322 47 10MB
German Pages 204 Year 1949
FRIEDRICH MEINECKE GOETHE UND DIE GESCHICHTE
GOETHE UND DIE GESCHICHTE Von
Friedrich
Meinecke
LEIBNIZ VERLAG
MÜNCHEN
b i s h e r R O 1 d e n b o u r g V e r l ag
Sonderdruck aus
,Die Entstehung des Historismus" (Leibniz Verlag, München)
Copyright 1949 by Leibniz Verlag (bisher R. Oldenbourg Verlag) München. Satz und Drude: Kästner & Callwey, Mündien. Buchbinder: R. Oldenbourg» Graphische Betriebe G.m.b.H., München.
INHALTSVERZEICHNIS Seite
Einleitung Genetischer Teil
7
I. Die Frühzeit bis 1775 II. Erste Weimarer Zeit und Italienische Reise . III. Von der französischen Revolution bis zum Ende Systematischer Teil I. Grundvoraussetzungen II. Das negative Verhältnis zur Geschichte III. Das positive Verhältnis zur Geschichte IV. Zusammenfassung und Schluß Personen- und Sachverzeichnis
.
.
13 36 63
. .
. .
79 90 119
.
.
196
EINLEITUNG W i r wären heute nicht das, was wir sind, ohne Goethe. Das läßt sich zwar nicht peinlich beweisen, und wer es versuchen wollte, würde Gefahr laufen, pedantisch zu werden. Wirkungen wie die Goethes, die das geistige Klima verändert haben, müssen aus einer intuitiven Zusammenfassung von ausgebreitetem Wissen und eigener innerer Erfahrung erschlossen werden. Kant und Hegel zwar haben das Denken der Zeitgenossen in neue Bahnen geführt, die vielleicht erkennbarer eingefurcht erscheinen mögen als die von Goethe gewiesenen. Schillers Dichtungen, obwohl in ihnen der gedankliche Inhalt oft führend sein will, haben in die Herzen der Deutschen, wenigstens der des 19. Jahrhunderts, einen Empfindungsgehalt gesenkt, der vielleicht unmittelbarer und in einfacheren Farben vor Augen liegt als der von Goethe ihnen geschenkte. Aber Denken und Empfinden zugleich und überhaupt die Totalität des Innenlebens hat niemand so tief zu ergreifen vermocht wie Goethe. Auch nicht die Romantiker, auch nicht vor ihnen Herder trotz ihrer aus dem Gesamtverlauf nicht wegzudenkenden großen Wirkung. Nun beruht aber der historische Sinn auf einem steten Ineinanderwirken von Denken und Empfinden. Will man seine Entstehung und Entwicklung klarlegen, so 7
muß man seinen Nährboden im Seelenleben der Menschen aufsuchen. Ist man überzeugt, daß durch die, wohl manchmal unterbrochene, aber immer wieder einsetzende, still-mächtig in die Poren dringende Einhauchung Goethesdien Empfindens und Denkens die Psyche des Deutschen — und so vieler Geister auch außerhalb Deutschlands — verändert worden ist, so stellt sich schließlich die Frage, ob diese Veränderung nicht auch einer neuen Betrachtung der Geschichte zugute gekommen ist. Der Einwand kann nicht abschrecken, daß Goethe gewissermaßen nur im Nebenamte geschichtlicher Denker gewesen ist, daß seine Beschäftigung mit der geschichtlichen Welt nur einen kleinen Sektor innerhalb des gewaltigen von ihm ausgefüllten Schaffenskreises darstellt, j a daß er selber, wie noch zu zeigen sein wird, durch sein ganzes Leben wieder und wieder sich abfällig über den Wert der Weltgeschichte und unseres Wissens von ihr geäußert hat. E r war und mußte sein voran bildender und formender Dichter und Künstler, sodann Naturforscher, der in der von ihm gewonnenen Naturerkenntnis auch den Schlüssel zum Verständnis von Weltwesen und Leben überhaupt zu besitzen glaubte. N a t u r , Kunst, Leben hat er einmal (Annalen 1817) als die drei großen Gegenstände f ü r sich bezeichnet; von der Geschichte schweigt er hier. Aber die Art, wie er jene drei großen Gegenstände gegeneinander abwog, mußte ihn schließlich doch in die Geschichte hineinführen. Denn er verwarf das gefährliche und ertötende Prinzip des l'art pour l'art und erklärte, daß er das Leben höher achte als die Kunst, die es nur verschönere. Leben und N a t u r aber waren ihm letzten Endes Eins, bildeten das Reich des „Lebendig-Natürlichen", in dem allein er 8
atmen konnte und das doch auch die geschichtliche W e l t umschließen mußte. Wohl stieß er hier, ebenso wie schon Herder, auf Widerstände, mit denen seine Erkenntisprinzipien nicht fertig zu werden vermochten. Wohl hat er sie deshalb nicht mit derselben Leidenschaft studiert wie Natur und Menschenherz. Und doch ließ er auch von ihr niemals ganz los, um seinem universalen Weltund Lebensbild keine Lücke entstehen zu lassen. So kam es zu einer Diskrepanz von oft tiefem Genügen und ebenso oft tiefem Ungenügen an der Geschichte. Das tiefe Genügen führte zur großartigsten Weiterbildung des von Herder und Moser erweckten historischen Sinnes, das tiefe Ungenügen aber entsprang, wie wir zu zeigen haben werden, nicht nur Goethescher Problematik, sondern auch der Problematik des ganzen 18. Jahrhunderts. Nun gibt aber auch eine Eigentümlichkeit Goetheschen Denkens dieser Diskrepanz seiner geschichtlichen Urteile eine besondere Farbe. All sein Denken hat ja etwas wundersam Natürliches. Ein leiser Anhauch der Dinge an seinen Geist genügt, um ihn erklingen zu lassen und zum Sprechen zu bringen. Niemals überanstrengt er sich dabei, niemals erscheint er gesucht, wie es beim spekulierenden Philosophen oder pointierenden Epigrammatiker so leicht der Fall ist. Er brauchte nur, wie Schiller von ihm sagte, leis zu schütteln am Baum, und die Früchte fielen reif und schwer auf den Boden. Oder um ein von ihm selbst in einem Brief an Zelter (1823) gebrauchtes Bild auf ihn anzuwenden: die Dinge wirkten auf ihn wie die Musik auf den Menschen — die geballte Faust faltet sich freundlich flach auseinander. „Die echte Originalität betätigt sich darin, daß es nur eines Anstoßes bedarf, um sie aufzuregen, 9
worauf sie dann ganz eigen und unabhängig den Weg des Wahren, Tüchtigen und Haltbaren zu verfolgen weiß" (an Purkinje 1826). So leicht, fast spielend konnte er nur denken oder zu denken scheinen, weil sein Inneres der ungeheuersten Bewegung fähig war. Goethe hat von dem Ätna in seiner Brust gesprochen. All unser Denken beruht auf einem ungeschiedenen und formlosen Magma der Seele. Goethe gab nun wohl allem von ihm Gedachten sofort eine ungesuchte Form, die berühmte „innere Form", die ihm ansaß wie die Schale dem Apfel und der Apfel der Schale. Und doch spürt, man das Magma seines Inneren gerade oft auch in seinen geschichtlichen Urteilen und ihren Diskrepanzen. Sie sind, verglichen miteinander, nicht immer leicht auf einen Nenner zu bringen, haben oft etwas in den Farben Auseinanderfließendes, Irisierendes. Er spricht einmal von dem Quecksilbernen seines Geistes: die Kugeln rollen leicht auseinander, ballen sich aber auch wieder leicht zusammen. Aber so erhielten nun auch diese Urteile etwas Fließendes und Festes, etwas Zentrifugales und Zentripetales zugleich. Im Gespräche konnte er zuweilen den Eindruck von Gedankenflucht erwecken. „Ich bin ja schon in Erfurt," sagte er, „wenn ihr mich noch in Weimar vermutet. Bin ich darum 80 Jahre alt geworden, daß ich immer dasselbe denken soll?" All das hilft die merkwürdigen Widersprüche, die sich in seinen historischen Urteilen finden, erklären. Kein Zweifel, daß manch Momentanes, gleichsam Überschwippendes darunter ist. Aber an der beispiellosen Wendigkeit seines Geistes ist vor allem das eine beispiellos, daß kein Urteil darunter ist, das nicht irgendeine Beziehung zu dem 10
ruhigtiefen Mittelpunkte seines Geistes hätte. Denn ein solcher w a r noch hinter dem Magma der Seele gelagert. So berührt Goethe widerspruchsvoll und einheitlich, einfach und unübersehbar, geheimnisvoll und offenbar zugleich — wie die Natur. Das Bild der Natur, wie er es sich formte, w a r auch der "Widerschein seines Geistes. W i e es Fichte einmal von der Natürlichen Tochter gesagt hat: Lebendig sich zusammenziehend zur absoluten Einheit, zugleich zerfließend in die Unendlichkeit. In seinen Göttern malt sich der Mensch. Wohl sind große Strukturlinien seines Denkens, die das Einzelne verständlich machen, auch bei ihm immer sichtbar. Aber sie sind von anderer Qualität als die begrifflich leichter zu fassenden etwa Kants und Schillers, auch wieder anders als die schwankenderen, mehr zu fühlenden Linien eines Herder oder Novalis. Goethe schaut in die Welt, Herder hört in die Welt, hat man gesagt (Suphan). Dem überwiegenden Denker der Einen und dem überwiegenden Empfinden und Fühlen der Anderen tritt bei ihm, um vorhin Gesagtes nun zu ergänzen, das Charisma der Anschauung, eines leidenschaftlichsten Anschauungsbedürfnisses hinzu, das sich mit einmaliger Anschauung eines Dinges nie begnügte, sondern ihm immer neu beizukommen versuchte, wodurch dann jener rasche Wandel der Aspekte kommen konnte, denen der Hörer nicht immer zu folgen vermochte. Dadurch, daß Anschauung, Empfinden und Denken in dem, was w i r allgemein das Goethesche Denken nennen, immer zusammenwirkten, kommt in dessen Strukturlinien die eigentümliche Vereinigung von Klarheit und unausmeßbarer Tiefe, von Deutlichkeit und anlodkender, nicht verwirrender Rätselhaftigkeit. 11
Erst durch einen Dreiklang von Anschauung, Empfinden und Denken konnte der historische Sinn vollständig werden. Die Aufgabe ist es, zu erforschen, inwieweit dieser Dreiklang, der bei ihm evident vorhanden ist, bei ihm auch zum historischen Sinn geworden ist. Wir glauben, einen doppelten Weg dafür gehen zu müssen. Einmal ist es unerläßlich, die stufenweise Entwicklung von Goethes Verhältnis zur Geschichte zu zeigen. Dann aber muß versucht werden, den inneren Zusammenhang seines Denkens über die Geschichte, gewissermaßen seineHistorik herzustellen. Unser Verfahren gleicht also dem Aufstiege auf einen Berg, wo zunächst die unmittelbare Umgebung das Auge begrenzt, weitere Durchblicke wohl zuweilen schon sich öffnen, das Ganze aber erst oben in Ruhe betrachtet werden kann.
12
GENETISCHER
TEIL
I. Die Frühzeit bis 1775 F ü r den genetischen Teil
unserer Untersuchung
hat
Goethe einmal eine Methode angegeben, als er im Alter über die Art sprach, wie man einen „originalen Künstler" zu würdigen habe (Kunst und Altertum). Zu allererst gelte es seine Kraft und deren Ausbildung zu betrachten. (Einem Goethe gegenüber muß diese Aufgabe durch die Gesamtheit der Untersuchung erfüllt werden.) Sodann habe man seine nächste Umgebung, insofern sie ihm Gegenstände, Fertigkeiten und Gesinnungen überliefert, zu betrachten, und zuletzt erst dürfe man den Blick nach außen richten und untersuchen, nicht sowohl, was er Fremdes gekannt, als wie er es benutzt habe. Denn der Hauch von vielem Guten wehe über die Welt oft Jahrhunderte hindurch, ehe man seinen Einfluß spüre. Goethe hat es auch gegenEckermann(1828)als lächerlich bezeichnet, nach den Quellen eines berühmten Mannes zu spüren, denn das •würde ins Grenzenlose gehen und auch nicht nötig sein. Das wird der moderne Forschungsgeist freilich nicht zugeben und wird meinen, daß der Künstler Goethe hier den Forscher Goethe überschatte. Mag es sein. Und doch darf einem Phänomen wie Goethe gegenüber auch sein 13
Prinzip zur Geltung kommen. Es ist der höchste Grad der Genialität, daß sie eine unendliche Empfänglichkeit verbindet mit einer unendlichen Kraft, das Empfangene von innen heraus zu etwas Eigenem und Neuem zu gestalten, empfangend und gebärend in jedem Augenblicke. Seine eigene Genialität entwickelte sich, dauernd genährt durch die Genialitäten der geschichtlichen Menschheit. Das kann man auch von anderen Großen sagen; aber Goethes überlegene Geisteskraft verwandelte alle Nahrung, die er von außen sich holte, leichter, rascher und unmerklicher in sein eigen Fleisch und Blut. Darum dürfen wir die zersplitternde Frage nach den einzelnen Quellen seines Geschichtsdenkens zurücktreten lassen und uns mit Andeutungen darüber begnügen. Die geistigen Einflüsse, die auf Goethes geschichtliches Denken zu wirken vermochten, sind im Großen sofort zu erkennen. Sie heißen, soweit sie sich in Geisteswerken der Vergangenheit konzentrierten, Bibel, Homer und Shakespeare, soweit sie von Persönlichkeiten seines Jahrhunderts verkörpert wurden, Leibniz, Shaftesbury, Voltaire, Rousseau, Hamann, Herder, Moser. Soll man aber die allgemeinen geistigen Welten nennen, von denen seine Entwicklung zum geschichtlichen Denken vor allem ausging, so sind es außer der griechischen Antike, die ihm lebenslang wohl ein Leitstern für Natur, Kunst und Leben, aber nur mittelbar auch für die Geschichte blieb, Aufklärungsbewegung und Neuplatonismus gewesen. Mochte er den Geist der Aufklärung auch früh von sich abstoßen, so hat dieser doch unverlierbare Spuren in seinem Denken über Geschichte hinterlassen. Er vermochte sie, wie zu zeigen sein wird, mit dem, was wir seinen Neuplatonismus oder, wenn man 14
lieber will, seinen neuplatonisch gedeuteten Spinozismus nennen, zu verschmelzen. Bei diesem wichtigsten Elemente aber zeigt sich das bloße Suchen nach den Quellen, aus denen es ihm zugeflossen ist (Jugendlektüre, Shaftesbury u. a.), als ungenügend. Es ist sofort als das seiner Natur allein gemäße spontan aus allen übrigen Bildungsstoffen herausgegriffen und neu geformt worden. Es ist, um mit ihm zu sprechen, ein durch die Jahrhunderte wehender Hauch gewesen, der ihn hier traf und treffen mußte. Schließlich ist noch der Pietismus zu nennen, unter dessen Einfluß Goethe in entscheidenden Jugendjahren gestanden hat. Aber verglichen mit Aufklärung und Neuplatonismus war er für ihn eine sekundäre Hilfsmacht. So blieb es ihm erspart, was Herders Schicksal wurde, sich und sein geschichtliches Denken auch mit den theologischen Problemen auseinandersetzen zu müssen. Er atmete nur gleichsam den feinsten Hauch der seelenerweckenden pietistischen Bewegung in sich ein. Damit und durch sein dauerndes Verhältnis zur Bibel ist zugleich aber auch gesagt, daß das von Luther geschaffene deutsch-protestantische Element zum Aufbau der Goetheschen Geistigkeit integrierend mit gehört. Wir folgen Goethes Rat und gehen jetzt den Einflüssen nach, die aus seiner nächsten Umgebung und der von ihr überlieferten Gesinnung stammen. Auch solche Einflüsse, und gerade solche Einflüsse sind niemals genau und vollständig zu scheiden von dem, der sie erfährt. Mensch und Milieu zusammen bilden eine zusammengewachsene Lebenseinheit, die sich nach oben hin, wenn die eigene Kraft des Menschen sich auswirkt, einmal spalten kann, von unten her aber aus einem dunklen 15
Zusammenhang von Keim, Wurzel und organismenreichem Erdboden entspringt. Ort und Zeit fassen wir zusammen, denn sie sind ebenso in sich zusammengewachsen. Das Geschlecht, aus dem der Mensch stammt, so hat Goethe später in der Geschichte der Farbenlehre gesagt, manifestiert sich in ihm öfters mehr als durch sich selbst, und das Jahr der Geburt sei das wahre Nativitätsprognostikon, nämlich in dem Zusammentreffen irdischer Dinge. "Wie es anders auch in den orphischen Urworten nicht gemeint ist, wo ebenfalls die Grenze von Mensch und zeitlidi-örtlichem Milieu, vom Stand der Planeten und der unzerstückelbaren Form der Individualität geheimnisvoll verschwimmt. Daß Goethe in Frankfurt um die Mitte des 18. Jahrhunderts zur Welt kam und aufwuchs, bedeutet, daß er aus •dem Schöße einer morbiden, aber noch überaus ehrwürdigen und farbenreichen Vergangenheit entsprang 1 . Und zu den vielerlei Anlagen seines Genius gehörte auch, von ihm selbst stark bezeugt, jener antiquarische Urtrieb, der den Knaben zu den ihn umgebenden Mumien einstigen historischen Lebens hinführte. Wir erinnern an die bekannten Bilder aus Dichtung und Wahrheit. Goethes Stellung zur geschichtlichen Welt ist dadurch von vornherein tief bestimmt worden. Dazu kam die pedantische Poliziertheit dessen, was von öffentlichem Leben oder vielmehr an Stelle eines solchen damals in Deutschland da war, und als korrespondierende Anlage in Goethes Wesen, die konservative Einschicklichkeit in gegebene autoritäre Verhältnisse, die „Ehrerbietung", zu dem nach 1 Eingehender sind die Fäden seines Jugendverhältnisses zur Geschichte analysiert worden in der sorgfältigen Arbeit W . Lehmanns, G.s Geschichtsauffassung in ihren Grundlagen, 1930.
16
seinem Worte sein Gemüt von Natur neigte und die sich in seinem späteren Leben zu den drei großen Ehrfurchten vor dem, was über uns, was uns, gleich und was unter uns ist, erheben sollte. Zu einer blinden Ehrerbietung, die ihn traditionalistisch gestimmt hätte, konnte es dabei nicht kommen. Denn seinem eingeborenen kritischen Sinne blieb das Abgestorbene und Schädliche in den ihn umgebenden Oberlebsein der Vergangenheit nicht lange verborgen. Rückschauend konnte er später begreifen, warum der deutsche Dichter ein anderer werden mußte als der englische Dichter in seinem Lande, wo aus großen historischen Kämpfen der Jahrhunderte ein freies, bewegtes und stolzes Nationalleben immer gegenwärtig und weiterflutend hervorgegangen war. Goethe hat das als treibende Kraft schon an Shakespeare empfunden und im Alter, als er die Scottschen Romane las, sich öfter darüber ausgelassen — ein Zeichen, wie bestimmt, freilich auch neidlos, er diesen Unterschied als einen „Mangel an nationellem Gehalt" (Dicht, u. Wahrh.) bei sich empfand. Stellen wir fest, daß nicht nur sein Dichten, sondern auch sein geschichtliches Denken des unmittelbaren Ansporns durch große politische Nationalkräfte von vornherein entbehrte. Zum Schauen wohl, aber nicht zum eigenen starken und wollenden Miterleben regte seine Ursprungswelt an. Auch das Fritzische Erlebnis des Siebenjährigen Krieges blieb erhebendes Schauspiel, vor dem er saß, ohne sich versucht zu fühlen, etwa selbst einmal ein wenig mitzuspielen. „Was ging uns Preußen an? Es war die Persönlichkeit des großen Königs, die auf alle Gemüter wirkte." Damit tritt ein Grundverhältnis Goethes zu den Erscheinungen der politischen Geschichte, die Freude an der großen Persön17
lichkeit, die Gleichgültigkeit gegen das Sachlich-Politische, schon keimhaft hervor. Aber auch schon das, was man in Deutschland durch den Siebenjährigen Krieg erlebte, hat eine Wellenbewegung erzeugt," die zu den großen Impulsen von Sturm und Drang mit gehört. Man kann vielleicht im Anschluß an das bekannte Goethesche Urteil die Wirkung des Siebenjährigen Krieges auf die nach eigener Bildung strebenden Schichten dahin formulieren, daß das Leben, das man selber führte, wieder wichtiger wurde für den Deutschen. Bisher hatten die bestehenden objektiven Mächte der Sitte und Religion, der Gesellschaft und des Staates das Leben des Einzelnen in so selbstverständliche Formen gebannt, daß es sich gar nicht oder kaum herauszuheben wagte aus der allgemeinen Konvention. Jetzt erlebte man an Friedrich dem Großen, der Freigeist und Held zugleich war und sein Schicksal damit zu zwingen wußte, den ersten gewaltigen Durchbruch durch das Gewohnte und herkömmlich Geweihte. Man begreift es so gut, daß nun nicht etwa die objektive Macht des Staates, der er selber diente, sondern die Subjektivität in dem Hergange als wichtig empfunden wurde. H a t nun dieses miterlebte Drama eines geschichtlichen Helden nicht vielleicht auch mitgeholfen, die Gemüter für die heroische Dramatik Shakespeares reif zu machen? Diese Vermutung ist, was Goethes eigene Entwicklung betrifft, nicht abzuweisen, wenn man an die lebenslange, stille und kräftige Nachwirkung des friderizianischen Heldentums in seinem Geiste denkt; erstreckt sie sich doch bis in die Schlußszenen von Fausts Leben. Denkt man aber an Shakespeares Wirkung auf ihn und an ihren Zusammenhang mit seinem 18
Verhältnis zur Geschichte, so ist man mitteninne in der großen Durchbruchsschlacht seiner Straßburger Jahre, in der sich schlechthin alle Kräfte seines Geistes zum ersten Male ursprünglich und eigentümlich offenbarten. Ursprünglich, aber wachgerufen durch Herder. Dieser, in dem schon der Durchbruch eines neuen historischen Denkens erfolgt war, hat ihm nichts zu geben vermocht, was nicht potentiell schon in ihm lag. Aber daß Herder diese Potenzen zu wecken vermochte, gehört zu der Reihe der großen Wahlverwandtschaften zwischen den Geistern, durch die sich das geistige Leben der Menschheit fortpflanzt. Herders Sturmwind wurde ihm so zum Schicksal, — „Wind mischt vom Grund aus schäumende Wogen . . . Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind!" Herder führte den jungen Goethe in Straßburg genau dadurch, daß er ihn zu Shakespeare führte, auch zur geschichtlichen Welt in einem besonderen Sinne. Er hatte im Juni 1771 den Gedanken ausgesprochen, daß Shakespeares Stücke eigentlich als Geschichte verstanden werden müßten, „so voll, so ganz, so lebendig, wie sie im großen Zusammenlauf der Weltbegebenheiten nur geschehen kann" (5, 236). Unter diesem Einfluß schrieb Goethe seinen Erguß zum Shakespearetage des 14. Oktobers 1771, wo es nun heißt: „Shakespeares Theater ist ein schöner Raritätenkasten, in dem die Geschichte der Welt vor unseren Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt. Seine Plane sind, nach dem gemeinen Stil zu reden, keine Plane, äber seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Willens mit dem not19
wendigen Gang des Ganzen zusammenstößt." Das Wesen der Geschichte ist also der K a m p f der tieferen Individualität und ihres Freiheitsbedürfnisses mit den objektiven Mächten. Die Geschichte zeigt sich ihm insgesamt als eine Unsumme individueller Brennpunkte, jeder mit Energie geladen und Träger eines besonderen Schicksals. Aber Unsumme ist zu wenig gesagt, denn sie stehen nicht isoliert wie die Menschen der Aufklärung nebeneinander, sondern sind einem großen Ganzen eingefügt, das sein eigenes überragendes Leben führt. W i e weit ist überhaupt die prätendierte Freiheit hier als eine wirkliche Freiheit vorgestellt und ist vielleicht alles, alles Notwendigkeit? Dieses Rätsel beantwortete er nicht, weil er es nicht konnte. Aber er rief zugleich:„Natur,Natur! nichts so Natur als Shakespeares Menschen." Das ist ein erstes klares Zeugnis dafür, daß für ihn Geschichte nichts anderes als eine Sphäre der Natur überhaupt war. Man weiß, daß Natur auf der Stufe von Sturm und Drang für ihn bedeutete: „Inneres, glühendes, heiliges Leben" (Werther), den irrationalen, unendlich
macht-
vollen Schöpfergrund für alles, Hohes und Niederes, Böses und Gutes, wo beides notwendig zusammen „und in das Ganze", so sagte er auch noch, gehörte. Diese Natur aber war wieder nichts anderes als das Spiegelbild der eigenen genialisch aufgerührten Subjektivität, aber wohlgemerkt einer Subjektivität, die sich unlösbar verwoben fühlte mit dem Ganzen der Welt. Deshalb war diese rhapsodische Konzeption von Natur und von Geschichte als einem Teile der Natur auch imstande, nicht bloß subjektiv zu schwärmen, sondern wirkliche Kräfte und bestimmte Erscheinungen geschichtlichen 20
Lebens in sich aufzunehmen. Zu allen anderen Fermenten des geistigen Lebens, die jetzt den Bann des vernunftrechtlichen Denkens sprengten und die irrationalen Kräfte der Seele zum Überschwang brachten, trat, als Goethe nach Straßburg, dem Kampfplatz deutscher und französischer Kultur, kam, das Gefühl einer „emergierenden Deutschheit" (Dicht, u. Wahrh.). Die Stunden, die der junge Goethe vor und in dem Straßburger Münster 1771/72 verlebte, gehören zu den großen Momenten der deutschen Geistesgeschichte, in denen ein Neues auf Tag und Stunde sich anmeldete. Hier, wenn irgendwo, mußte die neue Deutschheit unter Herders aufregendem Einfluß „emergieren" im Anblick eines Werkes, gewirkt „aus starker, rauher, deutscher Seele auf dem eingeschränkten düstern Pfaffenschauplatz des medii aevi". Das war eine erste Anerkennung auch von schöpferischer Kraft inmitten des verachteten Mittelalters, ein erster Lichtstrahl in dessen Dunkel hineingeworfen, aber durchaus noch, so deuten wir es, ohne die Absicht, dieses Dunkel nun überhaupt aufzuhellen und dem ganzen Mittelalter einen neuen Glanz zu geben. Keinerlei Ansatz findet sich auch in diesem heißblütigen Jugendbekenntnis, das Werk Erwins etwa, nach der Methode, die er später lernen sollte, „durch Entwicklung zu enträtseln" und nach Voraussetzungen auszuschauen, die es verständlich machen. Sein Werk muß vielmehr, so schrieb er einem Freunde (an Röderer 21. 9. 71), als Werk eines großen Geistes „ohne Rücksicht auf das, was andere getan haben, mit seiner Bestimmung von Ewigkeit her zu koexistieren scheinen". Große Leistungen aus menschlichen Urkräften plötzlich als Wunder hervorbrechen zu sehen, das war damals noch 21
sein Bedürfnis. Wir sehen diesen Zug von Zeitlosigkeit schon in der Lehre Youngs vom Originalgenie, die auf Sturm und Drang so stark gewirkt hat. Herder war damals durch die ersten bedeutenden Anwendungen seines genetischen Prinzips schon weiter geschritten. Goethes geschichtliches Zeitenbild dagegen schien jetzt noch, ähnlich wie das der Aufklärung, innerlich ungegliedert und zeitlos wie die Natur, wobei er freilich die Aufklärung schon weit überschritt durch seine Vorstellung von Natur als einem ewigen Gebärschoß irdisch-göttlich-dämonischer Kräfte. Deren Hervorgehen aber war gedacht als Emanation und entsprach damit dem schon neuplatonisch genährten Weltbilde des jungen Goethe. Eine Eintragung in sein damaliges Tagebuch, die Ephemeriden, bestätigt diese Deutung. Er bekannte durch sie ausdrücklich seine philosophische Sympathie für ein systema emanativum. So bedeutet also die Schrift von deutscherBaukunst(1772) nicht etwa für den Entwicklungsgedanken einen Fortschritt im historischen Sehen. Entwicklung, möchte man sagen, war ein noch zu umständlicher Hergang für das heiße Blut seiner Jugend. Wohl aber brach der Individualitätsgedanke gewaltig aus ihr hervor. Derartig gewaltig, daß- darüber nicht nur der mittelalterliche, sondern auch der deutsche Charakter des Bauwerks etwas zurücktrat, dafür aber untrennbar verschmolzen mit der Vorstellung, daß eine wahrhaft individuelle Erscheinung auch eine Gestalt trage und eine Ganzheit sei. „Wie frisch leuchtet' er im Morgenduftglanz mir entgegen, wie froh könnt' ich ihm meine Arme entgegenstrecken, schauen die großen harmonischen Massen, zu unzählig kleinen Teilen belebt, wie in Werken der ewigen Natur, bis aufs 22
geringste Zäserchen, alles Gestalt und alles zweckend zum Ganzen." Der Geschmack f ü r gotische Baukunst selbst war ja nicht neu, war seit Jahrzehnten schon in England erwacht und in Deutschland mehrfach, sogar einmal von Friedrich dem Großen im Nauener Tor Potsdams. 1755 praktiziert worden. Aber man hatte mit ihm, ohne der klassizistischen Norm im geringsten untreu zu werden, nur gespielt, nur Äußerlichkeiten nachgeahmt, um durch Abwechslung zu ergötzen und „angenehme Empfindungen" zu erregen. Der Engländer Hurd hatte schon tiefer gegriffen und auf die Existenz von besonderem Sinn und Plan in der Gotik hingewiesen. Mag nun Goethe, etwa durch Herders Vermittlung, von ihm gewußt haben oder nicht, so ging doch die Kraft seiner neuen Ganzheitsempfindung weit hinaus über das freundlich interessierte Verstehen Hurds. So wurde also hier mit einem Male an einem bis dahin mißachteten historischen Gebilde ein durchaus sinnvolles Ganzes entdeckt, schön durch etwas, was mit dem herrschenden Schönheitsbegriffe nichts zu tun hatte, schön, weil es Ausdruck eines charakteristischen Lebens war, noch genauer, weil es aus dem „bildenden" Urtriebe von Mensch und Natur hervorging, darum auch wahr und notwendig. Die Begriffe wahr, schön, notwendig klangen hier völlig zusammen, weil eine höchste Leistung der Natur empfunden wurde. Der naturalistische Pantheismus, der zugrunde lag, verherrlichte keineswegs unterschiedslos alles Gewirkte, sondern kannte „bei N a tionen und einzelnen Menschen unzählige Grade". Merken wir nun noch auf die Stufenleiter dieses Naturwirkens: schöpferischer irrationaler Urgrund der Natur — aus ihm hervorgehend begabte Menschen, die „aus inniger, 23
einiger, eigener, selbständiger Empfindung um sich wirken" — und schließlich die von ihnen geschaffenen Werke der Kunst, die insofern nun wieder, ohne daß dies gesagt wurde, einen rationalen Charakter tragen, als in ihnen ein eigenartig gestaltetes Ganzes als beherrschender Zweck einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit von Teilen erscheint. In diesem Ganzheits- und Gestaltgedanken und in dieser Verbindung von lebendig-individueller Einheit und Mannigfaltigkeit sollte einmal, nach dem die vulkanisere Glut seines Sturm- und Drangempfindens sich gemäßigt hatte, die weiterführende Kraft des Goethesdien Geschichtsdenkens liegen. So ist denn sein Verhältnis zur geschichtlichen Welt in diesen frühen Jahren das einer stürmischen Generalokkupation alles dessen in der Geschichte, was seiner eigenen brausenden Individualität homogen erschien. Er stürzte sich in die Geschichte wie der Schwimmer in ein grenzenloses Meer, um sich von seinen Wellen tragen zu lassen, so naiv ihm hingegeben, daß sentimentale oder romantische Gefühle ihm gar nicht kamen. „Brauch ich Zeugnis, daß ich bin? Zeugnis, daß ich fühle? — N u r so schätz, lieb und bet ich die Zeugnisse an, die mir darlegen, wie Tausende oder einer vor mir eben das gefühlt haben, das mich kräftiget und stärket. . . Und mit inniger Seele fall ich dem Bruder um den Hals. Moses! Prophet!Evangelist! Apostel, Spinoza oder Machiavell." (An Pfenninger 26. 4.74). Ein sehr subjektives Immediatverhältnis des Genies zu allem Genialen in der Geschichte, über alle Konvention und hergebrachte Autorität hinaus. Aber verbunden mit dem Glauben, daß ein freilich unbegreifliches „Ganzes" alle diese Lichterscheinungen miteinander verbinde 24
(„das Ganze ging in euernKopf so wenig als in meinen"). Und weiter verbunden auch mit dem Glauben, daß die Geschichte als Helfer dienen könne im Kampfe um die eigene Gegenwart. Denn „fast eine neuq Schöpfung", heißt es im Münsteraufsatz, sei heute nötig. In diesem Gedanken, daß die Geschichte produktiv und lebengestaltend wirken müsse, kündete sich wiederum ein Grundverhältnis Goethes zur geschichtlichen Welt an. In der Glut von Sturm und Drang hatte sich noch ein weiterer, subjektiverer, ganz unbändiger Gedanke geregt, auf den man achten muß, um das Lebens- und Geschichtsgefühl des jungen Goethe ganz zu verstehen. Das war der selbstherrliche Schaffensglaube und die Auflehnung gegen die Götter, die er in dem Prometheusfragment von 1773 und der Prometheusode ausströmen ließ. Da wird selbst die Wonne, mit Göttern und Menschen und Welt und Himmel all sich „in ein innig Ganzes" zu fühlen, verschmäht und verleugnet, und der Glaube an eine göttliche Leitung der Geschichte wird als eine Illusion verspottet. So bleiben als dunkle Gewalten und Herren über Götter und Menschen nur übrig die allmächtige Zeit und das ewige Schicksal, deren einziger Sinn für den Menschen darin zu bestehen scheint, ihn zum Manne zu schmieden. Es mag nun wohl sein, wie man vermutet hat, daß die Fortsetzung des Dramas nach Goethes Plan den Frieden mit den Göttern und die Rückkehr „in ein innig Ganzes" hat bringen sollen. Aber die ursprünglichen prometheischen Gedanken sind auch Goethesche Gedanken und Empfindungen gewesen und klingen auch im Urfaust durch. Aller große Glaube erwächst aus Protesten und Spannungen. So auch Goethes Glaube an ein innig allum25
schließendes Ganzes aus Protest- und Souveränitätsempfindungen des Individuums. Jetzt erklärte er dieses Ganze noch als unbegreiflich, um sich bald feurig ihm hinzugeben, bald trotzig sich aufzulehnen. Auch später maßte er sich niemals an, es begreifen zu können, aber der titanische Trotz machte dem ahnenden Glauben und der Einsicht des späteren Prometheus Platz, „Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht" (Pandora). Und ferner ist ihm aus seiner frühprometheischen Zeit geblieben, wenn auch in milderen Formen sich äußernd, jenes ungeheure Schicksalsgefühl für die dunkle Gewitterschicht, die über der Menschheit liegt und in der „die allmächtige Zeit und das ewige Schicksal" hausen. Gemildert wurde dieses Schicksalsgefühl Goethes für das schlechthin Unbegreifliche und Ubermächtige allmählich durch das ebenso starke Gefühl für das annähernd wenigstens zu begreifende, beruhigende Gesetz der Entwicklung in Natur und Geschichte. Dieser Trost des Entwicklungsgedankens fehlte ihm noch, wie wir zeigten, auf der ursprünglichen Stufe von Sturm und Drang, und eben darum, so möchte man fast vermuten, reagierte seine N a tur so prometheisch gegen die hergebrachten Tröstungen. N u n sollte am Ende von Sturm und Drang aber auch der Entwicklungsgedanke ihm aufgehen. Denn es tauchte die Erkenntnis auf, daß das große Individuum nicht nur, wie man aus seinen Münstergedanken von 1771/72 herauslesen darf, eine plötzlich aus dem Grunde der Natur herausbrechende Offenbarung sei, sondern in Lebensgegemeinschaft und Wechselwirkung mit seiner Umgebung sich entwickle. „Was den Menschen umgibt", heißt es 1774/75 (Beitr. zu Lavaters Physiognom. Fragmenten), 26
„wirkt nicht allein auf ihn, er wirkt auch wieder zurück auf selbiges, und indem er sich modifizieren läßt, modifiziert er wieder rings um sich h e r . . . Die Natur bildet den Mensdien, er bildet sich um, und diese Umbildung ist dodi wieder natürlich 1 ." Aber noch reichte dieser aus eigener Lebenserfahrung gewonnene Sinn für den Zusammenhang von Umwelt und Individuum und für Werden und Wandlungen des Individuums nicht aus, um schon die großen Persönlichkeiten durchweg in ihrer echten geschichtlichen Zeitatmosphäre zu empfinden. Die Physiognomischen Fragmente gaben gedrängte Charakterschilderungen von Scipio, Titus, Tiberius, Brutus und Cäsar. Sie sind oft bewundert worden und auch der Bewunderung wert. Aber es sind keine altrömisch, sondern allmenschlich, fast zeitlos gestaltete Köpfe, und das Römische an ihnen entstammte hergebrachten Vorstellungen. Aber Götz und Egmont, wird man einwenden, sind hier nicht Männer, Zeiten und Landschaften in individuellster geschichtlicher Farbenpracht miteinander verwoben? Wird nicht im Götz das roh-gemütvolle Chaos des morschen Reichs, im Egmont, dessen Konzeption und Beginn noch in die Sturm- und Drangzeit fällt, das sinnlich-kräftige Dasein der Niederländer und ihrer volkstümlich-bodenständigen Aristokratie mit erstaunlicher geschichtlicher Treue als die Atmosphäre der tragischen Helden geschildert? Gewiß, aber es muß begreiflich gemacht werden, daß gerade diese Bilder ihm gelingen konnten, und es müssen auch Vorbehalte gemacht werden. Goethe hat zum 16. Jahrhundert zeitlebens ein besonders 1 D a z u der Brief an Auguste zu Stolberg 13. 2. 75: „ . . . weil er (Goethe) nach keinem Idealespringen, sondern seine Gefühle sich zu Fähigkeiten, kämpfend undspielend, entwickeln lassen will."
27
nahes Verhältnis gehabt, — wovon schon der Faust zeugt. Damals zog ihn die Verwandtschaft mit der eigenen Zeitsituation, wie er sie wenigstens empfand, zu ihm hin, der Kampf eines naturhaft starken und echten Menschentums gegen ein Menschentum, das minder wertvoll war, aber siegen durfte, weil es objektive, schicksalshaft bedrückende Zwangsgewalten vertrat, den aufkommenden fürstlichen Territorial- und Schreiberstaat im Götz, die kaltfanatische spanische Despotie im Egmont. Die prätendierte Freiheit des Ichs stieß, wie er es bei Shakespeare gesehen und so tief empfunden hatte, auch hier mit dem notwendigen Gange des Ganzen zusammen; dieses Ganzen, dem auch der einzelne unlöslich verhaftet blieb, w i e sehr er auch dagegen aufbegehrte. So projizierte er das eigene vollblütige und freiheitsdurstige Ich von Sturm und Drang in eine Vergangenheit, in der eine solche Vollblütigkeit in sogar noch viel naiveren Formen gewesen war. Hier darf auch die Einwirkung Justus Mosers nicht vergessen werden, deren Goethe auch noch in mancher anderen Hinsicht so oft und dankbar gedacht hat. Moser hatte es 1770 zuerst gewagt, die Zeiten des Faustrechts zu preisen, „worin unsere Nation das größte Gefühl der Ehre, die mehrste körperliche Tugend und eine eigene Nationalgröße gezeiget hat", während jetzt die „individuelle Mannigfaltigkeit und Vollkommenheit" unterdrückt würde (Werke 7, 35 ff.). Es ist also die Empfindung des aus dem Vernunftrechtsschlummer erwachenden späteren 18. Jahrhunderts, die im Götz sich ausspricht. Aber auch gegen den Stachel des kalten Machtstaats, der das Individuum domestiziert und normalisiert hatte, lökte man. So hatte es Herder schon 28
getan, und Goethe tat es auch und spielte im Götz dabei eine Staatsidee aus, die sogar aus dem Boden der echten Aufklärung stammte. Götz entwirft im 3. Aufzuge (noch pathetischer in der Urform des Dramas) das Bild des friedlichen, seine Untertanen beglückenden Idealfürsten. Reislingen erzählt im 4. Aufzuge von einem Gespräche mit dem Kaiser: „Wir redeten vom Wohl des Staats. O ! sagt' er! H ä t t ' ich von jeher Räte gehabt, die meinen unruhigen Geist mehr auf das Glück einzelner Menschen gewiesen hätten!" Adelheid bemerkt dazu: „Er verliert den Geist eines Regenten." Mit dieser kurzen Kritik hat Goethe schon genial das Wesen der Staatsräson, die über das Glück des Einzelnen hinwegschreitet, antizipiert und die Ahnung erweckt, daß überpersönliche Schicksalsmächte im Bunde mit den kleinen Gegnern seines Helden stehen. Denn dieser „Geist des Regenten", den der Kaiser selbst zwar nicht mehr hat, kämpft ja eben gegen Götz. Aber Goethes eigenes Herz schlug hier mit Götz und dem Kaiser, und er ließ sie die Sprache des individualistischen Eudämonismus des mittleren 18. Jahrhunderts sprechen. Die höhere staatliche Ordnung, die den Raubritter niederwirft, würde ihm nur dann auch als die bessere Ordnung erschienen sein, wenn sie auch das Glück des Individuums mit umschlossen hätte. Primär aber ist dieses politische Motiv für die Schaffung des Götz ebensowenig entscheidend gewesen wie für die des Egmont, in den es ebenfalls mit verwoben worden ist. 1 Aber auch das historische Motiv, der Wunsch, eine 1 Aber mit einer bedeutsamen Variante. A m Schluß des 4. A u f zugs sagt Egmont: „ E r (der König) will den inneren Kern ihrer Eigenheit verderben; gewiß in der Absicht, sie glücklicher zu machen. E r will sie vernichten, damit sie etwas werden, ein
29
besondere Vergangenheit in ihrem eigenartigen Werte wieder aufsteigen zu lassen, hat den Dichter nicht primär bestimmt. Ein rein und überzeitlich Menschliches suchte er und fand es in der Vergangenheit, genau wie die Aufklärer dies taten, wenn sie die Vergangenheit durchstöberten. Aber ungeheuer war die Wandlung, die er dabei mit dem Begriffe und Inhalte dieses zeitlos Menschlichen vornahm. Denn der generalisierende Menschheitsgedanke der Aufklärung wurde ersetzt durch den individualisierenden von Sturm und Drang. Das Individuum der Aufklärung, dem ihr eudämonistisdies Streben galt, war nur Individuum in dem Sinne, wie jedes Atom, jedes Baumblatt Individuum ist, ein aus denselben gleichbleibenden Elementen der menschlichen Natur, nur in unzählig verschiedenen Mischungen zusammengesetztes Individuum. Das Lebensgefühl aber von Sturm und Drang und des jungen Goethe entdeckte hinter den immer wiederkehrenden Elementen der menschlichen Natur, die es nicht wohl leugnen konnte, das metaphysische Vereinigungsband, den verborgenen Springquell der echten Individualität, den „inneren Kern ihrer Eigenheit". Diesen zu verteidigen, dichtete er den Götz und Egmont. Und das „Glück" der Menschen, von dem die Rede ist, erinnert sogar schon etwas an das „höchste Glück der Erdenkinder", von dem der alte Goethe sprach. Die Kontinuität mit der Aufklärung aber zeigt sich auch hier wieder. Es war ein vertiefter Eudämonismus, den Goethes Persönlichkeitslehre enthielt. Und nun gibt wohl die ungemeine individuelle Lebensfülle, die aus jedem Charakter und aus jeder Szene spritzt, ander Etwas." Hier wird der Individualitätsgedanke gegen den eudämonistisdi auftretenden nivellierenden Absolutismus ausgespielt.
30
diesen Gemälden einer vergangenen Welt eine innere machtvolle Wahrheit, jedoch keine rein historische Wahrheit. Zweifellos ist aber viel mehr spezifisch historische Wahrheit in ihnen enthalten als in jenen Charakterskizzen alter Römer. Das kam einmal daher, daß Goethe die zeitgeschichtlichen Quellen, die er für die Dramen benutzte, naiv seherisch und einfühlend, freilich zugleich auch idealisierend und eigenes Leben hineinhauchend, zu lesen verstand. Es ist bekannt, was er der urwüchsigen Autobiographie Gottfriedens von Berlichingen verdankte. Weiter aber, und vielleicht in noch höherem Grade, kam es daher, daß die Vergangenheit des 16. Jahrhunderts noch in die Gegenwart des 18. Jahrhunderts hineinragte und von Goethe gleichsam von der Straße her aufgegriffen werden konnte, — genau wie Moser von den Äckern, Wiesen und Wäldern seiner Heimat her die Vergangenheit erleben konnte. Alle jene morbiden Reste einer Vergangenheit, die der Knabe Goethe in Frankfurt mit brennender Knabenneugier in sich eingesogen hatte, der Geleitstag, das Pfeifergericht usw., gaben ihm ein Bild, wie es im 16. Jahrhundert ausgesehen haben mochte. Auch der kleinbürgerliche Mensch der alten Reichsstädte Frankfurt und Straßburg unterschied sich innerlich nicht viel von seinen Ahnen im 16. Jahrhundert. Ein feiner Beobachter des elsässischen Volkstums, Werner Wittich, hat noch in dem Straßburger Kleinbürger von 1900 unter dem modernen Kostüm den alten, behaglichen Reichsstädter von 1600 wieder entdeckt. Und diesen Leuten sah Goethe, als er Götz und Egmont schrieb, auch aufs Maul. Man hat richtig bemerkt, daß die Sprache des Götz, im Ganzen gesehen, weder die des 16. Jahrhunderts ist, noch 31
die, die er selbst schrieb, als er den Werther aus seiner Seele herausstürmte, und daß sie doch annähernd altertümlich berührt. Goethe ließ sich dabei wohl von der Sprache Luthers leiten. Aber diese Sprache war damals noch, wenn auch nicht mehr gesprochen, doch dem Volksempfinden näher als heute. Es war Vergangenheit und Gegenwart in eins, was er auf den Straßen sah und hörte. Damit rühren wir an das für unsere Aufgabe inhaltsreichste Wort, das sich in Dichtung und Wahrheit über Goethes damaliges Verhältnis zur Vergangenheit findet. „Ein Gefühl aber", heißt es im 14. Buche, „das bei mir gewaltig überhand nahm und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner größeren und kleineren Arbeiten ausgedrückt, und wirkt im Gedicht immer wohltätig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, jedermann seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen mußte." Es kann einem bei diesen in der Tat seltsamen Worten einen Augenblick das Herz stille stehen. Sie stellen eine kleine Welt für sich dar, deren Kernzone wir vielleicht jetzt leidlich verständlich machen können, deren peripherische Zone aber unfaßbar verdämmert und zu Ahnungen führt, die wir nach und nach zu klären versuchen müssen. Denn alle weitere Untersuchung über Goethes geschichtliches Denken ist eigentlich nur ein Kommentar zu diesen Worten. Fassen wir die beiden Erlebnisse aus dem Jahre 1774 ins Auge, mit deren Beispiele Goethe sie belegt, — das Kölner Domerlebnis und das Erlebnis im 32
Jabachsdien Hause in Köln. Man möchte sie fast mit den besonderen Erweckungsstunden im Leben des Pietisten vergleichen. Vom Jabacherlebnis ist zwischen Goethe und Jacobi, der dabei war, damals und später noch öfter die Rede gewesen, so daß man sieht, wie stark es gewesen und wie gut bezeugt der Bericht von Dichtung und Wahrheit ist (an Jacobi 21. 8. 74 und Jacobi an G. 28. 12. 12; Gespräche 1, 45; Kunst und Altertum, Jubiläumsausgabe 29, 236; dazu Georg Jacobis Tagebuch in Moris' Neuausgabe des „Jungen Goethe" 4, 116). Am damaligen Kölner Dom trat ihm eine Ruine entgegen, die wohl zunächst die vom Straßbui;ger Münster erregten Empfindungen erneuerte, dann aber sie in eine andere, tragische Richtung drängte. Mitten in seiner Erschaffung war dieses Riesenwerk erstarrt, stecken geblieben und nun labyrinthisch dunkel in seinen Intentionen. Die Hemmung, die ein gewaltiges menschliches Wollen der Vergangenheit hier gefunden hatte, legte sich ihm aufs Gemüt. Ein Schaudern vor diesem Vergangenen, das noch wirklich da war und doch unwirklich wirkte, mag ihn befallen haben. Das „Gespenstermäßige" in dem Eins von Vergangenem und Gegenwärtigem dominierte. Anders das Jabacherlebnis in denselben Julitagen 1774. Er fand das Heim einer ausgestorbenen Patrizierfamilie noch genau in demselben Zustand, mit demselben Gerät wie einst. Der heutige Reisende findet solche zu Museen erstarrte alte Familienheime noch immer hier und da, in Danzig, Mailand, Florenz usw., und geht mit abgestumpfter Neugierde, aber doch freundlich angeweht in ihnen herum. Aber Goethes „überzartes Gefühl" — so nennt er es einmal — wurde dabei vollends aufgeregt, als er das 33
Lebrunsche Bild der Familie Jabach über dem Kamine sah, aus dem ihm die einstigen Bewohner, lebensfrisch und doch schon längst vergangen, entgegenblickten. Das stürzte ihn nun nicht, wie die Kölner Domruine, in ängstliche Zweifel, sondern löste seine Seele vom Alpdrucke; er muß nach Jacobis Zeugnis hinterdrein hinreichend aufgeschlossen und gebend gewesen sein. Das „'Wohltätige" im Eins von Vergangenheit und Gegenwart dominierte. Dieses „Eins" aber führt nun überhaupt in die tiefsten Probleme einer neuen Geschichtsbetrachtung, des Historismus, hinein. Es gibt, wie schon diese Beispiele zeigen, verschiedene Formen dieses Einsgefühles. Goethe rühmt auch noch in Dichtung und Wahrheit (Buch 15) an Moser, daß er das Vergangene mit dem Gegenwärtigen „zusammenknüpfe" und dieses aus jenem ableite. Und sagt, verwandt damit, von seinem Straßburger Lehrer, dem Antiquar und Geschäftsmann Schöpflin: „Er gehörte zu den glücklichen Menschen, welche Vergangenheit und Gegenwart zu vereinigen geneigt sind, die dem Lebensinteresse das historische Wissen anzuknüpfen verstehen" (Buch 11). Das ist sozusagen die durchschnittliche, die auch verstandesmäßig einleuchtende Art, wie der Historiker Vergangenheit und Gegenwart zusammenbringen kann. Aber diese Art ist in jenen beiden Erlebnissen nicht gemeint. Zusammenknüpfen ist auch noch nicht völliges Einsgefühl, jenes rätselhafte, fast visionäre Gefühl, das Goethe gehabt zu haben bezeugt. Und weil es diesen Stich ins Visionäre hat und über allen herkömmlichen und bekannten Gefühlen, die Vergangenes erregen kann, gleichsam schwebt, hat es auch gar nichts zu tun mit demjenigen Einsgefühl von Vergangenheit und Gegenwart, das der 34
Traditionalismus erzeugt. Für diesen ist oder soll sein die Gegenwart die einfache Fortdauer einer bewährten Vergangenheit. Man bleibt oder will bleiben, was man war. So hat man von den heutigen Franzosen gesagt, sie sähen unhistorisch die Vergangenheit als Gegenwart, als Dauer an (E. R. Curtius). Von Goethes geheimnisvollem Einsgefühl kann man nur sagen, daß ihm irgendein Trieb oder Wille, Vergangenes dauern zu lassen oder wiederherzustellen, völlig fehlt. Es transzendierte vielmehr, so wagen wir es zu deuten, sowohl die Vergangenheit wie die Gegenwart und entrückte den Dichter in eine höhere Sphäre, in der er nun tief ergriffen, über den Zeiten schwebend, weilte. So versteht man, daß diese Stimmung im Gedichte wohltätig, im Leben, das ihn zur Gegenwart schlechthin wieder herunterzog, mitunter unerfreulich wirken konnte. Seine Worte lassen auch keinen Zweifel, daß sie nicht nur damals vorübergehend sich einstellte, sondern seiner Dichtung überhaupt zugrunde lag. Ihr menschlich-göttlicher Zauber beruht auf ihr; denn dieses Einsgefühl ist im Grunde identisch mit dem, was ihn zum großen Dichter machte, mit der Kraft, jedes zeitliche Erlebnis, das ihn bewegte, seiner nur zeitlichen Hülle zu entkleiden, den Augenblick zur Ewigkeit zu erheben. So haben wir hier vielleicht den merkwürdigen Angelpunkt, wo sein Dichtertum mit seinem spezifischen Geschichtsgefühl zusammenhängt. Denn es fragt sich jetzt, ob jene Stimmung nicht auch seinem geschichtlichen Denken, mehr oder minder klar bewußt, fortan zugrunde lag, — nachdem sie einmal, latent gewiß schon lange vorhanden, ihm in Köln zum deutlichen Bewußtsein gekommen war. Zweierlei Merkmale 35
dieser Stimmung müssen wir für alle weitere Untersuchung im Auge behalten. Einmal, daß sie ins ÜberzeitlichZeitlose aufstieg. W i r machten schon bei den Münstergedanken, bei Götz und Egmont leise auf solche Tendenz und audi darauf aufmerksam, daß sie sich mit dem im Grunde
ebenfalls
überzeitlichen
Geschichtsdenken
der
Aufklärung zu berühren scheint. Und sodann, daß sie seelisch zwiespältig auf Goethe gewirkt hat, das eine Mal Schaudern vor Gespenstern, das andere Mal gesteigertes Lebensgefühl hervorgerufen hat. Sollte nicht auch von dieser Ecke her Licht fallen können auf jene Diskrepanz zwischen seinem tiefen Genügen und tiefen Ungenügen an der Geschichte, die wir im Eingang andeuteten? Der überzeitliche Zug in dem Einsgefühle weist noch auf weitere Höhen in Goethes Weltanschauung, von der aus der nährende Quell zu seiner Geschichtsanschauung floß. Der systematische Teil dieser Darstellung wird davon zu sprechen haben. W i r setzen unsere Wanderung über die Stufen seiner Entwicklung fort.
II. Erste Weimarer
Zeit und Italienische
Reise
Man pflegt die zweite Epoche in Goethes Leben vom Beginn seines Weimarer Lebens 1775 an als die des Klassizismus zu bezeichnen, in sich wieder als Zeiten der Frühund Hochklassik zu gliedern und sie ungefähr mit dem T o d e Schillers 1805 abzuschließen. Für unsere Zwecke müssen wir etwas anders gliedern. Das Sturm-und DrangVerhältnis Goethes zur geschichtlichen W e l t ändert sich auch für uns ungefähr mit dem Zeitpunkte, wo er den Boden Weimars betrat. Aber eine neue Wendung zur Ge36
schichte glauben wir schon, vorbereitet durch die Erlebnisse seit 1789, im Ausgange der neunziger Jahre wahrzunehmen. Von dieser Wendung an erscheint uns alles weitere geschichtliche Denken und Forschen Goethes wie ein von schmälerem Busen aus sich einheitlich ausbreitendes Meer, dessen Gliederungen und Strömungen sich auch einheitlich erfassen lassen. In dieses Meer führte die Zwischenzeit von 1775 bis etwa 1789 wie ein schmales, aber sehr tiefes Flußbett^ die Gewässer hinab, die aus den Ursprungsquellen von Sturm und Drang flössen. Diese Zwischenzeit war nicht so reich an unmittelbaren Berührungen mit der gesdiichtlidien Welt wie die Frühzeit und Spätzeit. Tasso und Iphigenie kann man nicht wie Götz und Egmont auf ihren historischen Gehalt hin betrachten. Der geschichtliche Boden, auf dem sie spielen, ist zwar nidit zufällig gewählt, aber jeweils zu einer idealen Welt umgewandelt, wie sie das künstlerisch-menschliche Bedürfnis des Dichters jetzt forderte. Verwaltung und Politik des Kleinstaates, in die er pflichtgemäß, aber auch mit dem Einsatz seiner Persönlichkeit nun eintrat, führten ihm wohl Erfahrungen zu, die sein geschichtliches Denken mit befruchtet haben. Aber als er dann ebenfalls pflichtgemäß daran ging, seinem Kleinstaate ein geschichtliches Monument zu setzen mit der Biographie Herzog Bernhards von Weimar, mit einer Aufgabe also, die aus dieser Kleinstaatswelt hinüberragte in deutsche und europäische Schicksale, da stellte es sich heraus, daß der Faden des Interesses riß. Die Lust und der Glaube versagten, die wirren Kriegs- und Staatshändel des Dreißigjährigen Krieges in eine Form zu bringen (1779/82). 37
In eine Form zu bringen! Das war das große Anliegen Goethes in dieser Zeit für seine jetzigen Lebensinhalte, für Kunst und Natur. Sie sollten nicht ärmer dadurch werden an Inhalt, obwohl der überschwellende Empfindungsgehalt von Sturm und Drang gemäßigt, aber durch reicheren Erfahrungsgehalt ergänzt wurde. Sie sollten auch nicht durch die neu für sie gefundenen Formen starr und stabil werden wie die unveränderlichen Werte der Aufklärung. Aber das bisher flutende und strudelnde Leben wurde zum stetigen fließenden Leben. Die auf ihr Recht pochende Freiheit des Individuums wurde sich bewußt, daß ihr Recht nur beruhe auf der Einhaltung einer inneren und formenden Gesetzlichkeit. Hier wurde heilsam für ihn die bestimmtere Richtung auf die Außenwelt, die objektiven Mächte des Lebens, die ihm das Weimarer Leben aufnötigte. Indem er die Eigengesetzlichkeiten und Bedingtheiten des wirklichen Lebens genauer kennen lernte, suchte er unwillkürlich die innere Lebendigkeit, die er in sich verspürte, auch in ihnen. Subjektivität und Objektivität begannen einander zu befruchten. Darum wurden die inneren Gesetze, die er in Kunst und Natur nun überall aufsuchte, nicht, wie die der Aufklärung, Gesetze eines Seins, sondern Gesetze eines Werdens. Die ungeheure explosive Dynamik, mit der der junge Goethe die Schöpferkraft der Natur und des als Natur verstandenen menschlichen Geistes sich hatte auswirken sehen und mit der er selbst gedichtet hatte, wich der ruhigeren Allmacht eines genetischen Verständnisses für alles, was in Kunst und Natur ihn fesselte. Suchen wir diesen ersten summarischen Überblick stufenweise näher zu erläutern. Herr zu werden des überströ38
inenden Reichtums von Leben, das er in sich und in der Welt um sich spürte und schaute, ordnende Prinzipien für ihn zu finden, die nichts von diesem Reichtum verkürzten und vergewaltigten, das war der Sinn der Gedanken- und Selbstbildungsarbeit dieser Jahre. Er kehrte damit in gewisser Weise methodisch zu dem Unternehmen der Aufklärung und der ihr vorangegangenen Bewegung des späteren 17. Jahrhunderts zurück, Welt und Leben aus der Wirkung einfacher Naturgesetze zu begreifen und das Mannigfaltige zusammenzuziehen, um es zu regulieren. „Du weißt," schrieb er an Wieland 1780, „die Seele fällt bei langem Denken aus dem Mannigfaltigen ins Einfache." Aber dies Einfache konnte nicht mehr so einfach sein wie die Gesetze der Mechanik und des Naturrechts, seitdem der Individualitätsgedanke entdeckt war. Goethe hatte ihn früh entdeckt und durch seine Jugenddichtungen ihn leidenschaftlicher und tiefer zum Ausdruck gebracht, als dies selbst Herder und Moser vermocht hatten. An ihm hielt er auch jetzt mit Inbrunst und mit dem Bewußtsein, einen Weltschlüssel in ihm zu besitzen, fest. „Hab ich dir", schrieb er 1780 an Lavater, „das Wort Individuum
est ineffabile,
woraus ich eine Welt ableite,
schon geschrieben?" 1 Auch sein jetzt eifriger betriebenes Die unmittelbare Herkunft dieses Wortes hat sich nicht feststellen lassen. Joel, Wandlungen der Weltanschauung 2, 923 f. führt es zwar auf Plinius, dem es dann die Scholastik nachgesprochen habe, zurück. Aber der von mir befragte E d u a r d N o r den bezweifelt die antike Herkunft und erhielt auch vom Thesaurusarchiv, wo er anfragte, negativen Besdieid. Der in dem W o r t e ausgedrückte Gedanke aber kann, wie mir Ernst Hoffmann mitteilte, in seiner Geschichte von Plato (Theaeter 205 e axo'.'/sEov «Xofov und Aristoteles an durch die Scholastik hindurch verfolgt werden. Aristotelische und neuplatonische, rein logische und mystische Motive verschmolzen sich in ihm im Spätmittelalter. Cusanus ist namentlich wichtig dafür. 1
39
Spinozastudium führte ihn nidit etwa in Versuchung, das Individuelle als bloße Modifikation untergehen zu lassen in der allgemeinen absoluten Substanz. Er las aus ihm heraus, was er schon fest in sich trug, und schrieb an Jacobi 1785: „Ich erkenne ein göttliches Wesen nur in und aus den rebus singularibtts." Aber die Triebkraft des Individualitätsgedankens selbst konnte dabei nicht stehen bleiben. Die Isolierung individueller Großtaten mit bloßem Bezug auf den allgemeinen Mutterschoß der Natur, zu der sein Münsteraufsatz geneigt hatte, war schon, wie wir sahen, am Ende der Sturm- und Drangzeit der Einsicht gewichen, daß Individualität immer in Wechselwirkung mit allen umgebenden Individualitäten steht. Audi diese Einsicht genügte noch nicht ganz, um die Lücken zu schließen, die zwischen dem Walten der dunkel mächtigen Natur im Großen und dem der aus ihr unvermittelt hervorbrechenden Individualitäten bestanden hatten. Das Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit, Individuellem und allgemeinem Urgrund des Individuellen mußte noch reicher gegliedert, anschaulicher und überzeugender gestaltet werden. Eine erste Stufe dazu, wenn wir recht sehen, war die schon im Urfaust erreichte, ein zeitloses, ewiges Ineinanderwirken und Zusammenwirken aller Kräfte zu einem Ganzen begeistert anzuschauen: Wie Eins Wie Und
Alles sich zum Ganzen webt, in dem Andern wirkt und lebt! Himmelskräfte auf und niedersteigen sich die goldnen Eimer reichen!
40
Oder wie es im Satyros von 1773 heißt: Und auf und ab sich rollend ging Das all und ein' und ewig' Ding, Immer verändert, immer beständig. Dasselbe Schauspiel, diesmal mit dem Ohre, nidit mit dem Auge aufgenommen und von einem sdion wissenschaftlichen Erkenntniswillen verfolgt, gibt ein Brief an Knebel von 1784 wieder. Anknüpfend an seine osteologischen Untersuchungen, die ihm die Verwandtschaft des Menschen mit dem Tiere gelehrt und — wir kommen darauf zurück — die Bedeutung des Gestaltprinzips bestätigt hatten, heißt es: „Und so ist wieder jede Kreatur nur ein Ton, eine Schattierung einer großen Harmonie, die man auch im ganzen und großen studieren muß, sonst ist jedes Einzelne ein toter Buchstabe." Auf dieser Stufe steht auch das berühmte Fragment über die Natur von 1781/82, mit dessen Autorschaft Goethe vielleicht in souveräner Laune ein ähnliches Versteckspiel getrieben hat, wie er die Natur hier selber mit ihren rätselhaften Offenbarungen spielen läßt. Wie es auch mit der Beteiligung des jungen Schweizers Tobler an dem Aufsatze stehen mag, sicher ist, daß man für jeden seiner Gedanken mit der Möglichkeit Goetheschen Ursprungs rechnen muß. Daß Goethe dabei unter dem besonderen Einflüsse Shaftesburys stand, ihn aber vertiefte und verinnerlichte, hat Dilthey gezeigt (Ges. Sehr. II). Natur umfaßt hier, wie es Goethe, darin einig mit Herder, im Grunde immer empfunden hat, auch das menschliche Leben, implicite damit auch die Geschidite. Aber die Ge41
schichte wird auch hier, in konsequenter Ausprägung eines uns bekannten Goetheschen Grundbedürfnisses, ganz entzeitlicht und in ein ewiges Drama, gespielt von „wenigen, aber nie abgenützten, immer wirksamen, immer mannigfaltigen Triebfedern" verwandelt. „Alles ist immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihr Ewigkeit." Wieder ein transzendierendes Einsgefühl über den Zeiten, nur anders gefärbt als im Kölner Dom- und Jabacherlebnis, nicht wie diese durch das Hineinragen eines Vergangenen ins Gegenwärtige hervorgerufen, sondern aus einer fessellosen und tiefen Gesamtschau über Natur und Menschheit entsprungen. So gilt auch von diesem Einsgefühl, was Goethe von der Natur sagt: „Alles ist neu und doch immer das Alte." Er konnte mit seinen Grundgedanken und -erlebnissen denselben Proteus spielen, wie seine „Natur" es mit ihren Hervorbringungen tat. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß auch dieser Aufsatz ein Bekenntnis zur Individualität enthält. Aber auch zur Vergänglichkeit aller Individualität, mit dem Tröste, daß sie ewig neu wieder entstehe. „Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen." Man könnte aus diesen Worten ebenso die Stimmung, einer erhabenen Gleichgültigkeit gegenüber den wechselnden Erscheinungen der Natur, wie die einer tiefen Erfülltheit von der sie hervorbringenden Schöpferkraft heraushören. In Wahrheit sind beide Stimmungen auch da, aber ganz in Eins wieder verschmolzen. Der Standpunkt ist aber zu hoch und luftig, um die hier ganz in dem allgemeinen Naturleben aufgehende geschichtliche Welt auch nur in ihren allgemeinsten Reali42
täten aufdämmern zu lassen. Goethe hat im Alter (an v. Müller 1828), als er das Fragment wieder vor Augen bekam, die in ihm gewonnene Einsicht nur als einen „Komparativ", eine Zwischenstufe in der Entwicklung zu seinen höchsten Gedanken bezeichnet. Es fehle ihm, wie er etwas übertrieben kritisierte, noch die später von ihm gewonnene Anschauung der zwei großen Triebräder der Natur, der Polarität und der Steigerung. Diese werden uns später noch beschäftigen. Sagen wir aber schon hier, daß damit zugleich auch die volle Anschauung von dem, was Entwicklung in Natur wie Geschichte bedeutet, immer noch fehlt. So schlug nach der Abwendung von Sturm und Drang und dem Beginn einer bewußt ordnenden Bildungsarbeit das Pendel des Goetheschen Denkens zuerst in das Spekulativ-Übersichtige hinüber. Auch die „Philosophische Studie" von 1784/85 1 zeugt davon. Sie knüpfte an Spinozasche Gedanken an, um sie, wie Dilthey gezeigt hat, sofort umzubilden im Sinne seines eigenen und neuen Gefühls für die Lebendigkeit und Unerforschlichkeit des Wirklichen.' Zwei methodische Prinzipien, die dermaleinst auch auf die geschichtliche Welt angewandt werden konnten, wurden in ihr ausgesprochen. Einmal daß der Maßstab zur Messung eines lebendig existierenden Dinges niemals von außerhalb her genommen werden dürfe, sondern, wenn es denn gemessen werden sollte, „mußte es dep Maßstab selbst dazu hergeben", und dieser sei dann höchst geistig und könne durch die Sinne nicht gefunden werden. Und sodann die schon im Münsteraufsatz von 1772 intuitiv erfaßte, jetzt nur begrifflich klar und voll1
W i r glauben, an dieser D a t i e r u n g festhalten zu müssen.
43
ständiger ausgesprochene Erkenntnis vom Wesen des Organismus: „In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Teile nennen, dergestalt unzertrennlich vom Ganzen, daß sie nur in und mit demselben begriffen werden können." Damit war etwas die gewöhnliche Fassungskraft Übersteigendes ausgesprochen. Das wußte Goethe und zog daraus, an Leibniz anklingend, die große Folgerung, daß wir audi das eingeschränkteste lebendige Wesen „ebenso wie das ungeheure Ganze, in dem alle Existenzen begriffen sind, für unendlich erklären müssen". Wer mit ihm fortan so dachte, konnte niemals wieder zurückfallen in die Methode der Aufklärung und des Naturrechts, das menschlich Individuelle zu messen mit dem von außen angelegten Maßstabe eingebildeter stabiler Vernunftwahrheiten. Und die Luft einer überrationalen Unendlichkeit mußte von hier aus auch in die geschichtliche Welt einmal einströmen. Wieder um eine Stufe höher stieg Goethe durch die Italienische Reise 1786/87 1 . Man weiß, daß sie für ihn ein lebensrettender Entschluß war. Die Luft in Weimar war zu dünn und inhaltsarm für ihn geworden, um von anderen seelischen Nöten, die ihn wegtrieben, zu schweigen. Seine Ideen, die schon in Gefahr standen, zu spekulativ zu werden, bedurften der inneren Auffüllung durch das, was ihm Lebenselement war, — Anschauung konkreten Lebens und seiner großen Phänomene, an denen er nun Die Wiedergabe des Goetheschen Denkens in Italien hat bekanntlich mit einer quellenkritischen Schwierigkeit zu kämpfen, da das originale Tagebuch und die Briefe, die Goethe seiner überarbeiteten „Italienischen Reise" zugrunde legte, nur zum Teil erhalten sind. W i r legten selbstverständlich die originalen Dokumente, soweit sie erhalten sind, zugrunde, glaubten aber da, wo sie fehlen, auch den überarbeiteten T e x t der Ital. Reise 1
44
seine theoretisch eroberten Grundsätze bewähren und vertiefen durfte. Das geschah mit gewollter Einseitigkeit und richtete sich voran, alle übrigen Seiten des Lebens, das er in Italien sah, zurückdrängend, auf Kunst und Natur. Auch nicht auf die ganze Kunst, die er hier hätte sehen können, sondern auf diejenige, die aus Griechenland war oder von ihr abstammte oder wieder an sie anzuknüpfen schien. Wir können schon bei Winckelmann feststellen, daß in diesem klassizistischen Geschmacke und Wertmaßstabe, der dann im deutschen Neuhumanismus weiterleben sollte, noch einmal etwas von dem absolutierenden Geiste der naturrechtlichen Weltanschauung aufstieg. Bei dem älteren Winckelmann war dies verständlicher als bei Goethe, in dessen Welt schon der Individualitätsgedanke eingezogen war. Es war auch nur möglich, weil Goethe die Kunst selbst am Maßstabe der Natur, d. h. seines Naturbegriffs, maß und zu dem Ergebnis dabei kam, daß eigentlich nur die griechische Kunst diesem Begriffe von Natur entspräche, also Werke schüfe, die innere Vollkommenheit in sich, Harmonie von Gestalt, Form und innerem Wesensgehalt, von Leib und Seele böten. „Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen: da ist die Notwendigkeit, da ist G o t t " (6. 9. 87; I. R.). Mail muß die hinreißende Offenbarung, die ihm in der griechischen Kunst und unter italienischem Himmel jetzt mit Vorsicht benutzen zu müssen, weil die daraus entspringende Fehlerquelle immer noch weniger schadet als die gänzliche Ignorierung kostbarer, nur eben vielleicht retouchierter Zeugnisse. Sie sind im T e x t e mit I. R. gekennzeichnet.
45
wurde, ganz nachempfinden, um der Verengerung gerecht zu werden, die damit in Goethes Geiste vor sich ging. Notwendigkeit, Wahrheit und Schönheit hatte er einst auch am Straßburger Münster wahrgenommen und die Merkmale einer organischen Ganzheit an ihm festgestellt. Jetzt entnordete sich sein Kunst- wie sein Naturgefühl im Anblick höchster Steigerung dessen, was Form und Gestalt in Kunst und Natur, in Landschaft und Menschentum fast gleichartig klassisch ausgeprägt dem sinnlichen Auge bieten konnten. Die äußere, sinnlich überredende und sich einprägende Form wurde ihm hier vorübergehend wichtiger als die „innere Form", an der es den nordischen Gebilden wahrlich nicht fehlte. Es war ihm jetzt ganz recht, daß Karl August den Gedanken, die Rembrandtsammlung in "Weimar zu vervollständigen, aufgab. „Besonders", schrieb er ihm 1787, „fühle ich hier in Rom, wie interessanter denn doch die Reinheit der Form und ihre Bestimmtheit vor jener markigen Roheit und schwebenden Geistigkeit ist und bleibt." Es muß ein leidenschaftliches Bedürfnis nach Vollkommenem und vor allem danach, Vollkommenes mit Augen anzuschauen, bei Goethe in Italien wach gewesen sein, wie es vorher und nachher in dieser Stärke bei ihm nicht war, wie es vor ihm nur der aus dem Norden kommende Winckelmann in gleicher Stärke gehabt hatte. So leidenschaftlich, daß es selbst sein Kunstbedürfnis in den Schatten drängte und schließlich nur, wie in der Jugendzeit, aber jetzt in geklärterer und rationalerer Weise, am Busen der Natur sein Genüge fand. Es ist bequemer und leichter, gestand er (an die Herzogin Luise 23. 12. 86), die Natur als die Kunst zu beobachten und zu schätzen. „Das ge46
ringste Produkt der N a t u r hat den Kreis seiner Vollkommenheit in sich, und ich darf nur Augen haben, um zu sehen, so kann ich die Verhältnisse entdecken, ich bin sicher, daß innerhalb eines kleinen Zirkels eine ganze, wahre Existenz beschlossen ist." Dagegen in den Kunstwerken sei das „Beste" in der Idee des Künstlers, die er selten oder nie erreiche; zudem sei viel Tradition bei ihnen, nicht so leicht zu verstehen und zu entziffern wie die Gesetze der lebendigen Natur. „Die Naturwerke sind immer wie ein erstausgesprochenes Wort Gottes." Die Kunst war ein Stück der geschichtlichen Welt, nach deren Wirkung auf Goethe wir fragen. Das Interesse an der geschichtlichen Welt erscheint jetzt in hohem Grade zusammengedrängt auf die Kunst, und zwar auf eine ganz bestimmte, für unser Empfinden ungeschichtlich verabsolutierte Kunst, — und selbst diese bestand jetzt bei d r Vergleichung mit den Werken der Natur nicht ganz die Probe. Und die hochgeschichtliche K r a f t der „ T r a dition" empfand er an der Kunst nidit, was sie doch war, als eine Lebenskraft, sondern fast mit Unmut als eine Hemmung des reinen Verstehens. Der äußerste Gegenpol gegen das, was wir geschichtliches Interesse und geschichtliches Denken nennen, scheint erreicht zu sein in Goethes Entwicklung. Und dieser Gegenpol der „ N a t u r " , bei dem er jetzt Stand nahm, war nicht mehr, wie in der Sturmund Drangzeit, der irrationale dunkle Urgrund alles Lebens, dessen K r a f t auch in den Hervorbringungen der Geschichte damals summarisch und tumultuarisch verehrt wurde. Sondern die Natur hatte jetzt wieder einen rationaleren Charakter angenommen und wurde nach der klaren, verständlichen Wirkung ihrer Gesetze von Goethe 47
befragt. Aber es war eine neue Ratio, tief verschieden von der mechanisch und stabil verstandenen Ratio der Aufklärung, und in der, geläutert, auch die schöpferische Konzeption von Sturm und Drang „aufgehoben" ruhte. So konnten von der neuen Konzeption der Natur Wirkungen ausgehen, die über kurz oder lang auch die geschichtliche Welt wieder treffen mußten. Wir stehen vor der großen Entdeckung, die Goethe in den botanischen Gärten Italiens machte, von der Urform der Pflanze und ihren Metamorphosen. Die Frage nach Urformen in der belebten Natur überhaupt und ihren Umwandlungen war nicht schlechthin neu. Buffon hatte sie in der Umbildung zu lebendiger elastischer Tatsachenforschung, die in der Wissenschaft Westeuropas jetzt vor sich ging, schon gestellt, und Herder hatte sie im Eingang seines Ideenwerkes, vielleicht durch Goethe schon angeregt, tastend berührt (13, 49, 67; 14, 590). Es kommt hier nicht darauf an, was an Goethes besonderen Beobachtungen schon bekannt war und was von dem Neuen, was er hinzufügte, vom Standpunkt modernen Naturwissens aus als irrig gelten muß. Das Entscheidende für uns ist, daß er ein Gesetz zu sehen glaubte, das über den mechanischen Charakter der bisher bekannten Naturgesetze hinausgriff und die Metamorphosen im Pflanzenleben nicht nur aus physikalischen und chemischen Vorgängen, sondern vor allem aus einem inneren geheimen Lebensprinzip ableitete. Die Verwandtschaft aller Pflanzen miteinander führte ihn auf die Idee eines gemeinsamen, in allen nachweisbaren Urtypus, der „übersinnlichen Urpflanze", die Verwandtschaft aller äußeren Pflanzenteile an derselben Pflanze miteinander auf die Annahme ihrer ursprüng48
liehen Identität. Worauf dann, um die doch vorhandenen Verschiedenheiten zu erklären, nur die ungezwungene Folgerung übrig blieb, daß sie durch allmähliche Entwicklung aus der Urpflanze entstanden seien. Ein großer Bereich der Natur geriet dadurch in Fluß und Wandel und behielt doch dabei ein Beharrendes, den Urtypus, der sich nur tausendfältig vermannigfaltete. Ein neues Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit zueinander wurde dadurch begründet. Das Rätsel ihres Gegensatzes wurde überwunden durch die Einsicht in ihre innere, aus dem Lebensprozeß notwendig folgende Zusammengehörigkeit. Der Gedanke, daß jedes einzelne Organ einer Pflanze die Anlage habe, sich unter bestimmten Bedingungen selbst zu einer Pflanze, also einer Ganzheit zu entwickeln, warf Licht auf eine Tendenz des Lebens, Ganzheiten zu bilden, überhaupt. Innere Kräfte und äußere Bedingungen ließ er in diesem Werdeprozeß zusammenwirken. Den Pflanzen ist, so drückte er sich später aus (Gesch. meines botan. Studiums), „eine glückliche Mobilität und Biegsamkeit verliehen, um in so viele Bedingungen, die über dem Erdkreis auf sie einwirken, sich zu fügen und darnach bilden und umbilden zu können." Einmal gefaßt, mußte die Konzeption auf weitere Bereiche des Lebens in der Natur irgendwie übergreifen. „Dasselbe Gesetz", schrieb er schon 1787 an Frau von Stein, „wird sich auf alles übrige Lebendige anwendeh lassen." Dieses Gesetz lag ihm sogar, wie das Folgende zeigen wird, schon in den Fingern, als er Italien betrat und es sich noch nicht bewußt formuliert hatte. „Natur durch Entwicklung zu enträtseln", nannte er später (Gesch. d. Färb.) das dadurch gebotene Verfahren. Inwieweit war 49
auch die geschichtliche Menschheit dadurch zu enträtseln? Diese Frage im ganzen hat sich Goethe in Italien noch nicht vorlegen können oder wollen, weil er genug zu tun hatte, um sich Natur und Kunst zu enträtseln. Nahe gebracht wurde sie ihm aber schon etwas durch Vico, den er in Neapel, freilich nur flüchtig, las, immerhin mit dem starken Eindruck, daß hier „sibyllinische Vorahnungen des Guten und Rechten, das einst kommen soll oder sollte, gegründet auf ernste Betrachtungen des Überlieferten und des Lebens" seien (I. R.). Vico erinnerte ihn an Hamann. Man wird nicht überschätzen dürfen, was er beiden verdankte. Der Sinn für die innere dynamische Bewegtheit des Alls und der Menschheit, den sie nährten, war ihm selber ureigen, aber ihre besonderen tiefen, auf das U r tümliche der menschlichen Natur und Geschichte gehenden Einsichten bedeuteten ihm gerade jetzt, in der Epoche des Klassizismus, verhältnismäßig wenig. In der Methode, die großen Schöpfungen der Kunst durch Entwicklung zu enträtseln, hatte ihm Winckelmann den Weg gebahnt. Goethe trat in sie ein wie in ein neu an den Rändern entdecktes Land. „Ein sorgfältiges Auge", schrieb er an Herder im Januar 1787, „wende ich immerfort auf die verschiedenen Stile der Völker und die Epochen dieser Stile in sich." „Durch Winckelmann", heißt es dann in der Italienischen Reise, „sind wir dringend aufgeregt, die Epochen zu sondern, den verschiedenen Stil zu erkennen, dessen sich die Völker bedienten, den sie, infolge der Zeiten, nach und nach ausgebildet und zuletzt wieder verbildet." Und in diesem Felde „sei kein Urteil möglich, als wenn man es historisch entwickeln kann." Er wandte diese neue Sehweise auch auf die Kunst der Renaissance 50
an, auf die aufsteigende Linie, die von Mantegna zu Tizian, auf die Stufen der Pyramide, die von den Vorgängern Rafaels zu diesem hinaufführte, „über dem kein andrer, neben dem kein andrer stehen kann". Da trat nun aber auch hervor, daß er dem Bedürfnis, Entwicklung zu schauen, unwillkürlich innere Schranken setzte. An der Kunst Giottos ging er vorüber. Sein normativer Klassizismus trat ihm in den "Weg. Das Schönste in der Kunst durch Entwicklung erwachsen zu sehen, dies fesselte ihn. Auch sein Entwicklungsgedanke blieb jetzt noch, wie der Winckelmanns, in den Schranken des Vervollkommnungsgedankens. Den Entwicklungsprozeß der Kunst im ganzen zu verfolgen und auf jeder, auch der niedersten Stufe irgendwelchen eigenartigen Wert aufzusuchen, lehnte er innerlich ab. Sein Auswahlverfahren gegenüber der geschichtlichen Welt, schon in der Frühzeit angelegt, beginnt sich deutlicher abzuzeichnen. Aber die subjektiven Auswahlkriterien der Sturm- und Drangzeit wurden jetzt durch objektive ersetzt. An den inneren Gesetzlichkeiten, die er in der Natur gefunden und auf die Kunst zu übertragen begann, fand er seinen Halt gegen die immer noch vulkanisch bewegten Mächte seines Innern. Er dachte an Rousseau und den Irrweg, den dieser in seinem Subjektivismus gegangen war. Er hielte sich oft selbst für toll, gestand er 1787 (I. R.), wenn er sich nicht an den Ordnungen der Natur innerlich hoch gehalten hätte. Die geschichtliche Welt im weiteren Umfange konnte ihm diesen Halt noch nicht bieten, auch nicht in Italien, wo sie so mächtig zu ihm sprach. Wohl hört ei- auch diese Sprache mit tiefer Ergriffenheit. „Hundertfältig", sagt das Tagebuch, „steigen die Geister der Geschichte aus dem 51
Grabe und zeigen mir ihre wahre Gestalt." Berühmt sind seine Worte über Rom, von wo aus Geschichte sich ganz anders lese als an jedem Orte der Welt 1 . „Man meint, man sähe Alles, Alles reiht sich." „An diesen Ort", heißt es ein andermal, „knüpft sich die ganze Geschichte der Welt an". Und ein weiteres M a l : „Die römische Geschichte wird mir, als wenn ich dabei gewesen wäre." Vielleicht spricht aus solchen Worten nicht eigentlich das innerlich historische Gefühl einer tiefen Verbundenheit des eigenen und des abendländischen Daseins mit Rom, sondern mehr das einer ästhetischen Befriedigung, vom Zentrum gewaltiger Geschehnisse aus alle Wege zu überblikken, die von hier aus in die Welt ringsum einst gegangen wurden. Es waren die Wege der politisch-militärischen Macht gewesen, und wo er diesen etwa nähertreten sollte, konnte sich mit einem Male sein Gefühl dagegen sträuben, seine innerliche Fremdheit gegenüber dieser Sphäre der geschichtlichen Welt zeigen. Er lehnte auf Sizilien die Einladung, das Schlachtfeld einer Hannibaischlacht — so hörte er, es war in Wirklichkeit eine Hasdrubalschlacht — zu besuchen, unfreundlich ab. Er wollte keine „abgeschiedenen Gespenster" jetzt, wo er eine schöne Gegenwart genoß, sehen. Es war ihm eine unerträgliche „Vermischung des Vergangenen und desGegenwärtigen"(I.R.). Die ihn beunruhigende Nachtseite seines Einsgefühls von Vergangenem und Gegenwärtigem stieg wieder auf. U n d dennoch konnte er auch wieder an Hannibal mit InAn Herder, Dez. 1786. Der T e x t von I. R . „Anderwärts liest man von außen hinein, hier glaubt man von innen hinaus zu lesen", ist also Überarbeitung, Hineintragung späterer Goethescher Empfindung. Aber auch die Beispiele, die Goethe in I. R. für das „von innen hinauslesen" gibt, betreffen nur die äußeren Wege der römischen Macht. 1
52
teresse zurückdenken, als er am Nemisee die Position studierte, die deutsche Truppen, seltsam dahin verschlagen im Feldzuge von 1744, dort innegehabt hatten. „Eine köstliche Position, die auch ehemals Hannibal erwählt hatte" (an Karl August 1787).Das Sinnvoll-Anschauliche der Erinnerung ließ seine Gedanken gleich schwingen und einen Schatten der Vergangenheit mit einem Mal lebendig werden. Und überhaupt, da, wo historische Gebilde, die in die Gegenwart hineinragten, schon nach der Methode der Pflanzenmetamorphose betrachtet werden konnten, atmete er befriedigt wieder auf. „Du kennst meine alte Manier", schrieb er an Frau von Stein 1786, „wie ich die Natur behandle, so behandl' ich Rom." „Man kann das Gegenwärtige nicht ohne das Vergangene erkennen", sagte er von der Stadt Rom und ihrer Lage und machte sich an ihr klar, daß dieser Ort ursprünglich nicht von einem großen Volke, auch nicht von einem mächtigen Fürsten, sondern von Hirten und Gesindel besiedelt sein müsse (an den Freundeskreis in Weimar 25. 1. 87). Einen genialen Blick warf er schon auf der Hinreise auf Venedig. „Ich habe es", schreibt er im Originaltagebuch, „mit einem stillen, feinen Auge betrachtet und mich dieser großen Existenz gefreut". Anders als der flächenhaft beobachtende aufklärerische Reisende, selbst als Montesquieu, der in Italien schon scharf auf das Charakteristische und Besondere der Sitten geachtet hatte, versenkte er sich in die bunte Fassade der morbiden Republik wie in eine Pflanze, deren stilles Wachstums- und Wandlungsgesetz noch aus ihrer jetzigen welken Pracht abgelesen werden konnte. Nicht Willkür, sondern Not — die Mösersche „Natur und Not!" — war hier von vornherein am Werke 53
gewesen; nicht ein einzelner Befehlender, sondern versammelte Menschenkraft, „ein V o l k " hatte es geschaffen und gebildet. „Große Masse! und ein notwendiges, unwillkürliches Dasein. Dies Geschlecht hat sich nicht zum Spaß auf diese Inseln geflüchtet; es war keine Willkür, die andere trieb, sich mit ihnen zu vereinigen, es war Glück, das ihre Lage so vorteilhaft machte, es war Glüdc, daß sie zu einer Zeit klug waren, da noch die ganze nördliche Welt im Unsinn gefangen lag." Man versteht es, daß ihm jetzt auch der gegenwärtige venetianische Staat mit seinen ängstlich gehüteten und von der Welt ängstlich angestaunten Geheimnissen durchsichtig wurde. Er glaubte, nun auch diese Geheimnisse alle, auch ohne daß sie ihm verraten waren, recht gut zu wissen. Vor allem aber, wie viel genetischer und zugleich schicksalshafter faßte er jetzt den Durchbruch eines großen Wunderwerks aus dem immer noch für finster gehaltenen Mittelalter auf als 15 Jahre zuvor in seinen Straßburger Münstergedanken. Er sah Entstehung, Blüte und Verfall der Republik, wieder mit einer neuen Nuance seines Einsgefühls von Vergangenem und Gegenwärtigem, wie ein einziges Phänomen, das in seinem Verfalle nicht minder ehrwürdig war als in seiner Anlage. „Sie unterliegt der Zeit, wie alles was ein erscheinendes Dasein hat." Er beugte sich mit solchen Worten nicht etwa einer Allmacht der Zeit. Er hatte jetzt durch seine Naturbetrachtung ein Zeitloses, auf das er immer aus gewesen war, zum festen, anschaulichen Besitz sich gemacht, ein beharrendes Gesetz, das allem Wandel und Werden der Erscheinungen zugrunde lag. U n d er hatte durch seine Kunstbetrachtung zeitlose, ewige Werte gefunden, deren 54
geschichtlich-zeitliches Werden ihn eigentlich nur deshalb interessierte, weil ein Ewiges daraus entstanden war. Man versteht es tief, daß er nun rechts und links alles beiseite stieß oder ließ, was ihn in dieser, ewiges Sein, Werden und Vergehen zusammenschließenden Betrachtung störte. Das päpstliche und kirchliche Rom, so bunt es war und so sehr es auch ein ganz universalhistorisches Interesse innerlich beschäftigt haben würde, floß an ihm ab, „wie Wasser an einem Wachstuch" (an Frau v. Stein 1787). Was nicht ausschloß, daß auch diese Erscheinungen nebst denen des ihn umringenden römischen Volkslebens in dem Spiegel seines Auges ein klares Gegenbild fanden. Erst recht hielt er sich die gleichzeitigen Ereignisse der großen politischen Welt, die das Ende einer alten, das Kommen einer neuen Zeit schon ahnen lassen konnten, innerlich fern. Was wiederum nicht ausschloß, daß sein scharfer und tiefer Blick auch hier Gelenke der Dinge wahrnehmen konnte. Friedrichs des Großen Heimgang begleitete er zwar nur mit dem kurzen Schlußakkord einer Eroica: „Wie gern ist man still, wenn man so einen zur Ruhe gebracht sieht". Aber in den mit Karl August gewechselten Briefen machte er schon auf die Gefahr aufmerksam, daß Frankreich durch die expansive Politik Katharinas und Josefs „so weit herunter" komme. Dieses Sinken seiner europäischen Machtstellung, das der französische Geist nicht vertragen konnte, gehörte schon zu denUrsachen der französischenRevolution. Aber im ganzen blieb es dabei, was er im Dezember 1786 an Herder schrieb: „Ich will Rom sehen, das bestehende, nicht das mit jedem Jahrzehnt vorübergehende." Auf das Dauernde und Unvergängliche inmitten der Vergangenheit kam es ihm in den klarsten Momenten seiner Stellung 55
zur geschichtlichen Welt jetzt an. Die Ruinen Roms bewegten ihn anders und freudiger als einst die Ruinen des Kölner Doms, und die Tagesseite in seinem Einsgefühle von Vergangenem und Gegenwärtigem stieg wieder auf. Die „Gegenwart des klassischen Bodens", ein Ausdruck, den er im höchsten Sinne verstanden wissen wollte, nahm ihn ein, die „sinnlich geistige Überzeugung, daß hier das Große war, ist und sein wird" (I. R.). In diesem Hochgefühle fügten sich dann schließlich auch die Leistungen des nachantiken, des päpstlichen Roms, die Peterskirche voran, in das überzeitliche Bild einer dauernden schöpferischen Bewegung ihm wie von selber ein. Wie viel größer und umfassender war nun diese Empfindung als die, mit der Gibbon zwei Jahrzehnte (1764) zuvor auf die Ruinen Roms geschaut und die Idee seines großen Geschichtswerks konzipiert hatte. Er hatte als sentimentaler Mensch auf die Überreste des Kapitols geblickt, als Aufklärer auf die Gesänge der Barfüßermöndie in dem einstigen Jupitertempel gehört. Der dissolvierende Charakter der Aufklärungshistorie, der synthetische und alles Vergängliche zum Gleichnis erhebende Charakter des neuen Goetheschen mehr Welt- als Geschichtsgefühls treten hier genau auseinander. Goethe empfand nicht Schmerz, sondern innere Erhebung. „Es darf uns nicht niederschlagen, wenn sich uns die Bemerkung aufdrängt, das Große sei vergänglich; vielmehr wenn wir finden, das Vergangene sei groß gewesen, muß es uns aufmuntern, selbst etwas von Bedeutung zu leisten" (I. R.). Aller Druck, alles „Gespenstische" der Vergangenheit war hier verweht. Die Goethesche Kontemplation sab specie aeterni zeigte sich produktiv auch für das Leben selbst. 56
Goethe besaß auch, obwohl oder vielmehr weil er, wie wir sagten, mehr Welt- als Geschichtsgefühl hatte, eine Gnadengabe, die dem kommenden Historismus nicht immer eigen war und doch von ihm nicht entbehrt werden kann, wenn er nicht bloß tote Buchstaben, sondern lebenweckendes Leben der Vergangenheit erneuern will. Ihre bloße schriftliche Überlieferung, so geistig inhaltsvoll sie sein mag, bringt in der Bearbeitung des Historikers oder gar des Geschichtsphilosophen leicht nur blutlose Schattenbilder, so geistreich oder kritisch scharfsinnig sie auch gezeichnet sein mögen, hervor. Aber jeder reale Rest der Vergangenheit, bis zu den Scherben der Vorzeit zurück, zwingt das empfängliche Gemüt in einen gar nicht ganz auszusprechenden Bann, weil hier ein Stück vergangenen Leb-ns eine völlige Gegenwart auch ist und sogleich aus gegenwärtigem Leben irgendwie gedeutet und ergänzt werden will. Immer ist auch solchen Uberresten jener naive antiquarische Urtrieb der Menschen, der sie zur Geschichte führt, in erster Linie zugewandt. Das war der große Vorsprung, den Moser vor Herder hatte, daß er durchweg konkrete Vergangenheitsreste in der Gegenwart zu sehen vermochte. Goethe las in Rom wohl mit stärkstem Eindruck Herders eben damals erschienene Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, deren Entstehung in Weimar seine Teilnahme und Rat schon zugute gekommen waren. Aber jetzt wurde ihm auch der tiefe Unterschied seiner und Herderscher Betrachtungsweise bewußt: „Was du", schrieb er ihm 1787, „durch die Gewalt des Geistes aus der Uberlieferung zusammengreifst, das muß ich nach meiner Art aus jeder Himmelsgegend, von Bergen, Hügeln und Flüssen zusammenschleppen." Her57
der fehlte die sinnliche Gegenwärtigkeit Goethes, die sich überall bodenständig und das vergangene Große gegenwärtig machen und sich in Eins bilden konnte. Aber ihm fehlte nicht die Sehnsucht und das komplementäre Bedürfnis nadi Gegenwärtigkeit, und darum konnte seine mit Geistesmacht geübte universale Schau der menschlichen Kulturentwicklung auch Goethe tief befriedigen. In den ersten Teilen des Werkes fand er auch eigene Gedanken wieder, wie er sie mit Herder besprochen hatte (Gespräch mit Falk 1809). Das ging wohl auf Herders pflanzenhafte Konzeption des Hervorblühens der Menschheit aus dem kosmischen Stufenbau der Organisationen, auf seinen Sinn für die „Urgestalten und ersten Keime der Dinge" (Ideen Buch 2) und für den Gestaltungstrieb in allem Lebendigen überhaupt. Hatte Herder in seinen Prognosen menschlicher Zukunft zwischen Hoffnung und Skepsis schwanken können, so unterstrich Goethe die Skepsis. Herder hatte einmal die bange Frage aufgeworfen, „ob durch den Zusammendrang der Menschen und ihre vermehrte Geselligkeit nicht manche Länder und Städte zu einem Armenhause, zu einem künstlichen Lazarett und Hospital worden sind" (13, 373, vgl. auch 14, 297). Goethe griff das auf und steigerte es zu dem Urteil, daß, da die Humanität gewiß doch einmal siegen werde, die Welt zu gleicher Zeit ein großes Hospital und einer des anderen humaner Krankenwärter sein werde (an Frau v. Stein 8. 6. 87). Er verstärkte also den in Herder schon aufsteigenden Zweifel an den Wirkungen, an dem absoluten Werte des Humanitätsideals. In beiden mochte dabei die Rousseausche Kulturkritik nachwirken. Wir kehren zurück zum Ausgangspunkte seiner Auseinan58
dersetzung mit Herder, zur Problematik der Überlieferung. Hier prägte sich Goethes Gegenwärtigkeit darin aus, daß er skeptisch wurde gegen mündliche und schriftliche Überlieferung überhaupt. Darin hatte ihm die pyrrhonistische Kritik der Aufklärung wohl vorgearbeitet. Goethe aber ersetzte das negative, aus Verachtung menschlicher Schwächen fließende Motiv ihrer Skepsis durch ein positives, weshalb seine Skepsis sich auch gleich Schranken setzte. Er empfand aus eigenem imponderabilen Lebensinhalte, aus dem Magma seiner Natur heraus die Schwierigkeit, vielleicht Unmöglichkeit eines völligen Verstehens des einen durch den anderen. „Man mag zugunsten einer schriftlichen und mündlichen Überlieferung sagen, was man will, in den wenigsten Fällen ist sie hinreichend; denn den eigentlichen Charakter irgend eines Wesens kann sie doch nicht mitteilen, selbst nicht in geistigen Dingen" (I. R.). Wohl aber könne man, wenn man erst einen sicheren Blick getan und einen lebendigen Eindruck habe, zur Ergänzung gern lesen und hören und dann denken und beurteilen. Das war ein für Goethe gültiges Rezept, wie er denn auch den Livius und Plutarch in Rom wieder vorgenommen hat. Aber noch lieber traute er seinen vom Verstände wach erhaltenen Sinnen, mit einer Glaubenskraft, die später noch einen fast religiösen Charakter annehmen sollte. Der kritische Historismus wird, auch wenn er die Fehlerquellen und Lücken der Überlieferung ebenso tief empfinden müßte wie Goethe, doch die Werte von Vergangenheitsüberlieferung und Vergangenheitsresten mehr wie Schalen einer Waage sehen, die um eine ideale Gleichgewichtslinie leise auf und ab schweben. Aber das Postulat, das eine immer durch das andere zu ergänzen, 59
um dem höchsten Ziele einer denkend-lebendigen Anschauung der Vergangenheit so nahe zu kommen, als es der menschlichen Schwäche möglich ist, hat vielleicht Goethe zuerst gestellt 1 ). Es war eine fruchtbare Konstellation, eine der Polaritäten, die für Goethe so wertvoll waren, daß die Lektüre der Herderschen Ideen unter römischem Himmel erfolgte. Der reinen Geistesbemühung Herders, der aus der Uberlieferung gewonnenen Geschichtsphilosophie trat hier als kontrollierende Gegeninstanz die leibhaftige Gegenwart dessen, was vom alten R o m übrig war, sofort entgegen. Kein Wunder, daß er an der Herderschen Darstellung des römischen Zeitalters etwas Körperlichkeit vermißte (I.R.). Aus den Resten Roms sprach nun aber auch ein Gewaltigstes der Geschichte, was bisher nur peripherisch Goethes Geist hatte berühren können — der Staat. Und einen Augenblick in seinem Leben hat hier Goethe einmal, wie es scheint, die ganze Wucht dessen, was der Staat in der Geschichte bedeutet, empfunden. Der Kritik der Herderschen Romdarstellung folgen nämlich die merkwürdigen Worte: „Gegenwärtig ruht in meinem Gemüt die Masse des, was der Staat war, an und für sich; mir ist er, wie Vaterland, etwas Ausschließendes. Und ihr müßtet im Verhältnis mit dem ungeheuren Weltganzen den Wert dieser einzelnen Existenz bestimmen, wo dann freilich vieles zusammenschrumpfte und in Rauch aufgehen mag." Eine Betrachtung über das Kolosseum folgte (I. R.). Das „ A u s f l i e ß e n d e " an Staat und Vaterland konnte Goethe nicht ertragen. Der vor seinen Blicken steil aufWir wollen aber nicht verkennen, daß die hier angeführten Worte aus I. R. den Verdacht erwecken könnten, von dem späten Goethe etwas überfärbt zu sein. 1
60
ragende, durch das Kolosseum symbolisierte römisdie Staat imponierte ihm wohl, aber er beschwor sogleich auch den Anblick des „ungeheuren Weltganzen" herauf, um den richtigen Maßstab für den nur relativen Wert dieser geschlossenen Individualität zu haben, — um freier wieder atmen zu können. W i r sind am Ende seiner italienischen Erfahrungen, soweit sie unser Thema berühren. Ihre entscheidende Bedeutung liegt nicht in den einzelnen Inhalten der geschichtlichen Welt, die er hier kennen lernte und auf sich, wir sahen wie auswählerisch, wirken ließ. Sondern darin, daß er an einer unendlich bereicherten Anschauung von Natur und Menschenwerk die Methode seines Sehens klärte und sich bewußt machte. „Ich habe", schrieb er im November 1786, „keinen ganz neuen Gedanken gehabt, nichts ganz fremd gefunden, aber die alten sind so bestimmt, so lebendig, so zusammenhängend geworden, daß sie für neu gelten können." Unter der Gunst des italienischen Himmels lernte er das Individuelle, das er einst durch stürmische Empfindung sich zu eigen gemacht hatte, klarer anschauen, in seiner Form begreifen. Die volle innere Lebendigkeit und Unberechenbarkeit der Individualität trat dadurch wohl während seiner klassizistischen Periode zurück. Aber der Gestaltgedanke, den er früh ergriffen, gestaltete sich selber endgültig. Auch dadurch vor allem, daß er durch sein botanisches Studium den Sinn für das Typische, mit dem alles Individuelle immer verschmolzen erscheint, hinzu erwarb. Diese Verschmelzung aber, die er in der Natur immer neu vor sich gehen sah, konnte er nur durch ein stetes Vergleichen der Dinge erkennen und nur durch Entwicklung sich verständlich 61
machen. So sagt er ganz prägnant in einem Briefe an Herder vom Dezember 1786: „Die Fähigkeit, ähnliche Verhältnisse zu entdecken, wenn sie auch noch so weit auseinander liegen, und die Genesen der Dinge aufzuspüren, hilft mir audi hier außerordentlich." „Man muß nur sehen, wenn man Augen hat, und alles entwickelt sich", heißt es im Tagebuche. Schlichte Worte von ungemeiner geistesgeschichtlicher Bedeutung. Wir werden davon noch zu sprechen haben. Kurzum, der Entwicklungsgedanke, durch sinnliches Schauen und Vergleichen geweckt, trat jetzt in Italien in endgültigem Durchbruch zum Individualitätsgedanken hinzu. Die beiden Hauptpfeiler des kommenden Historismus waren dadurch nun auch in ihm nebeneinander aufgebaut, nicht um nur die Geschichte, sondern um Leben und Welt überhaupt zu tragen. Die strömende Bewegtheit und Gestaltenfülle des Alls, die der Jüngling brünstig empfunden hatte, erhielt damit geordnete Bahnen und Gesetzlichkeiten. Das Ziel, das ihm bei seiner Ankunft in Italien vor Augen trat, war erreicht: „Das Wahre in seinen einfachsten Elementen aufzusuchen" (Gesch. d. Färb.). Das unmittelbar geschichtliche Interesse war nun wohl enger zusammengedrängt auf bestimmte Werte als in der Frühzeit, aber zugleich vertieft. Ob und wie es sich wieder ausweiten würde, das hing von dem Wechselspiel von Daimon und Tyche in Goethes weiterem Schicksal ab. Ein J a h r nach seiner Rückkehr aus Rom brach die Französische Revolution aus. Sie und ihre weltumwälzenden Folgen wurden zur Tyche in Goethes Leben.
62
III. Von der Französischen Revolution
bis zum Ende
Durch die Französische Revolution und die ihr folgenden politischen Umgestaltungen bis zur Restauration der altea Gewalten im Jahre 1815 geriet Goethe gleichsam itj ein Streitverfahren mit seiner eigenen Zeit, mit den in ihr nacheinander neu aufsteigenden geschichtlichen Kräften. E r konnte weder mit den universal-menschlidi sich gebärdenden Ideen von 1789, noch mit den national und menschheitlich zugleich empfundenen Ideen von 1813 — trotz gelegentlicher leichter Zugeständnisse — sich innerlich befreunden. Nur die dazwischen liegende Erscheinung Napoleons nahm er bereitwillig in sein Weltbild auf, — genau so bereitwillig, wie er Friedrich den Großen schon in dieses aufgenommen, dessen staatliche Umwelt aber verschmäht hatte. Friedrichs Bild aber trat nun vor dem Napoleons f ü r ihn zurück. Was dann erst recht ihm den Vorwurf eingetragen hat, daß er von dem deutschen Standpunkte aus, auf den ihn doch die Natur gestellt habe, historisch-politisch falsch gewählt habe. Aber auch wer grundsätzlich universal-geschichtlich zu urteilen versucht, wird leicht meinen, daß Goethe den Prozeß mit den Ideen jenes Zeitalters verloren habe und von ihnen widerlegt worden sei. Mit Goetheschen Maßstäben für Lebenserscheinungen aber beurteilt, hat er den Prozeß gewonnen. Er hat sich selbst und seine Entelechie behauptet gegen Gewalten, die dieser Entelechie innerlich fern waren. Er hat keinen Tropfen fremden Blutes in sich aufgenommen, keinen Zweck seines Lebens sich von außen aufdrängen lassen. Eben das gehörte zu den Fundamentalsätzen seiner Weltanschauung,, daß das Leben auf sich selbst beruhe, alles Lebendige sein. 63
Gesetz und seinen Zweck in sich selbst trage. Die großen allgemein-bewegenden K r ä f t e einer Zeit, deren Ablehnung man Goethe verdacht hat, müssen auch für ein tieferes historisches Urteil immer voran als dynamische, nicht als normative, allgemein verpflichtende K r ä f t e gelten. Wohl können sie dann auch verpflichtend und normgebend für den einzelnen werden, wenn er in ihnen den Ruf des Schicksals und Gewissens zu hören glaubt und zumal, wenn es sich um die Verteidigung der natürlichsten Lebensgemeinschaft, der Nation, handelt. Eine Preisgabe der Mutter Nation führt ins Unnatürliche und damit auch, denn Natur und Ethik verschmelzen sich hier, ins Unsittliche. Diese Preisgabe hat sich Goethe auch nicht zu schulden kommen lassen, trotz seiner Abseitsstellung von der national-politischen Bewegung. Seine Auffassung vom Staate überhaupt, in dem er nur den Wächter und Pfleger der bürgerlichen Ordnung und Kultur zu sehen vermochte, hat ihn abgehalten, dem Streben nach staatlicher Befreiung des nationalen Bodens größere Bedeutung beizumessen; wie er auch schon vorher aus derselben autoritärfriedlichen Auffassung heraus das Streben nach gewaltsamer Verbesserung des Staates hatte verurteilen müssen. Aber der deutschen Kultur, die ihm das Höchste und Heiligste seiner Nation war, ist er treu geblieben bis in die innerste Faser seines Herzens. Sein eigenes Lebensgesetz gegen den Ansturm fremder Gewalten behaupten, bedeutet nicht, auch in Goethes Sinne nicht, von ihnen ganz unberührt sich erhalten. Denn nicht auf starres Verharren, sondern auf Entwicklung ist dies Lebensgesetz angelegt, und auch nicht nur auf eine solche Entwicklung, die eine bloße Entfaltung 64
des potentiell schon alles enthaltenden Keimes wäre, sondern auf eine solche, die sich nehmend und gebend mit der Umwelt, auch der feindlichen Umwelt auseinandersetzt. Das ist das Wechselspiel von Daimon und Tyche. Zur Tyche wurden ihm, wie wir sagten, die großen Weltschicksale seit 1789. Wir haben, nachdem wir die Selbstbehauptung des Daimons in Goethe festgestellt haben, nunmehr zu fragen, inwiefern diese Tyche seine Stellung zur geschichtlichen Welt beeinflußt und zu ihrer weiteren Entwicklung beigetragen hat. Der erste Blick auf Goethes Schaffen seit 1789 zeigt, daß dies nur mittelbar, nicht unmittelbar geschehen sein könnte. Das Symbol für seine Haltung wurde der Bauer, den er bei der Belagerung von Mainz 1793 im Bereiche der Kanonen seine Feldarbeit verrichten sah. „Der einzelne beschränkte Mensch gibt seine nächsten Zustände nicht auf, wie auch das große Ganze sich verhalten möge" (Annalen). Er klammerte sich in dem fürchterlichen Zusammenbruch aller Verhältnisse, den er erlebte und als Teilnehmer der Kampagne von 1792 unmittelbar mit anschauen mußte, nach seinem eigenen Worte an seine Studien wie an einen Balken im Schiffbruch. Das große Wort über die Bedeutung des Tages von Yalmy 1792, daß von ihm eine neue Epoche der Weltgeschichte ausgehe, mag wirklich, trotz der dagegen vorgebrachten quellenkritischen Bedenken, gesprochen worden sein. Dann war es aber nur einer jener einmaligen genialen Blitze, mit denen er auch Bereiche, die er nicht betreten wollte, sich beinahe unwillig auf einen Moment erhellte. In seine Revolutionsdichtungen ist kein Hauch von dieser universalhistorischen Erkenntnis übergegangen. 65
Wohl aber zeigen sie, verbunden mit anderen Aussprüchen, daß er Verständnis für einen Teil der geschichtlichen Ursachen der Französischen Revolution hatte, — sogar mehr Verständnis als der alte Moser, mit dem er politisch in dem Typus des konservativen, stufenweise und praktisch von oben her bessernden Reformers zusammentraf. Bezeichnend für ihn ist, welchen Teil der Revolutionsursachen er erkannte: diejenigen, die in dem sozialen Zusammenleben der Menschen unmittelbar empfunden und angeschaut werden konnten. Er hatte schon 1781 aus Anlaß des Falles Cagliostro das unheimliche Gefühl, daß „unsere moralische uiid politische Welt mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken unterminiert" sei (an Lavater). Er hatte auch ein Auge für die Leiden der unteren Stände, die sich schinden mußten, um die oberen Schichten in ihrem Wohlleben zu erhalten. Wären diese oberen Schichten nur in sich gesund und tüchtig geblieben, und hätten sie es auch an Würde und Selbstachtung nicht fehlen lassen, so würde der aristokratisch empfindende Dichter sich wohl damit beruhigt haben, daß ohne eine gewisse Fronarbeit der Unteren die höhere Kultur der Oberen nicht möglich sei. Aber eben an dieser positiven Gegenleistung der Oberen wurde er schon irre durch die Halsbandgeschichte, die ihn ungewöhnlich stark erschütterte. Die innere Würdelosigkeit des Hergangs entsetzte ihn. Merkwürdig und bezeichnend für den hohen Wert, den Goethe immer auf das Anschauliche im Leben gelegt hat, ist, daß er bei einem späteren Rückblick auch eine einreißende äußere Würdelosigkeit in dem Gebahren der allerobersten Vertreter des ancien regime verantwortlich gemacht hat. Das betont einfache und prunklose Auf66
treten eines Friedrich II. und Josef II., die Maxime, der Fürst sei nur der erste Staatsdiener, die Losreißung Maria Antoinettes von der Etikette schienen ihm einen „Vor gang der Großen" zu bilden, der geradewegs zum Sansculottismus geführt hätte (1810, vgl. meine „Idee der Staatsräson", S. 421 ff.). Goethe hat damit, wieder genial intuitiv, auch an das tiefe Problem gerührt, ob der durch den aufgeklärten Despotismus rationalisierte Staat dauernd tragfähig bleiben würde für die monarchistische Regierungsform, d. h. ob er die notwendige Distanz zwischen Fürst und Volk und die notwendige Mystik der monarchischen Idee würde bewahren können. Und doch hatte er niemals ein Bedürfnis, solche einmal von ihm gesehenen neuen Wege zu tieferem Eindringen in die historisch-politische Welt weiter zu verfolgen. Er hat im Fluge oft mehr entdeckt, als er auszugestalten gewillt war. Denn nur das Gestaltete oder Gestaltfähige zog ihn seit der in Italien erreichten Klarheit über sein Wollen innerlich an. Die Formen und Gestalten des Lebens, die er suchte, konnten und mußten von innerem Leben erfüllt sein, aber dieses Leben mußte sich für sein Bedürfnis in allen seinen Teilen zum Ganzen fügen; sonst blieb es Chaos. Und dieses anscheinende Chaos, das die Französische Revolution angerichtet hatte, widerte ihn an. Vielleicht enthält die edelste der Dichtungen, mit denen Goethe sich von dem Drucke der Revolution poetisch zu befreien suchte, die Natürliche Tochter, — so wenig sie dem geschichtlichen Gesamtphänomen gerecht zu werden vermochte — doch das prägnanteste Bekenntnis dessen, was für ihn der Sinn, vielmehr Unsinn der Revolution war. Im 5. Aufzuge spricht zuerst der Mönch die Worte: 67
Gefügte
Steine lösen sich herab,
Und so zerfällt in ungeformten
Schutt
Die Prachterscheinung. Dann sagt Eugenie: Diesem Reiche droht Ein jäher Umsturz. Die zum großen Leben Gefügten
Elemente wollen sich
Nicht wechselseitig
mehr mit
Zu stets erneuerter Einigkeit
Liebeskraft umfangen.
Ein ungeheures und doch für sein Empfinden sinnloses, zerstörerisches Ereignis der Weltgeschichte hatte sich vor seinen Augen vollzogen. Eine Naturnotwendigkeit glaubte er wohl darin vor sich zu sehen, aber nur die von Bächen und Strömen, die gegeneinanderstürzen und eine Überschwemmung hervorrufen (an Schiller 9. 3. 02). Dieser Eindruck hat sich niemals wieder in ihm verwischt. Er hat seinem Verhältnis zur geschichtlichen Welt, das schon früh, wie wir betonten, einem zwiespältigen Zug, ein Hin und Her zwischen Drudegefühl und Belebung, angenommen hatte, dauernd den tiefen Riß zwischen Ungenügen und Genügen beigebracht, den er nie ganz zu überwinden vermochte. Noch in den zahmen Xenien, die so manche vor der Welt bis dahin unterdrückte Schmerzen des Dichters verrieten, zitterte die Erschütterung der Revolutionsjahre nach. Nichts ist Rühre sie Denn sie Du lebest
zarter als die Vergangenheit; an wie ein glühend Eisen: wird dir sogleich beweisen, auch in heißer Zeit. 68
Dreihundert Jahre sind vor der Türe, Und wenn man das alles mit erführe, Erführe man nur in solchen Jahren, Waswirzusammenindreißigerfahren. Aber auch das, was den Geist abstößt, ihm sinnwidrig und schlecht erscheint, kann schließlich einen belebenden Impuls auf ihn ausüben. Goethe hat selber am Ende seines Lebens die historisierende Wirkung der Revolution auf seine ganze Generation und damit auch auf sich bezeugt. „Der Drang, etwas Bedeutenderes, größere Weltcharaktere, Universalereignisse auf den Brettern zu sehen, mußte in der neuern Zeit rege werden. Wer die Revolution überlebt hat, fühlt sich in die Geschichte hineingetrieben; «r sieht im Gegenwärtigen das Vergangene mit frischem, die fernsten Gegenstände heranziehenden Blick" (Französisches Haupttheater 1828, dazu Eckermann 25. 2. 24). Merkwürdig ist, wie schon im Jahre 1793, als er noch unter dem stärksten Drucke der Zeitereignisse stand, die Gestalt Friedrichs des Großen vor ihm aufstieg, als Gegenbild dessen, was er jetzt in der Welt erleben mußte. Denn er pries ihn als den Mann, der die Meinung beherrschte, weil er sie durch die Tat beherrsdite (Unvollendete dritte Epistel). Und als „erzfester König" mit jener Verbindung von Heldentum und Heidentum, die schon den jungen Goethe ergriffen haben muß, sollte er sogar damals in einer Geisterbeschwörungsszene für den zweiten Teil des Faust, die höchst wahrscheinlich in demselben Jahre entstand, auftreten (Hertz, Natur und Geist in G.s Faust, S. 15 ff.). Dann beginnt, wenn wir recht sehen, etwa mit dem Baseler Frieden von 1795, also der ersten Wieder69
kehr friedlicherer Aspekte in Europa und Frankreich, bei Goethe eine Epoche gesteigerter Beschäftigung mit historischen Gegenständen, die in größerem Umfange jetzt erst neben seine bisher betriebenen Natur- und Kunststudien tritt, eigentlich fortan nie ganz abreißt und bis zum Ende geht. W i r sehen in ihr eine unwillkürliche Reaktion des Goetheschen Geistes gegen das von ihm selbst geschichtlich Erlebte und doch nicht zu Gestaltende. So probierte er dann, wie man vermuten möchte, an anderen geschichtlichen Stoffen herum, wie an einer Masse, von der sich wenigstens Teile organisieren ließen. Denn zu der geschichtlichen Welt in ganzen verhielt er sich noch nach dem Worte, das er in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" von 1795 dem alten Geistlichen in den Mund legte: „Zur Ubersicht der großen Geschichte fühl' ich weder Kraft noch Mut, und die einzelnen Weltbegebenheiten verwirren mich"; wohl aber habe er manches zu erzählen, was menschlich reizvoll und bedeutungsvoll sei. Auch das sachlich Bedeutungsvolle, insofern es Menschenwerk war und Zustände umschloß, in denen sich menschliche Kultur entwickelte, zog ihn nun stärker an. Für die seit 1795 geplante dritte italienische Reise wurde ein Schema für bestimmte Fragen angelegt, aus deren Beantwortung ein großes Gesamtwerk über Italien einmal hervorgehen sollte, mit dem Mittelpunkt der Kunstgeschichte, aber mit weit ausladenden Partien über die Natur des Landes, Geschichte des Ackerbaus, auch der politischen Verfassungszustände (er hatte schon bei der zweiten italienischen Reise 1790 Venedigs Geschichte und Verfassung sich nahe gebracht). Als er dann 1797 aufbrach, ohne aber über die Schweiz hinauszugelangen, widmete er auch 70
schon den Vorstufen zum gelobten Lande ein umfassendes landeskundliches und kulturgeschichtliches Interesse, — ein Zeichen für die beginnende Wiederausweitung seines durch den Klassizismus verengerten Horizontes. Die inneren Schmerzen und Spannungen, unter denen sie sich vollzog, konnten wohl auch Rückschläge hervorrufen, schroffe Abwendung von vergangenen Dingen, derart, daß er seine eigene Privatkorrespondenz 1797 verbrannte. Aber seine Vaterstadt Frankfurt, deren Altertümlichkeit und Zusammenklang von Vergangenem und Gegenwärtigem er einst naiv erlebt hatte, durchwanderte er jetzt doch mit dem Auge des Forschers, das auf die historischen Schichten und Vorstufen sichtbarer und symbolisch bedeutsamer Dinge gerichtet ist, und des Realisten, der seinen Idealismus „in einem Schatullchen wohlverschlossen" mit sich führt. Fiel sein Blick dabei auch auf Neues im Gegenwärtigen, wie jetzt das französische Militär auf den Straßen, so hielt ihn seine Antipathie gegen Revolution und Krieg nicht ab, aus den Einzelzügen ihres Benehmens sich ein Bild ihres Geistes und der fürchterlichen Kraft ihrer Nation zu formen. „Lebhafte Richtung aller auf einen Zweck", — das war etwas, was er aus den Kategorien seines eigenen Geistes heraus verstand. In dieselben Jahre 1795/98 fiel die Beschäftigung mit der Lebensbeschreibung Benvenuto Cellinis, die er nicht nur übersetzte, sondern auch mit einem historischen Kommentar begleitete. Historische Quellenwerke und Darstellungen hatte er auS Wißbegierde oder aus dichterischer Veranlassung schon in Fülle gelesen. Zum ersten Male las er jetzt als geschichtlicher Forscher, der die ihm gewordene Anschauung auch reproduzieren und gestalten will, — 71
und fühlte sich glücklich in der neuen Tätigkeit. „Die Zeit, welche ich auf die Bearbeitung verwendet", schrieb er 1803 an Zelter, „gehört unter die glücklichsten meines Lebens". So also kam es zum Durchbruch eines neuen historischen Interesses. Der Goethesche Geist, zuerst beklommen und zusammengedrückt unter der Wucht des revolutionären Erdbebens, begann sich jetzt wieder elastisch auszudehnen. Die Weltereignisse rollten wohl immer noch gewaltig weiter, aber griffen nicht mehr so ans Herz wie im Beginn. Und zumal löste die beglückende Freundschaft mit Schiller seine inneren Kräfte zu freierer Regung; Zwei große geschichtliche Leistungen, die Geschichte der Farbenlehre (1798 erwogen, 1805 begonnen, 1810 erschienen) und der Essai über Winckelmann (1805), tragen noch in ihrer Konzeption die Farbe dieser Zeit. Der Plan zu einer mit Schiller erörterten Preisfrage brachte ihn 1801 auf Studien von universalgeschichtlicher Weite, die ihm zunächst einmal eine Anschauung der europäischen N a t i o nen geben sollten; er begann mit Portugal und Spanien, mit der Absicht „recht von innen heraus" zu betrachten. Die eigene innere Richtung seines Geistes ging dabei in diesen Jahren des Klassizismus mehr auf das Typische als auf das Individuelle aus, auf eine „Geschichte a priori" (an Schiller 1798), auf das „Beharrende im Menschen", „eine gewisse Einheit", wobei die Diiferenzen unter den Fällen, wie er 1801 an Schiller schrieb, verschwänden. Aber er hat diese rationalisierenden und zugleich psychologisierenden Ansätze selber nicht weiter verfolgt. Dann brachen wieder Weltereignisse ein, die ihn tief, aber zwiespältig trafen: die Schlacht bei Jena, der Untergang 72
der deutschen Freiheit, aber zugleich der Aufbau einer neuen Weltordnung durch den mächtigsten Tatmenschen des Jahrhunderts, — der ihn in Erfurt 1808 als den im Reiche des Geistes Ebenbürtigen mit dem Worte begrüßte: Voild un homme. Der Schmerz und die Erschütterung durch das Deutschland Widerfahrene traten, ohne vergessen zu werden, in die Tiefe zurück vor der Bewunderung und dem Vertrauen, daß Napoleon seine Weltmission vollenden, aber auch vor dem Vertrauen darauf, d a ß die deutsche Kultur unter seiner Weltherrschaft nicht untergehen werde, wenn nur die Deutschen selbst sich f ü r sie rührten. Um den Deutschen das Bewußtsein ihres Selbst zu erhalten, plante er, angeregt von außen, noch 1807 einen „Homer der Deutschen", ein historisch-religiöses Volksbuch ihnen zu schenken. W i e er sich jetzt als Obmann des deutschen Geistes zu einer nationalen Mission gerufen fühlte, zeigt auch sein Plan 1808, einen deutschen Kulturkongreß in Weimar zu veranstalten (Gespräch mit Woltmann, Sept. 1808). Diese Zeit nach 1806ist merkwürdig reich an besonders tief empfundenen geschichtlichen Urteilen und zeigt einen Sprühregen historischer Interessen, nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Sachliches der Vergangenheit gerichtet. Er erzählte nun auch gerne aus seiner eigenen Vergangenheit. Es ist, als ob eine leise Hand ihn jetzt tiefer in die Geschichte hineinzöge, wobei nun die eigen erlebte Geschichte schließlich mit i n nerer Notwendigkeit sich ihm als das Objekt aufdrängen mußte, das die höchste Gestaltungslust und Gestaltungsk r a f t wecken konnte. Er selbst als Träger einer individuellen Entwicklung, die zugleich eine ganze Epoche der Zeit als ihren Lebensraum mit umfassen mußte, um verstanden. 73
zu werden. Das war der Sinn von „Dichtung und Wahrheit", an der er seit 1810 arbeitete. Wieder mitgeholfen hat dabei auch der Wunsch, seinem niedergeschlagenen Volke Trost und Freude einzuflößen. So wurde das Werk ungewollt zu dem, was Goethe zu der Erhebung von 1813, die er doch als berechtigte geschichtliche Erhebung anfangs nicht gelten lassen wollte, beizusteuern vermochte. Es war der Gipfel Goetheschen Geschichtsdenkens und Goethescher Geschichtsschreibung. Die romantische Zeitströmung wirkte auf diese Wendung Goethes in die Geschichte unverkennbar mit ein. Von ihm und dem Geist seiner Dichtungen waren die Bahnbrecher der Romantik in den neunziger Jahren einst tief befruchtet worden. Die Romantik war so, wie sie war, ohne Goethe geistesgeschichtlich nicht möglich. Sie folgte ihm auf dem von ihm wie von keinem anderen so tief gegrabenen Wege, Individualität und Entwicklung, das innere bewegende Lebenszentrum in jeder menschlichen Erscheinung zu suchen und von ihm aus die bunte Mannigfaltigkeit und Gestaltenfülle der Menschheit zu begreifen. Wie Goethes und der Romantiker Wege dann doch wieder vielfach auseinander gingen, ist hier nicht darzustellen. Aber daß gerade in den Zeiten nach 1806 Goethe von den Romantikern und ihren Freunden gerne sich hinführen ließ zu den von ihnen entdeckten Werten der deutsch-nordischen Kunst und Dichtung, ist allbekannt. Sie halfen ihm, aus der Enge des Klassizismus heraus den Weg wieder zurück zu finden, nicht sowohl zur deutsch-nordischen Welt allein, die ihm niemals wieder primär wichtig wurde, als vielmehr zu einer universalen Aufgeschlossenheit für die geschichtliche Welt über74
haupt. Dieser neue Universalismus war jetzt von anderer Art als der stürmisch subjektive und zugleidi naturalistische Universalismus der Frühzeit, spiralförmig wohl zu ihm zurückbiegend, aber auf einer höheren Ebene. Denn er hob auch den Gewinn der klassizistischen. Zeit, die Lehre von der Urform und den Metamorphosen und von der genau zu beobachtenden inneren Gesetzlichkeit im Wandel der Gestalten in sich auf, — nur mit der Steigerung, daß diese innere Gesetzlichkeit der Gestalten jetzt geistiger, ideeller empfunden wurde als in der sinnenfreudigen Zeit des Klassizismus. Dieser neue Universalismus stand aber auch wieder, wie schon die Hinwendung zur Geschichte seit 1795, unter dem Einfluß der politischen Gestirne, der Weltereignisse, — mit dem Unterschiede, daß diese damals ihn auf sich selbst zusammendrängten, jetzt aber ihn zu freierer Ausdehnung und Ausatmung ermunterten. Die Befreiung Deutschlands 1813/14, die von ihm nicht erstrebt war, wurde nun doch, als sie eintrat, dankbar und tief empfunden und genossen. Davon zeugt sein wundersames Festspiel „Des Epimenides Erwachen", das auch die Tragik seines eigenen Verhaltens in dieser Zeit andeutete, aber den Trost enthielt, daß die Götter ihn im Stillen bewahrt hätten, um „rein empfinden" zu können. Ganz rein empfinden aber konnte er an dem Befreiungskampfe seines Volkes, wie das Festspiel beweist, nicht die nationalpolitische, sondern nur die universalmenschliche Seite. Und zum Universalen zog es ihn fortan mit Macht. Das war die tiefste Wirkung, die der Befreiungskampf auf ihn ausübte. Wie Dichtung und Wahrheit als Trostbuch für das unterdrückte Deutschland Goethes Antwort auf das Jahr 1806 war, so wurde der 75
Westöstliche Divan seine Antwort auf 1813/14. Denn so bestimmt auch der besondere poetisch-menschliche Gehalt dieser Dichtung hervortritt, sie beruht auf einer bewußt gewählten universalgeschichtlichen Basis und strömt schon in ihren Versen universalgeschichtliche Erfahrungen aus. „Es ziemt uns", schrieb Goethe (an Boisseree 14. 2. 14), „in dieser Zeit unsere kleinen Privatzustände an dem ungeheuren Maßstab der Weltgeschichte zu messen." Dichtung und geschichtliche Welt sind niemals vorher von ihm so organisch und zugleich bewußt miteinander verbunden worden wie im Divan. Denn er projizierte jetzt nicht nur, wie einst im Götz und Egmont, sein eigenes Ich in eine ihm verwandt erscheinende Vergangenheit, sondern er wählte nun diese sehr fern liegende Vergangenheit des Orients, um an ihr die Urformen und Metamorphosen geschichtlichen Lebens überhaupt zu erfassen. Ein komplementäres geschichtliches Bedürfnis trieb ihn; westöstlich nannte er den Divan, weil der Westen hier seine Heimat im Osten suchte. So wurden die Noten zum westöstlichen Divan der letzte große historische Wurf Goethes. Wir nannten Dichtung und Wahrheit den Gipfel von Goethes Geschichtsdenken und Geschichtsschreibung. Er scheint nun wohl übergipfelt zu werden durch die universal-geschichtsphilosophische Richtung der Divannoten. Aber diese Richtung führte zugleich über das rein Geschichtliche hinaus in jene zeitlos-überzeitliche Sphäre, zu der es ihn von vornherein gedrängt hatte. Es war wieder, wie noch zu zeigen sein wird, Vergangenheit und Gegenwart in Eins, was er im „unwandelbaren Orient" suchte und fand.. Alle weiteren unmittelbar historischen Bemühungen Goe76
thes, die bis zum Lebensende nicht abrissen, sind ein Ausklingen dieser Tendenzen. So die in seiner Zeitschrift „OberKunst undAltertum" 1816/17 gesammelten kulturhistorischen Früchte seiner Reisen am Rhein, Main und Neckar 1814/15. Der Titel dieser Zeitschrift ist allein schon bezeichnend. Undenkbar, daß er in seiner klassizistischen Zeit dem Altertum eine gleichgeordnete Stelle neben der Kunst gewährt haben würde. Geschichtliche Beobachtungen sind ferner ausgestreut in den Rezensionen und kleinen Aufsätzen der Spätzeit. Schließlich das in die Fortsetzung der „Italienischen Reise" eingefügte historische Kabinettstück über Filippo Neri, den merkwürdigen Heiligen der Gegenreformation (1829 entstanden, aber schon früher, um 1810, einmal skizziert). Noch wichtiger aber als diese unmittelbar geschichtlichen Proben seiner letzten Jahre ist für unser Thema die Fülle der Altersgedanken, ausgestreut in Aphorismen, Briefen und Gesprächen, die den letzten überwölbenden Abschluß seines Weltbildes brachten. In ihrer zunehmenden ätherischen Transparenz scheinen sie zwar über dem Boden der wirklichen Geschichte oft nur, unsagbare Ahnungen erweckend, zu schweben. Verglichen aber mit allem Realen, das er früher und auch jetzt noch oft zu sagen hatte, stellen sie nur dessen höchste Sublimierung dar. W i r sind am Ende mit dem zeitlich gliedernden Überblick über Goethes Verhältnis zur Geschichte und versuchen nunmehr seine Historik in sachlichem Zusammenhange zu erfassen. Weil bei ihm das geschichtliche Denken am reinsten unter der Abendsonne des Lebens blühte, legen wir dem folgenden Versuche den Reifezustand Goethes zugrunde. Das 77
Besondere der früheren Stufen vor etwa 1795 sowie die während des Reifezustandes selbst noch vorgegangenen Wandlungen können ohne Schaden vor dem Bedürfnis zurücktreten, ein einheitliches Bild des Verharrenden im Wandel zu gewinnen.
78
SYSTEMATISCHER I.
TEIL
Grundvoraussetzungen
W i r haben dem Rate zu folgen, den Goethe in Italien sich gab: „Das Wahre in seinen einfachsten Elementen aufzusuchen." Wohl bietet er Stoff zur subtilsten Untersuchung seines geistigen Gewebes, und modernes Raffinement hat es reichlich zerfasert. Aber wenn es nicht gelingt, die einfachen Grundlinien immer wieder leuchtend hervortreten zu lassen, so führt solche Analytik mehr von Goethe ab als zu ihm hin. Aus der ungeheuren Überlastung unseres Lebens mit überlieferten Kulturwerten gilt es den Weg zurückzufinden zu ihrer geistigen Beherrschung. Aus dem Verhältnis von Persönlichkeit und Umwelt muß versucht werden, überall, wo der Blick in das Persönliche gestattet ist, ein höheres Gebilde aufzubauen, örtliche und zeitliche Umwelt sind zu befragen, wie sie auf den Menschen wirkten, und seine elementaren Reaktionen auf sie sind als erstes vor allen feineren Zusammenhängen zu beobachten. Keiner hat die Lokalfarben, durch die er im Laufe des Lebens ging, so tief in sich einbrennen lassen wie Goethe. Er hat Frankfurt, Straßburg, Weimar und Italien so durchlebt, daß dauernde Spuren des Besonderen, das er 79
jeweilig hier in sich aufnahm, bis zuletzt in seinem Wesen und Denken erkennbar sind. Aber er hat sie auch derart aufgesogen in seine eigenste Farbe, daß man ihn bodenständig und doch wieder nicht bodenständig zugleich in seiner Umwelt nennen könnte. Wie denn ja auch sein Faust die deutlichsten Spuren der jeweiligen Lebenszustände, in denen er an ihm schuf, schließlich aufgehen läßt in einer höheren, von vornherein gesicherten Einheit. Auch von Goethes geschichtlichem Denken kann man sagen, daß es allerlei bestimmten Erd- und Zeitgeruch in reiner Höhenluft aufgehen und doch noch erkennen läßt. U m das ganz zu verstehen, mag man an seine Meinung denken, daß man, um zu erfahren, die Welt bereits durch Antizipation in sich tragen müsse (Eckermann 1824). „Wer kann sagen, er erfahre was, wenn er nicht ein Erfahrener ist" (Jub.Ausg. 23, 307). „Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht" (Gespräch mit v. Müller 1819). Das vereinigende Schmelzmittel für alles aus Ort und Zeit Empfangene trug er von vornherein in sich und war mystisch überzeugt, daß eine geheime Urverwandtschaft zwischen dem einheitlichen Apriori seines Geistes und den wechselnden Inhalten seiner Erfahrung bestünde. U m alles einzeln Erfahrene derart behandeln zu können, es zu bewahren, zu beherrschen und zu überhöhen, mußte er „leicht den beweglichen Fuß aufsetzen". „ N u r nichts aus Profession getrieben!", sagte er 1807 zu Riemer, „das ist mir zuwider. Ich will alles, was ich kann, spielend treiben. . . . Zu einem Instrument gebe ich mich nicht her, und jede Profession ist ein Instrument." Diese Spielgesinnung konnte zumal in der ihm eigensten Sphäre künstlerischen Gestaltens mit strengem Ernste einhergehen, ver80
leugnet sich aber nicht in der genial leichten Beweglichkeit auch eines geschichtlichen Denkens, die wir schon im Eingang charakterisierten. Er trieb es unter allen seinen Beschäftigungen am wenigsten systematisch und folgerecht. Und doch ist durch jene antizipierende Kraft seines Geistes ein systematischer Zusammenhang in ihm zustande gekommen, den man freilich nur mit leichter Hand und mit nicht zu viel „Profession" zeigen darf. Vom antiquarischen Urtrieb, der sich in seiner Knabenzeit schon zeigte, gingen wir in unserem ersten Oberblick aus. W i r sahen ihn auch in Italien und auf weiteren Reisen sich betätigen, und die Tagebücher und Reiseberichte seiner Alterszeit zeigen ihn auf Schritt und Tritt bereit, aus dem Wagen auszusteigen und hier eine alte Kirche oder Burg, dort eine alte Umwallung sinnend zu betrachten. „Der Anblick aller Gerätschaften, Waffen, Geschirre, Siegel und Bildwerke", sagt er einmal im Alter (Der deutsche Gil Blas), „gibt uns immer ein Mitgefühl, wie es zu der Zeit ausgesehen haben mag, da sie gefertigt und gebraucht wurden". Dann konnte sich freilich da, wo nur zerschlissene und amorph gewordene Reste der Vergangenheit ihm entgegentraten, sein eingeborenes Bedürfnis nach Sinn und Zusammenhang der Erscheinungen auflehnen. So war es einmal 1801, als er in der Gegend von Pyrmont in die römisch-germanischen Erinnerungen geriet. Aber da zeigte sich die Macht jenes Urtriebes darin, daß er doch stehen blieb und wieder in das wundersame Einsgefühl von Vergangenheit und Gegenwart versank. „Man mag sich wehren und wenden, wie man will, man mag noch so viel Abneigung beweisen vor solchen aus dem Ungewissen ins Ungewissere verleitenden Bemühungen, 81
man findet sich wie in einem magischen Kreise befangen, man identifiziert das Vergangene mit der Gegenwart . . . und fühlt sich zuletzt in dem behaglichsten Zustande, weil man einen Augenblick wähnt, man habe sich das Unfaßliche zur unmittelbaren Anschauung gebracht" (Annalen). Dies Motiv, nur wenig verwandelt, verwob er dann auch sinnig in die Wahlverwandtschaften (II, 2). Man muß diesem Einsgefühle Goethes von den verschiedensten Seiten her nahe zu kommen versuchen. So hochindividuell und so mannigfaltig nuanciert es in sich auch wieder war, so steckt doch, wie w i r schon andeuteten, auch etwas vom geistigen Erbe der Aufklärungsbewegung in ihm. Schon diese hatte es in ihrer Art zu einem Einheitsgefühl für Vergangenes und Gegenwärtiges gebracht. Freilich nur zu einem durch mechanisches Denken hergestellten. Das geschichtliche Leben erschien ihr prinzipiell gleichartig zu allen Zeiten, von denselben konstanten Mächten menschlicher Vernunft und Unvernunft beherrscht. Nur die Quantitäten von Vernunft und Unvernunft waren verschieden verteilt in Vergangenheit und Gegenwart. Damit hing nun aber auch der Sinn für die Einheit alles Menschlichen und die universale Neugierde und Aufgeschlossenheit für die entlegensten Partien des menschlichgeschichtlichen Kosmos zusammen, die wir schon bei Voltaire finden. Goethe nannte ihn noch im Alter, trotz allem was ihn von ihm trennte, eine allgemeine Quelle des Lichts und bezeugte ausdrücklich (Eckermann 1830), was es ihn gekostet habe, sich gegen seinen Einfluß zu wehren. Voltaire mit seiner auf Kultur gerichteten Energie bedeutete ihm mehr als der ihm ebenfalls wohlbekannte Montes82
quieu mit seinem auf die Institutionen gerichteten staatsmännischen Utilitarismus. Überhaupt aber lassen sich die Ansatzpunkte, die für Goethes Geschichtsdenken in vieler Hinsicht schon in der Aufklärungsbewegung lagen, gar nicht verkennen. Beide suchten mehr das Menschliche in der Geschichte als das Geschichtliche am Menschen. Nur fiel Goethe auf seinem Wege auch das Geschichtliche am Menschen in großem Umfange zu. Ein besonderer gemeinsamer damit zusammenhängender Ausgangspunkt, von dem er dann freilich viel weiter fortschritt, war der aus dem Einheitsgefühl für alles Menschliche entspringende Glaube Goethes, daß es eine gemeinsame Wertwelt des Schönen und Guten für alle Völker, „worin sie sämtlich einander notwendig gleichen", gebe (Noten z. w.-ö. Divan). Ja, auch von den Wahrheiten der natürlichen Religion und von einer Art Urreligion der reinen Natur und Vernunft hat Goethe im Alter (Dicht, u. Wahrh. I, 4; v. Müller 1821, Eckermann 1832) gesprochen, freilich sich dabei viel Geistigeres und Schöpferisches im Sinne seiner Urphänomene vorgestellt, als die Aufklärer es taten, wenn sie den kahlen Inhalt einer Naturreligion in Katechismusform brachten. Für ihn waren die gemeinsamen religiösen Ideen der Völker ewig wiederkehrende, nur tausendfach individualisierte Formeln, geheimnisvolle Mitgabe einer höheren Macht ins Leben, aus denen ein aufmerksamer Forscher eine Art Alphabet des Weltgeistes zusammensetzen könnte (v. Müller 1818). Immerhin, es war, ähnlich wie in Herders Uroffenbarung der „Ältesten Urkunde", ein Stück mystisch-romantisch umgedeuteter Aufklärung in diesem Altersbekenntnis Goethes. Damals begann in der öffentlich83
keit der Kampf zwischen dem alten Rationalismus und der sich überlegen glaubenden neuen christlichen Gläubigkeit sich zu entwickeln, und da hat Goethe nicht gezaudert, dem Rationalismus zuzugestehen, daß er mit dem zusammentreffe, was die geläutertste Philosophie annehme (v. Müller 1823). Einzelne historische Urteile von ihm bestätigen diesen Zusammenhang in seinem Denken. Wenn er im Benevenutokommentar Savonarola ein fratzenhaftes Ungeheuer nennt, in der Geschichte der Farbenlehre die religiösen Exzesse der englischen Revolutionszeit als Phantasterei und „Ungeheuer des Tages" charakterisiert, so sieht man Voltaire wohlgefällig lächelnd ihm über die Schulter blicken. Die letzten Motive dieser Abneigung waren bei ihm freilich nicht dieselben wie bei Voltaire. Dieser kehrte sich gegen das oberflächlich als vernunftwidrig Empfundene, Goethe gegen das in einem tieferen Sinne als naturwidrig Empfundene. Dennoch führt hier eine deutliche Linie von Voltaire zu Goethe. Ist es nötig, daran zu erinnern, daß auch Goethes weltbürgerliche Gesinnung, die dem Adler gleich, wie er es einmal aussprach, mit freiem Blicke über den Ländern schwebte (Eckermann 1832), aus dem Schöße der Aufklärungsbewegung erwachsen ist? Seine Staatsauffassung, die schon wiederholt gestreift wurde, seine Behandlung des Mittelalters und manche andere Züge werden uns dieselbe Ursprungsfarbe zeigen. Nirgends aber sind es bloße Residuen der Auf klärungsurteile. Auch wo sie zuerst als solche erscheinen könnten, sind sie doch mit einem neuen Empfindungsgehalt geladen, durch den sie sich innerlich stärker von der durchschnittlichen Aufklärung abheben, als es die verwandten Züge bei Herder schon tun. Aber das Konti84
nuitätsgesetz, das der Geistesgeschichte ihre innere Einheit und ihren weltanschaulichen Wert gibt, bewährt sich audi hier. Daß die Aufklärungsbewegung imstande war, einem Goethe, wenn auch vielleicht nicht Bausteine, so doch einen geebneten Baugrund zum Aufbau seiner eigenen Welt zu liefern, wird man ihr und ihm nie vergessen dürfen. Indem die Aufklärung die menschliche Vernunft emanzipierte von Dogma und Tradition, richtete sie zugleich auch, ohne es zu wollen, einen "Weckruf an die irrationalen Kräfte der Seele. Empfindsamkeit und Vernünftelei, Gegenwartsstolz und präromantische Liebhaberei gingen zunächst wie ein sonderbar ungleiches und doch voneinander abfärbendes Paar nebeneinander her. Dann aber kam in Sturm und Drang der tiefere Durchbruch, das Bewußtwerden der Einheit und Totalität aller Seelenkräfte überhaupt, zugleich aber auch ihrer Individualität und des Ursprungs aller Individualitäten und ihrer Abstufungen aus der unendlich schöpferischen Natur, aus dem Weltall. Neu und noch nie so dagewesen in der abendländischen Geistesentwicklung war das Mittelstück dieser Ideenreihe, das starke und bestimmte Erlebnis der Individualität. Es wurde vom jungen Goethe bald mit dem Gedanken der Entwicklung verschmolzen. Es geschah auf protestantischem Boden und nicht ohne Zusammenhang mit der Erweckung persönlichen Seelenlebens durch den Pietismus. Die lebendigere, über Aufklärungsmechanik weit hinausstürmende Ansicht des Weltalls aber in seiner ruhelosen Dynamik und des Hervorgehens mannigfach abgestufter geistig-natürlicher Kräfte aus seinem unsichtbaren Schöße, mit dem sie doch immer immanent verbunden blieben und in den sie irgendwie einmal zurückkehren würden — das 85
waren die Ideen, in denen der neuplatonische Einschlag im Gewebe des abendländischen Geistes sich wieder durchsetzte. So stellt Goethes Weltanschauung, die seinem hitsorischen Denken zugrunde lag, von dem Erlebnis der Individualität und ihrer Entwicklung abgesehen, eine Synthese von Aufklärung und neuplatonischen Elementen dar, wie sie schon Herder, freilich nicht so vollkommen, vorgenommen hatte, — wie sie in schwächerer Art auch von anderen Geistern des 18. Jahrhunderts vollzogen wurde, von ihm aber durch die besondere Kraft seines neuen Individualitätserlebnisses ungeheuer vertieft wurde. Wie neuplatonisch Goethe zeitlebens empfand, wie sehr er sich auch den geliebten Spinoza danach zurecht deutete, das ist neuerdings (Burdach, Franz Koch) immer klarer erkannt worden. Dabei ist wohl an den T a g getreten, daß die neuplatonischen Gedanken meist nicht in origineller Form, sondern vielfach umgeschmolzen in christliche, zumal pietistische Mystik in seiner Jugendzeit an ihn herantraten. Aber original war es, wie er diese Elemente wieder für sich schied und die ihm gemäßen aus innerster W a h l verwandtschaft sich einverleibte. Vielleicht ist das prägnanteste Zeugnis seines Neuplatonismus, wenn es dessen noch bedarf, ein wenig gekannter Vers des Theatervorspiels von 1807, das aus den Jahren seines besonderen Plotinstudiums (seit 1805) stammt und aus dem Schmerze und der Wiederaufraffung des Unglücksjahres 1806/07 erwuchs: So im Kleinen ewig wie im Großen Wirkt Natur, wirkt Menschengeist, und beide 86
Sind ein Abglanz jenes Urlichts droben, Das unsichtbar alle Welt erleuchtet. W a s ihn zu dem neuplatonischen Weltbilde hinzog, das war nicht nur die Ableitung der gesamten erfahrbaren, auch den Menschengeist mit umschließenden Natur aus einer höchsten unerforschlichen Urquelle und damit die Adelung der Natur und der Welttrost eines stufenförmigen Aufbaus zu immer höherer Reinheit des Weltganzen. All das würde einem bloß spekulativen Bedürfnis vielleicht schon genügt haben. Aber seine innerste Natur verlangte mehr von Gott. Sie war, sobald sie sich in Italien vollkommen klar über sich geworden war, auf rastloses Schaffen, Werden und sich Entwickeln, auf sich Umwandeln und doch sich treu Bleiben, auf Individualität, die flüssig und beharrend zugleich war, auf gottgeschaffene Urformen in Natur und Menschheit und ihre tausendfachen Metamorphosen aus. Das neuplatonische Weltbild, obwohl es auf Emanation (noch genauer gesagt, auf Ausstrahlung) und nicht auf Entwicklung beruhte, das Prinzip der Individualität wohl berührte, aber nicht erschöpfte, auch für ihn fremdartige asketische Forderungen stellte, enthielt doch so viel rastlose Dynamik und zugleich auch so vielBewegung und Entfaltungsraum für das sonst trostlos in der W e l t verlorene Individuum, daß es zum Ansatzpunkte für Goethes eigene Weltanschauung werden konnte. Und zugleich auch, und hierin verschmolz es sich für ihn mit dem Weltbilde Spinozas, so viel Festes im Wandel, so viel letzte Beständigkeit über aller Rastlosigkeit, wie auch er verlangte, der alles Drängen und Ringen in der Welt als ewige Ruhe in Gott dem Herrn anzuschauen vermochte. 87
Goethe und Plotin dachten, wie einst schon Heraklit, mit Vorliebe in Bildern — das Denken in Bildern ist ein ewig wiederkehrender Typus des menschlichen Geisteslebens überhaupt. Es führt durch sich selbst zu einer beweglichen und dynamischen Ansicht des Lebens, während das abstrakt begriffliche Denken mehr statisch wirkt. Es kann auch weiter zu der Ahnung der Sujircafteta xffiv äXcav führen, daß verstreute Dinge irgendwie miteinander korrenspondieren, daß jedem individuellen Lebensvorgang ein verwandter Vorgang an anderer Stelle des Alls entspricht, daß Bewegung, Zusammenhang und Einheit bei aller Mannigfaltigkeit zum Wesen der Welt gehören. So besteht Goethes höchste weltanschauliche Leistung darin, daß er heraklitisches und eleatisches Denken, ewiges Werden und ewiges Sein verschmolz — „Dauer im Wechsel". Vom ewigen Sein zu erkennen aber waren für ihn nur die ewigen Gesetze eines ewigen Wandels. Auf diese war er seit Italien aus, ohne darüber die Freude und das Mitgefühl für alles Zeitlich-Vergängliche auch nur einen Augenblick zu verlieren. Er konnte schon am Symbol des Gartens sich daran erfreuen, „wie Vergängliches und Dauerndes ineinander greift" (Wahlverwandtschaften II, 9). Aber dies Bedürfnis nach ewigen Gesetzen war wieder etwas, was ihn mit der Aufklärungsbewegung verband. Hier liegt ohne Zweifel der tiefste Punkt seiner Kontinuität mit ihr. Ebenso wie die Aufklärung strebte Goethe nach einem überzeitlichen höchsten Standpunkt gegenüber dem in der Zeit Geschehenen. Nur wurde er ganz anders, eben mehr neuplatonisch gewählt als der der Aufklärung. Und wie es oft geschieht, daß man eine trotzdem vorhandene Kontinuität dann am stärksten ver88
leugnet, wenn man ein gemeinsames Bedürfnis auf ganz abweichenden Wegen zu befriedigen versucht, so hat Goethe gerade an diesem Punkte den Trennungsstrich zwischen sich und der Aufklärung am schärfsten gezogen. Er hat dem „selbstklugen" 18. Jahrhundert „ Verstandeskultur" vorgeworfen, weil es die ewigen Gesetze des Seins mit dem Verstände statt mit der Vernunft, die für ihn das Ensemble aller höheren Seelenkräfte war, suchte. Und weil dann die dem Verstände entsprechenden Gesetze des Seins nur eine tote Statik, nicht eine lebendige Dynamik der Welt hervorbrachten. „Die Gottheit aber", sagte er zu Eckermann 1829, „ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu tun, der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze." Der Goethesche Begriff von Gesetz war also völlig anders als der der Aufklärung, völlig frei von mathematischen Bestandteilen. „Goethes Gesetze sind", sagt Gundolf sehr glücklich, „selbst Individuen, dehnbar feine, dem immer beweglichen Leben geheimnisvoll innewohnende Formkräfte". So gelangte Goethe in sich selbst zu einem idealen Gleichgewichte zwischen Werden und Sein, Wandelbarem und Dauerhaftem, Geschichtlichem und Ubergeschichtlich-Zeitlosem. Nun aber rhebt sich die große und schwere Frage ; ob er damit den Erscheinungen und dem Wesen der geschichtlichen Welt im vollen Umfange gerecht zu werden vermochte. Und ob in solchen Fällen, wo er mit seiner Vereinigungsmaxime von Sein und Werden die geschicht89
lidie Welt nicht ganz zu durchdringen vermocht hat, die Ursache dafür in dieser Maxime selbst oder in anderen Faktoren seines Lebens zu suchen ist. Diese Frage, die nun nach und nach zu beantworten ist, wird nahegelegt durch eine Reihe abfälliger Urteile Goethes über die Geschichte überhaupt.
II. Das negative Verhältnis
zur Geschichte
Die Zeugnisse Goetheschen Mißvergnügens an der Geschichte stehen wie ein Block vor dem Wege, den wir uns zu Goethes historischer Gedankenwelt jetzt weiter bahnen möchten. Es klang uns schon in dem genetischen Überblick wiederholt eine dunkle Mißstimmung über gewisse Eindrücke der Vergangenheit entgegen. Aber sie trat bisher zurück vor dem Bilde einer wachsenden und immer fruchtbarer werdenden Teilnahme Goethes an der Geschichte. Die Kette von Verdikten aber über die Geschichte, die sich von dem Spotte des Urfaust über das Kehrichtfaß und die Rumpelkammer der Vergangenheit bis zu dem Worte von 1828 hinzieht, daß die Weltgeschichte das Absurdeste sei, was es gäbe (v. Müller), ist so geschlossen, daß sie wie ein immer wiederholtes Nein aus den Tiefen Goethescher Empfindung gegen alle Bejahungen seines geschichtlichen Sinnes zu protestieren scheint. W i r haben es hier mit einem der schwierigsten Probleme des Goetheverständnisses zu tun. Man muß die Motive und Argumente feststellen und voneinander sondern, die hinter jenen Verdikten erkennbar oder sonstwie zu vermuten sind. Man hat gemeint, daß neben anderem ihn auch der unbefriedigende Stand der
90
damaligen Geschichtschreibung von der Geschichte abgestoßen habe. Eine selbst sehr unbefriedigende und äußerliche Erklärung. Mag es sein, daß die gelehrte Zunfthistorie der damaligen deutschen Professoren ihn langweilte. Aber es gab die glänzende Geschichtschreibung der großen Aufklärer von Voltaire bis Gibbon, der dann Schiller nacheiferte. Mag es weiter sein, daß gerade der trügerische aufklärerische Glanz dieser Geschichtschreibung, die mit seiner eigensten Welterfassung in Widerspruch stand, von ihm durchschaut wurde. Aber er kannte auch und begrüßte von Anfang an die Ansätze zu einer tieferen und lebensreicheren Geschichtsbehandlung. Mosers großartiges Programm zur Osnabrückischen Geschichte w a r in denselben Blättern von deutscher Art und Kunst 1772/73 mit abgedruckt worden, die seinen Münsteraufsatz enthielten, und Moser mit seinem neuen Reichtum auch an historischer Empfindung blieb zeitlebens der Mann nach dem Herzen Goethes. Und Herders Ideen, diesen großen neuen universalhistorischen Wurf, las er in Italien wohl mit Vorbehalten, aber doch, wie wir hörten, überwiegender Bewunderung. Niebuhrs Römische Geschichte aber, die den Reigen der modernen Geschichtschreibung eröffnete, hat ihn fast wie eine Offenbarung, jedenfalls als eine Erfüllung eigener einstiger Erkenntniswünsche berührt. Man darf auch nicht vergessen, daß Goethe, wie seine Tagebücher zeigen, nicht nur die modernen, sondern auch die antiken Geschichtschreiber las und immer wieder vornahm, und nicht nur Geschichtschreiber, sondern auch Quellen, wie Memoiren und Autobiographien las, aus denen ihm historisches Leben unmittelbar frisch entgegensprudelte. Kurzum, es lag schon genug 91
grünende Flur und fruchtbares Land um ihn herum, das ihn in die Geschichte locken konnte und tatsächlich auch gelockt hat. Man könnte vielleicht noch ein zweites Motiv von allgemeiner Art erwägen, das ihn von der Geschichte ferngehalten haben möchte. Er trat, könnte man versucht sein zu sagen, als Künstler und mit der Souveränität des Künstlers der Geschichte gegenüber und konnte deswegen den Teil der Geschichte, der sich nicht künstlerisch sehen und formen ließ, mit Verachtung strafen. Aber das wäre eine viel zu summarische Erklärung. Sie würde sofort die Gegenfrage; auslösen, warum denn ihm ein so großer Teil der Geschichte als unformbar erschien. Er hat sich der Natur gegenüber durchaus nicht bloß als formender Künstler erwiesen, sondern als Denker und Forscher, der, wenn auch begabt mit künstlerischem Auge, doch streng induktiv nach den objektiven Formen und Normen des Naturgeschehens forschte. Das Primäre seines Wesens besteht vielleicht überhaupt (wie Csssirer, Freiheit und Form, S. 382, glücklich auseinandergesetzt hat) nicht in dem spezifischen Künstlertum, sondern in einer gemeinsamen höheren Quelle für Künstlertum und Forschertum, in dem, was man seine bildende Kraft schlechthin nennen kann. Man muß ihn schon genauer befragen nach den Gründen seines Mißvergnügens. Da tritt zunächst allerdings auch ein Motiv hervor, das gegen einen bestimmten Zug der bisherigen Geschichtschreibung sich richtete: den Pragmatismus in der Behandlung großer politischer Ereignisse, der sogenannten Haupt- und Staatsaktionen. Schon der Urfaust spottet über die trefflichen pragmatischen Maxi92
men, wie sie den Puppen wohl im Munde ziemen. Und die Rezension von Sonnenfels' Liebe des Vaterlandes 1771 (die man wohl aus inneren Gründen Goethe lassen möchte) höhnte erst recht über die dürftige Manier, die Resultate des Lebens großer Menschen, wie Lykurg, Solon, Numa, aus klaren und bestimmten politischen Prinzipien und Zwecken zu erklären. „Von Geheimnissen (denn welche große historische Data sind für uns nicht Geheimnisse?), an welche nur der tieffühlendste Geist mit Ahndungen zu reichen vermag, in den Tag hinein zu räsonieren!" W i r übergehen weitere Zeugnisse und stellen fest, daß er noch in seinen letzten Jahren die sogenannten pragmatisch-historischen Darstellungen mit Ironie behandelt („Meint der Mann?") und die ganze geschriebene Geschichte einen Euphemismus genannt hat (Rochlitz 1829). Es regte sich noch mehr dahinter als nur die Auflehnung eines tieferen Lebensgefühls gegen die Vordergrundsmotivierungen des Pragmatismus. Es w a r das mit aller Geschichtsüberlieferung wie Geschichtsbetrachtung nun einmal untrennbar verbundene subjektive Element, was ihn gegen sie mißtrauisch machte. Das geht namentlich aus dem berühmten Gespräche mit dem Jenenser Historiker Luden über den Wert der Geschichte (1806) hervor. Als ihm Luden die Möglichkeit entgegenhielt, durch kritische Untersuchungsmethoden dieMängel und Widersprüche der Überlieferung zu überwinden und zur Wahrheit zu kommen, antwortete ihm Goethe, das sei dann nur subjektive Wahrheit, nicht unbestreitbare objektive Wahrheit. Wenn er nun gar sah, wie Gelehrte mit gleichem Scharfsinn oder Unsinn zu verschiedenen historischen Meinungen gelang93
ten, kam ihn das Lächeln an. „Daher ist's um alles Geschichtliche ein gar wunderliches, unsicheres Wesen, und es geht wirklich ins Komische, wenn man überdenkt, wie man von längst Vergangenem sich mit Gewißheit überzeugen will" (an Zelter 1824). Nur wo er eine objektive Wahrheit gefunden und gestaltet zu haben glaubte, fühlte er sich, seitdem er über sich ins klare gekommen war, sturmfest auf dem Fundamente seines Wesens. „Meine ganze Zeit wich von mir ab", sagte er 1824 zu Eckermann, „denn sie war ganz in subjektiver Richtung begriffen, während ich in meinem objektiven Bestreben im Nachteile und völlig allein stand." Als schlechthin objektive Wahrheit erschienen ihm die Ergebnisse seiner Naturstudien, als objektive Wahrheit auch das Kunstwerk, das er gestaltete, weil es nach der inneren Gesetzlichkeit der Natur erwuchs. Der ganze Zusammenhang seiner Weltanschauung, das, was man als seinen objektiven Idealismus bezeichnet hat, spielt hier hinein. Er war der „gottgeführte Mensch", der, um zur reinen Gottnatur emporzustreben, die trüben Sphären, in denen die Subjektivität nicht zu überwinden war, gerne mied. Das läßt sich noch genauer begründen. Als objektive Wahrheit sah er die Ergebnisse seiner Naturstudien deswegen an, weil er sie gesehen, mit seinen Sinnen erfaßt und das Erfaßte geistig durchdrungen hatte. Den Sinnen hast du dann zu trauen, Kein Falsches lassen sie dich schauen, Wenn dein Verstand dich wach erhält. Er war der Mensch der sinnlichsten Gegenwart, zwar nie94
mals dieser allein, aber physisch und seelisch wunderbar ausgerüstet, die ihm begegnenden Phänomene nach Form und Gehalt, Sinn und Gesetz zu erfassen. „Die ganze Natur", so sagte eine jüngere Freundin (Rosette Städel 1814), „jeder Grashalm, Wort und Blick redet zu ihm und gestaltet sich zum Gefühl und Bild in seiner Seele". Das war sein „gegenständliches Denken", von dem er selbst sprach, „welches nämlich immer im Angesicht des Gegenstandes sich bilde und äußere" (an Boisseree 1822). Verglichen mit dem, was ihm die Gegenwärtigkeit der Erscheinungen gab, konnte ihm die Vergangenheit sehr wohl zuweilen als ein Buch mit sieben Siegeln erscheinen. Die Siegel lösten sich, sobald sein Geist auf geformtes, lebendig noch sprechendes Menschentum stieß, auf das Kunstwerk vor allem. Die geschichtliche Vergangenheit im ganzen blieb ihm vielleicht dauernd ein dunkler Nachthimmel, von dem sidi nur Massen leuchtender Sterne abhoben. Das tiefe Dunkel dahinter aber konnte ihn wohl als Chaos abstoßen. Verdoppelte sich der Sterne Schein, das All wird ewig finster sein. Das sind die tieferen Gründe, weshalb er die schon von der Aufklärung betriebene pyrrhonistische Skepsis gegen die Überlieferung der Geschichte wieder und wieder anklingen ließ. Da erscheint es nun paradox genug, daß er, der für das Legendärische ein so scharfes Auge hatte, sogar selber in Legendenkritik an dem Mosesproblem sich versucht hatte, trotz seines Unwillens über alles Trügerische und Unzuverlässige in der Geschichte, die Legenden 95
zuweilen in Schutz nehmen konnte gegen die moderne Quellenkritik. Jetzt käme diese, sagte er zu Eckermann 1825, und erklärte, daß Lucretia und Mutius Scävola nie gelebt hätten. W a s sollten wir mit einer so ärmlichen Wahrheit? Wenn die Römer groß genug waren, so etwas zu erdichten, so sollten wir wenigstens groß genug sein, daran zu glauben. Und ähnlich über die Bibel. Die Frage nach echt und unecht in ihr sei wunderlich. Echt sei das ganz Vortreffliche, das mit der reinsten Natur und Vernunft in Harmonie stehe und noch heute unserer höchsten Entwicklung diene, unecht das Absurde, Hohle und Dumme, was keine Frucht bringe, wenigstens keine gute (Eckermann 1832). Man ahnt schon, wie sich für ihn selber die Paradoxie auflöste. Für ihn gab es keinen Widerspruch zwischen einem allgemeinen Mißtrauen gegen die schriftliche Überlieferung und der getrosten Hinnahme solcher Uberlieferungen, die sich durch einen lebenskräftigen inneren Gehalt für ihn legitimierten. Sie waren ihm ebenso „echt", ebenso wahr und objektiv gültig, wie das der inneren Gesetzlichkeit der Natur gemäß gestaltete Kunstwerk. „Was fruchtbar ist, allein ist wahr." „Ich habe bemerkt", schrieb er an Zelter (1829), „daß ich den Gedanken für wahr halte, der für mich fruchtbar ist, sich an mein übriges Denken anschließt und zugleich mich fördert." „Habe ich", so setzte er in Dichtung und Wahrheit (III, 12) auseinander, „das Innere, den Sinn, das Ursprüngliche, Göttliche, Wirksame, Unverwüstliche eines Werkes der Vergangenheit mir zu eigen gemacht, so lasse ich mir durch keine zerstückelnde Kritik, die nur das Äußere dieses Werkes treffen kann, diesen Grund rauben." Noch ein 96
charakteristisches Zeugnis. „Bei Gemälden, noch mehr aber bei Zeichnungen, kommt alles auf die Originalität an. Ich verstehe unter Originalität nicht, daß das Werk gerade von dem Meister sei, dem es zugeschrieben wird, sondern daß es ursprünglich so geistreich sei, um die Ehre eines berühmten Namens allenfalls zu verdienen" (an Rochlitz 1815). Die bloße Faktizität war ihm auch noch keine eigentliche Wahrheit. „Alles wird ungewiß", meinte er, „wenn man nur die zufälligen Bezüge irdischer Dinge gegeneinander zu seinem Hauptaugenmerk macht" (Geschichte d. Färb.). Er zog damit die letzte Konsequenz pyrrhonistischer Aufklärungskritik, um sie auf seine Weise zu überwinden. Denn er baute sich ein höheres Wahrheitsreich auf, in dem allein das der Gottnatur Gemäße, das Schaffende und höhere Frucht Tragende Platz fand. Damit wandelte er, wie Cassirer (G. u. d. geschichtl. Welt, S. 23) schon richtig bemerkt hat, die Lehre von der historischen Gewißheit völlig um. Man könnte einwenden, daß sein objektives Bestreben hier mit einem Male in eine grandiose Subjektivität und eine Art Inspirationsglauben umzuschlagen drohe. Aber das Gefühl einer völligen Verbundenheit seiner eigenen Natur mit der Gottnatur war nun- einmal die große Kraftquelle seines Denkens. Auch war es frei von dem überheblichen Wahne, die höchste absolute Gestalt der Wahrheit etwa selbst zu erobern. „Das Wahre mit dem Göttlichen identisch", heißt es 1825 (Versuch einer Witterungslehre), „läßt sich niemals von uns direkt erkennen; wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, im Symbol." Schließlich war es nur die Sprache seiner eigentümlichen Begriffswelt, die einen auch für uns gültigen Wahrheitskern in seiner Beurteilung der Legen97
den verhüllt. Es war ein tiefer, auch historischer Blick, der ihm sagte, daß auch die als Legende erwiesene Überlieferung noch einen Wahrheitswert besitzen könne, der unabhängig von ihrer Faktizität ist. Er antizipierte damit in etwas die höhere historische Kritik, die das von der bloßen Echtheitskritik Verworfene mit neuem Leben zu erfüllen vermag. Die Umwandlung der Lehre von der historischen Gewißheit aber hatte noch weitere, bis heute reichende und gerade heute lebendig gewordene Konsequenzen. Nicht die „Tatsachen", sondern die durch Intuition zu ergreifenden geistigen Gehalte der Vergangenheit erschienen ihm als das Gewisse. Und die Tatsachen erschienen ihm zugleich als das Vergängliche gegenüber den immer wieder auflebenden geistigen Gehalten. „Die Gedanken kommen wieder, die Überzeugungen pflanzen sich fort; die Zustände gehen unwiederbringlich vorüber" (Max. u. Reil.). Damit rechtfertigte er im voraus die Bemühungen der modernen Geistesgeschichte. Nur bleibt auch diese, skeptischer als Goethe, sich ihres subjektiven a priori bewußt und denkt, von modernsten Verirrungen abgesehen, anders über das Verhältnis von Kritik und Intuition, als es Goethe getan hat. Sie will sie immer miteinander verbinden und keines ohne das andere ausüben. Er dagegen ließ sie, wie wir eben bemerkten, nur nebeneinander, nicht ineinander funktionieren und unterschätzte die Bedeutung dessen, was er die Kritik des Äußeren, des bloßen Körpers der Überlieferung nannte. So daß sich allerdings hier die Wege Goethes und des kritischen Historismus trennen. Doch darf man sich diese Trennung nicht zu tief, nicht radikal denken. Wo ihm Kritik und Intuition so schöpfe98
risdi miteinander verbunden, wie in Niebuhrs Römischer Geschichte, entgegentraten, ließ er sich innerlich sofort gewinnen und empfand eine geistige Verwandtschaft. „Die Sonderung von Dichtung und Geschichte", schrieb er ihm 1811, „ist unschätzbar, indem keine von beiden dadurch zerstört, ja vielmehr jede erst recht in ihrem W e r t und W ü r d e bestätiget w i r d . " Also konnten auch aus seinem Mißvergnügen an der Geschichte positive Fermente f ü r geschichtliches Denken sich entwickeln. Aber w i r haben die Motive dieses Mißvergnügens noch gar nicht vollständig kennengelernt. Er warf in der Geschichte der Farbenlehre der Weltgeschichte das Inkalkulable und Inkommensurable vor. Damit tastete er nunmehr auch den, W e r t ihres sachlichen Gehalts an. Gesetz und Zufall, meint er, griffen in ihr ineinander, der betrachtende Mensch aber komme oft in den Fall, beide miteinander zu verwechseln, womit er dann wieder in seine Kritik des subjektiven Charakters der Geschichtsschreibung einmündete. Die N a t u r sei doch das einzige Buch, heißt es in der Italienischen Reise, das auf allen Blättern großen Gehalt biete. M a n tue besser, sich unmittelbar an die N a t u r zu wenden, als sich mit den Schlackenhalden vergangener Jahrhunderte herumzumühen (Annalen 1812). U n d in dem Altersgespräche mit dem Kanzler Müller, in dem er die Weltgeschichte das Absurdeste nannte, w a s es gäbe, fuhr er fort: „Ob dieser oder jener stirbt, dieses oder jenes Volk untergeht, ist mir einerlei; ich wäre ein Tor, mich darum zu bekümmern." Es w a r nicht ganz so hart immer gemeint. Aber die tiefe Unlust über die materiale Zusammensetzung der Geschichte, die aus solchen und vielen anderen Worten her99
vorleuchtet, war nur der Ausdruck seines Unvermögens, den Stoff der Geschidite geistig vollständig, so vollständig zu bemeistern, wie er die erforschliche Natur Schritt für Schritt glaubte bemeistern zu können durch das heuristische Prinzip von Urform und Metamorphosen. W o h l waren ihm letztlich Natur und Geschichte eins und die Geschichte nur ein Ausschnitt aus dem Alleben der Gottnatur. Aber nachdem er gelernt hatte, von der Naturbeobachtung aus den Weg zu diesem Alleben zu suchen, stellte er auch an die Geschichte Ansprüche, die wohl die Natur, aber nicht die Geschichte ihm ohne weiteres erfüllte. In der Natur glaubte er „eine reine gesunde Entwicklung" der „ins Leben tretenden Idee" zu gewahren, in der Geschichte sah er die Gefahr, „vom rechten Wege krankhaft abgeleitet zu werden". „Wird ja ebnermaßen", fuhr er fort (an E. H . F. Meyer 1829), „die Geschidite der Kirchen und Nationen dadurch so verwirrt, daß der Hauptgedanke, der höchst rein und klar den Weltlauf begleiten mag, durch den Augenblick, das Jahrhundert, durch Lokalitäten und sonstige Besonderheiten getrübt, gestört und abgelenkt wird." Am widerwärtigsten in der Geschichte war ihm der Zufall, den aus tiefster Seele hassen zu müssen sein eingeborener Daimon ihn nötigte. Auch auf dem Gebiete der außermenschlichen Natur bekämpfte er ihn da, wo er ihm entgegentrat oder entgegengehalten wurde. Er bekannte seinen Abscheu vor den gewaltsamen Erklärungen des Vulkanismus, der mit reichlich Erdbeben, Wasserfluten und anderen titanischen Ereignissen da arbeiten wolle, wo ein ruhiger Blick eine langsame und naturgemäße K o n tinuität gewahre (Annalen 1820). Auf diesem Gebiete 100
konnte er sich mit den Waffen des Eigensinns gegen die „tollen Strudeleien" des Zufalls wehren. In der Geschichte versagten diese. Es gab für ihn kein Erkenntnismittel, um das turbulente vulkanische Element aus ihr zu eliminieren oder es wenigstens stark einzuklammern. Waren nicht Geburt und Tod gewaltiger Machthaber, Erbfolge schwächlicher Regenten auf große Vorgänger, Verkindungen und Kollapse, kleinliche Motive der Handelnden alles Momente von Zufälligkeit, die doch große Wirkungen gehabt hatten? Man muß hier an die Aufklärungshistorie Voltaires erinnern, der auch schon mit Widerwillen vor dieser groben und häßlichen Welt des Zufalls sein H a u p t verhüllt hatte, — während Montesquieus Denkerkraft freilich auch ihr zu trotzen versucht hatte. Voltaire hatte sich geholfen, indem er bei den paar grünen Tälern in der öden Felsenwildnis der Geschichte verweilte. Auch Goethe sollte ihm in seiner Art darin folgen. Beide aber erkannten die kausale Bedeutung des Zufalls in der Geschichte als Realisten, die sie blieben, immer rundweg an, und der moderne Historismus muß ihnen darin folgen, muß z. B. hart und entschlossen die Tatsache anerkennen, daß der Tod der Kaiserin Elisabeth im Jahre 1762 ein Zufall war, ohne den das Schicksal Preußens und Deutschlands ganz anders gelaufen wäre. Eine Möglichkeit hätte es wohl für Goethe gegeben, dem Zufall in der Geschichte eine größere Dignität zu geben. Er hätte ihn jener Sphäre zurechnen können, die wir als die dunkle über der Menschheit liegende Gewitterschicht bezeichneten, in der „die allmächtige Zeit und das ewige Schicksal" hausen. Dieses Schicksalsgefühl, durch das auch das Zufällige zum Gliede eines allerdings unerkennbaren 101
Weltzusammenhanges wird, hat Goethe immer besessen und für sein eigenes Leben wirken lassen. Beweis dafür der Schluß von Dichtung und Wahrheit, wo er die Zufälligkeiten, die in seine lebensentscheidende Reise nach Weimar hineinspielten, in die geheimnisvolle Sphäre des Schicksals erhebt. Audi die Menschheit im ganzen sah er im Banne des Schicksals und stieß sich trotzdem an dem Zufall, der einen Teil des geschichtlichen Geschehens zu beherrschen schien. Hier lagen Hemmungen in ihm, die wir allmählich zu verstehen suchen müssen. Nun hat man weiter wohl seit Goethe wiederholt versucht, den Zufall überhaupt als unwesentlich aus der Geschichte gegenüber ihren großen Gesetzlichkeiten auszuschalten. Man hat das aber nur zustande bringen können, indem man entweder den jeweiligen Gesetzesbegriff überspannte und die sich nicht fügen wollenden Tatsachen in ein Prokrustesbett legte, oder indem man diese unbequemen Tatsachen für völlig gleichgültig gegenüber dem ehernen Gange einer Weltgesetzlichkeit erklärte. Goethe hat weder das eine noch das andere versucht. Er hatte Respekt vor den Tatsachen, auch vor den ihm widerwärtigen. Wieder sieht man, wie auch in dem, was negativ an seinem Verhältnis zur Geschichte erscheint, etwas positiv Wahres und damit auch Fruchtbares liegen konnte. Er wurde auch vor einer Uberspannung des Gesetzesbegriffs, wie sie der spätere Positivismus übte, bewahrt durch den lebendigeren und feineren Charakter seiner Gesetze. Sie wurden nicht, wie die des Positivismus, gefunden durch eine deduktive Verallgemeinerung gewisser Erfahrungen und zugleich Hineintragung eigener zeitgebundener Ideale in den Erfahrungsstoff, sondern durch 102
induktive Versenkung in das Eigenleben der Phänomene, zunächst der Natur, dann von hier aus des Menschenlebens. Mochte auch bei ihm dabei das eigene Lebensideal der sich entwickelnden und doch dabei an Typus und Weltall gebundenen Individualität leise mithelfen, so war es doch überall die Innerlichkeit und die Eigenbewegung der Dinge aus ihrem eigenen Lebenszentrum, die er suchte. Solch Eigenleben, aus dem Alleben entsprungen und mit ihm dauernd verwoben, im kleinsten wie im größten Sterne, sah er überall. „Selbst in diesem Stück Zucker vor uns", sagte er im Alter einmal, „ist Leben." Aber war nun nicht in der Sphäre dessen, was er als Zufall in der Geschichte haßte, sehr viel mehr Leben, als er wahr haben wollte? War nicht auch hier viel mehr innerliche Gesetzlichkeit in solchen Hergängen aufzuspüren, die dem von der Aufklärung herkommenden Betrachter zunächst nur als wirres und wildes Wogen entfesselter blinder Kräfte erscheinen mochten? Konnte man nicht auch in dem Gebiet der politischen Völker- und Staatenschicksale, der Machtkämpfe und Kriege die für Goethe so mißliebige vulkanistische Erklärungsweise in großem Umfange wenigstens durch eine neptunistisch-evolutionistische ersetzen? Während Goethe noch lebte, hat man damit begonnen, hat innerhalb der Romantik Adam Müller aphoristisch wenigstens die Machtkämpfe der Staaten als Vitalorganische Vorgänge gedeutet, hat, durch Romantik und Goethe befruchtet, Ranke den Reigen seiner Werke begonnen, die die innerlichen Lebenszentren und Lebensgesetze der Staaten in typischer wie in individueller Hinsicht aufdeckten. Daß Goethe dies nicht vermocht, sei es nicht gewollt, sei es nicht gekonnt hat, 103
das ist neben der oben berührten methodischen Differenz in der Einschätzung von Kritik und Intuition und neben gewissen, noch einmal zu besprechenden Nachwirkungen normativen Denkens eigentlich die einzige ernsthafte Trennungslinie, die ihn von der Gedankenwelt des voll entwickelten Historismus scheidet. Und es w a r ein Hauptgrund seines Mißvergnügens an der Weltgeschichte überhaupt. Geistesgeschichtlich im großen gesehen, hatte er den Schlüssel, auch diese Welt sich aufzuschließen und mit Urformen und Metamorphosen erfüllt zu sehen, in der Tasche und zog ihn doch nicht heraus. W a r u m nicht? Weil Daimon und Tyche in diesem Punkte seines Denkens genau ineinandergriffen. „Ich bin ein Kind des Friedens", erklärte er und sprach damit ein innerstes Bedürfnis aus. In dem tiefen Verständnis von Hamlets Charakter „ohne die sinnliche Stärke, die den Helden macht" (Lehrjahre 4, 13) möchte man auch etwas von Goetheschem Selbstbekenntnis vermuten — wennschon man ihm selbst ein nur eben anders verwurzeltes Heldentum nie wird absprechen dürfen. Er wuchs auf in der morbiden reichsstädtischen Behaglichkeit des alten Reichs, in dem friedensbedürftigen, unpolitischen Geiste des bürgerlichen 18. Jahrhunderts, das sich aus dem DreißigjährigenKriege emporgearbeitet hatte. Es Baute seine Kultur auf im wesentlichen ohne staatliche Hilfe, aber auch ohne staatliche Hemmung und kam so zu einem läßlichen Nebeneinander von Staat und Kultur. Man sah im Staate einmal den administrativen Wohlfahrtsstaat, den man sich gern gefallen ließ und lobte, und dann den kriegerischen Machtstaat, der einen innerlich nicht berührte, den man entweder schalt oder mit bedauerndem Achselzucken 104
glaubte gewähren lassen zu müssen wie eine fremde Welt. „Unsere modernen Kriege", sagte Goethe in Italien, „machen viele unglücklich indessen sie dauern, und niemand glücklich, wenn sie vorbei sind." So empfand er schon am Vorabend eines Vierteljahrhunderts von Kriegen, dem er sich beugte wie ein Saatfeld dem Sturme, ohne seiner natürlichen Richtung jemals untreu werden zu können. Roethe hat mit Recht geurteilt, daß Goethes Verhältnis zum Kriege nicht viel Entwicklung zeige. Er konnte bis zu einem gewissen Grade anempfindend als Dichter wohl dem heroischen Pathos des Krieges gerecht werden (Achilleis; Prometheus in Pandora), einsichtig verstehend auch die befruchtende Wirkung gewaltiger Kämpfe auf ein Nationalleben wie das englische erkennen. Er hat gelegentlich sogar das wohl überspitzende Wort gewagt, daß Kultur nichts anderes als ein höherer Begriff von politischen und militärischen Verhältnissen sei (v. Müller 1827), und ist damit wenigstens dem kausalen Zusammenhange zwischen Kultur, Staat und Krieg gerecht geworden. Er konnte weiter als das Menschlidi-Erste die „Ereignisse der Völker und ihrer Hirten, wenn beide f ü r einen Mann stehen", erklären (Dicht, u. Wahrh. Buch' 7). Dieses Urphänomen kannte und pries er, aber seine Metamorphosen interessierten ihn nicht tiefer. In diesem einen Punkte blieb er kraft seiner Grundnatur immer Aufklärer und urteilte ganz wie diese, daß kriegerisch verworrene Zeitläufte sich in allen Jahrhunderten gleichen (Annalen 1795). „Auch durch diese Erbkrankheit der Welt mußt' ich einmal durch" (an Rochlitz 1822), sagte er im Hinblick auf seine Teilnahme an der Kampagne von 1792. Er blieb im ganzen in der Distajiz des 105
kultivierten 18. Jahrhunderts zur Machtpolitik wie schon Herder. Nur empfand er sie minder leidenschaftlich und schmerzlich als dieser. So berührt er sich auch mit Herder und den Aufklärern in der inneren Voraussetzung dafür, in der Oberzeugung, daß die Kultur ein höherer "Wert sei als der Staat. Aber während die späteren Aufklärer von hier aus zur Konstruktion eines besten Staates, der sich ganz dem Kulturund Friedensbedürfnis der Individuen anpassen müsse, fortschritten, blieb Goethe dem politischen Wirklichkeitssinne der älteren Zeit, wie er in Moser und anderen und eingesprengt selbst in Voltaire lebte, getreu, wiederum kraft seiner Grundnatur. Den Schutz der Kultur erwartete er nicht von dem geträumten besten, sondern von dem wirklichen, dem festgefügten Staate, der unter allen Umständen die Ordnung wahrte. Und für diesen Zweck gewährte er ihm, ganz gemäß auch der politischen Tradition desl7. und 18. Jahrhunderts, das Recht der Staatsräson, das Recht, im Notfalle auch mit außerrechtlichen Mitteln zu handeln. Das Wort, das er bei der Belagerung von Mainz sprach: „Es liegt nun einmal in meiner Natur: Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen", enthielt auch die Wurzel seines Staatsgedankens. Von der Bejahung der Staatsräson aus öffnete sich, worauf w i r früher schon oft hinwiesen, ein Weg zum Verständnis der geschichtlichen Machtkämpfe, ihres Sinnes, ihres lebensgesetzlichen Charakters. Goethe hat auch am Anfang dieses Weges gestanden. Er hat im Götz, im Egmont und in der Natürlichen Tochter seine Helden die kalte Hand der Staatsräson oder dessen, was sich dafür ausgab, fühlen lassen und das Dämonische, was in ihr 106
lag, noch gewaltiger zur Anschauung gebracht durch das, was Faust an Philemon und Baucis verüben läßt. Noch im letzten Lebensjahre hat er in genauer Fühlung mit der wirklichen Politik und ihrer T r a d i t i o n das Recht der Staatsräson dem Fürsten nicht nur zur Erzwingung der inneren Ordnung, sondern auch zur Erzwingung außenpolitischer Lebensforderungen zugebilligt. E r rechtfertigte bei einem Gespräch mit dem K a n z l e r v. Müller das Zugreifen Preußens bei den polnischen Teilungen, verwarf das Urteil der „gewöhnlichen platten moralischen Politik e r " und erklärte: „Kein König hält W o r t , kann es nicht halten, muß stets den gebieterischen Umständen
nach-
geben . . . F ü r uns arme Philister ist die entgegengesetzte Handlungsweise Pflicht, nicht für die Mächtigen der E r d e . " Aber auch nicht einen Schritt weiter ist er diesen W e g zum Verständnis der wirren Welthändel gegangen. Die politischen Zeitereignisse hat er zwar in seinem späteren Leben oft merkwürdig genau verfolgt, aber mehr aus einem gewissen Pflichtgefühl, das auch diese Seite des Lebens nicht unbeachtet lassen durfte, als aus innerem Anteil. D i e Politik ist das Schicksal, sagte er noch mit Napoleon in seinen letzten Lebenswochen (Eckermann) und hatte doch diese größte Schicksalsmacht seiner Zeit bewußt ausgeschaltet aus dem Bezirke seiner Tendenzen. M i t machiavellischer Ansicht, äußerte er einmal (an Zelter
1827),
möchte man sich kaum mit der Weltgeschichte abgeben 1 . 4. Dez. 1827. Er spricht davon, daß W. Scott in seinem Napoleon „sich streng vor aller machiavellischen Ansicht hütet, ohne die man sich freilich kaum mit der Weltgeschichte abgeben möchte". Das vorhergehende Lob W. Scotts läßt keinen Zweifel, daß statt des „ohne" vielmehr ein „mit" grammatisch am Platze wäre. 1
107
Diese Welt, für die Machiavelli der Meister war, war f ü r ihn nun einmal eine Welt, der seine Psyche innerlich nicht gewachsen war, wohl auch nicht gewachsen sein durfte, wenn sie alle übrige Welt so rein und tief in sich aufnehmen sollte, wie ei geschah. Zwar nahm er auch die großen politischen Helden der Weltgeschichte in sein Pantheon auf: einen Cäsar, einen Friedrich den Großen und Napoleon, sogar fast einen Timur. Aber das für ihn Charakteristische ist, daß er sie dabei aus dem Drum und Dran ihrer wirklichen Politik herauslöste und nur als große, dynamisch und gewiß auch irgendwie sittlich wirkende K r ä f t e schätzte. Darin unterschied er sich prinzipiell eigentlich gar nicht viel von der naiven Heldenverehrung. Doch kann man vielleicht noch einen tieferen Grund f ü r seine Unlust, die wirren Welthändel geistig zu durchdringen, finden. Er atmete ja auf nach 1814 und fühlte sich in der halkyonischen Zeit der Restauration, wie damals der junge Ranke, wieder wohl. Aber während Ranke von hier aus kontemplativ die Welt der Machtkämpfe zu verstehen begann, wurde Goethe durch einen besonderen tiefen Zug seines Wesens von dieser Möglichkeit ferngehalten. Auf Tun und Schaffen war dieses gerichtet, und menschlichen Dingen gegenüber konnte er sich nun einmal nicht rein kontemplativ verhalten. Als Minister Karl Augusts hatte er wohl zur Zeit des Fürstenbundes die vorsichtige Kleinstaatspolitik seines Herrn mit dirigieren können. An den ungeheuren Geschehnissen der Folgezeit hätte er nur dann voll verstehend teilnehmen können, wenn es ihm gegeben gewesen wäre, irgendwie an ihnen mitzuschaffen. Dabei aber hätte er dann wieder seinem 108
eigensten Genius sich entfremden müssen. Dafür sind aufschlußreich die Worte, die er 1824 zum Kanzler v. Müller sprach: „Der jetzige Zustand der Welt — Klarheit in allen Verhältnissen — ist dem Individuum sehr förderlich, wenn es sich auf sich selbst beschränken will; will es aber eingreifen in die bewegten Räder des Weltganges, glaubt es als ein Teil des Ganzen selbsttätig nach eigenen Ideen wirken, schaffen oder hemmen zu müssen, so geht es um so leichter zugrunde." In Summa: Nicht ein Unvermögen seiner Urteilskraft, sondern ein Unvermögen seines innersten Wesens hat ihn letzten Endes außer Stand gesetzt, den Teil der Weltgeschichte, der von Kriegsgeschrei, Völkerdrängen und Thronensturz widerhallt, ebenso morphologisch zu begreifen, ebenso durch Entwicklung zu enträtseln wie die Natur und alles übrige Menschenleben. „Störe meine Kreise nicht", mußte er- zu ihm unter der Ubermacht seiner eigenen Persönlichkeit sagen. Nur kann man den Eigengeist nicht von dem Zeitgeist, der hier dieselbe Sprache führte, gänzlich trennen. Denn er verharrte damit ja in der Denkweise seiner ersten Umweltsepoche, der Aufklärung, die er doch sonst so früh überwand, und sprach, im Hinblick einmal auf die Händel der Reformationszeit, von „verworrenem Quark" (an Knebel 1817). Dies Urteil, das nicht nur die politischen, sondern auch die kirchlichen Händel der Reformationszeit traf, legt die Frage nahe, ob nicht auch seine eigenartige Stellung zum Christentum beigetragen hat zu seiner Unlust, der Weltgeschichte schlechthin einen tieferen Sinn zuzugestehen. Als entschiedener Christ hätte er in der Weltgeschichte 109
ebenso eine konstruktive Einheit finden können, wie er als entschiedener Feind des Christentums, als reiner Aufklärer in dem Kampfe und vielleicht Fortschritte der Vernunft ihr geistiges Band hätte sehen können. Selbst durch eine sogar unvollkommene Synthese von Christentum und Aufklärung war, wie Herders Beispiel zeigt, eine sinnvolle Konzeption der Weltgeschichte zu gewinnen. Aber Goethe konnte das Christentum für sich weder schlechthin annehmen noch schlechthin ablehnen. Der Wandel seines Verhältnisses zu ihm gleicht einer Ellipse. Es gibt eine Jugendnähe und eine Altersnähe zu ihm, dazwischen aber in der klassizistischen Zeit eine Entfernung, die doch nicht so groß wurde, daß nicht ein feines christliches Fluidum auch in der Iphigenie spürbar wäre. Dieses dauernde Fluidum hat sich nur einmal, in der Jugend, als die pietistische Frömmigkeit ihn ergriff, zu wirklicher spezifisch christlicher Religiosität zu verdichten begonnen. Aber diese wurde dann früh aufgesogen von einer bleibend neuplatonisch gestimmten Religiosität. In der Jugend wie im Alter beugte er sich dabei in tiefer Verehrung vor der Hoheit der Lehre Christi. Aber kann man das eine rein und spezifisch religiöse Gesinnung nennen? Wirkte hier nicht auch die alte aufklärerische Scheidung zwischen dem wertvollen Kerne christlicher Moral und der unbrauchbaren Schale christlicher Dogmen nach? Audi schlug dazwischen einmal sein innerstes Herz in'dem Wunsche, daß statt des „jüdischen Praß", der Bibel, Homer unsere Bibel hätte werden sollen. „Welch eine ganz andere Gestalt würde die Menschheit dadurch gewonnen haben!" (Böttiger um 1790). „Es bleibt wahr", schrieb er an Herder 1788, „das Märchen von Christus 110
ist Ursache, daß die Welt noch 10/m. Jahre stehen kann und niemand recht zu Verstand kommt, weil es ebensoviel K r a f t des "Wissens, des Verstandes, des Begriffs braucht, um es zu verteidigen als es zu bestreiten. N u n gehn die Generationen durcheinander, das Individuum ist ein armes Ding, es erkläre sich, f ü r welche Partei es wolle. Das Ganze ist nie ein Ganzes, und so schwankt das Menschengeschlecht in einer Lumperei hin und wider, das alles nichts zu sagen hätte, wenn es nur nicht auf Punkte, die dem Menschen so wesentlich sind, so großen Einfluß hätte." So e m p f a n d er in der Epoche seines Klassizismus, als der antike Mensch in ihm aufstieg, das Christentum als einen Pfahl im Fleische der Menschheit, als den Zerreißer einer Ganzheit ihres seelischen Lebens. U n d auf Ganzheit, auf das sv *at TM.'J war sein religiöses Bedürfnis gerichtet. Im Leben konnte er es f ü r sich befriedigen, in der Weltgeschichte sah er es damals verstümmelt. W i r glauben nicht, daß er diese Verstümmelung je ganz verwunden hat, mochte auch im Alter sich sein Denken wieder religiöser färben, mochte er nun auch den Wert christlicher Symbole und die „göttliche Tiefe des Leidens" am Vorbilde Jesu (Wanderjahre) wieder intensiv empfinden. Aber das Symbol des Kreuzes blieb ihm dabei, wenigstens insofern es das Symbol eines Sühneopfers sein sollte, dauernd ein Abscheu. Die Bibel konnte er vom Standp u n k t der „reinen V e r n u n f t " aus, die sich dabei hoch über den der Aufklärer und Rationalisten erhob, als „Weltspiegel" schätzen (an Zelter 1816). Aber wenn er die Lehre und vor allem die Liebe Christi, die er noch in seinen letzten Lebenstagen mit ergreifenden Worten pries, 111
mit dem verglich, was die geschichtliche Entwicklung des Christentums und der Kirche daraus gemacht hatte, dann erschien ihm das Christentum recht eigentlich als eine unerfüllt gebliebene schöne Möglichkeit der Weltgeschichte. Denn, so urteilte er (Max. u. Reil.), in keinem Momente der politischen und Kirchengeschichte konnte das Christentum in seiner ganzen Schönheit und Reinheit hervortreten. Die Kirchengeschichte nannte er einen Mischmasch des Irrtums und der Gewalt (Zahme Xenien u. v. Müller 1823), um dann freilich doch wieder zu bekennen, daß er sie aufs eifrigste studiert habe (Dicht, u. Wahrh. 3, 11). Das zeugt wohl davon, daß er auch in ihr irgendwie und irgendwann Gott zu finden hoffte, aber nicht gefunden hat. Er konnte mit dem geschichtlich entwickelten Christentum im ganzen sich ebensowenig befreunden wie mit der Machtpolitik der Staaten und Völker. So kam es hier wieder zu der merkwürdigen Brechung, daß ihm zwar die Urform eines Gestaltenreiches groß und herrlich erschien, aber ihre Metamorphosen ihn nicht befriedigten. Indem nun aber sein Weltverständnis aus diesen und den vorher erörterten Motiven nicht zum vollen Geschichtsverständnis werden konnte, geriet auch die Quelle dieses "Weltverständnisses, seine so eigentümliche und großartige Weltreligion, an eine Klippe. Die Gottnatur setzte sich in der Welt nicht vollkommen, wenigstens für menschliches Verstehen nicht vollkommen durch. Das Wirklichwerden der Ideen Gottes, sagte er 1811 zu Riemer, sei die wahre Wirklichkeit. Aber Gott, fuhr er fort, habe freilich auf die Perturbation der Menschen mitgerechnet und lasse sie gleichsam darin gebaren. Das war sein Trost über das ihm Unverständliche. Aber wir stehen damit auch an den 112
Grenzen seiner eigenen Menschheit. Er sah die ewige Kluft „zwischen Idee und Erfahrung, die zu überschreiten unsere ganze Kraft sich vergeblich bemüht. Dessen ungeachtet bleibt unser ewiges Bestreben, diesen Hiatus mit Vernunft, Verstand, Einbildungskraft, Glauben, Gefühl, W a h n und, wenn w i r sonst nichts vermögen, mit Albernheit zu überwinden". Die Welt wird immer, sagte er auch (Max. u. Reil.), eine T a g - und eine Nachtseite behalten. Der dunkle dualistische Untergrund seines mit sonnenhaftem Auge geschauten Weltbildes taucht auf. Er kannte, was man über dem hellen Lichte seiner Dichtung und seines Weltbildes leicht vergessen kann, auch die Nachtseite des Lebens mit allen seinen Schauern und hat es nur meist vorgezogen, sie still in sich zu ertragen und zu erwägen, um dann mit allen seelischen Kräften, voran aber mit Willen und T a t aus diesem Dunkel wieder ins Licht der all-einen Gottnatur emporzustreben. Und so kam es zu der vielleicht denkwürdigsten Polarität seines Lebenswerkes. Der Verächter der Weltgeschichte, der in den Stunden seiner Geschichtsfremdheit ihren Sinn und Wert schroff leugnete, wurde für diejenigen Reiche der geschichtlichen Welt, die sein Geist an sich ziehen konnte, der tiefste Deuter und Wegbahner, und die Wege des Verständnisses, die er hier bahnte, konnten auch einmal in die von ihm noch verschmähten Reiche der Geschichte hinübergeleitet werden. „Es ist mit der Geschichte", sagte er im Augenblicke einer Gleichgewichtslage einmal (Max. u. Reil.), „wie mit der Natur, wie mit allem Profunden, es sei vergangen, gegenwärtig oder zukünftig, je tiefer man ernstlich eindringt, desto schwierigere Probleme tun sich hervor. Wer sie nicht 113
fürchtet, sondern kühn darauf losgeht, fühlt sich, indem er weiter gedeiht, höher gebildet und behaglicher." Bei solchem kühnen Darauflosgehen konnte er dann schließlich auch, wenigstens grundsätzlich, mit dem sich abfinden, was ihm die geschichtliche Welt besonders unschmackhaft machte, mit dem von ihm so gehaßten Zufall. „Große, von Ewigkeit her oder in der Zeit entwickelte ursprüngliche Kräfte wirken unaufhaltsam, ob nutzend oder schadend, das ist zufällig" (Max. u. Reil.). Das klang noch ergeben fatalistisch, aber im anderen Augenblicke sprang auch sein Aktivismus wieder hervor: „Die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches Individuum zu betrachten, das unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn macht" (daselbst 1 ). Daran anklingend schon die Worte aus Meisters Lehrjahren (1, 17) über das aus Notwendigkeit und Zufall gebildete Gewebe dieser Welt; das Zufällige aber müsse durch die Vernunft gelenkt und benutzt werden. Und ein letztes Urteil über den Zufall, in dem sich sein Realismus und sein Optimismus die Waage hielten: „Es geschieht nichts Unvernünftiges, das nicht Verstand oder Zufall wieder in die Richte brächten; nichts Vernünftiges, das Unverstand und Zufall nicht mißleiten könnten." Der mit Wolken bedeckte Himmel, als den sich uns Goethes Bild von der Geschichte zuerst darstellte, beginnt sich damit zu klären. Noch von einer allerletzten Wolke aber ist zu sprechen, die nicht aus Nachwirkung älterer Denkweisen, auch nicht aus erkenntniskritischen, welt1
In dem Briefe an Beulwitz 18. 7. 28 als „hohe W o r t e eines Weisen" zitiert.
114
anschaulichen oder charakterlichen Hemmungen wie die bisher behandelten Motive entsprang, sondern aus tiefsten, fast untermenschlichen Schichten des Gefühlslebens, da, wo das Seufzen und Bangen allen Kreaturen gemein ist. Es ist die Sphäre dessen, was. Goethe gelegentlich als „Apprehension", als „Wehen banger Erdgefühle" bezeichnet. Es erregt Staunen — ein mit Ehrfurcht verknüpftes Staunen —, daß sogar das, was sein höchstes Glück- ausmachte, der Anblick der in die Erscheinung tretenden Idee, die Auffindung von Urphänomenen, also die Offenbarung seiner Gottnatur, nach seinem Geständnis für ihn mit „Apprehension", mit Angstgefühl verbunden war (Max. u. Reil.) 1 . Solche Apprehension konnte ihn auch gegenüber der geschichtlichen Vergangenheit überhaupt anwandeln. Sie taucht, wie wir früher (S. 33) bemerkten, bereits auf im Kölner Domerlebnis von 1774. Denn wenn sie schon durch die Verwirklichung der Idee geweckt werden konnte, so erst recht durch ihre Störung, durch den Anblick sinnloser und doch existierender Erscheinungen, allein schon solcher Erscheinungen, deren Zusammenhang mit dem übrigen Leben ihm nicht gleich klar war. „Jedes fremde, aus seiner Umgebung herausgerissene Geschöpf", heißt es in den Wahlverwandtschaften, „macht einen gewissen ängstlichen Eindruck auf uns." Es gab für ihn auch noch ein Zwischengebiet zwischen sinnvollen und sinnlosen Erscheinungen. Das w a r das geD e r Versuch Simmeis (Goethe, S. 122), diese „Apprehension" aus der logischen Schwierigkeit, die jeden Monismus bedrohe, zu erklären, scheint mir nicht geglückt zu sein. Es ist menschliches U r g e f ü h l , U r p h ä n o m e n auch der Religion überhaupt ( m y sterium tremendum), das hier bei Goethe an den Tag tritt. So deutet es auch Leisegang, G.s. Denken, S. 1 1 9 . 1
115
heimnisvolle Gebiet des Dämonischen, dem er, zumal im Alter, erregende Betrachtungen gewidmet hat. „Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge; es ähnelte der *
Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang" (Dicht, u. Wahrh. IV, 20). Ein andermal bezeichnete er es als das, was durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen sei, aber sich in einer durchaus positiven T a t k r a f t äußere. Dämonisch erschienen ihm Naturen wie Napoleon und Karl August, während er sidh selbst das Dämonische absprach und sich ihm nur für unterworfen erklärte (Eckermann 1831). Denn er sah das Dämonische nicht nur in Personen, sondern auf die verschiedenste Weise in der ganzen sichtbaren und unsichtbaren Natur wirksam. Gutes und Böses ging nach seiner Meinung von ihm aus, oft unwiderstehlich, doch müsse der Mensch auch gegen das Dämonische recht zu behalten suchen (Eckermann 1831). Diese und ähnliche Gedanken erinnern wieder an den dunklen dualistischen Untergrund seines Weltbildes. Doch lehnte er, als Eikermann ihn auf diesen dualistischen Zug seiner Idee vom Dämonischen hin sondierte, die Antwort mit dem Hinweis auf die Unbegreiflichkeit des höchsten Wesens ab. Es w a r die Welt des Unerforsdilichen, an die seine Gedanken hier rührten. Und da er das Dämonische in der ganzen Natur wirksam sah und überall zufrieden war mit der Erforschung des Erforschlichen, so dürfte man nicht etwa vermuten, daß es ihn von der geschichtlichen Welt, in der es am fühlbarsten war, in besonderem Grade ferngehalten habe. Merkwürdig ist nur, daß er das Dämonische im politischen Leben, wie es im Handeln nach Staatsräson oft überwältigend zutage tritt, wie er es selbst sogar in seinen Dramen mit naiver 116
Stärke und Treue gestaltet hat, nicht bewußter herausgespürt hat. Es hätte ihm einen Zugang zum ahnenden Verständnis großer politischer Weltschicksale geben können. Aber diese hielt er sich nun einmal, wie wir sahen, vom Halse. Sie konnten ihn nur in ihrer Wirkung auf das Individuum interessieren. Noch ein weiteres, in ihm gesteigertes Urgefühl des Menschen gab es, das ihn von der Vergangenheit trennen konnte. Der Anblick von Tod und Verwesung und des Hineinragens von Verwestem in das Lebendige ließ ihn vor der geschichtlichen Welt oft erschauern und seine Blicke abwenden. „Die Geschichte, selbst die beste, hat immer etwas Leichenhaftes, den Geruch der Totengruft" (geplantes Vorwort zum 3. Teil Dicht, u. Wahrh.). „Wer bloß mit dem Vergangenen sich beschäftigt, kommt zuletzt in Gefahr, das Entschlafene, für uns mumienhaft Vertrocknete an sein Herz zu schließen" (Klassiker u. Romantiker in Italien, 1820). Wie er das Fortwirken abgestorbenen Rechtes und damit den Wandel von Vernunft in Unsinn als Fluch empfand, weiß man aus dem Faust, und aufgelehnt gegen alle Lasten der Vergangenheit konnte er in den Jahren des Klassizismus einmal sagen, daß die Gegenwart die einzige Göttin sei, die er anbete (Fried. Brun 1795). Eigen berührt es, daß er dann im hohen Alter einmal fast das Gegenteil davon bekennen und sagen konnte, daß die Gegenwart etwas Absurdes und Triviales habe, weil närrisch genug das Ideelle durchs Reale gleichsam aufgehoben werde (an Zelter 1829). Aber hinter dieser zugespitzten Paradoxie stand letzten Endes seine bleibende höchste Weltansicht, die hinter der vorübergehenden realen Gegenwart, aber in sie 117
hineinwirkend, ein ewiges ideelles Leben fluten sah. Wie er Realität und Idealität ineinander verschlungen erblickte, so auch T o d und Leben. Denn der T o d war kein wahrer, d. h. endgültiger T o d , sondern das Mittel der Gottnatur, neues Leben zu wecken. Freilich war er selbst zu lebendig, um nur mystisch zu sein, um nicht von Gefühlen und Gegengefühlen über T o d und Leben, Vergangenheit und Gegenwart wechselnd aufs tiefste bewegt zu werden. Darum kam er auch nicht los von der Vergangenheit und wollte es auch nicht und band schließlich alle zwiespältigen Gefühle von Leben und T o d , die das Vergangene in ihm erregte, in dem einen großen und tragischen Worte zusammen: „Wir alle leben vom Vergangenen und gehen am Vergangenen zugrunde" (Max. u. Refl.). Dichtung war. ihm das Mittel, sich vom selbst Erlebten innerlich zu befreien. Die höchste Aufgabe der Geschichtschreibung sah er in einer analogen Funktion. Sie sollte, dem Speer des Telephos gleich, die Wunden heilen, die sie schlug, den Druck der Vergangenheit, die sie heraufbeschwor, benehmen: „Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen" (Max. u. Refl.). Goethe kann nur in seinen Polaritäten verstanden werden. In nicht wenigen der Motive, die sein negatives Verhältnis zur Geschichte bestimmten, sahen wir Fermente wirksam, die auch zu einem positiven Verhältnis zu ihr gehören. Der negative Pol seines Geschichtsverhältnisses konnte darum jederzeit wieder in den positiven Pol umschlagen und die Weltgeschichte, d. h. eine erlebte Weltgeschichte, sogar als Maß für den Augenblick erklärt werden, wofern nur dieser Augenblick selbst von strebendem Leben erfüllt sei:
118
W e r in der Weltgeschichte lebt, Dem Augenblick sollt' er sich richten? W e r in die Zeiten schaut und strebt, Nur der ist wert, zu sprechen und zu dichten. Dazu die altbekannten Worte der Geringschätzung für den, der nicht von 3000 Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, und daß im Vergangenen das Tüchtige lebe und sich in schöner T a t verewige. Die Bahn ist nunmehr frei, um den positiven Gehalt des Goetheschen Geschichtsverständnisses zu entwickeln.
III. Das positive Verhältnis
zur Geschichte
Voran gehe die Feststellung, daß Goethe die neue, von Moser und noch stärker von Herder geübte Art des historischen Sehens, die alle Kräfte des Geistes und der Seele, keine ausgeschlossen, zusammenwirken läßt, nicht nur, was des Beweises nicht bedarf, in großartigster Weise zu üben vermochte, sondern auch bewußt zum methodischen Grundsatz erhoben hat. Kaum nötig zu sagen, daß er ihn dabei nicht auf das Geschichtliche beschränkte, sondern aüf die Erscheinungen der Gottnatur überhaupt angewandt wissen wollte. Zusammenwirken also sollten im Schauen der Dinge „die Abgründe der Ahndung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen" (Gesch. d. Färb.). Aber wie weit ließ sich damit gerade an die geschichtlichen Erscheinungen herankommen? Goethe hat es schon als 119
Dichter des Urfaust gewußt, daß es der Herren eigner Geist ist, in dem die Zeiten sidi bespiegeln. Dies subjektive Apriori im Denken des Historikers konnte ihm, wie wir sahen, wenn er es als Hemmung empfand, die Freude an der Geschichte rauben. Es konnte ihm ebensowohl, wenn es vom Gegenpol her wirkte, zum belebenden Impuls werden, mit neuem frischen Auge in die Geschichte zu schauen und zu ihrem „schaffenden Spiegel" zu werden. Zumal und erst recht im Alter, wo sich unter dem mächtigen Eindrucke der geschichtlichen Erlebnisse sein Gegenwartsgefühl vertiefte und nach stärkerem Kontakte mit der Vergangenheit strebte, wo er nun auch die Wandlungen des Geistes übersah, die zu seinen Lebzeiten vor sich gegangen waren, — nicht zuletzt, vielleicht schier zuerst durch die gewaltige Wirkung seines eigenen Geistes. Es ist also eines der denkwürdigsten Zeugnisse für das Bewußtwerden eines neuen historischen Sinnes, wenn Goethe in der Geschichte der Farbenlehre sagt: „Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben" 1 . Er verlangte eine gründliche Abkehr von der'historischen Urteilsweise des „selbstklugen" 18. Jahrhunderts. Wo findet sich da, fragte er, „Ehrfurcht für hohe unerreichbare Forderungen, wo das Gefühl für einen in unergründliche Tiefe sich senkenden Ernst? Wie selten ist die Nachsicht gegen kühnes mißlungenes BestreVgl. dazu seinen Brief an Sartorius vom 4. Februar 1811: „Es ist irgendwo gesagt, daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, und wann war wohl eine Epoche, die dies so notwendig machte, als die gegenwärtige!" Wer mag das Wort vom Umschreiben der Weltgeschichte zuerst ausgesprochen haben? 1
120
ben! Wie selten die Geduld gegen den langsam Werdenden!" Wie selten überhaupt das Verständnis für problematische Naturen. Nun sei das 19. Jahrhundert auf dem Wege, den Fehler des 18. wieder gut zu machen, „wenn es nur nicht in den entgegengesetzten sich zu verlieren das Schicksal hat." Das war eine geniale Ahnung der Gefahr, in die der reif gewordene Historismus geraten sollte, durch behende Anpassung an jegliches, auch das absurdeste Phänomen relativistisch zu verflachen. Den Mut aber, die in ihm immer wieder aufsteigende Skepsis gegen „der Herren eignen Geist" immer wieder neu zu überwinden, konnte er aus einem seiner höchsten und persönlichsten Trostgedanken über. Welt und Menschheit schöpfen, den er oft aussprach. „Der einzelne Mensch", schrieb er an Schiller 1798, „kann die Natur nicht begreifen, obwohl die ganze Menschheit sie wohl begreifen könnte." Nur alle Menschen, sagt Jarno in den Lehrjahren (8, 5), machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. „Die Menschheit zusammen", heißt es in Dichtung und Wahrheit (Buch 9), „ist erst der wahre Mensch." Wie eigen ist hier wieder der Glaube des Naturrechts und der Aufklärung an den stabilen Wahrheitsbesitz der Menschheit weiter- und umgebildet zu der dynamischen Vorstellung, daß vielmehr in der gesamten Fülle der individuellen, dem Irrtum unterworfenen menschlichen Meinungen ein unsichtbarer überempirischer Wahrheitsschatz verborgen sei. „Darum kann", fuhr er fort, „der einzelne nur froh und glücklich sein, wenn er den Mut hat, sich im Ganzen zu fühlen." „Ein inniges Anklingen, ein Mitstimmen ins Ganze" (Dicht, u. Wahrh. Buch 12) war sein höchstes 121
Lebensgefühl. Wir sind mitten in dem, worauf es uns ankommt, um Goethes schöpferische Leistung für ein neues geschichtliches Denken, das wir unter der Bezeichnung Historismus verstehen, zu zeigen. Nicht für diesen allein, denn auch die Natur ist ja in diesem Ganzen mit enthalten. Aber auch schon die Menschheit für sich bildete dabei f ü r ihn ein Ganzes von unendlicher Bewegtheit und Mannigfaltigkeit, einen gewaltigen Lebensstrom, in dem das einzelne nicht untergeht und gleichgültig wird, sondern nur dadurch aufgeht, daß es seine eigene ihm aus dem Urquell des Ganzen zufließende individuelle Lebendigkeit und Gesetzlichkeit entwickelt und den Gesamtstrom dadurch wieder speist. Der mit Individualität gesättigte Lebens- und Werdestrom des Ganzen, das ist die f ü r Natur und Geschichte gemeinsame Grundkonzeption Goethes, — wobei dann auf dem Gebiete der Geschichte die Individualität der einzelnen Erscheinungen überhaupt erst machtvoll zur Erscheinung kommt, während sie in der Natur hinter den Typen und Gattungen, die das menschliche Auge allein nur gewahr werden kann, verborgen bleibt. Es kommt aber, sagt er in einem seiner tiefsten Worte, „offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat desselben an". Audi in der Geschichtschreibung, bemerkte er im geplanten Vorwort zum 3. Teile von Dichtung und Wahrheit, gehen über den Resultaten die einzelne Tat sowie der einzelne Mensch verloren. Der Lebensprozeß selbst ist ihm die Hauptsache und den „absurden Endursachen" galt sein H a ß (an Zelter 1830). Kein „Gezogenwerden vom Ziel her", sondern ein „Wachsen von der Wurzel her" (Simmel, Goethe, S. 4). Von den wir122
kenden Kräften her, nicht vom Gewirkten her müssen also die historischen Erscheinungen voran verstanden werden. Dann sieht auch das Gewirkte anders, tiefer und innerlich notwendiger aus. Damit überwand Goethe radikal den Pragmatismus und Utilitarismus der Aufklärungshistorie. Diese beurteilte das geschichtliche Handeln nach seinen mehr oder minder nützlichen Resultaten, und diese wieder nach dem Reiche der Zwecke, das die stabile Vernunft der Menschheit sich erbaute. Damit riß sie die Zwecke und die handelnden Menschen auseinander und maß diese nicht nach ihrem eigenen Maßstab, nach dem Lebensgesetz, das in ihnen wirkte, sondern an dem für absolut gehaltenen Maßstabe ^allgemeiner letzter menschlicher Zwecke und Ziele. Das führte dann bei der Untersuchung der einzelnen geschichtlichen Handlungen auch zur Vereinzelung und Isolierung der verschiedenen Motive, zu ihrer Behandlung als mechanische Springfedern, mochten sie gut oder schlecht, aus Leidenschaft oder aus Vernunft stammen. Und weiter dazu, nur die im hellen Lichte des Vordergrundes liegenden Motive zu beachten und über „unergründliche Tiefe", wie Goethe ihr vorwarf, hinwegzusehen. Mit diesem Pragmatismus verband sich auch immer leicht der Moralismus. Die moralischen Maßstäbe waren die bequemsten, um die einzelne Handlung zu beurteilen. Goethe lehnte das moralische Urteil da, wo es hinpasse, nicht ab, aber erklärte unter dem Eindruck von Johannes v. Müllers Allgemeiner Geschichte, ganz übereinstimmend mit dem, was einst Moser gegen Abbt bemerkt hatte, daß es untauglich sei, die Weltgeschichte im ganzen zu meistern. „Mir, auf meiner einzelnen Warte", schrieb er an 123
Reinhard 1810, „ist abermals aufgefallen, daß man aus dem moralischen Standpunkt keine Weltgeschichte schreiben kann." Der Pragmatismus selbst war nichts anderes als die Weiterbildung eines naiven menschlichen Verhaltens im praktischen Leben. Man glaubt dieses in der Regel nicht anders bewältigen zu können, als indem man das unmittelbar Greifbare und Verständliche ins Auge faßt, es freilich damit auch isoliert und von seinen tieferen Lebenszusammenhängen trennt. Man behandelt das Leben, als ob seine Teile mechanisch behandelt werden können, und ignoriert dabei das, was nicht mechanisch behandelt werden kann. Das wußte Goethe, und darüber strebte seine Denkweise, dem Historismus vorarbeitend, bewußt hinaus. „Freilich' haben die Menschen", schrieb er 1804 an Zelter, „überhaupt gewöhnlich nur den Begriff vom Neben- und Miteinander, nicht das Gefühl vom In- und Durcheinander, denn man begreift nur, was man selbst machen kann, und man faßt nur, was man selbst hervorbringen kann. Weil in der Erfahrung alles zerstückelt erscheint, so glaubt man das Höchste auch aus Stücken zusammensetzen zu können." Dieselbe zerstückelnde Denkweise traf ein anderes Wort: „Der denkende Mensch irrt besonders, wenn er sich nach Ursache und Wirkung erkundigt; sie beide zusammen machen das unteilbare Phänomen" (Max. u. Refl.). Man mag nun wohl einwenden, daß auch das moderne historische Denken, wenn es etwa das Handeln der Staatsmänner untersucht, ohne ein gewisses Maß von zerstükkelndem Pragmatismus und selbst Utilitarismus nicht aus • kommt. Es muß voran jene Vordergrundsmotive feststellen und herausarbeiten, es legt auch den Maßstab der 124
Leistung, des Resultates an das einzelne Handeln an, weil von diesen Resultaten die Weiterentwicklung der objektiven Mächte von Staat und Gesellschaft abhängt. Auch Goethe hat, wenn er das Urteilen nach Resultaten in der Geschichtschreibung kritisierte, das Suchen nach ihnen dem Geschichtschreiber „nicht verargen" wollen, hat auch selber vereinzelt pragmatisch klingende Worte gesprochen. Aber sobald bei der Beurteilung des einzelnen Ereignisses und der Weiterentwicklung der objektiven Mächte audi nur einen Augenblick der tiefere, nicht immer deutlich erkennbare, aber immer vorauszusetzende Lebensstrom immanenter Gesetzlichkeiten vergessen wird, so ist auch die Seele der geschichtlichen Gebilde entflohen, und man erhält nur das caput mortuum grob verbundener Tatsächlichkeiten. Wer aber die Lebensströme, die durch Goethes Faust hindurchgehen, einmal ganz in sich aufgenommen hatte, war vor dieser Gefahr behütet. Deswegen schätzen wir Goethes Leistung für den Historismus höher ein als selbst die Herders, weil sie das menschliche Denken und Empfinden von seiner Wurzel her umzubilden die stärkere Kraft hatte, weil sie totaler die Seele erfaßte und intensiver und feiner sie schwingen ließ, als es der selbst zu unruhig schwingende Geist Herders vermochte. Es blieb auch nicht bei der bloßen Betrachtung eines ewigen Werdens und Wandels. Sie rührte an das Gemüt, weckte eine neue duldsame Liebe für das Menschliche, und Goethe wußte, daß es diese Liebe wiederum ist, die uns in das Herz der Dinge einführt. „Die Synthese der Neigung ist es eigentlich, die alles lebendig macht" (an Reinhard 1807). „Man lernt nichts kennen, als was man liebt" (an Jakobi 1812). An das Schöpferische dieser Liebe muß 125
man denken, wenn man sein tiefes Gleichnis vom „schaffenden Spiegel" (in der unausgeführten Disputationsszene des Faust) ganz verstehen will. Diese Liebe hatte in der erkältenden Luft des naturrechtlichen Denkens nicht gedeihen können. Denn dieses war mit seinen festen Maßstäben immer bereit, da lieblos abzuurteilen, wo ein Verstehen aus den tieferen Zusammenhängen des Werdens her auch dem scheinbar Verkehrten und Absurden ein menschliches Mitgefühl, eine Ahnung schicksalshafter Notwendigkeit widmen konnte. Das war die neue Gabe des historischen „Verstehens", die schon bei Moser und Herder sich geregt hat und die bei Herder wie bei Goethe aus dem neuen Welt- und Ichgefühl der äojutdS-sia xffiv SXtov floß. Dieses Mitgefühl stand dann freilich in Gefahr, weichlich ins Formlose zu zerfließen und, weil man alles Menschliche bejahte, nichts mehr fest zu bejahen. Als Goethe den Werther und die Stella dichtete, war er dieser Gefahr vielleicht nahe. Wir sahen aber, wie die Weimarer Zeit des Klassizismus und die italienische Reise sein Denken wieder festigte, auf das Dauernde im Wechsel lenkte und so auf einer höheren Ebene den bleibenden Kern des Naturrechts erneuerte. Diese drei epochemachenden Züge des Goetheschen Weltund damit auch Geschichtsverständnisses, die neue Schau des Lebensstromes, die neue verstehende Liebe zu seinen Hervorbringungen und die neue Formung des Fließenden sind wie in einem ganz hellen Gestirne vereinigt in den Schlußversen des Herrn im Faustprolog: Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, Umfass' Euch mit der Liebe holden Schranken, 126
Und was in schwankender Erscheinung schwebt, Befestiget mit dauernden Gedanken.
In Urformen und Metamorphosen sah Goethe alles Leben sich vollziehen. Auch die Geschichte mußte für ihn von Rechts wegen diesem Gesetze folgen. Da kam aber nun sein verschieden abgetöntes Verhältnis zur Natur und zur Geschichte zur Geltung. In der Natur glaubte er den Urphänomenen näher zu kommen als in der Geschichte. Die Urform der Pflanze glaubte er anfangs in Wirklichkeit entdecken zu können, bis ihn Schiller darauf aufmerksam machen mußte, daß sie nicht eine Erfahrung, sondern eine Idee sei. Aber auch dann glaubte er noch die Urphänomene der Natur „in ihrer unerforschlichen Herrlichkeit von Angesicht zu Angesicht" mit Geistesauge erschauen zu können. Von Urphänomenen der Geschichte hat er niemals so zu sprechen gewagt. Hier hemmten ihn alle jene uns bekannten Momente, die sein Mißvergnügen an der Geschichte verursachten. Dennoch wirkte sich sein methodisches Prinzip, nach einfachen, aber zeugungskräftigen Grundformen des Lebens zu suchen, auch in der Geschichte fruchtbar aus. Er konnte gar nicht anders, als unwillkürlich auch sie nach solchen Grundformen abtasten. Nur wurden sie nicht, von gewissen ganz allgemeinen Grundkräften abgesehen, zu „Ideen" von der Art der Urpflanze, sondern blieben empirisch faßbare Gebilde von einfacher Struktur, aber hoher Entwicklungs- und Wandlungsfähigkeit. Wenn man diesen Unterschied nicht vergißt, darf man es sich erlauben, auch die von Goethe in 127
der Geschichte gefundenen einfachen Phänomene als Urformen zu bezeichnen. Wir sahen, welchen Bestandteil der Geschichte er nicht auf solche Urformen zurückzuführen vermochte. Es blieb ein gewaltiges, vom natürlichsten zum geistigsten Leben der Menschheit aufsteigendes Gebiet für sie noch übrig. Da wir keinen Katalog, sondern eine Charakteristik seiner Geschichtsleistung zu geben haben, begnügen wir uns hier, wie überhaupt, mit repräsentativen Beispielen. Ein Grundzug seines geschichtlichen Denkens, durch den er einen Hamannschen Grundgedanken geklärt und veredelt fortführte und durch den er allen Nachfolgern, keinen ausgenommen, überlegen blieb, war, daß er hinter allem höheren Handeln des geschichtlichen Menschen sein Allernatürlichstes immer wohltätig durchschimmern sah und so dem Alltäglichen die "Weihe der Urform gab. Das hat einst schon Victor Hehn unvergeßlich gezeigt. „Alles Behagen am Leben ist auf eine regelmäßige Wiederkehr der äußeren Dinge gegründet. Der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Blüten und Früchte, und was uns sonst von Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es genießen können und sollen, diese sind die eigentlichen Triebfedern des irdischen Lebens." (Dicht, u. Wahrh. 13. Buch.) Dieser Pendelschlag der Natur war ihm die erste aller Urformen, die durch alles Lebendige ging und von seinem aufmerksamen Ohre überall vernommen wurde. Das ist die „Urpolarität aller Wesen, welche die unendliche Mannigfalt der Erscheinungen durchdringt und belebt" (Kampagne in Frankr.), die „geheimnisvolle Systole und Diastole, aus der sich alle Erscheinungen entwickeln" (Gesch. d. Färb.). Er dankte es Kants Natur128
Wissenschaft, daß er ihm zu dieser klaren Erkenntnis verholfen, aber sie lag auch schon vorher, früh bezeugt, in ihm. Es war schon ein neuplatonischer Gedanke gewesen, daß die Weltbewegung ein Wechsel von Ausströmen und sich Zusammenziehen sei. Auch Herder hatte im Geist der ebräischen Poesie von der Systole und Diastole des Herzens und des Atems als der natürlichsten Dimension gesprochen (12, 20, vgl. auch 4, 469). Goethe wurde doch wohl vor allem durch die eigene Selbstbeobachtung darauf geführt, durch die Kenntnis der Gegensätze, die er in sich trug und immer wieder zur Einheit werden fühlte. Dieser Pulsschlag des eigenen Wesens wurde ihm zum Pulsschlage der Natur. Mit der Hand an ihm blickte er vertrauend in Leben und Geschichte. Alles Entzweite kam dadurch wieder zur Einheit, weil es zum Wesen des Geeinten gehörte, sich zu entzweien. Alles kam dadurch wieder ins Rechte, weil alles, Natur wie Menschenwerk, diesem Gesetz gehorchte und jede Hybris nach der einen Seite irgendwie Korrektur und Ausgleich fand durch einen Pendelschlag nach der anderen Seite. Wir haben das Gesetz des Pendelschlags in der Geschichte schon bei dem späteren Herder gefunden. Aber bei diesem stand es im Dienste eines möralischen Weltgerichts und verlor durch diese Verengerung an unmittelbarer Gültigkeit; bei Goethe blieb es, das Moralische als selbstverständlich einschließend, ein kosmisches Prinzip, auf dem alle Lebendigkeit und Gestaltenfülle geheimnisvoll beruhte. Es war ihm die Bürgschaft dafür, daß Einheit und Mannigfaltigkeit, Natur und Kultur zusammengehörten, daß es eine Gottnatur überhaupt gäbe. Der Polaritätsgedanke gab ihm deshalb auch die Möglichkeit, mit den verborgenen dualistischen Be129
standteilen seines Weltbildes innerlidi fertig zu werden, etwa auch das Dämonische in der Geschichte ruhig zu ertragen. Für sein zwiespältig erscheinendes Verhältnis zur Geschichte aber ergibt sich jetzt, daß es ihm selber gar nicht als Widerspruch erscheinen konnte, weil es eben auch notwendige Polarität und Pendelschlag war, so daß jedes Mißvergnügen an der Geschichte zum tiefsten Genügen wieder zurückpendeln konnte. Wir werden demnach später sehen, wie auch seine Gedanken über Sinn und Zusammenhang der Weltgeschichte durch diese Lehre bestimmt wurden. Überhaupt aber kommt durch sie etwas rhythmisch Schwingendes und dadurch innerlich Beruhigendes in die Geschichtsbetrachtungen Goethes. »Wer die Geschichte recht erkannt hat, dem wird aus tausend Beispielen klar sein, daß das Vergeistigen des Körperlichen, wie das Verkörpern des Geistigen nicht einen Augenblick geruht, sondern immer unter Propheten, Religiösen, Dichtern, Rednern, Künstlern und Kunstgenossen hin und her pulsiert hat; vor- und nachzeitig immer, gleichzeitig o f t " (an Eichstädt 1815). Man lese auch etwa in der Geschichte der Farbenlehre die Betrachtung, welcher Zeit der Mensch eigentlich angehöre und welcher von den drei Epochen, die der bedeutende Mensch im Leben durchlaufe (erste Bildung — eigentümliches Streben — Vollendung) Ehre an ihm zukomme. Er entschied sich für die erste Epoche, voran mit der tiefen Begründung, daß das Geschlecht, aus dem der Mensch stamme, sich in ihm öfters mehr als durch sich selbst manifestiere. Die modernen Generationslehren betonen zuweilen mehr den Gegensatz als den Zusammenhang der aufeinander folgenden Generationen. Goethes Kontinuitätsgefühl, im Alter gereift, urteilte anders. 130
Er stattete damit auch der Aufklärungsbewegung, aus deren Schoß sein Genius hervorbrach, seinen Dank ab und bestätigt einen Grundgedanken unserer Untersuchung. Die zwei folgenden Epochen aber, die des Kampfes mit Vor- und Mitwerbern und die der Vollendung und Durchsetzung seiner selbst in der Welt, bringen nach Goethe das eigentümlich Neue wieder nur hervor, um letztlich wieder den Kreis zu schließen und Lehrer und Helfer einer abermals neuen Generation zu werden. Diese rhythmische Ansicht der geschichtlichen Bewegungskräfte vermochte auch Symptome der Verworrenheit und Zerfahrenheit in der Geschichte großer Bewegungen mit überlegenem Gleichmut auf eine Urform zurückzuführen. In den Annalen (zu 1794) schilderte er mit wenigen Strichen die große Literaturrevolution seiner Zeit in Deutschland und wie merkwürdig zersplittert und die Einzelnen isolierend sie vor sich gegangen sei. Aber das sei „die alte Geschichte, die sich bei Erneuerung und Belebung starrer, stockender Zustände gar oft ereignet hat, und mag also f ü r ein literarisches Beispiel gelten dessen, was wir in der politischen und kirchlichen Geschichte so oft wiederholt sehen." Auch seine eigene Lebensgeschichte wollte Goethe, wie es in dem dann unterdrückten Vorworte von 1813 heißt, „nach jenen Gesetzen bilden, wovon uns die Metamorphose der Pflanzen belehrt", — also einmal die Entwicklung von den zarten Wurzeln bis zur Blüte, dann aber auch ihre Abhängigkeit von Boden und Wetter in Gunst und Ungunst zeigen. Noch niemals war in der Weltliteratur ein großes Einzelleben so bewußt und tief empfunden in seinem unlösbaren Ineinander von Selbständigkeit und Abhängigkeit dargestellt worden. Es gab den bio131
graphischen Möglichkeiten des kommenden Historismus die erste entscheidende Urform. Man hat freilich bemängelt (R. M. Meyer in der Jub.-Ausg. 22, XX), daß ihm die Darstellung der Wechselwirkung von Individuum und Zeitgeist doch nicht gelungen sei. Er schildere wie ein naiver Historiker am liebsten und ausführlichsten, was ihm auffalle, ihn befremde und lasse weder den Geist jener Epoche noch seine eigene Einwirkung auf die Zeitgenossen recht erkennen. Freilich kam es ihm in erster Linie darauf an, sein eigenes organisches Wachstum begreiflich zu machen. Das, was Umwelt und Zeitgeist dazu beitrugen, genauer zu sondern und zu gestalten, mochte ihn ein bestimmtes Gefühl abhalten, das wohl mancher kennt, der den Einfluß des Zeitgeistes auf seine eigene Bildung sich klar zu machen versucht. Man scheut da bald von einer genaueren Analyse zurück, weil man das Prekäre einer solchen fühlt, weil man das mannigfach erworbene Gewebe der erfahrenen Einwirkungen und der eigenen Reaktion gegen sie wieder ganz auseinander zu trennen sich außerstande fühlt. Man steht sich zu nahe dazu, man weiß zuviel. Aus weiterer Distanz und mit leichterem Gewissen untersucht man die Bildungsgeschichte des Fremden. Da hat Goethe in der Skizze über Winckelmann und sein Jahrhundert auch die Wechselwirkungen zwischen Individuum und Zeitgeist genauer ins Auge gefaßt. Indem er aber für sein eigenes Leben dem zwanglosen Vorbilde der naiv erzählenden Historiker vielfach folgte, hätte er sich darauf berufen können, daß gerade solche naive Erzählung aus vergangener Zeit ihm nicht lange zuvor die lebendigste und ergreifendste Anschauung eines mit Zeit und Umwelt eng verwobenen Einzellebens, und nicht nur dieses, son132
dem eines ganzen Jahrhunderts, wie er bezeugte, gegeben hatte. Das war die Autobiographie Benvenuto Cellinis, deren Studium ihn so glücklich machte. „Alle pragmatische biographische Charakteristik", schrieb er damals (an H. Meyer 1796), „muß sich vor dem naiven Detail eines bedeutenden Lebens verkriechen". Die hier empfangenen Eindrücke aber trieben ihn dazu, die Umwelt und Ursprungswelt Benvenutos tiefer zu ergründen und auch an sie die Frage nach Urformen und Metamorphosen zu richten. Denn diese Frage ist es, die unausgesprochen der „Flüchtigen Schilderung florentinischer Zustände", die er im Anhange gab, zugrunde liegt. Die Größe wie die Schranke Goethescher Geschichtsbehandlung sind in dieser prachtvollen Skizze sichtbar. Er las dafür Machiavellis Florentinische Geschichten und empfing aus ihnen den Eindruck eines wilden Chaos bürgerlicher Kämpfe ohne höheren Sinn. „Gebrechen eines übel regierten und schlecht polizierten Staates." Goethes Sinn für Ordnung und Abneigung gegen Krieg und Machtkampf konnte kein Gefallen daran finden, tiefer in sie einzudringen. Aber die fruchtbare historische Frage stieg nun in ihm auf, wie aus diesem Chaos eine so große und glänzende Kultur und Kunst hervorgegangen sein könne. Da kam ihm die eigene Anschauung von Florenz, das sinnlich Gesehene zu Hilfe. Wie er sich einst aus Roms und Venedigs örtlicher Lage die bestimmte Vorstellung einer „Urform" ihrer Geschichte gebildet hatte, so auch jetzt von Florenz. „Ein solches Lokal, von einer Gesellschaft Menschen einmal in Besitz genommen, konnte nie wieder verlassen werden." Und so vergegenwärtigte 133
er sich, wie hier, zuerst nur von den nächsten Bedürfnissen aus, Handwerk entstand und sich weiter verzweigte, wie dann gerade in Floren? — und damit beginnt sidider bisher typische Hergang zu individualisieren — aus den Handwerkern die Künste, an die Religion geknüpft, hervorgingen und das merkantile und prachtliebende Großbürgertum entstand. Dieses stetige Wachstum eines Gebildes, das dem positiven Pole der Goetheschen Geschichtsauffassung entsprach, wird nun aber auch stetig bedroht durch das, was er als den negativen Pol der Geschichte empfand, durdi jene inneren bürgerlichen Wirren, durch das, was er hier klassisch „die dem Menschen angeborene Ungeschicklichkeit, zu herrschen oder sich beherrschen zu lassen", nennt. Da setzt nun, um doch zu einer höheren Stufe des Daseins zu gelangen, eine neue, aus der alten entsprungene Urform mit neuen Metamorphosen ein — die Entwicklungsgeschichte der Familie Medici —, „die höchste Erscheinung dessen, was Bürgersinn, der vom Nutzbaren und Tüchtigen ausgeht, ins Ganze wirken kann." Auch diese Entwicklung wird, von den einfachen und niederen zu den höheren, aber auch gefährdeteren Stufen verfolgt, bis sie in Lorenzo glänzend gipfelt, nadi seinem Tode aber zusammenbricht unter einem neuen Faktor des Unheils, dem „fratzenhaften Ungeheuer Savonarola". Vieles bleibt da wohl im Hintergrunde oder wird nur ganz leicht angedeutet, was der moderne Historiker in dieses Bild, um es ganz verständlich zu machen, mit hinein weben müßte, — die Dynamik der sozialen Kämpfe, der wirtschaftliche Untergrund, die Probleme eines Stadtstaates, die außenpolitische Situation, die seeli134
sehe Eigenart der Renaissancemenschen. Und doch muß man in Goethes Betrachtungsweise die Urform für das sehen, was in den zahlreichen Metamorphosen moderner RenaissancefQrschung sich entfaltet hat, — das langsame Werden und Wachsen historischer Gebilde aus inneren Triebkräften heraus, die Herausbildung eines Individuellen aus dem Typischen, und das Eingreifen unberechenbarer Schicksalsgewalten in dieses Wachstum. So steht es nun also, daß er den allgemeinen Lebensstrom der Geschichte zwar immer empfand, aber aus ihm nur diejenigen Phänomene herausgriff^ die er mit seinen eigensten Erkenntnisprinzipien unmittelbar meistern konnte, — weil er sie liebte. Das Goethesche Auswahlprinzip gegenüber der Geschichte tritt damit ans Licht. Es ist genau enthalten in dem bedauernden Epilog seiner florentinischen Skizze. „Hätte Lorenzo länger leben und eine fortschreitende stufenweise Ausbildung des gegründeten Zustandes statthaben können, so würde die Geschichte von Florenz eines der schönsten Phänomene darstellen; allein wir sollen wohl im Lauf der irdischen Dinge die Erfüllung des schönen Möglichen nur selten erleben." Erfüllung schöner Möglichkeiten, das war es, was er in der Geschichte suchte und hier und da auch fand, und was, weil er sie so selten fand, ihn oft so unwirsch gegen die Geschichte stimmte. Wieder wird man an den Geist des 18. Jahrhunderts, an Voltaires Auswahlprinzip, an die wenigen fruchtbaren Täler inmitten der Gebirgseinöden erinnert. Goethe griff freilich unvergleichlich tiefer in der Auswahl und faßte, immer eingedenk des gewaltigen, alles umschließenden dynamischen Ganzen der Welt, auch die von ihm geliebten Phänomene der Kultur 135
an den Punkten auf, wo sie in dem Ganzen der Gottnatur unmittelbar wurzelten. Er erhob, um Worte zu gebrauchen, die er auf des Knaben Wunderhorn anwandte, „ein einzelnes zum zwar begrenzten, doch unumschränkten All, so daß wir im kleinen Räume die ganze Welt zu sehen glauben." Lebendige, geisterfüllte Individuen, umhüllt und genährt von ihrer zeitlichen und örtlichen Atmosphäre, aber spontan dabei ihr Eigenstes entwickelnd und dadurch „wirksam" werdend — denn auch das verlangte er (Dicht, u. Wahrh. II, 7) —, das sind die erfüllten schönen Möglichkeiten, die er am liebsten aus der Geschichte herausholte. Von Cellini an ist ihr Reigen in den historischen Altersschriften Goethes zu verfolgen, über die leuchtende Bildnissammlung in der Geschichte der Farbenlehre, die Zeitgenossen und Freunde seiner eigenen Jugend in der Autobiographie, die Dichter des Orients in den Divannoten bis zu dem wunderlichen Filippo Neri, mit dem er sich noch in den letzten Lebensjahren beschäftigte. Auf die meisten trifft zu, was er, auch das Individuelle wieder typisierend, von Cellini sagte, daß er „als Repräsentant seines Jahrhunderts und vielleicht als Repräsentant sämtlicher Menschheit gelten dürfte", — „geistige Flügelmänner" der Geschichte. Man könnte seine ganze Geschichtsauffassung einen universellen Individualismus nennen, wobei man nur im Auge behalten muß, daß zwischen dem Universellen und dem jeweilig Individuellen die ganze Kette von Ur- und Naturformen menschlichen Lebens und Wirkens, von den einfachsten der Familie und des Gewerbes an, immer mit Möserscher Frische mitempfunden und oft auch ausgedrückt wurde. So daß auch das Größte und Seltenste immer aus den na136
türlichen Lebenszusammenhängen und aus dem Ganzen der Welt erwächst. Am wenigsten freilich kamen dabei, wie wir schon wissen, die Ur- und Naturformen staatlichen Lebens mit ihren mannigfachen Metamorphosen zu ihrem Rechte. Infolgedessen fehlen auch, um hier schon vorauszugreifen, in seinen historischen Bildern sehr spürbar diejenigen universalhistorischen Blickpunkte und Lichtwerfer, die aus der Verknüpfung der großen Staaten- und Völkerschicksale sich ergeben und später von Ranke entdeckt wurden. Aber was die universale Geistesgeschichte des Abendlandes anbelangt, so konnte kein großartigerer Blitzstrahl sie erhellen, als das Wort aus der Geschichte der Farbenlehre, daß die Bibel, die Werke Piatons und des Aristoteles die drei Hauptmassen seien, welche die größte, entschiedenste, ja oft eine ausschließende Wirkung hervorgebracht hätten. Also nicht nur der Anblick der einzelnen hellen Gestirne in der Geschichte, sondern auch der universale Zusammenhang unter ihnen, ihre Wirkung aufeinander, ergriff ihn aufs tiefste. Dann schmolz sein Mißvergnügen an der Geschichte zusammen. „Was uns", so lautet ein weiteres Kernwort seiner Geschichtsauffassung (Gesch. d. Farbl.), „die Geschichte noch ganz allein erfreulich machen kann: Daß die echten Menschen aller Zeiten einander voraus verkünden, auf einander hinweisen, einander vorarbeiten." Ist hier noch ein letztes Wölkchen von Mißvergnügen spürbar, so konnte er doch in anderen Stunden auch den reinen Himmel der Gottnatur über die Geschichte leuchten sehen. „Der Lobgesang der Menschheit, dem die Gottheit so gerne zuhören mag, ist niemals verstummt, und wir selbst fühlen ein göttliches Glück, wenn wir die 137
durch alle Zeiten und Gegenden verteilten harmonisdien Ausströmungen, bald in einzelnen Stimmen, in einzelnen Chören, bald fugenweise, bald in einem herrlichen Vollgesang vernehmen" (Gesch. d. Farbl. u. ähnlich an Jacobi 1808). Dieses göttliche Glüdc war genau das, was er in einem seiner bekanntesten Worte als das Beste pries, was wir von der Gesdiidite haben, — den Enthusiasmus, den sie errege. Man könnte das Goethesche Auswahlprinzip, Erfüllung schöner Möglichkeiten in der Gesdiidite zu suchen und den Rest dabei oft als Spreu zu behandeln, vielleicht mißverstehen. Man könnte meinen,* daß hier ein subjektives Bildungsinteresse ausschließlich wirke und ihn ungerecht mache gegen das, was er als Spreu beiseite ließ. Zugegeben, daß dies nicht selten geschah. Er selber hat auch in einem seiner allerletzten Briefe ausgesprochen, daß er auf diejenigen Punkte der Welt-, Kunst- und Kulturgeschichte stets aufmerksam gewesen sei, wo eine hohe, wahre, menschliche Bildung zu gewinnen sei. Aber diese seine Bildung war grundsätzlich und willentlich nicht auf das eigene isolierte Subjekt, sondern auf dessen Zusammenhang mit dem Objektiven der Welt gerichtet. Darum hatte auch sein Auswahlprinzip einen sehr objektiven Sinn. Er wählte aus, um das Ganze der Welt in sidi anklingen zu lassen, und das Ausgewählte sollte dieses Ganze und damit audi alles übrige, nicht Ausgewählte mitrepräsentieren. Hier greift seine Lehre vom Symbolischen ein. Symbolisch nannte er das, was auf ein Anderes, Höheres und mit ihm zusammen auf den letzten Urgrund deutet. „Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und 138
Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlidien" (Max. u. Reil.). Das Eigentümlichste seines Denkens, das Denken in Bildern, erwies hier wieder seine zeugende Wirkung. Kraft dieser Symbolik sah er alles einzelne miteinander und mit dem Ganzen der Welt, mochte es geschehen sein zu welcher Zeit auch immer, in einer zeitlos-ewigen Wechselwirkung miteinander verknüpft, die doch dabei die Individualität des Einzelnen bestehen ließ. „Alles, was geschieht, ist Symbol, und indem es vollkommen sich selbst darstellt, deutet es auf das übrige" (an Schuberth 1818). Alles also, etwas blaß gesagt, bezieht sich aufeinander. Goethe gab auch diesem abgenutzten Worte einen unendlichen Sinn. „Bezüge gibts überall, und Bezüge sind das Leben" (an Zelter 1830). Sein neuplatonisch genährtes Weltbild, wo alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt und lebt, steigt auch hinter seinem geschichtlichen Auswahlprinzip wieder auf. Es ragt auch in alle übrigen, noch nicht einzeln behandelten Leitgedanken derGoetheschen Historik hinein. Eigentlich haben wir sie alle schon irgendwie anklingen lassen müssen, weil sie alle in einem logisch gar nidit zu scheidenden Verhältnis so miteinander verwachsen sind, wie die Dinge nach Goethes Meinung im Weltall überhaupt. Das gilt voran von dem Gedanken der Individualität. Früh ergriffen, dann in Italien mit der Metamorphosenund Typenlehre verschmolzen und darum nicht mehr in Gefahr, isoliert und überschätzt zu werden, eher zeitweise in Gefahr, unterschätzt zu werden, breitete er sich in den historischen Altersgedanken wieder derart aus, daß er fast an jeder Einzelbetrachtung irgendwie sichtbar wird. „Im 139
Innersten," bekannte er an Reinhard 1812, „interessiert midi eigentlich nur das Individuelle in seiner schärfsten Bestimmung." „Wie sehr wir uns auch mit Geschichte von Jugend aus beschäftigen," schrieb er 1826 (Der junge Feldjäger), „so finden wir doch zuletzt, daß das Einzelne, Besondere, Individuelle uns über Menschen und Begebenheiten den besten Aufschluß gibt." Goethes Bedürfnis, vom Individuellen aus zum Allgemeinen aufzusteigen und dieses zuerst in der konkreten Ausprägung des Individuellen aufzusuchen, wurde ein Grundbedürfnis des Historismus. Rankes Entwicklung nahm genau diesen Weg. Man hat dem späteren Historismus dann nicht mit Unrecht vorgeworfen, daß er durdi seine Neigung zur verengenden Monographie recht oft auf der ersten Station dieses Weges stehen bleibe. Goethe blieb zwar nicht auf ihr stehen, aber er liebte diese erste Station. „Es ist aber nun meine Eigenschaft, mich monographisch zu beschäftigen und von so einem Punkte aus, mich gleichsam wie von einer Warte rings umher umzusehen" (an Lappenberg 1828). Während er seine Gedanken über Urform und Metamorphosen, allerdings vom Boden der Naturforschung aus, in eine förmliche Theorie zu bringen vermochte, ist es ihm lehrreicherweise niemals eingefallen, das Ineffabile der menschlichen Individualität theoretisch zu klären. Geprägte Form, die lebend sich entwickelt, war eine mit gewöhnlicher Logik unfaßbare, aber intuitiv sofort evidente coincidentia oppositorum, die kein Denker jemals so tief empfinden lehrte wie Goethe. Er hat das, was Simmel den „quantitativen" Individualismus der Aufklärung nennt, die Vorstellung von der letztlich gleichartigen, aus denselben un140
wandelbaren Elementen nur jeweils quantitativ verschieden dosierten Wesensart der Individuen, vollständig überwunden durch einen „qualitativen" Individualismus, der einen unvergleichlichen und einzigartigen, zwar beharrenden und doch entwicklungsfähigen Kern in ihnen annahm. Es ist charakteristisch für Goethe, wie er sich diese Lehre begründete. Nicht etwa spekulativ durch eine Vergottung des Geistes überhaupt, sondern produktiv, denn nur durch sein Handeln lernt nach ihm der Mensch sich selbst kennen. „Alles außer uns," heißt es in den Lehrjahren, „ist nur Element, ja ich darf wohl sagen, auch alles an uns; aber tief in uns liegt die schöpferische Kraft, die das zu erschaffen vermag, was sein soll" (vgl. Schneiderreit, Der individualistische Grundzug in Goethes "Weltanschauung, Goethejahrbuch 33). Einzelne Wendungen, die an den quantitativen Individualismus erinnern, wie die, daß „im inneren Menschenkostüm sich alle gleichen" (Shakespeare und kein Ende), können daran nicht irre machen (dies auch gegen Simmeis Bedenken, S. 144 und 150). Denn diese Gleichheit war nur die Gleichheit des Typus, aus dem die Individuen nach seiner Lehre von Urform und Metamorphosen sich herausentwickeln. Ohne Frage hat Goethe im späteren Leben das Typische im Individuellen stärker gesehen als in der Jugend. Aber auch der Typus wurde von ihm als Individuum höherer Art gedacht, als ebenso beharrendbeweglich und als ebenso qualitativ eigenartig empfunden wie die aus ihm hervorgehenden Individuen. Nur durch solche Stufenleiter, die jeder Stufe, den Individuen wie den Typen, ihr Recht, ihre Eigenheit und schöpferische Kraft gab, konnte er hinaufzusteigen hoffen zur all141
schöpferischen Gottnatur. Dabei hat nun das Individuum Goethes gegenüber dem Individuum der Aufklärung an Freiheit wie an Unfreiheit zugleich verloren und gewonnen. Es wurde unfreier, indem es viel enger an den Schoß der Gottnatur gelegt, viel intensiver in den allgemeinen Schöpfungsprozeß verschmolzen wurde als der Mensch der Aufklärung, den die Gottheit in die Welt setzte mit dem Privileg, seine zufällig zusammengesetzte N a t u r in der Freiheit des Zufälligen zu verwenden. Goethe gab dafür den Menschen das Lehngut der gottnatürlichen Freiheit, „vön innen heraus" zu leben. Dadurch, daß man dies an ihm gewahr geworden sei, glaubte er im Alter der „Befreier" der Deutschen geworden zu sein (Noch ein Wort für junge Dichter). Diese Freiheit des Von-innenheraus-Lebens bedeutete für Goethe aber auch eine innere Notwendigkeit. „ S o mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen." Aber diese innere Notwendigkeit, die er erschütternd in den Wahlverwandtschaften darstellte, war keine mechanische Notwendigkeit, sondern geheimnisvoll empfunden als eines der Symbole der sinnvoll schaffenden Gottnatur. Der Schluß der orphischen Urworte läßt keinen Zweifel, daß er einen derartigen Ausweg aus dem Drucke von Unfreiheit und Scheinfreiheit ahnte. Die Gestalten seiner Dichtung zeugen für diese Auffassung des Individuums mit seinem Ineinander von innerer und äußerer Notwendigkeit noch tiefer, als es seine Aussprüche über geschichtliche Persönlichkeiten vermögen. Überschaut man diese, so kann zuweilen wohl der Eindruck entstehen, daß er mehr die äußere Notwendigkeit, mehr die Wirkung des zeitlichen und örtlichen Milieus als die Gegenwirkung des inneren individuellen Kernes vor 142
Augen gehabt habe. So etwa im Cellini-Kommentar: „Indem man einen merkwürdigen Menschen als einen Teil eines Ganzen, seiner Zeit oder seines Geburts- und Wohnorts betrachtet, so lassen sich gar manche Sonderbarkeiten entziffern, welche sonst wie ein Rätsel bleiben würden." Audi an die Abhängigkeit des Individuums von seiner Erbmasse hat er, wie das auch sdion Herder getan hatte, gedacht und, wie man weiß, sich selbst mit heiterer Ironie dadurch erklärt (Vom Vater hab' ich die Statur usw.). So sah er etwa in Voltaire den Franzosen, der alle Verdienste seiner Nation ebenso in sich aufs höchste vereinigt habe, wie eine lange sich erhaltende Familie ein Individuum erzeugen könne, das die Eigenschaften sämtlicher Ahnherren in sich begreife (Anm. zu Rameaus Neffe). Von einer positivistisch gerichteten Milieu- oder Vererbungstheorie kann bei alledem keine Rede sein. Sein hinund hergehendes Auge konnte wohl bald diesen, bald jenen Pol im Verhältnis von Individuum und Umwelt schärfer sehen, um letzten Endes doch nur eine ewige Wechselwirkung zwischen Individuum und Zeitgeist, Wirken und Weltgeschichte und Gegenwirken der Individuen (über Varnhagen u. Solger 1827) wahrzunehmen. Liest man den Eingang von Dichtung und Wahrheit, so hört man wohl das aus,eigener Erfahrung stammende mächtige deterministische Wort, daß das Jahrhundert „sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet". Und doch vergaß er dabei nicht das Individuum, „inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben". Wer konnte hier genau das eine vom anderen scheiden? Goethe erklärte diese Forderung für kaum erreichbar und stellte ruhig auch sich selber unter 143
das allgemeine Gesetz, daß jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, ein ganz anderer geworden sein •würde. Sein dynamisches, überall 'Leben spürendes und alles Leben ineinander verwebendes Weltgefühl bedurfte auch keiner peinlichen Abrechnung zwischen Individuum und Jahrhundert. Den Streit zwischen individualistischer und kollektivistischer Geschichtsauffassung, der sich am Ende des 19. Jahrhunderts, gewissermaßen als Regulierungsversuch für seine Spaltung in naturwissenschaftliches und geisteswissenschaftliches Denken, erheben sollte, würde Goethe vermutlich mit innere Überlegenheit, als ihn nicht berührend, belächelt haben. Er schaute das strömende Leben der Geschichte so an, wie es einem unbefangenen Auge erscheinen muß, weder eindeutig bestimmt durch die Massenund Zeitgewalten, noch eindeutig bestimmt durch die großen Individuen. Bald dominierten für ihn die einen, bald die anderen. Die große Persönlichkeit kann sich bald fruchtlos aufreiben im Kampfe gegen Masse und Zeitgeist, bald sie in seinen Bann zwingen, aber dabei, um wirksam zu werden, auch selber in ihren Bann geraten und sinken (Mahomet), bald als der große Klärer, Ordner und Former der in der Allgemeinheit lebenden, zerstreut und still-allmählich gewachsenen Bedürfnisse ihre Mission vollenden. Bald wirkt sie zwar, aber wird rasch vergessen, oder hinter ihr schlagen die Wogen des Irrtums wieder zusammen, bald erstrecken sich Wirkung wie Geltung auf viele Jahrhunderte 1 . 1
Weitere Belege in der nützlichen Arbeit von Hißbach : Die geschichtliche Bedeutung von Massenarbeit und Heroentum im Lichte Goethescher Gedanken. Jahresbericht des Eisenacher Realgymnasiums 1907.
144
Weil er überall Leben auch im kleinsten Sterne sah, erschienen ihm auch die Kollektivgewalten nicht als blinde mechanische Kräfte. Insbesondere liebte er, wie Herder und die Primitivisten des 18. Jahrhunderts, nur ausgeglichener mit allen übrigen Gegenständen seiner Liebe, das kollektive Leben der Urzeiten, in denen nach seiner Meinung unbekannte Menschen schon schöpferische Arbeit leisteten. Wir werden darauf noch zurückzukommen haben. Aber je weiter die kollektiven Gewalten aus dem Stadium der Zivilisation hinüberwuchsen, um so ungemütlicher wurde ihm die „Tyrannei ganzer Massen". Die kausale Bedeutung der Massen im modernen Leben erkannte Goethe wohl rundweg, aber oft seufzend an. Die Kausalitäten der Geschichte' interessierten ihn auch nur soweit, als sie den tiefer empfindenden Historiker interessieren dürfen, nämlich insoweit, als sie fördernd oder hemmend auf die Hervorbringung menschlicher Kulturwerte wirken. Da konnte er sich dann auch selbst kausal verständlich machen und sich ein großes Kollektivwesen, genährt von unzähligen Individuen, nennen (Soret 1832). Und weil es die großen und kleinen Individuen waren, von denen letztlich alles schöpferische Leben ausging und deren Wirken er auch aus den Kollektivgewalten herausspürte, so erschienen ihm schließlich im großen Hauptgewebe der Geschichte die Massen doch nur als Zettel und die bedeutenden Individuen als Einschlag; die Massen als Sphäre, wo die Notwendigkeit, diebedeutenden Individuen als Sphäre, in denen die Freiheit herrsche (Max. u.Refl.). Diese Auffassungen hat dann auch Ranke vertreten, und der spätere Historismus hat sich nach Abstreifung der positivistischen Fesseln zu ihnen wieder zurückgefunden. 145
Sie können nicht mit letzter begrifflicher Schärfe und Klarheit zu einem System vereinigt werden. Sobald man die logisdien Schwierigkeiten beseitigt, fällt ein Stück wirkliches Leben heraus. Notwendigkeit und Freiheit sind nun einmal derart verwachsen in allem geschichtlichen Leben, daß man sie nur annähernd, niemals radikal auseinanderhalten und nur mit gleichsam schwebenden Sprachmitteln ihr Ineinander darstellen kann. Bei Herder, der dies Ineinander auch schon genial und tief empfand, drohten diese Sprachmittel ins Unendliche zu verschwimmen. Goethe mit seinem gegenständlichen Denken gab ihnen zuerst, noch vor Ranke, jene bestimmte Anschaulichkeit, die dem Historiker die falsche Bestimmtheit bloßer Begrifflichkeit vollauf ersetzt. Durch die Gestaltung, die er seiner Auffassung von Individuum und Umwelt in seinen Dichtungen gab, führte er sie zum Siege. Sein Sinn für die Gestalt und sein Trieb zum Gestalten überwanden spielend die Gefahr seines dynamischen Weltgefühls, die Umrisse der Dinge im allgemeinen Lebensstrom aufzulösen. Die Romantik unterlag dann vielfach dieser Gefahr, aber Goethe warf sich ihr bewußt entgegen. „Kein Mensch will begreifen", schrieb er im Hinblick auf sie an Zelter 1808, „daß die höchste und einzige Operation der Natur und Kunst die Gestaltung sei, und in der Gestalt die Spezifikation, damit jedes ein besonderes Bedeutendes werde, sei und bleibe." Daß mit der Idee der Gestalt, von der er, wie er an Humboldt 1795 schrieb, ausginge, auch die Idee eines Gestaltenwandels immer verschmolzen blieb, wissen wir zur Genüge. „Die Quelle kann nur gedacht werden, insofern sie fließt" (Dicht, u. Wahrh. II, 6). 146
„In der Gestalt die Spezifikation", das bedeutete zugleich, daß Goethe das Individuelle auch in der Geschichte übereinander geschichtet sehen, über den einzelnen Individuen die Individualität des Überindividuellen erkennen konnte. Da ihm schon das einzelne Individuum in freier Weiterbildung der Leibnizschen Lehre als ein Komplex mehrerer Monaden erscheinen konnte (Falk 1813), so wurde es ihm nicht schwer, auch die Komplexe, die durch das Zusammenwirken der Individuen entstehen, wiederum als Individualitäten anzuschauen. Die Londoner Sozietät des 17. Jahrhunderts konnte er in der Geschichte der Farbenlehre wie einen warm lebendigen Menschen schildern. Die größte überindividuelle Individualität innerhalb der selbst wieder individuellen Menschheit war die Nation, als solche schon vor allem von Herder entdeckt. Es ist fast überflüssig zu sagen, daß Goethe sie, ihr Eigenleben wie ihre Ausstrahlung, in den Individuen niemals ganz vergessen hat, mochte er sie auch nicht immer so feurig empfinden wie in der Straßburger Frühzeit und so universal interessiert sie betrachten wie in der Spätzeit. Die Nationen waren für ihn wie für Herder große Pflanzen, ihre höheren Stände und Kulturen verglich er mit den Blüten und Früchten (Riemer 1806). Das Abgeschlossene der nationalen Kulturen entsprach freilich nicht ganz seinem innersten Bedürfnis. Er spürte die Gefahr, daß dadurch die eigene charakteristische Natur des Einzelnen überwältigt und erdrückt werden konnte (Max. u. Reil.). Sein Blick war ferner auf etwige Höherbildung alles Lebens gerichtet. Darin sah er das Wesen der Gottnatur und mußte doch feststellen, daß sie nicht immer danach zu verfahren schien. So kam er auf den merkwürdigen Ge147
danken: „Die Natur gerät auf Spezifikationen wie in eine Sackgasse; sie kann nicht durch und mag nicht wieder zurück; daher die Hartnäckigkeit der Nationalbildung" (Max. u. Reil.). Die kulturellen, nicht die staatlichen Hervorbringungen der Nationen schloß er in sein Herz. Und doch wußte er auch, wie wir schon hörten, was ein mächtig bewegtes politisches Nationalleben für den Dichter, für einen Shakespeare vor allem, bedeutete. Eben, als es bergab ging mit dem deutschen Nationalleben, zur Zeit des Baseler Friedens, stellte er die Frage: Wann und wo entsteht ein klassischer Nationalautor? Und beantwortete sie fast wehmütig: „Wenn er in der Geschichte seiner Nation große Begebenheiten und ihre Folgen in einer glücklichen und bedeutenden Einheit vorfindet . . ., wenn er selbst, vom Nationalgeiste durchdrungen, durch ein einwohnendes Genie sich fähig fühlt, mit dem Vergangenen wie mit dem Gegenwärtigen zu sympathisieren . . . " (Literar. Sansculottismus). Das Wort vom Nationalgeiste läßt aufhorchen. Aber er ist noch nicht der romantische Volksgeist Savignys und Grimms, der aus seinem dunklen Schöße alles Eigenartige der Nation hervorzubringen hat, sondern gehört zu den Vorstufen dieser Lehren, die iji Deutschland unter Montesquieus Einfluß mit Mosers Büchlein vom deutschen Nationalgeist und vor allem mit Herders Lehren begonnen hatten. Goethes Anschauung aber, wiewohl sie die prägende K r a f t der Nation über ihre Individuen wieder und wieder betonte und in dem Teekessel des Engländers, der bis zum Ätna mitgeschleppt wurde, ein Symbol dafür sah, erwies sich schließlich auch der romantischen Volksgeistlehre gegenüber als überlegen. 148
Diese isolierte das einzelne Volk und ignorierte die Einwirkungen auf ihr geistiges Dasein, die aus dem politischen und kulturellen Zusammenleben der Völker entsprangen, — ein Sehfehler, der bis tief in das 19. J a h r hundert dauern sollte. Aber wie Goethe die Individuen immer nur in ihrer umhüllenden Atmosphäre und in gebend-nehmender Auseinandersetzung mit der Umwelt sah, so auch die Völker, wenigstens die neueren Völker. Von den Griechen mochte er im Sinne des humanistischen Klassizismus irrig annehmen, daß sie ganz ohne äußere Einwirkung geworden seien, was sie waren (Gesell, der Farbl.). Aber keine neuere Nation, erklärte er sehr unromantisch 1808 (Plan eines lyr. Volksbuchs) könne den Anspruch auf absolute Originalität machen. „Wie der einzelne Mensch", hieß es dann später (Urteilsworte französ. Kritiken 1817/20), „so auch die Nation ruht auf dem Altvorhandenen, Ausländischen oft mehr als auf dem Eigenen, Ererbten und Selbstgeleisteten." Mit dem Wahrheitskerne der Volksgeistlehre aber, der von den Äußerlichkeiten nationaler Eigenart zurück auf ihre schöpferische Innerlichkeit wies, konnte er völlig einverstanden sein. Diese Innerlichkeiten, bemerkte er, wieder nüchterner und zugleich tiefer als manche Romantiker, „werden nicht gekannt noch erkannt; nicht von Fremden, sogar nicht von der Nation selbst; sondern es wirkt die innere Natur einer ganzen Nation, wie die des einzelnen Menschen, unbewußt" (Ferneres über Weltliteratur 1829). Und für ihn, der selbst so viel fremdes Geistesgut in sein Wesen aufgenommen und umgewandelt wußte, w a r es auch ausgemacht, daß der Deutsche sich nicht zu schämen habe, seine Bildung von außen zu erhalten. „Ist doch das fremde Gut 149
unser Eigentum geworden" (Plan eines lyr. Volksbuchs 1808). Er sah damit, daß auch die Rezeption fremder Kulturgüter ein ganz organisch-individueller Akt, ein Zeichen der Lebenskraft, nicht der Lebensschwäche der rezipierenden Nation sein kann. Auch Voltaire und Montesquieu hatten schon den Geist der Völker wie den Geist der Zeiten summarisch als individuelle Gebilde empfunden, aber mit ihren mechanischen Denkmitteln die Sphäre des Unbewußten und Unwillkürlich-schöpferischen, aus der sie hervorgehen, nicht oder doch, wie Montesquieu zuletzt, nur annähernd gefunden. Voltaire hatte dabei dem Geist der Zeiten noch mehr Aufmerksamkeit geschenkt als dem Geist der Völker und sich durch die Art, wie er dies im Siècle de Louis XIV. durchführte, das große Verdienst erworben, den Sinn für den inneren Zusammenhang, für die Stileinheit aller Betätigungen einer Epoche zu wecken. Die geistige Revolution, die in Deutschland den Bann der Aufklärung durchbrach, mußte auch diesen Sinn erwärmen und vertiefen. Wir sehen es an Moser und Herder. Mosers Gedanken über die Stileinheit der Epochen waren in Herders und Goethes gemeinsame Jugendschrift von deutscher Art und Kunst aufgenommen worden. Man braucht kaum zu sagen, daß auch Goethe, ohne immer viel Worte davon zu machen, die innere Einheit und den Lebenszusammenhang der Epochen, die ihm vor Augen treten, stets gesucht hat. Aus eigenstem Erleben schrieb er in Dichtung und Wahrheit (Buch 13): „Weil nun in jeder Zeitepoche alles zusammenhängt, indem die herrschenden Meinungen und Gesinnungen sich auf die vielfachste Weise verzweigen, so befolgte man in der Rechtslehre nunmehr auch nach 150
und nach alle diejenigen Maximen, nach welchen man Religion und Moral behandelte." Jede Epoche also eine in sich zusammenhängende individuelle Erscheinung. Goethes gestaltensuchendes Auge traf nicht alle Epochen mit gleicher Schärfe. Daran hinderte ihn sein Aus Wahlprinzip der erfüllten schönen Möglichkeiten. Aber lehrreich ist es zu verfolgen, wie die universalhistorische Folge der Epochen in Goethes Auge sich abgespiegelt hat. Diejenige weltgeschichtliche Epoche, die vielleicht am stärksten verlangen konnte, von ihm als individuelles Einheitsgebilde verstanden zu werden, war die Griechenzeit. Zeitgeist und Volksgeist waren hier zusammen anzuschauen. Zu den „gestaltliebenden" Griechen zog ihn die Wahlverwandtschaft des Schülers zum Meister hin. Von Jünglingszeiten an trachtete er zu ihnen und fand dann durch Winckelmann und die italienische Reise den volleren Zugang. Aber dabei hatte er, wie er selbst später gestand (Parodie bei den Alten 1824), um sich mit ihnen ganz zu befreunden, erst nach und nach seine nordische Natur und Gemütsart zu beschwichtigen. Lange störte ihn ein unbegreiflicher Riß in der Kultur der Griechen, das Nebeneinander von hoher tragischer Kunst und von Narrenspossen und Travestien, die ihr folgen. Endlich ging es ihm auf, daß der tiefe geschichtliche Lebenszusammenhang dennoch da war. „Nein, bei den Griechen ist alles aus einem Stücke, und alles im großen Stil. Derselbe Marmor, dasselbe Erz ist es, das einen Zeus wie einen Faun möglich macht, und immer der gleiche Geist, der allem die gebührende Würde verleiht." Daß gerade in der griechischen Zeit das Mannigfaltigste, politische Geschichte, trotz 151
ihrer ihm unerfreulichen Zerrissenheit, Kunst und Literatur miteinander verflochten waren, sah er im Alter ganz klar. Freilich war es noch klassizistischer Überschwang, wenn er urteilte, daß solches Ensemble „im Verlauf der Zeiten nur einmal ineinandergreifend und wirkend lebendig gewesen" sei (Anzeige von Schlossers Universalhist. Übersicht 1826). Den Griechen gegenüber blieb er in jenem Doppelverhältnis normativ heraushebender und seelisch verstehender Denkweise, das schon Winckelmann begründet hatte, aus dem auch Herder nicht ganz herausgekommen war. Ihn zog aber nicht allein der Glaube, daß die Griechen das Höchste der N a t u r gemäße Kunstwerk gestaltet hätten, zu ihnen hin. Es gab einen noch tieferen Zug in ihm, der ihn, ähnlich wie auch schon Winckelmann, wesensverwandt ihnen machte, — die heidnische Naivität ihres D a seins. In einer berühmten Antithese hat er in „Shakespeare und kein Ende" den antiken Menschen, der naiv, heidnisch, heldenhaft, real, Notwendigkeit und Sollen sei, mit dem modernen Menschen, der sentimental, christlich, romantisch auf Ideal, Freiheit und Wollen gestellt sei, verglichen. Er selber aber war, was er auch leise andeutete, antik und modern zugleich in sich angelegt, als „gottgeführter Mensch" naiv und sollend, als Faustnatur, die von Gott ihrem eigenen Wollen überlassen wird, gefühlvoll und wollend. Seine eigene Entwicklung führte ihn tatsächlich mehr von der modernen Seite seines Wesens, dem urfaustischen unbegrenzten Wollen, zur antikenSeite, dem naiv begrenzten Sollen hinüber, als umgekehrt, wiewohl beide Seiten lebendig blieben. Wir haben hier nicht in alle Tiefen seines Lebens einzudringen, sondern sagten 152
dies nur, um sein geschichtliches Verhältnis zum Griechentum zu klären. Das „gestaltenverwirrende Rom" konnte ihm niemals das bieten, was ihm Hellas war, so gewaltig er es auch an sich in Italien empfunden hatte. Die „ungeheure spezifische Einheit" dieses Gebildes aber (über Collins Regulus 1802) stand ihm auch im Alter vor Augen. Der mächtige Eindruck von Niebuhrs kritischen und doch sogleich wieder positiv und genetisch aufbauenden Forschungen machte ihm wohl nach seinem Geständnis die römische Geschichte wieder genießbar (anNiebuhrl812), und im Pendelschlag seines Wesens konnte er sogar einmal sagen (Boisseree 1815), daß ihn das römische Wesen mit seinem großen Verstände und Ordnung in allen Dingen mehr anzöge als das griechische. Aber der Geist des reinen Machtstaats stieß ihn noch mehr ab, als der römische Realismus ihn anzog, „denn eigentlich interessierte sie nur der Mensch, insofern man ihm mit Gewalt oder durch Überredung etwas abgewinnen kann" (Gesch. d. Farbl.). „Die römische Geschichte", sagte er zu Eckermann 1824, „ist für uns eigentlich nicht mehr an der Zeit." Das Mittelalter war ihm in der Jugendzeit nicht etwa als ein Ganzes, sondern nur durch einzelne wunderartige Offenbarungen ehrwürdig gewesen. Er entfremdete sich ihm in der Epoche des Klassizismus. Eingefroren sahen wir so Jahrhunderte starren, Menschengefühl und Vernunft schlich nur verborgen am Grund. Auch dem Bilde, das er sich in reifen Jahren vom Mittelalter gestaltete, fehlte der Impuls der Liebe, der nach 153
seiner Meinung zum vollen Verstehen gehörte. In dem Nordischen seiner Gemütsart hatte er wohl, nachdem er vom Klassizismus zum Universalismus aufgestiegen war, etwas, was an mittelalterliches Wesen und an eigene Straßburger und Faustische Jugendstimmungen anklingen konnte und durch die romantische Zeitströmung jetzt wieder angeregt wurde. „Es ist anziehend," meinte er, „sich tüchtige, aber düstere Zustände zu vergegenwärtigen, uns ins Halbdunkel der Vergangenheit einzuhüllen, uns ahnungsvoll und mit gewissen Schauern beschränken zu lassen" (Annalen 1805, Besuch des Halberstädter Doirts). Er wollte zwar die ganze Rücktendenz zum Mittelalter nun gern gelten lassen, aber sich selbst davon vorsichtig distanzieren (an Reinhard 1810). Seine persönlichste Hauptfrage an das Mittelalter aber war und blieb: "Was hat es für die Erhaltung der großen menschlichen Kultur, die für ihn im Griechentum wurzelte, geleistet? Und da wechselten dann bittere, aufklärerisch berührende Urteile über die traurige Lücke zwischen den alten und neuen Zeiten, über Pfaffenverderbnis und Verkindischung der lateinischen Sprache (an Blumenthal 1819) mit ergreifenden Worten des Verstehens für diejenigen, die „in dunklem, tiefen, energischen Wirken" die heilige Flamme damals gehütet hatten. Der „Chorgesang der Menschheit" schallte ihm auch aus dem Mittelalter, sobald er nur sein Ohr hinbeugte, entgegen (an Jacobi 1808). An der Geschichte der Farbenlehre ging ihm ein großes Stück der geistigen Leistung des Mittelalters auf. Und von da aus spürte er sogleich auch wieder etwas von dem, was ihn an den Erscheinungen der Gottnatur immer wieder erquickte, — wie sich nämlich die Teile zum Ganzen rundeten und 154
ein Lebenszusammenhang durch alles ging. Eines seiner großartigsten historischen Bilder, in dem er Politisches und Geistiges einmal ganz ineinandergreifen ließ, ist der Mönch Roger ßacon in der Geschichte der Farbenlehre. Er ließ ihn aufwachen in der Zeit, in der die Magna carta von 1215 sich zum Fundament neuer englischer Nationalfreiheit entwickelte. „Obgleich Roger nur ein Mönch war und sich in dem Bezirk seines Klosters halten mochte, so dringt doch der Hauch solcher Umgebung durch alle Mauern, und gewiß verdankt er gedachten rationellen Anlagen, daß sein Geist sich über die trüben Vorurteile der Zeit erheben und der Zukunft voreilen konnte." Am größten Bauwerk des deutschen Mittelalters war ihm als Jüngling die Erleuchtung gekommen, daß aus dem düsteren Schöße dieser Zeit ein Herrlichstes hervorgehen konnte. Wie das möglich war, kümmerte ihn damals noch nicht besonders. Man sieht den Anfangs- und den Endpunkt seines historischen Denkens, wenn man seine damaligen Worte mit denen vergleicht, die er in den Annalen 1822 über altdeutsche Baukunst schrieb. Man darf sie nicht etwa im Tone miteinander vergleichen, denn dann würde man in den Altersworten die freudenhelle Frische der Jugendworte vermissen. Aber die geschichtliche Einsicht war nun ungemein gewachsen, die Fähigkeit, das einzelne Individuelle als Glied einer überindividuellen Ganzheit, eines Zeitalters, in dem alles innerlich zusammenhing, zu sehen. Um die altdeutsche Bauart zu verstehen, meinte er jetzt, müsse man Zeit, Religion, Sitte, Kunstfolge, Bedürfnis, Anlage der Jahrhunderte, alles zusammen als „eine große lebendige Einheit" betrachten, und an das 155
Kirchtum auch das Rittertum, zu anderem Bedürfnis in gleichem Sinne, anschließen. Die Epochen der neueren Geschichte vermochte Goethe nicht in gleicher Weise als große individuelle Gebilde zu sehen. Einmal fehlte ihm hier der Schlüssel des politischen Verstehens. Das Baumaterial zurBildung großer geschichtlicher Einheiten hätte ihm die Entstehung und Weiterbildung des modernen Staates liefern können. Aber das lag ihm nun einmal nicht. Er sah wohl genau, daß gerade im 16. Jahrhundert die „äußeren Weltereignisse" es gewesen wären, die die ihm teuren Werte der Kultur „unaufhaltsam durcheinander geschüttelt" hatten. Aber er glaubte nur ein äußerlich medianisches, kein innerliches Verhältnis zwischen beiden wahrzunehmen (an S. Boisseree 1826). Die geistesgeschichtliche Seite des 16. Jahrhunderts aber, dessen helldunkle Atmosphäre auch in den Faust übergegangen ist, zog ihn mächtig an als kampferfüllter Grenzsaum älterer und neuerer Zeiten, mit seinem Durchbruch eigenkräftiger Individuen 1 , mit seinen rätselhaft-lebensvollen Komplikationen der menschlichen Natur '(Neri), mit der heroischen Persönlichkeit Luthers vor allem. Aber schon zu Luthers Werk konnte er sich Menke-Glückert, G. als Geschichtsphilosoph, S. 100, nennt G. den ersten, der die neuere Geschichte auffasse als ein allmähliches Freierwerden des Individuums, da G. in der Geschichte der Farbenlehre vom „Streben der Individuen nach Freiheit" im 16. Jahrhundert spreche. Man darf da nicht vergessen, daß die Aufklärer ihm vorangegangen waren in der These, daß der menschliche Geist damals die Fesseln der Autorität abgeschüttelt und, wie Robertson sich ausdrückt, the power of tnquiring and of thinking for themselves (Gesch. Karls V. und Gesch. Schottlands) gewonnen habe. Der Unterschied zwischen den Aufklärern und Goethe liegt natürlich in der verschiedenen Auffassung des Individuums. 1
156
nicht eindeutig stellen. Ihn störte weniger das Element von Aberglauben, das er auch bei ihm fand, denn über diese seichte aufklärerische Zensur war er hinaus. Eher war es gerade die Mischung von Aberglauben und schöpferischen Kräften, die ihn anzog. Den freien Blick für die großen Dominanten des geistigen Lebens der Nationen, den er so oft zeigte, bewies er auch gegen Luther. Erst durch ihn und die Sprache seiner Bibel, urteilte er (an Blumenthal 1819), seien die Deutschen ein Volk geworden. Aber war die religiöse Befreiungstat Luthers für seine eigene Gesinnung, die nun einmal auf reinste Humanität ging, in jeder Hinsicht ein Segen? Zwar war er bereit, sie von Herzen mitzufeiern, weil er sie in einem hochsymbolischen Sinne auffassen und in sein eigenes Weltdenken umsetzen konnte (an Zelter 1816). Aber als das Reformationsfest 1817 nahte, wollte er eifrig abreden, es auf den 31. Oktober zu legen, vielmehr es mit der Feier der Leipziger Schlacht vom 18. Oktober verbinden. Denn ein reines Gemüt könne an einem spezialen Kirchenfest keine vollkommene Freude haben, weil man an Zwiespalt und Unfrieden, an ein ungeheures Unglück einiger Jahrhunderte erinnert werde, weil man sich von den katholischen Volksgenossen dadurch trenne. Er vermochte sich auch, obwohl er katholisches Priesterwerk oft sehr schroff von sich wies, in die Atmosphäre und die Symbole katholischer Religiosität erstaunlich sympathisch einzufühlen (vgl. vor allem die Darstellung der sieben Sakramente in Dichtung und Wahrheit, Buch 7). Freilich nur, weil er wußte, was Religion als nährender Boden der Kunst bedeutete, weil die menschlichen Urwerte sich ihm auch in den mannigfaltigen religiösen Be157
kenntnissen offenbaren konnten und weil alles Symbolische in ihm wiederklingen konnte. Für seine tiefe religiöse Toleranz aber war nun gerade das 16. Jahrhundert, intolerant und zeugungskräftig zugleich wie es war, ein zwiespältiges Phänomen. Auch aus diesem Grunde konnte es ihm nicht als große individuelle Einheit erscheinen. Noch weniger vermochte dies das 17. Jahrhundert. Seine Studien zur Geschichte Herzog Bernhards von Weimar hinterließen ihm als Haupteindruck die „Verworrenheit" dieses Jahrhunderts (Annalen, bis 1780). Wie ihn denn Charaktere immer mehr fesselten als Ereignisse, konnte er in der Geschichte der Farbenlehre auch die Gelehrten des späteren 17. Jahrhunderts eindringend charakterisieren und von der eigentümlichen Luft ihrer Zeit, in der die „mechanische und machinistische Vorstellungsart" aufkam, umwehen lassen. Das hat er jedenfalls schon deutlich gesehen, daß das spätere 17. Jahrhundert die geistesgeschichtliche Eingangspforte zu demjenigen Zeitalter bildete, in dem er selbst wurzelte und aus dem er sich emporentwickelt hatte. Am Abend seines Lebens lag dann auch dieses selbst miterlebte 18. Jahrhundert als individuelles Phänomen vor seinen Augen, „denn das ist, bei manchem Entbehren, der große Vorteil des hohen Alters, sich ein ganzes Jahrhundert vorführen zu können und es beinahe als persönlich gegenwärtig anzuschauen" (Biogr, Denkmale Varnhagens, 1824). Wir kennen bereits seine Kritik dieses „selbstklugen Jahrhunderts" mit seiner „Verstandeskultur" und haben hier nur kurz daran zu erinnern, was er ihm trotzdem schuldete, wie er es überwand und doch in großem Umfange in sich „aufheben" sollte. „Aufgehoben" und 158
weiterwirkend war in Goethes Denken vor allem der Drang der Aufklärung zum Überzeitlich-Allmenschlichen. Dazu ein anderer Zug dieses Zeitalters, den er prägnant erkannte, weil ein eigenster Zug seines "Wesens sich in ihm fortsetzte. Er rühmte in der Biographie Philipp Hackerts „die Hauptrichtung des Jahrhunderts gegen alle Untätigkeit, und was den Menschen darin erhält, die Hauptneigung zu allem, was wirksam und förderlich ist". Das Zweckhaft-Abgezirkelte dieses Tuns der Aufklärerschmolz in ihm aber zusammen zu einer Tatgesinnung aus tieferer Quelle: „Des echten Mannes wahre Feier ist die T a t " (Pandora). Das 19. Jahrhundert, das ihn selbst als kostbarste Mitgift des 18. Jahrhunderts empfing, hat er nur als werdende, nicht als abgeschlossene Individualität sehen können. Daß es eine solche werden würde, ja daß sogar eine tiefe Zäsur es von allen früheren Jahrhunderten scheiden würde, war ihm sicher. Goethe meint, erzählt Odyniec 1829, daß unser 19. Jahrhundert nicht einfach die Fortsetzung der früheren sei, sondern zum Anfang einer neuen Ära bestimmt erscheine. Er skizzierte sogar in genialem Umrisse den zu erwartenden Gang des Jahrhunderts. Hier half ihm das eigene schmerzhafte Erlebnis der politischen Erschütterungen um die Wende des Jahrhunderts, — während ihm in der Deutung früherer Jahrhunderte das Bindemittel des politischen Verständnisses doch gefehlt hatte. Große Begebenheiten, wie wir sie erlebt haben, meinte er, können nicht ohne große, ihnen entsprechende Folgen bleiben, wenngleich sie wie das Getreide aus der Saat langsam wachsen und reifen. Deswegen sah er die Saat, genau wie es gekommen ist, erst in der zweiten Hälfte des 159
begonnenen Jahrhunderts, vielleicht gar erst in seinem letzten Viertel reifen. Zwiespältig oder, besser gesagt, doppelpolig, wie es gar nicht anders sein konnte, war sein Verhältnis zu den Tendenzen des begonnenen Jahrhunderts. In den Wanderjahren, die dem Bildungsindividualismus der Lehrjahre das Ideal der „Entsagenden", des praktisch-gemeinnützigen Arbeitslebens entgegenstellen, konnte er das Vertrauen erwecken, daß die innere regenerative Kraft des Menschen auch der zerstörenden Wirkungen des neuen Maschinenwesens Herr werden könne. Sein Weltglaube ließ ihn so hoffen. Aber persönlicher empfunden scheinen die mancherlei dunklen Worte über die drohende Verflachung des Lebens, die er in den letzten Jahren sprach und die uns heute andauernd in den Ohren klingen. „Ich sehe die Zeit kommen," sagte er ja zu Eckermann (1828), „woGott keine Freude mehr an der Menschheit hat und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung." Sein Weltglaube aber hielt auch dieser Aussicht stand und spürte in dem Abwärts und wieder Aufwärts der kommenden Jahrtausende den Pulsschlag einer ewigen Gottnatur. Mit Absicht, sprechen wir erst jetzt von denjenigen geschichtlichen Zeiten und Welten und ihrer Spiegelung in Goethes Geiste, die nach ihrem universalen Zusammenhange eher an den Anfang gehören würden, von der biblischen Urzeit und dem Oriente. Denn ihnen gegenüber übte Goethe, überwiegend wenigstens, eine merklich andere Methode des Sehens. Das deutet darauf, daß sein inneres Verhältnis zu ihnen ein anderes war. Seine Liebe für die biblische Urzeit blieb lebendig von der Kindheit bis ins Alter. „Es schlingt sich die daher gewonnene Kultur 160
durch mein ganzes Leben" (an Rochlitz 1812). In dieser Liebe war religiöses Bedürfnis nach einer reinen und ursprünglichen Gottesvorstellung tief verwachsen mit dem Bedürfnis, reine und ursprüngliche Menschheit anzuschauen, mit jenem Bedürfnis, das ihn auch zu Homer zog. Wir wissen, daß dies Bedürfnis mit den präromantischen Strömungen des 18. Jahrhunderts, mit demDrange, die Urzeiten als Prototypen der Menschheit kennenzulernen, zusammenhing. Hamann hatte die „ausgestorbene Sprache der Natur" durch Wallfahrt nach dem Morgenlande wieder aufzuerwecken gemahnt, der junge Goethe dann eine erste Berührung mit dem Orient schon gesucht und niemals wieder ganz fahren lassen. Herders gleichartige, auf biblische Urzeit und Orient gerichtete Neigung, später auch sein feuriges Eintreten für Poesie und Kultur der Araber haben gewiß auch in Goethes Geist Spuren eingedrückt. Von neuem verklärte dann die Romantik den Orient. Zeitgeist und Eigenbedürfnis also wirkten zusammen, als Goethe in den politischen Stürmen der Zeit zum reinen Osten flüchtete, den Westöstlichen Divan dichtete und die Noten zu ihm schrieb. Patriarchenluft zu kosten und menschlichen Geschlechtern in des Ursprungs Tiefen zu dringen, war das von ihm selbst bekannte Grundmotiv. Die Welt menschlicher Urformen zog ihn hier wie in der Bibel aufs mächtigste an. Hier störten ihn nicht, wie in den Zeitaltern der antiken und abendländischen Entwicklung, die Zwiespältigkeit der Tendenzen und der unerfreuliche Einschlag der Machtpolitik, kurz das in Individualität und Entwicklung für ihn nicht umzuformende wirre Durcheinander der Kräfte. Das Individuelle vielmehr, das er zumal in dem pracht161
vollen Freskobilde der biblisdien Patriarchenzeit (Didit. u. Wahrh. I, 4) darstellte, war hier zugleich das Typische, ungestört und taufrisch Urmenschliche. Er liebte „die stillen dunklen Zeiten, in denen der Mensch, unbekannt mit sidi selbst, aus innerem starken Antrieb tätig war", und hielt für den schönsten Punkt der ganzen geschichtlichen Überlieferung zumeist den, wo Geschichte und Sage zusammengrenzen (Gesch. d.Farbl.). An solchem „anmutigideellen Naturzustand" meinte er, sich wenigstens für Augenblicke von der furchtbaren Last zu befreien, welche die Uberlieferung von mehreren tausend Jahren auf uns gewälzt habe (Max. u.RefL). Man sieht, daß, wie schon bei Herder, in diese Liebe auch die alten Träume vom goldenen Zeitalter mit hineinspielten. Aber Goethe wußte auch solche überlieferten Gedankenbilder aus dem Statischen ins Dynamische umzuwandeln und den Menschen der Urzeit sein eigenes Tätigkeitsideal einzuhauchen. Diese selbe charakteristische Umwandlung ins Goethesche zeigt ein anderer Zug seines Bildes von biblischer und menschlicher Urzeit überhaupt. Goethe konnte sein Auge ja nicht davor schließen, daß Religion und Leben der Erzväter nicht nur menschlich schön und heiter war, sondern auch Züge von Wildheit und Grausamkeit trug, „aus welchen der Mensch herankommen oder worein er wieder versinken kann." Dieser Ansatz zu einer naturalistischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit in der Art Vicos oder Humes paßte nun aber nicht in das übrige mit Farben des goldenen Zeitalters gemalte Bild. Goethe hat ihn trotzdem, als er später (Ornamente aus Pompeji 1830) noch einmal auf ihn zurückkam, nicht etwa als inkongruent empfunden, sondern nur sein eigenstes Denken 162
liebenswürdig darüber ausgebreitet. „Wollte man uns übel nehmen, wenn wir sagen: die Nationen steigen aus der Barbarei in einen hochgebildeten Zustand empor und senken sich später dahin wieder zurück, so wollen wir lieber sagen: sie steigen aus der Kindheit in großer Anstrengung über die mittleren Jahre hinüber und sehnen sich zuletzt wieder nach der Bequemlichkeit ihrer ersten Tage." Die Menschheit als Makroanthropos von der typischen Stufe der Kindheit an sich entwickeln zu sehen, war nun eben die echte Goethesche Konzeption. „Rohheit und Kindheit" sah er dabei vereinigt, aber sein Auge weilte lieber auf der liebenswerten Kindheit so, wie es Herder und das humanitäre 18. Jahrhundert gern getan hatten. Er idealisierte, weil er hier typisierte, weil es ihm darum zu tun war, Urformen zu finden in Patriarchenzeit und Orient. Eben durch dies typisierende Verfahren unterscheiden sich die Bilder dieser Welten von den schärfer individualisierenden Bildern der antiken und abendländischen Epochen. Das schließt nicht aus, daß die wunderbaren Noten zum Westöstlichen Divan, die der modernen Orientforschung bis heute Nahrung gegeben haben, auch Individuellstes zu sehen und genetisch zu sehen vermochten. An dem persischen Volkstum zeigte er mit wenigen Meisterstrichen, dabei wohl auch von der romantischen Volksgeistlehre berührt, wie geprägte Form sich selbst getreu bleibt und doch lebend entwickelt. Dadurch gelangte er zu der bedeutenden historischen Einsicht, daß ein fundamentaler Gegensatz zwischen der indogermanischen Kultur Persiens und der semitisch-arabischen Invasion bestand (bemerkt von Burdach, Goethe-Jahrbuch 17). Die größte individualisierende Leistung aber war die 163
neue Einschätzung der orientalischen Poesie. Sie setzte fort und steigerte, was Herder begonnen hatte. Er, der selber in der Epoche seines Klassizismus dem alten Hange zu normativen Maßstäben nachgegeben hatte, gewährte jetzt, in scharfer Ablehnung der bisher über sie gefällten Urteile, der orientalischen Dichtung den Maßstab ihrer eigenen Individualität. „Man vergleiche sie mit sich selbst, man ehre sie in ihrem eignen Kreise, und vergesse doch dabei, daß es Griechen und Römer gegeben." Der Rationalismus des Westens hatte bisher an der Despotie und der geistigen und körperlichen Unterwürfigkeit der Orientalen Anstoß genommen. Goethe widersprach und knüpfte damit, wohl ohne es noch zu wissen, an einen der fruchtbarsten Gedanken der Herderschen Geschichtsphilosophie von 1774 an. Herder hatte gerade in den Fehlern der Orientalen ein „Vehikulum des Guten" entdeckt. Goethe, indem er sich jetzt die historische Frage stellte, wie Kultur und insbesondere Poesie im Orient überhaupt möglich geworden sei, verhüllte keineswegs die Kehrseite des orientalischen Despotismus, aber zeigte, daß jene Unterwürfigkeit ein integrierender Bestandteil der orientalischen Gesamtkultur und nicht schlechtweg niedrig sei. Ihre Tugenden, meinte er, lassen sich nicht von ihren Fehlern trennen, ja seien ganz eigentlich die Blüten ihrer Fehler. Diese Aufforderung, alle Phänomene von ihrem individuellen Lebenszusammenhange aus zu verstehen, strahlte weithin in den kommenden Historismus hinein. Aber der „unwandelbare Orient" war ihm doch in erster Linie der Bereich, um große Urformen und Typen mit ihren Metamorphosen zu finden. So etwa die „Urelemente" arabischer Sprache und Poesie, Kamel, Pfer^l, Schaf, Berg 164
und Wüste und das vielgestirnte Firmament. Die rationalistische Poetik hatte dergleichen als Tropen bezeichnet. Für ihn waren es „Lebenszüge". Vom Typisieren glitt er dabei mitunter, wie bei der biblischen Urzeit, in ein falsches Idealisieren hinüber. Er übertrug die Vorstellung von einer „edlen reinen Naturreligion" der Urzeit auch auf die Perser vor Zoroaster und überschätzte ferner wohl den hohen Bildungsgrad der Araber vor Muhamed. Wir gewahren die Schranken des Goetheschen Entwicklungsgedankens. Denn er entfernte sich mit alledem von dem Wege, den er schon sah, die wirkliche Entwicklung der Menschheit aus niedersten Stufen der Roheit und Barbarei in alle Konsequenzen zu verfolgen. Ist nicht in der Naturwissenschaft sein Entwicklungsgedanke an einer ähnlichen Schranke stehen geblieben? Korff hat das ins Schwarze treffende Wort gesprochen, daß ihn eigentlich nicht die Entstehung der Arten in der Wirklichkeit, sondern die Entstehung der Arten aus Gott interessiert habe (Geist d. Goethezeit 2, 61). Sein realistisches Suchen nach den letzten verursachenden Kräften hörte auf, wo er eine der geliebten gottentsprungenen Urformen gefunden zu haben glaubte, weil dies Suchen eben nicht reiner Realismus, sondern in einer wunderbaren völligen Verschmelzung mit ihm auch höchster Idealismus und Spiritualismus war. Jenes Wort Schillers zu ihm, daß seine Urpflanze nicht eine Erfahrung, sondern eine Idee sei, hat ihn selbst einmal zu seiner Verwunderung hierauf aufmerksam gemacht. Innerhalb dieser Schranken aber war sein Entwicklungsgedanke von unerhörter Lebendigkeit und Tiefe, klarer und durchsichtiger als der Herders, menschlich-innerlicher 165
und hingegebener an die Phänomene als der Hegels. Es genügen wenige Bemerkungen, um sein Bild, das wir schon aus zahlreichen Bewährungen gewonnen, zu vervollständigen. Die Ansätze zu dem, was man die Dialektik der Entwicklung nennt, die schon bei Moser und Herder festzustellen sind und die dann in Hegels Geschichtsphilosophie ihre logische Vollendung und vielleicht schon Vergewaltigung erhielten, fanden hier diejenige Vollendung, die Anschauung und Mitgefühl geben können. „Etwas ist da", sagte er zu Falk, für die Natur, aber ohne Zweifel auch für die Geschichte mit gemeint, „was einander aufsucht, durchdringt, und wenn es eins ist, wieder einem Dritten die Entstehung gibt." Hier war die friedlich-freundliche Seite der dialektischen, Neues aus zwei Elementen schaffenden Bewegung, gewissermaßen ihre Erosseite gekennzeichnet. Die andere, die Katnpfesseite, das Ringen von gegensätzlichen Kräften, von denen die jüngeren doch wieder nur aus dem Schöße der älteren hervorgehen, die Entstehung neuer Kräfte aus diesem Ringen, in denen doch die alten nachwirken, — diesen ruhelosen Prozeß stellte er an den geistig-literarischen Wandlungen seiner Jugendzeit in Dichtung und Wahrheit dar. Die grandiose Skizze „Geistesepochen" (1817) zeigt, wie jede Stufe der Entwicklung Elemente hervorbringt, die zu ihrer Uberwindung drängen. Dabei gab es für ihn auch keinen vollkommenen Endzustand, in dem die Entwicklung statisch ausruhen konnte. „Alles Vollkommene in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß etwas Anderes, Unvergleichbares werden" (Ottilie in d. Wahlverw.). Wie er den Gesamtfluß der Entwicklung am liebsten nicht in donnernden Katarakten, sondern 166
in tiefbewegter Stetigkeit rinnen sah, bemerkten wir bereits. Es ist sehr charakteristisch, daß er einmal gestand, zwar von jeher den genetischen Weg zum Anschauen der Gegenstände geliebt, aber erst von da aus sich zur dynamischen Vorstellungsart erhoben zu haben (an Jacobi 1800). Beide Wege aber, meinte er zugleich, koinzidierten (Tagebuch 6. 12. 1799). Am besten gelangen ihm denn auch unter den vielen Entwicklungsbildern, die er gab, diejenigen, wo „ein stiller, gewissermaßen geheimerGang" durch die Jahrhunderte zu beobachten war (Cours de Littérature grecque moderne), wo zu zeigen war, „wie große Weltereignisse nur alsdann sich entwickeln, wenn gewisse Neigungen, Begriffe, Vorsätze hie und da, ohne Zusammenhang, einzeln ausgesäet, sich bewegen und im stillen fortwachsen, bis endlich früher oder später ein allgemeines Zusammenwirken hervortritt" (Divannoten). Dies besondere Betonen des leisen Wachstums der Kräfte erlaubte es ihm auch, seinen Entwicklungsgedanken auf Natur und Menschheit gleichmäßig anzuwenden. Von den modernen Unterscheidungen verschiedeiier Entwicklungsbegriffe wußte er noch nichts. Natur und Geist, obwohl von ihm immer auch als Polarität empfunden, schlössen sich zugleich für ihn auch immer als Einheit der Gottnatur zusammen. Die Polarität der bald auseinander-, bald zusammenstrebenden Kräfte, der Rhythmus von Systole und Diastole war für ihn der Hergang, der das leise Wachstum in der Entwicklung oder, wie er sie immer auffaßte, der Metamorphose verursachte. Aus der Metamorphose, bemerkte er einmal (Tagebücher 17. 5. 1808), geht die Spezifikation hervor, aus der Systole und Diastole des Weltgeistes das 167
Fortgehen ins Unendliche. Die Eigenheit seines Geistes, der die Polaritäten so reich, stark und fruchtbar wie vielleicht niemals wieder in einer menschlichen Brust in sich trug, die eigenste innere Erfahrung führte ihn zum Entwicklungsgedanken. „Wundersame Komplikation der menschlichen Natur, in welcher sich die stärksten Gegensätze vereinigen, Materielles und Geistiges, Gewöhnliches und Unmögliches, Widerwärtiges und Entzückendes, Beschränktes und Grenzenloses" (It. Reise, Ph. Neri). So oder ähnlich hätte auch ein Psychologe des naturrechtlichen Zeitalters, ein Montaigne oder Larochefoucauld, sprechen können. Aber sie konnten es nur als rätselhafte Mechanik der Gattung Mensch verstehen, was für Goethe letzten Endes immer zugleich Pulsschläge des bewegten Alls waren. „Die Natur macht keine Sprünge", sagte er 1807 zu Riemer, „so ist immer Eines um Alles, Alles um Eines willen da, weil ja eben das Eine auch das Alles ist." Durch diese Verwebung alles Einzelnen in den Lebensstrom des Ganzen entging der Goethesche Entwicklungsgedanke der Gefahr, zum bloßen Entfaltungsgedanken verengert zu werden. Entfaltung ist ein isolierter Hergang, durch den alle von vornherein in einem Keime angelegten Möglichkeiten nach und nach hervortreten, aus einer implizierten zu einer explizierten Existenz gelangen. Die romantische Volksgeistlehre hat, wie wir schon bemerkten, die Hervorbringungen der Volksgeister vielfach verengernd als bloße Entfaltung verstanden. Goethe hat zwar terminologisch nicht streng zwischen Entwicklung und Entfaltung unterschieden, — „ich besaß", sagte er bequem (Paralipomena zu den Annalen), „die entwikkelnde, entfaltende Methode" —, aber niemals die Dinge 168
bloß aus sich heraus sich entfalten lassen. Einmal hat er geradezu das W o r t Entwicklung im Sinne einer bloßen Entfaltung gebraucht, aber sofort gegen diesen Sinn polemisiert. „Das Wachstum (eines Kindes) ist nicht bloß Entwicklung; die verschiedenen organischen Systeme, die einen Menschen ausmachen, entspringen aus einander, folgen einander, verwandeln sich in einander, verdrängen einander, ja zehren einander a u f " (Dicht, u. W a h r h . I, 2). Audi diesen Kampf der Systeme im Inneren des Menschen sah er niemals als einen bloßen Innenvorgang an. Schon in seiner Metamorphose der Pflanzen spielte die verändernde Einwirkung der Umwelt die ihr gebührende Rolle im Entwicklungsprozeß. Diese Einwirkung war ihm freilich, und darin berührte er sich eng mit Herder, hier wie im geschichtlichen Leben niemals bloße kausal-mechanische Einwirkung von außen her, sondern verschlang sich untrennbar mit einer spontanen Gegenwirkung von innen her. W o sie in geschichtlichen Darstellungen nicht beachtet wurde, empfand er eine Lücke. Er warf es Johannes v. Müllers Selbstbiographie (Rezension 1806) vor, daß er sich viel zu isoliert dargestellt habe. „Wir finden die W i r kung großer Weltbegebenheiten auf ein so empfängliches Gemüt nicht genugsam ausgedrückt. . . was mußte sich an diesem Äußeren aus seinem Inneren entwickeln!" Goethe f ü h r t e seinen Entwicklungsgedanken mit genialer Sicherheit durch zwei Klippen hindurch. H i e ß die eine Klippe Verengerung zum bloßen Entfaltungsgedanken, so hieß die andere Klippe Fatalismus und Quietismus, Beruhigung bei dem Tröste, d a ß Entwicklung sich schon „von selbst" vollziehe. Das w a r ein Trost, der nicht nur praktisch gefährlich, sondern auch theoretisch falsch war. 169
So sehr Goethe gerade das stille Wachstum der Kräfte, wie er es in der Pflanzenwelt beobachtete, auch in der Geschichte liebte, so wenig meinte er, daß es sich „von selbst" und ohne irgendwelches Zutun verstünde. Unbewußten eigenen Gestaltungs- und damit auch Schaffenstrieb sah er schön in der Pflanze wirksam. Der zur Bewußtheit des Geistes erwachte Mensch aber mußte nach seiner Meinung erst recht das Seine dazu tun, um geschichtliche Entwicklungen in Gang zu bringen. Die rechte Zeit zum Handeln stets verpassen, Nennt Ihr die Dinge sich entwickeln lassen. Was hat sich denn entwickelt, sagt mir an, Das Ihr nicht selbst zur rechten Zeit getan? „Von der einfachen Organisation", schrieb ihm Schiller 1794, „steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu den mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen." Schiller übersetzte hier in etwas rationalistische Sprache, aber sehr prägnant den Kern und die innerste weltanschauliche Kraft des Goetheschen Entwicklungsgedankens, der in jedem Einzelleben das Ganze der lebendigen Gottnatur wirkend und werdend sah. Goethe verfuhr nicht ganz so bewußt und planmäßig von unten nach oben, wie Schiller es ihm zuschrieb. Er verfuhr vielmehr nach der Art der Möserschen „Totaleindrücke" und gewöhnte sich durch unzählige geniale Einzelbeobachtungen, das iv xal r.iw und das r.dvta 8sl an jedem Dinge zu gewahren. Aus der Betrachtung seines Entwicklungsgedankens ergeben sich jetzt zwei weitere Fragen. H a t er ihn schon ver170
gleichend angewandt und damit den Siegen der vergleichenden Methode in den Geisteswissenschaften präludiert? Und wie hat er ihn universalhistorisch angewandt, um die Epochen miteinander zu verbinden zu größeren Einheiten? Ohne ein stetes Vergleichen der historischen Erscheinungen war schon die universale Betrachtungsweise Voltaires, Montesquieus und Humes nicht möglich gewesen. Aber sie stand im Banne des medianischen Kausalitätsbegriiis und begnügte sich mit der Feststellung, daß gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben. An Montesquieusche Weise klang es wohl einmal an, wenn Goethe, von Karl August angeregt, Schotten und Serben miteinander verglich und aus ihrem Wohnsitz in steilen Gebirgsgegenden ihre Wehrhaftigkeit und kriegerische Überlegenheit über Flachlandsvölker, aber auch ihre kräftige Poesie ableitete (an Karl August 1826). Aber sein Suchen nach Urformen und Metamorphosen auch in der Geschichte mußte zu einer noch tieferen Art des Vergleichens führen. Nicht nur das Allgemeingesetzliche, sondern auch das Eigengesetzliche in den einzelnen Erscheinungen mußte dabei an den Tag kommen. Das hatte schon Herders vergleichende Methode geleistet. Aber zu der genialen Intuition, mit der dieser verfuhr, fügte Goethe die schärfere Beobachtung. Solch Vergleichen nahm er, auch wo er keine Worte davon machte, im stillen vor, um sowohl das Gemeinsame im Getrennten, wie das Individuelle im gemeinsamen Typus zu erkennen. Aber er sprach auch zuweilen sehr bestimmt von der Notwendigkeit und Fruchtbarkeit des Vergleichens. Er forderte eine vergleichende Darstellung der gotischen Baukunst mit 171
der griechisch-römischen und der orientalisch-ägyptischen (Dicht, u. Wahrh. II, 9). Er hat dann selbst in „Kunst und Altertum" die hellenische und die christliche und als ein Spezialfall derselben die byzantinische Kunst erleuchtend miteinander verglichen. „Wenn daher die hellenische Kunst vom Allgemeinen begann und sich ganz spät ins Besondere verlor, so hatte die christliche den Vorteil, von einer Unzahl Individualitäten ausgehen zu können, um sich nach und nach ins Allgemeine zu erheben"; diese Individualitäten verhinderten dann in der byzantinischen Kunst, „daß ein alter, starrer, mumienhafter Stil nicht alle Bedeutsamkeit verlor". Eines der fruchtbarsten Probleme vergleichender Geistesgeschichte, das erst in unserer Zeit bearbeitet worden ist, stellte er, als er im Anschluß an das autobiographische Selbstbekenntnis des Cardanus meinte: „Eine Vergleichung der sogenannten Konfessionen aller Zeiten würde . . . gewiß schöne Resultate geben." An Cardanus wie an Montaigne bemerkte er dabei das Neue, daß das, „was bisher nur im Beichtstuhl als Geheimnis dem Priester ängstlich anvertraut wurde, nun mit einer Art von kühnem Zutrauen der ganzen Welt vorgelegt w a r d " ; er sah darin gewissermaßen eine Hindeutung auf den Protestantismus (Gesch. d. Färb.). Immer aber wollte er bei allem Vergleichen den Respekt vor der Individualität der einzelnen Erscheinung gewahrt wissen. „Lassen wir also gesondert, was die N a t u r gesondert hat, verknüpfen aber dasjenige, was in großen Fernen auf dem Erdboden auseinander steht, ohne den Charakter des Einzelnen zu schwächen, in Geist und Liebe!" (Der Pfingstmontag 1820/21). Durch die innere Struktur des Goethesdien Entwicklungs172
gedankens, der das Individuelle und das Typische nie übereinander vergaß, wurdp nun ferner auch schon bestimmt, inwiefern er anwendbar und tauglich war zur Herstellung größerer universalhistorischer Entwicklungsreihen, umfassenderer Bindemittel zwischen den Zeiten, schließlich etwa eines sinnvollen universalen Gesamtverlaufs. Wir treten damit vor ein Problem von allerhöchster Wichtigkeit. Denn durch die Art, wie Goethe es beantwortet hat, hebt er sidi in einsamer Größe über alle universalhistorischen Versuche seiner Zeitgenossen und eines großen Teiles seiner Nachfahren. Wohl ist das Große, was er hier leistete, auch verbunden mit Zügen, die von uns aus gesehen als Mängel erscheinen. Auf den evidentesten dieser Mängel, seine Gleichgültigkeit, ja Abneigung gegen diejenigen Bindemittel der Zeiten, die aus den großen politischen und kriegerischen Schicksalen der Völker sich ergaben, haben wir schon hingewiesen. Dennoch führt hier ein Weg von Goethe unmittelbar zu Ranke und dessen befreiender Leistung hinüber. Mit einem Worte gesagt: Goethe durchbrach noch vor Ranke den Bann, in den die teleologische Auffassung der Universalgeschichte das geschichtliche Denken legte. Diese Auffassung ging dahin, daß es einen, im einzelnen zwar oft gehemmten und verzögerten, aber im großen erkennbaren Fortschritt zu einem sinnvollen Gesamtziele der menschheitlichen Entwicklung gäbe. Sie stammte aus der christlichen Geschiditsphilosophie, wie sie zuletzt Bossuet vertreten hatte, und säkularisierte die Idee eines göttlichen Heilsplans für die irrende und fehlende Menschheit. Die Aufklärung hat, wie wir früher sahen, nicht gleich diese Säkularisierung vorgenommen. Solange sie 173
noch von dem Wirklichkeitssinn des 17. Jahrhunderts durchdrungen war, hoffte sie wohl auf den Fortschritt der Vernunft, aber glaubte nicht recht daran, daß sie einmal endgültig triumphieren werde. Diese Skepsis verlor die Aufklärungsbewegung auf der Höhe ihrer Entfaltung. Aber auch die großen deutschen Denker, die den A u f k l ä rungsgeist in Idealismus umwandelten, entrichteten in diesem Punkte der Auf klärung ihren Tribut und säkularisierteil ebenfalls für ihre höher liegenden Zwecke und Menschheitsziele den Heilsplan. Herder strebte zwar aus der Teleologie heraus, blieb aber dann doch in ihr stecken und mischte dabei weltliche und christliche Motive. Reiner teleologisch konstruierten Lessing und Schiller, Kant und Fidite den Gang der Menschheitsentwicklung, und in gewaltigster Weise führte Hegel diese Versuche auf ihren Gipfel, — von dem mancherlei Nachfahren dann noch langsam herunterstiegen. Diese säkularisierten Heilspläne waren durchaus nicht unfruchtbar für tiefere geschichtliche Erkenntnis, ebenso wenig wie es die christliche Geschichtsphilosophie einst gewesen war. Sie haben heuristisch Bedeutendes geleistet, um das Hervorgehen neuer geschichtlicher Entwicklungsstufen aus anders gearteten älteren und ungeahnter Wirkungen aus anders gearteten Ursachen verständlich zu machen, wo dann die Heterogonie der Zwecke sichtbar wurde. Aber sie glichen auch künstlichen Flußregulierungen, die um praktischer Zwecke willen die natürlichen mäandrischen Windungen korrigieren. Sie waren ein gewaltsames Mittel, um das Durcheinander rationaler und irrationaler Kräfte in der Geschichte auf den Generalnenner einer Gesamtvernunft und befriedigenden Gesamtleistung zu bringen. 174
Goethe bedurfte eines derartigen Generalnenners nicht. Seine Weltreligion gab ihm den Trost, daß Gott nicht nur am Ende der Geschichte, sondern überall sich vollkommen realisiere, und daß die Unvollkommenheiten des Lebens wohl für die menschliche Vernunft, aber nicht für die göttliche Vernunft existierten. Das Leben selbst, wie es war, war ihm, so hörten wir schon, der Zweck des Lebens; es ruhte, so bewegt es auch war, in sich selbst. So hatte auch jede Einzelerscheinung der Geschichte, die ihn interessierte, ihren unmittelbaren Bezug zur Gottnatur und brauchte nicht erst dadurch Rang und Wert zu erhalten, daß sie als notwendige Stufe zu höherer Vollkommenheit erkannt, aber gleichzeitig dadurch auch wieder mediatisiert, aus Selbstzweck zu Mittel für Endzwecke herabgedrückt wurde. Dieses Immediatverhältnis des geschichtlichen Lebens, das Ranke später mit dem Worte ausdrückte, daß jede Epoche unmittelbar zu Gott stehe, hatte auch Herder schon einmal 1774 großartig erobert, aber doch nicht ganz von den Banden des Heilsplansgedankens zu lösen vermocht. Ganz frei von ihnen aber sprach es Goethe aus mit dem Worte: „Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit" (Eckermann 1823). Wir sahen schon, wie Goethe in Italien, ans Gegenwärtige, aber an dieses im tiefsten Sinne geheftet, dem Fortschrittsglauben widersprach und wie er im Alter die Zeiten kommen sah, wo Gott keine Freude mehr an dieser Welt haben werde. Ein dauerndes Fortschreiten der Menschheit erkannte auch er trotzdem an, aber in anderem Sinne, als es der säkularisierte Heilsplan wollte, als ruhelose, wohl oft durch Dämonen retardierte, aber niemals stillestehende 175
und immer weiterstrebende Bewegung. Ob es dabei im ganzen aufwärts ginge, schien er wohl zuweilen zögernd zu bejahen, zumeist aber zu bezweifeln. Denn mit jedem Gewinn der Menschheit sah er auch Verlust verbunden. Als Jean Paul ihn 1798 auf die These einer „Weltfortschreitung" festlegen wollte, erwiderte er: „i/wschreitung müssen wir sagen. A priori folgt's aus der Vorsehung,aber nicht in jedem a posteriori ist der Fortschritt zu zeigen." Man beachte, wie er hier zugleich die Sphäre des Glaubens von der des Erkennens schied. Als Ahnender und Glaubender hat auch Ranke später von einer göttlichen Providenz gesprochen. Für beide aber behielt das geschichtliche Leben seinen Sinn auch ohne erkennbaren Fortschritt. Der Kreislauf und die Spirale erschienen Goethe als die rechten Bilder für die Fortbewegung der geschichtlichen Menschheit. Den Kreislauf von Irrtum und Wahrheit in der Wissenschaft stellte er in der Geschichte der Farbenlehre dar. Den Kreislauf der Kunst in Zunahme und Abnahme, „Ausweichen zur Seite, Rückkehr in den rechten Weg, Herrschaft einer Hauptepoche, Einwirkung der Individualitäten" (Annalen 1805) bei der Betrachtung einer Folge von Kunstwerken zu erkennen, gewährte ihm die Befriedigung eines erkannten Naturgesetzes. Die Kunst war ihm ein £