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German Pages 457 [460] Year 1999
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 101
Thomas Wolf
Pustkuchen und Goethe Die Streitschrift als produktives Verwirrspiel
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999
Für Uschi
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wolf, Thomas: Pustkuchen und Goethe : die Streitschrift als produktives Verwirrspiel / Thomas Wolf. Tübingen : Niemeyer, 1999 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 101) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-484-32101-6 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Guide-Druck, Tübingen Einband: Industriebuchbinderei Hugo Nädele, Nehren
Wie viele Talente und Genies bleiben durch Verhältnisse unentwickelt und zurückgehalten; wie viel Dummköpfe dagegen werden durch Verhältnisse, Erziehung und Künstelei in die Höhe auf Katheder usw. gehoben. J. W. Goethe nach S. Boisseree Was ist denn der lumpige Name für die Nachwelt: ein Kerl steche heute Göthe, oder Napoleon todt; er ist unsterblich, freilich durch eine vergehende Unsterblichkeit... Jean Paul Wenn ein Deutscher nicht Schiller oder Goethe heißt, geht er unbekannt durch die ganze Welt. Franz Grillparzer
Inhalt
Problemstellung u n d Forschungsbericht 1
1
E i n alter Plan
35
Entstehung der echten Wandeljahre 2
J o h a n n Friedrich W i l h e l m P u s t k u c h e n
41
Biographischer Umriß I: 1793-1821 3
Eine höchst lebendige Statue
73
Der alte Goethe / Goethes Romantikkritik / Romantische Goethekritik / Romantiker Goethe / Kritik am Wilhelm Meister I Frühe Goethe-Invektiven / Goethes Sorge um den Nachruhm / Drucklegung der echten Wandeijahre 4
P u s t k u c h e n s Parallelaktion
103
Pustkuchen in Lemgo-Lieme / Der Verleger Gottfried Basse / Datierung der falschen Wanderjahre / Literarische Anregungen und Einflüsse / Erzählerische und kritische Textstruktur / Inhalt des ersten Teils (1821) 5
D i e literarische Streitschrift als satirischer P s e u d o - R o m a n
139
Rubrizierungsprobleme 6
V e r w i r r u n g u n d streitbare F o r t s e t z u n g e n
151
Die doppelten Wanderjahre I Wer ist der Übeltäter? / Inhalt der Folgebände (1821-1828) 7
Pustkuchen u n d Goethe Vergleich der
189
Meister-Konzeptionen
VII
8
Die Fraktionen
211
Polemische Reaktionen der Goethefreunde / Ernsthafte Reaktionen der Goethefreunde / Differenzierend negative Rezensionen / Börnes Zustimmung / Die abwehrende Majorität (Resümee) 9
Die gescheiterte Verbrüderung
257
Fouqui im Scharfenberger Romantikerkreis / Fouqui als Basse-Autor / Pustkuchens Gedicht-Wechsel mit Fouqui / Fouquis latente Goethegegnerschaft / Enttarnung Pustkuchens 10
Ich mag nicht gern controvertieren
279
Sorgen und Beschwichtigungen des Goethe-Kreises / Goethes zwiespältiges Verhältnis zur Kritik / Goethes Reaktion auf die fälschen Wanderjahre / Goethes Pustkuchen-Invektiven / Pustkuchens Verdienst um die echten Wanderjahre-von 1829 11
Gar nicht gewesen?
309
Pustkuchens Selbsteinschätzung I Wirkungen der falschen Wanderjahre / Pustkuchens letzte Jahre
Textanhang Erster Teil: Transkriptionen PI
Friedrich Pustkuchen: Erinnerungen an mich selber
327 329 329
P2a Friedrich Pustkuchen: Die Schriftsteller sollenfiirdas deutsche Volk schreiben
340
P3 Friedrich Pustkuchen: Bruchstücke zu den Wanderjahren W[ilhelm] Meisters P4e Friedrich Pustkuchen: Einfälle / Fremde Einfälle! Witzfunken P8
Zwei Briefe Friedrich Pustkuchens an Johann Wolfgang Goethe . . .
348 351 354
P8a Brief vom 4. November 1815
354
P8b Briefvom 22. Dezember 1815
358
P17 Sechs Briefe Gottfried Basses (d. Ä.) an Friedrich Pustkuchen
360
P18 Vier Briefe Gottfried Basses (d. J.) an Friedrich Basse
364
P32b, S. 8-12 Friedrich Pustkuchen: Johanna Sebus
366
P24 Verlagsanzeige Gottfried Basses fiir Wilhelm Meisters Wanderjahre.... Korrespondenz-Nachricht P27 Erklärung des Verfassers der Pseudo= Wanderjahre
VIII
369 370 370
Zweiter Teil: Faksimiles Fouqué an Pustkuchen. ZEW, 7. Februar 1822, (Nr. 27) P25 Pustkuchen an Fouqué. ZEW, 8. Februar 1822, (Nr. 28) P25 Pustkuchen an Fouqué. ZEW, 9. Februar 1822, (Nr. 29) P45b, S. 5—37 [Auszug aus:] Friedrich Pustkuchen: Maria oder die Frömmigkeit des Weibes
373 373 375 376 377
Abbildungen
395
Literatur- und Siglenverzeichnis Texte Friedrich Pustkuchens Texte Johann Wolfgang Goethes Weitere Literatur
409 409 418 422
Personenregister
439
Abbildungsnachweise
448
IX
Problemstellung und Forschungsbericht Die andern Menschen sind gegen uns Reagentien. Durch diese kommt zum Vorschein, was in uns ist und was wir wirken. J. W. Goethe nach F. W. Riemer Wer kein Verehrer Goethes ist, für den sollte kein Raum sein auf der deutschen Erde. Franz Grillparzer
Die goethefeindlichen literarischen Streitschriften, die zu Lebzeiten Goethes erschienenen sind, wurden bislang so gut wie nicht gezielt erforscht.1 Die Quellensammlungen 2 zur kritischen Rezeptionsgeschichte von Goethes Werken weisen - in bezug auf die Streit- und Schmähschriften - gravierende Lükken auf und lassen, die aufgenommenen Genres betreffend, eine klare Konzeption vermissen: Literarische Kritik, literarisches Vorwort, bloße kritische Tagebuch-Äußerung, Pasquill- und Streitschrift-Auszüge stehen nebeneinander, wodurch eine Nivellierung erfolgt, die einem Verständnis des Phänomens der literarischen Streitschrift zuwiderläuft; diese erscheint nur als eine bloße kritische Äußerung, während sie im Einzelfall weitaus umfassendere Absichten haben kann.3 Zur begrifflichen Abgrenzung von Streitschrift und Pasquill vgl. Kap. 5. Bislang sind neben Pustkuchens Streitschriften nur die kritischen Wertheriaden verschiedentlich ausführlicher bearbeitet worden. Das Pasquill Goethe als Mensch und Schriftsteller von Köchy und Vogler wurde zwar oft erwähnt, aber noch nicht monographisch untersucht. Die einzige Dokumentation, die sich speziell mit der negativen Goethe-Rezeption zu Lebzeiten beschäftigt, stammt von Leo Schidrowitz (SCHIDROWITZ).
Vereinzelte zeitgenössische Pasquills und Streitschriften wurden nur in den Sammlungen von Robert Mandelkow (MANDELKOW I) und Michael Holzmann (HOLZMANN) auszugsweise aufgenommen. Hilfreicher als eine Sammlung versprengter kritischer Belegstellen verschiedenster Provenienz wären meines Erachtens: 1.) eine ergänzte Briefexzerptsammlung nach dem Vorbild der Bodeschen, 2.) eine Rezensionen-Sammlung auf breiterer Grundlage nach dem Vorbild von Oscar Fambach und 3.) eine separate Sammlung sämtlicher zeitgenössischer gegen Goethe gerichteter Pasquills und literarischer Streitschriften. Für den hier anvisierten Bereich bis Goethes Tod müßten in einer derartigen Kollektion - neben den Wertheriaden (zahlreiche Titel bei ENGEL [I], GUGITZ, HÜNICH, TORNIUS und im Katalog der Bibliothek der deutschen Literatur des Säur-Verlags), Srr/iz-Fortsetzungen (erschlossen von ALBRECHT und FRESENIUS), Anti-Xenien (vgl. die Bibliographie bei HOLZSCHUHER, S. 3942; etliche Titel bei LEISTNER, Anmerkungen S. 526-539) und den PustkuchenI
Eine derartige (im Goethejahr zu bemerkende) Forschungslücke ist nur angesichts der im neunzehnten Jahrhundert postum >endlich errungenen Klassizität< Goethes zu verstehen, die ihn in jeder Hinsicht - als Mensch und Schriftsteller - unantastbar machte. Das >Goethe-TabuExemplarischen< hat sich, wie Heinz Kindermann schon 1952 feststellte, höchst hinderlich auf die gesamte literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Goethe ausgewirkt5 und die objektive Betrachtung der >mißwollenden Zeugnisse triviale Stückes in denen sich [...] wenig mehr als die Beschränktheit der Parodisten spiegelt. [...] Gelungene Parodien sind auf Grund des hohen literarischen und weltanschaulichen Rangs des Gesamtwerks Goethes äußerst selten.9
Goethe galt seinen Apologeten als der allein maßgebliche Indikator zur Scheidung der Geister: Mit Recht sagte mir einstens ein Freund: >Man erkennt doch die Gesinnung und die Art eines Menschen unserer Zeit und unseres Landes nicht leichter, als wenn man Achtung gibt, wie er von Goethe, von seinen Werken und seinem Leben zu denken und zu empfinden pflegt.c10
Die Töne blieben aber nicht so verhalten; aus dem Indikator wurde schließlich der unanfechtbare Poesie-, Geist- und Kultur-Diktator. 1949 konnte man in einer Festschrift lesen: Längst verklungen sind die Mißtöne auf der Leier jener Neider und Nörgler, die zu Goethes Lebzeiten und Jahrzehnte noch nach seinem Tode ihr Talentchen aufgeblasen haben, wie die Frösche ihre Kehle, und gequakt haben, sie seien doch größer als Goethe. Sie sind zerplatzt und Goethe ist geblieben, als ein Weltheros der Dichtung und des Gedankens, unberührt von den geistverengenden Grenzen des Nationalismus und nur noch scheu abgelehnt von weltanschaulichen Gegnern, mit denen sich zu befassen verlorene Mühe wäre."
Kritische Kleingeister wurden zu erklärten Feinden der Klassik-Philologie. Stellvertretend für viele abschätzige Germanistenworte, Kleindichtung betreffend, sei Friedrich Sengles Wendung von >Poeten dritter und vierter Ordnungklein< abqualifiziert wird. Zu ihrer Abwehr scheint jedes Mittel erlaubt zu sein. Dabei werden allgemein ästhetisch-poetische und philosophisch-verstandesmäßige Aspekte von Kritik nicht unterschieden. Versucht man die spärliche Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Goethe-Opposition in den Blick zu bekommen, entsteht der Eindruck, daß allein die bloße Berührung des Themas durch deudiche Schläge auf den Forschungsgegenstand vorab entschuldigt werden muß, damit dem erwähnenden Übeltäter kein dauerhafter Schimpf anhaften bleibt. Am radikalsten wird die oppositionelle Minderdichtung bekämpft, indem man das Kleine überhaupt vom Tisch wischt. Die Verfechter des deutschen Klassik-Kanons haben ihr Dichtungsverständnis indes auf einem grundlegenden ideologischen Irrtum aufgebaut. Sie glauben, daß die deutsche Literaturwissenschaft im Falle Goethes und seiner Nachwirkungen nicht von Kulturpolitik zu unterscheiden sei. Das extreme Endergebnis dieser Betrachtungsweise ist die Verödung einst fruchtbarer literarischer Epochen. Das sogenannte >Kleine< und >Unbedeutende< wird immer weiter verkleinert, abgetan, abgekanzelt, abgeschmettert, bis nur noch ein halbes Dutzend > Weltheroen der Dichtung und des Gedankens< übrigbleiben - ein langweiliger Standardsatz literarischer Riesen. Aber was sind Riesen ohne Zwerge? Wie sollte die literarische Kultur des 19. Jahrhunderts ohne sie begriffen oder auch nur andeutungsweise rekonstruiert werden können? Friedrich Sengle konstatiert: In dieser Riesenmasse von Poesie droht die gute Dichtung unterzugehen [...]. 13
Dieses Urteil mag auf im einzelnen vertretbaren ästhetischen Grundsätzen beruhen. Aber es verkörpert nichts weiter als die Vermessenheit des wertenden Literaturhistorikers, der seine Aufgabe nicht länger im sachlichen, verständigen Erforschen, Verstehen und Informieren sieht, sondern im Zurechtstutzen seines (freilich und naturgemäß und wünschenswerterweise ausufernden) Forschungsgegenstands. Bevor aus Goethe der größte deutsche Klassiker (im Sinne von: der schriftstellerisch schlechthin Vollkommene) wurde, gab es eine vielleicht schwer zu überschauende, aber in ihrer Vielfalt ungeheuer aufschlußreiche Debatte über alle Aspekte seines Welt- und Kunstverständnisses. Die Kanonbildung ließ diese öffentlichen Auseinandersetzungen in Vergessenheit geraten. Es festigte sich der Eindruck, die literarischen Scharmützel seien es nicht länger wert, daß man sich mit ihnen beschäftige.
13
SENGLE II, S. 7 8 .
4
Versteht man literaturhistorische Sinngebung jedoch als einen kollektiven Prozeß und nicht als eine Verlautbarung tonangebender (da machthabender) Fachleute, wird man gut daran tun, die verschütteten kleinen Debatten wieder auszugraben und die Hintergründe der literarischen Streitschriften, kritischen Kontrafakturen und literarischen Mystifikationen aus den Abraumhalden herauszuwühlen, die nach der Kanonbildung beiseite geschoben wurden. Der Versuch einer rekonstruierenden Rezeptionsgeschichte eines einzigen >kleinen< Werks und Autors wirft dann freilich nebenbei, ohne es darauf angelegt zu haben, einige Schlaglichter auf diese Übergrößen-Philologie. Friedrich Pustkuchens Auseinandersetzung mit Goethe dürfte für eine künftige Oppositionsforschung, soweit sie sich mit dem Phänomen der AntiGoethe-Streitschriften beschäftigt, höchst aufschlußreich sein. Keine der anderen Oppositions-Unternehmungen, die zu Lebzeiten Goethes stattgefunden haben, hat sich so spektakulär abgespielt und eine vergleichbare Zahl von öffentlichen Reaktionen der Freunde, Feinde und von Goethe selbst hervorgerufen. Umso erstaunlicher ist es, daß die sogenannten >falschen< Wanderjahre14 Friedrich Pustkuchens in neueren Goethe-Monographien kaum erwähnt werden. 15 In Aufsätzen zur Goetheforschung herrscht weitgehende Unkenntnis über die literaturgeschichdichen Hintergründe des Streitunternehmens. Während ein Aufsatz von Hans Reiss16 über die Entstehung der zweiten Fassung von Goethes WaruUrjahren 1965 Pustkuchen mit keinem Wort erwähnt, kann Wolfgang Bunzel die Pustkuchensche Streitschrift 1992 wie eine kuriose Ausgrabung für die Stützung einer entstehungsgeschichtlichen Hypothese nutzbar zu machen suchen, was aber an mangelnden Kenntnissen über die Entstehungsgeschichte des Textes scheitert. 17
14
15
16
17
Die Bezeichnung hat sich in der Literaturwissenschaft eingebürgert; mit ihr ist keine inhaltliche Präjudizierung verbunden. Eine Erwähnung fehlt etwa bei: Heinrich Meyer (Goethe. Das Leben im Werk. Stuttgart, 1951), Richard Friedenthal (Goethe — sein Leben und seine Zeit. M ü n chen, 1963), Carl Otto Conrady (Goethe. Leben und Werk. Königstein, 1981), Curt Hohoff (Johann Wolfgang von Goethe. Dichtung und Leben. München, 1989) sowie bei Ernst und Erika von Borries (Die Weimarer Klassik. Goethes Spätwerk. München, 1991). - Bei Wolfgang Leppmann (Goethe und die Deutschen. Vom Nachruhm eines Dichters. Stuttgart, 1962) fehlt das Erscheinungsdatum; von >verschiedentlichen Neuauflagen< zwischen 1824 und 1828 ist die Rede - Goethes echte Wanderjahre erschienen dagegen laut Leppmann erst 1831. LEPPMANN, S. 72f. Reiss erwähnt pauschal »negative Ansichten< zur Form des Romans, nennt aber diesbezüglich keine zeitgenössischen Kritiker. REISS, 35. Vgl. Anmerkung 57.
5
In der Germanistik findet sich eine auf die Unterdrückung durch die zeitgenössischen Verteidiger Goethes zurückzuführende breite Skala der polemischen Erwähnung Pustkuchens. Sie reicht vom knappen Nennen und Übergehen18 bis hin zur heftigsten, wohlgemerkt: l i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Verunglimpfung. George Henry Lewes hat in The Life and Works of Goethe (1855) mit dem Prädikat >zelotischer HerrGipfel der Überheblichkeit^20 dem >peinlichen Pamphletschamlosen Angriff des Frömmlerserbärmlichen Machwerk, das längst der verdienten Vergessenheit anheimgefallen^23 das verfehlt, pfäffisch, unkünsderisch,24 ja >albernder schreiblustige Pfarrers 31 der >schreibwütige TheologePfaffelängstvergessene Landpredigeran sich unbedeutender Lyriker und Erzählen 39 oder als ein >bigotter Mann«, 40 >der einen Tag lang berühmt warin Heines Terminologiec als ein »Narr«.42 Karl Goedeke sprach von ihm als von einem >Dunkelmanne des neunzehnten Jahrhunderts, der über die ganze Spitzfindigkeit eines gebildet erscheinenden lutherischen Pfaffen gebietet«;43 Goedeke nannte ihn >zynischPustkuchen< nur Triviales (wurde jedoch angenehm überrascht),51 und Anneliese Klingenberg schrieb 1972, spät in Goethes eigene Versuche zur Desavouierung des Gegners einstimmend: Pustkuchen hat einen Roman gebacken [...]. [Hervorh. T.W.]52 Ein Paradebeispiel aufrichtigen literaturwissenschaftlichen Hasses ist folgende Stelle in Goethe won Georg Brandes (1922): Um diese Zeit lebte in dem Loche Wiebelskirchen bei Ottweiler ein kleiner protestantischer Geistlicher, ebenso dumm wie eingebildet, mit dem prachtvollen Namen Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen. Er war 1793 geboren, also nicht weniger als vierundvierzig Jahre jünger als Goethe [...]. Noch ehe Goethe die Wanderjahreherausgab, hatte Pustkuchen seine Fortsetzung der Lehrjahre fertig und veröffentlichte nun in der Stadt Quedlinburg (ohne Angabe des Verfassernamens) sein Werk Wilhelm Meisters Wanderjahre in vier Bänden. Ein herrliches Werk, um daraus Verstand zu gewinnen; nicht als ob es den geringsten Wert hätte - es ist süßlich und hohl und pharisäisch; sondern weil es einem die Auffassung der frommen Mitwelt von Goethes Wesen und Lebenswerk vermittelt. Ist die Blödheit hier auch nicht so konzentriert wie in Wolfgang Menzels Kritik [...] so ist es dennoch reine, destillierte Dummheit, doppelt ergötzlich durch ihre Etikette: Überlegene Sittlichkeit, tiefe Religiosität. Und dieser Art Dummheit ist immer >süß zu lauschen< wie Welhaven sagt. [Hervorh. T.W.]53 Bei genauerer Betrachtung dieser Verbalinjurie entpuppt sich die Brandessche Goethe-Stultitia und Pustkuchen-Ignorantia: >Um diese ZeitLoche< Wiebelskirchen 54 entfernt in Lieme. Er veröffendichte nicht >viernun< weder auf einmal noch >ehe Goethe die Wanderjahre herausgabt Pustkuchens Diskriminierung in der Literaturwissenschaft, die kurioserweise auch noch in Antiquariatskatalogen eine Fortwirkung findet,55 ist glei-
51
»Pustkuchen, der gar nicht so trivial argumentierte, wie sein Name vermuten läßt
52
KLINGENBERG, S . 1 4 .
53
BRANDES, S. 6 3 3 f .
54
In Wiebelskirchen wurde übrigens später der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker geboren. »Er erregte Aufsehen durch [...] eine engherzige, gegen Goethe gerichtete Parodie vom christlichen S t a n d p u n k t aus. Seine Lyrik und Erzäh-
[...].« HERMAND, S . 1 4 8 .
55
8
chermaßen deutliche Folge einer für Goethe streitenden Agitation und Ausdruck einer großen Verlegenheit: Durch eine massive zeitgenössische Gegenschmähung und fortdauernde literaturhistorische Ausblendung wurde ein nachhaltiges Wissensdefizit geschaffen, das eine sinnvolle und gerechte Beschäftigung mit Friedrich Pustkuchen als einem wichtigen und seinerzeit sehr ernstgenommenen Goethegegner unmöglich macht. Es herrscht Unsicherheit sowohl über Einzelheiten des Inhalts 5 6 als auch über bare literaturgeschichtliche Fakten (etwa die exakten Entstehungs- und Erscheinungsdaten 5 7 ). In offensichtlicher Unkenntnis des Textes wird Pustkuchens Streitschrift darüber hinaus wechselweise als >PalinodieParodieNachahmungSatirePersiflage auf die vermeindiche Sittenlosigkeit und Areligiosität der Goetheschen Hauptfiguren< der Lehrjahre62
oder
schlicht als >Spaßkirchlich-dogmatischer< 64 Christ, Pietist, 65 >idealistischromanti-
56
lungen sind unbedeutend [...][Hervorh. T.W.].« Antiquariat List & Franke (gegr. 1862 in Leipzig), Kat. 513, 1995, S. 147. Waltraud Maierhofer etwa läßt Pustkuchens Wilhelm >Bergmann< werden. MAIERHOFER, S . 2 3 .
57
Wolfgang Bunzel datiert das Erscheinen des ersten Teils auf den März 1821 (BUNZEL I, 62), eine von Ludwig Geiger mitgeteilte Brief-Äußerung Therese Hubers ohne Jahresangabe mißdeutend. Er zieht daraus die falsche Konsequenz, das Pustkuchensche Werk habe durch sein Erscheinen das Publikums-Interesse >absorbiert< (BUNZEL I, S. 65) und Goethe an der Beendung der ersten Fassung gehindert. Volker Bohn läßt die falschen Wanderjahre ohne Angabe von Gründen ebenfalls >wenige Wochen vor< Goethes Roman erscheinen. BOHN, S. 229. Daß sich Ludwig Geiger, ein Jahr nachdem er seinen funfbändigen Pracht-Neudruck der falschen Wanderjahre herausgegeben hatte, höchst erstaunt zeigte über die Tatsache, daß das Werk >keine Nachahmung« war, sondern ein gleichzeitig neben dem Original geschriebenes Werk (GEIGER I, S. 57), zeigt die Leichtfertigkeit, mit der man dem erklärtermaßen Minderwertigen beizukommen versuchte. Genauigkeit war für Geiger ein Fremdwort, wie schon Ursula Wiedemann festgestellt hat. WIEDEMANN, S. 95. - Winfried Freund (der den Titel mit Wilhelms Meisters Wanderjahre angibt) läßt das Werk 1821-24 erscheinen und spricht von einer nicht vorhandenen >EinleitungWanderjahreätherischpriesterlichspiritualistischerganz und gar nicht romantisch«. 68 Die Wirkung, gar der »Erfolg« 69 der falschen Wanderjahre wird - gemessen an der vehementen Ignoranz und der stereotypen Herabsetzung - seltsamerweise für übergroß gehalten. Der radikale Goethegegner< 70 Pustkuchen, so liest man, habe >einen erstaunlichen Grad an Zustimmung< 7 1 gefunden; die > Weisheit der falschen Wanderjahre«, heißt es, >klang in weiten Kreisen nachbreiten Front von Kritikern« 74 ist die Rede, die Schriften Pustkuchens seien >nahezu verhängnisvoll für das Überleben des goetheschen Nachruhms« 7 5 gewesen, alsbald seien gar >Heerhaufen mit wildem Getümmel wider Goethe aufmarschiert«, 76 und die Kritik sei >in hellen Flammen aufgelodert«. 77 Pustkuchen, so wird resümiert, habe >einen der größten Skandale der deutschen Literaturgeschichte verursacht«. 78 Angesichts dieses Ausgangsbefundes verfolge ich in meiner Arbeit zwei Ziele: Z u m einen möchte ich die literaturgeschichtliche Wissenslücke, die eine sinnvolle Beschäftigung mit den falschen Wanderjahren und ihrem Autor verhindert hat, so weit es geht schließen, zum anderen die bisherigen kritischen Würdigungen und Einschätzungen, wo es mir nötig scheint, berichtigen und ergänzen. Wenn auch die Diskriminierung Pustkuchens nicht rückgängig zu machen ist, so lassen sich doch zumindest die Ungerechtigkeiten, die von der kanonbildenden Philologie an ihm als an einem Zaunkönig und Minderdichter verübt wurden, als solche klar herausstellen. U m das erste dieser Ziele zu erreichen, werden die bislang unbeachtet gebliebenen oder unzureichend erschlossenen handschriftlichen Quellen gesichtet (z.T. erstmals öffentlich gemacht 7 9 ) und schwer zugängliches Gedrucktes
66
MANDELKOW I, S . L X f . MANDELKOW I I - l , S . 6 1 .
67
KRUCKIS, S . 1 2 3 .
68
OESER I, S . 2 9 .
69
70 71
DICHLER, S . 1 6 .
G31.S. 263.
G I L L E I . S . 214.
72
Georg Thudichum: Goethe und unsere Zeit. In: GJB 16 (1895), S. 99-106; hier S. 101.
73
GEERDTS, S . 2 5 7 .
74
BUNZELI, S. 6 7
75
LEPPMANN, S . 7 3 .
76
HEILBORN, S . 2 4 9 .
77
BUCHWALD, S . 5 2 .
78
KRUCKIS II, S . 2 4 7 .
79
PI, P2a, P3, P4e, P8, P17, P18. 10
zum Zwecke der philologischen Nutzung wieder publiziert.80 Eine literarhistorische Quellensicherung und -erschließung erwies sich besonders deshalb als sinnvoll, weil der in einem Heidelberger Wohnzimmerschrank ruhende handschriftliche Nachlaß Friedrich Pustkuchens dem vollständigen Zerfall entgegengeht und etliche seiner Druckschriften bereits verschollen sind. Der bisherige diesbezügliche Versuch von Wolfgang Merkel (Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen und die falschen Wanderjahre, 1975) wurde bei weitem nicht mit der erforderlichen philologischen Akribie durchgeführt. Merkels positive Intention bleibt zwar anzuerkennen, vom Ergebnis her betrachtet ist seine Arbeit jedoch ein ärgerliches Erschwernis der von ihm begründeten >PustkuchenforschungGroßteil der Quellen< wie er selbst richtig bemerkte, >noch nicht erschlossen«.82 Seine Zitate sind größtenteils korrumpiert, reichlich dezentral und überaus spärlich. >Sämtliche Quellen betrachtet« zu haben, dessen er sich rühmt, 83 ist leider für die wissenschaftliche Mitwelt nicht sehr hilfreich. Ich habe nicht (wie Helmuth Rogge im Falle seines Vorarbeiters Ludwig Geiger) >darauf verzichtet, alle Irrtümer, Auslassungen, Veränderungen und sonstigen Fehler« der Merkeischen >Arbeit zu verzeichnen«,84 um den Lesern eine kritische Stütze zu sein. Ein vollständiges Verzeichnis der Buchpublikationen Friedrich Pustkuchens sowie ein Auswahl-Verzeichnis der literaturgeschichtlich relevanten Nachlaßpapiere sollen die künftige Beschäftigung mit Pustkuchen erleichtern und auf eine solidere Grundlage stellen. Unter dem gleichen Gesichtspunkt der literaturgeschichtlichen Spurensicherung ist die Kurzbiographie zu betrachten, deren Einschaltung angesichts der verwirrenden und oft falschen Angaben in den bisherigen biographischen Versuchen85 dringend geboten war. Sie basiert auf den - im Anhang weitgehend veröffentlichten - autobiographischen Notizen Pustkuchens im Nachlaß,86 zahlreichen als Kopien vorliegenden Briefen (von ihm und an ihn), 87 amtlichen Quellen 88 sowie der 80 81 82 83 84 85
86 87 88
P22, P24, P25, Vorwort zu P45b. MERKEL, S. 13. MERKEL, S. 13. MERKEL, S. 13. ROGGE-2, S. 253; Anm. 1. Karl Goedeke: knappe, parteiische Skizze (GOEDEKE, S. 324f.); K. Binder: objektiver, aber ebenfalls kurzer Artikel in der Allgemeinen Deutschen Biographie A D B 26 (1888), S. 736ff.; ausfuhrliche, aber äußerst mängelbehaftete Schilderung bei Wolfgang Merkel (MERKEL, S. 14-49); daran orientiert: SCHOCK. P 1 . P 4 , P16. P8-P13.P17.P18. P14, P15.
Ii
verdienstvollen handschriftlichen Vorarbeit von Hellmuth Bleymehl (Bio= und Bibliographisches über Pustkuchen, 1929 - 1930). 89 Zur Absicherung der familiengeschichtlichen Angaben habe ich eine 1931 erschienene, umfassende genealogische Dokumentation von Bernhard Koerner im Deutschen Geschlechterbuch herangezogen. Um das zweite der genannten Ziele zu erreichen - die genauere Einordnung von Pustkuchens Wanderjahren in den literaturhistorischen Kontext — sammle ich zunächst schrittweise die kritischen Einwände im Text und setze sie zu traditionellen und zeitgenössischen politischen, pädagogischen und poetologischen Gedanken in Bezug. Durch das Einbeziehen der unbekannten oder vernachlässigten Schriften Friedrich Pustkuchens 90 versuche ich, 1.) Aufschluß über seine politischen Ambitionen zu gewinnen, die bisher entweder als nicht vorhanden ausgeklammert oder aber verzerrt wiedergegeben wurden, 91 2.) Pustkuchens pädagogische Zielsetzung, die bisher gar nicht oder ungenau 92 dargestellt worden ist, genauer zu umreißen und schließlich 3.) die generelle Überbetonung und Fehleinschätzung der religiösen Komponente seiner Goethe-Kritik zumindest ansatzweise zu berichtigen. Ein schematischer Vergleich der Wilhelm-Meister-Konzeptionen Goethes und ihrer Kontrafaktur durch Pustkuchen, der auf dieser Texterschließung aufbaut, soll die konkurrierenden Denkmodelle einsehbar machen, Pustkuchens Nähe zu Goetheschen 93 Positionen aufzeigen bzw. den Punkt, von dem die beiden programmatischen Wilhelme getrennte Wege gehen.
89
90
91
Wolfgang Merkel verzeichnet nur einen Artikel Bleymehls in der Saar- und Blieszeitung, der aber keine Quellenangaben enthält. MERKEL, S. 6. Außer den Handschriften und Zeitungsartikeln bzw. Annoncen (P1-P27) sind hiermit vor allem folgende Texte gemeint (vgl. Siglen im Literaturverzeichnis): P34, P35, ( P37, da verschollen, indirekt über eine Rezension), P39-P45 (davon wenig berücksichtigt: P44, P45; bislang unberücksichtigt: Vorwort zu P45b), P49, P51. Friedrich Sengle etwa spricht generalisierend vom >typisch restaurativen< Machw e r k . SENGLE 1 - 3 , S . 8 3 5 .
92 93
MERKEL, S. 115-122; S. 144-150. Ich verwende im folgenden Goethesch für alles, was von Goethe selbst stammt, und goethisch für goetheartig, goethehaft bzw. gleichwertig mit seinem Anspruch oder Ton - im Sinne der Verwendung des Wortes bei Karl August Varnhagen von Ense: »das heißt aber nicht Goethe'n nachgeahmt, sondern in gleichem Werte mit dessen Liedern« (VARNHAGEN I, S. 574]. 12
*
In der ersten eigenständigen und einzigen zu Lebzeiten Goethes erschienenen Goethe-Biographie (Johann Wolfyang von Goethes Leben, 1828) nennt HEINRICH DÖRING das Werk, das Pustkuchen sich >erlaubteKritikseltsame Erscheinung« der falschen Wanderjahre auf die frömmelnde Mode der Zeit< zurück, die auch das Schöne und Wahre so gern vor das Zuchtgericht einer einseitigen Moral und religiösen Dogmatik ziehen möchte. 9 5
stuft Pustkuchen 1 8 5 5 als christlichen Kritiker und Nachahmer der Parodie Nicolais ein, hebt aber zugleich die (Ernsthaftigkeit« seiner Fortsetzung des Wilhelm Meisterhervoi. Er ordnet die falschen Wanderjahre somit nicht dem parodistischen Genre zu.96 GEORGE HENRY LEWES
beachtet 1856 als erster die pädagogischen Implikationen der falschen Wanderjahre, indem er hinter Pustkuchens Kritik am Asthetizisten Goethe die >zeittypische Erkenntnis« vermutet, »daß die Poesie des Scheins nicht das richtige Bildungsmittel« sei.97
JULIAN SCHMIDT
greift in seiner mehrbändigen Goethemonographie 1886 Pustkuchens Kritik am ästhetizistischen Goethekult auf und vermutet eine negative Rückkoppelung zwischen den Wanderjahre-StK\Kchnften und der Neufassung der echten Wanderjahre von 1829.98
ALEXANDER BAUMGARTNER
setzt Pustkuchen im Vorwort zu den Wanderjahren in der Hellenschen Jubiläumsausgabe (1902-1907) an den Beginn der >frömmelnden«, >deutschtümelnden< und >liberal=doktrinären< Feindseligkeiten gegen Goethe.99 Creizenach listet die Kritikpunkte Pustkuchens auf, die >im wesendichen moralistisch=frömmelnder Art« seien; in der Aufzählung bemerkt er, daß es >nebenher< nicht an >deutschtümelnden Angriffen« fehle.100 Creizenach sieht (besonders in den Anfangskapiteln« der falschen Wanderjahre eine Stil-Parodie >der Eigentümlichkeiten des Goetheschen Altersstils«101 und WILHELM CREIZENACH
94 95 96 97 98 99 100 101
DÖRING (H), S. 4 0 6 . DÖRING (H), S. 406f. LEWES, S. 572f. SCHMIDT ( J U ) , S. 2 2 4 . BAUMGARTNER, S. 294f. Siehe auch Fußnote 125. CREIZENACH, S. XIV. CREIZENACH, S. XVI. CREIZENACH, S. XVI. 13
betont die positive A u f n a h m e gerade dieses (von i h m behaupteten) >parodistischen< Elements bei Menzel u n d Börne. Sein kurzer Inhaltsüberblick, der sich a u f den ersten B a n d beschränkt, wird von abwertenden B e m e r k u n g e n beschlossen. Creizenach erwähnt die kritischen E n t g e g n u n g e n I m m e r m a n n s , Tiecks, Grillparzers u n d Goethes Invektiven. Er bemerkt hierzu: Die Stimmen, die sich gegen dieses Unwesen erhoben, hätten schon etwas zahlreicher sein dürfen. 1 0 2 Pustkuchens >AfterweisheitKläglichkeit< seiner Vorwürfe, dieser P e i n l i chen u n d verständnislosen Beurteilung^ u n d das nach Schütz' B u c h Göthe
und Pustkuchen einsetzende >Hin- u n d Hergeklatsche< werden bedauert; ebenso der »skandalöse Vorgang< insgesamt, dessen Z e u g e G o e t h e sein m u ß t e . 1 0 3 MICHAEL HOLZMANN spricht 1 9 0 4 in seiner kommentierten Stellensammlung Aus dem Lager der Goethe-Gegner v o m gewaltigen Einfluß, den die ersten drei B ä n d e der falschen Wanderjahre a u f »Zeitgenossen u n d M i t k ä m p f e n ausübten, u n d betont insbesondere die W i r k u n g Pustkuchens a u f Friedrich Karl Julius Schütz, W o l f g a n g Menzel u n d A d o l p h Müllner. In seinem zurückhaltenden K o m m e n t a r zu einzelnen Stellen aus den falschen Wanderjahren
be-
spricht H o l z m a n n einige von Pustkuchens goethekritischen E i n w e n d u n g e n : den V o r w u r f des Virtuosentums u n d der d a m i t einhergehenden inhaltlichen Oberflächlichkeit, den O p p o r t u n i s m u s - V o r w u r f , die Klagen über G o e t h e s Unsittlichkeit u n d über charakterliche M ä n g e l seiner H a u p t f i g u r e n . 1 0 4 KARL GOEDEKES 1 9 1 3 erschienener bibliographischer Artikel über Friedrich P u s t k u c h e n - G l a n z o w 1 0 5 bildet die G r u n d l a g e für alle späteren Erschließungen der gedruckten Q u e l l e n . D a mehrere Bücher Pustkuchens bereits verschollen sind, wird Goedekes Liste auch die vollständigste bleiben. Seine H i n weise a u f die Wortführer der zeitgenössischen D e b a t t e s i n d A u s g a n g s p u n k t der Stellensammlungen L u d w i g Geigers, Klaus F. Gilles u n d W o l f g a n g Merkels, die jeweils eigene Entdeckungen hinzufügen. G o e d e k e erwähnt an spezifisch literarischen Äußerungen diejenigen von Karl I m m e r m a n n , A u g u s t G r a f von Platen, Franz Grillparzer, Heinrich H e i n e , L u d w i g Richter, Karl Förster, A c h i m von A r n i m , Friedrich d e la M o t t e F o u q u d sowie Goethes eigene Einschaltungen. G o e d e k e s Verzeichnis zeitgenössischer journalistischer Artikel zu
102 103 104 105
CREIZENACH, S. XVII. CREIZENACH, S. XVIIf. HOLZMANN, S. 29-41. >Glanzow< ist ein pseudonymes Namens-Anhängsel, das sich Pustkuchen während und nach der Goethe-Fehde zulegte. 14
den falschen Wanderjahren ließe sich nur durch Zufallsfunde ergänzen. Trotz aller bibliographischen Sachlichkeit wertete Goedeke Pustkuchens Werk insgesamt und speziell die falschen Wanderjahre gehaltlich vollkommen ab. LUDWIG GEIGER sieht in Pustkuchens Werk 1913 den >Ausdruck einer ganzen Zeitrichtung< und geht - in Anlehnung an eine Bemerkung in Georg Thudichums Aufsatz Goethe und unsere Zeit106 - davon aus, daß die Streitschrift eine tonangebende Wirkung auf den anhebenden oppositionellen >Chorusmerkwürdig< - in mangelndem Textverständnis. Geiger nimmt zwar die Schilderung der Raimundschen Familienverhältnisse (insbesondere die Existenz einer wahnsinnigen Tochterstarke geistige Depression nicht erklären. Da er die wesentliche kompositorische Rolle der Krankheitspassage nicht erkennt, vermag seine Bewertung des formalen Ganzen nicht zu überzeugen und gleitet ins Diffamierende ab: Die Komposition des Werkes ist fast noch schlechter als die Erfindung [...]. 108
Geiger bemerkt zwar zutreffend, daß Felix' Erziehung vergessen wird, verkennt aber, daß nicht die >Erziehungsgeschichte des Knaben< das >Wesentlichste< ist, sondern die Korrektur der Goetheschen Erziehung Wilhelms. Er interpretiert die Anstellung des jungen Dichters bei Hof nicht als wirklichen AbschlußTendenz< zu suchen, hätte ihm der streithafte Charakter des Textes mit seiner goethefeindlichen Zielrichtung auffallen müssen. Geiger behauptet, daß Pustkuchens Wilhelm wenig wandere - was gar nicht stimmt (er verändert etwa ein halbes Dutzend Mal seinen Aufenthaltsort) - und erkennt in den ruhigen, seßhaften Phasen in Wilhelms Biographie nicht die gegen das >BeweglichkeitsWanderjahre< heiße, auch >gewandert< werden müsse. 111 Geiger weiß nicht sicher zu sagen, ob die >Beilagen< zu den falschen Wanderjahren tatsächlich von Pustkuchen stammen. Erst schreibt er ihm Wilhelm Meisters Tagebuch und die Gedanken einer frommen Gräfin zu, 112 um ihm dann, sechs Seiten später, das Tagebuch wieder abzusprechen. 113 Auch an anderer Stelle, in dem 1914 erschienenen Aufsatz Unbekanntes über F. W. Pustkuchen, äußert er Zweifel an Pustkuchens Tagebuch-Verfasserschaft und behauptet, Johann August Apel habe es geschrieben.114 Sein hierfür angegebener Beleg beweist aber das Gegenteil. In Unkenntnis der wahren Verhältnisse überträgt Geiger den von Müllner und Schütz erhobenen Vorwurf, Apel sei der Verfasser der Wanderjahre - auf das Tagebuch. Geiger widerspricht der Diebstahlsauffassung, was die falschen Wanderjahre betrifft, in der >EinleitungWilhelm Meisters Wänderjahre« hat mit dem Verfasser des obigen keine Gemeinschaft.118 Im Originalbrief Friedrich Fleischers steht jedoch: Mit dem Verfasser des neulich erschienenen Buches Wilhelm Meisters Meisterjahre hat der Verfasser des obigen [i.e. des Tagebuchs-, Anm. T. W.] keine Gemeinschaft. Statt von >Wanderjahren« — wie Geiger abschreibt - ist in Fleischers Brief von >Meisterjahren< die Rede. Pustkuchen wollte nicht, daß Basse weiterhin seine, die Bassesche, Tagebuch-Ausgabe
als >Beilage< zu den falschen
Wanderjahren
verschickte, damit Fleischer, zu dem er nach dem Erscheinen der ominösen Meisterjahre
gewechselt war, kein buchhändlerischer Schaden daraus entstehe.
Das erklärt die Stelle bei Fleischer, die Geiger >merkwürdig< vorkommt. 1 1 9 Pustkuchen hat zweifelsfrei das Tagebuch verfaßt. Mit der Erklärung,
um deren
Abdruck er Fleischer brieflich am 7. August 1824 bat, 120 wollte er betonen, daß er mit den Meisterjahren
nichts zu tun hatte. Pustkuchen distanzierte sich
darin sowohl von dem >fistulierenden Sängen als auch von dem >hölzernen BasseZweiter Band< versehen ist. Er findet es »sehr merkwürdig, daß der zweite Band in einem anderen Verlage erschienen ist«. P59, S. 44. Geiger hatte offenbar die einbändige Bassesche Ausgabe und den zweiten Band der zweibändigen Fleischerschen Ausgabe vorliegen. P59, S. 44.
118
GEIGER I, S . 5 7 f .
119
»Der Leipziger Verleger gibt in einem Briefe vom 13. September 1824 Nachricht davon, daß er in betreff s e i n e r Veröffentlichung »Wilhelm Meisters Tagebuch« an 24 Blätter die Anzeige gesendet habe: >Der Verfasser des neulich erschienenen Buches »Wilhelm Meisters Wanderjahre< hat mit dem Verfasser des obigen keine Gemeinschaft.« Er beschwert sich in demselben Briefe darüber, daß Basse dies Buch als zweite Beilage der Wanderjahre versende. In dem Briefe findet sich die m e r k w ü r d i g e Stelle: »Ich habe das Werk nur aus Hochachtung gegen Sie und auf die falsche Versicherung genommen, daß Herr Basse zu Ostern keine Exemplare mehr debitieren dürfe« [Hervorh. T.W.].« GEIGER I, S. 57f. Vgl. P10. Vgl. P10 und P27, TA S. 371.
120 121
17
Trotz seiner Bedenken sucht Geiger im Tagebuch systematisch nach interessanten, »merkwürdigen« Stellen und listet etliche davon stichwortartig auf. Sie aber in einem goethekritischen Zusammenhang zu sehen, gelingt ihm nicht. >Manches liberal klingendeReligiöse< findet er erst in den Gedanken einerfrommen Gräfin, um dann nur desto heftiger dagegen zu wettern. Immerhin gelingt es Geiger, auch über die Gedanken eine Seite zu schreiben, nämlich darüber, warum es nicht nötig sei, sich mit ihnen zu befassen: Sonst aber ist das Buch kaum ein solches zu nennen, das mit der Literatur zu tun hat. [...] Da es sich hier also fast nur um ein Erbauungsbuch handelt [...] so ist es nicht nötig, ausfuhrlicher von dem Buche zu handeln. 124
Es ist für Geiger indessen doch nötig, sich auf dieses Werk einzulassen, weil er sich für die Betonung der religiösen, angeblich pietistischen Komponente der falschen Wanderjahre entschieden hat: Das Werk ist [...] weniger wichtig um seines Kunstwerts willen, denn als Zeugnis einer in konservativ=pietistischen Kreisen fest eingewurzelten Antipathie gegen Goethe [...]. 125
Geigers >Einleitung< läßt nach dem zweiten Drittel nicht bloß einen »chronologischen^ 26 Zusammenhalt vermissen. Zu Beginn einer abrißhaften Erörterung der zeitgenössischen Wirkung von Pustkuchens >Roman< will Geiger Fouqu& Gedichte >gleich abmachen«,127 kommt aber nach der ersten Zeile auf Abwege und verstrickt sich in die Erörterung der Goetheschen Bekanntschaft mit den falschen Wanderjahren. Er teilt eine Reihe von auf Pustkuchen bezüglichen Invektiven und Zahmen Xenien 128 mit und ergänzt Goedekes
122
P59, S. 44. P59, S. 44f. 124 P59, S. 48f. 125 P59) s 43 Wilfried Barner sieht Geigers religiöse Kritik an den >Pfaffen< von seinem jüdischen Glauben her motiviert und hebt v. a. Geigers Aversion gegen den Jesuiten Alexander Baumgartner und dessen ab 1879 erschienene GoetheMonographie hervor. Baumgartner beruft sich mit seinem Angriff auf den >ersatzreligiösen Goethekult« implizit auf Pustkuchens Ablehnung der Vergötterung Goethes als des >Anthropomorphisms der Poesie«. BaRNER, 32. P45b, S. 10. 126 P59, S. 57. 127 P59, S. 50. 128 P59, S. 51-56. 123
18
Hinweise auf zeitgenössische Anti-Pustkuchenstellen durch eigene Funde bei Voß, Börne, Tieck, Jacob Grimm, Therese Huber, 129 Böttiger und Rochlitz. Er geht einige der von Goedeke aufgeführten Rezensionen der falschen Wanderjahre durch, ohne jeweils mehr als absprechende Tendenzen zu betonen.130 Schließlich findet er unvermutet zu Fouques Gedichten zurück. >Merkwürdigerweise< zählt er ihrer drei, sagt jedoch sogleich, daß er sich das erste nicht habe »beschaffen können«.131 Das laut Geiger >zweite< FouqueGedicht ist realiter Fouques erstes Gedicht an den »Verfasser von Wilhelm Meisters Wanderjahre und Wilhelm Meisters Tagebuchwackeren< Schrift sieht er (in mehrfach schiefer Analogiebildung) eine Wiederholung der proreuchlinschen Streitschriften. Wie in diesen [...] Sammlungen ein Chor bedeutender Stimmen d e n a n g e griffenen Helden gegen die D u n k e l m ä n n e r verteidigen sollte, so sollte in der Varnhagenschen Sammlung e i n e W o l k e v o n Z e u gen e i n t r e t e n für den P a t r i a r c h e n u n d ihn vor der Ungebühr schützen, die ihm von einem Verwegenen anget a n worden war [Hervorh. T.W.]. 144
Dieses Ende seiner Einleitung charakterisiert noch einmal Geigers Goethebild und zeigt, daß seine Neuausgabe der falschen Wanderjahre ein blindes prestigeträchtiges Ausgraben und sinnloses Zurschaustellen war - warum die >Ungebühr< wieder aufs Tapet bringen? Wilhelm Wundt durfte zu recht verstimmt sein. 145 In Goethezeit und Gegenwart. Die Wirkungen Goethes in der deutschen Geistesgeschichte kommt REINHARD BUCHWALD 1949 erstmals betont sachlich auf Friedrich Pustkuchen zu sprechen. Er hält die falschen Wanderjahre ebenfalls
P59, S. 50. 139 P59, s 65f. Daß dies so nicht stimmt, werde ich in Kapitel 8 näher erläutern. 1 4 0 P25, TA S. 375f. 1 4 1 P59, S. 51. 1 4 2 P59, S. 66-73. 1 4 3 P59, S. 74. Ueber > Wilhelm Meisters Wanderjahm. In: F. W. Gubitz: Der Gesellschafter, August 1821; Wiederabdruck bei FAMBACH, S. 252-270. 1 4 4 P59, S. 74. 1 4 5 WUNDT, S. 336. 138
20
fälschlicherweise für einen >pietistischen< Beitrag 1 4 6 und würdigt das Werk als ein >merkwürdiges< Buch. Die Absicht des Verfassers, so Buchwald, sei >im Grunde eine produktive Auseinandersetzung* 1 4 7 gewesen. Goethe habe die
Lehrjahre >an einer entscheidenden Wende im Werdegang seines Helden abgebrochene Was lag näher, als daß eine neue Generation zeigte, was aus ihrer Lebenshaltung heraus dieser Held des Goetheschen Bildungsromans weiter erleben u n d als Lösung seiner Aufgaben finden mußte? Für Pustkuchen war es eine christliche Wendung, u n d er sprach sicher vielen Deutschen nach 1813 aus dem Hetzen. 1 4 8
Buchwald sieht in der Kritik der falschen Wanderjahre nicht eine isolierte (bzw. — wie Geiger — richtungsweisende) Leistung Pustkuchens; sie vermittele vielmehr zwischen der älteren und der jüngeren Goethekritik: Wer literarische Ursprünge feststellen will, wird also die falschen Wanderjahre< hervorholen, nur daß auch sie aussprachen, was längst gedacht wurde. 1 4 9
Hengstenberg, Menzel und Köchy / Vogler werden von Buchwald als direkte Nachfolger Pustkuchens gesehen, den er insgesamt zu den christlichen Kritikern Goethes rechnet. Buchwald möchte die Hintergründe der zeitgenössischen Goethegegnerschaft: auch theoretisch begreifen. Er sieht die deutsche Geistesgeschichte als eine >unablässige Abfolge von Auseinandersetzungen der drei Urelemente Germanentum, Christentum und Antike< und sucht die nie abreißende Kette der Goethe-Kritiker vor diesem allgemein-weltanschaulichen Hintergrund zu verstehen. Goethe, so Buchwald, habe eine dauerhafte Synthese der >Urelemente< herstellen wollen, doch seine Gegner hätten diesen Versuch als gescheitert angesehen. M a n meinte, daß zum mindesten die nationalen u n d die christlichen Tendenzen des deutschen Geistes in Goethe ihre Entsprechung noch nicht gefunden hätten. Deshalb meldeten sie ihre Ansprüche an, rebellierten gegen ihn, stellten ihre Lehren u n d Dichtungen gegen ihn. 1 5 0
In seiner kurzen Erwähnung der falschen Wanderjahre behauptet ROBERT HERING 1952 in Wilhelm Meister und Faust und ihre Gestaltung im Zeichen der
Gottesidee, daß das Werk in einem >streng kirchlich-dogmatischen Geist< verfaßt sei. Neben dieser verknappenden Fehleinschätzung sind jedoch vier He-
146 147 148 149 150
BUCHWALD, BUCHWALD, BUCHWALD, BUCHWALD, BUCHWALD,
S. S. S. S. S.
52. 105. 105. 106. 106. 21
ringsche Beobachtungen hervorzuheben. Erstens hält er die Veröffentlichung von Wilhelm Meisters Tagebuch für eine Reaktion Pustkuchens auf die Erwähnung von Wilhelms Tagebuch in den echten Wanderjahren. Zweitens vermutet er (auf eine Wendung Arnims in der Einleitung zu Wunder über Wunder,151 1826, anspielend) eine direkte Wirkung der Gedanken einer frommen Gräfin auf die Wanderjahre Goethes von 1829: In Bezug auf sie ist die Vermutung nicht abzuweisen, daß die Aphorismen in Makariens Archiv mit dazu beitragen sollten, >jene leidigen Nebel zu zerstreuen, welche die sinnig-geistigen Regionen Deutschlands zu obscurieren bei dem niedrigsten Barometerstand sich anmaßen.« 152
Drittens sieht Hering einen nachhaltigen Einfluß von Göthe und Pustkuchen auf die zweite Version von Goethes Wanderjahren. Schütz' Kritik nennt er >hart, obgleich oder gerade weil< er >die Bedeutung Goethes« anerkenne: Es ist mit Bestimmtheit anzunehmen, daß Goethe die Schrift gekannt und manchen Einwand wohl auch selber erhoben und dann später in der zweiten Fassung berücksichtigt hat. 1 5 3
Hering bezieht viertens erstmals die Bemerkung von den wunderlichen Schicksalen« in Goethes Anzeige (1826) auf die falschen Wanderjahre, 154 F R I E D R I C H S E N G L E betrachtet - ebenfalls 1952 - die falschen Wanderjahre als ein biedermeierliches Werk und betont die politisch beharrende Tendenz, indem er sie eine konservative Kontrafaktur«155 zu Goethes Roman nennt. Er wiederholt dieses Urteil noch einmal betont abwertend: Der Text sei ein >anmaßendes, typisch restauratives Machwerk«,156 was sachlich in dieser Verkürzung nicht haltbar ist. Pustkuchen gilt Sengle als der >bekannte christliche Gegner Goethes«.157
Eine Abhängigkeit der Menzelschen Goethekritik von Pustkuchens falschen Wanderjahren wird von WALTER DlETZE (Junges Deutschland und deutsche Klassik, 1957) behauptet.158 Dietzes Beobachtungen finden sich nahezu iden-
151
ARNIM, 6 2 9 .
152
HERING, S . 3 4 7 .
153
HERING, S . 3 4 7 .
154
HERING, S . 3 4 8 .
155
SENGLE 1-2, S . 9 0 7 .
156
SENGLE 1-3, S . 8 3 5 .
157
SENGLE 1-3, S . 1 5 3 .
158
DlETZE II, S. 26. Eva Becker schließt sich im Nachwort zu Menzels Die deutsche Literatur 1981 dieser Auffassung an. BECKER, S. 5. 22
tisch bereits 1904 bei Michael Holzmann (Aus dem Lager der ner).™
Goethe-Geg-
In Von Mainz nach Weimar kommt JOST HERMAND 1969 bei der Beschäftigung mit Heines Goethekritik auf Pustkuchen zu sprechen, dessen Argumentation ihm >gar nicht so trivial erscheint, wie der Name vermuten läßtdurchaus< mit Heines >parallel laufenational-burschenschaftlichen< Wolfgang Menzel zur Seite. Pustkuchen erscheint als Popularisator einer spiritualistischen Kunstauffassung, die von der schroffen Trenn u n g des Profanen u n d des Heiligen ausgeht u n d damit das klassisch-romantische Zentralproblem einer Dialektik von Prosa u n d Poesie endgültig zugunsten eines ätherisch-priesterlichen Poesiebegriffs entscheidet [...]. 1 7 7
Trotz ihrer Rolle als >Popularisatoren der mit Novalis und F. Schlegel einsetzenden idealistisch-romantischen Goetheopposition< qualifiziert Mandelkow
172 173
174 175 176
177
GILLE I, S. 2 2 2 . Geigers N u m e r i e r u n g der F o u q u e - G e d i c h t e verwirrt auch Gille, der Voß' Bemerk u n g über F o u q u i s >zweites< G e d i c h t a u f F o u q u i s Artikel Ein Wort über Göthe's Helden von 1 8 2 2 bezieht. GLLLE I, S. 2 3 6 . GILLE I, S . 2 3 7 . GILLE I, S . 2 3 8 . D i e A u s f u h r u n g e n zu d e n falschen Wanderjahren i m 1 9 9 7 erschienenen dritten B a n d des v o n Bernd W i t t e u.a. herausgegebenen Goethe Handbuchs reproduzieren Gilles Darstellung v o n 1 9 7 1 . Vgl. G 3 1 - 3 , S. 2 0 9 - 2 1 2 . MANDELKOW I, S. L X .
25
Pustkuchen und Menzel als >Narren< ab - freilich nur >in Heines Terminologie^ 178 WOLFGANG
MERKEL
versucht (neben den eingangs bereits gewürdigten
Bemühungen um den Nachlaß Friedrich Pustkuchens) in seiner pädagogischen Dissertation 1975 die falschen Wanderjahre zu interpretieren. Dieser Versuch scheitert meines Erachtens durch das grundlegende Mißverständnis, Pustkuchens Text sei ein eigenständiger Roman und als ein solcher in seiner >eigenen, von Goethe unabhängigen Gesetzmäßigkeit« 179 zu verstehen. Merkel bezeichnet den Text als einen >Gegenentwurfim wahren Geiste Wilhelm Meisters« fortsetzen durfte und konnte, warum dieser Roman noch einmal geschrieben werden mußte.181 Pustkuchen schrieb den Roman eben nicht >noch einmal« und schrieb andererseits keinen eigenständigen Roman< — er schrieb genauer besehen gar keinen Roman, sondern eine literarische Streitschrift in einer romanesken Einkleidung. Die äußere Form ist nur Träger der Goethekritik; die Fortsetzung bleibt vollends auf das durch Goethes Lehrjahre vorgegebene Grundproblem und Figurenarsenal festgelegt. Merkel übernimmt Pustkuchens eigene, in diesem Punkt bereits brüchige Selbstinterpretation, ohne sie kritisch zu hinterfragen: Wenn auch der Charakter Wilhelm durch Goethe bereits festgelegt und vorgezeichnet ist, fährt der Autor in seinen Gedanken fort, so zeigt Wilhelm etwas in seinen Anlagen, das über die Darstellung und Deutung Goethes hinausgeht.182 Merkel vernachlässigt dementsprechend den kritischen Charakter des Textes durchgehend und reduziert die Betrachtung auf die Roman->Kontrafaktur< der Erziehungsgeschichte des falschen Wilhelms. Auch wenn Goethes Wilhelm Meister schwerlich als >Idee im Sinne Piatons«183 zu denken ist, kann ich Merkel darin zustimmen, daß Pustkuchen
178
I, S. LXIf. Karl Robert Mandelkow hat diese Erwähnung in Goethe in Deutschland nahezu unverändert übernommen. MANDELKOW II-l, S. 61-65.
MANDELKOW
179
MERKEL, S . 2 .
180
MERKEL, S . 2 .
181
MERKEL, S . 1 0 0 .
182
MERKEL, S . 1 0 1 .
183
MERKEL, S . 1 0 2 .
26
Goethes >Idee< besser >zu fassen< versucht habe,184 indem er seinen Wilhelm sich zum Künstler ausbilden und entwickeln läßt. Dieses Entwicklungsziel aber - in Pustkuchens Sinn - quasi als Entelechie185 der >Idee Wilhelm Meistere aufzufassen, bringt literaturwissenschaftlich keinen Erkenntniszuwachs und ermöglicht keinen kritischen Zugang zum Text. Merkel findet >vier z.T. gut faßbare Gliederungsstrukturen< (>1. Jahresablauf und Jahreszeiten, 2. Raumstrukturen, 3. Pädagogisch-didaktische Strukturen, 4. EntwicklungsstrukturenHauptstrukturStrukturen< bleibt deskriptiv. Merkel appliziert nur eine symbolische Folie — noch dazu unvollständig, da der >Winten in den vermeintlich allharmonischen Entwicklungsprozeß nicht hineinpassen will und daher fortgelassen wird.188 Aus der Gleichsetzung von >Frühling< und >Umorientierung< bzw. >Bestimmungslosigkeit< oder sittlicher Bekehrung«,189 von >Sommer< und >ideeller Verankerung«, >KlarheitBesonnenheit,Herbst< und innerer Einkehrhöchster Reifekosmische< Einbettung von Wilhelms Erziehung bleibt bloße Behauptung, da die belegenden Textstellen fehlen. Auch aus den >räumlichen< Strukturen (deren Abgrenzung von den >kosmischen< von mangelndem physikalischen Verständnis zeugt) ist keine Erkenntnis zu gewinnen.192
184
MERKEL, S. 102.
185
Merkel sagt >UrbestimmungWilhelm und die Ursprünglichkeits 193 >Wilhelm und die Sittlichkeit, 1 9 4 >Wilhelm und das Schicksal«, 195 >Wilhelm als Dichten 1 9 6 - ist zusammenhanglos. Die sachlich unkorrekt referierten pädagogischen Zielsetzungen Pustkuchens verstärken diese Inkohärenz noch. Bemerkenswert ist das Resultat, das Merkel aus seiner Interpretation gewonnen haben will: Zusammenfassend können wir also feststellen, daß anfangs Wilhelm von C o u c y vollständig abhängig ist. Mit der seelisch-geistigen Weiterentwicklung des Helden nehmen die Einwirkungen des H a u p t m a n n s immer weiter ab, bis schließlich Wilhelm als sittlich voll entwickelt, seiner Bestimmung gerecht werdender Mensch dasteht. 1 9 7
Das freilich hätte ohne weiteres direkt aus der abstrakten, dem Text-Konzept Pustkuchens entnommenen Idee von >Erziehung< abgeleitet werden können. Merkel versucht ferner, Pustkuchens Roman als Darstellung einer >Moralästhetik< zu lesen. Im Ergebnis ist dieser Versuch die Explikation der Wortschöpfung in der Überschrift - das Konstatieren einer bei Pustkuchen vorfindbaren Identifizierung von >schön< und >gutBekenntnissenDichterspiegels«, als Künstlerroman, - als mögliche Interpretation des Schön-Sittlichen.« MERKEL, S. 158. 193
194
28
Im Versuch einer literarischen Wertung« (= Bewertung) vermischen sich grober hermeneutischer Unverstand und mangelnde Kenntnis literaturwissenschaftlicher Termini. Merkel bedauert, daß >die qualitative Bewertung« eines >Romans im Stile von Pustkuchens Wanderjahren schwierig sei«, da im 20. Jahrhundert nicht mehr die Qualitätsbegriffe der Zeit >um 1 8 2 0 « gelten, 200 fuhrt aber diese ephemere Überlegung nicht weiter. Er erkennt, was Klaus F. Gille bereits vor ihm feststellte - daß der Text keine »Parodie« sei - und greift angesichts der sich aufdrängenden Frage, um was es sich denn sonst noch handeln könnte, zur rettenden Staigerschen Kategorie der >Palinodie«.201 Es ist nicht ersichdich, was diese Genre-Einordnung mit »literarischer Wertung« oder »Bewertung« zu tun hat. Auf jeden Fall entzieht sich Merkel hier die eigene Romanthese, indem er den siebenbändigen Prosa-Text zu einem zweiteiligen Gedicht erklärt. 202 Druckgeschichdiche Erkenntnisse über die Frage des genauen Erscheinungstermins der falschen Wanderjahre gewinnt Merkel nicht. Die »Beilagen« vermag er nicht einzuschätzen, weil er von einem organischen Romanzusammenhang aller Teile des Werks ausgeht, womit er - nebenbei gesagt — auch bei Goethes Wanderjahren seine Schwierigkeiten hätte. Die »Beilagen« zu den »falschen Wanderjahren« bedeuten für das Hauptwerk daher eher eine Belastung als eine notwendige stoffliche, gehaltlich-inhaltliche Entlastung und Bereicherung. Eine eigendiche Funktion dieser Beigaben kann man deshalb auch nicht feststellen [...].203 Merkels wirkungsgeschichtliche Darstellung geht über Geiger und Gille nicht hinaus. Pustkuchens literarische Begegnung mit Fouque wird nicht näher erforscht. Neu und aufschlußreich ist allein die literaturgeschichtliche Darstellung der Auflösung von Pustkuchens Inkognito. 204 R A L P H S C H O C K S 1 9 8 6 publiziertes Lebensbild Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen ist weitgehend Wolfgang Merkels Arbeit verpflichtet und enthält keine eigene inhaldiche Einschätzung. Schock übernimmt von Merkel das falsche
200
MERKEL, S . 1 5 9 .
201
M E R K E L , S . 1 5 9 . STAIGER, S . 1 7 0 .
202
»Demnach haben wir es bei dem Werk Pustkuchens um eine Palinodie zu tun.« M E R K E L , S. 159. Eine Palinodie ist ein »Gedicht in zwei Teilen, dessen erster kränkende oder gar beleidigende Äußerungen enthält, die im antithetischen zweiten unter Benutzung der gleichen Formen, Worte, Reime widerrufen wird, v. a. in (neulateinischer) Dichtung [...].« Otto F. Best: Handbuch literarischer Fachbegriffi. Frankfurt a. M„ 1980, S. 187.
MERKEL, S . 1 0 4 . 204 M E R K E L , S. 68-70. 203
29
Geburtsdatum, 205 datiert mit Ludwig Geiger das Erscheinen der falschen Wanderjahre unrichtig auf Ostern 1821, 206 berichtet fälschlich von einer >Prosaarbeit< Eduard Mörikes über Pustkuchen207 und gibt seltsamerweise an, Pustkuchens Briefe an Goethe befänden sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. 208 Sicher zutreffend, da selbst recherchiert, dürften die Angaben über Pustkuchenstätten in Wiebelskirchen209 sowie einige kommentierte Literaturangaben bzgl. heimatkundlicher Aufsätze aus dem Saarland sein. Schocks Resümee, was diese Aufsätze betrifft, kann leider auch für seinen gelten: Bei den zahlreichen heimatkundlichen Aufsätzen stehen allerdings Aufwand und Resultat in einem ärgerlichen Mißverhältnis [...]. 210
In dem Aufsatz Enträtselte derjahren
Welt. Anmerkungen
zu Pustkuchens
Falschen
Wan-
beschäftigt sich HANS-MARTIN KRUCKIS 1 9 8 7 mit den utopischen
Aspekten des Textes und sieht den >Reiz< bei der Lektüre des Textes in der Durchdringung >schwer kompatibler EbenenMortifizierung< des Goetheschen Wilhelm-Meister-Konzepts durch die >Emanzipation< der Pustkuchenschen Wilhelm Meister-Figur.212 Seltsamerweise wirft Krukkis dem Text implizit genau das vor, was er ihm unterstellt - >utopisch< zu sein. Das Skandalon liegt in der Konstruktion prästabilierter Harmonie, deren Legitimität anzuzweifeln nicht nur verwerflich, sondern schlicht unsinnig ist. Philiströs läßt die tautologische Geschlossenheit dieser Harmonie internen Argumenten keine
205 206 207 208 209
210 211 212
SCHOCK, S. 122. SCHOCK, S. 126. SCHOCK, S. 131f. SCHOCK, S. 123. »Bald nach seinem Tode geriet Pustkuchen an seiner letzten Wirkungsstätte in Vergessenheit. Als der Neunkircher Pfarrer Kiffer zum 100. Geburtstag seines früheren Amtskollegen einen Erinnerungsartikel verfaßte, waren auch von seiner letzten Ruhestätte kaum mehr Spuren zu entdecken: >Das alte Holzkreuz lag auf dem Boden, und das Grab selbst sah aus wie ein Schutthaufen.« [...] Was ist heute an Spuren von Pustkuchens Wirken an der Saar geblieben? Ein auf Gemeindekosten gepflegtes Grab auf dem alten Teil des Wiebelskircher Friedhofs, der heute als Park angelegt ist. Ein Gedenkstein mit Tafel [...]. Eine kleine Straße im Ortsteil >DorfEnträtselung< des Goetheschen Wilhelm-Meister-Romans im Sinne einer >EntschädigungWunschbiographiespekuliertekein harmloser parodistischer Scherz< war, 220 was seines Erachtens insbesondere aus Goethes weiterer Beschäftigung mit den Wanderjahren hervorgeht: Goethes Umarbeitung und Erweiterung der ersten Fassung von 1821 bis zur endgültigen Gestalt von 1829 geschah nicht unbeeinflußt von diesem kritischen Konkurrenzunternehmen. 221
WOLFGANG BUNZEL schließlich entdeckt 1992 in Pustkuchens Streitschrift den entscheidenden Störfaktor in Goethes Wanderjahre->V\MAi2Xionssxi2X.zgie< 2 2 2 Durch die falsche Datierung eines Briefes von Therese Huber (3. März 1821 statt 3. März 1822) schließt er auf einen verfrühten Publikationstermin der falschen Wanderjahre. Als Ende Mai 1821 zur Frühjahrsmesse mit dem >Ersten Theil< der Wanderjahre endlich der krönende Abschluß der Serie erschien, ergab sich folgende merkwürdige Situation: Bereits seit Ende Februar war ein anonymes Werk mit dem gleichen Titel auf dem Markt. 2 2 3
Dieses Mißverständnis entkräftet zwar nicht Bunzels These, daß die falschen Wanderjahre die Fortsetzung der 1821 er Fassung der echten Wanderjahre ver-
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BOHN, S. 238. »Gewiß - er hatte sich an einem Großen vergriffen. Er hatte aber auch Parteinahme gefunden. Er trieb das Spiel weiter, aber nicht auf die Spitze. Sein schriftstellerischer Ehrgeiz jedenfalls wurde durch den Coup der zweifachen Erscheinung< des Wilhelm Meister nicht befriedigt. Aber sein Name wird - voraussehbar für alle Zeiten - mit nichts anderem als dem Namen Goethes verbunden bleiben. D a s freilich war es, was Goethe ahnte. Genau das war es, was Goet h e a u f b r a c h t e ! « B O H N , S. 2 3 8 .
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SCHULZ, S . 3 4 0 .
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SCHULZ, S. 3 4 0 .
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BUNZEL I , S. 6 1 .
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hindert haben (was bereits Robert Hering 1952 feststellte), verbietet aber die Schlußfolgerung, daß der erste Teil von Pustkuchens Werk den Boden für die Aufnahme der tatsächlichen Wanderjahnt bereiten224 konnte. (Bunzel wiederholt die falsche Datierung in dem 1997 erschienenen Buch Poetik und Publikation. Goethes Veröffentlichungen in Musenalmanachen und literarischen Taschenbüchern.225) Daß Pustkuchen von den Vorabdrucken der echten Wanderjahre Kenntnis hatte, 226 ist in der Forschungsliteratur zuvor niemals eigens betont, weil als ganz selbstverständlich angenommen worden.
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BUNZEL I, S . 6 2 .
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BUNZEL I I I , S . 2 3 8 .
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BUNZEL I, S . 6 5 .
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1 Ein alter Plan Goethe schrieb eigentlich für sich. Friedrich Wilhelm Riemer
Entstehung der echten Wanderjahre Am 25. Mai 1821 schrieb Goethe an Karl Friedrich Graf Reinhard: Diesmal hat wirklich Jubilate 1 wie ein Gespenst vor mir gestanden. So alt man auch wird, bleibt man immer unmäßig im Unternehmen und, wie lüsterne Weiber der Geburtsschmerzen uneingedenk, sich bald wieder zu gefahrbringenden Vergnügungen hinreißen lassen, so sind wir Autoren doch auch [...].2
Die gefährliche Unternehmung, von der Goethe sprach, war der lange projektierte Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden, den er in einem äußerst produktiven, störungsfreien Jahr beendet hatte. Ahnte der Verfasser bereits jene >wunderlichen Schicksales die sein neuestes >Büchlein< in der Folge erfahren mußte< und die ihm später bei Veranstaltung der Neuausgabe 1829 >guten Humor und Lust genug gaben, dieser Produktion neue, doppelte Aufmerksamkeit zu schenken«?3 Nachdem ihm Schiller 1796 als erster den Gedanken an eine Fortsetzung von Wilhelm Meisters Lehrjahre nahegebracht hatte, zu der er >denn auch wohl Idee und Lust«4 verspürte, wie die ältesten erhaltenen Paralipomena zu den Wanderjahren5 belegen, wollte er zunächst - laut einer Auflistung vom 28. Mai 1798 für Cotta, die zeigen sollte, was man in den Propyläen >allenfalls zu erwarten« habe - Briefe eines Reisenden und seines Zöglings, unter romantischen Nahmen, sich an Wilhelm Meister anschliessend 6 verfertigen. Goethe verfolgte diese Absicht jedoch nicht weiter. Erst im Mai 1807 wurde die continuatio erneut in Angriff genommen. Nach der vorbereitenden Lektüre der Märchen 1
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Jubilate« heißt im christlichen Kirchenjahr der dritte Sonntag nach Ostern; Beginn der Leipziger Buchhändlermesse. Die Jubilate-Messe dauerte eine Woche bis Kantate (vierter Sonntag nach Ostern) und wurde entweder nach dem Anfang oder nach dem Ende als Jubilate- oder Kantate-Messe bzw. allg. als Ostermesse bezeichnet (im Gegensatz zur Herbst- oder Michaelis-Messe). LGB, S. 151. 1821 fiel Ostern auf den 22. April - die Jubilatemesse in Frankfurt und Leipzig dauerte daher vom 13. bis 20. Mai. Vgl. FAHRENBACH, S. 116. G20, S. 270. G 1 4 . S . 554. G21-2, S. 231. G4, S. 839-844. G19-1,S. 23.
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aus Tausend und einer Nacht,7 der Cent nouvelles nouvelles,8 und des DekamerorP wurde dem Schreiber ein erstes Stück von >Wilhelm Meisters Wanderjahren< - wahrscheinlich der erste Teil der Rahmenerzählung - in die Feder diktiert. 10 Von Mai bis Juni 1807 entstanden in Jena außerdem Die neue Melusine (Mai), 11 Die gefährliche Wette (1.-2. Juni) und ein Teil von Der Mann von fünfzig Jahren (3. Juni). In Karlsbad setzte Goethe am 4. und 5. August die Arbeit am Text fort, nachdem er bereits >unterwegs< auf der Fahrt >Motive zu den Wanderjahren« gesehen oder entwickelt hatte;12 er übertrug Die pilgernde Thörinn nach der anonymen französischen Vorlage Lafolle en pelerinage13 und beendete den Mann von fiinfzig Jahren. Um sich der beifälligen Aufnahme beim Publikum zu versichern, las er große Teile des Geschriebenen den Weimarer Freundeskreisen vor 14 und überarbeitete während des nächsten Karlsbader Aufenthaltes am 25. bis 29. Juni 1808 Die pilgernde Thörinn. Am 8. Juli 1808 traf die Erzählung mit den Worten Beykommendes wünsche für den Damencalender geeignet15 bei Cotta ein. Goethe plante eine Art Novellenzyklus mit Rahmenerzählung, wobei die zyklische Grundform ausgeprägter als in den Unterhaltungen deut7 8
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G16-1.S. 723 (19. und 26. April). G16-1, S. 724 (3. und 5. Mai). Das Werk erschien als anonymer Druck 1486; Goethe las wohl den 1786 erschienenen Nachdruck der Kölner Ausgabe von 1701. G16-1, S. 725 (7. Mai). »17. Morgens um 1/2 7 Uhr angefangen, von Wilhelm Meisters Wanderjahren das erste Kapitel zu diktieren. / 18. Um 1/2 7 Uhr in den Wanderjahren fortgefahren mit dem 2. Kapitel.« G16-1, S. 726. Friedrich Riemers Tagebuch: »So. 17. 5. 1807 / Zu Goethe. Flucht am Ägypten diktiert.« G8, S. 183. Friedrich Riemers Tagebuch: »Do. 21. 5. 1807. Zu Goethe. Die neue Melusine.« G8, S. 185. »Bis zum 22.5. notiert das Tagebuch täglich Diktate zu den Wanderjahren.« G8, Kommentar S. 887. Goethes Tagebuch: »26. [5.] / Um 5 Uhr von Schleiz abgefahren. Unterwegs Motive zu den Wanderjahren.« G8, S. 190. - Goethe plante, die Wanderjahre ursprünglich ganz in Böhmen anzusiedeln. Indiz dafür ist der Name >Nachodine< (abgeleitet vom Städtenamen Nachod; N. war ein Zentrum der böhmischen Baumwollspinnerei und -Weberei). Peter Horwath: Zur Namengebung des mußbraunen Mädchens< in >Wilhelm Meisters Wanderjahrenkollektives< ist. 18 Im Taschenbuch >auf das Jahr 1810< waren die ersten vier Kapitel der Wanderjahre in der auffälligen Form einer Verlagsankündigung vorabgedruckt worden. Goethe ließ dem eigentlichen Text eine separate, im Stil eines Titelblattes gedruckte Seite mit der Überschrift »Wilhelm Meisters Wanderjahre« vorschalten."
Vor dem zweiten Kapitel war der Hinweis eingerückt: Hier folgt im Original ein Brief an Natalien, wodurch die Wanderjahre eingeleitet und an die Lehrjahre angeknüpft werden. 2 0
Damit wurde unterstrichen, daß das im Entstehen begriffene Buch eine Fortsetzung von Wilhelm Meisters Lehrjahre war. Das Interesse an den Wanderjahren, das schon auf mehrfache Weise (Erwähnung in Briefen, Privatvorlesungen, Ankündigung, Vorabdruck) beim Publikum wachgehalten worden war, wurde durch die öffentliche Antwort auf eine anonym erschienene, inzwischen durch Wolfgang Bunzel Karl August Varnhagen von Ense zugeschriebene, Litterarische Anfrage im Deutschen Beobachter21 noch weiter angeschürt. An dieser (möglicherweise auf Veranlassung von Rahel Varnhagen entstandenen)22 >Anfrage< ist nicht nur der von Bunzel ins Auge gefaßte publikationsstrategische Aspekt bemerkenswert. Goethe nutzte freilich die willkommene Gelegenheit, die Neugier an den Wanderjahren zu beleben. Die Art, wie dies geschah, zeigte jedoch eine höchst eigentümliche Konspiration mit den ihm wohlgesonnenen Lesern. Varnhagen vollzog in seinem Text die Spaltung der Goethe-Leserschaft in
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BUNZEL I, S. 61. BUNZEL I, S. 6 0 . G 2 4 - 1 . S . 259. BUNZEL I, S. 4 1 . G 2 8 - 1 / 2 , S. 8 9 9 . N a c h Wolfgang Bunzels Recherchen war sie zuerst erschienen in: »Der deutsche Beobachter oder die Hanseatische Zeitung von Staats- und Gelehrten Sachen [...] N. ro 32, Hamburg. Freytag, d. 3. März 1815«, S p . l , Z . 39-74. BUNZEL II, S. 3 1 0 . BUNZEL II, S. 312. 37
übelwollende Schreier [...] die in ihrer hyperkritischen Bewunderung nur ihren neidvollen Haß, den sie jetzt unverhohlen gegen unsere großen Männer zu äußern wagen 23
und in >edlere und stillere Kreise< des deutschen Publikums, das jetzt mehr als jemals seines größten Dichters würdig, der Werke desselben empfänglich und bedürftig 24
sei, und legte Goethe stellvertretend für alle goetheanischen Stillen im Lande seine dringenden Wünsche, seine innigen Bitten und Erwartungen ans Herz, 25
doch endlich mit den Wanderjahren herauszukommen. Goethe sah in dieser groben Spaltung der Leser in eine Pro- und eine Contra-Partei offenbar nichts Ungehöriges und überging die Erwähnung des Zwei-Klassen-Publikums nicht etwa wortlos, sondern antwortete >dem gegen ihn wohlgesinnten Landsmanne< in der Nr. 130 des Morgenblattsfür gebildete Stände vom 1. Juni 1815: Ich wünsche, daß diejenigen Leser, welche ein günstiges Vorurteil für dieses Unternehmen gefaßt, darin mögen bestärkt, und mir dadurch der Muth erhöht werden, das Ganze nochmals vorzunehmen und abzuschließen.26
Goethes Antwort ist das Zeugnis einer tiefen Verunsicherung über die eigene Wirkung. Er fürchtete sich vor bestimmten Teilen des Publikums und war daher jeder Aufmunterung - erst recht flehentlicher Bitten der Gutgesinnten — überaus bedürftig. Deutlich hatte er in der Antwort neben äußeren Gründen für die Verzögerung der Wanderjahre die inneren Umständet 7 erwähnt, die seinen >guten Muth< zum letzten >EntschlußMuthebenso makabre wie symptomatische Schauspiel« jedoch direkt seinen >Erwartungen< entsprochen, was Anneliese Klingenberg annimmt, 3 0 hätte er also tatsächlich hellseherische Fähigkeiten besessen, wie eingangs vermutet, wären die falschen Wanderjahre 1821 wohl eher allein erschienen.
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G14, S. 489f. Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden / Pustkuchen: Wilhelm Meisters Wanderjahre. KLINGENBERG, S. 1 4 .
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2 Friedrich Pustkuchen D e r Dichter selbst m u ß ftir den Leser die schönste D i c h t u n g seyn. Er m u ß sich als eine liebliche, harmonische Gestalt zeigen, in der nichts Widersprechendes, die in sich vollendet ist. Friedrich Pustkuchen Der Mensch in seiner doppelten N a t u r ist gleich einem Esel s a m m t dem, der darauf reitet. Friedrich Pustkuchen
BiographischerUmriß: 1 7 9 3 - 1 8 2 1 Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen 1 kam am 4. Februar 1793 2 in Detmold als fünftes Kind von Anton Henrich 3 Pustkuchen (>PustkokeFriedrich Pustkuchen«. Pustkuchens Biographie kann nur in Umrissen nachgezeichnet werden. D i e bisherigen Skizzen bei Karl G o e d e k e (GOEDEKE, S. 324f.), K . Binder ( A D B 2 6 ( 1 8 8 8 ) , S. 7 3 6 - 7 3 8 ) und Wolfgang Merkel (MERKEL, S. 14-49) sind in meiner Darstellung eingehend revidiert u n d ergänzt worden. Wichtige Abweichungen in einzelnen Lebensdaten u n d Interpretationen habe ich jeweils angemerkt. Falsches G e b u r t s d a t u m bei MERKEL, S. 14: »10. 2.«. Falscher Vorname bei MERKEL, S. 14: »Heinrich«. Bei MERKEL, S. 14 fälschlicherweise »Niederkrüger«. » D a s Geschlecht Pustkuchen ist urkundlich seit 1411 m i t T o n y n g e s Pustekoke zu Blomberg in Lippe nachweisbar. D o r t entwickelte es sich zu einem angesehenen Bürgergeschlecht. Drei Söhne des J o h a n n Ernst Pustkoke, t 1 7 8 0 [...], und zwar Friedrich Wilhelm, Friedrich A d o l f u n d J o h a n n Friedrich, zogen nach Amsterd a m . Des J o h a n n Friedrich N a c h k o m m e n s c h a f t blüht heute in Holland unter d e m N a m e n Poestkoke. Der im L a n d e L i p p e verbliebene jüngere Bruder der beiden, Anton Henrich Pustkuchen, t 1830, [...] Kantor zu D e t m o l d , w a r d e r Vater von Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen, bekannt durch seine Schrift W i l helm Meisters WanderjahreBeiträge zu den D e n k würdigkeiten der Grafschaft Lippe usw.Die deutschen Familiennamen geschichtlich, geographisch, sprachlich« von Dr. Heintze, bearbeitet von Prof. Dr. Cascorbi] den N a m e n als A s c h e n k u c h e n deutet. D i e Erklärung >blase den Kuchen« [Fußnote: D i e D e u t u n g als >Befehls=Namen< hat überhaupt etwas
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Gemeinde, Seminar-, Musik- und Elementarlehrer, außerdem aber auch ein regional populärer Komponist und Musikschriftsteller.6 Anton Henrich Pustkuchen förderte früh die geistige Entwicklung des Sohnes durch profunde Unterrichtung in Musik, Schrift und Bibellektüre. Insbesondere Friedrich Pustkuchens Musikalität (er spielte Klavier, Flöte und Violine) 7 erhielt hier ihre praktische Grundlage. Weil ihn der Vater mitnahm, wenn er am Det-
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Unwahrscheinliches an sich. Der Herausgeber] kommt wohl kaum in Betracht.« KOERNER, S. 319-321. - In August Friedrich Potts Die Personennamen (1859) wird >Pustkuchen< mit >aufgeblasen< übersetzt: »wie z. B. die spanischer Wind« oder ein anderes >Windbeutel< geheissenen Gebäcke.« POTT, S. 102. - Der Name >Pustkuchen< könnte - entgegen der Annahmen von Preuß und HeintzeCascorbi (s.o.) — irgendwann vom Beruf übernommen worden sein. >Pustkuchen< war wie >Stopfkuchen< und >Eßkuchen< ein Spitzname des Bäckers. BAHLOW, S. 393 - >Pustkuchen< ließe sich auch als Bezeichnung für das Resultat des in-den-Ofen-Pustens verstehen; so »darf man nicht in den Ofen blasen, sonst backt das Brot ab«. ABERGLAUBE-1, Sp. 1356. Die naheliegende Vermutung, die noch heute gebräuchliche, scherzhafte Wendung >Pustekuchen< könnte sich vom literaturhistorischen >Ausgang< der Pustkuchen-Affäre herschreiben, ist volksetymologisch nicht zu belegen. >Pustekuchen< im Sinne von >Denkste!< oder >War wohl nichts!« hat als einzigen bezeugten Vorläufer im 19. Jahrhundert das in Berlin gebräuchliche >Ja, Kuchen!«, das als Antwort auf eine unerfüllbare Aufgabe verwendet wurde. Eine weitere Wurzel von >Pustekuchen< liegt wahrscheinlich in der verbalen Konstruktion »jemandem etwas husten bzw. pustem (vgl. GRIMM 111-13 N-Quurren Sp. 2278; GRIMM 111-10 H-Juzen Sp. 1978) in Verbindung mit der Vorstellung vom >Abbacken< und der Bedeutung >Windbeutel< (luftgefüllte, leere Hülle). - Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen hatte sechs Geschwister: Sophia Katharina Wilhelmine Elisabeth (12. 8. 1782 | 30. 1. 1843) Johanna Charlotte Henriette (18. 10. 1787 | 12. 11. 1788) - Catrina Sophie (1. 11. 1789| 3. 11. 1789) - Luise (8. 10. 1790 | 11.6. 1818) - Johann Ludwig Friedrich (14. 2. 1796 | 3. 6. 1858) - Christian Carl August (5. 11. 1799 | 27. 2. 1801). Vgl. KOERNER, S. 337. Von einer in Koerners Liste fehlenden Schwester, Hermine, geboren >1801 einen Tag vor dem kürzestem, d.h. am 20. 12. 1801, wird in Friedrich Pustkuchens Erinnerungen (PI, TA S. 330) berichtet. Im Nachlaß befindet sich ein zehnseitiger Brief an diese Schwester (mit der Anrede »Geliebte Freundin meines Herzens«), den Merkel in seinem Verzeichnis fälschlich als »Brief Pustkuchens an seine Frau« einordnet. »Der von A. H. Pustkuchen komponierte Choral >Er lebt, et lebt, ist herrlich erwachtNotärzte< waren nichts Ungewöhnliches, wie Dietrich Rössler in d e m Aufsatz Pfarrhaus und Medizin ( 1 9 8 4 ) ausführt. Die seit dem 18. J h . sich ausbildende >PastoralmedizinLungenerkrankung< zugezogen, die chronisch nachwirkte und jahrelangen Auswurf mit sich brachte. Im Frühjahr 1 8 1 4 trat er eine Hauslehrerstelle bei Johann Georg Arnold Jacobi, 3 4 dem zweiten Sohn des Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi, auf dem schloßähnlichen Wohnsitz Pempelfort 3 5 an der Düssel bei Düsseldorf
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Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie (1797): »[...] das letzte Ziel der modernen Poesie kann kein anderes sein als das höchste Schöne, ein Maximum von objektiver ästhetischer Vollkommenheit.« SCHLEGEL (F), S . 116. bei MERKEL, S. 251 falsch zitiert: »Rapsodische«. Pustkuchen selbst sprach von 1812 als dem Jahr seines ersten Hervortretens (PI la, 1). bei MERKEL, S. 21 falsch zitiert: »rein menschlichen«. bei MERKEL, S. 21 falsch zitiert: »poetischen«. P20. Merkel fuhrt als Nebengründe noch Kriegsereignisse an (Göttingen wurde von den Befreiungskriegen tangiert), außerdem Pustkuchens Befürchtung, beim dogmatischen Examen nicht gut genug abzuschneiden. MERKEL, 21 f. Johann Georg Arnold Jacobi (21. 3. 1768 | 20. 3. 1848). »Der in seiner Jugend äußerst renitente Knabe wurde von seinem Oheim, dem Celler Oberkonsistorialrat Johann Friedrich Jacobi (1712-1791), von Matthias Claudius und der Fürstin Gallitzin erzogen, wo er jeweils die Flucht ergriff. Goethe erwirkte, wenn auch widerstrebend, auf Betreiben Jacobis [Brief an Goethe vom 7. 4. 1793] bei Carl August von Sachsen-Weimar Eisenach für das Sorgenkind den Titel eines Regierungsrats. [Dekret vom 17.9.1793]. Nach seiner Tätigkeit als Amtmann der Grafschaft Wickrath bei Rheydt avancierte Georg Arnold zu einem Großherzoglich Bergischen Stadtrat in Düsseldorf, wo sein Zuständigkeitsbereich außer dem Schulwesen auch den Straßenbau und den Ausbau der Schiffahrtsstraßen umfaßte.« CHRIST, S. 2 9 4 .
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Auf Goethes Seite lebte die >innige Geistesverwandtschaft mit >Fritz< nur noch in der beschönigenden Erinnerung an das Jahr 1774. In Aus meinem Leben hieß es:
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an. Ob Pustkuchen dort auch mit dem alten Friedrich Heinrich Jacobi zusammentraf, der seit längerem keinen Brief mehr von seinem einstigen Freund Goethe erhalten hatte36 und sich seinerseits im November 1815 mit versöhnlichen Briefentwürfen abmühte,37 ist nicht zu ermitteln. Die verwickelten Beziehungen des Hauses Jacobi zu Goethe (literarisch, philosophisch und verwandtschaftlich38) dürften dem Hauslehrer indes nicht gänzlich verborgen geblieben sein. Ob ihm die Geheimnisse des Schlüsselromans Woldemar von Jacobi sen. höchstpersönlich erläutert oder angedeutet wurden, muß freilich Spekulation bleiben.39 Das nationale, patriotische Element des Pustkuchen-
»Wir gelangten nach Düsseldorf u n d von da nach Pempelfort, d e m angenehmsten u n d heitersten Aufenthalt, w o ein geräumiges Wohngebäude an weite wohlunterhaltene Gärten stoßend, einen sinnlichen u n d sittigen Kreis versammelte. D i e Familienglieder waren zahlreich u n d an Fremden fehlte es nie, die sich in diesen reichlichen u n d angenehmen Verhältnissen gar wohl gefielen.« G 6 , S. 6 8 3 . 36
A m 10. Mai 1 8 1 2 hatte Goethe ihm zuletzt geschrieben, als Reaktion a u f j a c o b i s Pantheismusvorwurf gegen Schelling in [F.H.J.]: Von den Göttlichen D i n g e n u n d ihrer O f f e n b a r u n g (Leipzig, 1811): » D i e Divergenz zwischen uns beiden war schon früh genug bemerklich, u n d wir können uns Glück wünschen, wenn die H o f f n u n g , sie, selbst bei z u n e h m e n d e m Auseinanderstreben, durch N e i g u n g u n d Liebe immer wieder ausgeglichen zu sehen, nicht unerfüllt geblieben ist.« G 2 1 -3, S. 191. Goethes Brief an Knebel v o m 8. April 1 8 2 2 enthielt dagegen seine wirklichen G e d a n k e n über Jacobis Philosophie u n d ihr beider Verhältnis: » D a ß es mit Jacobi so enden werde und müsse, habe ich lange vorausgesehen, und habe unter seinem bornierten [...] Wesen selbst genugsam gelitten. W e m es nicht zu K o p f e will, daß Geist und Materie [...] gleiche Rechte für sich fordern [...], der hätte das D e n k e n längst aufgeben, und a u f gemeinen Weltklatsch seine Tage verwenden sollen.« G 2 1 - 3 , S. 180.
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G 2 2 , S. 176-182. M a r i a Starck, geboren 16. 11. 1 7 8 0 , die Mutter von Friedrich Heinrichs H a l b schwester Anna Catharina Charlotte Jacobi (29. 2. 1 7 5 2 | 12. 4. 1832), war eine blutsverwandte Nichte der Frau Rath Goethe. Vgl. CHRIST, S. 2 9 2 . G o e t h e hatte im Oktober 1779 J o h a n n a Schlosser von dem ihm mißliebigen >Geruchi des Woldemar geäußert, die a m 3 1 . Oktober Friedrich Heinrich Jacobi brieflich von dieser Äußerung unterrichtete (BODE-1, S. 2 5 3 ) . In seiner Antwort v o m 10. November 1779 schilderte Jacobi, was man ihm über Goethes Kreuzig u n g des Buches hinterbracht hatte (Goethe nagelte es angeblich mit den Buchdeckeln an eine Eiche, >wo es so lange flattern sollte, als ein Blatt daran wäreKonsistorialrat< u n b e k a n n t e n N a m e n s a u s M ü n s t e r ) b e s c h r i e b F r i e d r i c h P u s t k u c h e n später a u s der E r i n n e r u n g : [J]unger M a n n v. Geist und Talent, der aber in seiner eigenen Eitelkeit einen so bedeutenden Feind habe, daß tüchtige Leistungen zweifelhalt sind. Eitelkeit u. Dünkel haben ihn von dem Wege gründlicher Ausbildung abgezogen. Beifall hat ihn geblendet. 4 1 P u s t k u c h e n verließ P e m p e l f o r t , w o er n a c h eigener M i t t e i l u n g v o n s e i n e n e r n s t h a f t e n S t u d i e n z u sehr a b g e b r a c h t w o r d e n w a r , 4 2 bereits i m S o m m e r 1 8 1 5 w i e d e r u n d w u r d e (nach e i n e m k u r z e n A u f e n t h a l t in R h e y d t 4 3 ) i m A u g u s t E l e m e n t a r l e h r e r a m W i l b e r g i s c h e n I n s t i t u t in E l b e r f e l d . E r m e l d e t e sich freiwillig zur H e e r e s f o l g e u n d w u r d e v o n d e r m i e d e r g e s e t z t e n C o m m i s s i o n
Sammlung< ist wahrscheinlich das Liederbuch für Schulen zum frühesten Unterrichte im Singen (1818, zweite Auflage 1822) gemeint. Die Völkerschlacht hätte eigentlich vier Jahrestage haben müssen, denn sie dauerte vom 16. bis zum 19. Oktober 1813. - Karl Friedrich G e o r g von Hünerbein ( 1 7 6 2 - 1 8 1 9 ) war nach seiner Ernennung zum Generalmajor 1813 zunächst K o m m a n d e u r von einer der beiden Yorkschen Kavalleriebrigaden (die andere führte Horn); nach mehreren Gefechten und Verwundungen trug er - wegen einer Verwundung am Reiten gehindert - zu Fuß kommandierend zum Sieg bei Möckern am 16. Oktober 1813 bei. A m 8. Dezember 1813 wurde er daraufhin zum >Generallieutenant< ernannt. 1814 organisierte er die Bewaffnung der bergischen Truppen und war während dieser Zeit im H a u s Jacobis zu Gast. A D B 13 (1881), S. 4 1 0 .
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Konsistorialrat [?] aus Münster an das >königl. wirkl. geh. Staats=Ministerium d. Geistl., Unterrichts= u. Medizinal=AngelegenheitenPsyche in der Schmetterlingshüllesein weißes und sein schwarzes FlügelpferdBeide sind Geheime Räte, beide sind vornehm, beide alt, beide launisch, beide zeremoniell, beide lieben vor allen Dingen, sich mit Weiberkoterien zu umgeben; der einzige Unterschied ist, daß Goethe seine Hühner tritt, während Jacobi von seinen Hühnern getreten wird dennals Waibelzur Hoffnung längern Lebens zurückgekommen* - nicht fiir das Lehramt geschaffen und fürchtete die »unabänderliche FormLa Belle-Alliance« hieß ein vor O r t gelegener G u t s h o f ) erst am 18. Juni 1815 stattfand, Friedrich Wilhelm aber schon am 16. Juni bei der Niederlage Blüchers in Ligny sein Leben verlor, ist die Pustkuchensche Verknüpfung historisch nicht korrekt. P15b, S. 1. P I , T A S. 335. P I , T A S. 335.
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Die Aufsätze über die 4 berühmtesten Männer der Völkerwanderung waren 40 an der Zahl so gewaltig ausführlich, daß ich kaum durchkommen konnte und den Fleiß der Schüler komisch verwünschte.53 Er spielte mit dem Gedanken, nach Heidelberg zu gehen. 54 Unter dem Eindruck der wiederholten Lektüre von Jean Pauls Titan55 beschloß er, sich als freier Schriftsteller zu versuchen. In einem Brief an den Nürnberger Buchhändler Leonhard Schräg vom 26. Januar 1821 hat Pustkuchen die Vorbildlichkeit Herders bei seinen eigenen Idealvorstellungen von Volksaufklärung betont. >Ein würdiger Lehrer der Menschheit zu werdenkleinen Bitte< widersprachen sich das v o r d e r g r ü n d i g e Anliegen (die B i t t e u m R e d a k t i o n u n d V o r w o r t zu einer V e r ö f f e n t l i c h u n g ) u n d die Selbstzweifel. Spätestens hier wird klar, d a ß der A n l a ß n u r v o r g e s c h o b e n war u n d der eigentliche Z w e c k des Briefes darin bes t a n d , ein persönliches Urteil G o e t h e s über d a s eigene künstlerische Talent zu erhalten. Wollen Sie diese Bogen durchsehen und ausstreichen welche Stücke Ihnen nicht gefallen? ich will die Lücken mit freien Oden, welche die poetische Ansicht von Gott, Natur, Licht, Ideal, Tod, Ton, Liebe, Wein, Frühling p. enthalten und mit einer Reihe Fabellieder, welche die Fabel poetisch fassen sollten ersetzen. Dann bäte ich Sie noch um eine nur ganz kleine Empfehlung für den Buchhändler, eine Vorrede oder sonst etwas - denn für Neujahr habe ich niedergelegt, quittire Ort und Schuld und weis noch nicht, ob die Welt den flüchtigen Vogel aufnimmt oder wieder in ein Bauer sperrt, für einen Stand, dem jugendliche Kräfte, die sich selber bilden müssen noch nicht gewachsen sind. Einst will ich so gerne viel seyn, warum soll ich nicht bis zum 30. Jahre in mir selber leben, wo so viel zu richten und zu schlichten ist und früher wirken, als der reinste, lieblichste aller Menschen es einst sich möglich glaubte ? Der Raum endet, vielleicht habe ich verwirrt geredet, denn ich mag nicht abschreiben aus Furcht alles umzuwerfen und wenig zu bessern; wenigstens fühle ich auf meinem Herzen noch so vieles, was durch die enge Feder nicht so strömen will, wie es in der Brust fließt. Sie begreifen fremde Menschen sagt man so leicht, können Sie denn mein Gemüth nicht begreifen? Wenige Freunde haben es gekonnt, Künsder am leichtesten: möglich muß es seyn, weil ich mir selber klar bin. Vielleicht hilft die Handschrift; wenn ich auch nicht in allen Stunden so bin, lange nicht in allen, so ist sie doch ohne Heuchelei und wo Schwäche wäre müßte sie sich von selber verrathen. Mit Tiecks Sternbald fand ich oft in mir auffallende Ähnlichkeiten - aber fort das, was weis ich, es Ihnen an meinem Wesen und s. Begreifen liegt? Es ist noch Knospe, nur die Liebe und die Kunst drangen wie Blätter noch hervor. / Elberfeld bei Brinkmann Fr. Pustkuchen / an der luth. Kirche den 4. Nov. [18]15. 7 2
70
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Brief vom 29. Dezember 1821: »Ich hätte hundert Gründe Ew Excellenz meine Gedichte zu schicken. Ich will nur einen erwähnen: Ich liebe Sie. [...] Ich küsse die heilige Hand, die mir und dem ganzen deutschen Volke den Weg zum H i m melreich gezeigt hat, und bin Ew. Excellenz gehorsamster und ergebener H . Heine. C a n d Juris.« HEINE 11-20, S. 46. P 8 a , T A S . 357. P 8 a , T A S . 357. 53
Der Briefschreiber fühlte selbst, daß die eigentliche Frage eine
ganz
außerliterarische oder gewissermaßen präpoetische, das eigene Leben und den eigenen künstlerischen Drang betreffende war, und hängte ein Postskriptum an, in dem er sein Innerstes nach Außen kehrte, auf daß es vor den höchstrichterlichen Augen Gnade und Verständnis fände. Goethe sollte Pustkuchens genialischen Impuls wahrnehmen, der sich ihm selbst in seiner rapiden, ungeregelten und unzügelbaren Entwicklung wie etwas Krankhaftes zu zeigen schien. Der Briefschreiber verlangte nichts Geringeres als Goethes Absolution f ü r jede weitere künsderische Betätigung. Außer der Scheu des Jünglings vor der Kunst, ist noch etwas, darin ich Ihnen gewiß unrecht thue, das ich darum geradewegs sagen muß. Oft ist mir, als verständen die Alten das jugendliche Leben nicht mehr, als dächten sie die Hülle ihrer Erfahrungen in die allgemeine Charakteristik jugendlichen Gemüthes; sie können nicht wieder in Schatten legen, was ihnen helle geworden, wenn sie auch wieder auffrischen, was seinen Glanz verloren. Die Liebe konnten Sie in Ihrer Ottilie ruhig gewaltig, im Eduard leidenschaftlich zeichnen, aber ich muß es doch sagen, können Sie einen jungen Mann denken, der noch kein Mädchen als seine Schwestern geküßt und doch mehrmal, einmal zwei vor 13 Jahren zugleich geliebt hat? Der vor zwei Jahren in Göttingen noch um seine Unwissenheit ausgelacht wurde und doch bei sich streitet, ob er Heinse, Ariost — oder Klopstock u. a. in einigen Ansichten beistimmen soll? Der mit einem Panpsychismus die Natur füllt, alles so gerne auf das Göttliche bezieht, für dessen Bild er das Schöne hält und der doch die Worte Tugend, Pfleiß p. haßt und fast niemal bätet? Der sein Leben so gerne freigäbe und es doch so hoch hält? Der nur zwischen Gernrode und Crefeld, Minden und Cassel - von Detmold aus, die Welt gesehen und doch über das Höchste darin zu reden meint? Der noch nie von Menschen betrogen worden und den die Besten ahnend verkündigen, wieviel man ihn täuschen werde? Werden Sie nicht über ihn lächeln und selbst seine Offenherzigkeit, die ihm Mühe genug macht, Naivetät nennen? meine komische Laune in meiner ernsten begreifen? 73 Goethe reagierte nicht. Daran dürfte aber nicht der Inhalt des Briefes schuld gewesen sein. Goethe bekam von allen Seiten derartige Anfragen. Falls ihn Pustkuchens Briefe persönlich erreichten, wird er über das Anliegen dieses >jungen Mannes< in etwa das gedacht haben, was er 1 8 3 2 in der Erwiderung
Wohlgemeinten
an >junge Dichter< formulierte:
Nur allzuoft werden mir von jungen Männern deutsche Gedichte zugesendet mit dem Wunsch: ich möchte sie nicht allein beurteilen, sondern auch über den eigentlichen dichterischen Beruf des Verfassers meine Gedanken eröffnen. So sehr ich aber dieses Zutrauen anzuerkennen habe, bleibt es doch im einzelnen Falle unmöglich, das Gehörige schriftlich zu erwidern, welches mündlich auszusprechen schon schwierig genug sein würde. 74 73 74
P 8 a , T A S . 358. G I 4 , S. 778. 54
H ö c h s t w a h r s c h e i n l i c h hatte der a m t i e r e n d e Sekretär ( d e m u. a. das A u f n e h m e n der K o r r e s p o n d e n z o b l a g 7 5 ) die S e n d u n g gar nicht bis zu s e i n e m H e r r n vordringen lassen. Sicher galt bereits 1 8 1 5 , w a s G o e t h e a m 2. J a n u a r 1 8 2 4 an T i e c k schrieb: bei der notwendigen Beschränkung, in der ich mich halten muß um nur einigermaßen übernommene Pflichten zu erfüllen, trifft auch das Beste spät bei mir ein, da d e m
Minderen
aller
Zugang
ganz
und
gar
versagt
ist
[Hervorh. T. W.]. 7 6 U n t e r d e n >Agenda< des 2 7 . N o v e m b e r 1 8 1 5 ist das B r i e f a c t u m » P u s t k u c h e n « 7 7 als erledigt verzeichnet. Leider fehlt jeder weitere H i n w e i s darüber, o b ein B r i e f an P u s t k u c h e n geschrieben, o b d i e Angelegenheit stillschweigend ü b e r g a n g e n w u r d e oder o b eine k o m m e n t a r l o s e R ü c k s e n d u n g erfolgte. P u s t k u c h e n , i m Zweifel darüber, o b die Post sein Paket ü b e r h a u p t zugestellt hatte, fragte a m 2 2 . D e z e m b e r brieflich nach u n d wiederholte a u s Vorsicht n o c h einmal alle seine Pläne u n d G e s i n n u n g e n betreffenden H i n w e i s e . Wenn mein erster, allerdings verwirrter Brief Ew. Excellenz nicht abgehalten hat, mir zu antworten, so muß ihn und das anschließende Packet ein Unglück unterwegs aufgehalten haben. Er enthielt eine Sammlung jugendl. Gedichte und einen Nachruf von ihrem Verfasser, verwirrt durch das Gefühl, einem überlegenen Künstler, kurz nach ziemlich langer Entfremdung von der Kunst, vor zu treten, noch in dem Taumel, mit dem man etwa vom Schlafe aufwacht. Haben Sie, verehrter Denker, ihn nicht wirklich empfangen, so wollen Sie das Augenblickliche als vorübergehend fassen und die stehende Wahrheit von der individuellen Wahrheit jener Stimmung mit freundlicher Gewandtheit scheiden. 78 Deutlicher als i m ersten Brief rückte er G o t t u n d d i e E r z i e h u n g des d e u t s c h e n Volkes in d e n M i t t e l p u n k t seiner poetischen A b s i c h t e n u n d b e t o n t e die weltweite V o r b i l d f u n k t i o n der d e u t s c h e n K u n s t :
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77 78
BIEDRZYNSKI, S. 216. D a Johann August Friedrich John zur fraglichen Zeit noch nicht von seinem freiwilligen Militäreinsatz zurück war, kümmerte sich im November 1815 wohl der seit 1814 für Goethe tätige Friedrich Theodor David Kräuter um die Briefschaften. G21-4, S. 99. Zuweilen machte sich Goethe jedoch einen Spaß daraus, auch abseitige Briefe zu beantworten, etwa den des Berliner Webergesellen Schneidler, der ihn - >wie einst Friedrich der Große Voltaire - u m seine Werke batso wundersam-hübsch natürlich ausgedrückt hatte, durch Johann Gottfried Langermann >was er am nötigsten hielt< zukommen. G 2 1 - 4 , S. 123. G 1 6 - 2 . S . 249. P 8 b , T A S . 358. 55
Eine wankende Gesundheit stellte mir den Tod nahe. Wie das Leben einschmolz, wurde mirs leichter es als Ganzes zu fassen und was über ihm steht immer im Verhalten größer und bedeutender. Es schien mir, wenn die einzelnen Theile desselben schön seyn können durch sich und ihre Beziehung auf einander, durch ihre Abspiegelung im hellen Menschengeiste, so könne das Ganze nur schön bleiben durch Gott. So wurde er, die Seele des Weltalls, auch die meiner Dichtung. Die unsichtbaren Fäden, die zwischen den Geistern laufen wurden mir Bild des Unsichtbaren: er selber das Firmament um den weiten Garten meines innern Lebens. Indes schaute ich allen unbegründeten Wahn, m. Glaube war oder blieb kein blos ästhetischer, nur was nicht schön ist kann ich mir in keiner Religion als möglich denken, ist auch gewiß Irrthum. Wie jener das göttlichste, ist er auch das schönste Wesen schön der höchste formelle Begriff, für Gedanken, Handlungen und Gesicht der Heilandt. [...]. Am meisten schien mir das deutsche Volk Anlage für solche stille Größe zu haben, vielleicht berufen alle Völker einmal weiter zu fördern. Ich habe es von je vor allen geliebt, von je nur seine Sprache geredet, nur seine Weise gebraucht, seine Geschichte allen vorgezogen. So liegt mir nur an seiner Unsterblichkeit, seinem Reifen, seiner Bildung für die Kunst. Es gilt nicht, seinem kleinen Einzelwesen durchzuhelfen, für das Höchste mein Leben, meine Arbeit und das Höchste ist mit das Schöne, seine Andeutung die Kunst. 7 ' Am Ende erwähnte er die Förderung durch Johann August Apel, den Goethe jedoch nicht sehr schätzte, 80 und deutete zaghaft die Möglichkeit einer persönlichen Begegnung an, stets eine Ablehnung miteinberechnend: 79 80
P8b,TAS. 359. »In Goethes Blickfeld geriet er 1802 durch seine nicht durchweg überzeugende Rezensententätigkeit für die Allgemeine Leipziger Literaturzeitung sowie (seit 1803) für die Jenaische Allgemeine Literatur Zeitung [...]. Von Apels eigenen Dichtungen (anonym erschienen) beschäftigten Goethe nur die antikisierenden Tragödien (z. B. Polyidos), worüber Johann Diederich Gries berichtet: >Man versprach sich viel davon, und ich ward aufgefordert, das Stück bei Frommanns vorzulesen. Goethe selbst wollte zugegen sein. Ich präparierte mich recht ordentlich und las so gut ich konnte. Nach beendigter Vorlesung trat eine peinliche Stille ein. Endlich erhob sich Goethe, kam auf mich zu und sagte: i c h b i n I h n e n um s o m e h r v e r p f l i c h t e t , d a ß S i e d i e s e M ü h e w a l t u n g ü b e r n o m m e n h a b e n , da i c h , w ä r e i c h a l l e i n g e w e s e n , das S t ü c k s c h w e r l i c h zu E n d e g e b r a c h t h ä t t e .überlegenem Takt«) unwahrscheinlich. Seine Briefe kamen zwar nicht als >Ausdruck individuellen Lebens«83 in Goethes Autographensammlung, 84 verblieben aber im Briefrepositum. Am 29. Dezember 1815 verließ Pustkuchen mit dem Postwagen Elberfeld und begann in Hagen am 1. Januar 1 8 1 6 ein Reisetagebuch, das in der Zeitungfür
die elegante
Welt85 veröffendicht wurde. Es enthält neben manchem
Leerlauf 8 6 etliche für die Charakterzeichnung bemerkenswerte Einzelheiten, vor allem was Friedrich Pustkuchens historische und literarische Interessen betrifft. Gleich zu Beginn der Fahrt in Hagen (1. Januar) lernte der Reisende bei Adam Storck (>Direktor Storkdoch auch immer in Apels Hause [i.e. das Vaterhaus Johann August Apels; Anm. T. W.] zu finden< und >zog mit, wenn man lustwandelte«. Johann August war aber 1765 noch nicht auf der Welt. G6, S. 332. In einem Brief an die Schwester Cornelia schrieb Goethe: »Die Gärten sind so prächtig, als ich in meinem Leben etwas gesehen habe. Ich schicke Dir vielleicht einmal den Prospekt von dem Entree des Apelischen, der ist königlich. Ich glaubte das erste Mal, ich käme in die Elysischen Felder.« Zit. n. HEINEMANN-1, S. 43. Zu Apel siehe auch Fußnote 104. P8b,TAS. 359. Vgl. G32, S. 108. - Wolfgang Merkel beruft sich in seiner Skizze auf eine wahrscheinlich vollständige« Inhaltsangabe in »indirekter Rede«, da ihm die OriginalBriefe nicht vorlagen. MERKEL, S. 245.
83
BIEDRZYNSKI, S . 1 5 8 .
84
Hans-Joachim Schreckenbach: Goethes Autographensammlung. Katalog. Weimar, 1961. (Darin kein Eintrag zu iPustkuchen«.) P23. Pustkuchen schrieb selbst: »[...] man kann über die Langeweile kaum reden, ohne sie in ärmlicher Erinnerung zu fühlen.« P23, Sp. 131. P23, Sp. 130. Adam Storck (1780-1822) veröffentlichte 1818 die Darstellungen aus dem preußischen Rhein- und Mosellande. Vgl. OBERHAUSER, S. 745.
85 86 87
57
Mosel herausgeben wird« 88 - höchstwahrscheinlich den Altphilologen und Historiker LudwigTross (1795-1864). Über Unna (2. Januar), Hamm, ein freundliches Städtchen, dessen patriotischer Frauenverein sich bekannt gemacht hat, 89 und Soest (2. Januar, abends), wo sich ein kleiner Kutschunfall ereignete, ging es weiter Richtung Paderborn. Auf dem Weg dorthin stieg in Lippstadt ein weiterer >junger< Dichter zu: Lieutenant Scheibler, der mir zu Gefallen nach Berlin den Weg über Cassel und Weimar einschlagen will. Feste Männlichkeit, Bescheidenheit und Offenheit haben ihn mir im Gespräche lieb gemacht.90 Scheibler (in dem man aber wohl nicht den preußischen Kriegshelden und Feldmarschall-Leutnant Karl Freiherr von Scheibler vermuten darf) 9 1 blieb bis Halle Pustkuchens Begleiter. Ein Besuch Pustkuchens bei seinen Eltern im fünf Stunden entfernten Detmold unterblieb wegen >wüsten Schneewetters«. Pustkuchen kam sich in der pathetischen Stimmung seines Reiseberichts wie ein >Verbannter< vor, der gezwungenermaßen >an der Heimat vorüberzog«.92 Von Paderborn - einer >uralten, krumm und unangenehm gebauten Stadt«93 - fuhren die Reisenden über Warburg nach Kassel (4. - 6. Januar), wo sie neben der berühmten G e mäldesammlung« auch das Sammelsurium des >Museums< besahen: Ein großes musivisches Gemälde, den Johannes vorstellend, das bei einem feindlichen Einfalle lange in die Fulde versenkt worden und unversehrt geblieben war — zwei große Muscheln, amerikanische und brasilianische Schmetterlinge - die Sammlung alter Münzen - die Nachbildung römischer Ruinen in Kork - die Anti-
88
89 90 91
92 93
Tross' Ausgabe der Moseila des Ausonius erschien 1821. Tross war Beiträger des Hermann und wurde 1818 >Conrektor< am Gymnasium in Hamm. Von 1821-23 ordnete er die Gymnasialbibliothek in Münster und gab von 1825 bis 1826 die Westphalia. Zeitschrift für Geschichte und Alterthumskunde Westphalens und Rheinlands [nicht identisch mit der Zeitschrift Westphalia bzw. mit Westphalen und Rheinland m Herford] heraus. Vgl. HAMBERGER/MEUSEL-XXI, S. 132f. Vgl. auch Goethes Brief an Tross vom 22. März 1828 (G23-44, S. 36). P23, Sp. 130. P23, Sp. 131. 1777-1843. Vgl. ADB 30 (1889), 704-707. Evtl. handelte es sich um Johann Heinrich Scheibler, der 1816 für Härtels Allgemeine musikalische Zeitung schrieb. Als einziger bekannter Dichter des Namens käme Maximilian Friedrich Scheibler in Frage, der aber viel älter war. P23, Sp. 132. P23, Sp. 132.
5«
ken und darunter eine vortreffliche Minerva — die Bibliothek von verschiedenen Holzarten sind als e i g e n t ü m l i c h e Schätze dieses Museums sehenswert. 9 '' V o n d e m o b l i g a t o r i s c h e n B e s u c h bei d e n G r i m m s 9 5 w i r d n u r s e h r n e b e n b e i berichtet: Abends besuchten wir noch die Gebrüder G r i m m , die sich durch ihre altdeutschen Wälder, dänischen Heldenlieder, Kinder= und Hausmärchen und ihre E d d a um das vaterländische Alterthum äußerst verdient gemacht haben. Beide Brüder wohnen z u s a m m e n 9 6 an d e m Thore zur Wilhelmshöhe u n d sind wie an Alter, Gestalt u n d Sprache, so an liebenswürdiger Bescheidenheit und Neigung überaus verwandt. Sie geben ihre meisten Schriften gemeinschaftlich heraus und versprechen durch ihren Fleiß der deutschen Literatur noch viel. 9 7 Ü b e r H e l s a (>HelseTenstädtneuentdeckten (mesmerischen) Magnetismus^19 belegen dagegen eindeutig, daß Pustkuchen ein sehr starkes Interesse an diesen Phänomenen hatte. Apels 113
P6, S. 46.
114
LAUN-2, S. 20. Andere Mitarbeiter am
115
P12, S. 2.
116
MERKEL, S. 2 8 f .
117
PI, TA S. 338. PI, TA S. 333. P4c.
118 119
Gespensterbuch waren Fouqui und Miltitz.
63
1810/11 entstandene Abhandlung Der Traum120
könnte eine Anregung zu
dem Kapitel »Merkwürdige Träume< in der Perlenschnur121
gewesen sein (siehe
unten). Nicht zuletzt dürfte der von Laun beschriebene eigentümliche Reiz des Ermlitzschen Schloßparks auf Pustkuchens Phantasie gewirkt haben. Der Abend im Schloßgarten zu Ermlitz brachte besondere Schauer mit. Zufolge alter Sagen waren in vorigen Zeiten, wo das Hochgericht nicht weit davon gelegen gewesen, dort manche Unheimlichkeiten zur Zeit der Dämmerung und später vorgekommen.122 Doch das Schauerliche wurde nie bedrohlich. Die Umgebung von Ermlitz lud am Tage zu weiten Spaziergängen ein. Die Tage verflogen unter mancherlei Beschäftigungen eines angenehmen Müssiggangs. Aus dem schönen Schloßgarten mit seinen gerade blühenden Rosen, unter denen viele gelb=gefiillte, im damaligen Sommer aber eine seltene Vollkommenheit darlegten, ging es häufig in den anstoßenden, mit einem köstlichen Reichthume uralter Eichen versehenen Wald, ferner nach einer Gegend, welche der >Berg< genannt wird, obschon eine recht genaue Beobachtung dazu gehört, um aus der [...] weiten Fläche, die Spur einer Erhöhung aufzufinden (u.s.w.) zuletzt gewöhnlich wieder zurück in den Gartensaal ans Pianoforte.'23 Der Aufenthalt bei Apel wird zu Pustkuchens sorglosesten Zeiten gehört haben. Hermann Ziemke berichtet von der »Beschaulichkeit und Gemütlichkeit< der literarischen >TheeeHinneigung für die Dichtungen und manche Ansicht Jean Pauls< - Fouqui und alle Nahestehenden blieben als Freunde freilich von der Kritik ausgenommen.131 Daß Apels Goethefeindschaft von der durch Goethe erlittenen Zurückweisung als Dramatiker herrührte, kann nur vermutet werden. Pustkuchen nannte in der Perlenschnur mehrere Frauen, die ihn in Leipzig und dem Landsitz Ermlitz beeindruckt hatten; neben den Erwähnungen von Apels Ehefrau (mit der er ein paralleles Tagebuch führte), 132 Minette von Plötz und Wilhelmine Heßner schilderte er besonders ausführlich die absonderlichen, präkognitiven Träume einer gewissen >Caroline aus Hildburghausen< (die >Lili< der Erinnerungen). Pustkuchen beschrieb sie in der Perlenschnur als zwanzig und etliche Jahre alt, von reizbaren Nerven, übrigens gesund und achtenswerth durch [...] einfache Bildung und [...] frommen Sinn. Durchaus nicht überspannt, auch nicht Romanleserin [...]. 133
Diese >Caroline< sah u. a. den Einsturz einer Burgruine voraus und rettete dadurch dem Burgbesitzer Miltitz und allen Gästen (darunter Apel) das Leben. Am rätselhaftesten waren Carolines Vorausdeutungen auf den Tod eines Königs, die sie im Schlaf erfahren hatte. Pustkuchen konnte sie daraufhin nur beruhigen, indem er den Traum aufschrieb und an den von ihr namhaft gemachten König schickte, der die Warnung auch tatsächlich erhalten und von Schaden unbetroffen geblieben sein soll. An dem von >Caroline< vorausgesehenen Termin, dem 28. Oktober 1816, verunglückte allerdings genau unter den von ihr geschilderten Umständen - auf einer Jagd - der württembergische König Friedrich I. und starb zwei Tage später.134 Es leben auch noch einige, welche wissen, daß Caroline den bald darnach plötzlich eintretenden Tod des Doctors [i.e. Apels; Anm. T. W.] vorausgeahnt habe. Nicht lange vor demselben hatte ich bereits sein Haus verlassen. 135 131 132 133 134
135
LAUN-2, S. 13. P35, S. 149. P35, S. 134f. Pustkuchen berichtete: »Manchen Lesern ist wohl bekannt, daß [...] zwei Somnambulen diesen Zufall vorausgesagt. Die Berichte sind im >Archive flir den thierischen Magnetismus von Eschenmayer, Kieser und Nasse, Band I. Stück I. und 2.< zu lesen. Wir müssen aber über unsere Erzählung bemerken, daß Caroline einen andern König wachend nannte, der noch lebt. Es ist demnach ungewiß, ob sie in Erinnerung des Namens sich geirrt oder ob sie den Traum auch in diesem wichtigen Punkte genau behalten habe.« P35, S. 147. Bzgl. der Herrscherdaten vgl. MATZ, 344. Pustkuchen erwähnte in der Perlenschnur eine im ¡Leipziger Industrie=Comptoir< erschienene Sammlung der merkwürdigsten Träume, die möglicherweise von Apel stammte. P35, S. 133. P35, S. 142.
66
Apel starb unerwartet am 9. August 1816. Der vornehme Mann, >kein Freund geräuschvoller Ergötzlichkeitennonplusultra des feinstenEngbrüstigkeit< geplagt worden und überall durch >lautes Aufatmen« aufgefallen. 138 Apel hatte mehrere Vorahnungen des eigenen Todes, 139 der nach einer Erkältung unerwartet rasch eintrat. Vielleicht hat er Pustkuchen selbst dazu bewegt, ihn vorher zu verlassen. Pustkuchen war offenbar bereits im Sommer 1 8 1 6 bei dem Leipziger Buchhändler Gottfried Christoph Härtel, 140 dem Nachfolger von Gottlob Breitkopf, als Hauslehrer für seine Töchter und seinen Sohn Hermann 141 aufgenommen worden. 142 Härtel, den Pustkuchen in einem späteren Brief an den einstigen Schüler als unvergleichlich klar und richtig urteilend« beschrieb, war bemüht, die philosophischen und poetischen Talente Pustkuchens nach Kräften zu fördern, der bald eine umfassendere, über die Erfordernisse der Poesie hinausgehende Wißbegierde entwickelte. Härtel brachte in
136 137 138
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LAUN-2, S. 23. LAUN-2, S. 24. LAUN-2, S. 6.
Außer des schon erwähnten Ruineneinsturzes auf der Miltitzschen Burg Scharfenberg, den Apel als Vorbedeutung ansah, wollte er einmal bemerkt haben, daß seine Taschenuhr in der eigenen Hand plötzlich stehenblieb, aber weiterging, wenn er sie einem anderen gab, wiederum stehenblieb, wenn er sie wieder selbst in die Hand nahm. Vgl. LAUN-2, 26. ADB 3 (1876), S. 300f. Apels Caäiroe war 1806 bei Härtel erschienen. Möglicherweise war Härtel mit Pustkuchens Vater (dessen Werke in der Härteischen Allgemeinen musikalischen Zeitung besprochen worden waren) über gemeinsame musikalische Interessen näher bekannt. Da Härtel ein Rittergut (namens >CottaFreund< hätte er ihn schließlich - Ehre hin, Ehre her - um Fahrgeld bitten können. 67
seinem Hauslehrer die verschütteten literaturpädagogischen Ansätze wieder klar zum Vorschein. Er äußerte sich so bestimmt gegen das Beschränken auf die Poesie, daß ich gleich bei ihm anfing, eine andere Richtung meines Strebens vorzubereiten und beharrlich fortarbeitend auch dahin kam, nach seinem Vorbilde mehrfache wissenschaftliche Gebiete zu beherrschen. Wenn ich zugleich in meinem poetischen Versuchen fortfuhr, so that ich es, weil auch die Kunst in das große Ganze gehört, das ich unter einen Blick sammeln wollte und weil die Beherrschung der Sprache zur vollendeten Mittheilung an andere unentbehrlich ist. 143
Mit Elan ging Pustkuchen wieder an das (bei Apel vernachlässigte) Verfassen theoretischer Texte, da er sich weiterhin Chancen auf eine mögliche Anstellung als Universitätslehrer ausrechnete. Längere Beiträge in verschiedenen Zeitschriften deuten auf breitgefächerte Interessen: Über die Oper erschien in
der Zeitschrift fiir die elegante Welt, Über Pantomimik in den Zeitblüthen,144 Eine pädagogisch-erkenntnistheoretische Arbeit brachte ihm in Fachkreisen einiges Lob ein und einen Vergleich mit Jean Paul.145 Für seine in bestem ciceronianischem Latein abgefaßte religionsphilosophische Dissertation146 wurde er schließlich am 13. Mai 1817 von der Universität Halle zum Doktor der Philosophie promoviert. Ob Pustkuchen sich eine Zeitlang in Halle aufhielt, ist nicht bekannt. 1817 und 1818 suchte er - laut eigenen Angaben einen Mittelpunkt, der die Ideen der Religion, Philosophie, Wissenschaft und Kunst conzentrisch in sich zusammenleitete und fand ihn schon damals in der Pädagogik. 147
Pustkuchens Gedichte erschienen jetzt auch ohne Goethes Empfehlung in Leipzig bei Reclam,148 und wurden in der Zeitung fiir die elegante Welt mit eher verhaltenem Lob rezensiert: Wir glauben nicht zu irren, wenn wir diese Gedichte einer vorzüglichen Stelle unter den Erscheinungen im Gebiete der Dichtkunst würdig achten, nicht deshalb, weil wir sie alle oder die Meisten davon fiir vollendete Schöpfungen des künstlerischen Genius erklären möchten, sondern weil wir in ihnen die Elemente der Poesie in seltenem Grade gefunden zu haben glauben. [...] Jedoch möchten wir den würdigen Verfasser bitten, des bekannten Schillerschen Gedankens: Klar ist der Äther 143 144 145
P9, S. 3. P l l a , S. 2. P31. An Leonhard Schräg schrieb er 1821: »[...] doch gestand man, daß außer Jean Paul noch niemand über die Psychologie und Pädagogik mit so vielem Geiste geschrieben habe.« P l l a , S. 2.
146 p 7
PI5a, S. 2. 148 P32. Verleger war Anton Phillip Reclams Vater Carl Heinrich. 147
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und doch von unergründlicher Tiefe immer eingedenk zu seyn, weil wir überzeugt sind, daß er mit den ihm verliehenen Naturgaben stets etwas rein Erfreuliches hervorzubringen im Stande seyn wird. 149 Einem Brief an den Nürnberger Buchhändler Leonhard Schräg vom 15. April 1828 ist zu entnehmen, daß Pustkuchen während seines Aufenthalts bei Härtel auch im Verlag gearbeitet hat. 1 5 0 Härtel bot ihm die Redaktion seiner gerade gegründeten Leipziger-Literatur-Zeitung
an - eine Tätigkeit, die Pustku-
chen bei seiner talentierten und raschen Schreibart ein gesichertes Einkommen und eine erfolgreiche Zukunft beschert hätte. Doch Pustkuchen lehnte das Angebot ab, weil der T o d seiner Schwester Luise am 11. Juni 1818 von ihm die >Kindspflicht< forderte, umgehend nach Detmold heimzureisen. Auf Geheiß der Eltern ging Friedrich Pustkuchen daran, die verabsäumten theologischen Examina nachzuholen. Selbst das Angebot einer Direktorenstelle an der Stadtschule in Hagen, wo man seine pädagogische Schrift 1 5 1 wohlwollend bemerkt hatte, schlug er aus. Am 1. Dezember 1818 wurde er in die Liste der wählbaren lippischen Pfarramtskandidaten aufgenommen, fand aber keine Anstellung. Für ein Jahr übernahm er als »substituierter Prediger< 152 die Pfarrei des befreundeten Philipp Friedrich Müller im rheinischen Haminkeln bei Wesel. Dazu mußte er jedoch erst noch das »Examen pro ministro« in Köln ablegen. Ein Reisepaß, ausgestellt am 17. Dezember 1818, überliefert Einzelheiten über das Außere des 25jährigen: Größe: 5 Schuh 4 Zoll / Haare: schwarz / Stirn: mittel / Augenbraunen: braun / Nase länglich / Mund: mittelmäßig / Bart: schwarz / Kinn: rund / Gesicht: länglich / Gesichtsfarbe: gesund / Besondere Zeichen: hat eine Warze auf der linken Wange-153 In Haminkeln predigte Pustkuchen mit großem Eifer und Anklang; außerdem begegnete er Müllers Schwägerin Sophie Gerhardine van den Bruck, mit der er sich im Sommer 1819 verlobte. Pustkuchens Ausgelassenheit spiegelte sich in einigen anonymen Beiträgen für den Leipziger Satire-Almanach Witzfunken 149
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und Lichtleiter oder neue geordnete Auswahl von Gegenständen des
[anonym / Namenskürzel »g.«]. In: Zeitung fiir die elegante Welt (Leipzig) vom 26. August 1817. Zit. n. BLEYMEHL, S. 204f. »Da ich l ' / z Jahr in Leipzig bei Breitkopf und Härtel war, so bin ich wie später durch Schriftstellerei mit dem Überblick der deutschen Litteratur ziemlich bekannt und erhielt von dem nun verstorbenen Härtel den Antrag zur Redaction der bei ihm erscheinenden Litt. Zeitung, die ich jedoch früherer Verhältnisse wegen ablehnen mußte.« PI lb, 3. P31. HAMBERGER / MEUSEL- XDC, S. 2 1 7 .
P16.
69
Scherzes, der Laune, des Witzes, des Scharfsinns, von denen drei154 direkt auf Goethe gemünzt waren. Die >WitzfunkenGeneralsuperintendenten< Ferdinand Weerth 1 5 9 (dem
154
Merkel schreibt, es befasse sich von den zehn Beiträgen »einer unmittelbar auch mit Goethe«. MERKEL, S. 3 7 .
155
156 157 158
159
Sie waren meiner Ansicht nach nicht bloß »witzig sein wollend«, wie Wolfgang Merkel sagt, sondern beileibe witzig, und sind es sogar noch immer! MERKEL, S. 37. P4e, TA S. 353f. P32b, S. 8-12. TA S. 366-369. Der Text ist ein bisher unbeachtetes direktes Gegenstück zu Goethes Johanna Sebus von 1809. (Gl, S. 271 f.) Beim Vergleich beider Gedichte fällt auf, daß Pustkuchen die Schönheit der Tat Johannas (sie setzte bei einer Überschwemmung das eigene Leben zur Rettung anderer aufs Spiel) nur mit der Annahme einer göttlichen Inspiration< verstehen kann, während Goethes Darstellung kein derartiges religiöses Moment aufweist. Ferdinand Weerth wurde als (tolerant und einfühlsam< geschildert (WEERTH, S. 17); er hatte Theologie studiert und war 1805 auf Wunsch der Gräfin Pauline nach Detmold gekommen. »Seine Predigten waren - nicht unbedingt im Einklang mit seiner Zeit - rationalistisch-lehrhaft. Und mit besonderem Engagement widmete er sich der Arbeit an den Schulen und der Lehrerausbildung. 1811 schrieb Ferdinand Weerth einen >Leitfaden für den Religionsunterricht in der Schulefrommen Gräfin< in P45.
161
Bei Merkel falsches Datum: >29.< März 1820. MERKEL, S. 38. 71
3 Eine höchst lebendige Statue Der Jugend Nachtgefährt ist Leidenschaft, Ein wildes Feuer leuchtet ihrem Pfad; Der Greis hingegen wacht mit hellem Sinn Und sein Gemüth umschließt das Ewige. J. W. Goethe Die Wanderjahre sind nun angetreten Und jeder Schritt des Wandreres ist bedenklich. Zwar pflegt er nicht zu singen und zu beten; Doch wendet er, sobald der Pfad verfänglich, Den ernsten Blick, wo Nebel ihn umtrüben, Ins eigne Herz und in das Herz der Lieben. J. W. Goethe
D e r alte Goethe Die zeitgenössischen Besucher beschrieben Goethe sehr unterschiedlich. Carl Gustav Carus schilderte ihn 1821 als einen überaus rüstigen Herren, der die Gesprächspausen mit gutmütigen »Nun, nuns< und >Ja, jas< ausfüllte, 1 während August Graf von Platen ( 1 8 2 1 ) und Heinrich Heine ( 1 8 2 5 ) besonders die Anzeichen des nahenden Greisenalters vermerkten. 2 Louis Stromeyer indessen betrachtete Goethe 1824 als eine lebendige Statue und fand ihn disproportioniert: Carus, der Goethe 1821 sah, bemerkt über dessen Aussehen: ganz wie uns Rauch ihn dargestellt hat! Ganz wie gemalt! würde Gumpelino gesagt haben. Allen Respect vor Rauch, aber Goethe war doch schöner, als Rauchs Büste ihn darstellt, er lebte ja und sprach. Man sagt wohl: ein sprechendes Bildniß, aber das sind Redensarten, noch nie hat ein Bild gesprochen. Wie muß er erst ausgesehen haben, ehe ein breiter Altersring einen Theil seiner dunklen Iris versteckte. Er war majestätischer, wenn er saß; wenn er stand, bemerkte man, daß seine Unterextre-
»Die zweiundsiebzig Jahre haben auf Goethe wenig Eindruck gemacht, der Arcus senilis in der Hornhaut beider Augen beginnt sich zwar zu bilden, aber ohne dem Feuer der Augen zu schaden.« CARUS 1-1, S. 282f. »Bei seiner Verbeugung konnte man ein leichtes Zittern bemerken. Auch auf seinem Angesichte sind die Spuren des Alters eingeprägt. Die Haare grau und dünn [...].« PLATEN II, S. 494. »Uber Göthes Aussehen erschrak ich bis in tiefster Seele, das Gesicht gelb und mumienhaft, der zahnlose Mund in ängstlicher Bewegung, die ganze Gestalt ein Bild menschlicher Hinfälligkeit. [...] Nur sein Auge war klar und glänzend. Dieses Auge ist die einzige Merkwürdigkeit, die Weimar jetzt besitzt.« HEINE 11-20, S. 199. 73
mitäten etwa um einen Zoll zu kurz waren. Carus, der auch schon den Greisenbogen sah, hat dieß nicht bemerkt, obgleich er eine Proportionslehre für Maler geschrieben hat .... 3 Wer den »großen Mann in seinen verdrießlichen und steifen Momenten< sah, wie der Fürst Georg von Mecklenburg-Strelitz, konnte ihn leicht für einen >Nußknacker< ansehen. 4 Noch am lebendigsten erschien Goethe im Bericht des kleinen Felix Mendelsohn, der ihm im November 1 8 2 1 täglich auf dem Flügel: »ein wenig Lärm vormachen< durfte: Daß seine Figur imposant ist, kann ich nicht finden ... Doch seine Haltung, seine Sprache, sein Name: Die sind imposant! Einen ungeheuren Klang der Stimme hat er, und schreien kann er wie 10 000 Streiter. Sein Haar ist noch nicht weiß; sein Gang ist fest, seine Rede sanft.5 Goethe war auch im Alter als Jenaischer Staatsminister unverändert aktiv. Seine Mitarbeiter erstatteten ihm in Weimar ständig Bericht über den Gang der Geschäfte. Seitdem er 1817 als Theaterdirektor zurückgetreten war, 6 oblag ihm an größeren Projekten vor allem die Reform der Bibliotheken und der Ausbau des Wegenetzes. Er interessierte sich nach wie vor lebhaft für politische Fragen, vor allem wenn sie das Schicksal seines Fürsten Carl-August und des Herzogtums mitbetrafen. Seine exponierte öffentliche Stellung rief naturgemäß Gegner verschiedenster politischer Couleur auf den Plan. Goethes Freude über Napoleons
3
Hans Graef: Louis Stromeyer bei Goethe. Ein Nachtrag zu >Goethes GesprächenWesensspröde< des >Sitzriesen< Goethe erklären. WÜRTZ, S. 3-9 u. S. 25. Bei Vermessung der Gebeine Goethes durch DDR-Wissenschaftler 1970 ergab sich nach der >Pearson'schen Körperformel< eine Körpergröße von nur 169 cm. Vgl. Thomas Steinfeld: Sonderakte Goethe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. März 1999 (Nr. 65), S. 49 und 51; hier: S. 49.
4
BIEDRZYNSKI, S . 2 1 1 .
5
BODE-3, S. 127. Sein zweites Rücktrittsgesuch (das erste hatte er 1807 eingereicht) erfolgte wegen fortgesetzter Differenzen mit Caroline Jagemann und dem Herzog. Den äußeren Anlaß bildete die Aufführung des Stückes Der Hund des Aubry de Mont Didier, in dem - für Goethe untragbar - ein Hund der Hauptdarsteller war. Vgl. KNUDSEN, S. 110-117. »Einen dressirten Pudel auftreten, herausrufen und gleichsam als dramatischen Künstler behandelt zu sehen, dünkte Goethe'n mit Recht eine Entweihung der Bühne, der er 25 Jahre lang zum Ruhm der Kunst vorgestanden hatte. Um jede Erinnerung an diesen verdrießlichen Vorfall zu bannen, reiste er am Tage der Vorstellung nach Jena.« DÖRING, S. 409.
6
74
angebliche siebenmalige U^riAir-Lektüre, seine freudig akzeptierte Ehrenlegionsmitgliedschaft sowie seine noch während der Befreiungskriege ungebrochene Vergötterung des Diktators 7 wurden ihm von Nationalgesinnten äußerst negativ angerechnet. Epimenides
Erwachen
täuschte niemanden über
Goethes fehlenden >teutschen< Patriotismus hinweg. Die Warnungen vor utopischem Nationalliberalismus und der >Preßanarchiegroßen Heiden< Goethe. In den Spottversen der Zahmen
Xenien schuf er sich eine Abfuhrmöglichkeit
für derartige Anfechtungen und Mißliebigkeiten: denn ob man gleich seine Dichtungen überhaupt nicht durch Verdruß und Widerwärtiges entstellen soll, so wird man sich doch im Einzelnen manchmal Luft machen [...].» Auch als Schriftsteller mangelte es Goethe weder an Arbeit und Plänen noch an Widersachern. Seine Kunstanschauungen erregten Anstoß wegen ihrer angeblichen Oberflächlichkeit, 10 seine symbolistisch-idealistischen Naturmeditationen dagegen fanden in der romantischen Poesie mehr Beachtung als in der rationalistischen Naturwissenschaft.11
7
8 9 10
11
Die Verehrung war gegenseitig; Napoleon rief nicht nur >Voilä un homme!M. de Goet.< LEPPMANN, S. 51. Carus berichtete 1821 vom Inhalt einer Schrankvitrine: »[...] unter Glas eine ansehnliche Menge antiker Götterbildchen, Laren, Faunen usw., unter welchen ein ganz kleiner goldener Napoleon, in das glockenförmig verschlossene Ende einer Barometerröhre gestellt, sich sonderbar genug ausnahm.« C A R U S I-1, S. 284. G12,S. 798. G7,S. 325. Barthold Georg Niebuhr etwa bemerkte über den ersten Band der Italienischen Reise in dem Brief an Dorothea Hensler vom 17. Februar 1817 aus Rom: »Es ist unbegreiflich, wie Goethe Dergleichen hat drucken lassen. [...] Viele Urteile, namentlich über Kunst, würde er zurücknehmen müssen. Es ist sehr schlimm, daß er sie bekannt gemacht hat, da gegenwärtig ein weit gesunderer Sinn über die Kunst herrscht, der sich schon eben an Goethens früher ausgesprochenen Kunsturteilen ärgert und ihnen nicht nur die als unfehlbar aufgetragene Entscheidung aberkennt, sondern ihm vielmehr ein auch nur befugtes Urteil abspricht.« BODE3, S. 21f. »Äußerungen über die ungünstige Aufnahme so mancher seiner wissenschaftlichen Arbeiten konnte er hierbei doch nicht ganz unterdrücken.« CARUS 1-1, S. 284. Vor allem die Arbeiten zur Morphologie und zur Farbenlehre wurden in 75
Was die schöne Literatur betraf, stand Goethe isoliert, denn er hatte sich, wie Karl Gutzkow formulierte, im Anfang dieses Jahrhunderts von allen Liebhabereien desselben entfernt gehalten, sowohl von dem Nifl= und Muspelheimer=Himmel der Nordlandsreckenromantik, wie von der blauen Blume Hardenbergs, der Indomanie der Schlegel, welche sich beide im Ganges von ihren literarischen Sünden reinigen wollten. Allen diesen Bestrebungen lag in der That eine gewisse Verwandtschaft mit Ideen der Zeit, ja sogar eine Sympathie mit dem Schicksale der Nation zum Grunde; aber es war von einem vollendeten Charakter nicht zu erwarten, daß er aus Patriotismus seinen Geschmack verderben sollte.12
Goethes Romantikkritik Die Romantik, am 2. April 1829 endgültig für >krank< erklärt, 13 galt Goethe schon 1 8 1 7 (im Brief an Rochlitz vom 1. Juni) als der >Zeitwahnsinn verrückFachkreisen nicht so ernst genommen, wie Goethe sich es wünschte. Die Beiträge zur Optik (1792) waren von einem Anonymus abgetan worden: »Kenner werden also hier nichts Neues finden«. Die zwei Bände Zur Farbenlehre (1810) verwarf der Kieler Professor Christoph Heinrich PfafF als physikalisch unhaltbar. MANDELKOW II-1, S. 177f. »Er war gewohnt, sich selbst der Natur einzuordnen. Obwohl nach Kräften bemüht, innerhalb des Anschaulichen zu bleiben und die Grenzen der Sinneserkenntnis zu wahren, suchte er doch die Typen herauszufinden, aus denen Pflanzliches und Animalisches erwachsen sei. Entwicklungsreihen aufzustellen lag ihm ebenso fern, wie nach den Ursachen und Wirkungen dieser Entwicklungsreihen zu forschen.« WALZEL, S. 47. Goethes Metamorphose-Gedanke sowie seine scheinbar antagonistischen Vorlieben für Botanik und Geologie kamen der romantischen Naturphilosophie sehr zupaß, da sie sich — etwa in Gotthilf Heinrichs Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) - am >Wachstum< der Metalle berauschte und einen fließenden Übergang vom anorganischen Mineralreich zum organischen Pflanzenreich annahm. ZLOLKOWSKI I, S. 40ff. Novalis erklärte im Allgemeinen Brouillon: »Goethische Behandlung der Wissenschaften - mein Projekt.« NOVALIS II, S. 494. 12
GUTZKOW, S . 2 2 6 .
13
»>Mir ist ein neuer Ausdruck eingefallen/ sagte Goethe, >der das Verhältnis nicht übel bezeichnet. Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke. [...] Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist. Wenn wir nach solchen Qualitäten Klassisches und Romantisches unterscheiden, so werden wir bald im reinen sein.Was will der ganze Plunder gewisser Regeln einer steifen veralteten Zeit!« sagte er heute, >und was will all der Lärm über klassisch und romantisch! Es kommt darauf an, daß ein Werk durch und durch gut und tüchtig sei, und es wird auch wohl klassisch sein.erst nachträglich äußere und innere Gründe hervorgesucht werden mußtenKlassik< und >Romantik< fällt es schwer, den von der >Berliner Hofgermanistik< konstruierten 16 und noch heute nachdrücklich behaupteten Gegensatz zwischen Goethe als Inbegriff der Klassik und den Romantikern kommentarlos hinzunehmen. 17 Viele späte Werke Goethes, vor allem der Faust, lassen diese Polarität hinfällig erscheinen. Goethe ist in Wirklichkeit, wenn wir seinen eigenen Erklärungen und dichterischen Zeugnissen folgen, viel romantischer, als es bisher der Germanistik innerhalb Deutschlands recht war.18 Angesichts der Haupt-Streitfrage, ob man sich die Antike oder das Mittelalter zum Vorbild nehmen solle, war Goethe bemüht, Gemeinsamkeiten von klassischer und romantischer Rückbesinnung zu finden. In einem Brief an Carl Jacob Ludwig Iken vom 2 7 . September 1 8 2 7 schrieb er: Es ist Zeit, daß der leidenschaftliche Zwiespalt zwischen Klassikern und Romantikern sich endlich versöhne. Daß wir uns bilden ist die Hauptforderung; woher wir uns bilden wäre gleichgültig, wenn wir uns nicht an falschen Mustern zu verbilden furchten müßten. Ist es doch eine weitere und reinere Umsicht in und über griechische und römische Literatur, der wir die Befreiung aus mönchischer Barbarei zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert verdanken! Lernen wir nicht auf dieser hohen Stelle alles in seinem wahren, ethisch-ästhetischen Werte schätzen, das Alteste wie das Neuste!19
14
G21-3, S. 394.
15
KRÜGER I, S . 3 f .
16
Klaus L. Berghahn: Von Weimar nach Versailles. Zur Entstehung der Klassik-Legende im 19. Jahrhundert. In: GRIMM/HERMAND, S. 50-78; hier S. 76. Friedrich Sengle etwa meint: »Mir scheint, wir sollten den [...] sich kräftig äußernden Gegensatz zwischen Goethe und den Romantikern stehen lassen; denn es geht auch um Grundsatzfragen, die Europa weiter beschäftigen werden. Die Vorstellungen von einer geistigen Einheit der Goethezeit oder einer alles umfassenden »deutschen Bewegung« sind Wunschbilder, Mythen, nationaler Religionsersatz. Wir sollten darauf verzichten.« Kapitel: Goethes historischer Ort zwischen Romantik und Klassizismus in: SENGLE III, S. 234. Max L. Baeumer: Der Begriff >klassisch< bei Goethe und Schiller. In: GRIMM/HERMAND, S. 17-49; hier: S. 47. G 2 1 - 4 . S . 249.
17
18
19
77
Goethe kommt zu dem Ergebnis, daß sich auch die Romantiker auf die Antike berufen und insofern kein Unterschied im >Bildungsmönchischen Barbarei< (von ihm auch Mittelzeit genannt) - dem Früh- und Hochmittelalter - und der >Zeit der Befreiung< - der Renaissance. Indem sich das romantische Literatur- und Kunstinteresse besonders auf die Wiedergeburtszeit der Antike, das 15. und 16. Jahrhundert, richte - so Goethe
ziele es in Wahrheit ebenfalls
auf die Antike. Die Romantiker haben diese Vereinheitlichung nicht akzeptiert. Sie bezogen sich in ihrer Rückbesinnung auf die mittelalterliche Zwischenzeit, da sie hier die von ihnen bewunderten Werte in Literatur und Kunst überliefert fanden und nicht in einer geschichtsfern rekonstruierten Antike. Goethes Sichtweise erschien ihnen ahistorisch, olympisch, überzeitlich. Die Renaissance galt ihnen nicht einfach als verlängerte Antike, sondern als eine Neuorientierung anhand von wiederentdeckten Kunstwerken und zuvor unbeachteten literarischen Quellen. Als Beispiel für die romantische Version der epochalen Vorbildlichkeit sei Madame de Staels Begriflserläuterung angeführt. Sie unterscheidet zwischen der Zeit der >Alten< (Antike, Heidentum) und der Zeit nach >Einfiihrung des Christentums^ der sagenhaften >Ritterzeit< (Mittelalter insgesamt). Klassische Literatur im Sinne einer neuantikischen wird gar nicht in Betracht gezogen: Man nimmt zuweilen das Wort klassisch für gleichbedeutend mit vollkommen. Ich bediene mich hier desselben in einem anderen Sinne, indem ich die klassische Poesie als die der Alten und die romantische Poesie als diejenige betrachte, die in gewisser Hinsicht mit den Sagen aus der Ritterzeit zusammenhängt. Diese Einteilung paßt auch zu den beiden Zeitrechnungen der Welt v o r und n a c h Einführung des Christentums. 2 0
Romantische Goethekritik Die Vorwürfe, die Goethe von den Romantikern gemacht wurden, müssen im einzelnen betrachtet werden, und sind nicht als eine generelle Abwendung zu verstehen. Goethe blieb in der Kultur-Theorie der Hoch- und Spätromantik der 1798 von Novalis ernannte >wahre Statthalter des poetischen Geistes auf ErdenWeltfrömmigkeitromantischen< Kostümen, die »am 30. Januar 1810 im Weimarer Stadthaus anläßlich der Verlobung der Tochter Karl Augusts und des Geburtstags der Herzogin stattfand«. SCHULTE-WÜLWER, S. 288.
83
stehenlassens des Fremden (wie es sich zuletzt in den Grundsätzen der W a n deren ausdrückte), hatte daher ein romantisches Gegenstück.50 Unübersehbar waren die verschiedendichen fremdländischen Anklänge in den Goetheschen Alterswerken und die Verwendung bestimmter Erzählformen (Novellenzyklus, Aphorismensammlung), die ihn bei aller prinzipiellen Aversion gegen die bizarre, komisch-ironische51 und nationalpatriotische Seite der Romantik als ihren späten Schüler zeigten. Dem Christentum war er überdies niemals abhold gewesen und auch insofern alles andere als unromantisch. Er hatte sich (nach pietistischen Jugendneigungen) in seiner Straßburger Zeit mit Johann Heinrich Jung-Stilling und später mit Johann Caspar Lavater freundschaftlich über theologische Fragen gestritten,52 sich lange Zeit (1769-1775) mit dem
5 0
51
52
H O H E N D A H L , S. 26. Peter Uwe Hohendahl weist diese Auffassung etwa in den literaturgeschichtlichen Schriften Eichendorffs en detail nach, dessen konservative Gesinnung< damit kontrastierend. H O H E N D A H L , S. 18. Unter dem Datum des 28. Augusts 1808 vermerkte Friedrich Wilhelm Riemer folgende Äußerung Goethes zum >Romantischenketzerische< Dissertation (widersprüchliche Titelüberlieferung: De legislatoribus bzw. Jesus autor et Judex sacrorum) über die zehn Gebote verfaßte, in der er das Urchristentum als eine ipolitische Gründung« darstellte, veröffentlichte er 1772 (anonym bei Deinet in Frankfurt) den Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***, in dem er die Nächstenliebe und >Toleranz< des Urchristentums Wiederaufleben ließ, sowie die anonyme Schrift Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen, in der das Thema der verschollenen Inauguraldissertation verdichtet ist. In beiden Texten (wie auch gemeinsam mit Herder, Schlosser, Bahrdt und Petersen in den Artikeln der Frankfurter Gelehrten-Anzeigen) wurde die orthodoxe Geistlichkeit vehement angegriffen und der kirchliche Anspruch auf universale Gültigkeit christlicher Dogmen bestritten. G R O S / L Ü H M A N N , S. 61-87. Mit Lavater, der den lebhaft begrüßte, entzweite er sich, als ihm das prononcierte Christentum >des Wortes und Glaubens«, das >die Heiden braten« sehen wollte, zu unangenehm wurde. Am 29. Juli 1782 schrieb er ihm, daß er »zwar kein Widerchrist, kein Unkrist aber doch ein dezidirter Nichtkrist« sei. Lavater bat ihn, ihm doch >die Stellen der ausschließenden Intoleranz zu nennen«, die dieser im ersten Band von Pontius Pilatus oder die Bibel im Kleinen und der Mensch im Großen gefunden haben woll-
84
herrenhuthischen Modell beschäftigt, sich aber immer gehütet, das Christentum absolut zu setzen. Im Alter tendierte Goethe immer mehr zur Vorstellung eines Christentums der Gesinnung und Tatleidige protestantische Sektenwesen< und stellte die >Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtete über alle sonstigen geistigen Errungenschaften: Denn sobald man die reine Lehre und Liebe Christi, wie sie ist, wird begriffen und in sich eingelebt haben, so wird man sich als Mensch groß und frei fühlen und auf ein bißchen so oder so im äußeren Kultus nicht mehr sonderlichen Wert legen.33
Kritik am Wilhelm Meister Die zeitgenössische Kritik am späten Goethe hatte sich vor allem an Wilhelm Meisters Lehrjahren entzündet. Novalis, der in den neunziger Jahren ein enthusiastischer Goethe-Verehrer war, der die Lehrjahre 1795 bei der Lektüre >fast auswendig< gelernt hatte 54 und Goethe im Athenaeum noch 1798 als den >wahren Statthalter der Poesie auf Erden< gegen seine Kritiker verteidigte,55 änderte um die Jahrhundertwende seine Meinung. 1801 schrieb er in einem Brief an Ludwig Tieck: Soviel ich auch aus dem >Meister< gelesen habe, so odiös ist doch im Grunde das ganze Buch... Es ist eine >Candide< gegen die Poesie. [...] Mit Stroh und Läppchen ist der Garten der Poesie nachgemacht. Anstatt die Komödiantinnen zu Musen zu machen, werden die Musen zu Komödiantinnen gemacht. Es ist mir unbegreiflich, wie ich so lange habe blind sein können. [...] Das Buch ist unendlich merkwürdig; aber man freut sich doch, wenn man von der ängsdichen Peinlichkeit des vierten Teils erlöst und zum Schluß gekommen ist.56 In den nachgelassenen Fragmenten des Novalis wurde die Schmähung des Meisters öffentlich:
53 54 55
te, und klagte: »Ich sehe einen fremden Geist um dich schweben! das hat nicht Goethe geschrieben...« G22-1, S. 81. G24-2, S. 719. Die Novalisbiographie des Kreisamtmanns Just. Zit. nach HESSE/ISENBURG, S. 49. »Wie wünschenswert ist es nicht, Zeitgenoß eines wahrhaft großen Mannes zu seyn! Die jetzige Majorität der kultivierten Deutschen ist dieser Meynung nicht. Sie ist fein genug, um alles Große wegzuläugnen [...]. Daher wird Goethe, der jetzt der wahre Statthalter des poetischen Geistes auf Erden ist, so gemein, als möglich behandelt und schnöde angesehen, wenn er die Erwartungen des gewöhnlichen Zeitvertreibs nicht befriedigt [...].« [Anonym; Novalis:] Blüthenstaub. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ersten Bandes Erstes Stück. Berlin bey Friedrich Vieweg dem älteren, S. 1 0 3 f . R e p r i n t in: ATHENAEUM-1, S. 1 1 7 f .
56
BODE- 1, S. 6 9 4 .
«5
Es ist im Grunde ein fatales und albernes Buch - so pretentiös und pretiös - undichterisch im höchsten Grade [...] eine Satire auf die Poesie, Religion usw. Aus Stroh und Hobelspänen ein wohlschmeckendes Gericht, ein Götterbild zusammengesetzt. Hinten wird alles Farce. [...] Poetische Maschinerie [...]. 57
Das unpoetisch-didaktische Element des Wilhelm Meister bewog Madame de Stael, das Werk in künstlerischer Hinsicht für mißlungen zu halten. Ihr Urteil war - für einen Romanautor - vernichtend: Wilhelm Meister ist voll von scharfsinnigen und geistreichen Erörterungen; man könnte daraus ein philosophisches Werk ersten Ranges machen, wenn sich nicht eine Roman-Intrige einmischte, deren Anziehungskraft nicht aufwiegt, was darüber verlorengeht. [...] [I]n dem Ganzen des Werks gilt kein anderes Interesse als das, die Meinung Goethes über jeden Gegenstand zu erfahren. Der Held seines Romans ist ein lästiger Dritter, den er, man weiß nicht warum, zwischen seinen Leser und sich gestellt hat. 58
Mit Heinrich
von Ofierdingen
hatte Novalis den Lehrjahren
ein romantisch-
mystisches und christliches Werk entgegensetzen wollen. Goethe wird und muß übertroffen werden [...]".
Friedrich Schlegel, dem seit der Geschichte der alten und neuen Literatur Romantische mit dem Christlichen einherging, forderte ebenfalls
das
einen «Übermeister» [...], der die bei Goethe angelegten Tendenzen ausfuhren sollte. 60
Schlegel hatte die >Poesie< des >Proteus< Goethe 1796 die >Morgenröthe echter Kunst und reiner Schönheit< genannt61 und 1797 in den Kritischen Fragmenten erklärt, daß ein Rezensent des Wilhelm Meister, wenn er diesen »gehörig charakterisiertes endgültig sich >zur Ruhe setzen< dürfte. 62 In den Fragmenten im Athenaeum bezeichnete er Goethes Poesie 1798 als >Transzendentalpoesie< oder >Poesie der Poesie*63 und behauptete: 57
NOVALIS 1-3, S. 181. »Die Leidenschaftlichkeit dieser Polemik läßt erkennen, daß es hier um anderes geht als um literarische Qualitätsurteile. Es geht um die grundsätzliche Ablehnung einer Dichtart, die der eigenen absolut entgegengesetzt ist.« HESELHAUS, 123.
58
STAËL, S. 4 4 4 .
59
NOVALIS 1-3, S . 1 7 7 .
60
HOFFMEISTER, S . 2 8 .
61
Friedrich Schlegel: Göthe. Ein Fragment. In: Deutschland. 1. Band, 2. Stück. Berlin, 1796. Zit. nach MANDELKOW I, S. 126. Friedrich Schlegel: Kritische Fragmente ( 1 7 9 7 ) ; zit. nach MANDELKOW I, 1 5 4 . Seine eigene, 1798 im Athenaeum erschienene Besprechung Über Goethe's Meister sollte ein derartiges »gehöriges« Meisterstück sein. Sie blieb Fragment. »Es giebt eine Poesie, deren Eins und Alles das Verhältniß des Idealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache
62
63
86
Die Französische Revolution, Fichte's Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.64 Allerdings notierte er sich bereits 1797: Goethe ist ohne Wort Gottes. 65 1800 noch galten Friedrich Schlegel im Gespräch über die Poesie die Lehrjahre noch als ein »Mittelpunkt*66 der auffallenden Vielseitigkeit< des Goetheschen Werkes 67 und repräsentierten eine >Höhe der Kunst, welche den Keim eines ewigen Fortschreitens enthalte 6 8 In seiner 1808 erschienenen Rezension über >Göthe's Werket wurden dagegen Zweifel an der inhaltlichen Konzeption laut. Die Hauptfigur Wilhelm Meister erschien Schlegel nunmehr >bei aller Liebenswürdigkeit zu schwach und unselbständig^ 69 Novalis' Vorwurf des Antipoetisch-Prosaischen wollte er zwar nicht gelten lassen, sah aber besorgt die sündhaft moderne, antiromantische Tendenz der Lehrjahre7° Wiewohl Friedrich Schlegel 1812 Goethe als geistige Gesamterscheinung doch wieder dem
Transzendentalpoesie heißen müßte. [...] sollte wohl auch jene Poesie,[...] die sich [...] in Goethe findet, [...] überall zugleich [...] Poesie der Poesie seyn.« [Anonym; Friedrich Schlegel zus. mit August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schleiermacher:] Fragmente. In: Athenaeum. Ersten Bandes Ztveytes Stück. Berlin, 1798. S. 64f. Zit. n.: ATHENAEUM-1, S. 256f. 64
ATHENAEUM-1, S. 2 4 8 .
65
Friedrich Schlegel: Literary Notebooks. Zit. n. GlLLE II, S. XVIII. Unter der Überschrift Versuch über den verschiedenen Styl in Goethes jrüheren und späteren Werken heißt es: »Mir selbst bleibt der Meister der faßlichste Inbegriff, um den ganzen Umfang seiner Vielseitigkeit, wie in einem Mittelpunkte vereinigt, einigermaßen zu überschauen.« ATHENAEUM-2, S. 904f. »Ihr werdet nicht leicht einen andern Autor finden, dessen früheste und spätere Werke so auffallend verschieden wären, wie es hier der Fall ist.« ATHENAEUM-2, S. 906.
66
67
68
ATHENAEUM-2, S. 9 1 4 .
69
Lotharios Lehrjahre, so Schlegel, sollten hinzukommen: »An einem Charakter wie Lothario, würde sichs wie an einem kraftvollen und reichen Beispiele erst zeigen, ob es neben den Lehrjahren des Künstlers, auch noch Lehrjahre des Menschen, eine Kunst zu leben, und eine Bildung zu dieser Kunst geben könne, in dem Sinn, den diese Begriffe bei dem Verfasser haben, welcher Sinn an der Bildungsgeschichte der übrigen Personen sich nicht vollständig entwickeln konnte; denn der Charakter der schönen Seele ist teils zu einseitig, teils zu abweichend von dem übrigen Geiste des Buchs; Wilhelm selbst aber bei aller Liebenswürdigkeit zu schwach und unselbständig.« Zit. n. MANDELKOW I, S. 249. »So kann man dann gewiß nicht behaupten, die Absicht des Verfassers sei gegen die Poesie gerichtet, ob man gleich allenfalls sagen könnte, es sei ein Roman gegen das Romantische, der uns auf dem Umweg des Modernen (wie durch die Sünde) zum Antiken zurückführe.« Zit. n. MANDELKOW I, S. 247.
70
87
>Romantischen< zurechnete, 71 war von d e m emphatischen Lob der ums-Zeit
Athenae-
nichts mehr zu spüren:
Indessen wird doch in unserm Dichter oft unter all der mannigfaltigen Bildung, der geistreichen Ironie und dem nach allen Direktionen hinströmenden Witz fühlbar, daß es dieser verschwenderischen Fülle von geistigem Spiel an einem festen inneren Mittelpunkte fehlt.72 D e r Goethe-Kult, den die Athenaeums-Autoten
anfangs getrieben hatten, in-
spirierte Friedrich Nicolai zu lautstarkem Protest: Bei Goethes Sklaven regiert ein beständiger Lobschnupfen. Sie nehmen die Miene an, als wäre Goethe allein da, und alle andere Dichter und Schriftsteller aller Nationen, den guten Freund Schiller allenfalls ausgenommen, wären gar nicht der Mühe wert auf sie zu achten.73
In der Schrift Vertraute Briefe von Adelheid B'" an ihre Freundin Julie S" ließ er 1799 die Fragmente Friedrich Schlegels im M u n d eines gewissen >Doktor Pandolfo< zu verbalem Nonsense zusammenschnurren: Goethes r e i n p o e t i s c h e P o e s i e ist die v o l l s t ä n d i g s t e Poesie d e r P o e s i e . Das ist der größte Dreiklang der modernen Poesie, der i n n e r s t e und allerheiligste K r e i s der Klassiker der neuern Dichtkunst. D a s Bildungs-Programm des Wilhelm
Meister
sah Nicolai als gescheitert an:
Sonst dächte ich: Friedrich der Große und die amerikanische Republik und — die Kartoffeln - wären ganz andere Tendenzen des Zeitalters, als der arme Meister, der in seinen Lehrjahren nichts gelernt hat, als sich von jedem Geschöpfe regieren zu lassen, das er antraf: von Marianen, von Philinen, von Frau Mehna (welche ein paar Bände durch, guter Hoffnung, herumwatschelt) von dem unerklärlichen Jarno, von dem geheimnisvollen Abbé, von der possierlichen unbekannten Gesellschaft die den Burschen soll haben erziehen wollen und mit der und Goethe nur zum besten hat. Sogar Barbara und Felix sind klüger als der breiweiche Wilhelm. [...] Eigentlich ist Meister gar kein Charakter, sondern ein nicht handelndes Schienterwesen, der nebenher mit jeder weißen Schürze liebelt. Pfui! 74 Dorothea Schlegel übertrug in einem Brief an Karoline Paulus vom 8. Dezember 1804 die Vorwürfe des Gewöhnlichen, Prosaischen, Mittelmäßigen von der Figur des Wilhelm Meister direkt auf ihren Schöpfer Goethe:
71
Geschichte 1812.
der alten und neuen
Litteratur.
7 2
Z i t . n . MANDELKOW I, S . 2 9 5 .
73
Friedrich Nicolai: Vertraute Briefe
von Adelheid
( 1 7 9 9 ) Z i t . n . MANDELKOW I, S . 1 7 9 . 74
Z i t . n . MANDELKOW I, S . 1 8 0 .
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Vorlesungen
gehalten
zu Wien im
Jahre
( 1 8 1 5 ) ; zit. n . MANDELKOW I, S . 2 9 5 .
B*** an ihre Freundin
Julie
S**
Ich habe, seit ich Goethe kenne, immer eine Art von Mißtrauen gegen ihn gehabt. Man darf ja nur den >Meister< recht aufmerksam lesen und dabei sich seine Persönlichkeit recht lebhaft vor die Seele bringen, so wird man es ja schon ganz klar finden, wie er eigentlich weit mehr von einem mittelmäßigen als von einem hervorstechenden Talente hält [...]. A l t war der alte Herr schon längst, [...] aber nicht Alle, welche a 11 werden, sind deshalb so v e r a 11 e t als er. Dazu muß man eben nie recht jung gewesen sein. 75 D e n romantischen Atheismus-Vorwurf münzte sie 1805 zum Schlagwort vom >sächsisch=weimarischen Heidentum< um. Im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung wird Goethe zu dem, der (1813) vorm äußeren Feinde flüchtet, um seine ganze Seele dem inneren Feinde preiszugeben; zum >alten kindischen Mann« (1816), iplatt und bierbrudergemein.«76 Ein paar schallende wortwörtliche Ohrfeigen erhielt Goethes Wilhelm Meister in dem 1808 erschienenen, von Varnhagen, N e u m a n n , Bernhardi u n d Fouque gemeinsam verfassten Werk Die Versuche und Hindernisse Karls, einer ausgelassenen Räuberpistole mit Schlüsselromancharakter. Der leibhaft auftretende Wilhelm (bzw. ein Hochstapler, der sich für ihn ausgibt 7 7 ) hat sich mehr als weltfremd in die Ehrenhändel zweier Kavaliere eingemischt und wird daraufhin derb abgestraft. Dennoch ließ Wilhelm Meister nicht nach ihn zurück zu halten, bis Friedrich, dessen Wuth durch die Hindernisse, die man ihm entgegensezte immer höher stieg endlich seiner nicht mehr mächtig, dem lästigen Friedenstifter ein paar derbe Ohrfeigen gab. Wilhelm Meister, der einen solchen Ausgang der Sache nicht für möglich gehalten hatte, stand wie eingewurzelt da, und glich in seiner regungslosen Betäubung denen die das Haupt der Medusa erblickt haben. D u r c h d i e C e l e b r i t ä t , d i e i h m G ö t h e g e g e b e n , w a r er g e w o h n t s i c h in g a n z D e u t s c h l a n d m i t e i n e r A r t v o n h e i l i g e r V e r e h r u n g b e t r a c h t e t zu s e h n , u n d d u r c h d a s U n g l ü c k , d a s i h n j e t z t s o u n e r w a r t e t b e t r a f , f a n d er s i c h m i t e i n e m m a l e von s e i n e r H ö h e so tief h i n a b g e s t ü r z t , daß a l l e s e i n e E r f a h r u n g e n , a l l e B i l d u n g d i e i h m ein so interessantes Leben gegeben hatte, nicht hinreichte, ihm d i e m i t e i n e m S c h l a g e v e r l o r n e F a s s u n g w i e d e r zu g e b e n [Hervorh. T. W.]. Alle seine Seelenkräfte waren vernichtet, sein Wille gelähmt, und ein Kind hätte ihn leiten können, wohin es gewollt hätte, daher er auch ohne das mindeste Widerstreben dem Markese folgte. [...] Er [...] führte ihn hin75
BODE-2, S. 37f.
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HEILBORN, S . 2 4 9 .
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In der Enttarnung des vermeintlichen Wilhelm Meisters als eines Hochstaplers wird der Goethekritik sofort wieder der Grund entzogen. »Die Goetheverehrung ist also schon beim jungen Varnhagen [...] viel zu stark verwurzelt, als daß nicht die Goethe-Parodie [...] selbst wieder relativiert wurde.« OESER I, S. 52. 89
weg, ließ den Reisewagen anspannen, und entfernte sich in der größten Eile vom Schloß. 7 8
Frühe Goethe-Invektiven Kritische Stimmen gegen einzelne Werke, Goethes Person und gegen Weimar wurden nach 1800 häufiger. Der Publizist August Wilhelm Rehberg verriß 1810 Goethes Wahlverwandtschaften und schalt bei dieser Gelegenheit auch auf die Lehrjahre: Die Schilderung eines charakterlosen Laps [...] sagte den herrschenden Gefühlen zu, und die Schicksale, womit das Leben dieses Romanhelden ausgestattet ist, schmeichelten dem Selbstgefühle eines jeden, der in sich Anlage fühlte, ein Wilhelm Meister zu werden, und gar zu gern eine Philine, eine Gräfin, eine Natalie zum Liebeln gefunden, vor allen Dingen aber gern bey Marianen geschlafen, und mit einer Melinaschen Gesellschaft seine guten Jahre vertändelt und vergeudet hätte. Das Buch schmeichelte dem sich selbst verzeihenden, verzärtelten Sinne der Zeiten, in denen man nichts höher schätzt, als sich gehen zu lassen, gar zu sehr. 7 '
Rehberg machte sich über Goethes belehrende Text-Einschübe in den Wahlverwandtschaften lustig80 und beanstandete die moralische Grundauffassung, die ein >treuer Abdruck des Zeitgeistes< sei: 78
ROGGE-1, S. 349ff. Das Kapitel, in dem sich die Stelle befand, stammte von Varnhagen. Selbst die Goetheanerin Rahel Varnhagen soll, trotz allem Groll gegen ihren Gatten wegen dieser Injurie, >im stillen herzlich gelacht haben Wahlverwandtschaften! finden sich unsre Zeitgenossen überall zu Hause. [...] Für den Liebhaber der Chemie kommt die Bleiglasur vor; die ehrliche Hausfrau sogar lieset mit inniger Freude die unerwartete Bestätigung ihrer Beobachtung, daß frisch gepacktes Zeug weniger Platz einnimmt, als auseinandergezerrtes. Die chemische Vorlesung aber, die dem Buche den Titel verschafft hat, ist u n w i d e r s t e h l i c h . « Z i t . n. M A N D E L K O W I, S . 2 7 3 .
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Daß die Menschen insgesamt A. und B. sind, die von C. und D. angezogen und abgestoßen werden, ist eine einleuchtende Moral. Die ganze Welt hört nichts so gern, als: m a n l a s s e d o c h d i e g u t e n K i n d e r g e w ä h r e n ! 8 1 August Friedrich Ferdinand von Kotzebue, dessen Zeitschrift Der ge
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Freimüti-
einen beständigen Kampf gegen Goethe führte, übte detaillierte öffentli-
che Sprachkritik und fürchtete um das Ansehen Deutschlands, da die Welt Goethes Deutsch als Maßstab für die kulturelle Entwicklung der Nation hernähme. 1 8 0 5 zerpflückte er sprachliche Merkwürdigkeiten in Schillers
Toten-
feier und schloß: [S]o besinne man sich doch, daß Göthe bei fremden Nationen für einen unserer ersten Dichter gilt, daß sie unsern Geschmack, unsere Fortschritte in der Sprache, noch immer nach seinen Produkten beurtheilen, weil sie dem untergehenden Gestirn nicht so nahe stehn als wir, und daß man folglich nicht laut genug die Stimme erheben kann; zumal wenn der Gedanke sich dabei aufdringt: Göthe verstehe es wohl besser, aber er meyne, für uns sei alles gut genug, und wenn er nur niese, so müssen wir niederfallen und anbeten.83 Im übrigen war der Musenort Weimar in seiner geistigen Gesamtheit noch zu Schillers Lebzeiten nicht mehr ohne Anfeindung und Verspottung geblieben. Clemens Maria Brentano hatte 1 8 0 3 nach seinem Weimarer Aufenthalt an Sophie Mereau geschrieben: Ich lobe mir die Dichter, die nicht mehr leben, sie können einem nicht wie Göthe, Schiller, Kotzebue, Tieck etc. durch die miserable Weimarer Ziererei zum Ekel werden, ich versichere dich, ich kann mir keinen Ekelhafteren Rahm und ein Kunstleben denken, als das jämmerliche Nest, daß sich zur Poesie, wie das plakichte Hannswurstkleid zum Komischen verhält [...]. Wenn ich an Weimar denke, wird es
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Zit. n. MANDELKOW I, S. 273. Am Ende veränderte Rehberg den Schluß der Wahlverwandschaflen, damit sie >natürlicher< würden. Charlotte müsse in die Scheidung einwilligen, den Baron heiraten, aber mit ihm nicht glücklich werden; ebenso wenig Ottilie mit Eduard. Ottilie müsse sich in die Nebenfigur des Architekten verlieben ... usw. usf. MANDELKOW I, S. 274. Karl August Böttiger berichtete in seiner Unterredung mit Falk im Wagen auf der Reise nach Leipzig Ende April 1804: »Goethe sah nie ein Blatt des Freimüthigen. Man drang es ihm auf. Er gab es ungelesen zurück; hat darum keineswegs es verschworen, einmal Rache an jenem Gesindel zu nehmen. Er gab einmal eine Caricatur an: Goethe mit einigen andern Kunstfreunden wandelt in den Propyläen unter den Säulengängen vornehm gutmüthig herum. Unten hat Kotzebue die Hosen abgezogen und setzt einen S i r R e v e r e n c e , indem er sehnsuchtsvoll hinanblickend spricht: / Ach könnt' ich doch nur dort hinein, / Gleich sollt's voll Stank und Unrath sein!« BöTTIGER (KA), S. 63. Man kann diesen Bericht als weiteres Indiz für Goethes durchaus vorhandene Empfänglichkeit für die »Nadelstiche armer Nichtskönner« (HOLZSCHUHER, S. 5) nehmen. Vgl. unten, Kapitel 10. TREICHLINGER, S . 5 8 .
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mir miserabel [...]. Das ganze Nest hat für mich so eine hungriche Pralerei, wie eine tönerne Schüßel in der Gestalt einer Pastete.84 August Friedrich Tieck, Ludwig Tiecks Bruder, schrieb dagegen im August 1 8 1 0 aus Zürich an Christian Gottlob Voigt d. J. in Weimar über die 1 8 0 8 erfolgte Wiedereinrichtung der Freimaurerloge: Wahrhaftig hätte ich Lust Carricaturen zu Zeichnen [...]. Papa Goethe mit dem dicken Bauch und grossen Hut in der Uniform die Schürzen vor und Maurer Kellen in der Hand, und Wieland mit Schlotternden Knien u[nd] triefender Nase der eingekleidet wird.85 Goethes nach wie vor jugendliche Wechselhaftigkeit, die ständige Durchbrechung aller durch dieses Werk selbst gestifteten Erwartungshorizonte, verbunden mit einer >wohl einzigartigen Publikumsanklage oder Publikumsbeschimpfungdie gute Meinung von sich bei vielen
geschwächt, verloren, ja in Haß verwandelt hatte, was ihn aber nicht sonderlich kümmerten 8 7 Adam Müller beschrieb Goethes >fallende Kurve der Popularität< 1 8 0 4 in Die Lehre vom
Gegensatz;.
Nach dem Werther verschwand er mit jedem immer größeren Werke mehr und mehr aus dem Gesichtskreis der Menge. Diese verlangte ihre Natur neben ihre
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BRENTANO, S. 253. Brentano schrieb 1803 auch eine Parodie auf Goethes König in Thüle: »Es saß der Meister vom Stuhle, / Gar frech im eignen Koth, / Wer wagt sich zu dem Pfuhle, / Es thun ihm Prügel noth, // Wer schmeißt mich über und über, / Wer bläßt das Licht mir aus, / Wer giebt mir Nasenstüber, / Wer schickt mich recht nach Hauß. // Und kömmt er einst zum sterben, / So stirbt sein ganzes Reich, / Die Frösche all verderben, / krepirt er in dem Teich. [...]« SUDHOF, S. 210. Dort wurde der Text erstmals vollständig abgedruckt. - 1809 war Brentano nochmals in Weimar, und Goethe berichtete von einem freundlichen Besuch< [An Bettina von Arnim am 11. September 1809]. In den letzten Lebensjahren [zwischen 1824-1831; das genaue Datum ist unbekannt] erinnerte sich Goethe gegenüber Karl von Holtei: »Ja, sagte er spöttisch lächelnd, der Brentano, das war auch so Einer, der gern für einen ganzen Kerl gegolten hätte. [...] Zuletzt warf er sich in die Frömmigkeit, wie denn überhaupt die vom Leben Verschnittenen, nachher gern überfromm werden, wenn sie endlich eingesehen haben, daß sie anderswo zu kurz kamen, und daß es mit dem Leben nicht geht.« G25-IV, S. 416.
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SUDHOF, S . 2 1 8 .
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MANDELKOW I I - l , S. 3 0 .
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OERTEL, S. 2 8 . Im ersten Teil von Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit bekannte Goethe eine »Nichtachtung, ja [...] Verachtung des Publikums, die mir eine ganze Zeit meines Lebens anhing und nur spät durch Einsicht und Bildung ins Gleiche gebracht werden konnte«. G6, S. 56.
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Kunst gestellt in verzweifeltem Kampfe auf Tod und Leben, und er gab ihr seine Natur versöhnt mit seiner Kunst zum ewigen Leben. Der Tempel seiner Geselligkeit stand offen, aber leer da, und bei den Schenken der Popularität erdrückte sich die Menge. 88 G o e t h e registrierte die geringere A n t e i l n a h m e des breiten Publikums u n d reagierte, i n d e m er seine späten Werke - etwa 1 8 0 9 die Wahlverwandtschaften
-
zum >Zirkular an meine Freunde< 8 9 erklärte u n d sich bemühte, die nachlassende Begeisterung über seine aktuellen Produktionen durch B e f ö r d e r u n g und Sicherung des gewachsenen, epochalen R u h m s zu verdrängen. D a s autobiographische M o m e n t gewann nach Schillers T o d i m m e r mehr an Bedeutung. G o e t h e hatte begonnen, sich >historisch zu sehen< u n d e m p f a n d es als seine Pflicht, der Nachwelt eine authentische, möglichst u m f a s s e n d e Darstellung seiner äußeren und inneren Entwicklung zu hinterlassen. Aus Leben. Dichtung
meinem
und Wahrheit sollte eine dauerhafte Gedächtnisstätte fiir alles
sein, was ihn betraf und die lesenden Freunde interessieren konnte.
1817
m u ß t e er j e d o c h gerade fur diese m o n u m e n t a l e , in dieser F o r m nie dagewesene Rekonstruktion eines Lebensanfangs eine herbe Kritik einstecken. In der einflußreichen Edinburgh
Review hatte William Hazlitt 1 8 1 6 eine von A u g u s t
Wilhelm Schlegels 1811 gehaltenen Vorlesungen Ueber dramatische Kunst Litteratur 88 89
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inspirierte,
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und
vernichtende Rezension der drei ersten Teile seiner
Zit. n. MANDELKOW II-l, S. 22. Allerdings versah er diese Widmung mit dem Zusatz: »Wenn die Menge dieses Werkchen nebenher auch liest, so kann es mir ganz recht sein.« G20, 107. Dagegen bemerkte er entschiedener im Gespräch mit Eckermann am 11. Oktober 1828: »M e i n e S a c h e n k ö n n e n n i c h t p o p u l ä r w e r d e n ; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht fiir die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ahnliches wollen und suchen und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind.« G24-1, S. 275. Zugleich war er jedoch auch mehr als früher bereit, die Wünsche dieses Freundes-Publikums zu berücksichtigen: »Denn wenn wir in früherer Zeit leidenschaftlich unsern eigenen Weg gehen, und um nicht irre zu werden, die Anforderungen Anderer ungeduldig ablehnen, so ist es uns in spätem Tagen höchst erwünscht, wenn irgend eine Teilnahme uns aufregen und zu einer neuen Tätigkeit liebevoll bestimmen mag.« G6, S. 12. Sie wurden 1814 und 1815 in England publiziert als: Cours de Littérature Dramatique. London, 1814; und: Course of Lectures on Dramatic Art and literature. London, 1815. August Wilhelm Schlegel hatte in der 15. Vorlesung den Faust als >Goethes eigenthümlichste Schöpfung< gelobt, in rein formaler, dramatischer Hinsicht aber verworfen. Er sah im Prolog Goethes >Scheidebrief< ans Theater. MANDELKOW I, S. 282f. »Daß Goethe bei dieser Richtung seiner dichterischen Laufbahn auf den reinsten Ausdruck seiner Begeisterung ohne irgendeine andre Rücksicht, und von Seiten der Kunst auf Universalität der Studien, nicht den entscheidenden Einfluß auf die Gestalt unseres Theaters gehabt, den er hätte haben können, wenn er sich ihm wirklich ausschließlich und unmittelbar widmen gewollt hätte, ist leicht zu begreifen.« Zit. n. MANDELKOW I, S. 283f. 93
Lebensbeschreibung veröffentlicht, die nicht nur Goethes Schriftstellerei, sondern auch seinen Charakter betraf. Goethe selbst dürfte sie als Leser der
Edinburgh
Review
bereits im Original zur Kenntnis genommen haben. 9 1 Lo-
renz Oken hatte die Kritik übersetzt und füllte damit sieben Hefte seiner achtspaltigen Zeitschrift Isis. Nach einer allgemeinen Abrechnung mit der deutschen Literatur als einer >pralerischen Quaksalberei u n d pipsenden Zierereis einer überspannten EmpfindsamkeitSubstratum von Plumpheit< unterliege, wurde Goethe als Schriftsteller Künstlichkeit, Konzeptionslosigkeit, Langatmigkeit und als Mensch >allerkindischste Eitelkeit und Thuerei« vorgeworfen. Er entkleidet sich faselnackend, und kehrt in Kauf noch obendrein seine Taschen um. [...] Bei der Ausführung dieses Unternehmens scheint er nicht gefühlt zu haben, daß es nicht unumgänglich nothwendig war, alle Blätter seines Gedächtnisses umzuwenden, und zu einem öffentlichen und unvergänglichen Gedächtniß alle diese rohen Gedanken, diese hohlen Einfälle nieder zu schreiben, die eben so unwichtig sind als die colorierten Lichtfunken, welche bei geschlossenen Augen auf unserem Sehnerven schweben; [...] Goethe tritt Kleinigkeiten lang und breit; denn er ist von seiner eigenen Wichtigkeit so erfüllt, daß er überzeugt ist, daß nichts, was mit ihm in Bezug steht, als unbedeutend könne angesehen werden. Im Widerspruch mit dem bekannten Sprüchwort, denkt er doch, daß er ein Held ist in den Augen seines Kammerdieners. Er freut sich in sein Herz hinein, wenn er eine Gelegenheit hat, der Welt wissen zu lassen, daß er - der berühmte Goethe - der große Schriftsteller - so geformt ist, wie es andere Sterbliche sind. 92
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FR]EDENTHAL, S. 726. Catherine Waltraud Proeschold-Obermann schreibt zu dieser Rezension: »The severest attack on Goethe arising from a review of Schlegels lectures comes from William Hazlitt in the >Edinburgh Review«. [Anmerkung im Text: Edinburgh Review, 26 (1816), S. 67-107.] He finds Schlegels doctrines on German drama highly questionable; of Goethe's works he names only > Werther« und >Egmontinsipid and preposterous«. He shows very little knowledge of Goethe's works, and his criticism is phrased in the old anti-Jacobin style.« PROESCHOLDT-OBERMANN, S. 137. Alois Brandl hat 1882 in dem Aufsatz Die Aufrahme von Goethes Jugendwerken in England Alt lobende Erwähnung des Götz hervorgehoben und in der Rezension den Beginn einer positiven (?) Goethe-Rezeption in England gesehen. GJB 1 (1882), S. 75. OKEN, Sp. 331-378. Hermann Bräuning-Oktavios Einschätzung, Oken »habe die englische Kritik veröffentlicht, wenn auch nicht in der Absicht zu schaden, so doch um einen Possen zu spielen« (BRÄUNING-OKTAVIO, S. 98), scheint mir zuzutreffen. Okens Zeitschrift zeichnete sich durch eine wilde Mischung aus Sensationslust, politischer Draufgängerei und polemischem Wissenschaftsjournalismus aus. »Kennst Du Okens Zeitschrift >Isis