenda, S. 56. V. Ingen (1990), S. 119. 238
Linie.' 77 In einer an Oberflächlichkeit kaum zu überbietenden Gegenüberstellung der Stoffwahl mit der der Weißeschen Operetten 178 werden die Werke auf ihren bloßen Inhalt reduziert und konstatiert, in ihnen manifestiere sich »daß Goethe sich immer mehr von seinen anfänglichen Zielen entfernt hat, die auf eine Literarisierung des Singspiels gerichtet waren.«' 79 Dabei übersieht er die von Holtbernd nachgewiesene artifizielle Gestaltung ebenso, wie das in den vorangegangenen Kapiteln dargestellte, differenzierte Verhältnis zu den historischen Vorlagen der Gattung. Goethes Auseinandersetzung mit den Erfordernissen der Komposition, seine wiederholte Beteuerung, den Komponisten nicht unnötig in seiner Freiheit beschneiden zu wollen und sein spätestens seit den Italienischen Fassungen (tatsächlich seit den >Ungleichen HausgenossenPoesie der Musik subordinier e n zu wollen und zu können, beschreibt lediglich die Rücknahme seiner insbesondere an >Scherz, List und Rache< entwickelten Intention, die Komposition durch die Textgestaltung bereits zu determinieren. Daß Goethes Vorstellungen von Librettistik sich tatsächlich über weite Strekken mit denen des romantischen Dichters, Librettisten und Komponisten E.T.A. Hoffmann decken,' 83 spricht weniger für Goethes grundsätzliche ' 7 7 Symptomatisch für v. Ingens Artikel ist, daß er sich häufig auf Otto Janowitz zweiteiligen Artikel >Goethe als Librettist bezieht, der praktisch alle überkommenen Negativurteile bezüglich Goethes Opernschaffen zusammenfaßt, was jedoch mit dem frühen Entstehungsdatum teilweise entschuldigt werden kann. Vgl. Janowitz (195 5), S. 265-276. 178 Vgl. v. Ingen (1990), S. 1 1 3 - 1 1 4 . Ebenda, S . 1 1 7 . ' 8o Ebenda, S. 122. 181 Vgl. das Kapitel über Goethes Ubersetzung von Diderots Dialog >Rameaus Neffeautonom< voneinander (d.h. ohne hierarchisches oder Anhängigkeitsverhältnis) jedoch gemeinsam zum musiko-dramatischen >Totaleffekt< der Oper wirken. In diesem Sinne betrachtet Hoffmann auch Beethovens Symphonik als szenische Musik, die sogar ohne Text auskommt (vgl. Rohr 1985: 142-144). Der u.a. von Lubkoll (1995) bearbeitete >Mythos< autonomer Instrumentalmusik in der Frühromantik ist dagegen ein reines Textphänomen, und zudem auf fiktionale Texte beschränkt. Er ist somit vor allem als poetologische Konstruktion zu verstehen. Erst deutlich später entsteht auch eine praktische Musik, die den romantischen Postulaten gerecht wird. 185 Auf dieses Faktum und seine Bedeutung wird im Zusammenhang mit der Betrachtung des >Faust II< noch ausführlich zurückzukommen sein. 186 Was natürlich nicht bedeutet, daß er Instrumentalmusik gänzlich ablehnte, er verweigerte ihr lediglich das romantische Postulat von der höchsten Gattung. ·>? WA IV, Bd. 7, S. 277 (Brief 2431).
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mag, wenn sie sich des Wortes annimmt und es »wie ein einströmendes Gas, den Luftballon mit in die Höhe« nimmt.' 88 Die Frage nach dem Primat des Wortes oder des Tons läßt sich für Goethes Musikästhetik nicht eindeutig klären, sie tritt zurück gegenüber dem Primat des Gesangs: Dieses findet sich bereits in Goethes früher Singspielästhetik, wird bestärkt in der Opernästhetik der klassischen Periode, ist Grundlage von Goethes Melodramen und melodramatischer Schauspielgestaltung bis hin zu den Festspielen und >Faust IIDie Mystifizierten (>Groß-CophtaRe Teodoro< jene Integration einer ernsten Fabel in die opera buffa erkannt, wegen der das Stück auch heute noch als
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Anm. T.H.: F A I, Bd. 6, S. 943 gibt fälschlicherweise »Monsieur de Courville« an (vgl. W A IV, Bd. 8, S.168). "'s Ebenda. 1,6 Nach dem Muster der Seria. 197 F A I, Bd. 16, S. 566.
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epochemachendes Werk gilt,198 in dessen Libretto die Gattungsbezeichnung >eroitragico< mit einer bis dahin unerreichten Ambivalenz zwischen Komik und Tragik einer einzelnen Gestalt umgesetzt wird. Die Halsbandgeschichte war der Geschichte Castis grundsätzlich sehr ähnlich, und Goethe hat diese Ähnlichkeit in seiner Bearbeitung des Stoffes noch verstärkt: Während bei Casti der Betrüger nicht einfach als ein durchtriebener, sondern durchaus empfindsamer und ansatzweise tragischer Mensch geschildert wird, sind es in Goethes Opernkonzept die Mitglieder der Gesellschaft, die fast ausnahmslos sowohl Betrüger als auch Betrogene sind. 1 " Und wie bei Casti mit der Enttarnung des >Re Teodoro< als eines Bankrottiers am Ende Recht und Ordnung einen bitteren statt eines strahlenden Sieges davontragen, ist bei Goethes Konzeption ein wirkliches lieto fine diesmal schon durch die Anlage des Stückes ausgeschlossen. Die Buffa bot die Möglichkeit, das Lächerliche der Affäre darzustellen, und zugleich die darunterliegende Tragik und vor allem Tragweite der Affäre zu eröffnen. Entsprechend modifizierte Goethe die historischen Begebenheiten: Die Beteiligten treten nach Buffa-Manier in leicht durchschaubaren Masken auf: Dem skrupellosen Betrüger steht die kaum weniger skrupellose, weil verarmte Madame Courville mit ihrem Gemahl gegenüber. Statt der an dem Komplott beteiligten Mätresse führt Goethe die Nichte der Mdm. Courville als unschuldiges Mädchen ein, das den Nachstellungen des Mannes ihrer Tante ausgesetzt ist. Im Unterschied zum späteren Drama hat sie ihre Unschuld noch nicht ganz verloren, auch wenn sie bereits davon überzeugt ist: Im Beichtstuhl hat es mir der Pater oft gesagt Mit einem Kuß sei auch die Unschuld hin. Ich werde, ich Arme Mit Schanden bestehn, Ich werd ach ich werde Die Geister nicht sehn. 200
198
200
Vgl. Sabine Henze-Döhring (1986), S. 1 1 0 - 1 2 0 . Herbert Kraft hat die Lustspielfassung (Groß-Cophta) als Allegorie auf eine Gesellschaft analysiert, in der die Aristokratie ihre Herrschaftslegitimation bereits aus einem Betrugssystem bezieht, das Titel mit entsprechender Befehlskompetenz an die Stelle von Individuen gesetzt hat und das daher vom falschen >Grafen< problem- und kampflos gleichgeschaltet werden kann. Vgl. Herbert Kraft: »... alle Jahre einmal als ein Wahrzeichen«. Goethes Lustspiel Der >Groß-CophtaKuß< zeigt an, wie weit sie der Verführung bereits nachgegeben hat und präfiguriert zugleich den Grad, zu dem sie in die spätere Intrige verwickelt sein wird. Ihr zugeordnet ist ein namenloser Ritter, der nach der Tradition der Buffa in der ursprünglichen Konzeption sicherlich ihre Liebe gewinnen und mit ihr ein halbwegs glückliches Ende finden sollte. Diesen aufrichtig liebenden und unschuldig in Bedrängnis Geratenen steht mit dem Abbé, der eigentlichen Zentralgestalt, ein tragikomischer, weil Don Quichottisch für die Prinzessin schwärmender Kleriker gegenüber. Wie >Re Teodoro< ist er kein Buffo mehr von der Familie der übertölpelten Tröpfe, sondern ein dekadenter Schwärmer von für die Zeitgenossen bedrückender Wahrscheinlichkeit. Goethe gelingt es, seinen zwischen aufrichtiger Liebe und Überspanntheit changierenden Charakter sowie die literarische bzw. in diesem Falle genuin opernhafte Prägung seiner fixen Idee in den wenigen Zeilen eines Arioso auszudrücken: Sieh ein Chor von Amoretten Sie bereiten Rosenbetten Schlingen sanfte Blumenketten Tändelnd mir um Arm und Brust. 201
Diese spanischen Trochäen bilden eine vertraute Romanzenstrophe in genuiner Opernsprache, die den Mangel an authentischem Gefühl ebenso deutlich macht wie die Herkunft der Empfindung: Sie entstammt, genau wie die absurde Schwärmerei des Abbé für seine Fürstin, dem Vorbild der Bühnenhelden, die ihren Empfindungen in der zitierten manirierten Terminologie Ausdruck geben. Das Buffasujet der Opernparodie ist zum Mittel der Charakterisierung der Figur geworden und damit funktional in die Handlung eingebaut. Bezugspunkt ist der Minnesangstopos des hoffnungslos Liebenden bzw., wie der Gesang der Nichte später verweist, der des gegessenen Herzens. Wahrscheinlich handelt es sich hier um einen Verweis auf die im Fahrwasser von Grétrys Erfolgsoper >Richard Coeur de Lion< (Paris 1784) entstandenen Opern mit mittelalterlichen Topoi, und damit auf den ästhetischen Ort des Geschehens: die französische Adelsgesellschaft. Die Tendenz findet sich wieder im Gesang des Abbé bei der Übergabe der Juwelen an die betrügerische Mdm. Courville. F A gibt die Verse wie 201
Ebenda, S. 12.
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auch die nachfolgende Beschwörungsszene des Grafen ohne Einzüge, also als Prosa- bzw. Rezitatiwerse wieder. Allerdings sind sie durch die strophische Unterteilung sowie das modifizierte da capo in der dritten Strophe und die Verwendung der Romanzenstrophen schon formal als Arie aufgebaut. 202 Auch inhaltlich folgt der Gesang den Anforderungen einer Arie, indem der Abbé seine ganze Liebe und Hingabe an die Prinzessin zum Ausdruck bringt. Dabei wird der Topos des >Kriegszugs aus Liebe< und die Selbstaufgabe zu Ruhmestaten auf ein Wort der Herrin zitiert, in Verbindung mit der letzten Mode der zeitgenössischen Oper: dem türkischen Schauplatz.203 Ihre Komik erhält die Passage vor allem durch das Mißverhältnis zwischen der äußeren und der besungenen Situation, denn es ist ein verweichlichter junger Kleriker, der im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts für ein Rendezvous mit seiner Fürstin (!) in den Krieg gegen die Türken ziehen will. Die Beschwörungsszene des Grafen gibt F A ebenfalls komplett linksbündig gedruckt wieder, jedoch erscheint sie in der späteren Dramenfassung als einzige gesungene Szene und dies großteils unter Verwendung der frühen Verse. Allerdings sind sie hier dem Grafen zugeschrieben, während sie später von Chören vorgetragen werden. Laut Regieanweisungen handelt es sich definitiv um gesangliche Äußerungen und auch formal wird mit der Romanzenstrophe das gesangliche Versmaß verwendet. Lediglich zwei der Entwurfsblätter weisen ungereimte Prosa auf (die Vorrede des Abbé zu seinem Arioso und zwei Zeilen der Mdm. Courville). Vermutlich handelt es sich hier um Entwürfe, denn der Rest der Verse ist durchgängig versifiziert und gereimt. Vorherrschendes Metrum ist hier wie in den früheren Werken der daktylische Zwei- und Dreiheber, kontrastiert durch vierhebig-trochäische Romanzenstrophen. Prinzipiell finden also dieselben Formen Verwendung wie in den Überarbeitungen der Singspiele und in ähnlicher Variabilität. Der Opernentwurf umfaßt drei Akte, wovon das finale des zweiten Akts die längste voll ausgearbeitete Passage ist: Es zeigt die gespielte Hellseherei der Nichte in dynamischen zweihebigen Daktylen, unterbrochen 20
* Goethe hat die Einzüge, die in den meisten Fällen das Hauptmerkmal der Gesänge sind, sehr sorgfältig behandelt und auch in den handschriftlichen Fassungen bereits kenntlich gemacht. Besondere Bedeutung kommt ihnen für den zweiten Teil des >Faust< zu, da hier keine Endredaktion von Goethes Hand vorgenommen werden konnte. Dort zeigt sich ein Befund, der hier eine frühe Bestätigung findet: Bei Partien, die auf einer neuen Seite beginnend ohne Mediumswechsel fortlaufen, können Einzüge z.T. nur sehr unsicher definiert werden. In diesem Fall müssen Form und Inhalt für eine Zuordnung stärker berücksichtigt werden.
203
F A I, Bd. 6, S.14. 2
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von den Zwischenrufen der übrigen Anwesenden. In den kurzen Einwürfen wird das Metrum beibehalten, die Ensemblepartien und längeren Zwischenrufe sind dagegen durch den Metrumswechsel zum vierhebigen Daktylus abgesetzt. Die Zwischenrufe treiben die dramatische Schilderung der Nichte voran, wogegen die Ensemblepartien nach dem Prinzip des Chores kommentieren, aber auch wieder zum Geschehen überleiten: O weh was soll ich sagen? Mir schaudert ach mir schaudert! Ich fürchte mehr zu hören Doch sprich o sprich nur fort.
Und wenig später: Hier ist, hier ist der Knoten, Er liegt zu fest geschlungen Ich fürcht' er wird ich fürchte Nicht wohl zu lösen sein. 204
Die dramatische Passage wird mit zwei gereimten Versen eingeleitet, dann verliert sich der Reim, erscheint wie bei >Scherz, List und Rache< >weder gesucht, noch gemiedene Daß Reichardt die 1789 fertiggestellten Teile bei einem Besuch in Weimar gleich vertonte und Goethe in der Folgezeit und später immer wieder bedrängte, das Werk fertigzustellen, ist nur zu verständlich: Die vorhandenen Partien zeigen deutlich, daß Goethe tatsächlich in Italien >viel gelernt hatte und nun nicht nur bereit, sondern auch befähigt war, >die Poesie der Musik zu subordinieren^205 Goethes Text steht auf der Höhe der buffa-Librettistik seiner Zeit: D y namische, handlungsreiche Partien sind ebenso in die Gesänge integriert wie kontemplative, retardierende Momente. Goethes Text lädt den Komponisten dazu ein, am Faden der Worte eine klanglich-gesangliche Charakterisierung der dramatis personae vorzunehmen. Dabei gelingt ihm nun endlich, woran die früheren Libretti zum Teil gekrankt hatten: Die Bündigkeit, mit der die dramatis personae nun in wenigen Zeilen ihr Wesen zum Ausdruck bringen. Die Typen- oder Maskenhaftigkeit der dramatis personae, die Herbert Kraft als das wesentliche Charakteristikum auch noch der Dramenfassung von 1791 ausgemacht hat,206 ist eine Signatur der zeitgenössischen Librettistik, die ihre Figuren erst langsam mit individuellen Zügen auszustatten begann. Goethe behielt dieses Spezifikum 204
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Ebenda, S. 16-17. An Kayser, 14.8. 1787. W A IV, Bd. 8, S. 245. Vgl. Kraft (1984), S. 279-281.
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des Librettos für die Dramenfassung ebenso bei wie das gebrochene lieto fine, worin sich zeigt, wie halbherzig er sein Libretto zur >Komödie< umschuf und sicher darauf spekulierte, es anschließend erfolgreich als Libretto zu bearbeiten. Die Irritation, die das Stück bei seiner Premiere auslöste, und die Kraft auf die problematische Typik der Charaktere zurückführt, 207 rührt wesentlich aus der Ambivalenz zwischen Komödie und Tragödie her, die den idealen Stoff für eine avantgardistische opera buffa hergegeben hatte, auf dem reinen Sprechtheater dagegen nicht realisierbar war. Warum Goethe auch dieses vielversprechende Fragment liegen ließ und das, obwohl einer der bedeutenden Komponisten der Zeit ihn vermehrt um die Fertigstellung bat, bleibt Spekulation. In Briefen schiebt er immer wieder die Ferne zu Reichardt und zu dessen Bühne vor und schreibt, ihm fehle die rechte Musik, um in Schwung zu kommen. Beides sind vielleicht sogar weniger Ausflüchte als es zunächst scheint, weil Goethes Einsicht in die Praxis des Musiktheaters gewachsen war und er nun als Hindernis erkannte, was ihn bei den frühen Singspielen nicht bekümmert hatte. Vor allem aber dürfte der mangelnde Erfolg des Stückes bei seiner Weimarer Premiere im Verein mit dem geringen Erfolg von Reichardts Vertonungen der Italienischen Singspiel-Fassungen in Berlin ihm nur wenig Hoffnungen auf den Durchbruch einer auch noch so gut gearbeiteten deutschen opera buffa gemacht haben.
5. Reichardts Vertonungen der Italienischen Fassungen Goethe hatte Reichardt bereits 1780 kennengelernt und in der Folge dieser eher losen Bekanntschaft waren einige Liedvertonungen entstanden.208 Nach seiner Rückkehr überließ Goethe Reichardt auf dessen Anfrage hin die Italienischen Fassungen der Singspiele. Reichardt hatte sich zuvor in Text und Ton ausdrücklich für die Gattung des Norddeutschen Singspiels mit seiner Form des vermischten Singeschauspiels als die der deutschen Mentalität gemäße Form eingesetzt und verfolgte mit der Entwicklung des Liederspiels und der zweiten Berliner Liederschule ein Singspiel unter dem Primat der Dichtung. Pröpper unterstellt denn auch, daß Reichardt weniger aus gemeinsamen musikästhetischen Überlegungen
208
Vgl. ebenda, S. 279. Vgl. Pröpper (1965), S. 81 und Bode (1912), S. 176. Beide Werke bieten eine ausführliche Darstellung der biographischen Daten, auf die daher an dieser Stelle verzichtet werden kann. 2
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heraus handelte, als vielmehr um »den eigenen Namen mit dem Goethes noch enger zu verknüpfen.« 209 Bauman bescheinigt Reichardt zudem starke Wandelbarkeit, die es ihm ermöglichte, auch außerhalb seiner eigenen musikästhetischen Ideallinie Liegendes zu komponieren. Nichts desto weniger ging er mit Eifer zur Sache und kündigte sich im April 1789 zum Besuch bei Goethe in Weimar an. Dieser kommentierte den anstehenden Besuch gegenüber Herzog Carl August erstaunlich voreingenommen: »Wenn er mich nur das Vergnügen, das ich dabei empfinden kann, nicht allzu teuer bezahlen läßt!« 210 Die Reaktion befremdet umso mehr, wenn man den Elan bedenkt, mit dem Goethe in den Jahren zuvor jede Handreichung eines Komponisten, und sei er noch so unbedeutend, freudig aufgegriffen hatte, und Reichardt hatte seine Begabung für Goethes Texte ja bereits unter Beweis gestellt. Goethes Skepsis verdeutlicht offenbar seine Depression das deutsche Musiktheater betreffend, da er alle seine hoffnungsvollen italienischen Opernpläne im Sande verlaufen sah und der Freund und Protégé Kayser keine der in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt hatte. Während die frühen Fassungen in der Tradition des Norddeutschen Singspiels in verschiedenen Vertonungen gute Erfolge erzielt hatten, 211 waren die Ubersetzungsversuche italienischer Buffaformen für das deutsche Theater bislang kaum auf fruchtbaren Boden gefallen. Als Reichardt jedoch mit seiner Partitur in Weimar eintraf, flammte Goethes alter Enthusiasmus sofort wieder so stark auf, daß eine so gebildete (wenn auch vielleicht nicht ganz unparteiische) Zeitgenossin wie Caroline Herder sich über Goethes Kritiklosigkeit beschwerte: »Er [Reichardt] komponiert die Claudine, die ich in Gesellschaft bei ihm gehört habe, worunter nur einiges gut ist, Goethe aber alles hübsch findet.« 212 Obgleich Goethe die versifizierte Fassung ausdrücklich als eine durchkomponierte Oper mit gesungenen Rezitativen verstanden haben wollte, komponierte Reichardt nur die Gesänge. Vermutlich waren es vor allem Zeitprobleme, die er gegen eine durchkomponierte Fassung ins Feld führte, denn es existieren keine schriftlichen Dokumente einer ästhetischen Diskussion. Zudem folgt die kurze Zeit später entstandene >Erwin und Elmire< voll Goethes Vorschlägen.
20
« Ebenda, S.82. A m 6.4. 1789. Zitiert nach: Pröpper (1965), S. 82. 2.1 Nach Bauman ist >Erwin und Elmire< mit seinen drei Vertonungen das erfolgreichste Libretto der Norddeutschen Oper seiner Zeit. Vgl. Bauman (1985), S. 1 5 2 - 1 6 8 . 2.2 Zitiert nach: F A I, Bd. 5, S. 1 3 5 7 - 1 3 5 8 . 2.0
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Als Substitut der Rezitative behielt Reichardt für die Berliner Aufführung Goethes Versdialoge bei. An zwei Stellen jedoch ließ er rezitativische Behandlung der Verse ihre Bedeutung hervorheben und in den nachfolgenden Gesang überleiten, ein Verfahren zur Emphase, das Goethe bekanntlich bereits für >Scherz, List und Rache< beschrieben hatte. Reichardts Vertonung neigt insgesamt eher der musikalischen Ästhetik der Berliner Liederschule zu, wonach die Vertonung den Text nur unterstützen und die Deklamation mit musikalischen Mitteln weiterführen sollte, 213 als der von Goethe favorisierten italienischen Buffa-Ästhetik mit dem Text als Lieferant effektvoller Situationen für die Musik. 214 Uber Goethes tatsächliche Einschätzung von Reichardts Kompositionen kann nur spekuliert werden: Auffällig ist seine Zurückhaltung in musikästhetischen Fragen, hatte er doch früher gegenüber Kayser stark versucht, Einfluß auf die Komposition zu nehmen. Seine einzige Intervention bezüglich >Claudine< gilt der Sorge um seine >JambenTextwerkstatt< aus mehreren Personen bestand, und tatsächlich wurde ein Großteil der Überarbeitungen von Einsiedel und Vulpius besorgt.'3 Vulpius oblag sogar die Zensur von Mozarts >ZauberflöteL'impresario in angustie< von Cimarosa/Diodati machte bereits 1791 den Anfang: »Die Theatralischen Abenteuer, eine immer erfreuliche Oper mit Cimarosas und Mozarts Musik, ward noch vor Ende der Jahres gegeben«.IS Max Morris hat anhand der Theaterrechnungen nachgewiesen,16 daß Teile aus Mozarts >Schauspieldirektor< (Wien 1786) tatsächlich erst bei der erneuten Überarbeitung von 1797 eingefügt wurden,17 und in dieser Fassung das Stück dann seinen Siegeszug durch ganz Deutschland antrat.18 Goethe übertrieb also nicht, wenn er den Weimarer Bearbeitungen starke Wirkung zusprach. Daß >Die Theatralischen Abenteuer< so prompt zur Verfügung standen, ist durchaus kein Zufall. Wie Morris nachgewiesen hat, hatte Goethe wenigstens zwei seiner Bearbeitungen bereits vor der Übernahme des Hoftheaters skizziert.'9 Goethe bearbeitete in allen seinen Übersetzungen lediglich die Gesänge und überließ das Rezitativ Vulpius, der es im Falle der letzten Umarbeitung von 1799 durch breiten Prosadialog ersetzte, wodurch die opera buffa zum Schauspiel mit Gesang geriet. Die von Morris aus den Handschriften rekonstruierte Frühfassung übernimmt auch die Frankfurter Ausgabe20 und ermöglicht im Vergleich mit dem italienischen Originaltext einen Einblick in Goethes Arbeitsweise: Die recht unterschiedliche Qualität der Verse erschließt sich zum Teil erst durch den Blick auf das Original. Goethe hält sich in seinen Nachdichtungen der Gesangsnummern eng an den Wortlaut des italienischen Texts, übernimmt Metrum und Verslänge soweit möglich. Seine eigene Opernpraxis, die Inhalte der Gesangstexte im 13
Uber die Weimarer Textverbesserungen vgl. Bode (1912), Bd. 1, S. 198 und Orel (1949), S. 76-77. Vgl. außerdem die im Opernverzeichnis aufgeführten Titel. 14 Vgl. Herbert Zeheman: >Aber ich hörte viel von Pamino, viel von TaminoZauberflöte