207 52 2MB
German Pages 319 [322] Year 2021
Vincent de Paul Kemeugne Globalisierungserfahrungen bei Wilhelm Raabe
Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart, Gangolf Hübinger, Barbara Picht und Meike Werner
Band 155
Vincent de Paul Kemeugne
Globalisierungserfahrungen bei Wilhelm Raabe Kontextbezogene Analyse seiner Heimkehrertexte
Zugl. Dissertation an der Universität Bielefeld, 2020
ISBN 978-3-11-074290-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074302-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074311-1 ISSN 0174-4410 Library of Congress Control Number: 2021937993 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Cover: bagotaj / iStock / Getty Images Plus Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Danksagung An dieser Stelle möchte ich einigen Personen meinen Dank aussprechen, ohne deren Hilfe diese Studie nicht zustande gekommen wäre. Zu allererst danke ich Prof. Dr.Walter Erhart, der durch seine Anregungen und Meinungen diese Arbeit unterstützt hat. Stellvertretend für das Herausgeberteam verdanke ich ihm ebenfalls die Möglichkeit, diese Studie in der Reihe Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur veröffentlichen zu dürfen. Des Weiteren danke ich Prof. Dr. Kai Kauffmann für die Übernahme des Zweitgutachtens sowie Prof. Dr. David Simo für seine Unterstützung, als diese Studie noch in ihren Anfängen an der Universität Yaoundé I steckte. Ich danke ebenfalls allen Beteiligten des von Prof. Dr. Walter Erhart und Prof. Dr. Holger Dainat geleiteten Forschungskolloquiums, das ich regelmäßig besucht habe. In diesem Rahmen wurden zahlreiche Texte Raabes gelesen und diskutiert. Diese Diskussionen sowie die zahlreichen Gespräche mit Beteiligten haben mir aufschlussreiche Denkanstöße und neue Anregungen gegeben, die weitgehend zur positiven Entwicklung dieser Studie beigetragen haben. Besonderer Dank gebührt dem DAAD, ohne dessen finanzielle Unterstützung diese Studie nicht hätte zustande kommen können. Ich bin auch meiner Familie für ihre psychologische Unterstützung zu Dank verpflichtet. Meine Frau und meine drei Kinder in Kamerun haben während meines Forschungsaufenthalts in Bielefeld viel Geduld und Verständnis aufgebracht, was mir Mut eingeflößt hat, diese Herausforderung anzunehmen. In dieser Zeit haben wir durch verschiedene telekommunikationstechnische Möglichkeiten eine intensive soziale und gar familiäre Nähe ungeachtet der räumlichen Trennung gepflegt. Mit dieser Erfahrung habe ich also eine Dimension der Globalisierung konkret erleben können.
https://doi.org/10.1515/9783110743029-001
Inhalt Einleitung
1 1 Gegenstand und Aufgaben der Untersuchung 4 Fragestellungen und Ziele der Studie Zur Textauswahl 5 Zum Stand der Forschung 5 Zum Globalisierungsbegriff in den literaturwissenschaftlichen Diskursen: Richtungen und Tendenzen 8 13 Eingrenzung des Themas und Modell der Studie Theoretischer Rahmen und methodische Grundlagen 14
Teil I: Literarische Inszenierung des Globalen bei Raabe: Raumdarstellungen und Zeiterfahrungen als Ausdrucksmittel und Reflexionsmodi der Globalisierung Einleitendes
23
Kapitel 1: Raumdarstellung bei Raabe als Verfahren zur literarischen Inszenierung und Reflexion der Globalisierung 30 . Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes 33 41 .. Räumliche Schrumpfung und Vernetzung der Welt .. Relativierung und Irritation der Grenzen durch Angleichung der Raumsemantiken 51 . Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien und kolonialen Imaginationen bei den 57 Raumrepräsentationen .. Kognitive Karten des Globalen 61 .. Kritik an mental maps des Imperialismus 68 77 .. Konstruktion und Irritation der kolonialen mental maps Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus der 86 Globalisierung bei Raabe . Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes als Modus der Reflexionen über Zeitenwende 92 .. Beschleunigungserfahrungen im Spannungsfeld des sozioökonomischen Wandels 94
VIII
Inhalt
..
.
.
. .. .. ..
Zwischen Kultur der Beschleunigung und Kultur der Entschleunigung: „Auf der Schwelle“ der Zeitkulturen in Prinzessin Fisch 104 Zum literarischen Aushandeln eines vermittelnden Weges zwischen konservativem Nationalismus und liberalem Globalismus oder zwischen Vergangenheit und Zukunft in Alte Nester 116 Literarische Gestaltung eines kritisch-realistischen Weges zwischen monochronem und polychronem Zeitverständnis in Abu 125 Telfan Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen als kritische Auseinandersetzung mit Zeitverhältnissen 136 Der Telegraph als literarisches Symbol zur Stilisierung der 139 globalen Gleichzeitigkeit Zur ambivalenten Darstellung der Eisenbahn als 147 Zeitmetapher Das Schiff bei Raabe als Chiffre des Weltverkehrsnetzes 157
Teil II: Migrationen und Identitätsproblematiken bei Raabe Einleitendes
167
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen über die epochalen Globalisierungsphänomene Migration und Kolonisation 171 . Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika: kritische Reflexionen über Vorstellungen und Imaginationen über ein brisantes kulturelles und sozialpolitisches 173 Phänomen .. Amerika als Land der Verheißung und der Zukunft: Zur literarischen Auseinandersetzung mit Glücksvorstellungen als Auswanderungsmotive 181 .. Zur literarischen Auseinandersetzung mit der Vorstellung von Amerika als Land der materiellen Prosperität 193 . Wissenschaft und Kolonialismus als Auswanderungsmotive: Zur literarischen Reflexion des Afrikadiskurses bei Raabe 207 . Die epochale deutsche Auswanderung nach Brasilien in Zum wilden Mann als Kritik an einer kolonial-kapitalistischen Expansion Deutschlands nach Südamerika im Wilhelminischen Zeitalter 219
Inhalt
.
IX
Zur europäischen Auswanderung nach Südostasien im Zeichen der Dutch-Kolonisation: Phantasien und exotistische Wahrnehmungen in Fabian und Sebastian 230
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten von Migration und Modernisierung 237 . Literarische Reflexionen über die Einstellung zur Heimat im 243 Kontext der globalen Mobilität .. Zur literarischen Auseinandersetzung mit dem Stellenwert von Heimat bei der Konstitution individueller und kollektiver Identität in Die Leute aus dem Walde 247 .. Unheimliche Heimat – vertraute Fremde: die Fremde als 256 konstitutives Element der Identitätskonstruktion . Hybride Identitäten und hybride Kulturen im Zeichen von globaler 264 Migration und Modernisierung .. Hybridität in Abu Telfan: zur hybriden Identität des Heimkehrers 267 Hagebucher und der bürgerlichen Gesellschaft .. Zur Herausbildung hybrider Identitäten in Globalisierungskontexten von Migration und Modernisierung 277 Schlussbetrachtungen
285
Literaturverzeichnis 291 291 Sigle Primärliteratur 291 Raabes Texte 291 Quellen aus Zeitschriften und Zeitungen der Epoche Sekundärliteratur 293 307 Nachschlagewerke Internetquellen 307 Personenregister
309
291
Einleitung Gegenstand und Aufgaben der Untersuchung Seit dem Aufkommen des Begriffs Globalisierung in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts sind auf verschiedene Globalisierungsphänomene bezogene Themen in populärwissenschaftlichen Diskursen hochgradig brisant. Des Weiteren erfreuen sie sich in wissenschaftlichen Diskursen großer Aufmerksamkeit. Das Interesse an solchen Themen scheint noch größer zu sein, wenn sie in Verbindung mit Texten gebracht werden, die ungefähr ein Jahrhundert früher entstanden sind, d. h. zu einer Zeit, als der Begriff Globalisierung zwar noch nicht existierte, aber Globalisierungsphänomene intensiv gelebt und kommentiert wurden. Das Kompositum „Globalisierungserfahrungen“, das den Forschungsgegenstand der vorliegenden Studie darstellt, ist ein Konzept, das besser erfasst oder definitorisch umrissen werden kann, wenn man die beiden Stichworte „Globalisierung“ und „Erfahrung“ getrennt unter die Lupe nimmt. Der von Theodore Levitt im Jahre 1983 eingeführte und aus dem Wirtschaftsmilieu stammende Begriff „Globalisierung“ ist heutzutage in fast allen Gesellschaftsbereichen sehr präsent, besonders in Medien und Alltagsreden. Er wird oft so inflationär benutzt, dass der Eindruck entsteht, es handle sich um ein populäres Schlagwort. Seine verstärkte Präsenz zuerst in sozialwissenschaftlichen und danach in geisteswissenschaftlichen Disziplinen zeigt allerdings, dass er ebenso viele Wissensdiskurse in akademischen Milieus prägt. Die Globalisierung ist zwar einerseits aufgrund ihrer pluralen, komplexen, multidimensionalen, fragmentarischen, facettenreichen und vielfältigen Erscheinungsformen und andererseits aufgrund der divergierenden Periodisierungssysteme ihrer Geschichte¹ ein Phänomen, über das kein definitorischer Konsens besteht. In diesem
In der Fachliteratur herrscht kein Konsens über das Periodisierungssystem der Globalisierungsgeschichte. Osterhammel und Petersson stützen sich auf Wallerstein und setzen den „Aufbau der portugiesischen und spanischen Kolonialreiche seit der Zeit um 1500 […] als den Anfang einer im Prinzip irreversiblen weltweiten Vernetzung“ an. Die Mitte des 18. Jahrhunderts markiere das Ende dieser durch „Entdeckungsreisen und regelmäßige Handelsbeziehungen [zwischen] Europa, Afrika, Asien und Amerika“ geprägten Phase. Die darauffolgende Phase, so die beiden Historiker, erstrecke sich von etwa 1750 bis 1880 und sei durch den „Aufbau weltwirtschaftlicher Verflechtungen von bislang unbekannter Dichte unter dem Einfluss der von der Industriellen Revolution geschaffenen Produktions-, Transport- und Kommunikationskapazitäten“ charakterisiert. Die dritte Phase setze nach 1880 ein und erstrecke sich bis ins 20. Jahrhundert. Diese Periode sei durch die Teilung der Welt in zwei konkurrierende Blöcke nach 1945 und den Zusammenbruch des Sowjetblocks in den 90er Jahren gekennzeichnet (vgl. Jürgen Osterhttps://doi.org/10.1515/9783110743029-002
2
Einleitung
Zusammenhang betont Reichardt zu Recht, dass Globalisierung ein begrifflich heterogenes Terrain ist.² Aus der Pluralität der definitorischen Herangehensweisen an den Globalisierungsbegriff ergeben sich jedoch wiederkehrende Bedeutungsgrößen, die auf bestimmte Dimensionen hinweisen, die man mit bestimmten Stichworten erfassen kann. Da die verschiedenen Definitionsansätze des Globalisierungsbegriffs im gegebenen Zusammenhang nicht eingehender referiert werden, können die unter den Stichworten „Entgrenzung“ und „Töten der Entfernung“,³ „Ganzheit und Totalität“, „Interkonnektivität und Verflechtung“, „Verdichtung und Beschleunigung“, „Mobilität und Migration“ sowie „Zirkulation und globale Austäusche“ gefassten Phänomene als konstitutiv für die Globalisierung angesehen werden. In den Kapiteln zu den Textanalysen werden kurze Einblicke in die Bedeutungen der oben genannten Phänomene und in theoretische Implikationen des Globalisierungsbegriffs gegeben. In vielen Definitionsansätzen zum Begriff „Erfahrung“ kommen hauptsächlich zwei Dimensionen ins Spiel, nämlich einerseits ein individuelles oder kollektives erfahrendes Subjekt und andererseits die vor sich gehenden Ereignisse, die das erfahrene Phänomen darstellen. In diesem Sachverhalt steht die Beziehung zwischen dem erfahrenden Subjekt und dem erfahrenen Phänomen im Kern der Problematik. Diese Beziehung konkretisiert sich in einem phänomenologischen Prozess oder in einer kognitiven Aktivität des erfahrenden Subjekts. Bei näherer Beobachtung lassen sich zwei Achsen in der oben angedeuteten Beziehung herausstellen. Die erste Achse wird von manchen Forschern als die innere Beziehung bezeichnet, denn sie kommt zustande über „Empfindungen, Gedanken, Ansichten usw., also über seelische Phänomene in einem umfassenden Sinne dieses Wortes“.⁴ Solche Phänomene verweisen auf „Vorstellungen über
hammel und Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen. München: C.H. Beck 2003, S. 25 – 26.). Sloterdijk erarbeitet ein anderes Periodisierungssystem. Er identifiziert drei Hauptphasen der Globalisierung, nämlich erstens die „metaphysische Globalisierung“, die auf die Antike und das Mittelalter datierbar sei, zweitens die „terrestrische Globalisierung“, die sich über den Zeitraum zwischen 1492 und 1945 erstrecke, und drittens die „elektronische Globalisierung“, die unsere Gegenwart charakterisiere (vgl. Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt/M: Suhrkamp 2005). Vgl. Ulfried Reichardt: Globalisierung. Literaturen und Kulturen des Globalen. Berlin: Akademie 2010, S. 13. Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung. Frankfurt/M: Suhrkamp 1997, S. 44. Lorenz Krüger: Der Begriff des Empirismus. Erkenntnistheoretische Studien am Beispiel John Lockes. Berlin, New York: De Gruyter 1973, S. 40.
Gegenstand und Aufgaben der Untersuchung
3
den Gegenstand der Erfahrung“⁵ und hängen „in Wirklichkeit mit Deutungen zusammen“.⁶ Erfahrungen sind deshalb keine entsubjektivierten, sondern überaus mit Werten aufgeladene „Momente einer durch Begriffe und durch Sprache vermittelten Auseinandersetzung mit der Realität, mit der Gesellschaft“.⁷ Für die vorliegende Studie soll dieser diskursive Charakter des Erfahrungsprozesses deshalb betont werden, weil ein Phänomen wie Globalisierung keine vorgefundene Wirklichkeit ist, sondern eine auf Erfahrungswerten beruhende oder eine durch Interpretationsformen erfahrene Wirklichkeit.⁸ Neben diese innere Beziehung tritt die äußere Beziehung des erfahrenden Subjekts zum erfahrenen Phänomen. Diese lässt sich an Haltungen und Verhaltensweisen oder an unmittelbaren Reaktionen und Handlungen des erfahrenden Subjekts beobachten. Globalisierung ist deshalb seit mehreren Jahrhunderten Gegenstand von intensiven literarischen Bearbeitungen, d. h. von Fiktionen und Imaginationen, weil sie meistens einerseits über Wahrnehmungen, Vorstellungen und andererseits über Handlungen und Haltungen konkrete Züge anzunehmen scheint. Die Aufgabe dieser Studie besteht darin, auf das Phänomen „Globalisierung“ bezogene Sinnzuweisungen, d. h. Vorstellungen, Wahrnehmungen, Deutungen und Ansichten von individuellen und kollektiven Subjekten auf der einen Seite, sowie ihr aktives Handeln, d. h. ihre Haltungs- und Handlungsmuster auf der anderen, in Wilhelm Raabes Heimkehrertexten aufzudecken und einer kontextorientierten Analyse zu unterziehen. Die grundlegende These dieser Studie ist, dass das Werk Raabes an einer intensiven gesellschaftspolitischen Diskussion über Globalisierungsphänomene in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts teilhat. Ein Blick in die populärwissenschaftlichen Diskurse der Epoche zeigt, dass eine unablässige Diskussion über die laufenden Globalisierungsprozesse das gesellschaftspolitische und kulturelle Leben, d. h. das Sprechen, das Denken und das Handeln der Akteure, weitgehend bestimmte. Indem Raabes Texte die gleichen Globalisierungsphänomene thematisieren, die den Interessenschwerpunkt der epochalen Zeitungswelt bilden, und indem sich diese Texte mit den Vorstellungen, Interpretationen, Wahrnehmungen und Handlungen auseinandersetzen, die den epochalen Globalisie-
Martin Fischer: Von der Arbeitserfahrung zum Arbeitsprozesswissen. Rechnergestützte Facharbeiten im Kontext beruflichen Lernens. Wiesbaden: Springer 2000, S. 100. Wolfgang Röd: Erfahrung und Reflexion. Theorien der Erfahrung in transzendentalphilosophischer Sicht. München: C.H. Beck 1991, S. 37. Negt zit. in Martin Fischer: Von der Arbeitserfahrung zum Arbeitsprozesswissen. Wiesbaden: Springer 2000, S. 103. Vgl. Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans und Kerst Walstra: Vorwort. In: dies. (Hgg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. S. 5.
4
Einleitung
rungsdiskursen zugrunde liegen, partizipieren sie an einer brisanten gesellschaftspolitischen Diskussion. Die zweite These, die eigentlich mit der Hauptthese eng zusammenhängt, ist, dass man in Raabes Heimkehrertexten Diskurspositionen identifizieren kann, die an den polarisierenden Charakter für und wider Globalisierung denken lassen. Durch bestimmte Strategien und Konstellationen werden in diesen Texten die beiden Diskurslager, die von bestimmten Figuren vertreten werden, inszeniert und in den Mittelpunkt der literarischen Auseinandersetzungen gerückt. In diesen zeichnet sich ein literarisch konstruierter Diskurs ab, den man als kritisch- realistisch charakterisieren kann. Mit der Konstanz dieser kritisch-realistischen Diskurslinie schlagen die Reflexionen von Globalisierung in Raabes Texten einen vermittelnden Weg ein, der jedwede Radikalität oder jede unreflektierte Haltung zurückweist. Auf der einen Seite werden die negativen Folgen der Globalisierung weder heruntergespielt noch ausgeblendet. Sie werden im Gegenteil sogar emphatisch thematisiert. Allerdings wird auf der anderen Seite der Charakter von Globalisierung als unverrückbares und die Zukunft des Menschen gestaltendes Phänomen betont. Raabes Texte sind den Diskursen ihrer Zeit voraus, denn diese kritisch-realistische Diskurslinie prägt heutzutage viele Globalisierungsdiskurse.
Fragestellungen und Ziele der Studie Aufbauend auf dem oben konturierten Forschungsgegenstand und im Spannungsfeld der festgelegten Aufgabenstellungen lässt sich in dieser Studie eine Reihe von Fragestellungen formulieren: Wie werden die Texte Raabes auf der strukturellen (motivische und metaphorische sowie Handlungs- und Raumstrukturen) und auf der diskursiven (Themen und Ideologien) Ebene gestaltet, sodass die Imagination der Globalisierung ermöglicht wird? Welche Globalisierungsphänomene werden in Raabes Texten thematisiert, und wie brisant und relevant sind sie im Kontext der Gesellschaft und Kultur ihrer Entstehungszeit? Welche Diskurspositionen lassen sich bei Raabe herausstellen und wie verhält oder positioniert sich sein Werk zu den epochalen Diskursen über die laufenden Globalisierungsprozesse? Die Auseinandersetzung mit den formulierten Fragestellungen verfolgt bestimmte Ziele. Das Hauptziel ist aufzuzeigen, dass Raabes Texte in den von Globalisierung geprägten soziokulturellen Kontext ihrer Epoche eng eingebunden sind. Aus diesem Hauptziel lassen sich zwei weitere Ziele ableiten. Zum einen soll erläutert werden, wie Raabes Texte durch die Globalisierungsthematik an einer brisanten gesellschaftspolitischen Diskussion teilhaben, die u. a. über die Zeitschriften der Epoche erfolgt. Zum anderen soll aufgezeigt werden, dass sich Ra-
Zum Stand der Forschung
5
abes Texte mit den auf Globalisierung bezogenen Diskursen und Mentalitäten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensiv auseinandersetzen. Zum Erreichen dieser Ziele wird eine Textauswahl getroffen, die nicht nur literarische, sondern auch nicht-literarische Texte einschließt.
Zur Textauswahl Die Primärliteratur dieser Studie besteht zum einen aus Texten aus Raabes Werk und zum anderen aus nicht-literarischen Texten aus der publizistischen Diskurswelt der Epoche, nämlich aus Zeitschriften und Zeitungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auf das Warum und Wie einer Inbeziehungsetzung der beiden Textsorten komme ich im Abschnitt über den theoretischen Rahmen und die methodische Fundierung der Arbeit noch eingehender zu sprechen. Raabes Texte, die in dieser Studie den Kern des zu analysierenden Korpus literarischer Werke bilden, sind überwiegend Rückkehrer- oder Heimkehrertexte, d. h. Texte, in denen dem Rückkehrmotiv und der Figur des Heimkehrers eine zentrale Funktion zukommt. Diese Heimkehrertexte, die angesichts ihres beträchtlichen Anteils am Gesamtwerk Raabes eine zentrale Stelle in seinem Schaffen einnehmen, stellen interessante Konstellationen, Motive, Themen und Strukturen dar, die auf Globalisierungsphänomene hinweisen. Räumliche Dimensionen wie etwa Interkonnektivität, Verflechtung und Entgrenzung sowie zeitliche Dimensionen wie Verdichtung und Beschleunigung oder Themen wie z. B. Mobilität, kultureller Austausch und Migration sowie die damit verbundenen Identitätsprobleme sind wiederkehrende globalisierungsrelevante Aspekte in diesen Heimkehrertexten. Nicht-literarische Texte, die in dieser Studie das diskursive Bezugsfeld sowie den historischen Kontext der Entstehungszeit von Raabes Texten darstellen, sind vornehmlich Textauszüge aus Zeitschriften der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei um Texte, die in vielerlei Hinsicht mehrfache inhaltliche Überschneidungen mit Raabes Texten aufweisen. Auf die Begründung dieser Auswahl von Texten aus den Zeitschriften der Epoche komme ich noch näher zu sprechen.
Zum Stand der Forschung Im Zuge der aus den USA stammenden Cultural Studies sind seit einigen Jahren viele Texte von manchen Autoren des poetischen Realismus Gegenstand intensiver Relektüren mit innovativen Analyseperspektiven und neueren Erkenntnis-
6
Einleitung
interessen. In diesem Zusammenhang ist eine verstärkte Auseinandersetzung mit kulturwissenschaftlichen Themen, unter denen „Globalisierung“ eine wichtige Stellung einnimmt, in Raabes Texten festzustellen. In diesem Zusammenhang haben sich Forscher wie Florian Krobb, Roland Berbig und Dirk Göttsche besonders profiliert. Mit seiner 2009 erschienenen Publikation Erkundungen im Überseeischen. Wilhelm Raabe und die Füllung der Welt verfasste der Literaturwissenschaftler Florian Krobb die erste wichtige monographische Studie über einen bedeutenden Aspekt der Globalisierung bei Raabe, nämlich die Migration in die Fremde im Zeichen der wissenschaftlichen Erkundungen. Er stützt sich auf postkoloniale Ansätze, um die Wissenskonstruktion über das Überseeische während der Forschungs- und Entdeckungsreisen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Raabe zu untersuchen. In einem Korpus von vier Texten, nämlich Abu Telfan, Zum wilden Mann, Stopfkuchen und die Akten des Vogelsangs rückt Krobb das Diskursfeld „der gleichzeitigen Schrumpfung und Expansion ‚der Welt‘ […] im Bewusstsein europäischer Beobachtung während des Zeitraums der verstärkten überseeischen Aktivitäten“⁹ in den Mittelpunkt des Interesses. Seine Studie befasst sich zwar mit der „epochale[n] mentalitätsgeschichtliche[n] Erfahrung, dass die Welt gleichzeitig größer und kleiner wurde und zu einer einzigen Welt verschmolz“,¹⁰ aber ihr fehlt eine enge Einbettung von Raabes Texten in den über das kulturelle und diskursive Archiv rekonstruierbaren Kontext der Epoche. In der ebenfalls 2009 publizierten und von Florian Krobb und Dirk Göttsche herausgegebenen Aufsatzsammlung Wilhelm Raabe: Global Themes – International Perspectives werden in einigen Beiträgen einige Dimensionen der Globalisierungsthematik bei Raabe aufgeworfen und analysiert. In seinem Aufsatz „Watching the World Schrink und Grow: Globalism in the Works of Wilhelm Raabe“ formuliert Krobb eine Reihe von aus seiner Sicht bislang ungenügend erforschten Fragestellungen, die für die Erfassung der Globalisierungsthematik bei Raabe ausschlaggebend sind, und an die ich anknüpfe. Hierzu schreibt er: The question arises, however, as to whether he [Raabe] espouses any discernable attitude towards the realities which he observed and represented. The question of how he engages with globalism, how he represents globalization in his writing, implies the question as to
Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen. Wilhelm Raabe und die Füllung der Welt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 9. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 9 f.
Zum Stand der Forschung
7
what his views and opinions are on globalization and the discourse of globalisation in which he participates.¹¹
In dem 2013 erschienenen und von Roland Berbig und Dirk Göttsche herausgegebenen Sammelband Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus steht „die Auseinandersetzung der Autoren und Werke des deutschen Realismus mit dem radikalen Wandel des Raum- und Zeitbewusstseins im Zuge beschleunigter Modernisierung im späteren 19. Jahrhundert“¹² im Mittelpunkt der Analysen. In einigen Texten von Autoren wie Raabe, Fontane, Keller, Jensen, Heyse und Auerbach werden Raum- und Zeitverständnisse ergründet und auf ihre Bedeutung für das Bewusstsein des Globalen hin befragt. In der Fülle der analysierten Texte fällt es jedoch schwer, die Spezifität der literarischen Semantisierung von Raum und Zeit und darüber hinaus die charakteristischen Züge des Globalisierungsdiskurses bei jedem Autor zu erfassen. Diese Untersuchung ist also nicht die erste, die sich mit der Globalisierungsthematik bei Raabe auseinandersetzt. Es ist jedoch festzustellen, dass die meisten Untersuchungen nicht nur Teilaspekte des überaus facettenreichen Phänomens Globalisierung aufgreifen, sondern auch dem Entstehungskontext von Raabes Texten nicht genügend Aufmerksamkeit schenken. Wie Raabes Texte als in ihren kulturellen Entstehungskontext eingebetteter Reflexionsraum, in dem Globalisierungsphänomene intensiv beschrieben werden, an den epochalen Diskursen partizipieren, und welche Positionen über Globalisierung literarisch inszeniert werden, sind Fragestellungen, die bisher noch nicht verfolgt wurden. Eine konsequent kontextorientierte Analyse der umfassenden Manifestationen des Globalisierungsphänomens in einem relativ umfangreichen Korpus aus Raabes Werk ist das primäre Ziel der vorliegenden Studie. Diese konsequent kontextorientierte Analyse erfolgt dadurch, dass literarische Diskurse in Raabes Werk in Beziehung zu den nicht-literarischen Diskursen der Epoche gesetzt werden.
Florian Krobb: Watching the World Shrink and Grow. Globalism in the Works of Wilhelm Raabe. In: Göttsche und ders. (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, International Perspectives. London: Legenda. 2009, S. 17. Roland Berbig und Dirk Göttsche: Einleitung. In: dies. (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin: De Gruyter 2013, S. 2.
8
Einleitung
Zum Globalisierungsbegriff in den literaturwissenschaftlichen Diskursen: Richtungen und Tendenzen Der Globalisierungsbegriff ist deshalb omnipräsent in Alltags- und Wissensdiskursen, weil der ihn bezeichnende Prozess eine fast alle gesellschaftlichen Bereiche sowie kulturellen Institutionen erfassende Wirklichkeit ist. Als Bestandteil des gesellschaftlichen Systems Kunst und als kulturelle Institution kann sich die Literatur weder den Einflüssen von Globalisierung entziehen¹³ noch von der Auseinandersetzung mit ihr fernhalten. In literaturgeschichtlicher Hinsicht lassen sich die Spuren der literarischen Bearbeitung von Globalisierungsprozessen bis in die Frühe Neuzeit zurückverfolgen. In manchen Texten aus dieser Zeit lassen sich „‚Grundlegungen‘ zur Globusliteratur“¹⁴ herausstellen, die „unentdeckte und damit die Abenteuerlust beflügelnde Antriebskräfte der Exploration in die Gefilde von ‚Leerstellen‘ und weißen Flecken der Globographie“¹⁵ freigelegt haben, was eine bedeutende Rolle für die Entdeckungsreisen gespielt hat. Seitdem ist Globalisierung in ihren vielfältigen Entwicklungen oder ihren verschiedenen epochenspezifischen Erscheinungsformen immer wieder Gegenstand von literarischen Auseinandersetzungen. In literaturwissenschaftlichen Diskursen wird bei der Auseinandersetzung mit Globalisierungsphänomenen der Fokus auf das Verhältnis zwischen Globalisierung und Literatur gelegt. Zum einen markiert der von Goethe in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts formulierte Begriff „Weltliteratur“ den Anfang von seit fast 200 Jahren unablässig geführten Reflexionen, „in denen sich das Spannungsverhältnis von Universalität und kultureller Differenz immer wieder neu konkretisiert“.¹⁶ Zum anderen wurden mit diesem Begriff die Weichen für eine bis heute intensiv geführte literaturwissenschaftliche Diskussion um die Problematik des Verhältnisses von Globalisierung und Literatur gestellt. Die literaturwissenschaftliche Diskussion um diese Problematik hat inzwischen verschiedene Entwicklungen mit entsprechend unterschiedlichen Akzentuierungen angenommen. Auf die Geschichte dieser Diskussion soll hier nicht eingegangen werden. Statt-
Vgl. Horst Steinmetz: Globalisierung und Literatur(geschichte). In: Schmeling u. a. (Hgg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung, S. 189. Angela Oster: Globalität und Globus. Technikfaszination und Kunsthandwerk der Globographie in der Frühen Neuzeit. In: Christian Moser und Linda Simonis (Hgg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 550. Angela Oster: Globalität und Globus, S. 536. Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans und Kerst Walstra: Vorwort, S. 7.
Zum Globalisierungsbegriff in den literaturwissenschaftlichen Diskursen
9
dessen werden die etablierten Richtungen oder Tendenzen mit deren Akzentuierungen in den Blick genommen. Die Geschichte der literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskussion um das Verhältnis zwischen Globalisierung und Literatur ist verhältnismäßig jung, auch wenn die literarische Bearbeitung von Globalisierungsphänomen auf eine lange Geschichte zurückblicken kann. Als literatur- und kulturwissenschaftliche Kategorie hat sich der Begriff Globalisierung erst in den 1990er Jahren im Zuge des cultural turns etabliert,¹⁷ und die Forschungsliteratur, die das Beziehungsverhältnis von Globalisierung und Literatur theoretisiert, ist bisher verhältnismäßig spärlich. In diesem Abschnitt wird vorrangig deshalb auf einige Sammelbände Bezug genommen, die sich der oben genannten Problematik widmen, nicht nur weil sie sich durch die Perspektivenvielfalt ihrer Beiträge auszeichnen, sondern auch durch eine klar umrissene Kategorisierung der Interessenschwerpunkte, die die verschiedenen Richtungen und Tendenzen der Forschung deutlich erkennen lässt. Auf manche Monographien wird jedoch gelegentlich zurückgegriffen, um diese theoretischen Ausführungen zu untermauern.Von den drei Sammelbänden, auf die sich die Ausführungen in diesem Abschnitt hauptsächlich stützen, gibt es zwei, die jeweils aus einem Kolloquium und einer Tagung hervorgegangen sind. Der erste Sammelband mit dem Titel Literatur im Zeitalter der Globalisierung, der von Schmeling et al. herausgegeben wurde, ging aus einem 1998 stattgefundenen Kolloquium mit dem Thema „Globalisierung – eine Herausforderung für die Literatur“ hervor. Hier wird der Frage nachgegangen, wie sich Literatur im Zeitalter der Globalisierung verhält und unter welchen Bedingungen ihre Partizipation oder Reaktion erfolgt.¹⁸ Der zweite mit dem Titel Figuren des Globalen (2014) präsentiert die Ergebnisse einer Tagung von 2011. Den Herausgebern Moser und Simonis zufolge wird hier das Ziel verfolgt, „die Bestandteile des globalen Imaginären sowie die verschiedenen Modi der literarischen Weltdarstellung und Weltherstellung […] zu untersuchen“.¹⁹ Dabei wird ein besonderer Akzent auf „die Wechselwirkungen [gelegt], die zwischen literarisch-künstlerischen Weltkonstruktionen und den sozialen, ökonomischen und politischen Globalisierungsprozessen existieren“.²⁰ Der dritte Sammelband mit dem Titel Globalisierung und Gegenwartsliteratur wurde 2010 veröffentlicht. Er widmet sich der Frage, auf
Vgl. Ulfried Reichardt: Globalisierung. Literaturen und Kulturen des Globalen, S. 72. Vgl. Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans und Kerst Walstra: Vorwort, S. 6. Christian Moser und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre. In: dies. (Hgg.): Figuren des Globalen, S. 14. Christian Moser und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre, S. 14.
10
Einleitung
welche Weise Literatur am Diskurs über Globalisierung teilhat.²¹ Weltliteraturkonzepte, Intertextualität, Interkulturalität, Übersetzung und Kulturtransfer sowie postkoloniale Interessenschwerpunkte wie etwa Exil, Migration und Identität sind in den genannten Sammelbänden wiederkehrende Termini, die genügend Auskunft geben über die verschiedenen Aspekte in der Diskussion um die genannte Problematik. Im Allgemeinen lassen sich drei Richtungen oder Tendenzen herausstellen, die sich auf drei verschiedenen Ebenen der Literatur manifestieren, auf denen globalisierende Faktoren beobachtbar sind²² oder der Einfluss von Globalisierung auf die Literatur erkennbar ist.²³ In der ersten Tendenz wird die Ebene der Distribution und Zirkulation der Texte in den Blick genommen. In der zweiten wird der Fokus auf die Ebene der literarischen Struktur gerichtet und in der dritten die Ebene der literarischen Thematisierung fokussiert. In der ersten Tendenz, die die Ebene der Distribution und Zirkulation untersucht, wird von der Grundannahme ausgegangen, dass „das literarische Geschehen […] eingebunden in allgemeine Zirkulationsströme“²⁴ ist. Hier werden im Allgemeinen zwei Aspekte ins Blickfeld gerückt. Für den ersten Aspekt geht man von einem empirischen Ansatz des Globalisierungskonzepts aus und versucht zum einen die nachprüfbaren Auswirkungen von Globalisierung auf die Vermittlungsinstanzen und Institutionen des Literatursystems auszuloten und zum anderen die Reaktionen dieser Instanzen und Institutionen auf Globalisierungsprozesse aufzuzeigen. Hier können u. a. die „technologisch ermöglichte weltweite Distribution“²⁵ und andere Modalitäten einer internationalen Verbreitung von Texten analysiert werden. Die exogenen Bedingungen der internationalen Distribution und der globalen Zirkulation von Texten werden also in den Vordergrund gestellt. Für den zweiten Aspekt wird der Fokus auf die ästhetischen Bedingungen der Internationalisierung von Texten gerichtet. Dabei spielen endogene Faktoren und textinterne Strategien wie etwa Intertextualität und Interkulturalität oder an einem internationalen Publikum orientierte Schreibweisen eine bedeutende Rolle. Manche Texte sind für eine Verbreitung außerhalb des nationalkulturellen Rahmens prädestiniert, indem ihnen nicht nur eine Übersetzbarkeit, sondern auch
Vgl. Wilhelm Amann, Georg Mein und Rolf Parr: Gegenwartsliteratur und Globalisierung. Vorüberlegungen zu einem komplexen Beziehungsverhältnis. In: dies. (Hgg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen-Konzepte-Perspektiven. Heidelberg: Synchron 2010. S. 9. Vgl. Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans und Kerst Walstra: Vorwort, S. 8. Vgl. Christian Moser und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre, S. 14. Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans und Kerst Walstra: Vorwort, S. 14. Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans und Kerst Walstra: Vorwort, S. 8.
Zum Globalisierungsbegriff in den literaturwissenschaftlichen Diskursen
11
eine internationale oder transnationale Rezipierbarkeit eingeschrieben sind.²⁶ Moser und Simonis sprechen in diesem Zusammenhang von einer „impliziten“ Reflexion von Globalisierung in der Literatur. Diese „implizite“ Reflexion kann „die Form einer Anpassung an die Bedingungen des literarischen Weltmarktes annehmen. In diesem Fall ist sie von vornherein auf globale Verständlichkeit hin angelegt und besitzt eine eingebaute ‚translability‘, die eine möglichst weite Verbreitung ermöglichen soll“.²⁷ Zudem geht man in der oben dargestellten Tendenz davon aus, dass Texte aus verschiedenen Nationalkulturen miteinander verwoben sind und deshalb ein Netzwerk bilden. Globalisierung wird in diesem Zusammenhang vielmehr als Perspektive oder Blickwinkel angesehen, denn sie macht es möglich, einen globalen Blick auf die Texte zu haben oder einen Text nicht mehr allein aus einer nationalkulturellen Perspektive zu betrachten, sondern aus einer globalen oder transnationalen.²⁸ Diese Tendenz findet in der vorliegenden Studie keine Anwendung, denn hier wird der Fokus keinesfalls auf die „Funktionen des Literarischen für Globalisierungsprozesse“²⁹ gerichtet, sondern auf eine thematische Reflexion von Globalisierungsprozessen in der Literatur, d.h. der Text wird hier als expliziter Reflexionsraum über Globalisierung angesehen. In der zweiten Tendenz, die die Ebene der literarischen Struktur untersucht, stützt man sich auf einen strukturellen Ansatz des Globalisierungskonzepts, der den Einfluss von Globalisierungsprozessen auf die Strukturierung von verschiedenen Bereichen zu erfassen versucht. Im Literaturbereich wird von der Annahme ausgegangen, dass das von manchen Grundzügen der Globalisierung geprägte Vgl. Helmut Meter: Kosmopolitismus und Schematismus in der zeitgenössischen Erzählliteratur Italiens. In: Wilhelm Schmeling u. a. (Hgg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung, S. 271 f. Christian Moser und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre, S. 15. In Anlehnung an Moretti spricht Blaschke von einer „Perspektive einer Literaturwissenschaft aus der Vogelperspektive“ (Bernd Blaschke: Die Weltkugel als Reise- und Reflexionsraum bei Matthias Politycki. Globalisierung als Erfahrung und als poetische Herausforderung. In: Wilhelm Amann u. a. (Hgg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur, S. 92). Reichardt weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf Globalisierung als Erkenntnismedium hin, denn „Vernetzung und Interdependenz, Transkulturalität und Austausch [werden] immer in die Reflexion einbezogen“ (Ulfried Reichardt: Globalisierung. Literaturen und Kulturen des Globalen, S. 81). Mit diesem Konzept aus dem Forschungs- und Studienprogramm des von der DFG geförderten Graduiertenkollegs „Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung“ werden die in dieser Tendenz angedeuteten Aspekte als „Interaktionen von Globalisierungsprozessen und Literatur“ erfasst. Hier werden sie zum einen als „Auswirkungen ökonomischer oder medientechnischer Entwicklungen“ auf die Literatur und zum anderen als aktiver Anteil der Literatur an den Globalisierungsprozessen identifiziert. (vgl. „Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung“. In: https://www.grk-globalisierung.uni-muenchen.de/dokumente/antrag_mittellang.pdf. (Zugriff am 25.11. 2018)).
12
Einleitung
Denken sich in der Struktur des literarischen Textes niederschlägt. Dies bedeutet, dass in der strukturellen Verfasstheit von Texten manche Manifestationen der Globalisierung identifiziert werden.³⁰ Die für das Globalisierungskonzept konstitutiven Dimensionen wie etwa Netzwerk, Entgrenzung, Austausch, Beschleunigung, Mobilität oder Konnektivität lassen sich also auch an den Motiv-, Handlungs-, Personen-, Raum- und Zeitstrukturen oder an den narrativen Verfahren von Texten erkennen. So gesehen kann die Struktur eines Textes „an der Produktion von Globalisierung teilhaben“.³¹ In diesem Zusammenhang nehmen Fragen nach der Form der Analogie zwischen der globalisierten Welt und der Struktur von Texten³² oder danach, inwiefern Texte durch ihre Struktur „eine bestimmte Imagination von Globalisierung zuallererst ermöglichen“,³³ eine bedeutende Stellung ein. In der dritten Tendenz, die die Ebene der literarischen Thematisierung untersucht, geht man von einem kognitiven Ansatz des Globalisierungskonzepts aus, der Globalisierung als Erkenntnisobjekt betrachtet. Die Funktionsweisen, Manifestationen und Gesetzmäßigkeiten von Globalisierung können in diesem Zusammenhang in den Vordergrund gerückt werden. Hier wird durch eine thematische Auseinandersetzung also versucht, Reflexionen über Globalisierung vorzunehmen, was dazu führen kann, dass „man neue Zusammenhänge erkennt“.³⁴ Der literarische Text bietet in diesem Zusammenhang einen Rahmen bzw. einen Raum, in dem man sich mit verschiedenen Aspekten der Globalisierung reflexiv auseinandersetzt, denn er erschließt sich neue Themen, die im Zuge der Globalisierung virulent werden: die Probleme der Migration, der Ökologie und der globalen Klimaveränderung, der Ökonomie und der globalen Finanzkrise, des globalen Terrors und des Konflikts der Kulturen, der Konstitution individueller und kultureller Identitäten.³⁵ Dabei können „die mit dem Thema transportierten ideologischen bzw. ideologiekritischen Parameter, d. h. die Frage einer positiven oder negativen Bewertung“,³⁶ eine zentrale Stelle einnehmen. Ausgehend von dem oben Ausge-
Christian Moser und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre, S. 14 f. Oliver Kohns: Handkes Globalität. In: Wilhelm Amann u. a. (Hgg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur, S. 180. Hervorhebung im Original. Vgl. Jean Bessière: Interaction littéraire, pensée contemporaine de la littérature, globalisation. En passant par Daniele del Guidice. In: Schmeling u. a. (Hgg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung, S. 125. Oliver Kohns: Handkes Globalität, S. 180. Ulfried Reichardt: Globalisierung. Literaturen und Kulturen des Globalen, S. 18. Christian Moser und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre, S. 15. Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans und Kerst Walstra: Vorwort, S. 8.
Eingrenzung des Themas und Modell der Studie
13
führten wird das Thema der vorliegenden Studie eingegrenzt sowie ihr Modell festgelegt.
Eingrenzung des Themas und Modell der Studie Das Modell der vorliegenden Studie ist eine Kombination aus den Tendenzen der literarischen Struktur und der literarischen Thematisierung. Bei näherem Hinsehen sind diese Tendenzen nicht streng voneinander getrennt zu denken. In diesem Zusammenhang schreibt Kohns mit Blick auf das Thema Globalität bei Handke: „Die Ebenen der formalen Struktur und des Diskurses lassen sich generell nicht so sauber trennen“,³⁷ denn sie finden zusammen auf einer größeren Ebene, nämlich der inhaltlichen. Es geht also darum, manche Dimensionen der Globalisierung in der „strukturellen und semantischen Anlage“³⁸ eines Textes herauszuarbeiten. Auf dieser inhaltlichen Ebene ist Globalisierung meistens Gegenstand einer „expliziten“ Reflexion, in der man „sich kritisch oder affirmativ mit den Folgen der Globalisierung auseinandersetzen“³⁹ kann. Die verschiedenen Dimensionen dieser inhaltlichen Ebene beleuchtet Schmitz-Emans wie folgt: Literarische Texte thematisieren jene Prozesse, die man als global bezeichnet, stellen sie dar, reflektieren sie, sei es kritisch oder affirmativ. In den Blick geraten Formen und Folgen der Internationalisierung und des interkulturellen Austauschs, der Wandlung von Lebenswelten, der Transformation räumlicher und zeitlicher Ordnungsmuster, der konfliktträchtigen Auseinandersetzung mit dem Fremden.⁴⁰
Das Modell der vorliegenden Studie gründet auf der Annahme, dass Raabes Texte zu dem „Genre der explizit auf bestimmte Aspekte der Globalisierung reagierenden Werke“⁴¹ gehören. In diesem Zusammenhang wird bei der Auseinandersetzung mit der Globalisierungsthematik in der vorliegenden Studie ein besonderer Akzent auf „thematisch-motivische Raster“⁴² der Texte gelegt.
Oliver Kohns: Handkes Globalität, S.184. Horst Steinmetz: Globalisierung und Literatur(geschichte), S. 200. Christian Moser und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre, S. 15. Monika Schmitz-Emans: Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse. In: Manfred Schmeling u. a. (Hgg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung, S. 289. Horst Steinmetz: Globalisierung und Literatur(geschichte), S. 200. Meine Hervorhebung. Bernd Blaschke: Die Weltkugel als Reise- und Reflexionsraum bei Matthias Politycki, S. 92.
14
Einleitung
Theoretischer Rahmen und methodische Grundlagen „Jede geistige Arbeit nimmt von dem Ort (ein unter Umständen schwerwiegendes Wort), wo sie sich niederlässt, einen bestimmten Geruch an“ (Fontane 1895).⁴³
Den nachfolgenden Ausführungen über den theoretischen Rahmen und die methodischen Ansätze wird das oben angeführte Zitat Fontanes deshalb vorausgeschickt, weil es gewissermaßen den Kern der Lektüre- und Analyseperspektive von Raabes Texten in der vorliegenden Studie zum Ausdruck bringt. Nicht von ungefähr legt Fontane den Akzent auf das Wort „Ort“, das eigentlich hier auf die Zeitschrift Deutsche Rundschau als Ort des Vorabdrucks von Effi Briest hinweist. Diese Zeitschrift kann in diesem Zusammenhang als unmittelbares intertextuelles Umfeld des erwähnten Textes angesehen werden. Der Sinn von „dem schwerwiegenden Wort“ „Ort“ kann jedoch erweitert werden, denn der „Ort“, an dem sich jede geistige Arbeit niederlässt, beschränkt sich nicht nur auf das unmittelbare intertextuelle Umfeld, sondern kann sich auch auf das soziokulturelle Umfeld ihrer Erscheinung erweitern lassen. Diese Aussage Fontanes legt nahe, dass jede geistige Arbeit sowohl von dem intertextuellen und darüber hinaus im erweiterten oder übertragenen Sinne von dem soziokulturellen Umfeld ihrer Entstehungszeit beeinflusst ist. So gesehen kann der Begriff „Kontext“ geeignet sein, um sowohl das intertextuelle als auch das soziokulturelle Umfeld zu bezeichnen, in dem jeder Text als geistige Arbeit verortet ist. Das anhand des Begriffs „Kontext“ zugleich erfasste intertextuelle und soziokulturelle Umfeld ist für die Analyse der Texte Raabes in der vorliegenden Studie in zweierlei Hinsicht von großer Bedeutung. Zum einen wurden fast alle Texte Raabes, die zum Korpus dieser Studie gehören, zuerst als Vorabdrucke in verschiedenen Zeitschriften der Epoche veröffentlicht, bevor sie später als Volltexte erschienen. Diese Vorabdrucke waren in mancherlei Hinsicht thematisch verwoben mit den Inhalten dieser Medien. Zum anderen beschäftigt sich die Studie mit einem Thema in den Texten Raabes, das eng mit dem soziokulturellen Umfeld ihrer Entstehungszeit verbunden ist. Globalisierung wird also in dieser Studie verstanden als eine historische Wirklichkeit, die sich durch vielfältige kulturelle und gesellschaftliche Phänomene manifestiert, die mehrfach Einzug in die Texte Raabes gefunden haben. Dies suggeriert einen engen Bezug seiner Texte zur soziokulturellen Wirklichkeit oder zum gesellschaftlichen Alltag ihrer Epoche Fontane zit. in Roland Berbig: Theodor Fontane Chronik. Bd. 4: 1884– 1895. Berlin, New-York: De Gruyter 2010, S. 3413 f. Das Zitat stammt aus einem Brief Fontanes vom 1. 3.1895 an Julius Rodenberg, den Begründer der Deutschen Rundschau. In diesem Brief bedankt sich Fontane bei Rodenberg für den Vorabdruck von Effi Briest in seiner Zeitschrift.
Theoretischer Rahmen und methodische Grundlagen
15
und „die[se] Weltlichkeit des Textes zu erkennen bedeutet für die Kritik, seiner Situationierung in einem historischen Kontext Rechenschaft zu tragen“.⁴⁴ Da die Texte Raabes in der vorliegenden Studie als eingebettet in den soziokulturellen Kontext ihrer Epoche gelesen und analysiert werden, wird zum Abstecken des theoretischen Rahmens vornehmlich auf geschichtlich und kontextorientiert ausgerichtete kulturwissenschaftliche Ansätze rekurriert. Zum einen liefern diese Ansätze interessante Perspektiven und Kategorien für eine kontextbezogene Analyse und zum anderen stellen sie die für diese Studie zentrale Problematik des Verhältnisses zwischen Literatur und Gesellschaft oder zwischen Literatur und Geschichte in den Mittelpunkt ihres Interesses. In diesem Zusammenhang fragen sie nach den Modalitäten des Wechselverhältnisses oder nach dem Austausch zwischen Text und Kontext.⁴⁵ Zu diesen Ansätzen, die Burtscher-Bechter als diskursanalytisch-kontextuell charakterisiert,⁴⁶ gehören vor allem der New Historicism, die Diskursanalyse, die Kulturgeschichte und die postkoloniale Literaturtheorie, auf die sich die Analysen in dieser Studie stützen. All diesen Ansätzen ist eine bestimmte Literaturbetrachtung gemeinsam, die Brenner wie folgt auf den Punkt bringt: „Literatur nimmt – bewusst oder nicht – Stellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Zeit, in denen sie steht und an denen sie teilhat“.⁴⁷ Unter diesen diskursanalytisch-kontextuellen Ansätzen nimmt deshalb der New Historicism für diese Studie eine zentrale Stelle ein, weil er ihre Analyseperspektiven und methodischen Grundlagen weitgehend bestimmt. Im Folgenden wird deshalb auf die Leseperspektive des New Historicism kurz eingegangen, um davon ausgehend die methodische Grundlage der Studie zu verdeutlichen. Der New Historicism, der maßgeblich von Stephen Greenblatt geprägt wurde, lässt sich jenen Ansätzen zuordnen, die seit den 80er und 90er Jahren dafür plädieren, sich von einer textimmanenten und ahistorischen Lesart von literarischen Texten abzuheben. Diese Ansätze verfolgen im Allgemeinen das Ziel, sich
Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius: Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. In: Therese Steffen und dies. (Hgg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte (Übersetzt von Anne Emmert und Josef Raab). Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 7. Vgl. Sabina Becker: Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Methoden und Theorien. Reinbek: Rowohlts 2007, S. 63. Vgl. Beate Burtscher-Bechter: Diskursanalytisch-kontextuelle Theorien. In: Martin Sexl (Hg.): Einführung in die Literaturtheorie. Wien: Facultas 2004, S. 257– 288. Peter J. Brenner: Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 300.
16
Einleitung
von „einer Welt der Zeichen ohne Wirklichkeitsbezug“⁴⁸ abzusetzen und die „Wende zu Geschichte und Gesellschaft“⁴⁹ in den Mittelpunkt ihrer literaturwissenschaftlichen Praxis zu stellen. Unter diesen Ansätzen verfolgt der New Historicism im Besonderen das Ziel, „ein Verständnis der Textvermitteltheit von Kulturen ebenso wie von kulturellen Implikationen literarischer Texte“⁵⁰ zu erschließen. Der New Historicism nimmt einen literarischen Text zum Anlass, um eine erweiterte kulturelle Analyse vorzunehmen, d. h. eine Analyse, die über den innertextuellen Rahmen hinausgeht, denn „eine umfassende kulturelle Analyse wird schließlich die Grenzen des Textes verlassen“.⁵¹ In Anlehnung an diese Erkenntnis geht diese Studie von der Analyse der Texte Raabes aus, um eine auf das Thema „Globalisierung“ hin angelegte kulturelle Analyse der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorzunehmen. Diese Vorgehensweise gründet auf einer Grundidee des New Historicism, nämlich der Historisierung der Literaturwissenschaft. Die der historisierenden Lektüre des New Historicism zugrunde liegende Idee bringt Greenblatt zum Ausdruck, wenn er schreibt: „The ‘life’ that literary works seem to possess long after both the death of the author and the death of the culture for which the author wrote is the historical consequence […] of the social energy initially encoded in those works“.⁵² Diese Idee beruht auf der Annahme, dass in einem literarischen Text die ursprüngliche kulturelle und soziale Energie seiner Entstehungszeit enthalten ist. Es ist die Aufgabe des Kritikers, diese kulturelle und soziale Energie aufzuspüren und zu analysieren. Im Rahmen dieser Studie suggeriert der Begriff „soziale Energie“, dass in den Texten Raabes Spuren, d. h. motivische, sprachliche, symbolische und rhetorische Elemente sowie thematische Hinweise, enthalten sind, die ein Wirkungspotential schaffen, das auf die Einbindung seiner Texte in das von Globalisierung geprägte kulturelle Umfeld der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinweist. In der Vorgehensweise des New Historicism wird deshalb ein Wechselverhältnis zwischen dem literarischen Text und seinem historischen und kulturellen Kontext postuliert. Eine Einbettung des Textes in seinen historischen und kultu-
Eckhard Auberlen: New Historicism. In: Ralf Schneider (Hg.): Literaturwissenschaft in Theorie und Praxis. Tübingen: Gunter Narr 2004, S. 83. Eckhard Auberlen: New Historicism, S. 83 Doris Bachmann-Medick: Einleitung. In: dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt/M: Fischer 1998, S. 45. Stephen Greenblatt: Kultur (Übersetzt von Moritz Baßler). In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen, Basel: Francke 2001, S. 50. Stephen Greenblatt: Shakespearean Negociations. Oxford u. a.: Oxford University Press 1988, S. 6.
Theoretischer Rahmen und methodische Grundlagen
17
rellen Kontext als Hauptanliegen des New Historicism begründet Greenblatt wie folgt: Die Welt ist voller Texte, von denen die meisten praktisch unverständlich sind, sobald man sie aus ihrer unmittelbaren Umgebung entfernt. Um die Bedeutung solcher Texte wiederherzustellen, um überhaupt aus ihnen klug zu werden, müssen wir die Situation rekonstruieren, in der sie hergestellt wurden.⁵³
Er erläutert die Verdienste einer Inbeziehungsetzung von Text und kulturellem Kontext wie folgt: „Und wenn die Erkundung einer bestimmten Kultur zum besseren Verständnis eines literarischen Werkes führt, das in dieser Kultur hergestellt wurde, so wird die sorgfältige Lektüre eines literarischen Werkes auch zum besseren Verständnis der Kultur führen, in der es hergestellt wurde“.⁵⁴ In Anlehnung an diese Kernidee des New Historicism, die die Historizität des Textes postuliert, können Raabes Texte zum einen als „Schlüssel zur Rekonstruktion der [ihr]er Epoche eigenen Mentalität“⁵⁵ angesehen werden. Zum anderen wird davon ausgegangen, dass die Spuren der sozialen und kulturellen Energie der Epoche in Raabes Texte eingeflossen sind. Somit kann eine nähere Betrachtung des kulturellen Kontextes der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum besseren Verstehen der Texte Raabes beitragen. So gesehen können sich das Werk Raabes und der von Globalisierung geprägte kulturelle Kontext der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenseitig erhellen. Diese Geschichtlichkeit des Textes stellt jedoch nur eine Dimension des Verhältnisses zwischen Text und Geschichte dar, das durch den von Louis Montrose geprägten Chiasmus von der Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität der Geschichte näher beleuchtet wurde.⁵⁶ Für diese Studie nimmt die Kategorie „Kultur“, die aus der Perspektive des New Historicism eine wichtige Komponente des Verhältnisses zwischen Literatur und Gesellschaft darstellt, eine zentrale Stelle ein. Die Kultur bildet den Kern des für den New Historicism zentralen Begriffs „Kontext“, deshalb ist der „kulturelle Kontext“ ein wiederkehrendes Konzept in seinen Ansätzen. Der kulturelle und historische Kontext von Raabes Texten in der vorliegenden Studie mag zwar auf eine historische Wirklichkeit wie etwa Globalisierung in der zweiten Hälfte des
Stephen Greenblatt: Kultur, S. 51. Stephen Greenblatt: Kultur, S. 51. Sabina Becker: Literatur- und Kulturwissenschaften, S. 166. Vgl. Louis A. Montrose: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism, S. 67. Eine Paraphrase dieses Chiasmus bedeutet, dass bei den New Historicists der Text historisiert und die Geschichte literarisiert oder textualisiert wird.
18
Einleitung
19. Jahrhunderts verweisen, aber dieser lässt sich nicht anders rekonstruieren als aus einem textuellen Archiv, denn „der Background eines Textes ist selbst ein Komplex von Texten“.⁵⁷ Bei den New Historicists ist „das Archiv […] ‚textuell‘“⁵⁸ und es besteht aus der „Summe der erhaltenen Aufzeichnungen einer Kultur“.⁵⁹ Es gehört demnach zu den Aufgaben des Literaturwissenschaftlers, der von der methodischen Vorgehensweise des New Historicism Gebrauch macht, eine minutiös durchgeführte dokumentarische und archivische Arbeit zur Bestimmung dieses als kultureller Kontext geltenden textuellen Archivs vorzunehmen. Der literarische Text und sein kultureller Kontext bilden eine kulturelle Textur,⁶⁰ die der New Historicist zu seinem Untersuchungsgegenstand macht. Der historisch-kulturelle Kontext eines literarischen Textes lässt sich wesentlich durch die im gleichen Zeitraum erschienenen Texte aus allen anderen kulturellen Bereichen rekonstruieren, was auf die bereits erwähnte „archivische“ oder „dokumentarische“ Dimension der Kultur hinweist. Der historisch-kulturelle Kontext „ist also genauer zu bestimmen als ein intertextueller Zusammenhang eines Feldes synchroner Texte“.⁶¹ Für die vorliegende Studie besteht das „Feld synchroner Texte“, zu dem Raabes Texte in Beziehung gesetzt werden, aus „Formen publizistischen Schreibens“,⁶² nämlich aus Texten der durch Familienzeitschriften dominierten Zeitungswelt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In diesen populärwissenschaftlichen Texten, die die „dokumentarische“ Dimension der Kultur anschaulich machen und die als ein konsultierbares „textuelles Archiv“ angesehen werden können, lassen sich die Diskurse und Erfahrungsmuster sowie die Mentalität und Alltagskultur der Epoche erschließen. Diese Zeitschrif Anton Kaes: New Historicism. Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism, S. 255. Moritz Baßler: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hgg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2003, S. 142. Moritz Baßler: New Historicism, S. 142. Williams führt seinerseits die Charakteristik „dokumentarisch“ ins Feld, um die gleiche Kulturdefinition anzudeuten. Hierunter wird ein Kulturverständnis aufgearbeitet, in dem „Kultur als der (sic!) Korpus geistiger und imaginärer Werke erscheint, in denen menschliches Denken und Erfahrung auf detaillierte Weise aufgezeichnet sind“ (Raymond Williams: Innovationen. Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kultur. Frankfurt/M: Syndikat 1977, S. 45.) Vgl. Moritz Baßler: Einleitung. In: ders. (Hg.): New Historicism, S. 16. Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen: Francke 2005, S. 20. Dies bestätigt Reichardt, wenn er schreibt: „Kontexte […] sind Weltbezüge, die in anderen Texten oder Darstellungen von Wirklichkeit, die in einem engen Zusammenhang mit der im Text (re)präsentierten Welt stehen, zu finden sind.“ (Ulfried Reichardt: Globalisierung. Literaturen und Kulturen des Globalen, S. 72). Sabina Becker: Literatur- und Kulturwissenschaften, S. 71.
Theoretischer Rahmen und methodische Grundlagen
19
ten, die die am meisten diskutierten Themen der Epoche dokumentieren, stellen in zweierlei Hinsicht einen großen Vorteil dar. Zum einen verdichten sich in ihnen allerlei Schriften aus allen gesellschaftlichen Bereichen. In diesem Sinne können sie darauf Anspruch erheben, die Diskurse der Epoche am breitesten widerzuspiegeln. Zum anderen sind sie kulturelle Dokumente zur Auslotung der epochalen Denk-, Handlungs-, Wahrnehmungs- und Vorstellungsmuster, denn sie beinhalten Texte, die das Alltagsleben und die Alltagskultur thematisieren. Literarische und nicht-literarische Texte werden in dieser Studie fast auf die gleiche interpretatorische Ebene gestellt. Dieses Verfahren begründet Kaes wie folgt: „Geht man nun davon aus, dass uns der sogenannte historische background nur mittels überlieferter Texte zugänglich ist, wird der Hintergrund notwendigerweise selbst zum Interpretandum“.⁶³ Er führt weiter aus: „Diese Deprivilegierung des literarischen Textes ist die notwendige Konsequenz, der Preis sozusagen der Textualisierung der Geschichte, in die der Text eingesenkt wird“.⁶⁴ Zum einen aus praktischen Gründen und zum anderen für die bessere Lesbarkeit der Textanalysen, in denen die literarischen Texte Raabes einigermaßen in den Vordergrund gestellt werden, wird nur eine begrenzte Anzahl von Texten aus der populärkulturellen Diskurswelt ausgewählt. Dieser begrenzte Umfang kann daher nicht repräsentativ sein für das epochale diskursive Archiv. Die wünschenswerte Rekonstruktion eines zentralen diskursiven Archivs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann demzufolge in dieser Arbeit nicht realisiert werden. Trotzdem wird davon ausgegangen, dass die Auswertung des begrenzten diskursiven Textkorpus die wesentlichen diskursiven Linien der Epoche rekonstruierbar macht. Das methodische Verfahren der vorliegenden Studie, das darin besteht, Raabes Texte in Beziehung zu ausgewählten populärwissenschaftlichen Texten aus den Zeitschriften der Epoche zu setzen, gründet auf der Annahme, dass sich das „kulturelle Paradigma“ von Raabes Texten am deutlichsten in dieser
Anton Kaes: New Historicism, S. 255. Anton Kaes: New Historicism, S. 256. Dieser methodischen Vorgehensweise des New Historicism liegt ein Literaturbegriff zugrunde, der hinterfragbar ist und gar als problematisch angesehen werden kann, denn hiermit wird die Besonderheit der Literatur gegenüber faktualen Texten weitgehend eingeebnet. Die Aufhebung der Differenzierung zwischen den auf Fiktionalität gründenden literarischen Texten und den auf Faktizität aufbauenden Texten aus den Zeitschriften der Epoche kann einigermaßen als problematisch angesehen werden. Auch wenn die beiden Textsorten potentiell den gleichen Adressaten haben könnten, bauen sie jedoch auf ganz unterschiedlichen Textkonstitutionen und -strategien auf. Darüber hinaus kennzeichnen sich literarische Texte gegenüber faktualen u. a. durch ihr großes reflexives Potential. Man soll demzufolge davon ausgehen, dass die thematisierten Globalisierungsphänomene in Raabes Texten näher reflektiert, subtiler durchgespielt und kritischer dargestellt werden als in Texten aus der populärkulturellen Diskurswelt.
20
Einleitung
publizistischen Diskurswelt spiegelt. Sie beinhaltet nicht nur das „textuelle“ sondern auch das „diskursive“ Archiv, d. h. eigentlich das „kulturelle Paradigma“ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.⁶⁵ Da es zu den Aufgaben dieser Studie gehört, Diskurspositionen über Globalisierung bei Raabe herauszustellen und zu analysieren, werden seine Texte „durch die Verknüpfung mit außerliterarischen Diskursen mit bestimmten Bedeutungen aufgeladen“,⁶⁶ die im Zusammenhang mit dem „kulturellen Paradigma“ der Epoche zu verstehen sind. Somit wird das Globalisierungsphänomen bei Raabe mit Blick auf seine Relevanz und darüber hinaus auf seine Bedeutungen und Semantisierungen in der Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts analysiert. Es geht demnach darum, manche globalisierungsbezogenen Diskursfäden, die die Texte Raabes und manche Texte aus der populärwissenschaftlichen Diskurswelt gemeinsam haben, herauszustellen und zu analysieren. Ungeachtet einiger Schwachstellen kann also dieses methodische Verfahren neue Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Analyse von Raabes Werk eröffnen. ⁶⁷
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der massenmediale Raum besonders in Deutschland durch eine Fülle von Zeitschriften besetzt, deren Interessenschwerpunkt vornehmlich die fremde Welt war. Krobb schreibt hierzu: „Populäre Zeitschriften waren die Medien der Wissensverbreitung über ferne Weltteile. Zu diesen gehören nicht nur Familienblätter wie die Gartenlaube, Illustriertes Familien-Journal, Über Land und Meer, Daheim oder etwa Westermanns Monatshefte […]. An dem Übersee-Diskurs waren darüber hinaus Fachorgane meinungsbildend beteiligt wie die ‚Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde‘ Globus (1862– 1910), die später auch Das Ausland (1828 – 1893) und Aus allen Weltteilen (1870 – 1898) inkorporierte“ (Florian Krobb: Watching the World Shrink and Grow, S. 24.). Arne Klawitter und Michael Ostheimer: Literaturtheorie – Ansätze und Anwendungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 179. Bei näherem Hinsehen weist diese Vorgehensweise des New Historicism einige Schwachstellen auf. Die erste Schwachstelle ist die Konstitution des nicht-literarischen textuellen Archivs oder des außerliterarischen Textfeldes. Es wurde begründet, warum das intertextuelle Bezugsfeld der vorliegenden Studie aus Texten aus der publizistischen Diskurswelt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besteht. Dennoch soll eingeräumt werden, dass das Selektionsverfahren dieser Texte aus zwei Gründen nicht einwandfrei ist. Der eine Grund ist, dass die Auswahl nicht nach strikt objektiven Kriterien erfolgt ist. Aus praktischen Gründen konnten nicht alle globalisierungsbezogenen Texte in allen Zeitschriften der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammengestellt werden, um ein repräsentatives Korpus des intertextuellen Bezugsfeldes von Raabes Werk zu erstellen, was ein Repräsentativitätsproblem darstellt. Der andere Grund ist, dass die Auswahl auf Texte eingegrenzt wurde, die entweder digitalisiert oder als Mikrofilme in den Bibliotheken konsultierbar sind. In diesem Zusammenhang war der Zugriff auf Texte aus der Familienzeitschrift Die Gartenlaube leichter als aus anderen Zeitschriften. Es gibt daher relevante Texte aus vielen anderen Zeitschriften dieses Zeitraums, die nicht mitberücksichtigt werden konnten, weil sie nicht in dieses eingegrenzte Auswahlfeld gehören.
Teil I: Literarische Inszenierung des Globalen bei Raabe: Raumdarstellungen und Zeiterfahrungen als Ausdrucksmittel und Reflexionsmodi der Globalisierung
Einleitendes Die Analysen der Inszenierung des Globalen im Werk Raabes basieren auf der Grundprämisse, dass sich eine literarische Gestaltung von Globalisierung in einem Text keinesfalls aus einem Abbild der objektiven gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Globalisierungsphänomene in einer gegebenen Welt speist, sondern aus dem von Robertson betonten Bewusstsein des Globalen.⁶⁸ Moser und Simonis knüpfen in diesem Zusammenhang an Robertson an, indem sie schreiben: wenn Globalisierung ein Bewusstsein von der Einheit der Welt beinhaltet, dann ist sie auf die Existenz von Bildern und Narrativen angewiesen, die diese Einheit vorstellig machen. Das Ganze der Welt ist der Wahrnehmung nicht zugänglich – es bedarf imaginärer (literarischer und künstlerischer) Weltenentwürfe, um dieses zu veranschaulichen. ⁶⁹
Die literarische Gestaltung der Einheit und des Ganzen der Welt gründet auf dem Prinzip „der‚Welt als Vorstellung‘, geschaffen durch Diskursreihen, die sie erkennbar machen und strukturieren“⁷⁰ sowie durch Figurationen und Motive, die sie erschließbar machen. Diese Diskurse und Figurationen machen „eine gesellschaftliche Realität fassbar, denkbar, lesbar“⁷¹, denn es kann „keinen direkten, nicht-sprachlichen (im weitesten Sinne nicht-semiotischen) Zugriff auf die empirische Wirklichkeit geben“.⁷² In eine derartige erfahrene Wirklichkeit fließen Beobachtungen und Interpretationen des Menschen ein,⁷³ die anhand von solchen diskursiven und semiotischen Mitteln zum Ausdruck gebracht werden. Bei einer literarischen Gestaltung von Globalisierung, „die aufgrund ihrer gesteigerten Komplexität der Anschaulichkeit entbehrt“,⁷⁴ ist man daher auf eine „Darstellungs- und Konstruktionsarbeit […] angewiesen“.⁷⁵ Es liegt auf der Hand, dass hierfür der Rekurs auf das Imaginäre vonnöten ist. Dieses Imaginäre verweist auf den Vorrat an Bildern, Narrativen, Tropen, Konzepten, Topoi, Figuren, nar Vgl. Roland Robertson: Globalization. Social Theory and Global Culture. London u.a: SAGE 1992, S. 92. Christian Moser und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre, S. 12. Roger Chartier: Kulturgeschichte zwischen Repräsentationen und Praktiken. In: Tschopp (Hg.): Kulturgeschichte. Stuttgart: Steiner 2008, S. 104. Roger Chartier: Kulturgeschichte zwischen Repräsentationen und Praktiken, S. 98. Rolf Parr: Raabes Effekte des Realen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 52 (2011), S. 23. Vgl. Raymond Williams: Innovationen. Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kultur. Frankfurt/M: Syndikat 1977, S. 25. Christian Moser und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre, S. 13. Christian Moser und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre, S. 13. https://doi.org/10.1515/9783110743029-003
24
Einleitendes
rativen Mustern, Formen, Themen und Motiven,⁷⁶ anhand derer Globalisierung literarisch gestaltet und dargestellt wird. Es kann auf gewisse historische, gesellschaftliche und mit bestimmten kulturellen Vorstellungsmustern verbundene Repräsentationen oder auf spezifische, literarisch überarbeitete Varianten derselben Bezug nehmen. Somit können manche Bedeutungen, Vorstellungen und Wahrnehmungen erfasst werden, mit denen Globalisierung als historische Wirklichkeit einer Epoche assoziiert wird. Für diese Studie, die eine Analyse der Erzähltexte eines Autors des poetischen Realismus in Zusammenhang mit den zur Zeit ihrer Entstehung vorherrschenden Denkschemata, Vorstellungskomplexen, Wahrnehmungsmustern und Bildern vornimmt, ist die angedeutete Kategorie „Repräsentation“, um die sich auch die Programmatik des New Historicism dreht, von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus kann die Auseinandersetzung mit den „realistischen“ Zügen der literarischen „Repräsentation“ einer historischen Wirklichkeit wie etwa Globalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Raabe interessant sein. In semiotischer Hinsicht kann man sagen, dass dieses Imaginäre aus einem Komplex von Interpretanten und Vorstellungsmustern besteht, mit deren Hilfe die Globalität der Welt zur Darstellung gelangt. Die kulturelle Dimension dieser Interpretanten hebt Eco wie folgt hervor: „Jeder Interpretant eines Zeichens ist eine kulturelle oder semantische Einheit. […] Das System der semantischen Einheiten stellt die Art dar, wie eine bestimmte Kultur das wahrnehmbare und denkbare Universum aufgliedert, und bildet die Form des Inhalts“.⁷⁷ Die mentalitätsgeschichtliche Bedeutsamkeit dieses Systems der semantischen Einheiten ist unverkennbar, denn dadurch werden „Vorstellungen und Bilder, Mythen und Werte [ersichtlich], die von Gruppen oder der Gesamtgesellschaft anerkannt oder ertragen werden und die Inhalte der kollektiven Psychologien bilden“.⁷⁸ Wie bereits erwähnt, bietet Raabe in seinem Werk eine explizite literarische Gestaltung von gewissen Globalisierungsphänomenen dar. Hier kommt vornehmlich die inhaltliche Ebene, d. h. die Darstellungsweise von globalisierungsrelevanten Dimensionen und Themen wie etwa Raum und Zeit, in den Blick. Ausweitung, Verdichtung und Beschleunigung sind auf Raum und Zeit hinweisende wiederkehrende Größen, mit denen Globalisierung im Allgemeinen be-
Vgl. Christian Moser und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre, S. 13. Umberto Eco zit. in Ulfried Reichardt: Globalisierung, Mondialisierungen, und die Poetik des Globalen. In: ders. (Hg.): Die Vermessung der Globalisierung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008, S. 35. Mandrou zit. in Peter Schöttler: Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der „dritten Ebene“. In: Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Frankfurt/M, New York: Campus 1989, S. 87 f.
Einleitendes
25
schrieben wird.⁷⁹ Namhafte Globalisierungsforscher wie Harvey und Giddens versuchen die Globalisierung mit Raum- und Zeitkategorien zu erfassen. Mit seinem Ansatz der „Time-Space Compression“ beruft sich Harvey auf zwei aus seiner Sicht markante Ereignisse der Weltgeschichte, um einen Wendepunkt in Raum- und Zeitkonzeptionen hervorzuheben. Zum einen nennt er die von England ausgehende und sich dann weltweit rasant ausbreitende erste große Wirtschaftskrise von 1847 und zum anderen den 1914 viele Länder der Welt binnen kurzer Zeit in kriegerische Gewalttaten mitreißenden „Ersten Globalen Weltkrieg“. Hierzu schreibt er: „The certainty of absolute space and place gave way to the insecurities of a shifting relative space, in which events in one place could have immediate und ramifying effects in several other places“.⁸⁰ Harveys Ansatz der Kompression von Zeit und Raum betont die sich aus der Zusammenwirkung von Kapitalismus und Industrieller Revolution ergebende wirkmächtige Erfahrung der Verdichtung von Zeit und Raum. Diese durch die technisch-industriellen Hervorbringungen des 19. Jahrhunderts vermittelte Erfahrung von „annihilation of space by time“⁸¹ führt zu „a global space bound together through mechanisms of communication“.⁸² Hiermit betont er eine mit dem erfahrungsgeschichtlichen Zusammenhang des 19. Jahrhunderts verbundene Mentalität, die von einer prägnanten Beschleunigung markiert ist. Mit diesem Beschleunigungskonzept werden die schnelle Vernetzung von weit entfernt liegenden Räumen sowie die mit ihr einhergehenden Handlungs-, Denk- und Deutungsmuster angedeutet. Diese Vernetzung nimmt anhand von konkret erfahrbarer Schrumpfung, Verdichtung und Verkürzung von räumlichen Entfernungen deutliche Konturen an. Mit seinem Konzept der „Time-Space Distanciation“, das auf Deutsch so viel wie Raum-Zeit-Ausdehnung oder Raum-Zeit-Ausweitung heißt, trägt Giddens der Tatsache Rechnung, dass soziale Strukturen in einer modernen Gesellschaft nicht mehr auf face-to-face oder physisch-lokale Kontakte beschränkt werden können.⁸³ Hiermit fokussiert er einige wesentliche Funktionsweisen der modernen Gesellschaftsstrukturen. Im Kontext der „globalen Moderne“, die durch komplexe Verflechtungen gekennzeichnet ist, steht jede soziale Struktur per se in enger Interkonnexion mit weit entfernt liegenden Komponenten, die ihr Gebilde mehr oder weniger beeinflussen. Es konstituiert sich infolgedessen ein Netzwerk von weltweiten sozialen Beziehungen, die in wechselseitiger Interdependenz stehen.
Vgl. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung, S. 10. David Harvey: The conditions of postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change. Cambridge, Massachusetts: Blackwell 1992, S. 260. David Harvey: The conditions of postmodernity, S. 270. David Harvey: The conditions of postmodernity, S. 270. Vgl. Anthony Giddens: The Consequences of Modernity. Cambridge: Polity Press 1990, S. 18 f.
26
Einleitendes
In dieser Hinsicht dehnen diese entfernt, aber eng miteinander in Beziehung stehenden Akteure den Raum und die Zeit aus, deshalb spricht Giddens von der „capability of social systems [of the modernity] to span time and space“.⁸⁴ Die Zusammenwirkung von Industrieller Revolution und Modernisierung hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts soziale Umwälzungen bewirkt, die das Bewusstsein mancher Zeitgenossen für die Konstituierung von weit entfernt liegenden sozialen Beziehungen schärften. In einem Text aus einer Zeitschrift der Epoche wird über die laufenden sozialen Umwälzungen, die zur Entstehung von weit entfernt liegenden, aber eng vernetzten sozialen Beziehungen und wirtschaftlichen Interessen beitragen, folgendes geschrieben: […] ihre [soziale Umwälzungen] Bedeutung ist in unserer Aera eine unendlich gesteigerte auch für die praktischen Lebensverhältnisse geworden. Die Beziehungen des Geschäftsmannes reichen über den ganzen Erdball […]. Es berührt seine Interessen, wenn in einem fernen Lande neue Schienenwege oder Dampferlinien eröffnet werden. Sie beschleunigen den Verkehr; es interessirt ihn nicht minder, die Eigenthümlichkeiten der verschiedenen Gegenden und Menschen kennen zu lernen, mit welchen die geschäftlichen Verflechtungen ihn in Berührung bringen.⁸⁵
Über ihre zentrale Funktion in klassisch gewordenen Globalisierungstheorien hinaus stellen Zeit und Raum in kulturgeschichtlicher Hinsicht Kategorien dar, an denen manche grundlegenden Globalisierungsphänomene im 19. Jahrhundert am prägnantesten erfahrbar gemacht werden können. In seiner der Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts gewidmeten großangelegten Publikation mit dem Titel Die Verwandlung der Welt betont Osterhammel, dass neue Erfahrungen und Konzeptionen von Zeit und Raum zu den entscheidendsten Einschnitten im Zeitgeist der Epoche gehören.⁸⁶ Zu der aus Sicht mancher Forscher des 19. Jahrhunderts rhetorisch formulierten Frage, ob die Beschleunigung nicht die von den Menschen am meisten geteilte charakteristische Erfahrung des 19. Jahrhunderts ist, schlägt er die folgende Antwort vor: infolge der Erfindung der Dampfmaschine und ihrer mechanischen Kombination mit Rädern und Schiffschrauben wurde das 19. Jahrhundert zur Epoche der Geschwindigkeitsrevolution […]. Die[se] Erfahrung physischer Beschleunigung war eine direkte Konsequenz neuer
Anthony Giddens: The Consequences of Modernity, S. 14. [Anonym]: [Rezension zu] Geographische Wanderungen von Karl Andree. In: Westermanns Monatshefte 6 (1859), S. 337. Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: C.H Beck 2009, S. 117– 151.
Einleitendes
27
technischer Chancen. Dass die Eisenbahn in Europa erfunden worden war, trat hinter die Tatsache der Eisenbahnerschließung sämtlicher Kontinente zurück.⁸⁷
Auerbach, einer der prominentesten zeitgenössischen Beobachter des 19. Jahrhunderts, führt in diesem Zusammenhang aus: die Begriffe von Zeit und Raum haben sich in unseren Tagen der Eisenbahnen und Telegraphen allerdings viel geändert, und ein späteres Geschlecht, ja sogar schon das heutige findet sich schwer in Verlegenheiten bei Conflicten, die mit den früheren Anschauungen von Zeit und Raum verbunden sind.⁸⁸
Diese Zusammenwirkung von Geschwindigkeit und Überwindung der Grenzen sowie größeren Distanzen oder von Beschleunigung und Raumerschließung zeigt, dass die Kategorien Zeit und Raum sowohl in den diskurstheoretischen als auch in den kultur- bzw. zeitgeschichtlichen Auseinandersetzungen um Globalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von großer Bedeutung sind. Osterhammel betont zu Recht, dass in fast allen Bedeutungsangeboten von Globalisierung temporale und räumliche Dimensionen in den Vordergrund gestellt werden. „Ob Globalisierung den Untergang des Nationalstaats bedeutet, ob sie eine kulturelle Vereinheitlichung der Welt mit sich bringt oder ob sie den Konzepten von Raum und Zeit einen neuartigen Sinn verleiht“, so Osterhammel und Petersson, „spielen die Ausweitung, Verdichtung und Beschleunigung weltweiter Beziehungen eine zentrale Rolle.“⁸⁹ Über die sehr lange Geschichte von Globalisierung mit den jeweiligen epochenspezifischen Charakteristika und über die unterschiedlichen globalisierungstheoretischen Annäherungsweisen an Globalisierungsphänomene hinaus „entscheidend schließlich sind eine weiter zunehmende Beschleunigung vieler Prozesse sowie die Abnahme der Relevanz räumlicher Distanzen“.⁹⁰ Dass die Kolonisation als epochenspezifisches Globalisierungsphänomen des 19. Jahrhunderts durch die von Schrumpfung und Verdichtung geprägte Wahrnehmung der Raumverhältnisse intensiviert wurde, bestätigt Robins, der schreibt: „indem die Globalisierung die Barrieren der Entfernung überwindet, gestaltet sie das
Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 126. Hervorhebung im Original. Auerbach zit. in Michael Neumann und Kerstin Stüssel: Einführung: „The Ethnographer‘s Magic“. Realismus zwischen Weltverkehr und Schwellenkunde. In: dies. (Hgg.): Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Konstanz: Konstanz University Press 2011, S. 13. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung, S. 10. Ulfried Reichardt: Globalisierung, Mondialisierungen, und die Poetik des Globalen, S. 3 f.
28
Einleitendes
Zusammentreffen zwischen dem kolonialen Zentrum und der kolonisierten Peripherie unmittelbar und intensiv“.⁹¹ Hieraus wird ersichtlich, dass die neuartigen Erfahrungen der Dimensionen Zeit und Raum ab den 1850er Jahren in kulturgeschichtlicher, epistemologischer und ästhetischer Hinsicht einen entscheidenden Einschnitt markieren, der das Handeln, Denken, Sprechen und Gestalten der Zeitgenossen im Kontext des globalen Zeitalters im 19. Jahrhundert auf gesteigerte Weise geprägt hat. Betrachtet man Kultur wie Rogge, der sich an Musner anlehnt, „als Summe von Erfahrungen […], die es Menschen erlauben, die sie umgebende Welt zu erkennen“,⁹² so liegt es nahe, dass Raum und Zeit zu den prägnantesten Dimensionen der menschlichen Lebenswelt gehören, an denen diese Erfahrungen anschaulicher gemacht werden können. Die Dimensionen Raum und Zeit bestimmen mehrfach das Alltagsleben des Menschen und gewinnen somit in ontologischer Hinsicht an Konturen, denn sie werden in wirtschaftlichen, sozialen und politischen Vorgängen deutlicher erfahrbar gemacht anhand der technischen und technologischen Errungenschaften der Industriellen Revolution, des damit einhergehenden beschleunigten sozialen Wandels sowie der seit der Französischen Revolution vor sich gehenden wirtschaftspolitischen Ereignisse mit globaler Reichweite. In einem literarischen Text reichen Raum und Zeit über die Funktion von Darstellungsmitteln hinaus und können als „Träger eines bestimmten menschlichen Sinngehalts“⁹³ gesehen werden. Davon ausgehend können sie Einsicht in manche sozialen und kulturellen Verhältnisse einer gegebenen Zeitwirklichkeit ermöglichen. Darüber hinaus eröffnet die Analyse von Raum- und Zeitkonzeptionen eine kulturgeschichtliche Perspektive, die für die vorliegende Studie von großer Bedeutung ist, denn dadurch kann Einsicht in die epochentypische Mentalität gewonnen werden. In Anlehnung an Febvre, der eine Bestandsaufnahme der markantesten Elemente macht, durch die das „geistige Werkzeug“ einer Epoche oder eines Volkes analysiert werden kann, betont Le Goff u. a. den
Robins zit. in Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung. In: Karl H. Hörning und Rainer Winter (Hgg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt/ M: Suhrkamp 1999, S. 430. Jörg Rogge: Historische Kulturwissenschaften. Eine Zusammenfassung der Beiträge und konzeptionelle Überlegungen. In: Jan Kusber u. a. (Hgg.): Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven. Bielefeld: trancript 2010, S. 366. Herman Meyer: Raum und Zeit in Wilhelm Raabes Erzählkunst. In: Hermann Helmers (Hg.): Raabe in neuer Sicht. Stuttgart u. a.: W. Kohlhammer 1968, S. 108.
Einleitendes
29
Stellenwert der Raum- und Zeitkonzeptionen für die Mentalitätenforschung.⁹⁴ Die Untersuchung von Zeit und Raum in motivischer und thematischer Hinsicht kann im Hinblick auf die Analyse von Globalisierung bei Raabe zur Beleuchtung interessanter Problemstellungen wie etwa die semantische Konturierung der literarisch inszenierten Globalisierungsphänomene oder die Skizzierung einer autorspezifischen Inszenierung und Bewertung der Interkonnektivität der Welt führen. In diesem Teil wird ausgehend von der Analyse der Raumdarstellungen und Zeiterfahrungen im Werk Raabes der Literarisierung von Globalisierungsphänomenen nachgegangen. Obwohl mit der Aufteilung in zwei unterschiedliche Kapitel hier angestrebt wird, die Kategorien Raum und Zeit auseinanderzuhalten, liegt es nahe, dass sie deshalb oft in den jeweiligen Analysen ineinanderfließen können, weil sie eng miteinander verbunden sind.
Vgl. Jacques Le Goff: Eine mehrdeutige Geschichte. In: Ulrich Raulff (Hg.): Mentalitäten-Geschichte: Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. Berlin: Klaus Wagenbach 1987, S. 28.
Kapitel 1 Raumdarstellung bei Raabe als Verfahren zur literarischen Inszenierung und Reflexion der Globalisierung Raum ist bekanntlich eine der Kategorien, die seit dem Aufkommen der Moderne immer mehr an Prägnanz und Wirkmächtigkeit in allen Kunstbereichen gewinnt. Seitdem ist er Gegenstand einer Vielzahl von ästhetischen Systematisierungsversuchen, literaturtheoretischen Annäherungsweisen und definitorischen Umrissen, sodass es schwerfällt, sich Klarheit zu verschaffen. Nünning identifiziert insgesamt drei Hauptrichtungen in den literaturtheoretischen Arbeiten zum Raum und zur Raumdarstellung, nämlich erstens Theorien, Konzeptionen und Typologien des literarischen Raums, zweitens Struktur, Präsentation und Poetik des Raums in verschiedenen Gattungen und drittens die Funktionalisierung und Semantisierung des Raums in der Literatur.⁹⁵ In dieser Studie liegt das Interesse vielmehr auf der dritten Dimension, denn hier werden Raumdarstellungen und Raumkonstellationen auf ihre Funktionalisierung und Semantisierung von Globalisierungsphänomenen hin befragt. In diesem Abschnitt wird an den von Lotman in seiner 1972 veröffentlichten Publikation Die Struktur literarischer Texte geprägten Begriff „künstlerischer Raum“ angeknüpft, denn er stellt eine konzeptuelle Vermittlung zwischen einem fiktionalen und einem real existierenden Raum her. Diese im Sinne Lotmans zentrale Frage der Beziehung zwischen dem ästhetischen und dem faktisch existierenden Raum wird wie folgt formuliert: „Die Vorstellung vom Kunstwerk als einem in gewisser Weise abgegrenzten Raum, der in seiner Endlichkeit ein unendliches Objekt – die im Verhältnis zum Kunstwerk äußere Welt – abbildet, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das Problem des künstlerischen Raums“.⁹⁶ Die Kernvorstellung dieses Raumkonzepts wurde in der 1993 veröffentlichten Ausgabe derselben Publikation anhand des Terminus „literarischer Raum“ erfasst. Von zentraler Bedeutung für den „literarischen Raum“ ist die Imagination als ästhetische Größe, anhand derer zwischen faktischem bzw. historischem und
Vgl. Ansgar Nünning: literarischer Raum / literarische Raumdarstellung. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 635. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte (Übersetzt von Rolf D. Keil). München: Wilhelm Fink 1972, S. 311 https://doi.org/10.1515/9783110743029-004
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
31
fiktionalem Charakter des Raums vermittelt wird. Gerade mithilfe dieser Imagination des Produzenten wird eine literarische Welt vergleichsweise homogener konstruiert, im Gegensatz zur heterogenen und diffusen wirklichen Welt. In diesem Sinne stellen Cassirer und Rosenkranz fest: „Der homogene Raum ist daher niemals der gegebene, sondern der konstruktiv erzeugte Raum“.⁹⁷ Die Beziehung zwischen der literarisch vermittelten und der außertextuellen Raumreferenz erfasst Petsch, der ausführt, dass der literarische Raum „in jedem Falle erst neu geschaffen werden [muss], auch wenn der Dichter an die geschichtliche und topographische Raum-Wirklichkeit anknüpft und sie zugrunde legt“.⁹⁸ Hiermit betont Petsch zwar die zum ästhetischen Organisationssystem gehörende Eigenständigkeit des literarischen Raums gegenüber dem faktisch existierenden. Allerdings räumt er explizit ein, dass der wirkliche topographisch-geographische Raum in produktionsästhetischer Hinsicht eine wichtige Stellung einnehmen kann. Diese real-existierenden oder geographisch identifizierbaren Räume, die offenkundig in die Texte des Realismus mehrfach Einzug halten, gehören zu einer Strategie der Historisierung und Kulturalisierung des literarischen Diskurses. Geppert, der sich mit der Problematik der pragmatischen Erzählstrategien in der Literatur des Realismus befasst, schreibt in diesem Zusammenhang: „Gerade die Indexikalität realistischer Schreibweisen, wie sie fiktive, dynamische Objekte zu identifizieren erlaubt, kann zugleich reale, historisch-gesellschaftliche Ereignisse, Umstände und Entwicklungen bezeichnen“.⁹⁹ Um seine Aussage zu exemplifizieren, setzt er fort: „Der Name ‚Rouen‘ in Madame Bovary ist ebenso ein historisierender Index wie ‚der Fürst‘ in Effi Briest auf Bismarck weist“¹⁰⁰. Beim Rezipieren von realistischen Texten mit derartigen historisierenden räumlichen Indexen soll sich der Leser jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich im literarischen Text nach wie vor um Imaginäres handelt, deshalb schreibt ReidelSchrewe: „Das Erzählen und die Vorstellung des Lesers orientieren sich an
Ernst Cassirer und Claus Rosenkranz: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Hamburg: Meiner 2010, S. 99. Petsch zit. in Carsten Lange: Architekturen der Psyche. Raumdarstellung in der Literatur der Romantik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 21. Hans Wilmar Geppert: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1994, S. 153. Hans Wilmar Geppert: Der realistische Weg, S. 153.
32
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
wirklichen Räumen außerhalb des Textes, aber letztlich bleibt der als ‚wirklich‘ erzählte Raum imaginär“.¹⁰¹ Für diese Studie, die die Texte Raabes in ihrem kulturellen und historischen Entstehungszusammenhang analysiert, kann man nicht umhin, zu fragen, warum bestimmte faktisch existierende Raumreferenzen gerade an bestimmten Textstellen auftauchen. Diese Historisierbarkeit von Raumreferenzen in literarischen Texten eröffnet eine kulturwissenschaftliche Perspektive, denn manche Raumdarstellungen, Raumpraktiken oder Raumrepräsentationen in einem Text oder einer Gruppe von Texten können darüber Aufschluss geben, wie die Welt in einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit wahrgenommen, erfahren und imaginiert wird. In dieser Hinsicht sind Raumordnungen, so der an die Ausführungen Stockhammers anknüpfende Nünning, eine vorwiegend im kulturellen Imaginären verortete Bezugsgröße, die politisches Handeln begründen könnte.¹⁰² Daher vertritt Lotman die Ansicht, dass Raumkonstellationen in literarischen Texten auf das „ideologische Modell [hinweisen], das dem jeweiligen Kulturtyp eigentümlich ist“.¹⁰³ Im Gegensatz zu traditionellen Annäherungsweisen, in denen der Raum zumeist bloß als Schauplatz betrachtet wird und daher eine wertneutrale und ornamentale Funktion erfüllt,¹⁰⁴ erhält er in kulturwissenschaftlichen Zugängen eine weitestgehend grundlegende kulturelle Relevanz. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Weigel, die 2002 den Topographical Turn eingeführt hat, konstatiert: „Der Raum ist hier nicht mehr als Ursache oder Grund, von der oder von dem die Ereignisse oder deren Erzählung ihren Ausgang nehmen, er wird selbst vielmehr als eine Art Text betrachtet, dessen Zeichen oder Spuren semiotisch, grammatologisch oder archäologisch zu entziffern sind“.¹⁰⁵ Das Begriffsfeld Globalisierung verweist u. a. auf Verschiebung von „Territorialität“, auf „Entterritorialisierung“ oder „Deterritorialisierung“, d. h. auf grundlegende Veränderungen der Wahrnehmungen auf der Ebene der Raumrepräsentationen. Diese Verschiebung vom Lokalen auf das Globale zeigt, dass es sich bei Globalisierung vornehmlich um räumliche Prozesse handelt, deshalb gilt,
Ursula Reidel-Schrewe: Die Raumstruktur des narrativen Textes. Thomas Mann, „Der Zauberberg“. Würzburg: Königshausen & Neumann 1992, S. 5. Vgl. Ansgar Nünning: literarischer Raum / literarische Raumdarstellung, S. 638. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 313. Vgl. Ansgar Nünning: Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellungen. Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven. In: Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (Hgg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld: transcript 2009, S. 46. Sigrid Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München: Wilhelm Fink 2004, S. 241.
1.1 Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes
33
um mit Berking zu sprechen, „wer von Globalisierung spricht, kann von ‚Raum‘ nicht absehen“.¹⁰⁶ In diesem Kapitel soll der Fokus auf die Darstellungsebene gerichtet werden, um ausgehend von den Raumrepräsentationen und -konstruktionen die literarischen Inszenierungen und Konfigurationen von Globalisierung bei Raabe zu analysieren. Dabei wird der Schwerpunkt auf die literarische Auseinandersetzung mit gewissen gesellschaftspolitischen Repräsentationsmustern sowie epochenspezifischen kulturellen Ideologemen gelegt, mit deren Hilfe bestimmte Beziehungen zwischen gewissen Räumen des Globus vorgestellt werden. Im Folgenden wird deshalb bei der Analyse der Raumdarstellungen bei Raabe zum einen den Strategien von raumvernetzenden und raumverdichtenden Prozessen nachgegangen. Zum anderen werden diese Raumdarstellungen auf eine Semantisierung eines Globalisierungsdiskurses im kulturgeschichtlichen Zusammenhang der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hin befragt.
1.1 Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes Im Mittelpunkt der in dieser Studie untersuchten Heimkehrertexte Raabes steht das von Bachtin als eine der prägnantesten Manifestationen des „Chronotopos“ identifizierte Heimkehrmotiv. Mit dem Chronotopos der Heimkehr, der in einem frühen Aufbruch in einen neuen und fremden Raum sowie einer späten Rückreise in den alten und vertrauten Heimatraum artikuliert wird, konkretisiert sich die von Bachtin formulierte Idee der Verschmelzung räumlicher und zeitlicher Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen.¹⁰⁷ Dieser Chronotopos manifestiert sich in der Dynamik der Zeit durch die Bewegung im Raum sowie in der Füllung von Raum mit zeitlichem Sinn (z. B. Heimkehr als Rückkehr in die Vergangenheit). Fragt man nach dem realistischen Sonderweg von Raabes Werk kann der Chronotopos der Heimkehr angesichts seiner Rekurrenz in seinem literarischen Schaffen als einer seiner konstitutiven Züge genannt werden. Der Chronotopos der Heimkehr charakterisiert mehrfach das Reisemotiv bei Raabe und gehört u. a. zu den Strategien, durch die dieses Motiv bei ihm gegen seine romantische Funktionalisierung umkodiert wird. In Die Leute aus dem Walde, dem einzigen Heimkehrertext Raabes, in dem die Ereignisse in der Fremde als
Helmuth Berking: Raumtheoretische Paradoxien im Globalisierungsdiskurs. In: ders. (Hg.): Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen. Frankfurt/M: Campus 2006, S. 7. Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos (Übersetzt von Michael Dewey). Berlin: Suhrkamp 2008, S. 7.
34
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
Gegenwartshandlung erzählt werden,¹⁰⁸ findet sich eine eklatante Manifestation des Chronotopos. Entsprechend der Bewegung des Helden Robert Wolf – von der Heimat hin in die Fremde und zurück in die Heimat – beginnt die Erzählung in der Heimat, hat eine Zwischenstation in der Fremde und endet in der Heimat. Einer „zeitlichen Darstellung korrespondiert [also] eine Art räumlicher Kreisbewegung, die dort ihr Ende findet, wo die Erzählung ihren Ausgang genommen hat“.¹⁰⁹ Göttsche und Krobb betonen ihrerseits die gewichtige Rolle des Chronotopos für die literarische Figuration einer die Provinz und die weite Welt räumlich und zeitlich verflechtenden globalen Modernisierung im Werk Raabes. In diesem Sinne schreiben sie: This chronotope is an example of how his writing explodes seemingly self-centred provincial worlds both in terms of space – by placing the local and parochial firmly in a dialectic of region and ’world’- and in terms of time – highlighting the repercussions of modernization and world history ’at home’ while also reflecting the crucial nineteenth-century experience of accelerated and irreversible change.¹¹⁰
Durch dieses bei Raabe wiederkehrende Heimkehrermotiv wird also eine Erzähldynamik entfacht, die, so Simo, die Darstellung von Mobilität und Sesshaftigkeit, von Lokalität und Universalität sowie von Heimat und Fremde ermöglicht.¹¹¹ Die literarische Inszenierung der physischen Mobilität des Heimkehrers setzt dezidiert die Fremde mit der Heimat oder die Ferne mit der Nähe metaphorisch in Beziehung. Die Figurationen der Heimkehr werden in den Texten Raabes also genutzt, „um eine Reflexion einer zuvor unbekannten Interferenz der Welten“¹¹² vorzunehmen. Am Charakteristischsten in den Texten Raabes ist die ungeheure Fülle von topographischen Referenzen, die für die Erfassung mancher Motivgestaltungen, Figurenkonstellationen und Handlungskonfigurationen eine entscheidende Rolle
In den anderen Texten Raabes werden die Ereignisse in der Fremde fast ausschließlich aus der rückblickenden Perspektive der jeweiligen Heimkehrerfiguren dargestellt. Christof Hamann: Bildungsreisende und Gespenster. Wilhelm Raabes Migranten. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. IX, 06. München: Richard Booberg 2006, S. 12. Dirk Göttsche und Florian Krobb: Introduction. In: dies. (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, S. 1 f. Vgl. David Simo: „…dem deutschen Philistertum den Kopf auf afrikanische Art zu waschen“. Anmerkungen zu Wilhelm Raabes „Abu Telfan“. In: Leo Kreutzer und ders. (Hgg.): Weltengarten. deutsch-afrikanisches Jahrbuch für interkulturelles Denken. H. 14. Hannover: Wehrhahn. 2005, S. 98. Dirk Göttsche: Raabe in postkolonialer Sicht. In: ders. u. a. (Hgg.): Raabe Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler. 2016, S. 297.
1.1 Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes
35
spielen. Ein Überblick über sein Gesamtwerk lässt mindestens zwei Hauptkategorien von Räumen unterscheiden. Die erste besteht aus symbolischen Einzelräumen, die, so der sich auf die Ausführungen von Hotz stützende Koll, als Räume der Einsamkeit, Daseinsflucht und Innerlichkeit zu verstehen sind.¹¹³ Diese symbolischen Einzelräume wie etwa die von Schaumann eroberte „Rote Schanze“ in Stopfkuchen oder die von Frau Claudine von Felheysen bewohnte Katzenmühle in Abu Telfan sind zumeist figurengebundene topographische Entitäten, die manchen gesellschaftlich ausgegrenzten Figuren eine gewisse Geborgenheit verschaffen. Neben diese symbolischen Einzelräume, denen in dieser Studie wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, treten mehrfach Großräume, die entweder als imaginierte oder real existierende geographische Räume zu verstehen sind. Diese Großräume, mit denen sich dieses Kapitel beschäftigt, tauchen zumeist in Heimkehrertexten auf, die die Lebensgeschichten mancher Rückkehrerfiguren und ihre Bewegungen zwischen heimatlichen und fremden geographischen Räumen darstellen. Im Werk Raabes lassen sich diese Großräume in drei Subkategorien unterteilen. Die erste besteht aus – im Gegensatz zu den in die Fremde aufgebrochenen Figuren – von Daheimgebliebenen bewohnten dörflichen und kleinstädtischen Räumen. Diesen überschaubare Verhältnisse aufweisenden und in manchen Untersuchungen als genuine Heimat identifizierten räumlichen Entitäten wird die zweite Subkategorie gegenübergestellt, nämlich Großstädte. Diese großstädtischen Räume, unter denen manche in den Figuren- und Erzählerkommentaren als „Weltstädte“ bezeichnet werden, werden mal mit erdrückenden und beängstigenden, mal mit hoffnungsvollen kosmopolitischen Zügen charakterisiert.¹¹⁴ Die dritte und letzte Subkategorie besteht aus real existierenden europäischen und außereuropäischen Ländern sowie aus Kontinenten.¹¹⁵ In den früheren Untersuchungen zur Thematik der poetologischen Gestaltung des Raums bei Raabe wurde unter Rückgriff auf philologische Analysekategorien der Fokus vielmehr auf symbolische Einzelräume gerichtet. Der mit dem Aufkommen des Cultural Turn in den USA und der in diesem Zusammenhang vom Geographen Eduard Soja geprägte Spatial Turn sowie die im Rahmen seines europäischen Pendants im Zuge der Kulturwissenschaften eingeführte topographische Wende haben die literaturwissenschaftliche Hinwendung zu den Großräumen bei Raabe beflügelt. In den bis vor kurzem spärlich vorliegenden Vgl. Rolf-Dieter Koll: Raumgestaltungen bei Wilhelm Raabe. Bonn: Bouvier 1977, S. 1. Berlin, Petersburg, London, Rom, Prag, Wien, Paris, New York sind Städte im Werk Raabes, denen kosmopolitische Charakteristika zuerkannt werden können. Deutschland, Frankreich, England, USA, Chile, Brasilien, Südafrika, Sudan, Ägypten u. a. sowie Europa Südamerika und Afrika werden im Werk Raabes vermehrt eingesetzt.
36
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
kulturwissenschaftlich ausgerichteten Raumforschungen zu Raabes Werk wurden die Opposition Dorf – Stadt oder Kleinstadt – Großstadt auf der einen Seite und im Zuge des postkolonialen Lektüremodells die Opposition Zentrum – Peripherie auf der anderen in den Vordergrund gerückt. Unter den wenigen Studien zu globalisierungsbezogenen Raumproblematiken in den Texten deutscher Realisten wird hier auf die in der von Berbig und Göttsche herausgegebenen Aufsatzsammlung Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus angewandte Begrifflichkeit rekurriert. Diese stellt produktive und operative Analysekategorien zur Erforschung von auf Globalisierung hinweisenden räumlichen Prozessen bereit. In einigen Aufsätzen dieser Publikation werden die oben dargestellten drei Subkategorien von Großräumen in den Texten poetischer Realisten wie Raabe und Fontane als „Provinz“, „Metropole“ und „Welt“ bezeichnet. Eine kursorische Analyse von Raabes Texten mit Blick auf die oben erwähnte Konstellation zeigt, wie Globalisierungsphänomene räumlich inszeniert werden. In Die Leute aus dem Walde reist die Hauptgestalt Robert Wolf nach Amerika, wo sein vorher ausgewanderter älterer Bruder Fritz Wolf vor kurzer Zeit gestorben ist. Zu diesem Zweck verlässt er die Provinzstadt Winzelwalde, um über Hamburg seine Amerikareise mit dem Zug anzutreten. Somit folgt er der Strecke, die Fritz zurückgelegt hat, denn „dieser selbe Eisenbahnzug hatte vor dreiundeinemhalben Jahre den Knaben aus Winzelwalde nach der großen Stadt getragen“.¹¹⁶ In Abu Telfan zeichnet sich eine Raumkonstellation mit drei topographischen Hauptpolen ab, nämlich Bumsdorf, dem Heimatdorf des Hauptprotagonisten Leonhard Hagebucher, der Residenzstadt Nippenburg im Königreich Sachsen und der sudanischen Gegend Abu Telfan im Land Tumurkie, Königreich Dar-Fur, das Hagebucher gleich am Romananfang verlässt, um heimzukehren (vgl. BA 7, S. 7). In Die Akten des Vogelsangs lässt sich ebenfalls eine Raumkonstellation mit drei topographischen Hauptpunkten herausstellen, nämlich erstens der Großstadt Berlin, zweitens dem in einem Vorort der Hauptstadt liegenden Vogelsang und drittens den USA, aus denen Helene Trotzendorff und ihre Mutter vor nicht langer Zeit zurückgekehrt sind, um in Vogelsang zu leben. In Zum Wilden Mann finden sich drei räumliche Kernpunkte: erstens das kleingesellschaftliche Philisterdorf „Harz“, zweitens „Hamburg“, die Hafenstadt,
Wilhelm Raabe: Die Leute aus dem Walde. Ihre Sterne, Wege und Schicksale. In: Ders.: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft. Hg. von Karl Hoppe. Bd. 5: Die Leute aus dem Walde. Ihre Sterne, Wege und Schicksale. Bearb. von Kurt Schreinert. Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht 1971, S. 305. In dieser Studie werden Raabes Texte aus dem Band Braunschweiger Ausgabe (BA) zitiert. Die bibliographischen Angaben zu diesen Zitaten werden in den Textanalysen durch die Sigle BA zusammen mit Band- und Seitenzahl gekennzeichnet.
1.1 Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes
37
von der aus der Hauptprotagonist August Mördling in die Fremde aufgebrochen ist, und drittens „Brasilien“ in Südamerika, woher er unter seinem neuen Namen Agostin Agonista nach einem 30 Jahre dauernden Aufenthalt temporär ins Heim zurückkehrt. In Alte Nester lässt die erzählerische Rekonstruktion der Lebensgeschichten der Heimkehrer Just Everstein und Ewald Sixtus eine räumliche Verflechtung zwischen dem kleinen Provinzialraum Bodenwerder, aus dem die beiden Protagonisten stammen, der Großstadt Berlin, wo sich ein Teil der Handlung abspielt, und den Zielorten Amerika und Irland, wo sich die beiden Protagonisten jeweils als Migranten aufgehalten haben, literarisch inszenieren. Darüber hinaus lässt der Autor die Hauptgestalt Just Everstein während seines Amerikaaufenthalts in einem kleinen deutschen Siedlergebiet namens Neu-Minden „auf einer Farm mitten im Staate Wisconsin“ (BA 14, S. 100) leben. „Die[se] Ortsnamenwahl bindet das ferne Amerika in die nahe Topographie von Minden ein, die preußische Festungs-, Garnisons- und Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks im Weserland“.¹¹⁷ Somit trägt Raabes Text einer historischen Wirklichkeit Rechnung, nämlich der Ortsnamengebung deutscher Siedlungen im Zuge der deutschen Einwanderung in die Vereinigten Staaten während des 19. Jahrhunderts (siehe hierzu auch Kap. 4.1.1; im Fußnotenbereich). Dadurch steht die „Neue Welt“ in dauerhafter topographischer Verflechtung mit der „Alten Welt“. In der Handlungskonstellation des Textes Alte Nester wird der deutschen Siedlung Neu-Minden die Funktion einer deutschen Kolonie oder Exklave, d. h. einer Verlängerung des deutschen Territoriums in Amerika, zugewiesen. Angesichts der in solchen Siedlungen geschilderten Reproduktion der kulturellen Praktiken aus dem Herkunftsland kann man sagen, dass „die USA als Zielraum deutscher Migration […] keine exotische Fremde, sondern durch die Bewahrung deutscher Kultur in den deutschamerikanischen Siedelgebieten ein Raum“¹¹⁸ ist, der dem Migranten längst vertraut ist ungeachtet der räumlichen Ferne (siehe hierzu auch Kap. 4.1.1). In Fabian und Sebastian bildet ebenfalls ein topographisches Dreierverhältnis die Raumkonstellation in der Erzählung. Dieses dreipolige Verhältnis beschreibt der Erzähler wie folgt: „Hinter dem fernen Wälderkranz des Horizonts und dazu sechshundert Fuß tiefer als Schielau über dem Meer liegt die Stadt, die Firma Pelzmann und Kompanie und der Onkel Sebastian“ (BA 15, S. 60 f.). Schielau ist Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück. Die „Schulmeisterin“ USA und „Old German-Text-writing“ als patriotische Selbstfindung in Wilhelm Raabes Alte Nester. In: Christof Hamann u. a. (Hgg.): Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung. Bielefeld: transcript 2009, S. 182. Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 187.
38
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
ein ländlicher Raum in der unmittelbaren Nähe der Stadt, wo die Firma Pelzmann, „eine der größesten und wohlberüchtigsten Schokoladen- und Konfitürenfabriken Deutschlands“ (BA 15, S. 8), liegt. In dieser Raumdarstellung tritt eine für Raabes Werk fast leitmotivische Konstellation hervor, in der Schielau den Provinzialraum, die Stadt die Metropole und die holländische indianische Kolonie Sumatra die überseeische Welt repräsentieren. Die Firma Pelzmann und Kompanie in Fabian und Sebastian ist gleichsam das Raabesche Pendant zur Firma T. O. Schröter in Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855), in der Globalisierung anhand der kaufmännischen Handhabung von Kolonial- und Exportwaren inszeniert wird. Die Rohstoffe der Firma Pelzmann und Kompanie, die vorwiegend aus Zucker und Kakao bestehen, stammen ausschließlich aus fremden Räumen bzw. aus tropischen Kolonialräumen, für die in dieser Erzählung der in Südostasien liegende holländische Kolonialraum „Sumatra“ repräsentativ steht. Da „Raum als rein topographische Größe erst als Bedeutungsträger betrachtet werden [kann], wenn er von mindestens einer Figur semantisch besetzt wird“,¹¹⁹ ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die in Sumatra gebürtige Konstanze Pelzmann eine „Mulattin“ ist. Sie stammt aus einer Ehe zwischen dem vor ungefähr 20 Jahren aus der Philistergesellschaft ausgegrenzten und mittlerweile verstorbenen Deutschen Lorenz Pelzmann und der holländisch-indianischen und mittlerweile ebenfalls verstorbenen Mejuffrouw Konstantia Pelzmann. Konstanze kommt zum ersten Mal in Deutschland, im Vater-Land, an, um ihre väterliche Familie, die im Handlungsverlauf von den beiden Onkeln Fabian und Sebastian vertreten wird, kennenzulernen. In der Erzählung Prinzessin Fisch tritt ebenfalls eine dreipolige Raumkonstruktion auf. Der Kurort Ilmenthal an der Ilme wird mit der Großstadt Leipzig räumlich verbunden durch die Reise von Theodor Rodburg, dem Jüngsten der Familie Rodburg, der sich nach seinem Abitur dorthin begibt, um zu studieren. Zum einen wird der in diesem Text von einer unaufhaltsamen Modernisierungsund Verschönerungswelle überrollte Kurort „Ilmenthal an der Ilme!“ (BA 15, S. 295) mit dem Überseeischen vernetzt durch die Heimkehr von Alexander Rodburg, einem „gemachte[n] Mann aus der weiten Welt“ (BA 15, S. 271), der nach mehr als 20 Jahren Aufenthalt in der Fremde „aus allen Wundern und Weiten nach Hause“ (BA 15, S. 327) zurückkehrt. Zum anderen erfolgt diese Vernetzung durch „die ersten leisen Wellen der kommenden lukrativen Flut von Sommerfrischlingen“ (BA 15, S. 221), die als Fremde, Touristen, Spekulanten und Geschäftsmänner nach Ilmenthal stürmen. Der Zustrom dieser fremden Investoren und Touristen
Astrid Schneider: Von unten nach oben und von oben nach unten. Raumsemantik in Wilhelm Raabes Fabian und Sebastian 1881/82. Saarbrücken: VDM 2008, S. 11.
1.1 Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes
39
verleiht deshalb Ilmenthal den Charakter einer weltumspannenden Provinz, weil in diesem Mikrokosmos die Tilgung der räumlichen Entfernungen zwischen Nationen der Welt ersichtlich wird. Somit wird das Ineinandergreifen des sich im internationalen Tourismus manifestierenden Globalen im Lokalen literarisch inszeniert. Durch die infrastrukturellen Investitionen sowie den damit einhergehenden strukturellen Wandel, der zur Umwandlung dieser zuvor geruhsamen Provinz in einen von ausländischen Touristen sehr beliebten internationalen Kurort führt, erfolgt eine Art Entwicklung von einem lokalem hin zu einem translokalem Raum. Appadurai, der sich mit den Triebkräften der translokalen Räume auseinandersetzt, identifiziert in touristischen Orten günstige Voraussetzungen für ihre Konstitution. Hierzu schreibt er: “Many such locations create complex conditions for the production and reproduction of locality, in which ties of marriage, work, business and leisure weave together various circulating populations with kinds of ‚locals‘ to create neigbourhoods which belong […] from another point of view, what we might call translocalities”.¹²⁰
Im oben Angeführten stellt sich heraus, „dass die Welt, auf die Raabes Werke Bezug nehmen, eine globale ist, und die oft abgelegenen, prototypisch-provinziellen Schauplätze seiner Werke Prismen einer dicht vernetzten, kommunikationsintensiven, weltumspannenden modernen Wirklichkeit bilden“.¹²¹ Raabe arbeitet in vielen seiner Texte, so Göttsche, mit dreipoligen Raumkonstellationen, die Orte der deutschen Provinz, Residenzstädte bzw. später die Metropole Berlin und Länder in Übersee zu symbolischen Landkarten konfigurieren.¹²² In diesem
Arjun Appadurai: The Production of locality. In: Richard Fardon (Hg.): Counterworks. Managing the Diversity of Knowledge. London, New York: Routledge 1995, S. 216. Hervorhebung im Original. Dirk Göttsche, Florian Krobb und Rolf Parr: Wissenschaftliche Rezeption. In dies. (Hgg.): Raabe Handbuch, S. 45. Dirk Göttsche: Tom Jensen war in Indien. Die Verknüpfung europäischer und außereuropäischer Welten in der Literatur. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin: De Gruyter 2013, S. 36. Nicht zu Unrecht wird immer wieder in der Forschung die überragende Bedeutung der „Weltstadt“ Berlin in Raabes Schaffen betont. Weitgehend unbeachtet blieb bisher dennoch die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Hafenstadt Hamburg, die bei Raabe funktionalisiert wird, um Globalisierungsprozesse wie etwa Migrationen zu inszenieren. In Raabes Roman Die Leute aus dem Walde fährt die Hauptfigur Robert Wolf über Hamburg nach Amerika und dann zurück nach Deutschland. Auch sein Großbruder, der begütert aus Amerika für kurze Zeit zurückgekehrte Friedrich Wolf, fährt mit seiner Frau Eva Dornbluth über diese Hafenstadt für seine Rückreise nach Amerika. In „Hamburg, am 30. Oktober 183-“ (BA 11, S. 196), schreibt in Zum wilden Mann
40
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
für das Aufspüren der Interkonnektivität der Welt überaus treffenden Befund zeichnet sich eine imaginierte Weltkarte ab, in der der Globus nicht mehr als ein Nebeneinander von einzelnen abgegrenzten Nationalstaaten gesehen wird, sondern vielmehr als ein durch Verflechtungen sich umstrukturierendes Ganzes mit Provinzialräumen auf der einen Seite und Metropole sowie überseeischer Welt auf der anderen. Eine nähere Betrachtung der sich im Werk Raabes abzeichnenden symbolischen Weltkarte liefert eine aufschlussreiche Analyseperspektive im Hinblick auf manche grundlegenden Ereignisse der Weltgeschichte seit der Neuzeit im 16. Jahrhundert. Ein Blick auf die Gesamtstruktur von Raabes Werk lässt eine Raumkonstellation herausstellen, die aus dem Dreierverhältnis Afrika (Ägypten und Sudan in Abu Telfan oder Südafrika in Stopfkuchen), Europa (besonders die Metropolen wie etwa die Hauptstädte Berlin, London und Paris sowie die Hafenstädte Hamburg und Marseille) und der amerikanische Kontinent (USA und Brasilien sowie Mexico und Nicaragua in Südamerika) besteht. Die Struktur stellt ein Panorama von Räumen dar, deren aktive oder passive Beteiligung an Ereignissen mit weltgeschichtlicher Wirkung wie etwa Entdeckungsreisen, Sklaverei, Kapitalismus und Kolonialismus nicht zu übersehen ist. In Anlehnung an Pierre Noras Konzept der „Lieux de mémoire“¹²³ und auf Anregung von Majeurs et al.,
August Mördling seinem Freund Kristeller den Brief, in dem er letzterem das Geld in Staatspapieren überlässt. Von dort aus startet er in seine Globetrotterei. In Prinzessin Fisch kehrt der vor über 20 Jahren ausgewanderte Alexander Rodburg über Hamburg nach Ilmenthal zurück. In Stopfkuchen fährt der temporäre Rückkehrer Eduard über den Hamburger Hafen auf dem Schiff „Hagebucher“ nach Afrika zurück. In der Forschung wird der Beitrag der Stadt Hamburg mit ihrem Hafen zur kolonialen Warenzirkulation sowie zur Mobilität der Menschen auf der Welt und besonders nach Amerika in der gründerzeitlichen Ära mehrfach betont. Der Stellenwert dieser Hansestadt, die manche Forscher zu Recht als „Tor zur Welt“ des Kaiserreichs bezeichnen, ist daher für den globalen Kolonialismus und die globale Migration in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr wichtig. Dass manche Infrastrukturen der Stadt auf die Auswanderungswellen abgestimmt waren, zeigt Roth, der schreibt: „Auswandererhallen am Hamburger Hafen waren direkt an die Eisenbahn angeschlossen und konnten deshalb ohne Zeitverlust erreicht werden“ (Ralf Roth: Das Jahrhundert der Eisenbahn. Die Herrschaft über Raum und Zeit 1800 – 1914. Ostfildern: Jan Thorbecke 2005, S. 147). In Anlehnung an Mönckmeier zeigt Marschalck, dass im Zeitraum 1855 bis 1870 nahezu 466 000 Deutsche über Hamburg ausgewandert sind (vgl. Peter Marschalck: Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur soziologischen Theorie der Bevölkerung. Stuttgart: Ernst Klett 1973, S. 73). Vgl. Astrid Erl: kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart,Weimar: J.B. Metzler 2008, S. 166 f. Unter „Lieux de Mémoires“, auf Deutsch soviel wie „Erinnerungsorte“, versteht Pierre Nora jene geographischen, zeitlichen oder symbolischen Orte, denen die Funktion zukommt, einen entscheidenden Beitrag zur Konstruktion
1.1 Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes
41
die hinsichtlich einer Überwindung des ausschließlich „national“ ausgerichteten Konzepts „Lieux de mémoire“, eine Internationalisierung oder Transnationalisierung des Konzepts vorschlagen, kann man bei Raabe in einem erweiterten Sinne von Erinnerungsorten der Weltgeschichte sprechen. Wirft man einen Gesamtblick auf die raumpoetologische Konfiguration in den Texten Raabes, kann man sagen, dass die Dynamik und der Weltverkehr diese am prägnantesten charakterisieren. In den nachfolgenden Abschnitten werden die hier grob skizzierten Züge der Raumpoetologie im Werk Raabes auf ihre literarischen Inszenierungen des Globalen sowie auf die ihnen zugrundeliegenden Repräsentationen und Vorstellungen hin befragt.
1.1.1 Räumliche Schrumpfung und Vernetzung der Welt „Es geht nicht mehr von Nachbar zu Nachbar – es geht mächtig, sozusagen, von Erdteil zu Erdteil“ (BA 15, S. 247).
Mit dieser die laufenden gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozesse bewertenden Aussage der Figur Bruseberger in der Erzählung Prinzessin Fisch wird deshalb der folgende Abschnitt eingeleitet, weil sie als Leitmotiv für das sich bildende und schärfende Bewusstsein des Globalen im Werk Raabes stehen kann, sei es in der Positivität bzw. Affirmation oder in der Negativität bzw. Kritik der thematisierten Globalisierungsphänomene. In vielen Diskursen aus der jüngeren Zeit ist im Zuge der Digitalisierung der Welt die Netzfigur zu einer Leitmetapher der Globalisierung avanciert. Obschon sie vielmehr der Erfassung von grenzüberschreitenden Dimensionen transnationaler Verflechtung im 20. Und 21. Jahrhundert dient,¹²⁴ ist sie nicht zuletzt relevant für die Darstellung und Inszenierung der Globalisierung im 19. Jahrhundert und besonders in seiner zweiten Hälfte.¹²⁵ Mit dieser für die literarische Gestaleiner kollektiven nationalen Identität zu leisten. Es liegt nahe, dass sich dieses Konzept einer konstruktivistischen Annäherungsweise verschreibt. Es ist anzumerken, dass dieses Konzept bei näherem Hinsehen dennoch einem holistischen Verständnis von Kultur verhaftet bleibt, denn mit ihm wird Kultur als nationalstaatliche Entität verstanden. Vgl. Pause: Zeitnetze, Globalisierung und postmoderne Ästhetik in Helmut Kraussers Roman UC. In: https://escholarship.org/uc/item/7dv8w8q1.pdf. (Zugriff am 13.06. 2015). Stüssel, die sich mit der Netz-Metaphorik in den Zeitschriften des späten 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, stellt fest, „dass die ‚Maschen‘ – so die dominante Metaphorik – des weltumspannenden ‚Netzes‘ aus Telegraphenleitungen, Warenströmen, medialen Vertriebsströmen und -gebieten, Straßen, Eisenbahn- und Schifffahrtslinien immer enger gearbeitet werden, so dass sich mobile wie immobile Individuen fast notwendig darin verfangen“ (Kerstin Stüssel:
42
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
tung von Globalisierungsphänomenen durchaus relevanten Figur wird der Tatsache Rechnung getragen, dass verschiedene Teile einer übergeordneten Ordnungsstruktur in ständiger Interkonnexion stehen. Im Gegensatz zu manchen Texten der Postmoderne, in denen diese Figur explizit auftaucht, wird sie in den Texten Raabes anhand bestimmter literarischer Strategien impliziert hinsichtlich der literarischen Inszenierung von geographischen und räumlichen Globalisierungsprozessen bzw. -phänomenen. In den Texten Raabes ist die Vernetzung der dargestellten Räume eine wiederkehrende motivische Gestalt seiner Raumpoetologie. Die Literarisierung der räumlichen Interkonnektivität des Globus durch die Netzfigur erfolgt bei ihm durch zwei Dimensionen. Einerseits werden die Vorstellungs- und Handlungsmuster mancher Figuren in einem epochenspezifischen Kontext, in dem sich das Bewusstsein des Globalen immer mehr schärft, verortet, und andererseits wird die Interkonnektivität als Folge von technologischen und industriellen Errungenschaften der Epoche im Kommunikations- (Telegraphie, Zeitungen) und Verkehrswesen (Eisenbahn und Schiff) dargestellt. Da ich noch auf die zweite Dimension, d. h. die kulturtechnische Perspektive, eingehend zu sprechen komme (siehe hierzu Kap. 2.4), wird der Fokus in diesem Abschnitt auf die erste Dimension, d. h. die kulturanthropologische Perspektive, gerichtet. Unter den Handlungs- und Vorstellungsmustern, die von einem Bewusstsein des Globalen zeugen und die bei Raabe intensiv thematisiert werden, nimmt die Beweglichkeit eine gewichtige Stellung ein. In Raabes Texten setzt sich der Autor mit dieser Kultur der Bewegung als einem der konstitutiven Züge der räumlichen Vernetzung der Welt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auseinander. In seinem Text Zum Wilden Mann bietet der Wir-Erzähler die Geschichte des Rückkehrers Dom Agostin Agonista, der sich 30 Jahre in Brasilien aufgehalten hat, dergestalt dar, dass die räumliche Interkonnektivität zwischen Europa, Amerika und Südamerika klare Konturen annimmt. Agostin, vormals August Mördling, hatte drei Jahrzehnte zuvor sein Harzdorf verlassen, nachdem er einem Bekannten namens Kristeller das Familienvermögen in Höhe von 9500 Talern übergeben hatte, weil er offensichtlich ein großes Unbehagen an den Verhältnissen der Philistergesellschaft empfand. Er verlässt Deutschland über den Hamburger Hafen und folgt seinem Itinerarium: Neu Orleans – Haiti – Venezuela – Paraguay – Brasilien, wo er als Gendarmerieoberst mit dem Ehrentitel „Kolonel Dom […] im Dienste seiner Majestät des Kaisers von Brasilien“ (BA 11, S. 200) steht. Seine
Entlegene Orte, verschollene Subjekte, verdichtetes Wissen. Problematisches Erzählen zwischen Literatur und Massenmedien. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt, S. 246).
1.1 Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes
43
vorläufige Rückkehr in das Harzdorf, in dem die Handlung spielt, stellt eine räumliche Vernetzung des provinziellen Raums mit der überseeischen Welt her. Der Bewegung als einem der konstitutiven Merkmale der Dynamik kommt eine bedeutsame Funktion im Prozess der räumlichen Verbindungen zu. Sie wird zu einer zentralen Kategorie erhoben für die Verdeutlichung von räumlichen Vernetzungsprozessen. Diese Prozesse führen zugleich zum Aufspüren von bestimmten kulturellen Raumpraktiken, – vorstellungen oder -verständnissen, die auf eine „dynamisierte Raumordnung“¹²⁶ hinweisen. Hierzu schreibt Böhme: „Die Bewegungen, die wir mit unserem Körper und als Körper im Raum vollziehen, erschließen erst das, was wir historisch, kulturell, individuell als Raum verstehen“.¹²⁷ Dieser Ansicht, Bewegung im Raum könne auf eine Beleuchtung von kulturell geprägten Erfahrungsformen und Wahrnehmungsmustern von Raum hinweisen, stimmt Bachmann-Medick zu. Sie schreibt, dass sich die Kategorie der Bewegung sowohl auf literarische Entwürfe individueller und kultureller Raumpraktiken beziehen kann als auch – etwa durch die Darstellung von Raumwahrnehmungen – auf Verfahren der prozessualen Raumkonstitution, [denn es] ist auch evident, dass nur durch eine systematische Korrelierung von Raum und Bewegung transnationale Migrationsprozesse im Kontext von Kolonisierungs-, Dekolonisierungs- und Globalisierungsprozessen erfasst werden können.¹²⁸
Im wiederkehrenden Raumschema der klassischen Strecke Heimatraum – Ausfahrt – Heimkehr,¹²⁹ die eine „Konfrontation differenter, geographisch geschie-
Roland Berbig und Dirk Göttsche: Einleitung. In: dies. (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt, S. 1. Hartmut Böhme: Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie. In: ders. (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart,Weimar: J.B. Metzler 2005, S. XV. Bachmann-Medick zit. in Wolfgang Hallet und Birgit Neumann: Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung. In: dies. (Hgg.): Raum und Bewegung in der Literatur, S. 20. Vgl. Karl Hotz: Bedeutung und Funktion des Raumes im Werk Wilhelm Raabes. Göppingen: Alfred Kümmerle 1970, S. 20. Es ist allerdings anzumerken, dass sich Raabe mit dieser einen leitmotivischen Charakter annehmenden Strecke, die der Rückkehr in den Heimatraum mehr Bedeutung zuweist, von der in den Reiseberichten weit verbreiteten Bewegungskonstellation absetzt. Im Gegensatz zu Reiseberichten, in denen mehr Gewicht auf die Reise und den Aufenthalt im Fremdraum gelegt wird, erfährt man bei Raabe nur in den rückblickenden Erzähler- und Figurenkommentaren verstreute Angaben über die Ausreise und die Aktivitäten der Heimkehrerfiguren in der Fremde. Dies indiziert gewissermaßen eine Herabsetzung von einem in der geläufigen Raumkonstellation der Reiseberichte aufzuspürenden und im 19. Jahrhundert verbreiteten kolonialen Denkschema. Dieses koloniale Denkschema kommt dadurch zum Vorschein, dass die dem Zentrum angehörenden Europäer in die zur Peripherie gehörenden Regionen reisen sollen zu zivilisatorischen oder wissenschaftlichen Zwecken.
44
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
dener, aber durch Bewegungen in Kommunikation gebrachter Räume“¹³⁰ anschaulich macht, wird die Bewegung als eines der konstitutiven Merkmale der Raumpoetologie im Werk Raabes gekrönt. Besonders bezeichnend im Werk Raabes ist die interkontinentale Schifffahrt der Hauptprotagonisten und gewisser Nebenfiguren. Die Darstellung der Europa mit Amerika verbindenden Fahrt von Robert Wolf auf einem keuchenden Schiff in Die Leute aus dem Walde oder die Darstellung der den afrikanischen und den europäischen Kontinent verbindenden Schifffahrt Eduards in Stopfkuchen sowie der den weiten Pazifik überwindenden Reise des Protagonisten Agostin Agonista in Zum wilden Mann lässt eine interessante Konstellation für die literarische Figuration von Globalisierung durch räumliche Vernetzungsprozesse hervortreten. Nitsch knüpft an Lotman an, der „die ereignishafte Grenzüberschreitung mit der Fahrt eines Schiffes auf einer in die Karte eingezeichneten Route vergleicht“,¹³¹ um das Konzept der „beweglichen Räume“ an der „Bewegung solcher extraterritorialer Vehikel“¹³² wie etwa Schiffe, Unterseeboote und Züge zu veranschaulichen. Der durch dieses Konzept beschriebene Prozess, wonach die Fahrt eines beweglichen Raums wie etwa des Schiffes auf eine Route der Weltkarte als eine idealtypische Konstellation der Grenzüberschreitung angesehen werden soll, taucht mehrfach in Raabes Werk auf. Diese idealtypische Konstellation der Grenzüberschreitung, die an der Bewegung der Schiffe „Teutonia“ in Die Leute aus dem Walde, „Juan Fernandez“ in Zum wilden Mann oder „Hagebucher“ in Stopfkuchen sichtbar gemacht wird, veranschaulicht deutlich eine durch intensive grenzüberwindende räumliche Prozesse sich steigernde globale Interkonnektivität. In diesem Zusammenhang tritt das Schiff als das Medium der Passage zwischen den Kontinenten¹³³ oder als „Symbol einer grenzverletzenden Reise“¹³⁴ auf. Aus der oben herausgearbeiteten Inszenierung der Kultur der Beweglichkeit wird auch ersichtlich, dass sich ein individuelles und kollektives Bewusstsein der räumlichen Weite des Globus schärft und dass die Beweglichkeit als Denk- und Haltungsmuster sowie als Lebensform zur mentalen und physischen Überwindung der räumlichen Weite und Entfernung führt. Bei näherem Hinsehen cha-
Wolfgang Struck: See- und Mordgeschichten. Zur Konstruktion exotischer Räume in realistischen Erzähltexten. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 40 (1999), S. 63. Lotman zit. in Wolfram Nitsch: Topographien. Zur Ausgestaltung literarischer Räume. In: Jörg Dünne und Andreas Mahler (Hgg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin u. a.: De Gruyter 2015, S. 37. Wolfram Nitsch: Topographien, S. 37. Vgl. Wolfgang Struck: See- und Mordgeschichten, S. 61. Günter Butzer und Joachim Jacob (Hgg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart: J.B. Metzler’sche & Carl Ernst Poeschel 2012, S. 368.
1.1 Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes
45
rakterisiert die Beweglichkeit das zeitgenössische Alltagsleben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus lässt sie sich in einen weitgehend vorherrschenden apologetischen Reisediskurs einbetten, der in den populärwissenschaftlichen Quellen der Epoche vielmehr von einem modernisierungseuphorischen Denken getragen wird. In einem Textauszug, der von der Reisekultur als epochentypisches Phänomen zeugt, heißt es: Reisenhandbücher sind ein fruchtbarer Literaturzweig der Gegenwart geworden, seitdem der Dampf Wagen und Schiffe bewegt und alle Entfernungen, die er beherrscht uns um das Achtbis Zehnfache verkürzt hat. Früher zählte man diejenigen welche „reisen konnten“, zu den Ausnahmen jedes Orts, jetzt sind’s diejenigen, welche immer daheim bleiben.¹³⁵
Beweglichkeit und Schwärmerei für Reise sind mentalitätsprägende Vorstellungen, die gewissermaßen Einblick in die vorherrschenden kulturellen Denk- und Haltungsmuster sowie Lebensformen der Epoche gewähren. Mit derartigen Vorstellungen werden die mentalen Weichen für die Vernetzung, Interkonnexion und Verflechtung von manchen entfernt liegenden Teilen des Globus gestellt. Diese die Raumdynamik beleuchtende Beweglichkeit als Lebensform und kulturelle Praktik ist am deutlichsten in jenen Werken Raabes ersichtlich, in denen durch bestimmte Handlungs- und Figurenkonstellationen der dynamisch angelegten Vorstellung von Raum ein konzeptuelles Gegenmodell, d. h. die Sesshaftigkeit oder die Raumstatik, entgegengesetzt wird. In seinem Roman Stopfkuchen wird dies an der Darstellung zweier Figuren mit entgegengesetzten Lebensentwürfen anschaulich gemacht, nämlich der Hauptfigur Heinrich Schaumann alias Stopfkuchen und dem intradiegetischen Erzähler Eduard. Während sich Schaumann, der in seiner Schulzeit wegen seiner dicken Körper Friedrich Hofmann: Hinaus in die Ferne. In: Die Gartenlaube 33 (1878), S. 552. Dass das in der publizistischen Diskurswelt zirkulierende Lob der Beweglichkeit sich zum Teil einem Konstruktionsprozess eines modernen Lebensstils verschreibt, der auf dem physischen sowie geistigen Wohlbefinden des Menschen gründet, zeigen andere Textauszüge. In einem von ihnen heißt es: „[Mit Bewegung] kommen so zu sagen ganz andere Gehirn- und Organtheile in Function, und die bisher zu Hause eintönig thätig gewesenen ruhen mittlerweise aus. Namentlich kommt fast das gesammte Muskelsystem, das der willkürlichen sowohl wie das der unwillkürlichen Bewegungen, in neue, zu Hause ungewohnte Thätigkeiten, bei dem Herumklettern,Wandern, Fahren zu Wasser und zu Lande […]. Kurz, das Reisen ist an sich eine Art von Heilgymnastik des ganzen Menschen, und äußert auch die Wirkung einer solchen. […] Man schwitzt weniger bei Anstrengungen, als zu Anfang der Reise; alle Körperfunctionen […] gehen geregelter vor sich; – und mit dem allen geht Hand in Hand eine Umwandlung des geistigen Wesens […]. Alles trägt dann mächtig bei zu einer Reform des Charakters, welcher den „gereisten Mann“ immer sehr votheilhaft vor jedem Stubenhocker auszeichnet“ ([Anonym]: Auch ein Hausmittel, das man aber nicht im Hause haben kann. In: Die Gartenlaube 4 (1862), S. 56).
46
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
lichkeit schwer beweglich war und deshalb mit dem Spitznamen „Stopfkuchen“ von seinen Mitschülern ausgelacht wurde, später die „Rote Schanze“ erobert und dort sesshaft wird, fährt sein ehemaliger Schulfreund Eduard ans Kap der Guten Hoffnung in Südafrika auf Anregung des „Landbriefträger[s] Friedrich Störzer [mit] seinem Lieblingsbuch Le Vaillants ‚Reisen in das Innere von Afrika‘“ (BA 18, S. 20 f.). In dieser Figurenkonstellation wird Schaumann „zum Vertreter des an Prinzipien orientierten und an die Scholle gebundenen bodenständigen deutschen Idealismus“,¹³⁶ während der Afrikarückkehrer Eduard mit seinen Hin- und Herreisen zur räumlichen Verschränkung von zwei Kontinenten, nämlich Europa und Afrika, stilisiert wird. Diese interkontinentale Vernetzung wird im Werk Raabes in verschiedenen raumrelationalen Konstellationen konfiguriert. In der Erzählung Fabian und Sebastian zeichnet sich anhand der Ausgrenzung von Lorenz Pelzmann aus der Philistergesellschaft und seines Ausgreifens in die holländische Kolonie Sumatra sowie der erstmaligen „Heimat“-Reise seiner 15-jährigen Tochter nach Deutschland eine räumliche Verschränkung nicht nur von Deutschland und Indonesien, sondern auch zwischen Europa und Asien ab. Während bei dieser kontinentalen Raumrelation der Fokus offensichtlich auf das Bestehen einer kolonialen Verbindung zwischen Europa und Asien gerichtet wird, kommt in Prinzessin Fisch die räumliche Vernetzung zur Anschauung durch das „Gastgewirr, das jetzt schon in dem bald so sehr internationalen Luftkurort“ (BA 15, S. 273) Ilmenthal nicht nur das soziale, sondern auch das ökonomische Gebilde mit ungeheuren Investitionen ausländischer Herkunft total verändert. Mit dem Auftauchen des Heimkehrers Alexander Rodburg, der im Verein mit ausländischen Investoren tiefgreifende soziale und wirtschaftliche Umstrukturierungen verwirklicht und somit die lokalen gesellschaftlichen Verhältnisse an die Strukturen des globalen Kapitalismus anschließt, „ist eine neue Zeit über [Ilmenthal] gekommen“ (BA 15, S. 247), in der „es […] nicht mehr von Nachbar zu Nachbar“ geht, sondern „mächtig, sozusagen, von Erdteil zu Erdteil“ (BA 15, S. 247). Die globalisierende Wirkung des internationalen Kapitals manifestiert sich auch dadurch, dass er verschiedene Räume verbindet, denn „das Kapital hat nie zugelassen, dass seine Bestrebungen von nationalen Grenzen bestimmt wurden“.¹³⁷ In Raabes Text Die Akten des Vogelsangs gewinnt die literarische Ausgestaltung der Vernetzung der Welt deutlichere Konturen. Der autodiegetische Erzähler Karl Krumhardt, der in einem Erinnerungsprozess das vergangene Leben einer
Rolf Parr: Die Fremde als Heimat. Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen. Konstanz: Konstanz University Press 2014, S. 88 f. Wallerstein zit. in Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 425.
1.1 Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes
47
kleinen Nachbarschaft in Vogelsang, einem kleinen und ehemals idyllischen Vorort der „Weltstadt“ ¹³⁸ Berlin, erzählerisch zu rekonstruieren versucht, erzählt die Geschichte seiner Jugendfreundschaft mit Velten Andres und Helene Trotzendorff, einer Rückkehrerin aus den Vereinigten Staaten. In der von entgegengesetzten Stellungnahmen zwischen dem in den USA zurückgebliebenen Charles Trotzendorff und dem Obergerichtssekretär Krumhardt markierten Handlung zeichnet sich die in Vogelsang gebürtige Hauptfigur Karl Krumhardt dadurch aus, dass sie nicht nur an dem „richtige[n] Philistergedanke[n]“ (BA 19, S. 300) und den sozialen Konventionen des Bürgertums festhält, sondern auch die Sesshaftigkeit oder eine gewisse räumliche Stabilität symbolisiert. Überdies lassen das Handeln, Denken und Sprechen der Figuren Agathe und Helene Trotzendorff sowie Velten Andres in der Nachbarschaft deutlich erkennen, dass die räumliche Entfernung kein Hindernis mehr zu wechselseitigen Einflüs Das seit dem 19. Jahrhundert gebräuchliche Wort „Weltstadt“, das seit 1986 mehrfach von John Friedman theoretisiert wurde und sich mittlerweile als Begriffsfeld in vielen Forschungsbereichen etabliert hat, ist in nahezu allen Texten Raabes vermehrt anzutreffen. Mit dem Weltstadt-Begriff wird die Grundform der mit dem „Global- City“-Konzept angesprochenen zunehmenden geographischen Transnationalisierung gewisser Städte bezeichnet. Deshalb schreibt Sassen: „In this regard, it can be said that most of today’s major global cities are also world cities“ (Saskie Sassen: The Global City. Introducing a concept. In: The Brown Journal of World Affairs. XI, 2.Winter/Spring 2005, S. 2). In Die Akten des Vogelsangs wird die Stadt Berlin in den Erzähler- und Figurenaussagen durchgehend als „Weltstadt“ bezeichnet. Diese wird assoziiert mit Industrialisierung, Urbanisierung, Modernisierung, transnationalen Firmen und Mobilität von Kapital, Waren und kulturellen Gütern. In der Romanhandlung wird die Transnationalisierung der kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Großstadt dargestellt. Die in Berlin laufende Transnationalisierung wird exemplifiziert an der Firma der aus Frankreich stammenden Familie „des Beaux“ und an der in vielfältigen Geschäftsbereichen tätigen heterogenen Bevölkerung der Berliner Dorotheenstraße. Die Verhältnisse in der Dorotheenstraβe, die von geschäftseifrigen Franzosen und Deutschen bewohnt ist, stellt der Erzähler folgenderweise dar: „Daß Religiosität und Geschäftssinn nicht feindliche Geschwister sind, hat nicht allein das Haus Israel bewiesen; auch die frommen Vertriebenen, die auf der Mayflower ‚drüben‘ landeten, haben das ebensowohl bewiesen wie diese alten Hugenotten des Edikts von Nantes in der Mark Brandenburg. Und sie reichen sich auch heute noch die Hand durch die ganze Welt: Synagoge, Kirche und Börse! Das Haus des Beaux konnte einem Freunde schon Empfehlungsbriefe nach New York oder New Orleans mitgeben, die ihm die Wege ebneten und seinen Aufstieg erleichterten“ (BA 19, S. 319). Jolles hat sich eingehend mit dem Stellenwert Berlins im Werk Raabes auseinandergesetzt. Sie zeigt auf, wie Berlin im Gesamtwerk Raabes durchgehend nicht nur mit den Eigenschaften einer „Weltstadt“ versehen, sondern auch ausdrücklich als solche in einigen Texten bezeichnet wird (vgl. Charlotte Jolles: Weltstadt – Verlorene Nachbarschaft. Berlin-Bilder Raabes und Fontanes. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 29 (1988), SS. 54, 58 u. 64). Diese Sonderstellung der Stadt Berlin in den Raumkonstruktionen der jeweiligen Texte bringt einige Interpreten dazu, sie eher dem Fremdraum zuzurechnen, „da sie sich, obwohl in Deutschland gelegen […] vollkommen jeglichem Heimatkontext entzieht“ (Astrid Schneider:Von unten nach oben und von oben nach unten, S. 15).
48
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
sen zwischen weit entfernt liegenden Gesellschaften darstellt. Diese Einflüsse und gar die spürbare Anziehungskraft der globalen überseeischen Welt auf einige Figuren der lokalen kleinen Nachbarschaft in Vogelsang weist darauf hin, „dass die Kategorien direkter Nachbarschaft nicht mehr genügen, um das Zusammensein mit anderen […] im erweiterten Raum“¹³⁹ zu begründen. Im Gegensatz zu Karl Krumhardt treten Velten Andres und Helene Trotzendorff als Inkarnation der Mobilität und der Bewegung auf. Im Gegensatz zu Karl Krumhardt, der den aus seiner Sicht idyllischen Vogelsang nur deshalb verlässt, weil er in der nächstliegenden Stadt, der Hauptstadt Berlin, an die Universität geht, bedeutet der Aufbruch Veltens in die „Weltstadt“ eigentlich den Start in die stark ersehnte Freiheit, die ihm den Status eines „Weltüberwinders“ oder eines Weltabenteurers verleiht. In Berlin lernt er die aus Frankreich stammende Familie „des Beaux“ kennen, die eine transnationale Schneiderstube und Herrenkonfektion besitzt. Seinem inneren Freiheitsdrang und starken Streben nach Abenteuern folgend sagt Velten Andres: „Ich werde dem fernen Westen nicht bloß als deutscher Doktor der Weltweisheit, sondern auch als internationaler Reisender in Herrenkonfektion imponieren.“ (BA 19, S. 302) Velten Andres fährt von Vogelsang über die „Weltstadt“ Berlin in die kosmopolitische Stadt New York in den Vereinigten Staaten. Das Zusammensetzen einer sich in Die Akten des Vogelsangs durch die Tätigkeiten der transnationalen Herrenkonfektion abzeichnenden globalen ökonomischen Route mit Veltens Itinerarium macht zwei Hauptkonfigurationen der globalen Weltvernetzung sichtbar. Die erste ist die globale wirtschaftliche Vernetzung zwischen den Weltstädten des Globus. Die Herrenkonfektion „des Beaux“ lässt ein symbolisches Netzwerk von wirtschaftlicher Zirkulation zwischen den kosmopolitischen Städten Paris, Berlin und New York hervortreten, die verhältnismäßig ihrer Bindung an nationalstaatliche territoriale Zugehörigkeit enthoben werden und an einem transnationalen ökonomischen Netzwerk beteiligt sind. Hiermit zeichnet sich eine literarische Inszenierung jener globalen Prozesse ab, die sich über Staatsgrenzen hinweg und von diesen weitgehend unabhängig vollziehen.¹⁴⁰ An dieser Stelle kann Sassens Konzept der „Global City“ eine interessante Analyseperspektive liefern. Sassen trägt der Tatsache Rechnung, dass manche das global vernetzte
Sloterdijk zit. in Patrick Ramponi: Orte des Globalen. Zur Poetik der Globalisierung in der Literatur des deutschsprachigen Realismus (Freytag, Raabe, Fontane). In: Ulrich Kittstein und Stefani Kugler (Hgg.): Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus. Würzburg: Königshausen & Neumann. 2007, S. 55. Vgl. Ulfried Reichardt: Globalisierung, Mondialisierungen, und die Poetik des Globalen. In: ders. (Hg.): Die Vermessung der Globalisierung, S. 18.
1.1 Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes
49
Wirtschaftssystem konstituierenden Prozesse wie etwa die grenzüberschreitende Mobilität der industriellen Erzeugnisse, der Kapitalflüsse, der Rohprodukte sowie der Arbeitskräfte oder die Transnationalisierung von Firmen zur Konstitution von übermächtigen städtischen Entitäten mit ganz neueren Ordnungen und Funktionsweisen führen. Das Konzept „Global City“ bezeichnet demzufolge in Sinne Sassens eine gesteigerte Form der von ökonomischen, kulturellen und politischen weltumspannenden Prozessen gezeitigten geographischen Transnationalisierungstendenzen gewisser Städte. Die an der transnationalen Herrenkonfektion „des Beaux“ exemplifizierte wirtschaftliche Mobilität und die Zirkulation von Waren zwischen den Weltstädten Paris, Berlin und New York zeugt von dem, was Sassen als „cross border cityto-city transactions and networks“¹⁴¹ bezeichnet. In diesem Text werden das Schrumpfen der Distanzen und gar eine symbolische Annullierung der räumlichen Entfernungen durch eine marktwirtschaftliche Zirkulation unter den Filialen der transnationalen Herrenkonfektion „des Beaux“ metaphorisiert, denn Transnationalismus ist, so Reichardt, eine ganz konkrete Ausformung der abstrakten Zeit-Raum-Verdichtung und Vernetzung des Globus.¹⁴² Diese „Oase der französischen Kultur in der Hauptstadt des deutschen […] Reiches“¹⁴³ kann als Exponent der aus der Raumverdichtung resultierenden transnationalen kulturellen Mobilität gesehen werden. Manthey interpretiert diese Konstellation im gesellschaftspolitischen Zusammenhang der Epoche als deutliche „Absage an den zunehmenden Kultur-Chauvinismus der Wilhelminischen Ära“.¹⁴⁴ Diese Interpretation Mantheys zeigt, dass dieser Text ein kultur- und gesellschaftskritisches Potential gegenüber manchen nationalistisch-konservativen Tendenzen der Wilhelminischen Ära in sich birgt. Diese Raumverdichtung nimmt bei Raabe ebenso eine ausgeprägte Gestalt an anhand der Entwicklung mancher Lebenswege aus einer Bindung an einen Nationalstaat hin zu einer Transnationalisierung. In Abu Telfan sagt Hagebucher: „Ich war Kommissionär eines großen Hotels in Venedig, ich war Kammerdiener einer belgischen Eminenz in Rom, und in Neapel lebte ich nach der Gelegenheit des Ortes harmlos, behaglich, frei“ (BA 7, S. 24). In der Erzählung Zum wilden Mann tritt dieselbe Konfiguration hervor, wenn der Rückkehrer Agostin Agonista über die Stationen seiner Reise nach Brasilien berichtet: „Venezuela machte mich zum Luogotenente, Paraguay zum
Saskie Sassen: The Global City, S. 3. Vgl. Ulfried Reichardt: Globalisierung, Mondialisierungen, und die Poetik des Globalen, S. 18. Jürgen Manthey: Wilhelm Raabe und das Scheitern des deutschen Liberalismus. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 17 (1976), S. 72. Jürgen Manthey: Wilhelm Raabe und das Scheitern des deutschen Liberalismus, S. 72.
50
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
Major; aber Seine Majestät Dom Pedro von Brasilien war am gnädigsten gegen mich, und so fand ich denn auch am meisten Gefallen an ihm“ (BA 11, S. 219). In der Erzählung Fabian und Sebastian steht die Firma „Pelzmann und Kompanie“ symbolhaft für einen die europäische und die außereuropäische Welt verflechtenden Industriekapitalismus. Anhand einer Intensivierung des weltweiten Austausches durch eine globale Zirkulation von Rohstoffen und Waren entsteht eine internationale Arbeitsteilung, die eine Interdependenz und Komplementarität von Rohstoffe produzierenden außereuropäischen und Fertigprodukte herstellenden europäischen Räumen zeigt. Dieser Überseehandel weist nicht nur auf eine Komponente der kolonialen Globalisierung hin, sondern zeigt auch die Verflechtung zwischen europäischen und überseeischen Räumen.¹⁴⁵ Die zweite Hauptkonfiguration der globalen Weltvernetzung, die Göttsche als symbolische Landkarte der Welt mit den drei Polen Provinz, Metropole und überseeische Welt in manchen Texten Raabes interpretiert, findet auf pointierte Weise ihren Niederschlag im Text Die Akten des Vogelsangs, den Krobb als „the most ‚globalist‘ of Raabe’s novels“¹⁴⁶ charakterisiert. Göttsche, der die Haltungsund Denkmuster Veltens analysiert, ist der Ansicht, dass er der globalen Mobilität die Krone aufsetzt.¹⁴⁷ Die Mobilität, anhand derer Velten einerseits den Provinzialraum Vogelsang mit der „Weltstadt“ Berlin und andererseits diese Metropole mit dem Überseeischen verbindet, weist auf eine räumliche Schrumpfung der Welt sowie eine Überwindung der Entfernung hin. Conrad, der sich eingehend mit der Problematik der Herausbildung der Nation im deutschen Kaiserreich und deren konzeptionellen Abgrenzungen im Kontext der beschleunigten Phase der Globalisierung in den drei letzten Dekaden vor dem Ersten Weltkrieg befasst hat, diagnostiziert die Beschleunigung des Schrumpfens von Raum in den Wahrnehmungen der Zeitgenossen als ein bezeichnendes Signet der Endphase des 19. Jahrhunderts.¹⁴⁸ Die Vernetzung der Welt und die Mobilität sind offensichtlich grundlegende räumliche Dimensionen der Globalisierungsthematik, die mit der Problematik der geographischen Grenzen Hand in Hand gehen.
Vgl. Dirk Göttsche: Tom Jensen war in Indien, S. 22 Florian Krobb: Watching the World Shrink and Grow. Globalism in the Works of Wilhelm Raabe. In: Dirk Göttsche und ders. (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, S. 23. Vgl. Dirk Göttsche: Tom Jensen war in Indien, S. 35 Vgl. Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich. München: C.H. Beck 2006, S. 52.
1.1 Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes
51
1.1.2 Relativierung und Irritation der Grenzen durch Angleichung der Raumsemantiken Aus dem vorhergehenden Abschnitt ergibt sich, dass die vom transnationalen Kapitalismus geprägte Globalisierung grenzüberschreitende Prozesse bewirkt, die sich in räumlichen Überbrückungen und Überwindungen von nationalstaatlichen Grenzen niederschlagen. Hiermit wird eine der prägnantesten Manifestationen von Raumproblematiken in Globalisierungsphänomenen gestaltet. In seinen Erklärungsansätzen beschreibt Beck Globalisierung als ein erfahrbares Grenzenloswerden alltäglichen Handelns.¹⁴⁹ Er stellt also die Figur der Grenzenlosigkeit oder Entgrenzung in den Mittelpunkt seiner Erklärungsansätze zur Globalisierung.¹⁵⁰ In Raabes Werk wird das Rückkehrmotiv mehrfach funktionalisiert, um die Bedeutung und den Einfluss der Grenzen zwischen unterschiedlichen nationalstaatlichen oder kontinentalen Räumen zu relativieren und gar diese Grenzen unsichtbar zu machen. In allen in dieser Studie in den Blick genommenen Texten dient die Figur des Rück- und Heimkehrers der literarischen Ausgestaltung von Grenzüberschreitungsprozessen, die bei näherem Hinsehen nicht nur eine physische Interkonnektivität, sondern auch ein symbolisches Aneinanderrücken von entfernt liegenden Räumen signalisieren. Somit wird ein Globus literarisch inszeniert, auf dem territoriale Grenzen doch weiterbestehen, aber kein Hindernis mehr für die physische, kulturelle sowie informationelle Mobilität darstellen. Der Protagonist Hagebucher in Abu Telfan, der über seinen Aufenthalt im Land Tumurkie in Afrika berichtet, betont die weltweite Verbreitung von Informationen weltgeschichtlicher Bedeutung. Zu seinem Aufenthalt in Afrika sagt er: „Wie ein in der Bastille lebendig Begrabener die Bewegungen der Stadt Paris vernahm, so vernahm ich im Tumurkielande das Rauschen der Weltgeschichte […]. Und auch die Begebenheiten des Jahres neunundfünfzig drangen in arabischer Fassung zu uns“ (BA 7, S. 158). Eine nähere Betrachtung der jeweiligen erzählerisch dargestellten Ausgriffe in ferne Räume oder umgekehrt der jeweiligen Rückkehrfahrten in heimische Räume lässt Strategien der Unsichtbarmachung oder des Herunterspielens der räumlichen Größe „Grenze“ in den Texten Raabes erkennen. Im Text Abu Telfan werden die Hin- und Rückreise Hagebuchers so dargestellt, dass die geographi Vgl. Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? S. 44. Schmeling et al. betonen auch in diesem Zusammenhang, „dass das Denken in Räumen und Entfernungen unter Globalisierungsbedingungen durch Überschreitungen und Entgrenzungen gekennzeichnet […] ist“ (Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans und Kerst Walstra: Vorwort. In: dies. (Hgg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung, S. 5).
52
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
schen Trennlinien der bereisten Räume dem Leser als unwichtig erscheinen. Ausgehend von den im Text gestreuten Hinweisen über die Reise Hagebuchers von seinem Heimatdorf nach Abu Telfan wird auf der Strecke, die ihn von Deutschland über Ägypten bis Sudan führt, keinesfalls über Grenzen im Sinne von natürlichen Hindernissen und geographischen Schwierigkeiten des Vorwärtskommens berichtet, wie es in manchen Reiseberichten üblich ist. In der Darstellung der Rückreise Hagebuchers, die ihn von Abu Telfan über Kordofan, Königreich Dar-Fur, Chartum, Ägypten, Neapel, Rom, Venedig, Dresden, Leipzig, Nippenburg bis Bumsdorf führt, zeichnet sich eine Strategie der Invisibilisierung der nationalstaatlichen Grenzen ab auf diesem mehrere Länder umschließenden Itinerar. Die erzählerische Darstellung dieses Itinerars lässt den Eindruck entstehen, dass die genannten Länder planmäßige Stationen einer Fahrt auf einer grenzenlosen Kurzstrecke sind. Das in dieser Strategie der Invisibilisierung der geographischen Grenzen vermittelte Bild der Globetrotterei der Hauptfigur verweist in symbolischer Hinsicht auf eine starre territoriale Grenzen relativierende Schrumpfung und Verschränkung des globalen Raums. In manchen Texten Raabes nimmt diese Relativierung und Unsichtbarmachung der räumlichen Grenzen die Gestalt einer Subversion der Differenzen zwischen den Semantiken des Eigenund Fremdraums an. In Raabes Text Die Akten des Vogelsangs zeichnet sich der Vater des Erzählers, der Obergerichtssekretär Krumhardt, dadurch aus, dass er alle durch ungezügelten Kapitalismus und Jagd nach materiellem Glück geprägten Denk- und Haltungsmuster argwöhnisch und gar skeptisch ansieht. Diese Denk- und Haltungsmuster, die im Text leitmotivisch aus Amerika kommen und vor allem von der heimgekehrten Auswandererfamilie Trotzendorff mitgebracht werden, erschüttern manche gesellschaftlichen und kulturellen Grundlagen des Vogelsanger Philistertums und setzen die lokale Bürgerlichkeit einer großen Gefahr aus (siehe hierzu auch Kap. 4.2.2). Über das Verhalten des konservativen Obergerichtssekretärs Vater Krumhardt, der eindeutig die entgegengesetzte Position zum erprobten Kapitalisten Charles Trotzendorff im Text vertritt, berichtet der Erzähler, sein Sohn Krumhardt: „Er ist ein eifriger Zeitungsleser und weiß, dass merkwürdige Sachen in der Welt vorkommen und merkwürdige Leute ein kurioses Glück haben, nicht bloß in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, sondern auch im deutschen Vaterlande“ (BA 19, S. 250). Die aus den Vereinigten Staaten von Amerika kommende „Jagd nach Glück“, die zunehmend in das vorher durch Gemeinschaftlichkeit geprägte Leben der Nachbarschaft in Vogelsang eindringt, weist auf eine aus der Sicht des Vaters Krumhardt als sehr negativ angesehene Sprengung der Differenzen zwischen Eigen- und Fremdraum hin. Darüber hinaus steht die Zeitung hier als Symbol der Zeitschriften- und Zeitungskultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in dreierlei Hinsicht meta-
1.1 Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes
53
phorisch für das Grenzenloswerden und die Gleichzeitigkeit zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland. Erstens ermöglicht sie nicht nur eine kommunikative Überbrückung von räumlich entfernten Weltteilen mittels beschleunigter wechselseitiger Kenntnisnahme von Informationen, sondern auch einen räumlichen Anschluss mithilfe der kulturellen Verknüpfungen zwischen eigenem provinzialem und fremdem überseeischem Raum. Bei Raabe erkennt man hiermit, so Parr, dass die Provinz und die Welt anschlussfähige Räume sind, denn verschiedene Weltteile werden an die Provinz und die Provinz an verschiedene Weltteile angeschlossen.¹⁵¹ Zweitens macht die Zeitung anschaulich, wie manche Denk- und Handlungsmuster aus den USA nach Vogelsang zu einer kulturellen Vereinheitlichung der Heimat und der überseeischen Welt transportiert werden. Drittens steht sie symbolhaft für eine Universalisierung von modernen Kommunikationsmitteln, die „das Absterben der auf Nachbarschaftlichkeit beruhenden Kommunikation der vor-industriellen Menschen in einer Vorstadt“¹⁵² wie Vogelsang zur Folge hat. In kulturgeschichtlicher Hinsicht fällt der Zeitung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dieselbe Funktion zu, die das Fernsehen und der Rundfunk in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts übernommen haben, nämlich ferne Länder und Völker ins Wohnzimmer zu bringen.¹⁵³ Berbig und Göttsche, die über die charakteristischsten Konstellationen zur Literarisierung von Globalisierung in den Texten des poetischen Realismus reflektieren, schreiben: „Die fernen Räume sind erreichbar geworden und wirken, auch wenn man sie nicht selbst bereist, über die Massenmedien wie Zeitschrift und Zeitung in eine Heimat zurück, die umgekehrt […] mit Metropole und Welt verbunden ist“.¹⁵⁴ Die hervorragende Rolle der sich immer mehr verdichtenden Zeitschriften für die Schärfung eines Bewusstseins des Globalen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird in der Fachliteratur mehrfach betont,¹⁵⁵ denn mit ihr wurden „mediale Möglichkeiten“
Vgl. Rolf Parr: Die nahen und die fernen Räume. Überlagerungen von Raum und Zeit bei Theodor Fontane und Wilhelm Raabe. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt, S. 70 f. Jürgen Manthey: Wilhelm Raabe und das Scheitern des deutschen Liberalismus, S. 71. Vgl. Andreas Braun: Tempo, Tempo! Eine Kunst- und Kulturgeschichte der Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M: Anabas-Verlag 2001, S. 9. Roland Berbig und Dirk Göttsche: Einleitung. In: dies. (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt, S. 1. Diese Idee bringt auch Ullmann zum Ausdruck, wenn er die Welt vernetzende Funktion der Presse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorhebt: „Sie veränderte grundlegend das Leben der Menschen, holte die ‚große‘ in die ‚kleine‘ Welt und band beide zusammen“ (Hans Peter Ullmann: Das deutsche Kaiserreich 1871– 1918. Frankfurt/M: Suhrkamp 1995, S.16). Wendorff betont zu Recht die ausschlaggebende Funktion der epochalen dynamischen Presse, die mit ihren Funktionen der die ganze Erde umfassenden Aktualität und der Informa-
54
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
bereitgestellt, „mit denen Menschen über große Distanzen und über kulturelle Grenzen hinweg voneinander Notiz nahmen“.¹⁵⁶ Mit dem dadurch stattfindenden kulturellen Austausch, der sich zugleich aus dem sich entwickelnden Bewusstsein des Globalen ergibt und wiederum zu seiner Stärkung beiträgt, erfolgt eine räumliche und kulturelle Grenzen auflösende Verknüpfung durch gegenseitige Kenntnisnahme zwischen Eigen- und Fremdraum. In seinen Texten bedient sich Raabe des thematischen Schwerpunktes „Gewaltstrukturen“, um gewisse in manchen Denkmustern etablierte Grenzen zwischen Eigen- und Fremdraum weitgehend zu irritieren. In Fabian und Sebastian spiegelt bezeichnenderweise der Text anhand des Gewaltmotivs, wie die in Asien liegende holländische Kolonie Sumatra und die deutsche Provinzstadt eng miteinander verklammert sind. Im Kontext heftiger familiärer Streitigkeiten unter den drei Brüdern Lorenz, Fabian und Sebastian Pelzmann wurde der Fabrikleiter Lorenz 20 Jahre zuvor angeblich wegen buchhalterischer Untauglichkeit von der Philistergesellschaft geächtet und nach Sumatra geschickt, wo er in den Dienst des holländischen Königs trat und später starb. Auf diese Weise wird eine räumliche Kontiguität zwischen einem vereinheitlichten Zentrum – denn Deutschland solidarisiert sich mit Holland und ist somit am Kolonialismus mitbeteiligt – und der Peripherie gezeichnet. Hier gelangt die territoriale Kontiguität zwischen Heimat und Kolonie dadurch zur Darstellung, dass das, was in der Heimat begonnen hat, seinen weiteren Lauf und traurigen Schluss in der holländischen südasiatischen Kolonie findet. Die Konsequenzen der Ausgrenzungsmechanismen der Philistergesellschaft wirken über die heimischen Grenzen hinaus nach und reichen bis in die Kolonie hinein. Die Heimreise von Konstanze Pelzmann, der Tochter des verstorbenen Geächteten, steigert den bereits bestehenden Konflikt zwischen Fabian und Sebastian. Der Tod Sebastians kann in diesem Sinne als Rückwirkung der in die Kolonie exportierten Gewalt gedeutet werden, was eine Angleichung der räumlichen Entitäten Zentrum und Kolonie mit gleichen Gewaltstrukturen suggeriert. Die oben herausgestellte Ununterscheidbarkeit des eigenen und fremden Raums durch eine Parallelisierung von defizitären Strukturen in beiden räumlichen Entitäten diagnostiziert Brenner folgenderweise: „Die fremde und die eigene Wirklichkeit sind austauschbar geworden. Hier wie dort finden sich die gleichen Strukturen; und hier wie dort werden sie als Verfalls- oder Defizienzerscheinun-
tionsgleichzeitigkeit wesentlich zur Beschleunigung als einem der wesentlichen Merkmale der Globalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beigetragen hat (vgl. Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, S. 418). Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 1292.
1.1 Raumpoetik des Globalen in den Texten Raabes
55
gen aufgefasst“.¹⁵⁷ Mit dieser Semantisierung der Heimat und der Kolonie mit ähnlichen defizitären Strukturen setzt sich der Romanautor von dichotomischen Raumsemantiken ab, die im Zeichen des kolonialen Bewusstseins in der publizistischen Diskurswelt des Wilhelminischen Zeitalters zirkulierten. Im Roman Abu Telfan hält sich wie bereits erwähnt Hagebucher elf Jahre im Land Tumurkie auf, wo er von einem sklavenhalterischen „Negerstamm“ in Sudan gefangen gehalten wird.¹⁵⁸ Nach seiner Rückkehr nach Bumsdorf bei Nippenburg bleibt seine gesellschaftliche Re- Integration deshalb aus, weil er einerseits in den vorherrschenden Verhältnissen sich entfremdet fühlt und andererseits von der heimischen Philistergesellschaft ausgegrenzt wird. Der Erzähler vergleicht Abu Telfan mit Bumsdorf in prägnanten Kommentaren: Er sagt: „In Abu Telfan im Tumurkieland hatte den armen Gefangenen nichts gestört als die physische rohe Gewalt und die Sehnsucht nach der Freiheit, das Heimweh nach dem Vaterland: Jetzt in der Heimat fing alles an, ihn zu stören und zu beunruhigen.“ (BA 7, S. 40). Er fährt fort: „Er [Hagebucher] hatte zu lange in der Fremde und in der Heimat unter den Wilden gelebt“ (BA 7, S. 236). Krobb hat in einer treffenden Analyse gezeigt, wie die Konstitution des Afrikadiskurses bzw. der Afrikabilder in der populärwissenschaftlichen Diskurswelt des Wilhelminischen Zeitalters eng verbunden ist mit dem Fall des verschollenen Wissenschaftlers Eduard Vogel. Er schreibt: (7. März 1829 – 1857 [?]), der just an seinem vierundzwanzigsten Geburtstag afrikanischen Boden betrat, dessen kurze Forscherkarriere durch mehrere Rekorde und Ersttaten ausgezeichnet war, der dann etwas mehr als drei Jahre in einem geheimnisvollen Sultanat am Südrand der Sahara verschollen ging, ohne dass zunächst verlässliche Nachrichten über sein Verbleiben zu erhalten waren.¹⁵⁹
Diese das Interesse der deutschen Öffentlichkeit erregende Geschichte lieferte Anregungen für intensive publizistische sowie literarische Auseinandersetzun-
Peter J. Brenner: Die Einheit der Welt – Raabes Abu Telfan. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 30 (1989), S. 55. Exemplarisch hierfür steht der Bericht des Zeitgenossen Falkenhorst in seinem Artikel „Aus dem Reiche Ermin Paschas: Ein zeitgeschichtlicher Rückblick von C. Falkenhorst“ (In: Die Gartenlaube 20 (1888), S. 616 – 620) über den Aufenthalt des deutschen Arztes Dr. Eduard Schnitzer in Sudan. Hier stellt der Autor die Verhältnisse dar, als seien Sklavenjagd und Sklavenhandel charakteristisch für die kulturelle Semantisierung des Sudanraums, was ein beständiges Paradigma im epochalen Diskurs war. Dies zeugt davon, dass die Wahl der großräumigen Sudanregion als Ziel- und Aufenthaltsort Hagebuchers kein Zufall ist. Florian Krobb: „An dem glühenden Ofen Afrika’s, da ist mein Plätzchen“. Eduard Vogel und die Wege ins Innere. In: Herbert Uerlings und Iulia-Karin Patrut (Hgg.). Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 183.
56
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
gen,¹⁶⁰ die Einsicht in den deutschen Afrikadiskurs der Epoche ermöglichen. Genauso wie manche Reiseberichte der deutschen Forscher jener Zeit heben einige an seine Familie gerichteten Briefe Vogels über seine Expeditionen im Sultanat Wadai „das Sklavereiwesen, besonders Sklavenjagd und Sklavenhandel“¹⁶¹ und die Despotie als charakteristische kulturelle Praktiken dieser Region hervor, was für den Afrikadiskurs und die Afrikawahrnehmungen der Zeit durchaus konstitutiv war. In einem seiner Briefe an seine Schwester Elise Polko erzählt Vogel von einer Episode der Sklavenjagd wie folgt: Von den Gefangenen wurden die Männer unverzüglich hingerichtet und leider oft mit vieler unnöthiger Grausamkeit; so mußte ich z. B. einmal ansehen, wie man 36 derselben mit Messern die Beine am Knie und die Arme am Ellbogen abschnitt und sie dann verbluten ließ. Dreien hackte man die rechte Hand ab, damit sie ihren Landsleuten das Schicksal ihrer Leidensgenossen mittheilen konnten; von diesen starben zwei nach zwölfstündiger Qual, der dritte lebte aber noch am anderen Tage. Die Weiber und Kinder wurden als Sklaven fortgeführt, und wer auf dem Marsche nicht mehr weiter konnte, ohne Erbarmen niedergemacht. […] Zehn Tage nach mir traf der Scheich ein, von 4000 Gefangenen nicht ganz 500 mit sich bringend, über 3500 waren der Seuche und den Strapazen zum Opfer gefallen. Fast alle Kinder waren unter zwölf Jahren, und konnte man einen sieben- oder achtjährigen Knaben im Lager für 20 Silbergroschen kaufen.¹⁶²
Derartige Narrative prägen der zeitgenössischen populärwissenschaftlichen Diskurswelt die Vorstellung von Afrika als einem Raum auf, in dem Sklaverei als kulturelle Praktik weitgehend dominant ist, wohingegen sich das Selbstbild des Westens des 19. Jahrhunderts als befreiende und sklavenfreie Zivilisation steigerte.¹⁶³ Gerade solche das koloniale Bewusstsein konstituierenden dichotomischen Raumsemantiken versucht der Romanautor zu verunsichern, indem er die angeblich für den Afrikaraum konstitutive Sklaverei mit manchen typisch bürgerlichen Gewaltstrukturen parallelisiert. Die Erfahrungen des Heimkehrers in der Fremde und in der Heimat dienen dem Autor als Folie, mittels derer die Irritation der Grenze zwischen eigenem und fremdem Raum zur Anschauung gebracht wird. Die Fremde und die Heimat sind
Vgl. Florian Krobb: „An dem glühenden Ofen Afrika’s, da ist mein Plätzchen“. Eduard Vogel und die Wege ins Innere, S. 183. Florian Krobb: „An dem glühenden Ofen Afrika’s, da ist mein Plätzchen“. Eduard Vogel und die Wege ins Innere, S. 191. Elise Polko: Erinnerungen an einen Verschollenen. Aufzeichnungen und Briefe von und über Eduard Vogel. Gesammelt von seiner Schwester Elise Polko. Leipzig: Weber 1863, S. 141 f. Vgl. Florian Krobb: „An dem glühenden Ofen Afrika’s, da ist mein Plätzchen“. Eduard Vogel und die Wege ins Innere, S. 194.
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
57
in diesem Sinne keine antagonistischen Räume mehr, denn der Text Abu Telfan unterläuft diesen Gegensatz.¹⁶⁴
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien und kolonialen Imaginationen bei den Raumrepräsentationen Raabe hatte die Grenzen des Deutschen Bundes nie überschritten. Göttsche und Krobb schreiben hierzu: Raabe’s longest Journey, the trip of 1859 from Wolfenbüttel via Leipzig, Dresden, and Prague to Vienna and back via Salzburg, Munich, and Heidelberg, did not take him beyond the borders of the Deutsche Bund, or the abandoned Holy Roman Empire, nor to a place where he might have been forced to speak in a different language or to try unfamiliar food.¹⁶⁵
Angesichts des starken Einsatzes der Motivik und Thematik des Fremden in den Texten Raabes kann dieser biographische Hinweis von vornherein gewissermaßen Erstaunen erwecken. Bei näherer Beobachtung lassen dennoch die jeweiligen Handlungskonfigurationen seiner Heimkehrertexte deutlich erkennen, dass sich Raabe weniger mit den Verhältnissen der Fremdräume als vielmehr mit der heimischen diskursiven Wirklichkeit, d. h. mit Vorstellungen, Imaginationen, Repräsentationen, Denkfiguren und Phantasmen über die Fremde auseinandersetzt. Im Vergleich zu der Vielheit der in den Erzähler- und Figurenkommentaren aufscheinenden Vorstellungen, Repräsentationen und Denkfiguren über den Fremdraum, die in den Mittelpunkt gerückt werden, erfährt der Leser verhältnismäßig wenig über die wirklichen Erlebnisse der jeweiligen Heimkehrerfiguren in der Fremde. Derartige Vorstellungen, Repräsentationen und Denkfiguren, mit deren Hilfe Fremdräume semantisiert werden, stehen unweigerlich im engen Zusammenhang mit dem zirkulierenden geographischen Wissen, das in der Epoche dank einer intensiven Popularisierung durch Zeitschriften wie etwa Das Ausland, Aus allen Weltteilen, Westermanns Monatshefte oder Über Land und Meer einen enormen Zulauf erfuhr.¹⁶⁶
Vgl. Peter J. Brenner: Die Einheit der Welt, S. 47 f. Dirk Göttsche und Florian Krobb: Introduction, S. 2. Vgl. Philip Ajouri: Wissenschaftsgeschichte. In: Dirk Göttsche u. a. (Hgg.): Raabe Handbuch, S. 310. Er setzt sich mit dem Verhältnis von Raabes Werk zu den Wissenschaften seiner Zeit auseinander und merkt an, dass sich in der Bibliothek Raabes viele Bände (von 1878 bis 1907) der Zeitschrift Westermanns Monatshefte befanden.
58
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
In den Zeitschriften des Wilhelminischen Zeitalters stand die Belehrung und Vermittlung von geographischen Kenntnissen und die damit einhergehende Schärfung des Blicks des Lesenden für die räumliche Schrumpfung sowie für die Verflechtung von entfernt liegenden Teilen des Globus im Mittelpunkt mancher redaktioneller Programme. Dies lässt sich an der Zeitschrift Das Ausland veranschaulichen, die ihren Beitrag zur Popularisierung des geographischen Wissens hinsichtlich einer Schärfung des Blicks und des Bewusstseins des Zeitgenossen für das Globale mehrfach betonte.¹⁶⁷ Eine Heranziehung des kulturgeschichtlichen Kontextes des literarischen Schaffens Raabes lässt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen „der Verwissenschaftlichung der Geographie und [dem] letzte[n] Zeitalter der Entdeckungen“¹⁶⁸ als eines der charakteristischsten Merkmale des 19. Jahrhunderts herstellen. In seinem Vorwort zur Zeitschrift Globus stellt Andree das globalisierungsrelevante Potential heraus, das in der Verbreitung der Geographie stecken kann. Er schreibt: Jeder kommt heute mit Menschen aus sehr weit entfernten Gegenden in Berührung, und es ist schon deshalb eine berechtigte Forderung, zu verlangen, dass man die Jugend über das Erdrund und die verschiedenen Völker orientire. Auch läßt kaum eine Wissenschaft so ansprechend sich vorstellen und keine fesselt die Aufmerksamkeit mehr als die Geographie.¹⁶⁹
Anlässlich des 55. Jubiläums der Zeitschrift Das Ausland schreibt ihre Radaktionsleitung: „Blicken wir auf die langen Jahre zurück, in denen diese älteste geographische Wochenschrift dem deutschen Publikum geographische Nachrichten und Belehrung vermittelt, so erkennen wir ein Wachstum der Teilnahme für Länder- und Völkerkunde, wie kaum eine andere Wissenschaft sich dessen rühmen mag. Es handelt sich hier nicht bloß um ein Wachstum der Größe, sondern es hat eine gänzliche innere Aenderung in dieser Teilnahme stattgefunden, welche sie immer tiefere Wurzeln in unsren allernächsten und gewichtigen geistigen wie materiellen Interessen schlagen ließ, dieselbe immer praktischer machte. Wenn auch vielleicht etwas zu oft und am unrechten Platze angewandt, ist es doch keineswegs nur eine um Anerkennung bettelnde Phrase, sondern echte scharfe Wahrheit, die ganz von selbst zu uns kommt, dass die Verringerung der Entfernungen, dieser ‚alten Feinde des Menschengeschlechts‘, Erdteile und Völker so weit einander genähert hat, dass die Summe der Welt- und Menscheninteressen nur immer weiter zunehmen kann. Das Wort Menschheit ist seltsamerweise heute viel weniger häufig in der Feder der Schriftsteller oder auf der Zunge der Redner als vor einem Menschenalter, während noch keinem Geschlecht, seit die Erde steht, der Begriff dieses Wortes so lebendig aufgegangen ist und keines in weitem und tiefem Sinn sich weltbürgerlich fühlt, weltumfassender denkt als unseres“ (Auszug aus dem Programm der Zeitschrift „Das Ausland“ Jg. 1882. Zit. in Alfred Estermann: Bibliographien – Programme. München u. a.: Saur 1988, S. 211). Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 132. Hervorhebung im Original Karl Theodor Andree: Vorwort. In: Globus 2 (1862), S. IV. Dass manche Aussagen über Geographie – wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der einen Seite als Kunde des ganzen Erdballs und auf der anderen als Wissenschaft zur räumlichen Erkundung der einzelnen
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
59
In diesem Kontext liegt es auf der Hand, dass man nicht unbedingt in die Fremde reisen musste, um darüber sprechen zu können, denn sie stand im Mittelpunkt der Zeitschriftendiskurse. Hier drängt sich die Frage auf, ob Raabe ein begeisterter Leser von Reiseberichten war, die im Zuge der Verwissenschaftlichung der Geographie und im Anschluss an die Hochblüte der Atlaskartographie in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder Hochkonjunktur hatten. Henkel, die sich mit der Analyse der Bibliothek Raabes auseinandersetzt, stellt heraus, dass Länderkunde und Reisebeschreibungen nur drei Prozent seines Gesamtbuchbestandes ausmachte.¹⁷⁰ Dies legt nahe, dass der starke Einsatz von fremdbezogenen Raumreferenzen in seinem Werk eher auf seine beflissene Beschäftigung mit den Zeitungen und Zeitschriften der Epoche zurückzuführen ist. Obwohl Raabe kein eifriger Leser von Reiseliteratur war, deuten gewisse Verweise auf Texte der Reiseliteratur in seinem Werk darauf hin, dass er einschlägige Texte rezipiert hat und manche darin zirkulierenden Phantasien und Imaginationen zur Kenntnis genommen hat.¹⁷¹ In Stopfkuchen sagt der Erzähler Eduard: Ja, im Grunde läuft es doch auf ein und dasselbe hinaus, ob man unter der Hecke liegenbleibt und das Abenteuer der Welt an sich herankommen läßt oder ob man sich von seinem guten Freunde Fritz Störzer und dessen altem Le Vaillant und Johann Reinhold Forster hinaus-
Länder dieses Erdballs verstanden wurde – von einem sich entwickelnden Bewusstsein des Globalen zeugen, zeigt das Konversationslexikon des Jahres 1864. Hier steht, dass „die Geographie in allgemeine Erdkunde und in Länderbeschreibung oder Chorographie [aufteilen lässt], indem sie entweder den ganzen Erdball in allen seinen kosmischen, räumlichen, physikalischen und historischen Beziehungen als ein organisches Ganzes betrachtet und besonders das Gesetzmäßige, die Wechselwirkung aller Erscheinungen und Verhältnisse, die gegenseitige Verknüpfung aller einzelnen Elemente des geographischen Stoffs hervorhebt, oder sich bloß auf die Beschreibung der geographischen Verhältnisse einzelner Länderräume beschränkt“ (Meyers Neues Konversations-Lexikon 7 (1864), S. 589.) Vgl. Gabriele Henkel: Studien zur Privatbibliothek Wilhelm Raabes.Vom „wirklichen Autor“, von Zeitgenossen und „ächten Dichtern“. Braunschweig: Stadt Bibliothek 1997, S. 34. Aus einer 1970 erschienenen Studie von Bänsch über die Privatbibliothek Raabes, in der es ihr darum geht, die im wesentlichen in der Braunschweiger Stadtbibliothek bewahrte Privatbibliothek Raabes nach Sachgebieten zu ordnen und aufzulisten, geht hervor, dass der Franzose Le Vaillant im Sachgebiet „Länderkunde und Reiseliteratur“ einen besonderen Stellenwert für Raabe einnimmt. Hier liegen drei Versionen von Le Vaillants Reiseberichten nach Afrika vor, nämlich „Voyage de Mr. Vaillant dans l’intérieur de l’Afrique … dans les années 1780, 81, 82, 83, 84 & 85. 1. 2.“, „Le Vaillant’s erste Reise in das Innere von Afrika, während der Jahre 1780 bis 1782. A. d. Frz. übers. mit Anm. v. Joh. Reinhold Forster“ und „Neue Reise in das Innere von Afrika … In den Jahren 1780 bis 1785. E. nützl. Leseb. f. d. Jugend, nach Campe’s Lehrart bearb.“ (Vgl. Dorothea Bänsch: Die Bibliothek Wilhelm Raabes. Nach Sachgebieten geordnet. In: Jahrbuch der Raabegesellschaft 11 (1970), S. 162).
60
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
schicken läßt, um es draußen auf den Wassern und in den Wüsten aufzusuchen! (BA 18, S. 204)
In diesem Roman wird die Geographie vom Landbriefträger Friedrich Störzer, einem schwärmerischen und begeisterten Leser von Le Vaillants Reisen in das Innere von Afrika, vielfach gefeiert. Dieser Mentor Eduards hat im Laufe seiner 31jährigen Berufslaufbahn eine Strecke zu Fuß hinter sich gelegt, die nahezu fünfmal der Länge der „Erdrunde“ gleicht (vgl. BA 18, SS. 158 u. 202). Sowohl sein Lektüregeschmack als auch die Hauptcharakteristik seines Berufs, d. h. die Beweglichkeit, werden zur Globalisierungseuphorie stilisiert. Er führt seinem Schützling die Verdienste der Geographie vor Augen: „Die Geographie, die Geographie, Eduard! Und so ein Mann wie dieser Levalljang! Was wäre und so bliebe unsereiner ohne die Geographie und solch ein Muster von Menschen und Reisenden?“ (BA 18, S. 21) Die in dieser Aussage benutzten Worte „Reisenden“ und „Geographie“ sind Begriffe, die auf den Zusammenhang zwischen der Reiseliteratur und der geographischen Kartierung der Welt hinsichtlich der Erschließung von bislang wenig oder gar nicht gekannten Räumen verweisen. Dieser Prozess stellt dem Leser der Reiseschilderungen zumindest diskursiv den ganzen Globus zur Verfügung. Seinem Enthusiasmus für die Geographie als Wissenschaft des Raums schlechthin verleiht Störzer Ausdruck: „Jaja, die Geographie ist doch die allerhöchste Wissenschaft“ (BA 18, S. 18).¹⁷² In den nachfolgenden Analysen wird der Konstruktion und Tragweite der in den Erzähler- und Figurenaussagen aufzuspürenden Imaginationen und Repräsentationen nachgegangen, denn diese können Einsicht in die den literarisierten Raumsemantiken zugrunde liegenden kulturellen und politisch-ideologischen Ordnungssysteme ermöglichen.
Dass die Geographie in der epochalen populärwissenschaftlichen Diskurswelt zur Wissenschaft des Globalen schlechthin erhoben wurde und zur imaginären Konstruktion der Welt als Einheit beitrug, zeigt der folgende Textauszug: „Die Geographie ist auf unserer elektrotelegraphisch, durch Dampf, Handel und Wandel engverbundenen und zusammenhängenden Erde eine der nothwendigsten und interessantesten, vollkommensten Wissenschaften geworden. Man lernt nicht mehr Länder und Grenzen und Flüsse und Berge und Städte auswendig, sondern zeigt und lehrt, wie unsere ganze Erde auf den einzelnen Stellen wirklich aussieht, wo und wie sie lebt und wirkt und in das Ganze eingreift“ ([H.B.]: Himmel und Erde im Zimmer. In: Die Gartenlaube 50 (1863), S. 792).
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
61
1.2.1 Kognitive Karten des Globalen „Ich ins Breite und Phantastische?!“ (BA 18, S. 81).
Downs und Stea haben dieses der Kognitionspsychologie entnommene Begriffsfeld weitgehend geprägt. Während „kognitives Kartieren“ auf einen Vorgang hinweist, deuten die Begriffe „mental map“ oder „kognitive Karte“ auf Ergebnisse oder Produkte des Vorgangs. Sie definieren das „kognitive Kartieren“ als ein[en] abstrakte[n] Begriff, welcher jene kognitiven oder geistigen Fähigkeiten umfasst, die es uns ermöglichen, Informationen über die räumliche Umwelt zu sammeln, zu ordnen, zu speichern, abzurufen und zu verarbeiten […] Vor allem aber bezieht sich kognitives Kartieren auf einen Handlungsprozess: es ist eher eine Tätigkeit, die wir ausführen, als ein Objekt, das wir besitzen. Es ist die Art und Weise, wie wir uns mit der Welt um uns herum auseinandersetzen und wie wir sie verstehen.¹⁷³
Dieser Definitionsansatz hat weitreichende Implikationen auf der individuellen und kollektiven Ebene. Auf der individuellen Ebene kann man die Performativität und Subjektivität als Hauptzüge des kognitiven Kartierens herausstellen. Die performative Dimension lässt sich erfassen, wenn der Einzelne manche Einträge sammelt, ordnet, speichert und verarbeitet in Hinsicht auf eine räumliche Konzeptualisierung des Weltganzen. Dies erfolgt zumeist durch eine Heranziehung der räumlichen Komponenten an die Herausbildung eines Weltbildes. Die subjektive Dimension tritt dadurch zutage, dass die sich ergebenden Raumrepräsentationen vielmehr dem Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizont des Einzelnen entsprechen. Parr, der an Down und Stea anknüpft, bringt diese Dimension ans Licht wie folgt: „Von ,mental map‘ oder ,kognitiven Karten‘ wird […] im Sinne der Wahrnehmungsgeografie gesprochen, die nach den gegenüber der geografischen Realität meist […] individuellen Repräsentationen dieser Realität fragt“.¹⁷⁴ Die angedeuteten Raumrepräsentationen sind also Ausdruck einer perzipierten Realität durch den Einzelnen. Auf der kollektiven Ebene kann man die historisch-kulturelle Dimension der kognitiven Karten herausstellen, denn sie können Aufschluss geben über die historisch und kulturell bedingten Wahrnehmungsmuster und Erfahrungsformen der räumlichen Umwelt. Görz deutet diese historisch-kulturelle Prägung der kognitiven Karten an, wenn er schreibt: „Eine kognitive Karte sei ein Querschnitt, der
Downs und Stea zit. in Rolf Nohr: Die Natürlichkeit des Spielens. Vom Verschwinden des Gemachten und Computerspiels. Münster: Lit. 2008, S. 60. Rolf Parr: Die nahen und die fernen Räume, S. 61.
62
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt zeigt; sie spiegele die Welt wieder, wie der Mensch glaubt, dass sie sei“.¹⁷⁵ Diese Kategorie, die also eine Analyse der Raumrepräsentationen sowie der Verarbeitungs- und Ordnungssysteme von Informationen über die räumliche Umwelt ermöglicht, kann ausschlaggebend sein für die Erfassung von Globalisierungserfahrungen bei Raabe im historisch-kulturellen Entstehungszusammenhang seiner Texte. Im Roman Stopfkuchen berichtet der diegetische Erzähler Eduard über seine ihm zufolge aufschlussreiche Freundschaft mit dem Landbriefträger Störzer. Zu seinem ehemaligen Schulfreund Stopfkuchen sagt er: Und wie weit um diese Lebenszeit auf den paar Stunden Weges von einem Dorf, Pastorhaus und Gutshof zum andern in die weite, unermessliche Welt hinauskam. Zu Hause, in Neuteutoburg, weiß ich nur zu gut, daß die Welt, oder in diesem Fall der Erdball, durchaus nicht unabmesslich ist, sondern daß dieser im Äther schwimmende Kloß gar nicht so dick ist, wie er sich einbildet (BA 18, S. 20).
Diese Aussage Eduards fasst das ambivalente Gefühl zusammen, dass der als „weit“ und „unermesslich“ wahrgenommene Globus „durchaus nicht mehr unabmesslich ist“, denn manche zeittypischen Repräsentationen des Globus machen die laufenden räumlichen Verdichtungsprozesse anschaulich. Diese Aussage Eduards deutet auf eine Mischung aus sich schärfendem Bewusstsein der Endlosigkeit des Globus und sich verdichtendem Phantasma seiner räumlichen Überschaubarkeit hin. Die anhand des Tätigkeitswortes „sich einbilden“ intendierte Anthropomorphisierung des „dicken“ Globus verweist eigentlich auf seine räumliche Überschaubarkeit als menschliches Phantasma. In Raabes 1894 erschienener Erzählung Kloster Lugau werden diese in Stopfkuchen angedeuteten Imaginationen über die räumliche Schrumpfung des Globus in eine mythische Dimension überführt, was wiederum das Phantasieren mancher Protagonisten wie etwa Tante Euphrosyne intensiviert. Im Zimmer ihres Mädchens greift sie „diesmal die Welt in Landkarten – Evchens alter, abgegriffener Schulatlas“ (BA 19, S. 95) und daraufhin macht sich „die sorgenvolle Seele der Tante Euphrosyne […] auf die Fahrt“ (BA 19, S. 95). Der nullfokalisierte Erzähler, der einen Überblick über die Phantasien Euphrosynes hat, sagt: von Deutschland bis nach Tumurkie im Innersten von Afrika, von Bopfingen, woher die Gelbfüßler stammen, bis an den gelben Fluß ist gottlob nur ein Schritt, oder besser ein Griff,
Günther Görz: Alexander unterwegs in Ebstorf und anderswo. Ein Versuch zu kognitiven Karten, ihrer epistemologischen Rekonstruktion und logischen Implementierung. In: Sonja Glauch u. a. (Hgg.): Projektionen – Reflexionen – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Berlin, Boston: De Gruyter. 2011, S. 351.
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
63
wenn man in einem Atlas umblättert […] und da lag sie vor ihr: die Welt in Mercators Projektion„ (BA 19, S. 96 f.).
Die literarische Figuration der räumlichen Überschaubarkeit des Globus oder „die ästhetische Repräsentation des Weltganzen“,¹⁷⁶ die durch das Atlassymbol¹⁷⁷ erfolgt, wird in diesem Text um eine mythische Dimension erweitert, denn sie wird in Verbindung mit der Projektion des prominenten Kartographen Mercator¹⁷⁸ gesetzt, dessen Namen in der Geographie inzwischen einen mythischen Charakter erhalten hat. Dass die Neuigkeiten der „Weltkarte in Mercator’s Projection“ zur Verwissenschaftlichung der Geographie und darüber hinaus zur Intensivierung des Völkerverkehrs als eines der prägnantesten Globalisierungsphänomene in der Epoche weitgehend beigetragen haben, zeigt der folgende Auszug aus einer Zeitschrift der Epoche: Die Geographie hat in neuester Zeit durch zwei Unternehmungen von gleicher Tendenz bedeutende Resultate gewonnen […] Um so willkommener erscheint daher die im Verlage von Justus Werthes in Gotha neu von Hermann Berghaus herausgegebene allgemeine
Christian Moser und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre, S. 19. Die Darstellung des Globalen erfolgt in den Texten meistens durch ein Arsenal von topischen Figuren, die aus der Geographie und Kartographie stammen (vgl. Christian Moser und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre, S. 19). Der Atlas gehört offensichtlich zu diesem Arsenal von topischen Figuren. Der 1512 geborene und aus Duisburg stammende Gerhard Kremer, der, wie es im 16. Jahrhundert üblich war, als Gelehrter seinen Namen latinisierte und daher Mercator hieß, ist „der König der Geographen“ (Stefan Zweig: Amerigo. Die Geschichte eines historischen Irrtums. Frankfurt /M: Fischer. 2009, S. 55). Er hat durch seine Leistungen den entscheidendsten Einschnitt bei der Anfertigung des Atlas markiert, denn im Gegensatz zu den vorherigen Erdkarten, die den Globus in zwei verschiedenen Halbkugeln spiegelten, veranschaulicht sein Weltatlas alle Teile der Erde auf einer einzigen Kugel, was in vielerlei Hinsicht revolutionär wirkte und vielen Bereichen wie etwa der Meeresnavigation weitestgehend Vorschub leistete. Dass viele Zeitgenossen der Wilhelminischen Ära ihn nicht nur verehren, sondern auch seiner Leistung einen mythischen Charakter zuerkennen, zeigt dieser Textauszug einer Zeitschrift: „Wer kennt nicht die Erdkarte in jedem Schulatlas mit der Aufschrift ‚Nach Mercator’s Projection‘? Wer erinnert sich nicht an die Eigenthümlichkeit dieser Karte, dass sie die ganze Oberfläche der Erde nicht in zwei Bildern, in zwei Hälften, der östlichen und westlichen Halbkugel, darstellt, sondern in einem einzigen Bilde, das alle Länder und Meere unserer Erde mit einem Male veranschaulicht? Wer wüßte nicht, dass alle Längen- und Breitengrade auf einer Karte ‚Nach Mercator’s Projection‘ sich nicht als Kreise darstellen, wie auf Hemisphären oder Halbkugeln, sondern als gerade Linien, die einander senkrecht schneiden? – Und wie Vielen ist die Erinnerung, ja die Kenntniß von alledem doch nur ein ungelöst aus der Jugend in das Leben hinüber genommenes Räthsel geblieben!“ ([Anonym]: Nach Mercator’s Projection. In: Die Gartenlaube 36 (1878), S. 593).
64
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
Weltkarte in Mercator’s Projection, welche bestimmt ist, die neueren Bahnen des Völkerverkehrs zu veranschaulichen.¹⁷⁹
Die in den Erzähler- und Figurenkommentaren von Raabes Texten sich verdichtenden Ausdrücke wie etwa „weite Ferne“, „weite Welt“, „großes Weltmeer“, „weite See“, „unbekanntes Land“ verweisen deutlich auf die Schärfung des neuen Bewusstseins für den Globus als einen endlos weiten, aber gleichzeitig verdichteten und überschaubaren Raum. Diese Worte signalisieren gewissermaßen eine Entwicklung der Blickrichtung von dem Lokalen, Regionalen oder Nationalstaatlichen hin zum Weltganzen oder Globalen. Diese Sprechweisen über die Welt lenken eindeutig „den Blick auf einen zentralen Aspekt der Wirklichkeitserfahrung von Raabes Zeit, nämlich die Perspektivausweitung von europäischen, deutschen und regionalen auf überseeische, weltweite Räume“.¹⁸⁰ Göttsche und Krobb unterstreichen die kulturgeschichtliche Dimension dieses Bewusstseins des Globalen: In the context of accelerated modernization from the 1850s onwards, the world outside Europe became, so to speak, interesting, relevant, and ’familiar’- as regards not only the evergrowing knowledge of geographical and cultural detail, but also the general awareness of the vastness of spaces outside Europe.¹⁸¹
In diesem Zusammenhang fügt Ramponi hinzu: „In die Lücke, die das Kollabieren traditioneller Repräsentationsweisen in der kognitiven Kartierung des globalen Raums aufgerissen hat, treten topographische Signifikanten wie Unendlichkeit, Unermesslichkeit und Ortlosigkeit“.¹⁸² Diese Vorstellung von der Unermesslichkeit steht eindeutig in einem ambivalenten Bezug zur mehrfach ausgestalteten räumlichen Überschaubarkeit der globalen Welt, die ebenso eine entscheidende Dimension der sich abzeichnenden kognitiven Kartierung des globalen Raums darstellt. In den Erzähler- und Figurenaussagen werden der Globus und die Fremdräume meist mit ambivalenten Denkfiguren und Repräsentationen konstruiert, die auf Wahrnehmungen der gleichzeitigen Endlosigkeit und Schrumpfung des Globus hinweisen. In der Erzählung Fabian und Sebastian berichtet der Erzähler über die Reaktion der Schielauer auf die bevorstehende Ankunft der „Mulattin“ Konstanze Pelzmann:
[Anonym]: Die neue Berghaus’sche Erdkarte. In: Westermanns Monatshefte (17) 1865, S. 105. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 10. Dirk Göttsche und Florian Krobb: Introduction, S. 5. Patrick Ramponi: Orte des Globalen, S. 50.
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
65
Ganz Indien, holländisch wie englisch, Inseln wie Festland kommt nicht dagegen auf, wenngleich noch fortwährend von seinen Vorzügen dem Schielauer Amtshofe gegenüber die Rede ist. Sie haben allesamt in der letzten Zeit ihre geographischen Schülererinnerungen von neuem aufgefrischt und in populären Zeitschriften und in Winkeln vergessener Bilderbüchern und derlei trefflichen Quellen die merkwürdigen Studien über Fräulein Konstanzes Insel gemacht (BA 15, S. 74).
In diesem Prozess der mentalen Aneignung des südostasiatischen Raums zum einen durch die Wiederauffrischung von in der Schule erworbenen geographischen Kenntnissen und zum anderen durch die Verarbeitung des in den Medien vermittelten Wissens werden kognitive Karten von jedem Individuum erstellt, die an der Schnittstelle von medial vermittelten Diskursen und individuellen Phantasmen zu verorten sind. Hiermit zeichnen sich gewisse Konstellationen des globalen Raums ab, in denen mentale Repräsentationen von Fremdräumen eine wesentliche Stellung einnehmen. Diese mental maps der globalen Räume ergeben sich aus den Dichterphantasien, die sich ihrerseits aus den sein Weltbild herausbildenden Lektüren speisen. Wie bereits erwähnt, haben einige Studien gezeigt, wie eifrig Raabe zu seinen Lebzeiten Zeitungen las, wie er „Nachrichten und Neuigkeiten aller Provenienz und aller Art aufsaugte, wie er die Meldungen und Berichte aus den verschiedensten Magazinen und bunten Blättern seinem Weltbild einfügte und in seinen Werken nutzte“.¹⁸³ In der Erzählung Fabian und Sebastian nimmt die Ambivalenz der sich abzeichnenden mental maps des globalen Raums auch die Gestalt der Füllung des überseeischen Raums mit ambivalenten emotionalen Semantiken an. Faszination, Entzückung und Bewunderung der Schielauer Leute gegenüber dem Herkunftsraum der „Mulattin“ Konstanze Pelzmann sind in dieser Erzählung deutlich ersichtlich. Die Ankündigung der Ankunft sowie der Aufenthalt Konstanzes in der Vater-Heimat rufen bei Leuten Imaginationen hervor, die meistens auf Phantasmen basieren, denn abgesehen von Fabian Pelzmann, der nach Marseille reist, um seine Nichte aus Sumatra abzuholen und Sebastian Pelzmann, der nach Berlin
Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 142. Dass für den Autor Raabe das Lesen von Zeitschriften seiner Epoche von großer Relevanz für das Verfassen seiner Texte war, haben ebenfalls manche Forscher wie etwa Henkel mehrfach betont. Hierzu schreibt sie: „Wilhelm Raabe war ein begeisterter und ausdauernder Leser nicht allein im Hinblick auf seine eigene Büchersammlung, auch Leihbibliotheken nutzte er intensiv, und für eine ausgedehnte Zeitungslektüre nahm er sich täglich ausreichend Zeit“ (Gabriele Henkel: Studien zur Privatbibliothek Wilhelm Raabes, S. 34). Siehe auch in diesem Zusammenhang Christoph Zeller: Raabe in internationalen Bezügen. In: Dirk Göttsche u. a. (Hgg.): Raabe Handbuch, S. 21 oder Dirk Göttsche: Raabe in postkolonialer Sicht, S. 294 oder auch Philip Ajouri: Wissenschaftsgeschichte, S. 310.
66
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
reist, um eine Erholung zu erzielen, hat das restliche Handlungspersonal nie die heimische Gegend verlassen. Zu seiner Nichte sagt Fabian: „Aus so weiter Ferne, von deinem Wunderlande her bist du mir gegeben zu meiner Freude, und wer weiß, was dir alles hier in deiner Väter Hause noch aufgehoben ist“ (BA 15, S. 96). Derartige verniedlichende Aussagen, die darüber Aufschluss geben, wie die Anwesenheit Konstanzes bei manchen Schielauer Leuten sowie manchen Arbeitern der Süßwarenfirma Pelzmann und Kompanie mehrfach Faszination und Bewunderung gegenüber dem fernen indischen Fremdraum erweckt, rekurrieren auf Phantasien. Darauf verweisen die vielfach eingesetzten Attribute wie etwa „träumerisch“, „behaglich“, „bunt“ und „hell“, mit denen Indien in den jeweiligen kognitiven Karten der Leute konstruiert wird. Da diese in diesem Fall nicht auf wirklichen Erlebnissen gründen, sondern vielmehr auf Imaginationen, werden individuelle Phantasmen hervorgerufen, die ihre mental maps über den Fremdraum Indien bestimmen. Im Gegensatz zu Fabian, der ebenso wie die große Mehrheit der Schielauer Leute in den Bann des Fremdraums Indien gerissen wird und ihn mit positiv besetzten Denkfiguren und Phantasmen konstruiert, projiziert Sebastian überaus negativ besetzte Bilder auf den indischen Raum, den er als Bedrohung ansieht. Aus der Sicht Sebastians bedeutet die Ankunft Konstanzes die Störung der Behaglichkeit seiner soliden Lebensjahre (vgl. BA 15, S. 38.). Sebastian ist in der Tat derjenige, der den Aufbruch seines jüngeren Bruders Lorenz 20 Jahre zuvor wegen vermeintlicher Untauglichkeit zur richtigen Buchhaltung der Süßwarenfirma in die Fremde erzwungen hatte. In seinem Sinne gehören die Untauglichen des herrschenden Ordnungssystems nicht in die bürgerliche Gesellschaft, sondern in die Fremde, was darauf hinweist, dass Sumatra als Chiffre für das Defizitäre steht. In der Erzählung Zum wilden Mann kehrt Agostin Agonista nach einem 30jährigen Aufenthalt in Brasilien in die Heimat zurück und verweilt im Harzdorf bei seinem alten Freund, dem Apotheker Philipp Kristeller. Die Ankunft Agonistas setzt bei den Dorfbewohnern allerlei Phantasmen frei, die bei näherem Hinsehen nicht nur Agonista gelten, sondern auch und vor allem dem südamerikanischen Fremdraum Brasilien, für den er bei seinen Zuhörern als Auswanderungsland wirbt. Über die Haltung der Dörfler zum Aufenthalt des brasilianischen „Gendarmerieobersten“ Agonista berichtet der Wir-Erzähler folgenderweise: „Einen Mann wie den Oberst stelle man einmal unter den Scheffel, wenn er in einer Gegend gleich der von uns geschilderten ankommt, das heißt aus den Wolken fällt. Auf Meilen in der Runde gingen bald die fabelhaftesten Gerüchte über ihn um“ (BA 11, S. 248). Die hier angedeuteten fabelhaften Gerüchte gelten im erweiterten Sinne den individuellen und kollektiven Imaginationen über den
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
67
Fremdraum Brasilien, denn in der Erzählgegenwart ist Agonista in den Augen der Harzdörfler offensichtlich „Teil der Außenwelt“.¹⁸⁴ Die Anwesenheit des Heimkehrers Agonista im Heimatraum ruft bei den HarzBewohnern Bewunderung und Faszination hervor, die von manchen bereits vorhandenen mental maps generiert werden. Über die Reaktionen der Dorfbewohner auf das Erscheinen des Heimkehrers berichtet der Erzähler: „Der bald so bekannte Fremdling entsprach in jeder Beziehung den Vorstellungen, die sich die Landschaft von einem ‚Wundertier‘ machte, und die Jovialität in seinem Wesen und Auftreten nahm der vertraulichen Scheu, die er den Leuten einflößte, nichts von ihrer Wirksamkeit“ (BA 11, S. 248). Die hier aufscheinenden Jovialität und Scheu der Dörfler gegenüber dem Heimkehrer, der eine der offensichtlichsten „klassischen und standardisierten Fremdenrollen“¹⁸⁵ ist, geben Aufschluss über die von der Außenwelt bewirkten „Wahrnehmungsweisen und Erfahrungsmöglichkeiten“.¹⁸⁶ Dunker, der an die Ausführungen der Forscher Janz und Münkler über die Erfahrungsmodi des Fremden anknüpft, scheibt in diesem Sinne: The philistines of the small German town react to the returnee’s revelations with an ambivalent mixture of feelings; these reactions are characteristic of an attitude towards the foreigner that is often referred to in terms of the simultaneity of “fascination and horror” or “resistance and desire”.¹⁸⁷
Diese zwischen Faszination und Schrecken oszillierenden Vorstellungen, Imaginationen und Phantasmen gegenüber dem als „Fremden“ und seinem „Herkunftsraum“ Brasilien angesehenen Heimkehrer werden durch die Werbungskommentare Agonistas für Auswanderung dahin gesteigert, denn die Reaktionen seiner Zuhörerschaft lassen auf der einen Seite ihr Begehren und auf der anderen ihre Abscheu gegenüber dem Fremdraum erkennen. Im Werk Raabes lässt sich diese Dimension der kognitiven Karten des globalen Raums bei den Auswanderer- bzw. Rückkehrerfiguren am prägnantesten beobachten. Bei diesen Figuren erfüllen kognitive Karten des globalen Raums eine handlungssteuernde Funktion, denn dieses mentale Vorstellungspotential bestimmt nach wie vor nicht nur die Entscheidung auszugreifen, sondern auch die gewählte Strecke. In diesem Zusammenhang ist das Bewegungsschema Heima-
Ortfried Schäffter: Vorwort. In: ders. (Hg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 7. Ortfried Schäffter: Vorwort, S. 7. Hervorhebung im Original Ortfried Schäffter: Vorwort, S. 7. Axel Dunker: First Contact and Deja Vu. The Return of Agostin Agonista in Raabe’s Zum Wilden Mann. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, S. 55.
68
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
traum – Ausfahrt – Heimkehr charakteristisch für die kognitive Kartierung des globalen Raums im Werk Raabes. Die Texte Raabes weisen eine gewisse Konstanz in der Handlungsstruktur auf, was weitreichende Implikationen für die diskursive Konstellation der jeweiligen Räume hat, denn auch wenn Fremdräume in diskursiver Hinsicht eine bedeutende Stellung einnehmen, sind sie ja keinesfalls die Hauptschauplätze der jeweiligen Handlungen. Hieraus ergibt sich eine Konfiguration, in der Fremdräume lediglich von den Eigenräumen aus wahrgenommen, dargestellt, konstruiert und narrativiert werden. Sowohl bei Rückkehrerfiguren, die zumeist erst nach Eintreffen in der Heimat von ihren Auslandsaufenthalten retrospektiv, d. h. anhand einer Gedächtnisverarbeitung, sprechen, als auch bei Daheimgebliebenen, die auf ihr in mancherlei Zeitungsquellen erworbenes oder ganz individuell konstruiertes Wissen über die Fremde rekurrieren, handelt es sich vielmehr um Imaginationen und Repräsentationen. Bei näherer Beobachtung können diese mental maps, die relevante Aufschlüsse über das Weltbild der jeweiligen Personen geben, entweder allerlei Phantasmen freien Raum lassen oder sich aus bereits zirkulierenden Imaginationen nähren.
1.2.2 Kritik an mental maps des Imperialismus Eine nähere Beobachtung der Heimkehrertexte Raabes legt nahe, dass er sich intensiv mit manchen imperialistischen Denkmustern und Ordnungssystemen auseinandersetzt. Unter diesen imperialistisch angelegten Ordnungssystemen, denen eine eurozentrische Sichtweise zugrunde liegt, nehmen die einige Teile des Globus hierarchisierenden Vorstellungen und Imaginationen eine bedeutende Stellung ein. Diese mental maps des Imperialismus haben manche aus der heutigen Perspektive gewiss etablierten räumlichen Kategorien wie etwa der „Westen“ bzw. das „Abendland“ oder der „Orient“ ergeben, die jedoch wegen der von ihnen transportierten Wertungen oder der mit ihnen verbundenen Wertehierarchien hinterfragbar sind. Diese räumlichen Kategorien finden ihre Entsprechungen nach der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Denk- und Diskursfigur „zivilisierte Welt“¹⁸⁸ und gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der rhetorischen Figur „Kulturnationen.“¹⁸⁹ Solche imperialistischen Ordnungssysteme und Denkmuster zeugen Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 144. Vgl. Dirk van Laak: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck. 2005, S. 177. Van Laak zufolge liegt dieser Kategorie der Gedanke zugrunde, dass „Räume und Ressourcen der Erde unter den führenden, zu einer wirtschaftlich und technisch effizienten Erschließung fähigen Kulturnationen aufzuteilen“ (Dirk van Laak: Über
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
69
von einer erstarkenden eurozentrischen Denkweise, denn, um mit Wendt zu sprechen, Europa dominierte die Welt ab den 1860er Jahren.¹⁹⁰ Im 1867 erschienenen Roman Abu Telfan stellt zu Anfang der Romanhandlung das Wissenschaftsmotiv eine relevante Legitimationsstrategie des Ausgreifens der Hauptfigur Hagebucher nach Afrika dar. Er sagt: Ob in der Tat das Rote Meer dreißig Fuß höher liege als das Mittelländische, hatte ich das Vergnügen, das Interesse meiner vierzig Millionen Landleute in dieser Frage würdig vertreten zu können: Die Engländer und die Franzosen schickten Fregatten, Diplomaten und Rudel von Gelehrten, der deutsche Genius sandte mich, was jedenfalls in alle Ewigkeit ein glänzender Ruhm für Nippenburg und Bumsdorf bleiben wird (BA 7, S. 24).
In dieser Szene wird eine Konfiguration ausgestaltet, in der der Afrikaraum nicht nur als Wissenschaftsgegenstand schlechthin der europäischen Imperien, sondern auch als Austragungsort von imperialistischen Rivalitäten dargestellt wird, die sich im Zeichen der sozialdarwinistisch überformten Geschichtsphilosophie vollziehen. Dieser sozialdarwinistisch überformten Geschichtsphilosophie zufolge sind die Beziehungen zwischen Staaten und Völkern durch die Konkurrenz um die Beherrschung von Lebensräumen bestimmt.¹⁹¹ Mit dieser prototypischen Konfiguration, in der sich mental maps des Imperialismus abzeichnen, inszeniert Raabe imperialistische Praktiken, denn die „zivilisierte Welt“ bzw. die „Kulturnationen“, d. h. die als kulturell höherwertig vorgegebenen Länder Europas, sol-
alles in der Welt, S. 177) sind. Dass die Denkfiguren „Kulturnationen“ und „zivilisierte Völker“ im Mittelpunkt der geographischen Diskurse und Raumrepräsentationen in der Wilhelminischen Ära standen, zeigt beispielhaft das programmatische Züge aufweisende Vorwort der 1862 erschienenen ersten Ausgabe der Zeitschrift Globus. Hierin schreibt der Herausgeber: „Die großen Menschenfamilien haben sehr verschiedene Culturwerthe; man kann nicht an alle ein und denselben Maßstab anlegen, kommt mit allgemeinen Heischesätzen nicht aus und wird am Ende zugeben müssen, dass es höher und tiefer organisirte Racen giebt, Urstämme von sehr verschiedenen Anlagen und immanenten Instincten, welche die Civilisation nicht beseitigen kann. Diese vermag nicht die Naturlage, welche vom Schöpfer selbst gegeben wurde, von Grund aus zu ändern, sie kann dieselben höchstens durch Cultureinflüsse bis zu einem gewissen Punkte modificiren. Zur Aufklärung über diese Verhältnisse soll der Globus nach Kräften beitragen“ (Karl Theodor Andree: Vorwort, S. iii). Vgl. Reinhard Wendt: Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500. Paderborn: Schöningh 2016, S. 225 – 319. Er zeigt, wie sich Kolonialismus und Globalisierung als zwei Seiten derselben Medaille seit dem 16. Jahrhundert in verschiedenen Weltteilen entwickelt haben. Seinen Ausführungen zufolge kennzeichnet sich diese geschichtliche Entwicklung dadurch, dass der Zeitraum 1858 – 1930 die Phase der europäischen Dominanz markiert. Vgl. Dirk van Laak: Über alles in der Welt, S. 177.
70
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
len die „nicht-zivilisierte Welt“, also die als kulturell minderwertig dargestellten Länder des Afrikaraums, wissenschaftlich erschließen.¹⁹² Bei näherem Hinsehen ist diese Inszenierung von Praktiken, denen mental maps des Imperialismus zugrunde liegen, nicht affirmativ, sondern kritisch angelegt. Diese kritische Gestaltung erfolgt auf mindestens zwei unterschiedlichen Textebenen. Auf der handlungsstrukturellen Ebene tritt in Raabes Heimkehrertexten stets eine topologische Konstanz in den jeweiligen Handlungsstrukturen ans Licht. Der erzählerische Schwerpunkt der jeweiligen Texte wird meistens auf die Bewegung vom Ausland in die Heimat, d . h . von „außen“ nach „innen“, gelegt. Ramponi sieht in dieser charakteristischen Bewegung eine Exklusion des „Außen“ zugunsten des „Innen“, was das kognitive mapping der realistischen Texte charakterisiert.¹⁹³ Bei näherem Hinsehen verunsichert diese prototypische Handlungsstruktur der Heimkehrertexte einige imperialistisch angelegte kognitive Karten des globalen Raums. In Abu Telfan setzt die Handlung mit der Rückkehr Hagebuchers in die Heimat ein, wobei der räumliche Schwerpunkt der Romanhandlung und weiterhin der Gegenstand der von ironischen Brechungen geprägten kritischen Betrachtung Hagebuchers keinesfalls der Afrika-, sondern der eigene Europaraum ist. Manche Interpreten identifizieren diese Perspektive als eine Variante des kritischen Exotismus.¹⁹⁴ Mit dieser Strategie, die zu einer Umkehr der Blickrichtung führt, werden vielmehr die Verhältnisse des eigenen, als kulturell fortgeschritten vor-
In Abu Telfan weisen die Motive der geographischen Erschließung und ethnologischen Ergründung der Nilgegend auf europäische Auswanderung im Zeichen der Wissenschaft und des Kolonialismus hin, was, um mit Wendt zu sprechen, von der europäischen Dominanz zeugt (siehe hierzu Kap. 3.2). Mithilfe dieser Motive setzt sich Raabe mit Themen auseinander, die sich in der zeitgenössischen Unterhaltungs- und Trivialliteratur sowie der publizistischen Diskurswelt großer Beliebtheit erfreuten. Um nur einige Titel anzuführen: [Anonym]: Die angeblichen Quellen des Nils nach Livingstone’s neuesten Entdeckungen. In: Westermanns Monatshefte 33 (1973), S. 229 – 232; [Anonym]: Die Entdeckung der Nilquelle. In: Die Gartenlaube 24 (1863), S. 383 oder Georg Schweinfurth: Völkerskizzen aus dem Gebiete des Bahr el Ghasal. In: Globus 23 (1873), S. 1– 6. Vgl. Patrick Ramponi: Orte des Globalen, S. 30 f. Diese Strategie, die darin besteht, die eigene Kultur aus einer fremdkulturellen Perspektive heraus oder die eigene Kultur von der Warte eines fremdkulturellen Blicks aus zu betrachten, wurde in die europäische Literatur von Montesquieu mit seinem Werk Lettres Persanes eingeführt. Bei Raabe kann man von einer besonderen Variante sprechen, denn Hagebucher ist gewiss bürgerlich-europäischer Herkunft, wird doch in seine Heimat mit einem fremdkulturellen bzw. „afrikanisch“ geprägten Blick zurückkehren. Schonfield zufolge greifen manche europäischen Autoren auf diese Strategie zurück, um die Verhältnisse der eigenen Kultur zu hinterfragen (vgl. Ernest Schonfield: Moonstone and „Mondgebirge“. Exile and Identity in Wilhelm Raabe and Wilkie Collins. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, S. 138).
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
71
gegebenen Europaraums vom „Afrikaner“ Hagebucher kritisch und gar skeptisch betrachtet. „Diese quasi-ethnologische Umkehr der Perspektiven, die sich in der ,objektiven Interpretation‘ der Rede verdichtet, bringt als ein symbolischer Katalysator“¹⁹⁵ die wahren kulturellen Verhältnisse des Europaraums ins Blickfeld.¹⁹⁶ Mit dieser Konstellation, in der vielmehr der eigenkulturelle Europaraum Gegenstand kulturanthropologischer Beobachtungen ist und darüber hinaus einem kritischen Blick des „Außen“ unterzogen wird, intendiert Raabe nicht nur eine Irritation, sondern auch eine gesteigerte kritische Gestaltung der mental maps des Imperialismus. Auf der Inhaltsebene erfährt diese Verunsicherung der im Denken der Philister festgeschriebenen hierarchisierten und asymmetrischen Beziehung zwischen dem Europa- und dem Afrikaraum eine Steigerung. In seiner Heimat unternimmt Hagebucher den Versuch, einen Vortrag über seine Erfahrungen zu halten, was bei den meisten Philistern die Ahnung aufkommen lässt, dass seine Berichte nicht nur ihren exotistischen Erwartungen genügen, sondern auch das kulturelle Selbstverständnis des Europaraums bestätigen würden, indem der Afrikaraum etwa mit verfallsbeladenen und defizitären kulturellen Semantiken gefüllt wird. Über diesen Vortrag berichtet der Erzähler: Er machte in der Tat Vergleichungen, und zwar solche, welche nur einen ungewöhnlich verworfenen deutschen Staatsbürger und Untertan angenehm berühren konnten. Er erlaubte sich, von den Verhältnissen des Turmukielandes wie von denen der eigenen süßen Heimat zu reden und Politik und Religion, Staats- und bürgerliche Gesetzgebung, Gerechtigkeitspflege, Abgaben, Handel und Wandel, Überlieferungen und Dogmen, Unwissenheit und Vorurteile auf eine Art und Weise in seinem Vortrage zu verarbeiten, daß mehr als ein staunender Horcher durchaus nichts Erstaunliches drin gefunden hätte (BA 7, S. 186 f.).
Doris Bachmann: Die „Dritte Welt“ der Literatur –„Abu Telfan“. Eine ethnologische Methodenkritik literaturwissenschaftlichen Interpretierens, am Beispiel von Raabes Roman „Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge“. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 20 (1979), S. 70. Bachmann betrachtet den Text Abu Telfan als einen ethnographischen Roman, in dem die Umkehr der Perspektiven des Afrikarückkehrers Hagebucher es möglich macht, den Europaraum mit dessen ethnozentrischem Gedankengut zu irritieren. Hagebucher mit „dessen ‚afrikanische[r]‘ Sichtweise hält den Philistern einen Spiegel vor, in dem sie sich in ihrer historischen Kurzsichtigkeit, im verzerrten Blick ihrer Selbstgewißheit und gar in ihrer eigenen Wildheit interpretiert finden können […] Diese ironisch-kritische Kontrastierung interpretiert zugleich die stereotypen Kontrastierungen, mit denen sich die Philistergesellschaft ihre Überlegenheit vergewissernd vor Augen führt“ (vgl. Doris Bachmann: Die „Dritte Welt“ der Literatur, S. 56 f.).
72
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
Mit diesem Unterfangen, das darauf abzielt, politische, soziale und kulturelle Parallelen zwischen Bumsdorf und Abu Telfan zu ziehen, werden manche aus der Perspektive der deutschen Philister selbstverständlichen Hierarchien eindeutig irritiert. Neumann und Stüssel deuten zu Recht den Titel, den Inhalt sowie das Ziel von Hagebuchers Vergleichungen als eine Verschiebung und Veränderung des Bewusstseins für die Verortung von Zentrum und Peripherie.¹⁹⁷ Diese pointierte Interpretation beleuchtet Brenner näher, wenn er betont, dass Raabe hiermit ein „in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zentrales Denkmodell, mit dem die okzidentale Neuzeit wesentlich ihr Selbstverständnis bestimmt hatte, ins Wanken“¹⁹⁸ bringt. Diese Hierarchisierung in den mental maps des Imperialismus, die in Abu Telfan weitgehend infrage gestellt und verunsichert werden, gehört u. a. zu jenen Denkmodellen, die zur Stärkung des okzidentalen Selbstverständnisses beitragen. In der publizistischen Diskurswelt der Epoche wurde dieses okzidentale Selbstverständnis zumeist im Modus des für das exotistische Denksystem konstitutiven Binarismus wild – zivilisiert narrativiert. Gerstäcker, einer der produktivsten Autoren der Unterhaltungs- und Trivialliteratur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, schreibt in einem seiner Texte: Der civilisirte Mensch geht in die Wildniß und kehrt freudig in seine Heimath, in die Mitte seiner Bequemlichkeiten zurück und denkt sich dabei: „Wie bist du glücklich, dass du nicht in einem solchen Zustand leben mußt“; ja, begreift nicht, wie es andere Menschen darin aushalten.¹⁹⁹
Die bei Raabe bereits angedeutete Kritik an hierarchisierenden mental maps des Imperialismus kommt im Roman Stopfkuchen auf subtile Weise zur Gestaltung. Hier lässt sie sich nicht nur an der Spezifik der Bewegungsrichtungen gewisser Figuren erkennen, sondern auch an den in ihren Aussagen verwendeten topologischen Koordinaten. Die Figuren Stopfkuchen und Eduard werden funktionalisiert, um tiefgreifende Oppositionen zu artikulieren, denen entgegengesetzte Denkmuster und Lebensformen zugrunde liegen. Während Stopfkuchen für die Sesshaftigkeit symbolhaft steht, denn er bleibt zu Hause und erobert einen Innenraum, vertritt Eduard die Beweglichkeit, denn er greift in die Fremde aus und erobert einen
Vgl. Michael Neumann und Kerstin Stüssel: Einführung: „The Ethnographer‘s Magic“, S. 10. Peter J. Brenner: Die Einheit der Welt, S. 51. Friedrich Gerstäcker: Civilisation und Wildniß. In: Die Gartenlaube 17 (1855), S. 225.
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
73
Außenraum.²⁰⁰ Im Gegensatz zur der in der Sesshaftigkeit artikulierten Vertikale, die für die Erfassung der Identität Stopfkuchens bedeutend ist, ist die in der Beweglichkeit artikulierten Horizontale ausschlaggebend für die Identität Eduards, was darüber hinaus an die räumliche Konstituierung von Geschichte einerseits und Geographie andererseits denken lässt. Die Rote Schanze, die von Stopfkuchen erobert wurde, ist durch die vertikale Konstituierung ihrer Geschichte gekennzeichnet. Sie wird als ein Raum dargestellt, der mit diachronisch angeordneten Zeitreferenten gefüllt ist. Diese vertikal ausgerichtete Verräumlichung der Zeit lässt sich an der geologischen Struktur des Bodens der Roten Schanze festmachen. Sie umschließt alle wichtigen paläontologischen Epochen der Erdformung, nämlich die Eozänzeit, die Miozänzeit die Pliozänzeit und die Eiszeit, was in geschichtsphilosophischer Hinsicht auf die imperialistisch angelegten rhetorischen Figuren „Alte Welt“ oder „alte“ westliche Zivilisation²⁰¹ hinweisen kann. Der Afrikaraum, mit dem sich Eduard identifiziert, wird als ein Raum dargestellt, der sich deshalb nur mit dem geographischen Wissen erobern lässt, weil er horizontal konstituiert ist, was in geschichtsphilosophischer Hinsicht an die Idee der Geschichtslosigkeit Afrikas denken lässt. In Stopfkuchen setzt die Handlung ein mit dem Ende von Eduards Besuch bei Stopfkuchen auf der Roten Schanze. Als „schreibender“ Erzähler von allem, was ihm Stopfkuchen „mündlich“ berichtet hat, fährt Eduard an Bord des Schiffes „Hagebucher“ nach Südafrika zurück. Im Laufe dieser Reise schreibt er das Geschehene nieder. Struck zufolge zeichnet sich hierin eine Bewegungsrichtung ab, die einen Übergang vom historischen zum geographischen Raum nachzeich-
Siehe auch Heiko Ullrich: „Uit het Vaderland“. Raabes „Stopfkuchen“ und die Darstellung Südafrikas in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 58 (2017), S. 136 – 141. Darüber hinaus deuten viele Indizien im Text darauf hin, dass die Rote Schanze symbolhaft nicht nur für die Geschichte steht, sondern auch für die „Alte Welt“ oder „alte“ westliche Zivilisation. Die Figur Stopfkuchen schwärmt sehr für die Geschichte, Paläontologie, Geologie und Philosophie. Im Gegensatz zu Afrika birgt Stopfkuchens Rote Schanze in sich eine lange Geschichte. Die Kommentare Eduards zum Verhalten Stopfkuchens bestätigen, was Letzterer denkt, nämlich, dass nur die Rote Schanze eine Geschichte hat, während Afrika geschichtslos ist. Eduard sagt: „Und nun, wie als ob ich aus meinem Leben und aus Afrika nicht das geringste Neue und für ihn vielleicht auch Merkwürdige zu erzählen gehabt hätte, zog er mich an den Rand seines Burgwalls und deutete mir mit dem Finger dieses so grenzenlos unbedeutende Stück Welthistorie, Kanonenlärm, Bürgerangst, Weiber- und Kindergekreisch, Brand und Blutvergießen: da und da stand der und der“ (BA 18, S. 72). Das auf der Roten Schanze befindliche alte Klassikerbuch, das Stopfkuchen gern liest (BA 18, S. 64) und das „Korpusjuris“ in lateinischer Originalfassung, auf dessen deutsche Übersetzung er inbrünstig hofft (vgl. BA 18, S. 86), stehen hier auch symbolhaft für die „Alte Welt“ oder die „alte“ westliche Zivilisation.
74
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
net.²⁰² Diese Charakteristik der Raumdarstellung im realistischen Erzählen führt dem Leser eine Expansion des deutschen Imperialismus vor Augen, der sich zuerst in der Heimat konsolidiert, bevor er ins Ausland exportiert wir.²⁰³ Die Kritik an der von der Reiseliteratur wie etwa Levaillants Text beflügelten geographischen Wissenskonstruktion, die auf herrschenden Repräsentationen und Denkmodellen über zivilisatorische Hierarchien von Räumen ruht und somit wiederum neue imperialistisch angelegte mental maps generiert, kommt im Text Stopfkuchen in zweierlei Hinsicht zum Ausdruck. Einerseits findet Eduard in seinem Verkehr mit Störzer, dem Mörder des Viehhändlers Kienbaum, den Beweggrund für seine ursprünglich naturwissenschaftlich motivierte Abenteuerreise nach Afrika, die später in Südafrika in ein ökonomisches Kolonialunternehmen umschlägt. Die Verbindung von Eduards imperialistisch motiviertem Ausgreifen nach Afrika mit einem im Europaraum angesiedelten, aber verschwiegenen Kriminalfall sowie das Umleiten eines ursprünglich naturwissenschaftlichen Abenteuers in ein ausbeuterisches Unternehmen können hier als subtile Kritik an der Haltung Eduards gedeutet werden, denn ihr liegen imperialistische Denkmuster zugrunde. Andererseits wird die skeptische Haltung Stopfkuchens ebenfalls verworfen, denn er glaubt, an imperialistischen Praktiken keinen Anteil zu haben, doch offensichtlich finden die aus den hierarchisierenden Denksystemen entstandenen mental maps ihren Ursprung in der von der Geschichte verkörperten „zivilisierten Welt“. Das Wiedersehen von Eduard und Stopfkuchen wird in diesem Sinne von Struck als eine Wiederbegegnung zwischen dem Weggegangenen und dem Dagebliebenen gedeutet.²⁰⁴ In Anlehnung daran wird die für die Geographie stehende und von Eduard vollzogene horizontale Bewegung nach Afrika mit der auf Geschichte hinweisenden Vertikale in Beziehung gesetzt. In diesem Text häufen sich topologische Koordinaten wie etwa „hinten“, „unten“, „außen“ oder „innen“, die für die Textualisierung von hierarchisierten
Vgl. Wolfgang Struck: See- und Mordgeschichten, S. 70. Vgl. Wolfgang Struck: See- und Mordgeschichten, S. 70. Vgl. Wolfgang Struck: See- und Mordgeschichten, S. 60. In seiner Analyse zieht Ullrich eine interessante Parallele zwischen Schaumann, der in Deutschland ein inländisches Gut erobert, und Eduard, der in Südafrika ein ausländisches Gut erobert (vgl. Heiko Ullrich: „Uit het Vaderland“. Raabes „Stopfkuchen“ und die Darstellung Südafrikas in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, S. 136 – 141). Ihnen ist eine „innere Verwandtschaft“ gemeinsam, „denn beide haben sich widerrechtlich etwas angeeignet, was sie anderen weggenommen haben: Schaumann hat Kienbaum das Geld und insbesondere Störzer den guten Ruf gestohlen, Eduards ‚Gehöft‘ steht auf einem Land, das eigentlich einem anderen Volk gehört, eben im ‚Kaffernlande‘“ (Heiko Ullrich: „Uit het Vaderland“. Raabes „Stopfkuchen“ und die Darstellung Südafrikas in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts“, S. 137).
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
75
Beziehungen zwischen den dargestellten Räumen relevant sind. Anhand solcher lokalbestimmender Ausdrucksmittel werden die in einem Raum vorliegenden Objekte zueinander relationiert. Diese topologischen Koordinaten können auch manche Beziehungen zwischen verschiedenen räumlichen Entitäten des Globus semantisieren. In Stopfkuchen dienen sie vielmehr der kritischen Gestaltung von hierarchisierten Relationen zwischen manchen Großräumen des Globus. Hier erhalten sie zwischen Großräumen relevante Bedeutungsträger, die Einsicht in die den epochalen Kolonialdiskurs sowie das imperialistische Gedankengut strukturierenden kulturellen und politisch-ideologischen Ordnungssysteme ermöglichen. Einige der genannten topologischen Hinweise stehen paradigmatisch für Vorstellungen, mit deren Hilfe Beziehungen zwischen gewissen Teilen des Globus repräsentiert oder imaginiert sowie die Weltkarte von einer imperialistischen Warte aus gelesen werden. Die in den Aussagen Schaumanns wiederkehrenden topologischen Koordinaten „[dr]unten“ wie etwa in der Aussage „drunten im ‚heißen Afrika‘“ (BA 18, S. 12) oder „hinten“ in der Aussage „da hinten in Pretoria“ (BA 18, S. 68) weisen darauf hin, dass in den mentalen Dispositionen des europäischen Subjekts vertikale und horizontale Relationen zwischen Räumen festgeschrieben sind, die zur Entstehung eines imaginierten Koordinatensystems im Globus führen. „So tragen Horizontale und Vertikale, indem sie mehr als nur Linien innerhalb des Koordinatensystems sind, nämlich Bedeutungslinien, entscheidend zum Aufbau“²⁰⁵ einer hierarchisierten Struktur des globalen Raums bei. Diese in den mental maps festgeschriebene Hierarchisierung kommt am deutlichsten zur Anschauung, wenn Schaumann bei einem Gespräch Eduard nach seiner Ansicht folgendermaßen fragt: „Du vom alleräußersten Ende von Afrika, du Eduard, was ist deine Meinung?“ (BA 18, S. 113) Die mit Afrika assoziierten topologischen Hinweise „hinten“, „unten“ oder „außen“ lassen sich in Zusammenhang mit einer hierarchisierten Relation mit Europa bringen, wobei Letzteres „vorn“, „oben“ oder „innen“ liege. Diese hierarchisierte Anordnung mancher kontinentalen Großräume, wobei Europa „vorne“, „oben“ oder „(dr)innen“ liege im Vergleich zu Afrika, das „unten“, „hinten“ oder „(dr)außen“ zu verorten sei, reicht wie bereits angedeutet über rein geographische Betrachtungsweisen der Weltkarte hinaus. Oschmann zufolge verbergen sich hinter solchen topologischen Hinweisen eigentlich moralische und kulturelle Werte.²⁰⁶ Hierzu schreibt er: „Kontinuierlich werden die räumli Karl Hotz: Bedeutung und Funktion des Raumes im Werk Wilhelm Raabes, S. 70. Vgl. Dirk Oschmann: Wo soll man am Ende leben? Zur Verschränkung von Raum- und Zeitsemantik in Raabes „Stopfkuchen“ und Fontanes „Stechlin“. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt, S. 219.
76
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
chen Koordinaten als Wertkoordinaten sowie als moralische Koordinaten funktionalisiert. Draußen, unten und hinten zu sein, heißt unter dieser Voraussetzung, entweder moralisch verwerflich oder schlicht uninteressant zu sein“.²⁰⁷ Diese topologischen Koordinaten transportieren nicht nur moralische, sondern auch und vor allem kulturelle Wertungen. Dabei wird der Europaraum in moralischer, kultureller oder zivilisatorischer Hinsicht als „fortgeschritten“ vorgegeben. Der Afrikaraum wird hingegen als „rückständig“ hingestellt, weil sich seine kulturellen Wertesysteme den als „universell“ vorgegebenen, jedoch eigentlich „eurozentrischen“ Normen nicht zuordnen lassen. Das auf dichotomischen topologischen Koordinaten wie etwa vorn/hinten, oben/unten, (dr)innen/(dr)außen basierende Denkschema lässt eine prägnante Eurozentrik und Asymmetrie in den kognitiven Repräsentationen des globalen Raums aufspüren. Dass diese topologischen Koordinaten mit moralischen und gar kulturellen Werten aufgeladen sind, beleuchtet Parr näher, wenn er schreibt: „Diese topologischen Gegensätze sind zudem vielfach mit Wertungen wie ,wertvoll/wertlos‘, ,vertraut/fremd‘, ,gut/böse‘ oder ,alt/jung‘ versehen“.²⁰⁸ Gerade derartige imperialistisch angelegte mental maps, denen hierarchisierende Ordnungssysteme zugrunde liegen, werden bei Raabe grundlegend relativiert und gar verworfen, denn im Text Stopfkuchen werden diesen für das bürgerlich-europäische Selbstverständnis konstitutiven mental maps Praktiken entgegengehalten, die auf Unzivilisiertheit des Eigenraums hindeuten. Bei einem Gespräch mit Eduard sagt Schaumann: Da, sitze still und gucke in die schöne Gegend und auf die Heimatsgefilde und laß mich mir endlich mal Luft machen, einem Menschen gegenüber Luft machen, der nicht da unten in das alte Nest hineingehört, sondern der morgen schon wieder auf dem Wege nach dem untersten Ende vom alleruntersten Südafrika ist (BA 18, S. 68).
Es ist hier anzumerken, dass die Stadt, die die Schaumann psychologisch erdrückenden Normen und sozial ausgrenzenden Mechanismen der Philistergesellschaft in sich birgt, topologisch gesehen unter der Roten Schanze liegt. In der oben aufgeführten Aussage werden Südafrika und die Philistergesellschaft der gleichen topologischen Anordnung „unten“ zugeordnet, was unterstellt, dass so wie Afrika manche Strukturen der Philistergesellschaft auch zivilisationsbedürftig sind. Hier werden die Ausgrenzungsmechanismen bzw. -strukturen angedeutet, denen Heinrich Schaumann alias Stopfkuchen in der Schule, an der Universität
Dirk Oschmann: Wo soll man am Ende leben? Zur Verschränkung von Raum- und Zeitsemantik in Raabes „Stopfkuchen“ und Fontanes „Stechlin“, S. 219. Rolf Parr: Die nahen und die fernen Räume, S. 58.
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
77
und in der Philistergesellschaft zum Opfer gefallen ist. Er wird deshalb ausgegrenzt, weil er sich den Normen der genannten gesellschaftlichen Institutionen nicht unterwerfen möchte, oder weil seine Handlungs- und Denkmuster mit den herrschenden Ordnungssystemen keinesfalls in Einklang gebracht werden können. Diese fehlende Toleranz von sozialen Differenzen in der bürgerlichen Gesellschaft zeigt gewissermaßen eine defizitäre Mentalität, die so gesehen der der sogenannten „unzivilisierten Welt“ gleicht. In Fabian und Sebastian wird die Anreise Konstanzes in ihrem Vater-Land zum Anlass genommen, um die auf Dichotomien basierenden Semantiken der Eigen- und Fremdräume, die die mental maps der Schielauer Einwohner charakterisieren, aufzuzeigen. Dieses auf Gleichsetzung von Europäischem mit Zivilisiertheit einerseits und von Außereuropäischem mit Barbarentum andererseits gründende Denkmuster deutet der Erzähler an mit kritisch- ironischem Unterton wie folgt: Sie [Konstanze] hatte allgemach ein gut Teil ihrer ersten Scheu vor dem Europäertum abgestreift, die kleine Indierin nämlich.Wenn wir den Onkel Sebastian ausnehmen, so gab es in dieser so durch und durch zivilisierten, dieser mit Malaien, Laskaren, Batakern, Atchinesen, Chinesen und sonstigem Barbarenvolk gänzlich ungemischt gebliebenen Gesellschaft niemand, der ihr auf dem Markt und der Gasse große Furcht eingejagt hätte. (BA 15, S. 115)
Solche auf Fremdräume übertragenen „stereotypisierende[n] Kollektivzuschreibungen, die alle [Fremden mit deren Räumen] auf einige Merkmale reduzieren, die zudem noch negativ konnotiert, stigmatisierend oder generell abwertend sind“,²⁰⁹ verschreiben sich bei näherem Hinsehen den sendungsideologischen Rechtfertigungsdoktrinen des Kolonialimperialismus. Die zum Teil auf dichotomischen und binären Raumsemantiken ruhenden Grundannahmen dieses Kolonialimperialismus werden in Raabes Texten grundlegend verunsichert.
1.2.3 Konstruktion und Irritation der kolonialen mental maps Dass Räume in der Literatur meist Resultate von individuellen oder kollektiven und vor allem kulturell bedingten Konstruktionsprozessen sind, betonen Hallet und Neumann: „Räume in der Literatur, das sind menschlich erlebte Räume, in denen räumliche Gegebenheiten, kulturelle Zuschreibungen und individuelle
Jürgen Zimmerer: Kolonialismus und kollektive Identität. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. In: ders. (Hg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Frankfurt/M: Campus 20139, S. 16.
78
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
Erfahrungsweisen zusammenwirken“.²¹⁰ Räume werden in literarischen Texten seltener als neutrale Entitäten dargestellt, denn mit ihnen werden aus Autoren-, Erzähler- oder Figurenperspektiven Handlungs-, Denk- und Vorstellungsmuster assoziiert. Diese verschiedenen Muster treten in literarischen Texten meistens in Form von Repräsentationen oder Denkfiguren auf, die, wie bereits erwähnt, auf soziale, kulturelle oder politisch-ideologische Ordnungs- und Hierarchisierungssysteme verweisen. Im Kontext des globalen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts, wo koloniale Praktiken nicht nur als soziale und politische, sondern auch vornehmlich als diskursive Praktiken verstanden werden, erhält die Art und Weise, wie Fremdräume narrativiert werden, einen relevanten Stellenwert. Manchen Bildern, Denkfiguren, Repräsentationen, Projektionen und Vorstellungen, mit denen Fremdräume konstruiert werden, liegen bei näherem Hinsehen kolonial angelegte Denkstrukturen zugrunde. In Anlehnung an den postkolonialen Theoriediskurs, der in der von Foucault postulierten Verschränkung von Wissen und Herrschaft die Grundannahme des Kolonialismus verortet,²¹¹ wird hier unter kolonialen mental maps des globalen Raums jenes mentale Dispositionen strukturierende geographische Ordnungssystem verstanden, das kolonial angelegte Blickrichtungen auf die Weltkarte zeitigt. Um die raumbezogenen mentalen Dispositionen besser in den Griff zu bekommen, führt der Vorreiter des Postkolonialismus Edward Said in seiner 1978 erschienenen Publikation Orientalism die Kategorie imaginative Geography ein.²¹²
Wolfgang Hallet und Birgit Neumann: Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung, S.11. Vgl. Jürgen Zimmerer: Kolonialismus und kollektive Identität, S. 15. Im Kapitel mit dem Titel „Imaginative Geography and its Representations: Orientalizing the Oriental“ beleuchtet Said die Art und Weise, wie unterschiedliche räumliche Entitäten Asiens und des Mittel- sowie Nahostens im Westen und vom Westen für seine eigenen Interessen als eine räumliche Homogenität konstruiert wurden. Diese wurden im Laufe der Zeit mit bestimmten imaginierten und angeblich typisch orientalischen kulturellen Vorstellungen gefüllt, die grundlegend der Dichotomie Okzident – Orient dienen. Zur „imaginative Geography“ schreibt Said: „But if we agree that things in history, like history itself is made by men, we will appreciate how possible it is for many objects or times to be assigned roles and given meanings that acquire objective validity only after the assignments are made. This is especially true of relatively uncommon things, like foreigners, mutants, or „abnormal“ behavior. It is perfectly possible to argue that some distinctive objects are made by mind, and that these objects, while appearing to exist objectively, have a fictional reality. A group of people living on a few acres of land will set up boundaries between their land and its immediate surroundings and the territory beyond, which they call „the land of the barbarians“. In other words, this universal practice of designating in one’s mind a familiar space which is „ours“ and an unfamiliar space beyond „ours“ which „theirs“ is a way of making geographical distinctions that can be entirely arbitrary: I use the world „arbitrary“ here because imaginative Geography of the „our land-barbarian land“ variety does not
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
79
Mit dieser Kategorie analysiert er, wie der „Orient“ mit manchen im und vom Westen imaginierten Repräsentationen, Vorstellungen und Denkfiguren konstruiert wird, die später durch ihre kontinuierliche und unhinterfragte Reproduktion einen Objektivitätsanspruch erheben, auch wenn sie doch eigentlich nur Produkte von Imaginationen sind. Des Weiteren wird der Orient mit bestimmten Vorstellungen zur Darstellung gebracht in Hinsicht auf eine geographische Abgrenzung des fremden Orients vom eigenen Okzident. Die koloniale Raumpoetik operiert „vor allem mit binären Raummodellen, um vermeintlich eindeutige Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem zu hypostasieren und essentielle Vorstellungen von Kultur bzw. Kollektividentität zu inszenieren“.²¹³ Dass sich diese diskursive Traditionslinie dem für die koloniale Kulturgeschichte zentralen Denkmodell „Exotismus“ verschreibt, hebt Göttsche hervor: „Am deutlichsten ist [in diesem Zusammenhang] die auf der normativen Kontrastierung von Eigenem und Fremdem beruhende dichotomische Raumkonstruktion in der Tradition des Exotismus, der einen wichtigen Aspekt der Kulturgeschichte des Kolonialismus darstellt“.²¹⁴ Diese diskursiven Strategien zielen meist darauf ab, die erschlossenen oder die zu erschließenden Räume mit manchen Phantasien, Vorstellungen oder Denkfiguren zu repräsentieren hinsichtlich der Legitimation ihrer kulturellen und politischen Unterwerfung. Diese kolonialen mental maps kommen in Abu Telfan dadurch zur Anschauung, dass Europa mit der positiv konnotierten Denkfigur „Zivilisation“ assoziiert, während Afrika mit den negativ konnotierten Bildern Sklaverei und Barbarei repräsentiert wird. „Gewalt“, „Anfechtungen“, „Geschrei“, „Gefangenschaft“, „Enthauptungen“ und „Schreiblosigkeit“ sind Bilder, mit denen der Afrikaraum in Abu Telfan gefüllt wird. Sklaverei und Barbarei sind einige der prägnantesten kolonialen Topoi, mit denen der Afrikaraum im kolonialen Denksystem konstruiert wird. Der Europaraum wird seinerseits mit den kulturellen Grundsätzen des philiströsen Wertesystems repräsentiert, wobei „Beruf“,
require that the barbarians acknowledge the distinction. It is enough for „us“ to set up these boundaries in our own minds; „They“ become „they“ accordingly, and both their territory and their mentality are designated as different from „ours“ […] The geographic boundaries accompany the social, ethnic and cultural ones in expected ways. Yet often the sense in which someone feels himself to be not-foreign is based on a very unrigorous idea of what is „out there“ beyond one’s own territory. All kinds of suppositions, and fictions appear to crowd the un-familiar space outside one’s own“ (Edward Said: Orientalism. New-York: Vintage 1979, S. 54). Birgit Neumann: Imaginative Geographien in kolonialer und postkolonialer Literatur: Raumkonzepte der (Post‐)Kolonialismusforschung. In: Wolfgang Hallet und dies. (Hgg.). Raum und Bewegung in der Literatur, S. 125. Dirk Göttsche: Tom Jensen war in Indien, S. 44.
80
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
„Schreiberei“ sowie „Gabel und Messer“ symbolhaft für die moderne Zivilisation stehen. Im kulturgeschichtlichen Kontext des globalen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts war diese Füllung von außereuropäischen Räumen mit kulturell abwertenden Praktiken ein weit verbreiteter Topos in der publizistischen Diskurswelt des Wilhelminischen Zeitalters. Exemplarisch hierfür steht ein Auszug aus einem in Die Gartenlaube erschienenen Artikel mit dem vielsagenden Titel „Aus der Fremde. Die letzten Menschenfresser“: Es dürfte unsern Lesern allgemein bekannt sein, daß es in unseren Tagen noch Völker giebt, welche das Fleisch erschlagener Feinde oder Gefangener verzehren, ja dies sogar unter großen Festlichkeiten und mit roh pomphaften Ceremonien thun. Diese schauerliche Sitte bestand namentlich auf den Fidschi-Inseln in der Südsee bis in die neueste Zeit. Jetzt ist sie auch dort abgeschafft und zwar dadurch, daß England jene ansehnliche Gruppe herrlicher Inseln, welche die Natur mit allen Schätzen freigebig ausgestattet, in Besitz genommen hat. Die Umstände, welche England veranlaßten, jene Inseln der bereits so großen Anzahl seiner Besitzungen in Oceanien hinzuzufügen, verdienen vor allem erzählt zu werden. Großbritannien hielt seit mehreren Jahren einen Consul in jenem Archipel, wo sich seit längerer Zeit schon Methodisten-Missionäre niedergelassen hatten, um die wilden Bewohner für das Christenthum zu gewinnen.²¹⁵
Die in diesem Textauszug aufscheinende Semantisierung des außereuropäischen Raums „Fidschi-Inseln“ mit aus europäischer Perspektive sittlich verwerflichen kulturellen Praktiken wie etwa Kannibalismus, der am prägnantesten die Barbarei spiegelt, kontrastiert deutlich mit der Semantisierung der kolonisierenden Macht England, die als Zivilisationsbringer dieser barbarischen kulturellen Praxis Einhalt gebietet.²¹⁶ Wie diese für die sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrin zentrale Strategie der Füllung von außereuropäischen und europäischen Räumen mit dichotomischen kulturellen Semantiken typisch für die epochale europäische Mentalität ist, zeigt der aufgeführte Textauszug. Diese dichotomische Semantisierung des Europaraums als „zivilisiert“ und „kultiviert“ sowie des Fremdraums als „primitiv“, „barbarisch“ und „wild“ prägt weitgehend die Blickrichtung des kolonial angelegten Denksystems auf den Globus.
August Diezmann: Aus der Fremde. Die letzten Menschenfresser. In: Die Gartenlaube 1 (1862), S. 11. Hervorhebungen im Original. Siehe auch [Anonym]: Cannibalen in Südafrika. In: Westermanns Monatshefte 27 (1869), S. 223.
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
81
Gerade derartige regionenspezifische Diskurse, die eine wesentliche Rolle in den mental maps spielen und die sich in der Überzeugung europäischer Überlegenheit spiegeln,²¹⁷ werden von manchen Heimkehrertexten Raabes relativiert und verunsichert. Mit der bereits angedeuteten Strategie des kritischen Exotismus werden die für das exotistische Denksystem zentralen und auf der raum-zeitlichen Achse sich konstituierenden Binarismen wie etwa „früher/jetzt“ oder „dort/ hier“ infrage gestellt.²¹⁸ Göttsche zufolge wird dadurch „[a] literary critique of European society from the imaginary perspective of a non-European exotic culture“²¹⁹ möglich gemacht. Die mental maps des Kolonialismus mit deren binären Vorstellungen werden dadurch in Abu Telfan weitgehend verunsichert. In der Erzählung Zum wilden Mann werden die kolonialen mental maps, die hier um eine Konstellation erweitert werden, ebenfalls irritiert. Der Rückkehrer Agostin Agonista berichtet über die markantesten Ereignisse seiner Auswanderung nach Brasilien: auch mir sind heute gerade dreißig Jahre vergangen, seit ich zum ersten Male im Feuer stand, und zwar an Bord der chilenischen Fregatte „Juan Fernandez“ gegen den „Diablo Blanco“, den weißen Teufel, ein Schiff der Republik Haiti, um am folgenden Morgen mit einem Holzsplitter in der Hüfte und einem Beilhieb über der Schulter im Raum des Niggerpiraten aus der Bewusstlosigkeit aufzuwachen (BA 11, S. 204).
Mit diesem Piratenmotiv wird der Karibikraum als „unberechenbar“, „gesetzlos“, „barbarisch“, „politisch unmündig“ und „gewalttätig“ dargestellt. An dieser Stelle tritt die Fremde als Abenteuerraum auf hinsichtlich einer mentalen Stärkung und einer Verwirklichung des individuellen Lebensentwurfes Agonistas, denn der Fremdraum Karibik, die mit „Gefahr“, „Risiko“ und „Drohung“ assoziiert wird, wird von ihm erfolgreich durchfahren. Göttsche bezieht sich auf diese Piratenmotivik in Raabes Erzählung, um die zu sehr pauschalisierende These der Literarisierung von Karibik als Abenteuerraum in literarischen Texten des Realismus zu formulieren. Hierzu schreibt er: „Die literarische Karibik des Realismus bewegt sich zwischen den Polen des Abenteuerromans“.²²⁰ Bei näherer Beobachtung dienen solche Raumdarstellungsmuster der Heroisierung sowie der Selbstverwirklichung des tapferen, risikolustigen, tugendhaften, ordnungsschaffenden und kräftigen europäischen Subjekts. Mit diesem Piratenmotiv wird die
Vgl. Dirk Göttsche: Tom Jensen war in Indien, S. 44. Vgl. Rolf Parr: Die Fremde als Heimat, S. 12. Dirk Göttsche: „Pionier im alten abgebrauchten Europa“. Modernization and Colonialism in Raabe’s Prinzessin Fisch. In: Florian Krobb und ders. (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, S. 38. Dirk Göttsche: Tom Jensen war in Indien, S. 48 f.
82
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
Funktion der außereuropäischen Welt als Bewährungsraum des europäischen Subjekts deutlich. Beim Ausgriff Agonistas nach Brasilien „ist das Potential für Abenteuer ungleich größer als in vertrauter heimischer Umgebung, denn das Neue, Ungezähmte, Unzivilisierte hält Überraschungen bereit, schafft Situationen, deren Bewältigung gar nicht oder doch nur ungenügend erprobt ist“.²²¹ Im Zeitschriftendiskurs der Epoche und besonders in Texten mancher Verfechter der deutschen Auswanderung nach Brasilien ist eine Funktionalisierung des südamerikanischen Raums Brasilien als Bewährungsraum des deutschen Kolonisten deutlich erkennbar. Gerstäcker, der in seinen Texten die Verhältnisse in Südbrasilien lobpreist und sich für die deutsche Auswanderung dahin ausspricht, schreibt: „Jedenfalls wird er [der deutsche Einwanderer] mit der Zeit und durch Erfahrung klug und lernt sicherlich in jedem fremden Werttheile in einem Jahre mehr, als daheim in zehn“.²²² Die Irritation dieser auf Projektionen und Imaginationen beruhenden Konstruktionen der Fremde als Abenteuer- und Bewährungsraum des europäischen Subjekts erfolgt in Zum wilden Mann dadurch, dass mit der Rückkehr Agonistas sich der Heimatraum mit einer monströsen, barbarischen, erbarmungslosen und verheerenden Gestalt konfrontiert sieht, die in enger Verbindung mit einem entfesselten und ungezügelten globalen Kapitalismus steht. So gesehen kann der Heimatraum, das Harzdorf, als Bewährungsraum des nun als erprobten Kapitalisten zurückgekehrten Agonistas gedeutet werden. Im Spiegel des Endtableaus der Erzählung, das einen wegen des mit Zinseszinsen zurückgeforderten Geldes „kahl“ gewordenen Apothekerraum zeigt, wird verdeutlicht, wie die Heimat Bewährungsraum für die Verwirklichung eines kapitalistischen Lebensentwurfes wird. Die Folgen der demselben ideologischen Nexus sowie der derselben ausbeuterischen Konnexion zugrunde liegenden Verkettung Globalisierung – Kolonialismus – Kapitalismus sind also ersichtlich nicht nur in Brasilien, sondern wirken ebenfalls mit unaufhaltsamer und unverrückbarer Brutalität auf den Heimatraum zurück (siehe auch Kap. 3.3). Hinzu kommt eine nicht zuletzt wichtige politische Dimension, denn in Brasilien stellt sich Agonista der brasilianischen „Majestät“ an die Seite, um einen politischen Aufruhr mit gewalttätigen Mitteln zu befrieden. Hiervon berichtet er: Wir beide haben jetzt manch liebes Jahr das vielfarbige Gesindel in Rio de Janeiro zur Ordnung und Tugend angehalten; er durch regelrecht richtige konstitutionelle Güte, ich
Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 28. Friedrich Gerstäcker: Deutsche Colonisation in Brasilien. In: Die Gartenlaube 29 (1862), S. 456.
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
83
durch flache Säbelhiebe und im Notfall durch einen kurzen Galopp, drei Schwadronen hintereinander, rund über das Pack weg (BA 11, S. 219).
Die im brasilianischen Raum herrschenden gewalttätigen Verhältnisse, in denen das aus dem Europaraum kommende Subjekt Ordnung schafft, werden in Zum wilden Mann mit den der bürgerlichen Gesellschaft innewohnenden Gewaltstrukturen parallelisiert. Über seine Herkunft berichtet Agonista: Ich stamme aus einem der anrüchigsten Geschlechter Deutschlands und hatte drei Tage vor dem Zusammentreffen mit meinem Freund Philipp Kristeller auf dem Blutstuhle getan, was ich mußte. Um es kurz zu sagen, so hatte ich, unter Billigung und Beistand von Staat und Kirche, einem nichtsnutzigen Mitbruder im Wirrwarr dieser Welt auf offenem Felde und vor zehntausend Zuschauern den Kopf abgeschlagen (BA 11, S. 209 f.).
Wie sich aus der jüngeren Forschung zum Kolonialismus in den Texten Raabes ergibt, trachtet seine Raumpoetik offensichtlich manche kolonialen Raumkonzeptionen auf eine reflexive Ebene zu bringen, indem sich gewisse gleiche Strukturen genauso im Eigen- wie im Fremdraum beobachten lassen. Die Exotisierung, die u. a. darauf abzielt, Fremdräume von Eigenräumen abzugrenzen, wird in Raabes Text Fabian und Sebastian meist mit animalischen Assoziationen konkretisiert. In diesem Text verdichten sich in den Figuren- und Erzähleraussagen animalische und floristische Repräsentationen, mit denen Indien als Herkunftsraum von Konstanze Pelzmann imaginiert und dargestellt wird. Bei einer Unterhaltung zwischen dem Amtmann von Schielau, Fabian und Konstanze über die Verhältnisse des Geburtsraums Letzterer fragt Fabian: „Nun, wie ist es damit, Konstanze? Wie lautet das Bulletin des Hofjungen über euere [!] nächtlichen Raubtiervisiten auf Sumatra?“ (BA 15, S. 75) Auf eine Aussage des Amtmanns reagierend, setzt er fort: „Vergiss aber auch den Moskito nicht, der dann gleichfalls am liebsten hervorkommt und die menschliche Gesellschaft sucht, wenn zur Ruh‘ die Glocken läuten“ (BA 15, S. 76). Auf diese ihren Geburtsraum mit animalischen Assoziationen konstruierenden Aussagen, was leitmotivisch für die Konstruktion des Indienraums in Fabian und Sebastian steht, reagiert Konstanze Pelzmann „wirklich aufgeregt, rot und schauernd“ (BA 15, S. 76). Diese Exotisierung Indiens mit animalischen Figurationen ordnet Schneider in ihrer Analyse der Zivilisationsrhetorik des kolonialen Denkens zu. Hierzu schreibt sie: Die Exotik Indiens zeigen vor allem die Animalisierungen, die gleichsam von Figuren und Erzähler ausgehen. Die Ferne wird oftmals mit wild konnotiert, was auf zugeschriebene Triebhaftigkeit und Unzivilisiertheit schließen lässt. Sowohl der Raum an sich, als auch die Personen, die in diesen Raum gegangen oder aus ihm hervorgegangen sind, das heißt Lorenz
84
Kapitel 1: Raumdarstellung als Inszenierung der Globalisierung
und seine Tochter Konstanze, werden mit animalisierenden, naturalisierenden oder exotisierten Namenzusätzen […] benannt.²²³
Die in dieser Analyse Schneiders betonte konzeptionelle Kontiguität, die darin besteht, den Raum und seine Menschen mit gleichen Denkfiguren zu imaginieren, spiegelt kolonial angelegte Wahrnehmungsmuster, die eine Herabwürdigung des Fremden mit dessen Raum intendieren. Derartige Raumrepräsentationen, in denen die Fremde mit Elementen der Natürlichkeit dargestellt wird, können als Konstruktionen kultureller und gar Ausdrucksträger hegemonialer Ordnungssysteme angesehen werden, die, so Neumann, Zugang zu kulturspezifischen Wissensordnungen und kollektiven Imaginationen über Eigenes und Fremdes bieten.²²⁴ Dies zeigt die folgende prägnante Szene, in der Konstanze auf die Anmerkungen ihrer Gesprächspartner über den Indienraum reagiert. Sie sagt: „Das Rhinozeros ist recht unangenehm und kümmert sich um nichts und wird deshalb auch gern in Gruben gefangen […] und es ist selbst in Bild schauderhaft anzusehen, und der Onkel Fabian will es in Schokolade nachbilden“ (BA 15, S. 77). Darauf sagt der Erzähler: „Der kunstreiche Onkel nickt träumerisch behaglich in das tropische Tischgespräch hinein; zwischen all dem bunten unheimlichen Getier, von welchem die Rede ist, wandelt seine bewegliche Künstlerseele unter der bunten Flora des Geburtslandes seiner Nichte“ (BA 15, S. 77). Im Gegensatz zum asiatischen Raum, der mit Elementen der exotischen Tierwelt in seiner wilden Natur imaginiert wird, ist die den europäischen Raum mit dessen Industrialisierung symbolisierende Schokoladenfabrik als Ort anzusehen, wo allerlei exotische Tiere wie etwa Elefanten, Rhinozerosse etc. anhand der technologischen Eignung, Kunst und Technik des europäischen Industriellen in Schokoladen nachgebildet werden. Diese kunstvolle „Verfügbarmachung von [exotischer] Natur, die [europäischen] technischen Kulturen eigen sei“,²²⁵ ist eine paradigmatische Konstellation der kolonialen Raumrepräsentation, wobei Europa als Raum der Kunst und Technik als kulturell höherwertig vorgegeben wird im Gegensatz zu Asien, das mit Natur repräsentiert und als kulturell minderwertig dargestellt wird. Diese in den kognitiven Karten des Kolonialismus zur Semantisierung des Fremd- und Eigenraums weit verbreitete Dichotomie Natur/Kultur, die die koloniale Rhetorik überaus prägt, wird
Astrid Schneider: Von unten nach oben und von oben nach unten, S. 31. Vgl. Birgit Neumann: Imaginative Geographien in kolonialer und postkolonialer Literatur, S. 119 f. Matina Heßler: Kulturgeschichte der Technik. Frankfurt/M, New York: Campus 2012, S. 9.
1.2 Zur Literarisierung und Funktionalisierung von Globalisierungsphantasien
85
in diesem Text verunsichert, indem sich in den unausgewogenen und konfliktbeladenen brüderlichen Beziehungen zwischen Fabian und Sebastian das Animalische der philiströsen Gesellschafsstruktur aufdecken lässt.²²⁶
Vgl. Astrid Schneider: Von unten nach oben und von oben nach unten, S. 16.
Kapitel 2 Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus der Globalisierung bei Raabe Obgleich die beiden Kategorien Raum und Zeit, so Kramer in Anlehnung an Durkheim, „‚Kollektivvorstellungen‘ [sind], die gleichzeitig ‚Kollektivzustände‘ ausdrücken“,²²⁷ lassen sich in ihrer jeweiligen Beschaffenheit und Eigenschaft manche Unterschiede herausstellen. Im Gegensatz zu Raum, der „von unmittelbarer sinnlicher Qualität“²²⁸ und in ontologischer Hinsicht verhältnismäßig konkreter erlebbar, greifbar, identifizierbar und dementsprechend darstellbar sein kann, sind die Konturen von Zeit weniger deutlich umreißbar. Grabes et al. zufolge gehört Zeit zu jenen per se abstrakten Phänomenen, die gerade daher in vielen Kulturen vorwiegend mithilfe von metaphorischen Mitteln handgreiflich sichtbar und konkret greifbar gemacht werden.²²⁹ In Anknüpfung an die Ausführungen von Grabes et al. betont Leise, dass das Phänomen Zeit das Dasein des Menschen tiefgreifend prägt, jedoch entzieht es sich wegen seiner Abstraktion der direkten Wahrnehmung.²³⁰ Daher ist Zeit vielmehr erfahrbar und vorstellbar. In anthropologischer Hinsicht wird mit Zeit eine ältere und ausschlaggebende Grundkategorie der Kultur zur Verfügung gestellt, die mehr zur Erfassung und gar Beleuchtung der vielfältigen Facetten der Beziehung des Menschen zu seiner Welt beigetragen hat. Überdies ist sie in geschichtsphilosophischer Hinsicht seit der Antike Gegenstand von intensiveren Reflexionen durch namhafte Denker. Da hier weder Grund noch Gelegenheit besteht, eine eingehende Darstellung dieser Reflexionen über den Zeitbegriff vorzunehmen, soll im Nachstehenden nur auf manche jener Zeitkonzeptionen kurz eingegangen werden, die für die vorliegende Studie von Belang sind.
Caroline Kramer: Zeit für Mobilität. Räumliche Disparitäten der individuellen Zeitverwendung für Mobilität in Deutschland. Stuttgart: Franz Steiner 2005, S. 69. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 130. Vgl. Herbert Grabes, Ansgar Nünning und Sibylle Baumbach: Metaphors as a Way of Worldmaking, or: Where Metaphors and Culture Meet. In: dies. (Hgg.): Metaphors Shaping Culture and Theory. Tübingen: Narr 2009, S. xv. Vgl. Nina Leise: Fictions of Time. Zeitvorstellungen, -erfahrungen und -reflexionen in englischen und amerikanischen Romanen der Gegenwart. Trier: WVT 2017, S. 9. https://doi.org/10.1515/9783110743029-005
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
87
In Anlehnung an das von Richelle erarbeitete Modell menschlicher Zeit unterscheidet Morgenroth zwischen biologischer, psychologischer, soziokultureller und kulturell-historischer Zeit.²³¹ Göttsche macht seinerseits eine bündige und überblickshafte Bestandsaufnahme der bahnbrechenden Erklärungsmodelle und Definitionsansätze, die den Zeitbegriff aus vielfältigen Perspektiven und in unterschiedlichen Disziplinen zu konzeptualisieren versucht haben: Als Bewegung der Natur und des Kosmos (Naturzeit), als natürliche Voraussetzung menschlichen Daseins in seiner Rhythmik und Endlichkeit (Lebenszeit), als kategoriale Bedingung von Wahrnehmung und (selbst‐) Bewusstsein (innere Zeit), als integraler Bestandteil sozialer Ordnungen (soziale Zeit), als Geschichtlichkeit der Gesellschaften und Kulturen (geschichtliche Zeit) und als der Versuch, die Einheit dieser Zeitebenen zu denken und auf diese Weise nach dem Sinn der Welt bzw. der Geschichte zu fragen, sind Zeit und Zeitlichkeit in Philosophie, Religion Kunst und Literatur aller Kulturen und Epochen in je unterschiedlicher Form Gegenstand von Darstellung und Reflexion.²³²
Die vielfältige Differenziertheit dieser Ansätze spiegelt einerseits die Komplexität des Zeitbegriffs und andererseits die Schwierigkeit dieser Ansätze, die Wirklichkeit von Zeit in ihren vielfältigen Erscheinungsformen zu fassen, obgleich sie eine unentbehrliche transkulturelle anthropologische Kategorie ist. Inhaltliche Nachbarbegriffe wie etwa „Zeiterfahrung“, „Zeitauffassung“, „Zeitgefühl“, „Zeitsinn“, „Zeitverständnis“, „Zeitkonzeption“, „Zeitempfinden“ oder „Zeitsensibilität“,²³³ auf die man in der Fachliteratur mehrfach trifft, zeugen gewiss von einer vielschichtigen und komplexen Kategorie. Sie deuten doch auch auf die vielfältigen konzeptuellen Versuche hin, diese weitaus diffuse und abstrakte Kategorie konkret erfahrbar zu machen. Im Rahmen dieser Studie, in der die Texte Raabes als Quelle zur Ergründung von Globalisierungserfahrungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gele-
Vgl. Olaf Morgenroth: Zeit und Handeln. Psychologie der Zeitbewältigung. Stuttgart: Kohlhammer 2008, S. 29 – 39. Dieses Modell menschlicher Zeit wurde von Richelle in seinem Aufsatz „The expanding scope of the psychology of time“ erarbeitet und von Morgenroth in seiner Publikation Zeit und Handeln: Psychologie der Zeitbewältigung als theoretisches Modell seiner Ausführungen übernommen. Hier wird an der von Morgenroth bearbeiteten deutschen Version festgehalten. Dirk Göttsche: Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexionen und Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink 2001, S. 27. Vgl. Martin Middeke: Die Kunst der gelebten Zeit. Zur Phänomenologie literarischer Subjektivität im englischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 7.
88
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
sen werden, wird Zeit aus einer kulturtheoretischen Perspektive betrachtet.²³⁴ Hier können zwei Kulturverständnisse herangezogen werden, die für die erwähnte kulturtheoretische Perspektive von Zeit bedeutend sind: erstens Williams’ Verständnis von Kultur, demzufolge „in jeder Gesellschaft, in jeder Periode, ein zentrales System von Praktiken, Bedeutungen und Werten vorzufinden ist, das wir zutreffend als das herrschende und wirksame bezeichnen können“;²³⁵ zweitens Geertz’ Verständnis, das Kultur als einen Kontext, einen Rahmen sieht, in dem gesellschaftliche Ereignisse,Verhaltensweisen oder Prozesse verständlich sind.²³⁶ Zeit wird daher in diesem Kapitel als eine der zentralen Dimensionen verstanden, an denen auf Globalisierung hinweisende Wertvorstellungen, Praktiken, Wahrnehmungen und Erfahrungen in einer bestimmten Epoche ergründet werden können. Der Fokus wird dabei gelegt auf kontextorientierte und kulturell-historische Deutungen, Vorstellungen und Praktiken, die auf zeitliche Implikationen der im vorausgehenden Kapitel herausgearbeiteten Erfahrungen der räumlichen Schrumpfung des Globus bei Raabe hinweisen. Alle oben genannten Sachverhalte gründen auf der Prämisse, dass Vorstellungen und Praktiken für eine soziale Realität konstitutiv sind und im Kontext einer bestimmten historischen Wirklichkeit wie Globalisierung im 19. Jahrhundert auch in fiktionalen Texten ergründbar und auslotbar sind. Der Schwerpunkt wird deshalb auf soziokulturelle Ordnungsentwürfe in einem bestimmten historischen Kontext gelegt. Den Zusammenhang zwischen Zeitvorstellungen und soziokulturellen Verhältnissen bringt Hinz wie folgt zum Ausdruck: Das jeweilige Zeitverständnis ist grundsätzlich in den Erfordernissen und den wissenschaftlichen und technischen Bedingungen und Möglichkeiten einer Gesellschaft begründet. Jede Gesellschaft bringt ihre eigenen Zeitkonzeptionen hervor, nach denen sie sich or-
In kulturtheoretischer Hinsicht wird der Diskurs über Zeit weitgehend kulturalisiert. Hier wird Zeit bzw. Zeiterfahrung entweder als eine kulturabhängige Variable oder ein kulturanthropologisches Konstrukt erachtet. Hierzu schreibt Götze: „Zeit wird in unterschiedlichen Kulturen und von Menschen je unterschiedlich erfahren: Zeit ist Menschenwerk“ (Lutz Götze: Zeit-Räume – Raum-Zeiten. Gedanken über Raum und Zeit in den Kulturen. Frankfurt/M: Peter Lang 2011: 106; Hervorhebung im Original). In Anlehnung an Elias führt er weiter aus, „dass ‚Zeit‘ von Menschen bestimmt und standardisiert wird, um Beziehungen zu anderen Individuen oder Gruppen zu ermöglichen oder – im Konfliktfall – zu klären: ein menschliches Konstrukt also“ (Lutz Götze: Zeit-Räume – Raum-Zeiten, S. 126). Raymond Williams: Innovationen, S. 190. Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (Übersetzt von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann). Frankfurt/M: Suhrkamp 1987, S. 21.
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
89
ganisiert. Diese ergeben sich insbesondere aus der jeweiligen Sozial- und Wirtschaftsform und den entsprechenden organisatorischen Notwendigkeiten.²³⁷
Die Fokussierung auf gesellschaftliches Erleben, Denken, Deuten, Kommunizieren und Handeln in einem historischen Kontext suggeriert, dass im Nachstehenden der Zeitbegriff vornehmlich in seinem soziokulturellen und historischen Zusammenhang verstanden wird. Diese „soziokulturelle“ und „kulturell-historische“ Konzeption des Zeitbegriffs bei Richelle decken sich in vielerlei Hinsicht mit „sozialer Zeit“ und „geschichtlicher Zeit“ in der von Göttsche vorgelegten Bestandsaufnahme. Morgenroth stellt auf prägnante Weise in seinen Ausführungen den Bezugspunkt zwischen der soziokulturellen und der kulturell-historischen Zeit heraus, indem er eine Historizität sozialer und kultureller Erscheinungen bekräftigt. Er schreibt, dass Zeitvorstellungen keine idiosynchratischen Konstruktionen [sind], sondern orientieren sich an den zeitlichen Erfordernissen des sozialen Kontextes und den damit verbundenen kollektiven Zeitperspektiven und Zeitvorstellungen […] Wie die soziale Zeit konkret konstruiert und organisiert wird, ist wiederum eine Frage des historischen Kontextes.²³⁸
Assmann, die die verschiedenen Ausprägungen eines „soziokulturellen Zeitdiskurses“ zu erfassen versucht, formuliert zwei prägnante Fragestellungen, an die in diesem Kapitel angeknüpft wird, nämlich einerseits in welcher Form prägt eine bestimmte temporale Ontologie menschliches Erfahren und Handeln? Und andererseits wie die kulturelle Zeit durch bestimmte menschliche Handlungen hergestellt wird?²³⁹ Hier geht sie davon aus, dass Zeit mit menschlichem Handeln gefüllt ist.²⁴⁰ Eine Herangehensweise an Zeitvorstellungen als soziokulturelle und kulturell-historische Analysekategorien stellt den Vorteil dar, dass sie einerseits zur Aufdeckung der mit dargestellten sozio-ökonomischen Verhältnissen verbundenen Zeitkonzeptionen führen und andererseits Einsicht in manche Zeitauffassungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewähren kann. Wie bereits erwähnt, betrachtet diese Studie die Texte Raabes als eingebettet in ihren diskursiven Entstehungszusammenhang und daher als diskursiven Beitrag, der
Andreas Hinz: Zeit als Bildungsaufgabe in theologischer Perspektive. Münster: Lit 2003, S. 57. Olaf Morgenroth: Zeit und Handeln, S. 32. Vgl. Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München: Carl Hanser 2013, S. 49 f. Vgl. Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 33.
90
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
das Verstehen und die Rekonstruktion einer zeittypischen Mentalität ermöglicht.²⁴¹ Epochentypische „Verhaltensweisen, Ausdrucksformen und Arten des Schweigens […], in denen sich die Weltanschauungen und kollektiven Sensibilitäten niederschlagen“,²⁴² sind demzufolge von großem Interesse. Diese soziokulturellen und kulturell-historischen Dimensionen von Zeit eröffnen also operative Perspektiven für eine mentalitäts- und erfahrungsgeschichtliche Erforschung einer literarisch gestalteten historischen Wirklichkeit wie Globalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Versteht man Zeit in phänomenologischer Hinsicht als Rückbezug der „Succession der Veränderungen und Zustände in unserer Seele [auf die] Succession der Veränderungen in den Außendingen“,²⁴³ dann ist sie eine zentrale Kategorie, anhand derer das Bewusstsein von sozialen und kulturellen Transformationen in einer „Gesellschaft im Aufbruch“²⁴⁴ ausgelotet werden kann. Sie ist daher ausschlaggebend für die Analyse von Wahrnehmungs-, Deutungs- und Erfahrungsmustern eines die dargestellten gesellschaftlichen Prozesse wahrnehmenden Bewusstseins. In der Gattung Zeitroman, der die in dieser Studie analysierten Heimkehrertexte Raabes zuzuordnen sind, kommt der Zeit eine erhebliche Funktion zu, denn dadurch werden Zeitgeschichte, Zeitbewusstsein und Zeiterfahrung²⁴⁵ sowie Zeitvorstellungen im Prozess des gesellschaftlichen Umbruchs unter den Vorzeichen von Modernisierung und Globalisierung reflektiert. Assmann zufolge sind „positiv konnotierte Stichworte wie Bewegung, Veränderung, Wandel, Erneuerung, Fortschritt“²⁴⁶ die wichtigsten Ausprägungen der Zeit im Modernisierungsdiskurs. Man kann hier an zwei Grunderkenntnisse an Göttsche bringt diese Einbettung der Texte Raabes in den zeittypischen Diskurszusammenhang der Epoche und ihren diskursiven Beitrag zur Reflexion über laufende „Temporalisierungsprozesse“ zum Ausdruck: „Wo die Literatur sich zeitkritisch mit der Gegenwart auseinandersetzt und deren Geschichtlichkeit reflektiert, partizipiert sie im 19. Jahrhundert an der Konstruktion der Zeitgeschichte […] im politischen und gesellschaftlichen Diskurs der Epoche und setzt sich kritisch mit diesem Diskurs auseinander“ (Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 5). Mandrou zit. in Peter Schöttler: Mentalitäten, Ideologien, Diskurse, S. 87. Platner zit. in Dirk Göttsche: Zeit im Roman, S. 32. Der Historiker Siemann, der sich mit der Zeitperiode 1849 – 1871 auseinandersetzt, betrachtet diese als ein „Übergangszeitalter oder die Formationsperiode“ einer als Signum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diagnostizierten „deutschen Gesellschaft im Aufbruch“ (Vgl. Wolfram Siemann: Gesellschaft im Aufbruch, S. 11 u. 89). Das war eine Zeitperiode, in der soziale und wirtschaftliche Mobilisierungsvorgänge sowie eine „Beschleunigung aller Lebensverhältnisse als Zeiterfahrung“ (Wolfram Siemann: Gesellschaft im Aufbruch, S. 17) die Wahrnehmungsformen der Zeitgenossen prägten. Vgl. Dirk Göttsche: Zeit im Roman, S. 5. Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 23.
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
91
knüpfen. Erstens seien hier fast kanonisch gewordene Globalisierungsforscher Harvey und Giddens herangezogen, deren Definitionsansätze von Globalisierung den Schwerpunkt u. a. auf Neukonzeptionen von Zeit legen. Zweitens sei die bereits formulierte kulturgeschichtliche Erkenntnis erwogen, dass Globalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „durch eine fundamentale Transformation der Vorstellungen von Raum und Zeit […] gekennzeichnet“²⁴⁷ war. Da Zeit eine kultur- und epochenspezifische Konstruktion und daher mit bestehenden symbolischen Ordnungen des kulturellen und historischen Kontextes zusammenhängt,²⁴⁸ ermöglicht die literarische Zeitdarstellung Einsicht in kulturelle Zeitkonzeptionen einer bestimmten Epoche.²⁴⁹ In Anlehnung an oben Ausgeführtes werden in diesem Kapitel die im Werk Raabes literarisierten Zeitvorstellungen und Zeiterfahrungen im engen Bezug zur diskursiven Wirklichkeit sowie zu den Verhältnissen des kulturellen und historischen Entstehungskontextes seiner Heimkehrertexte analysiert. Die Ausführungen in diesem Kapitel gliedern sich in vier Leitpunkte. Im ersten Leitpunkt wird der Fokus einerseits auf die Erfahrungen, Deutungen und Wahrnehmungen der jeweiligen Figuren und Erzähler von den in den Texten thematisierten sozialen Umgestaltungsprozesse gerichtet. Dies gründet auf der Annahme, dass diese Umgestaltungen als soziokulturelle Ordnungen einer von Modernisierung, Industrialisierung und Technisierung geprägten Zeit angesehen werden können. Mit dieser zeit- und kulturgeschichtlichen Perspektive wird die „Erfahrung der Zeitbeschleunigung“²⁵⁰ als einer der prägnantesten Aspekte des modernen Zeitregimes in den Mittelpunkt gerückt, denn diese geht „auf den kontinuierlichen Wandel der Welt durch die Fortschritte […] zurück, die Europa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts […] überzog“.²⁵¹ Der zweite Leitpunkt setzt sich auseinander mit gesellschaftspolitisch und ideologisch angelegten Zeitvorstellungen im Text Alte Nester. In diesem Zusammenhang werden die Handlungs- und Figurenkonstellation in den Kontext der in
Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S. 35. Vgl. Ansgar Nünning: Literarische Zeitdarstellung u. -struktur. In: Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler. 2013, S. 820. Zu diesem grundlegenden Ansatz der kulturellen und historischen Gebundenheit der Zeitkonzepte siehe auch Wolfgang Marschall: Zeitkonflikte in multikultureller Konfrontation. In: Peter Rusterholz und Rupert Moster (Hgg.): Zeit. Zeitverständnis in Wissenschaft und Lebenswelt. Bern u.a: Peter Lang 1997, S. 161– 175. Dies wird auch von Osterhammel bekräftigt: „Zeit ist jenseits des astronomischen Tag-Nacht-Zyklus, des klimatischen Jahreskreises […] ein kulturelles Konstrukt“ (Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 130). Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 198. Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 198.
92
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
der Handlung angedeuteten 1848er-Revolution eingebettet. Im dritten Leitpunkt werden zwei entgegengesetzte Zeitkulturen oder kulturelle Zeitverständnisse im Text Abu Telfan analysiert, nämlich das monochrone und das polychrone Zeitverständnis. Im vierten wird der starke Einsatz von einigen temporal angelegten metaphorischen Mitteln oder Symbolen wie etwa den technischen Instrumenten Telegraph, Eisenbahn und Schiff im Werk Raabes analysiert. In den Texten Raabes kommen globalisierungsbezogene Zeitphänomene mehrfach durch Symbole zur Gestaltung. Deutungen, Handlungen, Erfahrungen und Wahrnehmungen der Akteure von diesen symbolischen Elementen lassen ein dichtes Netz von Zeitmetaphorik entstehen, deren Relevanz für die Veranschaulichung, Darstellung und Beschreibung eines abstrakten und diffusen kulturellen Phänomens wie Globalisierung unverkennbar ist.²⁵²
2.1 Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes als Modus der Reflexionen über Zeitenwende In den Heimkehrertexten Raabes erfolgen Reflexionen über die nachdrücklich thematisierte Zeitenwende mithilfe der literarischen Gestaltung der erfahrenen soziokulturellen Beschleunigung, die im Zeichen des rasanten sozialen Wandels in den dargestellten Gesellschaften steht.²⁵³ Somit lassen sich seine Texte in jene Werke der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einordnen, die literarische Reflexionen über zeittypische soziale und ökonomische Veränderungen in den Mittelpunkt stellen. Dabei werden die damit verbundenen Zeiterfahrungen oder die ihnen zugrundeliegenden Zeitkonzepte thematisiert. Göttsche bringt die kulturgeschichtliche Relevanz dieser „Zeitreflexionen“ durch den thematisierten sozialen Wandel auf den Punkt. Hierzu betont er, dass
Grabes et al., die die Funktionen der Metaphern in Kulturen und Theorien zu erfassen versuchen, schreiben: „Serving as means of structuring, narrativizing, and naturalizing cultural phenomena and transformations, metaphors can be conceived of as important sense- and indeed worldmaking devices“ (Herbert Grabes, Ansgar Nünning und Sibylle Baumbach: Metaphors as a Way of Worldmaking, S. xii). Die Funktion der schnell erfolgten sozialen und kulturellen Innovationen für die Erfahrung der Beschleunigung betont Assmann: „Beschleunigung betrifft […] nicht nur zunehmende Verkehrsgeschwindigkeit, sondern grundsätzlicher auch die biographische Erfahrung soziokulturellen Wandels. Dieser Wandel wird zu einer sinnlichen Erfahrung, wo neue […] soziale Einrichtungen oder technische Innovationen gelebte Gegenwart abrupt und irreversibel zu einer abgelebten oder erledigten Vergangenheit machen“ (Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S.197).
2.1 Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes
93
„entstehende Formen der Zeitreflexion, an die Raabe anschließt, zugleich auf den radikalen Wandel der Lebenswelt im Zuge von Industrialisierung und Modernisierung reagieren. Die nachhaltige Veränderung der Lebenswelt im Zuge des technisch-ökonomischen Fortschritts macht die Geschichtlichkeit sozialer Ordnungen im 19. Jahrhundert zu einer lebensgeschichtlichen Grunderfahrung. Dies gilt insbesondere für die Generation Wilhelm Raabes, die Zeuge des ‚Modernisierungssprungs“ war, der Deutschland nach der gescheiterten Revolution von 1848 erfasste“.²⁵⁴
Des Weiteren ist bei Raabe eine intensive Auseinandersetzung mit der Gestaltung der „Zukunft“²⁵⁵ der dargestellten Gesellschaften zu erkennen. Diese führt unweigerlich zu Zeiterfahrungen und Zeitkonzepten, die in den dargestellten sozialen und ökonomischen Modernisierungsprozessen impliziert werden, denn diese Modernisierungsprozesse haben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine allgemeine „Temporalisierung der Lebenswelt“²⁵⁶ mit sich gebracht. Diese literarische Reflexion über von Assmann mit dem Konzept „Zukunft“ erfasste „Veränderung, Wandel, Erneuerung, Fortschritt“²⁵⁷ der dargestellten sozialen Lebenswelten nimmt bei Raabe eine zentrale Stelle ein. Dies erfolgt bei ihm über das literarische Durchspielen von vielfältige Lebensbereiche eines Provinzialraums überrollenden Umgestaltungen, die mehr oder weniger in enger Verbindung mit laufenden globalen Prozessen wie etwa Modernisierung und Industrialisierung stehen. „Die größere Geschwindigkeit und Reichweite des sozialen Wandels“,²⁵⁸ die in manchen Texten Raabes literarisch inszeniert werden, haben in zweierlei Hinsicht temporale Implikationen. Zum einen verweisen sie auf soziale und kulturelle Implikationen der herrschenden Zeitauffassungen und zum anderen auf die Wirkung dieses rasanten sozialen Wandels auf die Wahrnehmung und Erfahrung von Zeit im Zuge der Urbanisierung, Modernisierung und Industrialisierung als Globalisierungsprozesse. Die Zeitauffassungen, denen die laufenden Umgestaltungsprozesse sowie die Deutungen derselben durch die gesellschaftlichen Akteure zugrunde liegen, können bestimmte Haltungs- und Erfahrungsmuster beleuchten, seien sie optimistisch, skeptisch oder kritisch. Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, S. 4. Assmann zufolge ist die „Zukunft“ eine Zeitordnung, die „nicht als ein kohärenter Diskurs fassbar ist“ (Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 7), sondern eher als „Wahrnehmungsmuster, Handlungsformen und Deutungsrahmen“ (Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 7). Sie führt weiter aus, dass die „Zukunft“ eine Kategorie ist, die in der Modernisierungstheorie immer positiv und optimistisch besetzt ist (vgl. Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 15). Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 5. Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 23. Marcus S. Kleiner und Hermann Strasser: Einleitung. In: dies. (Hgg.): Globalisierungswelten: Kultur und Gesellschaft in einer entfesselten Welt. Köln: Herbert von Halem 2003, S. 11.
94
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
2.1.1 Beschleunigungserfahrungen im Spannungsfeld des sozio-ökonomischen Wandels In der Erzählung Die Akten des Vogelsangs bilden die dargestellten sozio-ökonomischen Umgestaltungen den Hintergrund, vor dem die Geschichte der Nachbarschaft „Zum Vogelsang“ aus der Erinnerung des Ich-Erzählers Karl Krumhardt heraus erzählerisch rekonstruiert wird. Durch die Darstellung dieses sozio-ökonomischen Strukturwandels werden offensichtlich einige Problemstellungen und Aspekte einer wachsenden Urbanisierung reflektiert, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bisher nicht gekannte Intensität in der Weltgeschichte erreicht hatte.²⁵⁹ Bei Raabe wird sie in eine von Beschleunigungserfahrung geprägte Zeitdimension überführt.²⁶⁰ In der erzählten Gegenwart, in der Vogelsang „des neuen Lebens“ (BA 19, S. 336) abgründige gesellschaftliche Umstrukturierungen und somit eine gewaltige Dynamisierung der sozialen Verhältnisse durchlaufen hat, sitzt der Erzähler Karl vor den „Akten“ mit dem Vorsatz, die vergangene gemeinsame Kinder- und Jugendzeit mit den Genossen Helene und Velten in Vogelsang erzählerisch zu rekonstruieren. In dieser Rückblende, die sich gleichzeitig als eine erzählerische Rekonstruktion der Geschichte des Vorortes herausstellt, stellt die Unterscheidung zwischen dem jetzigen Neuen und dem damaligen Alten ein entscheidendes Moment dar. Das ist eine Unterscheidung zwischen der „jetzige[n] Großstadt“ (BA 19, S. 221; meine Hervorhebung) mit „neuen Mauern der Fabriken, Mietshäuser, Tanzlokale“ (BA 19, S. 336; meine Hervorhebung) und dem durch eine inzwischen untergegangene „hübsche landschaftliche Umgebung“ (BA 19, S. 312) gekennzeichneten alten Vogelsang. Somit bilden die Industrialisierung, Urbanisierung und die damit einhergehende sozio-ökonomische sowie kulturelle Beschleunigungserfahrung einen ausschlaggebenden temporalen Bezugsrahmen, der einerseits zwischen dem Jetzt der erzählten Gegenwart und dem Damals der erinnerten Vergangenheit Vogelsangs eine nicht unbedeutende zeitliche Grenze markiert. Das auf Geschwindigkeit hinweisende Tempo der erzäh-
Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 360. Um das Beschleunigungskonzept in den Griff zu bekommen, wird hier an die Ausführungen Rosas anknüpft, der unter den von ihm genannten Modi der Beschleunigungserfahrung zwei nennt, die hier von grundlegender Bedeutung sind. Erstens nennt er die sich steigernde Geschwindigkeit technischer Prozesse und zweitens die hohen sozialen Veränderungsraten (Vgl. Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 190). Braun knüpft seinerseits an Gerthsen an, um die Beschleunigung als einen physikalischen Begriff zu definieren, „der die Geschwindigkeitsänderung pro Zeit angibt“ (Andreas Braun: Tempo, Tempo! Eine Kunst- und Kulturgeschichte der Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert, S. 12).
2.1 Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes
95
lerisch erinnerten sozialen Umgestaltungen bildet andererseits eine markante zeitliche Größenordnung im Bewusstsein des Ich-Erzählers Karl Krumhardt, der sich sehr oft keiner exakten Datierungen mehr erinnern kann. Er rekurriert deshalb auf die beschleunigte Veränderung der sozialen und ökonomischen Strukturen, um die Abfolge sowie die Zeitspannen zwischen Ereignissen abzuschätzen. Dass der dargestellte rasche soziale Strukturwandel die Wahrnehmung der erinnerten Ereignisse mitbestimmt, zeigt der Bericht des Ich-Erzählers Karl Krumhardt: Die Stadt und Residenz hatte sich sehr vergrößert und verschönert seit dem Tage, an welchem Mr. Charles Trotzendorff sein Weib und sein Kind aus ihr weg und zu sich holte, und der jetzige Bahnhof, von welchem ich nun die Frau Nachbarin, die Mutter des Freundes, nach Hause führte, stand auch erst auf dem Papier und lag noch auf den Tischen der Fürstlichen Landesbaudirektion (BA 19, S. 313).
Dass der neue Bahnhof ²⁶¹ von den städtischen Behörden zuerst als erdachtes Projekt hinsichtlich der Verschönerung von Vogelsang wohl vorgeplant wurde, bevor er wenig später verwirklicht wurde, verweist deutlich auf ein „zukunftsorientiertes und teleologisches Handeln“,²⁶² das eine auf Rationalität und Linearität basierende Zeitnutzung andeutet. In diesem „freie[n] Planen einer bes-
Der Bahnhof, der in einigen Texten Raabes als ausgeprägter Exponent des beschleunigten Fortschritts erscheint, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein bedeutsamer Symbolträger der Kultur der Beschleunigung. An diesem für das Zeitverhalten der Epoche symbolhaft stehenden Ort wird deutlich sichtbar, wie Rast, Eile und Ungeduld das Verhalten und Denken von Menschen stark prägen. Der Zeitgenosse Eichendorff, der seiner von der Geschwindigkeitsgewalt der Eisenbahn hervorgerufenen Erfahrung Ausdruck verleiht, schreibt: „An einem schönen warmen Herbstmorgen kam ich auf der Eisenbahn vom anderen Ende Deutschlands mit einer Vehemenz dahergefahren […]. Diese Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop […]. In den Bahnhöfen ist eine so große Eilfertigkeit, dass man vor lauter Eile mit nichts fertig werden kann“ (Joseph v. Eichendorff: Erlebtes. In: Joseph Eichendorff: Werke und Schriften. Bd. 2. Stuttgart: J.G. Cotta’sche, S.1019 f.). Darüber hinaus ist der Bahnhof, so Schivelbusch in Anlehnung an den Zeitgenossen Meyer, eine „architekturgeschichtliche Novität“ (Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 153). Darüber hinaus veränderte diese Novität grundlegend die Stadtlandschaft. Daher galt er aus der Sicht mancher Zeitgenossen als Maßstab des Modernisierungs- und Fortschrittsgrades einer Stadt. Über die Fortschrittssymbolik des Bahnhofs schreibt Borscheid: „In die Bahnhöfe im Herzen der Städte pilgert die Bevölkerung wie in ‚Kathedralen des Fortschritts‘“ (Peter Borscheid: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt/M, New York: Campus 2004, S 116). Martin Middeke: Die Kunst der gelebten Zeit, S. 49.
96
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
seren Zukunft auf dem Reißbrett“²⁶³ lässt sich offensichtlich eine dem zweckrationalen kulturellen Ordnungsentwurf oder dem Modernisierungsparadigma zuzuordnende Zeitkonzeption bei der städtischen Verwaltung aufdecken.²⁶⁴ Der in diesem Zusammenhang „von menschlichem Planen, Wollen und Wünschen her“²⁶⁵ angestrebte gesellschaftliche Fortschritt zeigt eine auf Zukunft gründende moderne Zeitkultur, die dem Handeln und Denken der städtischen Behörden zugrunde liegt. In diesem Zusammenhang wird die „Zukunft […] freigegeben als ein Raum des Planens, der Vorsorge und der spekulativen Transaktionen und enthält obendrein das Versprechen einer dauernden Erneuerung und Transformation aller Verhältnisse“.²⁶⁶ In kulturgeschichtlicher Hinsicht attestiert Osterhammel dem epochalen Zeitgeist die Ausbreitung eines auf Zukunft gerichteten rationalen Zeitkonzeptes, das der Urbanisierung in vielerlei Hinsicht Schubkraft verliehen hat.²⁶⁷ Hierzu schreibt er: „Erst im 19. Jahrhundert jedoch wurde Stadtplanung als staatlichkommunale Daueraufgabe verstanden. Ständig […] wurde ein munizipaler Planungswille doch zum unentbehrlichen Bestandteil städtischer Politik und Verwaltung.Wollte eine Stadt ‚modern‘ werden, dann entwarf sie technische Visionen ihrer Zukunft.“²⁶⁸ Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewusstseins in Europa. Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S. 398. Assmann, die die „Zukunft“ als idealtypische Zeitordnung des Modernisierungsparadigmas identifiziert, charakterisiert die ihr zugrundeliegende Idee der radikalen Ausrichtung von der Vergangenheit auf die Zukunft als einen Übergang „vom Alten auf das Neue und vom Bekannten auf das Unbekannte, vom Gewesenen auf das […] noch Werdende und Kommende“ (Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 21). Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 62. Vgl. Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 75. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 363. Manche zeitgenössischen Texte, die ein ausgeprägtes Spiegelbild des Zeitgeistes dokumentieren, bestätigen diese Dominanz einer rationalisierten und zukunftsorientierten Zeitkonzeption als einer der Motoren der Urbanisierung. Der nachfolgende Text eines unter dem Pseudonym „B“ schreibenden Autors zeugt davon: „Der Bürgermeister von Giebstadt wünscht sich eine Eisenbahn. Warum sollte er das nicht? Er bespricht die Sache mit einigen Rittergutsbesitzern der Umgegend, lauter braven Leuten, denen man es nicht verdenken kann, wenn sie zur besseren Verwerthung ihrer landwirthschaftlichen Erzeugnisse sich auch eine Eisenbahn wünschen. […] Man nimmt eine Landkarte her, bezeichnet auf derselben mit einem Bleistiftstriche die Linie Giebstadt–Nimmdorf und beschließt eine Deputation nach der Stadt zu entsenden, um mit der Eisenbahnbaugesellschaft über die Sache zu verhandeln. Nach diesem entscheidenden Beschlusse wird auch das materielle Wohlsein berücksichtigt […]. Sehr bald auch erscheinen die Herren Ingenieure, denen Giebstadt und Umgegend den freundlichsten Empfang bereitet. Man steckt ab, nivellirt und projectirt“ ([B]: Das Gründungsfieber der Jetztzeit. In: Die Gartenlaube 36 (1872), 592 f.). Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 363.
2.1 Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes
97
Der Erzähler Karl Krumhardt, dessen Erinnerungen und Reflexionen tiefgreifend durch den laufenden sozio-ökonomischen Strukturwandel geprägt sind, macht folgende Kommentare über den städtischen Friedhof: „Jetzt liegt auch er schon zwischen Backsteinmauern und Zement-Kunsthandwerk, der Friedhof des Vogelsangs; damals lag er noch vollständig im Grün, und eine lebendige Hecke hing um ihn her. Hohe Bäume überschatteten ihn, und die Vögel sangen da noch“ (BA 19, S. 240). Diese sprunghafte Verstädterung des kleinen Vororts Vogelsang und die damit einhergehenden schnellen Veränderungen der Strukturen der sozialen Wirklichkeit reichen über „ein Paradigma der Urbanisierung und des sozialen Wandels im Zeichen des Fortschritts“²⁶⁹ hinaus, um die Gestalt einer bestimmenden Zeiterfahrung im Modus der Beschleunigung anzunehmen. Auffallend bei der Darstellung dieser tiefgreifenden sozio-ökonomischen Veränderungen in Die Akten des Vogelsangs ist, dass die Mitwirkung des Menschen entweder erzählstrategisch ausgeblendet wird oder sich nur zwischen den Zeilen lesen lässt, so dass hier der Eindruck eines unabhängig vom menschlichen Handeln sich entwickelnden Prozesses entsteht. Diesen Prozess „als entsubjektivierte, sich verselbständigte und als zu schnell vorangeschrittene Entwicklung“²⁷⁰ darzustellen, zielt darauf ab, ihn in eine temporale Sphäre zu setzen, die sich wegen des schnellen Tempos dem menschlichen Erfassen entzieht. Nicht zufällig erscheint überdies die Wahl des Berliner Vorortes Vogelsang, einer fiktiven kleinen nachbarschaftlichen „Gesellschaft im Aufbruch“, als Schauplatz zur Inszenierung einer unablässig vorstoßenden Urbanisierung. Raabe überführt hiermit die in der Wilhelminischen Ära sich globalisierenden sozio-ökonomischen Transformationsprozesse, für die die Weltstadt und Metropole Berlin in seinem Gesamtwerk symbolhaft steht, auf den Mikrokosmos Vogelsang, um „den zunehmend globalen Kontext lokaler Probleme und Entwicklungen“²⁷¹ anschaulicher zu machen. Somit wird aufgezeigt, dass die sich beschleunigenden sozialen Umstrukturierungen integraler Bestandteil der laufenden weltweiten Verflechtungsprozesse sind. Weniger markant für die Erfahrung der laufenden Verhältnisse durch die Einwohner Vogelsangs ist die Qualität, sondern vielmehr die Geschwindigkeit, mit der diese aus Berlin herüberrollenden sozialen Umstrukturierungswellen zustande kommen.
Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, S. 90. Andrea Seier: Überall Kultur und kein Ende. In: Hannelore Bublitz u. a. (Hgg.): Der Gesellschaftskörper: Zur Neuordnung von Kultur und Gesellschaft um 1900. Frankfurt/M: Campus 2000, S. 125. Dirk Göttsche: Raabes Erzählungen und Romane. In: Christian Begemann (Hg.): Realismus. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 133.
98
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
Einige Zeitgenossen betonen, dass sich diese für die epochale Zeitdiagnose charakteristische Beschleunigungserfahrung hauptsächlich darauf gründet, dass sich ein ungeheures Ausmaß an Umwälzungen innerhalb kürzerer Zeiträume ereignete.²⁷² Somit erschien dem wahrnehmenden Bewusstsein das Tempo der Veränderungen schneller und die Zeit kürzer denn je. Stein, ein zeitgenössischer Beobachter dieser Epoche, schrieb 1899 hierzu: „Die Zeit war zu kurz, um alles zu verdauen, unserer geistigen Organisation rhythmisch einzufügen […] Die Umwälzung war eine allzu plötzliche“.²⁷³ Diesen epochalen Sachverhalt bekräftigt Buckhardt, der insbesondere die sich beschleunigenden Wandlungsprozesse um 1870 treffend charakterisiert: „Der Weltprozess gerät plötzlich in Schnelligkeit; Entwicklungen, die sonst Jahre brauchen, scheinen in Monaten und Wochen wie flüchtige Phantome vorüberzugehen und damit erledigt zu sein“.²⁷⁴ Die Akzeleration der laufenden gesellschaftlichen Wandlungsprozesse markiert nicht nur die kollektive Zeitwahrnehmung der Vogelsanger, sondern auch zeugt davon, dass Beschleunigung ein konstitutives Merkmal der Zukunftsgerichtetheit als vorherrschender Zeitkonzeption in der Vogelsanger „Gesellschaft im Aufbruch“ ist. Hiermit zeichnet sich eine Geschichtlichkeit des Vorortes Vogelsang ab, die sich im Modus beschleunigter sozio-ökonomischer Veränderungen eine sprunghafte Entwicklung aus der alten Zeit in die neue sowie aus einer vormodernen Kleinstadt in eine moderne Großstadt in ihrem Anschlussprozess an
Epochale Texte, die die Entwicklung der Stadt Berlin aus einer Kleinstadt hin zur Weltstadt dokumentieren, zeugen von dem bestimmenden Charakter der Beschleunigung als Zeitkonzeption bzw. -erfahrung. Beispielhaft hierfür steht der folgende Textauszug: „,Berlin wird Weltstadt‘ – dieses ‚geflügelte Wort‘ – um hier, gerade nicht mit Vater Homer, aber doch mit Herrn Georg Büchmann zu reden – läuft schon seit 1848 und länger. Es ward meist im ironischen Sinne gebraucht, um die Mängel und Schattenseiten der Großstadt anzudeuten, die in vielen Stücken hartnäckig eine Kleinstadt blieb. Berlin konnte mit Paris oder gar London keinen Vergleich aushalten, auch gegen Wien stand es zurück, und selbst Städte wie Hamburg oder Dresden wurden ihm oft als Vorbild empfohlen. Erst nach dem Kriege von 1866, als sich mit dem reißenden Anwachsen die Auswüchse, Beschwerlichkeiten und Gefahren der norddeutschen Metropole fühlbar machten, fing man an, mehr im Ernste und nicht ohne Seufzen zu sprechen: ‚Berlin wird Weltstadt.‘ Aber nicht lange, und das Wort wurde lebhaft aufgenommen, mit vollem Nachdruck, mit begeistertem Pathos wiederholt, wie eine Parole ausgegeben und eifrig verbreitet. ‚Berlin muß Weltstadt werden‘ riefen die Gründer in lautem Chor, und voll stürmischer Hast gingen sie an’s Werk“ (Otto Glagau: Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. Berlin wird Weltstadt. In: Die Gartenlaube 8 (1875) S. 525. Meine Hervorhebungen). Stein zit. in Andrea Seier: Überall Kultur und kein Ende, S. 125. Buckhardt zit. in Andrea Seier: Überall Kultur und kein Ende, S. 125.
2.1 Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes
99
die Metropole und Weltstadt Berlin vollzieht. Zur unterschiedlichen Charakterisierung der alten und neuen Zeit sagt der Erzähler Krumhardt: Wir zu unserer Kinderzeit hatten es noch, dieses Gefühl des nachbarschaftlichen Zusammenwohnens und Anteilnehmens. Wir kannten einander noch im „Vogelsang“ und wußten voneinander […] Auch Gärten, die aneinandergrenzten und ihre Obstbaumzweige einander zureichten und ihre Zwetschen, Kirschen, Pflaumen, Äpfel und Birnen über lebendige Hecken weg nachbarschaftlich austeilten, gab es noch zu unserer Zeit, als die Stadt noch nicht das „erste Hunderttausend“ überschritten hatte […] Bauschutt, Fabrikaschenwege, Kanalisationsarbeiten und dergleichen gab es auch noch nicht zu unserer Zeit in der Vorstadt, genannt „Zum Vogelsang“ (BA 19, S. 218 f.; Hervorhebung im Original).
Dieser Modernisierungsprozess von Vogelsang ist daher „auf einer Zeitachse abgebildet, die einen immer schneller werdenden [gesellschaftlichen] Geschichtsprozess beschreibt“.²⁷⁵ Durch diese literarische „Auseinandersetzung mit der […] Erfahrung des beschleunigten Wandels aller Lebensverhältnisse im Modernisierungsprozess“²⁷⁶ in der Wilhelminischen Zeit thematisiert Raabe den in bürgerlichen Wertvorstellungen dominierenden Fortschrittsoptimismus, der der Globalisierungseuphorie den Weg ebnet. Die Zeitkonzeption des Fortschrittsdenkens ist maßgeblich geprägt von den für die Zeitlichkeit der Aufklärung grundlegenden Ideen des Aufbruchs ins Neue²⁷⁷ und des progressiv- fortschrittsorientierten Rationalismus.²⁷⁸ Es gibt offensichtlich einen gemeinsamen Nenner zwischen dieser Idee des Aufbruchs ins Neue und dem für den Liberalismus zentralen Fortschrittsdenken, dem die Idee einer geradlinigen und schnellen Evolution zugrunde liegt. In Anlehnung an Mannheim hebt Schmied diesen gemeinsamen Nenner treffend hervor: „Die Linearität der Zeitvorstellungen entspricht […] der Vorstellung von der Geradlinigkeit des Fortschritts, der einen zentralen Gesichtspunkt liberalen Denkens darstellt“.²⁷⁹ Unter den Dimensionen des vielschichtigen Nexus zwischen Aufklärung, Liberalismus und Bürgertum spielt demzufolge die von Dynamik und Geschwindigkeit gekennzeichnete Zeitkonzeption eine bedeutsame Rolle. Eine „konsequente Perspektivität und Reflexivität der Wirklichkeitsdarstellung durch die Verknüpfung eines sich erinnernden und sich in seinem Schreiben selbst reflektierenden bürgerlichen Ich-Erzählers mit einer kontrapunktischen Andrea Seier: Überall Kultur und kein Ende, S. 124. Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, S. 89. Vgl. Byung-Chul Han: Die Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens. Bielefeld: transcript 2014, S. 21. Vgl. Martin Middeke: Die Kunst der gelebten Zeit, S. 49. Gerard Schmied: Soziale Zeit. Umfang „Geschwindigkeit“ und Evolution. Berlin: Duncker & Humblot 1985, S. 74
100
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
Figuren-, Zeiten- und Motivstruktur“²⁸⁰ ist ein Charakteristikum des Textes Die Akten des Vogelsangs. Dieses in vielen Texten Raabes erkennbare „Modell eines kontrapunktischen Erzählens, das unterschiedliche und gegensätzliche Positionen innerhalb und außerhalb der bürgerlichen Welt gleichwertig entfaltet“, dient dazu, so Göttsche, „bürgerliches Selbstverständnis […] polyperspektivisch zu reflektieren und zunehmend infrage zu stellen“.²⁸¹ An diesen Befund wird hier angeknüpft, um den Text Die Akten des Vogelsangs auf sein kritisches Potential gegenüber der Beschleunigung als dominierender Zeitvorstellung der bürgerlichen Gesellschaft hin zu befragen. In diesem Text lassen die Lebenswege, das Denken und Sprechen mancher Figuren offensichtlich eine Zurückhaltung und gar eine ausgeprägte Skepsis gegenüber den laufenden gesellschaftlichen Entwicklungen spüren. Veltens Mutter, Frau Doktorin Amalie Andres, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich gegen die Einflüsse der den Vorort Vogelsang überrollenden Industrialisierungs-, Urbanisierungs- und Modernisierungswelle bis zum letzten Lebenshauch abzuschirmen versucht. Der Erzähler Krumhardt, der im Prozess der Rekonstruktion seiner Erinnerungen die Haltungen und Lebensgrundsätze der jeweiligen Personen in der Nachbarschaft zu verstehen versucht, sagt: Zwischen den neuen Mauern der Fabriken, Mietshäuser, Tanzlokale war’s allein die alte Frau, die Mutter Veltens, welche, wie sie es dem Sohne versprochen hatte, nicht von ihrer Heimstätte gewichen war und trotz des neuen Lebens, das ihr von allen Seiten unbehaglich, spöttisch, ja drohend sich andrängte, ihr Häuschen, ihr Gärtchen, ihre lebendige Hecke festhielt. Wieviel Vernunft hatten meine Eltern deswegen die letzten Jahre hindurch vergeblich auf sie hineingeredet! (BA 19, S. 336 f.; meine Hervorhebung)
Dem rasanten Heraufziehen neuer Gebäude der Produktions- und Unterhaltungsindustrie sowie neuer Wohnanlagen zum Trotz und entgegen allen damit einhergehenden tiefgreifenden sozialen Umstrukturierungen von Vogelsang hält die Mutter Veltens fest am Alten, Traditionellen, untergehenden Idyllischen und demzufolge Vergangenen. Dies deutet offensichtlich eine „resistente Sozialform an, die im Vergleich zu den sie umgebenden Sozialformen zunehmend anachronistisch wird“.²⁸² Dass sie sich von dem an der Zukunft orientierten Neuen abwendet, signalisiert ihre Bemühung zur „sozialen Verlangsamung“,²⁸³ die an ihrem Unbehagen an dem mit sehr schnellem Tempo laufenden gesellschaftli Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, S. 10. Dirk Göttsche: Raabes Realismusverständnis. In: ders. u. a. (Hgg.): Raabe Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 19. Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, S. 297. Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, S. 298.
2.1 Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes
101
chen Strukturwandel liegt. Dieser erschüttert die tradierten kulturellen Ordnungen und Loyalitäten der Nachbarschaft und droht somit den kulturellen Anhaltspunkten der Gesellschaft. Die in der Aussage des Erzählers auftauchenden Diminutive „Häuschen“ und „Gärtchen“ deuten auf eine enge gefühlsmäßige Beziehung von Veltens Mutter zu ihrem vor unbehaglichen Einflüssen der Beschleunigungs- und Modernisierungsprozesse zu schützenden Grundstück hin. Angesichts des Gesamtwerkes Raabes lassen sich gewisse Parallelen ziehen zwischen den Verhaltensmustern der Mutter Veltens sowie ihres Sohnes Velten Andres und einigen Haltungs- und Denkmustern des gebildeten Bürgertums. Im Gegensatz zum Werk von Autoren wie etwa Fontane spielt das Bildungsbürgertum im Werk Raabes keine maßgebliche Rolle, denn es steht nur in wenigen Texten im Mittelpunkt, etwa Horacker und Prinzessin Fisch. Über Dr. med. Valentin Andres, den verstorbenen Mann von Mutter Veltens, berichtet der Erzähler, dass er ein echter und gerechter Vorstadtdoktor, ein gutmütiger Mensch und ein guter Arzt [war], welchem […] nur die Berge und die übrige schöne Natur für die Liebhaberei, die Insektenkunde, oft zu nahe lagen. Er war recht häufig nicht zu finden, wenn er an einem Krankenbette, bei einem Unglücksunfall oder sonst in seinem Beruf höchst nötig war. Seine Abhandlung über Cynips scutellaris, die Gallapfelwespe, machte seinerzeit in den betreffenden Kreisen Aufsehen und ist auch heute noch von den Fachgenossen geschätzt (BA 19, S. 220 f.).
Mit dem Arztberuf und dem Besitz eines hochgeschätzten akademischen Wissens weist er offensichtlich die wesentlichen Eigenschaften eines Bildungsbürgers im Wilhelminischen Zeitalter auf. Dieser Hinweis legt die Vermutung nahe, dass sich Mutter Veltens gewisse Vorstellungen und Verhaltensweisen fest eingeprägt hat, die vielmehr manchen gesellschaftlichen und kulturellen Ordnungsentwürfen, Wertungen und Deutungsmustern des Bildungsbürgertums entsprechen, auf die ich noch zu sprechen komme. Dem durch rasante soziale Umbrüche vermittelten kollektiven Bewusstsein der Unabdingbarkeit und Attraktivität der sozialen Dynamik setzt Veltens Mutter ein individuelles Bewusstsein entgegen, das „auf eine Stabilisierung des Bestehenden hin angelegt“²⁸⁴ ist. Hiermit tritt sie als Vertreterin eines verbissenen Widerstandes gegen die auf Vogelsang übergreifenden Transformationsprozesse auf, die von dem Großteil des Vogelsanger Bürgertums mit Begeisterung wahrgenommen werden. Dieser Urbanisierungsschub dringt dennoch unaufhaltsam zügig vor, sodass „das grüne Stück Hecke der Frau Doktor Andres, […] das seine Zeit ganz und gar überlebt hatte […], nur kümmerlich-lächerlich wirkte“ (BA 19, S. 339).
Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, S. 301.
102
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
Nicht allein die Mutter Veltens reagiert mit zurückhaltenden und gar skeptischen Haltungs- und Vorstellungsmustern auf die Verhältnisse, sondern auch die Eltern des Ich- Erzählers. Auch Vater Krumhardt, der an den habitualisierten soziokulturellen Ordnungen und Grundsätzen des Bürgertums festhält, ist skeptisch gegenüber dem als „Beschleunigung aller Lebensverhältnisse“²⁸⁵ in Vogelsang erfahrenen gesellschaftlichen Wandel. Der Erzähler scheint diese skeptische Haltung zu teilen. Im Erzähldiskurs des Ich-Erzählers Krumhardt nimmt sie die Gestalt einer temporalen Trennung an zwischen vergangener schöner Natur und gegenwärtigen negativen Wirkungen des Urbanisierungsprozesses auf die Menschen des Vogelsangs. Manche gesellschaftlichen Probleme wie etwa die Zunahme der Nervenkrankheit oder die Steigerung der Umweltzerstörung werden in enge Verbindung mit dem rasant vordringenden Urbanisierungsprozess gesetzt. Der Erzähler Karl Krumhardt berichtet über die Nachwirkungen dieser rasanten Verstädterung auf die Menschen und die Umwelt: Der Weg war „planiert“ worden, und wo der schöne, alte, morsche Baum seine Zweige über ihn gestreckt hatte, stand jetzt eine weiß gestrichene Zinkfigur, eine Nachbildung der Canovaschen Hebe, und daneben deutete an einem andern wohlgepflegten Pfade eine Hand auf einer Tafel nach einem ‚Asyl für Nervenkranke‘ (BA 19, S. 353).
In dieser Aussage des Ich-Erzählers Karl Krumhardt wird die Aufmerksamkeit auf zwei Dimensionen gelenkt. Die erste Dimension stellt die Zerstörung der ehemals beschaulichen Umwelt dar. Dies lässt sich daran veranschaulichen, dass an die Stelle der „schönen, alten, morschen“ Bäume die „Zinkfigur“ als Sinnbild einer bereits technisierten Umwelt tritt. Die zweite Dimension ist das „Asyl für Nervenkranke“, dessen Pfad, so der ironische Unterton der Beschreibung, „wohlgepflegt“ ist. Stress und Nervenreize, die zu solchen Nervenkrankheiten führen, können von Hektik und Geschwindigkeitsspiralen hervorgerufen werden. Bereits in seinem 1856 erschienenen Erstlingswerk Chronik der Sperlingsgasse gestaltet Raabe das Motiv der die „große Stadt“ Berlin charakterisierenden Nervosität, die zum „Irrenhaus“ führen kann. Hierzu schreibt der Chronist Wachholder: „Sie [„große Stadt“ Berlin] ist bevölkert und lebendig genug, einen mit nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause enden zu lassen“ (BA 1, S. 17).²⁸⁶
Wolfram Siemann: Gesellschaft im Aufbruch, S. 17. Mit der wiederkehrenden Andeutung dieser mit der Erfahrung einer sich immer mehr beschleunigenden Zeit verbundenen Problematik scheint Raabe ein zeittypisches soziales und medizinisches Problem aufzugreifen, das zum ersten Mal 1869 von dem amerikanischen Arzt George Berd als „Neurasthenie“ diagnostiziert wurde. Diese bezeichnet „eine nervöse Erschöp-
2.1 Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes
103
Dass im Erzähldiskurs von Karl Krumhardt die Vergangenheit verhältnismäßig aufgewertet wird, während die auf Zukunft hinweisenden beschleunigten Veränderungen der Lebensverhältnisse vergleichsweise mit negativen Folgen assoziiert werden, indiziert eine zeit- und zivilisationskritische Stellungnahme des Erzählers, die jedoch von einer radikalen Skepsis weit entfernt ist. Vieles im Text deutet allerdings darauf hin, dass skeptische Erfahrungsmuster der auf Globalisierung hinweisenden Beschleunigungsprozesse mit gewisser Subtilität verworfen werden. Mutter Veltens, die den Nachbar Hartleben für ihre resistente Haltung gewinnen möchte, sagt: „Wir zwei müssen jetzt mehr denn je treulich und fest zusammenhalten, Herr Nachbar“ (BA 19, S. 314). Darauf reagiert Hartleben mit eindeutig auf kritisch-distanzierende Haltung hinweisender Ironie: Jawohl, Frau Nachbarin! Zumal da ich heute mein Grundstück […] abgegeben habe, bis auf das Haus […]. Das wird eine großartige Konservenfabrik grade Ihnen gegenüber, Frau Doktern: Jaja, die Welt verändert sich um einen her, ohne daß man es eigentlich merkt […]. Die Jüngsten sind wir Alten hier im Vogelsang nicht mehr (BA 19, S. 314).
In diesem Berliner Vorort, in den „die Bodenspekulation einbricht und in [dem] die auf Erwerb gerichtete Gebäudenutzung überhandnimmt“,²⁸⁷ scheint jede resistente Haltung unvernünftig und nutzlos. Dass die Figuren Vater und Mutter Krumhardt, die sich gegen diese Akzeleration der in ihren Augen mit negativen Folgen verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen zur Wehr zu setzen versuchen, aber letztendlich dieselben mit „Vernunft“ haben entgegennehmen sollen, darf nicht als resignatives, sondern pragmatisches Verhalten verstanden werden. Gegenüber einer neuen Zeit, in der die Dominanz des beschleunigten Tempos unaufhaltsam ist, ist die idyllische Ruhe, die die alte Zeit versinnbildlicht, unwiederbringlich. Der Appell der beiden Figuren an Mutter Veltens „Vernunft“ deutet gleichzeitig auf einen maßvollen Enthusiasmus und auf eine gemäßigte Skepsis, d. h. ein kritisches Zwischen, hin. Hier zeichnet sich eine Konstellation ab, in der der Schritt in die Zukunft zwar unverzichtbar und unumkehrbar ist, doch der totale Bruch mit dem Althergebrachten sollte auch hinterfragt werden.
fung, die mit dem hohen Tempo der modernen Lebensweise in Verbindung gebracht wurde. Man ging davon aus, dass die Hektik der neuen Zeit, die Geschwindigkeit der neuen Maschinen, die erweiterte räumliche und soziale Mobilität des Menschen und das Tempo in den modernen Großstädten zu einer Überstimulation der Nerven führt, so dass deren Funktionsfähigkeit geschwächt und ein Zustand der Erschöpfung hervorgerufen wird. Die Neurasthenie wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Modekrankheit“ (Olaf Morgenroth: Zeit und Handeln, S. 14). Jürgen Manthey: Wilhelm Raabe und das Scheitern des deutschen Liberalismus, S. 71.
104
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
2.1.2 Zwischen Kultur der Beschleunigung und Kultur der Entschleunigung: „Auf der Schwelle“ der Zeitkulturen in Prinzessin Fisch Im Mittelpunkt der Handlung in Prinzessin Fisch steht das Bildungsbürgertum, das in einem komplexen Beziehungsgeflecht mit der dargestellten Gesellschaft steht. In diesem Text ist die Hauptfigur Theodor Rodburg der Jüngste in einer großen Familie. Seine Mutter Frau Rodburg starb, als er erst fünf Jahre alt war. Wenige Zeit später folgte sein Vater, Rechtsanwalt Dr. F. Rodburg, der Mutter in den Tod. Diese beiden traurigen Ereignisse führen zur Loslösung dieses „zu spät im Jahr angelangten Sprößling[s]“ (BA 15, S. 197 f.) von der familiären Bindung. Daraufhin findet er „in der Gesellschaft des Brusebergers, unter der Obhut der Mutter Schubach und unter der Obervormundschaft des Herrn Professors Doktor Drüding“ (BA 15, S. 269) – die allesamt Nachbarn und gute Freunde der verstorbenen Eltern sind – eine fürsorgliche „alternative Gemeinschaft“.²⁸⁸ Diese „alternative Gemeinschaft“ nimmt die Verantwortung auf sich, ihm eine ethischmoralische Bildung zu geben mit dem Ziel, dass „er in eine über das Persönliche hinausweisende ethische Wertgemeinschaft eingegliedert“²⁸⁹ werden soll. Bruseberger ist ein alter Freund des verstorbenen Mannes von Frau Schubach. Als erfahrener Buchbinder arbeitet er in der von ihr ererbten Buchbinderei. Als scharfsichtiger Mann, der immer bemüht ist, „Einsicht in den Zusammenhang der Dinge“ (BA 15, S. 237) zu gewinnen, erweist sich dieser „Weltweiser“ und „man of learning and humanity“²⁹⁰ als ein der Hauptgestalt vertrauter Freund, der für deren Bildungsprozess von großer Bedeutung ist.²⁹¹ Der Oberlehrer, Prof. Dr. Jeffrey L. Sammons: Wilhelm Raabe: The Fiction of the Alternative Community. Princeton: Princeton University Press 1987. Fritz Martini: Wilhelm Raabes „Prinzessin Fisch“.Wirklichkeit und Dichtung im erzählenden Realismus des 19. Jahrhunderts. In: Hermann Helmers (Hg.): Raabe in neuer Sicht, S. 151. W. Hanson: Florinchen and „die dicke Dame“–The Function of Female Figures in Raabe’s Prinzessin Fisch. In: G.P.G. Butler u. a. (Hgg.): German Life & Letters XLIV (1990 – 1991). Oxford u. a.: Blackwell 1991, S. 308. Die Meinung, dass Bruseberger ein Bürger mit hohem Bildungsniveau ist, obwohl ihm kein akademisches Wissen attestiert wird, vertritt auch Joost (Vgl. Ulrich Joost: Das „Buch der Schöpfung“. Im „Zusammenhang der Wissenschaften“. Zum motivgeschichtlichen Hintersinn des gelehrten Buchbinders Baumann-Bruseberger in Wilhelm Raabes „Prinzessin Fisch“. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 21 (1980), S. 69 – 96.). In einer motivgeschichtlichen Studie zum Handwerkerberuf „Buchbinder“ in der deutschen Literatur seit Anfang des 18. Jahrhunderts, zeigt er, dass sich Raabe mit dieser Figur einer verhältnismäßig langen Tradition der Figuration von Belesenheit, Weisheit und Gelehrsamkeit verschreibt. Hier kommt offensichtlich das von Lepsius breiter gefasste Begriffsfeld „Bildungswissen“ zur Geltung. Er betont das „Bildungswissen“ als grundlegendes Zurechnungskriterium wie folgt: „Die ständische Qualifikation ruht […] auf dem Besitz von Bildungswissen: Dieses Bildungswissen begründet den Geltungsanspruch auf soziale
2.1 Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes
105
Drüding, dem der Auftrag als Obervormund zukommt, die erforderlichen Fundamente für die Bildung Theodors zu legen, ist ein großer „Hebräer, Grieche und Lateiner“ (BA 15, S. 231). Diese Konfiguration lässt in vielerlei Hinsicht bildungsbürgerliche Verhältnisse erkennen, in denen die Rolle der Pflegemutter Witwe Schubach nicht unwichtig ist.²⁹² Hieraus ergibt sich eine „kompliziert schichtende und verrätselnde Beziehungsverwobenheit“²⁹³ mit entsprechend komplexeren Einflussverhältnissen, zumal, wie diese Analyse zeigen wird, sich kleine Risse und Verschiebungen bei den Orientierungen ausfindig machen lassen zwischen Drüding einerseits und Bruseberger und Witwe Schubah andererseits. Die Geburt der Hauptgestalt Theodor Rodburg, mit der die Handlung einsetzt, erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem der im Zeichen der „Verschönerung“ anlaufende Wandel der Gesellschaftsstrukturen des provinziellen Raums Ilmenthal bereits in Weltverkehrsprozesse hineingerissen ist. Diese Verschönerungsprozesse ereignen sich jedoch in seiner Geburtszeit nicht mit dem gleichen beschleunigten Tempo, wie wenige Jahre später in seiner Kinder- und Jugendzeit, als sich Ilmenthal im Sog der globalen Schrumpfungs- und Beschleunigungsprozesse mit rasantem Tempo hin zu einem internationalen Kurort entwickelt. Denn mittlerweile hat sich doch vieles verändert! Und nicht bloß an dem jungen Menschen, sondern auch an seiner Umgebung – an Ilmenthal im weitern und an seinem frühern väterlichen Besitztum in seiner nächsten Nähe, unter dem Fenster seines Scholarenstübchens. So ist es. Wenn auch noch nicht die Hochflut das ist, so sind doch aus den ersten leisen Wellchen hohen, modernen Weltverkehrs recht erkleckliche Wellen geworden und das stille
Sonderschätzung (Prestige)“ (M. Rainer Lepsius: Das Bildungsbürgertum. Ständische Vergesellschaftung. In: ders. (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil III: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung. Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. 9). Der von Manthey verwendete Begriff „gebildeter Kleinbürger“, der das Verdienst darstellt, mittelmäßige Gebildete wie etwa Beamte sowie das untere Besitzbürgertum wie etwa das Handwerk und das Kleingewerbe mit einzuschließen, trifft auf den Status des Buchbinders Bruseberger zu (vgl. Jürgen Manthey: Wilhelm Raabe und das Scheitern des deutschen Liberalismus, S. 69 – 106). Frau Schubach übernimmt die bildungsbürgerliche Sozialisation ihres Ziehkindes und gedenkt ihm einen normativ-ständischen Lebensstil aufzuprägen. Aus ihrer Sicht sichert sie auf diese Weise in einer geeigneten familiären Atmosphäre das von ihrem Schützling am Gymnasium erworbene kognitive Wissen ab und weist ihm somit den geeigneten Lebensweg im Kontext der Ilmenthal überrollenden Modernisierung. Hiermit gestaltet Raabe eine zeitgeschichtliche gesellschaftliche Wirklichkeit des Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert. Lepsius identifiziert in diesem Sinne das Gymnasium und die Familie als Milieus, in denen die Sozialisation des Bildungsbürgers am intensivsten stattfindet. Dabei hebt er die Rolle der Frau hervor, die deshalb nicht arbeiten durfte, weil ihr die Richtigkeit der Bildung der Kinder zufiel (vgl. M. Rainer Lepsius: Das Bildungsbürgertum, S. 16). Fritz Martini: Wilhelm Raabes „Prinzessin Fisch“, S. 150.
106
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
Tal zu etwas ganz anderm, als es noch vor kaum zehn Jahren war. „Unwiderruflich wächst das Kind“, und unwiderruflich verändert sich alles um es her, einerlei, ob es darauf achtet oder nicht (BA 15, S. 239).
Der Erzähler, der hier in der Erzählgegenwart den verhältnismäßig hohen Beschleunigungsgrad des sozialen und infrastrukturellen Wandels in der letzten Dekade der Geschichte Ilmenthals zur Darstellung bringt, führt dem Leser die ungeheure Menge von vollzogenen Veränderungen innerhalb begrenzter Zeit vor Augen. Er unterstreicht, dass diese gewaltigen Effekte jedoch nur durch die „ersten leisen Wellchen hohen, modernen Weltverkehrs“ bewirkt worden sind. Mit diesem Diminutiv „Wellchen“ wird weder die Gewalt der sich globalisierenden Modernisierung minimiert noch eine gefühlsmäßige bzw. sympathieschaffende Beschreibung der laufenden Prozesse angestrebt. Im Gegenteil betont der Erzähler hiermit die erhebliche Wirkungskraft des „modernen Weltverkehrs“, der zu seinen Anlaufzeiten, d. h. mit noch unreifen Zügen, in Ilmenthal bereits rasante Veränderungen mit sich bringt. Dieser „moderne Weltverkehr“ beschleunigt das Tempo der Veränderungen, die nicht nur erkennbar sind an der väterlichen Liegenschaft, die an einige der zugeströmten fremden Spekulanten verkauft wird, sondern vor allem an „Wellen fremder Kulturbewegung und auswärtigen Menschengetriebes“ (BA 15, S. 232). Dass dieser beginnende Wandel der gesellschaftlichen Strukturen in Ilmenthal eigentlich erst mit dem massiven Zustrom der Fremden eine gewaltige Akzeleration erfährt und somit an reifen Zügen gewinnt, zeigt die enge Korrelation zwischen lokaler Modernisierung und globaler Migration in Prinzessin Fisch. Ilmenthal wird wie jene „verträumte[n] Kleinstädte und sogar Dörfer“, die, so Borscheid, „binnen weniger Jahrzehnte in atemberaubendem Tempo zu pulsierenden und hektischen“²⁹⁴ internationalen touristischen Orten werden. So gesehen stellen sich die dort stattfindenden industriegesellschaftlichen Entwicklungen dar als Teil der im Zeichen des Fortschritts sich entwickelnden Welthistorie. Vom Fenster seines neuen Lernzimmers aus kann die Hauptgestalt Theodor diese Veränderungen selbst beobachten. Die neuen Inhaber des ehemaligen väterlichen Grundstücks sind der „Kaiserlich Mexikanische“ pensionierte „Kriegszahlmeister Don Jose Tieffenbacher aus Bödelfingen in Transmönanien, am Kuhstiege zu Ilmenthal an der Ilme“ (BA 15, S. 244) mit seiner aus Mexiko kommenden Romana Tieffenbacher, die die „Wunderrolle“ der „Prinzessin Fisch“ in der Phantasie Theodors spielt. Bei näherem Hinsehen ist sie wie Tieffenbacher eine Heimkehrerin, denn wegen ihrer Mehrsprachigkeit „konnte [man] […] nicht wissen, daß sie aus Moabit bei Berlin stammte, in Oxford-Street ein internatio Peter Borscheid: Das Tempo-Virus, S. 115.
2.1 Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes
107
nales Boardinghouse gehalten“ (BA 15, S. 278) hatte. Am entscheidendsten für die beschleunigte Verwandlung des provinzialen Tals in einen internationalen Kurort ist die Rückkehr von Alexander Rodburg, dem Zweitältesten der Familie Rodburg, der, wie bereits angedeutet, sich mehr als zwei Dekaden in der Fremde (Nordamerika, Mexiko) aufgehalten hat. Angesichts der Heimkehrertexte Raabes und der darin mehrfach thematisierten Beschleunigungserfahrung durch die gesellschaftliche Modernisierung hebt Arnds zu Recht die zentrale Funktion der Figur des Heimkehrers hervor wie folgt: „Raabe uses the figure of the Heimkehrer who returns to the rural setting of his youth after a longer absence to record the changes that have marred his home“.²⁹⁵ In Prinzessin Fisch begnügen sich die Heimkehrer Tieffenbacher, Romana (Prinzessin Fisch) und vor allem Alexander nicht mit einem uninteressierten Feststellen des laufenden Umbruchs, sondern machen eine strategische Diagnose der sich etablierenden neuen Zeit, indem sie als erprobte Kapitalisten und „Fortschrittler“²⁹⁶ durch ihre Investitionen und Spekulationen Riesenprofite aus den neuen Verhältnissen zu ziehen gedenken. Ihrem Handeln und Denken liegt eine Steigerungslogik zugrunde, „die sich mit dem einmal Erreichten nicht zufrieden gibt, die ganz auf Verbesserung und Wachstum angelegt ist, die jede erreichte Stufe als Absprungbalken zum Erreichen einer weiteren Stufe nutzt“.²⁹⁷ Ebenso wie die Vielzahl „zugereister und einheimischer Kapitalisten und Streber“ (BA 15, S. 194) hat Alexander „als findiger Mann […] seit einiger Zeit und vorzüglich während dieses seines jetzigen Aufenthalts in seiner Geburtsstadt herausgefunden, daß dieselbe unzweifelhaft eine ‚Zukunft‘ habe“ (BA 15, S. 221). Dementsprechend handelt und denkt er strategisch und zukunftsorientiert nach dem Leitmotiv „immer höher, immer weiter, immer schneller, immer mehr“,²⁹⁸ indem er gleichzeitig an zahlreichen Investitionen und spekulativen Geschäften (Finanzexperte in Eisenbahnangelegenheiten in und um Ilmenthal, Projekt des Aufbaus eines künstlichen Wasserfalls für die touristische Attraktivität) mitbeteiligt ist. In diesem Zusammenhang ähnelt er in vielerlei Hinsicht dem Bankier
Peter Arnds: The Boy with the Old Face. Thomas Hardy’s Antibildungsroman Jude the Obscure and Wilhelm Raabe’s Bildungsroman Prinzessin Fisch. In: Gerald R. Kleinfeld (Hg.). German Studies Review1998. XXI, 2. Arizona, S. 223. Diesen Begriff verwendet oft der Schwiegervater von Eberhard Pfister in Raabes 1884 erschienenem Erzähltext Pfisters Mühle, um solche Leute zu bezeichnen, die genauso wie die oben angedeuteten Figuren ausschließlich auf individuelle Evolution hin handeln und daher die untergehende Erholungsstätte namens „Pfisters Mühle“ gekauft haben. Peter Borscheid: Das Tempo-Virus, S. 11. Fritz Reheis: Entschleunigung: Abschied von Turbokapitalismus. München: Riemann 2003, S. 238.
108
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
Wienand, einer Figur in Raabes 1862 erschienenem Roman Die Leute aus dem Walde, von der der Erzähler sagt: „Das Fieber des Ehrgeizes, die Gier des Erwerbs trieben den Mann mit rasender Hast vorwärts“ (BA 5, S. 327). Hier lässt sich die Idee der unter den Vorzeichen eines Innovationsschubs zukunftsorientierten Herstellbarkeit und Gestaltbarkeit der Welt aufspüren.²⁹⁹ Braun, der zu Recht diese dem Fortschrittsgedanken innewohnende Idee der Gestaltbarkeit und Beherrschbarkeit der Zukunft als einen der kognitiven Motoren der Globalisierungseuphorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterstreicht, schreibt: „Dieses Bewusstsein von einer Zukunft, die immer mehr gestaltet und immer weniger unwägbar wurde, führte zu einer enthusiastischen Aufbruchstimmung und der Überzeugung, dass dank des Fortschritts alles Denkbare zum Wohle der Menschheit auch machbar sei“.³⁰⁰ In diesem Text wird darüber hinaus eine anonyme und gesichtslose bürgerliche Masse dargestellt, die sich an dem laufenden Prozess berauscht, denn „die Stadt gibt gern Kredit auf den Glanz ihrer Zukunft hin“ (BA 15, S. 312). In einer auf dem Ilmenthaler Berg sich abspielenden Szene sieht Theodor „verwundert hinab in das sonst so stille Tal und auf ein schaufelnd, hackend, grabend, karrend Gewühl von Menschen und Zugtieren“ (BA 15, S. 370). Die Beschreibung dieser Szene, in der der Kontrast zwischen der an dem laufenden Urbanisierungsprozess euphorisch mitwirkenden bürgerlichen Masse und Theodor betont wird, setzt der Erzähler fort mit einem prägnanten Tableau: Tausendmal hatte er grade von dieser Höhe und diesem Waldrande auf die Türme und Dächer und das rauschende Flüßchen, auf die Gärten, Wiesen und Ackerstreifen niedergeschaut und alles als gute vertraute Freunde, die wieder ihrerseits vertraulich und wohlwollend aus dem Tal zu ihm emporblickten, angesehen. Er war sich nicht bewusst gewesen, daß er doch diesem Ganzen da unten als ein Einzelwesen gegenüberstehe (BA 19, S. 382).
Mit der sich im laufenden Menschengetriebe abzeichnenden „Idee eines sich linear in die Zukunft entfaltenden“³⁰¹ Zeitbewusstseins wird die Grundlage des „Steigerungsgedanke[ns] mit seine[n] Schneller, Weiter und Höher“³⁰² gelegt. Diese Idee treibt die anwachsenden Verschönerungsarbeiten hinsichtlich der im Zeichen des „merkantilistischen Internationalismus“³⁰³ sich beschleunigenden
Vgl. Fritz Reheis: Entschleunigung, S. 22. Andreas Braun: Tempo, Tempo! Eine Kunst- und Kulturgeschichte der Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert, S. 22. Felix Forster: Dante Gabriel Rossetti und der romantische Desillusionismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 148 Peter Borscheid: Das Tempo-Virus, S. 12. Jürgen Manthey: Wilhelm Raabe und das Scheitern des deutschen Liberalismus, S. 82.
2.1 Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes
109
soziokulturellen Umgestaltung des Tals an im Zuge seiner Umwandlung in einen internationalen touristischen Ort. Dieses bürgerliche Ganze, das unter der Triebkraft der von zugeströmten Fremden mitgebrachten Kapitalien die geplanten Verschönerungsarbeiten ausführt, wird durchweg in der Handlung als Agent bloßgestellt, der an der mit rasantem Tempo laufenden Urbanisierung unüberlegt mitwirkt. In Anlehnung an Wendorff kann man sagen, dass einer derartigen unhinterfragten Anhänglichkeit an das Entwicklungsprinzip, bei dem die Evolution in der menschlichen Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist, offensichtlich das Fortschrittsdenken und das Zeitbewusstsein der Dynamik zugrunde liegen.³⁰⁴ Diese technikeuphorischen Anhänger der Kultur der Beschleunigung verfallen offensichtlich einem vom Heimkehrer Alexander Rodburg vertretenen kapitalistischen Ordnungsentwurf. Dies legt nahe, dass den Strukturen der Gesellschaft in der Wilhelminischen Gründerzeit manche Mechanismen des modernen Kapitalismus innewohnen.³⁰⁵ In kulturgeschichtlicher Hinsicht ist, so Doerry, diese Wilhelminische Gründerzeit durch einen „Hochkapitalismus vom bis dahin unbekannten Tempo des gesellschaftlichen Wandels“³⁰⁶ gekennzeichnet, in dem die Idee der Geschichtsentwicklung zentral ist. Das auf Fortschrittlichkeit hinweisende Handeln und Denken der Heimkehrer sowie des bürgerlichen Ganzen lassen deutlich eine Zeitkonzeption aufspüren, die von der Kultur der Beschleunigung überaus markiert ist. „Zukunftsgerichtetes Planen und Handeln“, „Aufwertung der Gegenwart“, „strenge Kontinuität und Zielgerichtetheit“ sowie „rationale Vorwegnahme der Zukunft“, die allesamt die Kultur der Beschleunigung kennzeichnen, identifiziert Wendorff ebenfalls als Hauptcharakteristika des Fortschrittsdenkens.³⁰⁷ Der laufenden rasanten infrastrukturellen Modernisierung von Ilmenthal liegen offensichtlich die Grundsätze der „Aufwertung der Gegenwart als Entscheidungszentrum für das Handeln“³⁰⁸ sowie „einer aus gesteigertem Selbstbewusstsein genährten Planung der Zukunft“³⁰⁹ zugrunde. Mit diesem Handeln in der Gegenwart wird die Verbesserung der gesellschaftlichen Lebensqualität angestrebt, während die Planung der Zukunft das Denken der Handelnden bestimmt. Die unter der Triebkraft des Zusammenspiels von ausländischen Kapitalien und einheimischen Kapitalisten durchgeführte umfassende sozio-
Vgl. Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, S. 407. Vgl. Dirk Göttsche: „Pionier im alten abgebrauchten Europa“, S. 49. Martin Doerry: Übergangsmenchen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreiches. München u. a.: Juventa 1986, S. 47. Vgl. Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, SS. 341 u. 357. Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, S. 391. Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, S. 391.
110
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
ökonomische Umgestaltung von Ilmenthal, wobei Eisenbahnlinien, Hotels und moderne Residenzen wie Pilze aus dem Boden schießen, zeugt demzufolge von einer engen Korrelation von lokalem gesellschaftlichem Wandel und globalem Beschleunigungsprozess. Darüber hinaus weist sie auf das Bewusstsein einer „Unaufhaltsamkeit der sich beschleunigenden rationalen Kultur“³¹⁰ hin, in der die Korrelation Zeit – Leistung vorherrscht. Von dieser Zeitkultur der Beschleunigung, die sich am Handeln und Denken Alexanders sowie der bürgerlichen Masse und am kapitalistischen Getriebe der nach Ilmenthal zugeströmten Fremden ablesen lässt, hebt sich der junge Theodor eindeutig ab. An der Bildungslinie von Prof. Dr. Drüding festhaltend kann er sich „mit aller Bequemlichkeit von früh an gebildete Passivité zu allen sonstigen Vorzügen des Menschen aneignen“ (BA 15, S. 230; meine Hervorhebungen), was einen ausgeprägten Gegensatz zu den von wirtschaftlichen und technischen Grundsätzen gesteuerten prosaischen Verschönerungsverhältnissen darstellt. Er bringt des Weiteren den Großteil seiner Zeit am Fenster seiner Studierstube zu, wo er im alten väterlichen Grundstück Frau Romana, seine „Prinzessin Fisch“, ansieht und bewundert. Dabei befindet er sich jedes Mal in einem wundervollen, unermeßlichen Reich der Ungebundenheit, der Freiheit, der Schönheit, des Lichtes, der Jugend, des tapferen Mutes und des Glückes – weit weg – märchenhaft weit über dem Kuhstiege, trotzdem, daß die schöne Frau Romana in dem am Kuhstiege belegenen Garten seines Vaters saß (BA 15, S. 265).
„Der als haltlos erscheinenden Dynamik des Kapitalismus wird mit [poetischer] Geste die Statik“³¹¹ der Innerlichkeit und des Traumreichs Theodors entgegengesetzt. Die dem anhaltenden Träumen und Phantasieren Theodors innewohnende Zeitlichkeit der Entschleunigung kommt hier zum Ausdruck, denn dem Leben des beschleunigten Leistungstempos wird die Langsamkeit des Fühlens und des Poetischen gegenübergestellt. Dies kann auch als Gefühl Theodors gedeutet werden, den Verhältnissen nicht gewachsen zu sein. Die kulturgeschichtliche Dimension dieses Sachverhalts deutet Morgenroth an, wenn er schreibt: „Die Erfahrung, der Schnelligkeit des sozialen Tempos nicht gewachsen zu sein, [ist] keineswegs neu, sondern wurde bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts thematisiert“.³¹² Die Handlung ist so strukturiert, dass die Gegensätzlichkeit der Haltungs- und Vorstellungsmuster der beiden Brüder hervorsticht. Diese Gegen-
Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, S. 358. Peter Sprengel: Interieur und Eigentum. Zur Soziologie bürgerlicher Subjektivität bei Wilhelm Raabe. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 9 (1974), S. 143. Olaf Morgenroth: Zeit und Handeln, S. 14.
2.1 Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes
111
sätzlichkeit ist am sichtbarsten bei der Zeitnutzung der beiden Protagonisten, die Einblick in ihre jeweiligen Kulturen der Zeit gewährt. Diese Zeitkultur der Entschleunigung tritt als eine misstrauische bzw. kritisch-distanzierende Haltung des gebildeten Bürgertums auf gegenüber der mit vordringendem Fortschritt einhergehenden Kultur der Beschleunigung. Diese auf eine Kultur der Entschleunigung hinweisenden Haltungs- und Denkmuster, wobei das Alte und Vergangene aufgewertet und gar idealisiert wird, weisen in vielerlei Hinsicht einige Züge der von Wendorff als „stumme[n] Protest gegen die linear gerichtete Zeit“³¹³ diagnostizierten Zeitkultur der Romantik im 19. Jahrhundert auf. Diese romantische Zeitkultur bringt er auf den Punkt, wenn er schreibt: „Da das romantische Zeitgefühl nicht auf das Handeln ausgerichtet ist, besteht auch nicht die Tendenz möglichst viele Inhalte in das Leben hineinzuzwingen und es deshalb zu höherem Tempo zu beschleunigen […] und so gibt man sich der Empfindung des Langsamen gerne hin“.³¹⁴ Die Bildung Theodors erfolgt bei näherem Hinsehen im gesellschaftlichen Spannungsfeld zwischen misstrauischen und hoffnungsvollen Wahrnehmungen von auf globale Verflechtungen hinweisenden turbokapitalistischen Prozessen, was sich in der Divergenz der Zeitkulturen am prägnantesten manifestiert. Diese Divergenz ist erkennbar an den aus der Perspektive der Hauptgestalt heraus bildenden Gegenpolen Drüding und Alexander. Die Geschichtsorientiertheit des Bildungsbürgers Drüding, der in der Handlung durchweg von Bruseberger mit dem zwar affektiven und doch vielsagenden Attribut „alt“ benannt wird, lässt sich erkennen einerseits an „seinem naturhistorischen Jagdapparat“ (BA 15, S. 233), mit dem er Studien über „die Flora und Fauna des Vaterlandes“ (BA 15, S. 234) durchführt und andererseits an seiner Schwärmerei für die Altsprachen. Die Geschichts- und Vaterlandsorientiertheit Drüdings kontrastiert deutlich mit der Zukunftsgerichtetheit und Weltoffenheit Alexanders. Nach seinem Abitur und verhältnismäßig stark geprägt durch die Bildungslinie Drüdings nimmt Theodor „Abschied gleichfalls wie ein echter Germane, das heißt voll von Sorgen, Ängsten und Selbstvorwürfen über Zustände, die er nicht gemacht“ (BA 15, S. 350) hat, um in Leipzig zu studieren.Wenige Zeit später bei der Rückkehr nach Ilmenthal und beim Anblick der laufenden Prozesse verleiht der Erzähler dem nostalgischen Pathos Theodors Ausdruck: „Da unten lag denn seine Kindheitsstadt; aber in ihr lag eine Leiche: seine unbefangene Kindheit, seine glückselige schuldlose, vertrauensvolle, märchen-
Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, S. 363. Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, S. 362.
112
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
volle, wundervolle Jugend!“ (BA 15, S. 382) Diese „Sehnsucht nach der verlorenen, geruhsamen, stabilen und gemächlichen Welt“³¹⁵ des alten idyllischen Ilmenthal, wobei das untergehende alte Ilmenthal mit einer traumhaft schönen Jugend des Hauptprotagonisten assoziiert wird, zeugt von einem nostalgisch-verklärten Festhalten am Vergangenen und Althergebrachten. In diesem skeptischen Denken bekundet sich offensichtlich das bildungsbürgerliche Misstrauen gegenüber der von der laufenden Modernisierung versinnbildlichten Gegenwart sowie gegenüber der damit verbundenen Hingabe an eine unberechenbare Zukunft, auf die der Großteil von Ilmenthal mit großer Eile hinstrebt. Wie das von Ethik und Moral geprägte bildungsbürgerliche Gedankengut und seine auf humanistischen Grundsätzen beruhenden Haltungs- und Denkmuster eine Distanzierung vom Neuen mit dessen prosaischer Dimension der ökonomisch-materiellen Welt nahelegen, lässt sich eine ausgeprägte Anhänglichkeit an die Vergangenheit herausstellen. Hier erhält die Vergangenheit nicht nur ideale Züge, sondern wird oftmals auch in ein poetisches Pathos überführt. Der kritische Diskurs des Textes zeichnet sich ab im Denken und Sprechen Brusebergers, der immer bemüht ist, in den „Zusammenhang der Dinge“ Einsicht zu gewinnen. Er verhilft Witwe Schubach zum Abrücken vom in ihrem sozialen Umfeld geäußerten Bedenken über das zügige Hereinbrechen der neuen Zeit. Im Unterschied zu Prof. Dr. Drüding, der die wesenhaften Grundsätze des gebildeten Bürgertums vertritt und daher ein fundamentales Misstrauen gegenüber der neuen Zeit bekundet, zeichnen sich Bruseberger und Witwe Schubach durch eine besonnene Aufgeschlossenheit aus gegenüber den laufenden Beschleunigungsprozessen wie etwa dem rasanten gesellschaftlichen Wandel, der vom globalen Kapitalismus angetrieben wird, obwohl sie in der Handlung durchweg von „einer verrückten Welt“ sprechen. Bei einer Unterhaltung mit Bruseberger über den Durchbruch der neuen Zeit nach Ilmenthal verleiht Witwe Schubach ihrer Ansicht Ausdruck: Was Sie da von dem neuen Leben und von der neuen Mode sagen, die über Ilmenthal gekommen sind, Bruseberger, so meine ich ganz ruhig: meinetwegen. – Weshalb soll denn Ilmenthal nicht auch probieren, was so manchem anderen Orte geglückt ist? Daß hier bei uns in vorigen Zeiten nicht jeder auf Flaumenfledern gelegen hat, ist sicher, und Hunger und Not haben in unserer idyllischen Einsamkeit zeitweilen sattsam ausgestanden. Vielleicht wird’s nun besser, und daß dem hiesigen Handwerksmanne ein besser Geschäft zu gönnen ist, das ist meine vollständige Meinung, Ansicht und Idee. Gespenster sehe ich hieraus gar nicht,
Hatmut Rosa: Dynamisierung und Erstarrung in der modernen Gesellschaft – Das Beschleunigungsphänomen. In: Jochen Oehler (Hg.): Der Mensch – Evolution, Natur und Kultur. Berlin u. a.: Springer 2010, S. 298.
2.1 Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes
113
und bauen sie uns nach Ihrem Zusammenhang der Dinge, Bruseberger, eine Eisenbahn bis da unten in den Ilmengrund hinein, so soll mir auch das ganz recht und angenehm sein (BA 15, S. 248).
Die Kritik der Witwe Schubach an der alten Zeit kommt hier dadurch zum Ausdruck, dass sie die für diese Zeit symbolhalft stehende „idyllische Einsamkeit“ mit Hunger und Not assoziiert. Dieser „idyllischen Einsamkeit“, die gewissermaßen auf eine Abschirmung gegen die Auswüchse von globalen Verflechtungsprozessen hinweist, hält Witwe Schubach eine kritisch-reflektierte Aufgeschlossenheit gegenüber der neuen Zeit entgegen. In der Handlung weist der Erzähler bisweilen mit subtilen Strategien wie etwa dem Humor auf gewisse Fehleinschätzungen von Prof. Dr. Drüding hin, der „wohl ein größerer Hebräer, Grieche und Lateiner als Bruseberger [ist], doch sicherlich kein tieferer Weltweiser, Politikus und Vates, das heißt [kein] […] ‚Prophezeier‘“ (BA 15, S. 231). Letzterer zählt, so der Erzähler, zu den „praktischen Philosophen“ (BA 15, S. 330), die mit ihrem „vernünftigen“ Blick und Scharfsinn immer in den „Zusammenhang der Dinge“ Einsicht zu gewinnen bemüht sind. Die Handlung schließt mit einem aussagekräftigen Tableau, das aus einer interessanten Szene resultiert, in der der mittlerweile in Leipzig studierende Theodor bei seiner Rückkehr an Weihnachten nach Ilmenthal Bruseberger begegnet. Die angedeutete Szene spielt auf einem Berg, von dessen Höhe aus die beiden Figuren das Ausmaß und die Rasanz der laufenden infrastrukturellen Veränderungen überblicken können und besser einzuschätzen vermögen. Die unten im Tal laufenden Eisenbahnbauarbeiten bereiten Theodor große Sorge. Hinzu kommt der Anblick einer „der neuen, am Abgange des Fuchsberges erbauten Villen im italienisch-deutsch- englischen Renaissancestil“, die „das Dach des weiland Augustinerklosters und der Dienstwohnung des Professors Dr. Drüding vollständig“ (BA 15, S. 383) verdeckt. Theodor verleiht seinem Entsetzen Ausdruck: „Die Welt ist eine andere geworden; ich aber gehöre heute nicht mehr zu Ilmenthal […]. Ich müßte umkommen beim ersten Schritt durchs Tor. Ich will lieber in Leipzig versuchen, was ich mir noch retten kann aus der guten alten Zeit“ (BA 15, S. 384). Der oben angeführten empörten Reaktion Theodors, die offensichtlich von Affekt geprägt ist, hält Bruseberger, der immer wieder „vernünftig“ zu denken bemüht ist, eine Haltung entgegen, die an der Schnittstelle zwischen kritisch und realistisch verortet werden kann. Er sagt: „Gehe zurück, ich aber stehe und sehe dir nach und das Beste und Schönste und Liebste von Ilmenthal mit mir […]. Du bist mit einem alten Gesicht in diese veränderliche und doch immer gleiche Welt geraten“ (BA 15, S. 385).
114
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und -erfahrungen als Reflexionsmodus
Der Erzähler, der Einblick in die jetzige Gefühlslage Theodors gewähren und die Wirkungen der Worte Brusebergers auf seinen Schützling zeigen möchte, sagt: „Seine Heimatlosigkeit in der Heimat, seine Wurzellosigkeit in dem Boden, aus dem er emporgewachsen war, fielen ihm bei jedem Worte des wunderlichen Lehrmeisters schwerer und beängstigender auf die Seele, und doch erkannte er klar, daß jedes dieser Worte aus allerinnigstem Mitgefühl und ehrlichster Fürsorge gesprochen wurde“ (BA 15, S. 368). Der den Leser ansprechende Wir-Erzähler schließt die Romanhandlung mit dem folgenden Hinweis: „Wir aber – wir hatten zuerst die Absicht, dieser wahrhaftig wahren Geschichte den Titel zu geben: Auf der Schwelle!“ (BA 15, S. 386; Hervorhebung im Original). Der Romanautor, der hier dem Erzähler die Worte in den Mund legt, erwähnt mit der metaphorischen Formulierung „Auf der Schwelle“, was Arendt nicht zu Unrecht als eine „in seiner [Raabe] Zeit eigentümliche Spaltung […] zwischen Geist und Geld, zwischen Kultur und Industrie“³¹⁶ oder zwischen Soll und Haben³¹⁷ versteht. Arendts Ansicht trägt jedoch nicht hinreichend den auf gesamtgesellschaftliche Dynamik hindeutenden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umbruchprozessen Rechnung. Um dieser gesellschaftlichen Dynamik genügend Ausdruck zu verleihen, ist der Schwellenmetapher eine andere an die Seite zu stellen, nämlich die des „Übergangs“. Diese für die Beschreibung der Wilhelminischen Ära zentrale Vorstellung des „Übergangs“,³¹⁸ die weniger ein steifes Gespaltensein als vielmehr ein sich entwickelndes Zwischen in den Vordergrund rückt, findet sich in der Forschung häufig.
Dieter Arendt: Raabe und der romantische Schlachtruf. Krieg den Philistern! In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 22 (1981), S. 82. Soll und Haben sind zwei gängige Begriffe im Bankbereich, die zwar allesamt um ein und dasselbe kreisen, nämlich den finanziellen Status eines Kunden. Im Kontext der gründerzeitlichen Wilhelminischen Ära verweisen sie jedoch auf das für diese Epoche markante gesellschaftliche und kulturelle Spannungsverhältnis zwischen bürgerlicher Ethik und kapitalistischer Gesinnung. Das Nebeneinanderbestehen dieser beiden epochalen Dimensionen, die in der Fachliteratur u. a. als eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ bezeichnet wird, hat Gustav Freytag in seinem mit allerdings antisemitischen Ressentiments aufgeladenen Roman Soll und Haben (1855) literarisch gestaltet. Martin Doerry: Übergangsmenchen, S. 7– 43. Er hat sich der Untersuchung der Mentalität der ihm zufolge repräsentativsten „Generationseinheiten“ (die um 1830 Geborenen, die zwischen 1855 bis 1865 Geborenen und die Teilnehmer der Kriege 1866 und 1870) der Wilhelminischen Ära gewidmet. In diesem Zusammenhang spricht er von „Übergangsmenschen“ als charakteristisch für all diese Generationen, die er „Wilhelminer“ nennt. Er schreibt: „Im Jahre 1889 verbreitete sich das Gefühl in einer Zeit des Übergangs zu leben […]. Übergänge gab es damals viele, und sie bezeichneten in ihrer Wirkung den großen epochalen Wandel, den Übergang zur ‚Moderne‘. In ihm wurde jene Schwelle sichtbar, über die unsere Gegenwart betreten wurde“ (Martin Doerry: Übergangsmenchen, S. 7). Osterhammel spricht seinerseits von „Übergangsgesellschaften“ als
2.1 Soziale Umgestaltungen in Erzähltexten Raabes
115
Mit der Schwellenmetapher, mit der Ilmenthal als eine Gesellschaft im Übergang dargestellt wird, wird im weitesten Sinne das Bild einer Wilhelminischen Zeitwirklichkeit zwischen Altem und Neuem, zwischen Nationalem und Globalem und zwischen Vergangenheit und Zukunft prägnant umrissen. Des Weiteren zeichnet sich im oben beschriebenen Tableau – das mit der Schwellenmetapher schließt – eine kritische Konstellation ab gegenüber Bildungsbürgern mit konservativen kulturellen Tendenzen. Einem erzkonservativen Festhalten am Alten und Vergangenen wird in Prinzessin Fisch eine zukunftsoffene Mentalität mit jedoch Einsicht in den „Zusammenhang der Dinge“ entgegengehalten. Die oben vorgenommenen Analysen über das Schlusstableau der Handlung und die „Schwelle“-Metapher legen eine kritisch-realistische Haltung nahe, die einen dritten und vermittelnden Weg zwischen der neuen Zeit – die durch beschleunigten Wandel geprägt ist – und der alten Zeit – die durch eine idealistische und idyllische Sicht auf die Vergangenheit geprägt ist – einschlägt. Diese kritischrealistische Haltung, die der „praktische Philosoph“ Bruseberger mit seiner „vernünftigen“ Einsicht inkarniert, erhält deutlichere Konturen in Raabes 1879 erschienenem Text Alte Nester, in dem politisch-ideologisch angelegte Zeitordnungen zur Gestaltung kommen.
„Bündel unterschiedlicher Prozesse beschleunigten sozialen Systemwandels oder gebündelter Innovationen“ (Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 708). Mit dem Befund, dass in der Mentalität der Amerikareisenden des 19. Jahrhunderts ein gleichzeitiges Nebeneinanderbestehen von einerseits konservativen bzw. traditionalistischen und andererseits rationalistischen bzw. fortschrittlichen Kräften festzustellen ist, verweist Brenner nicht weniger auf dieses in der Schwellenmetapher artikulierte Zwischen (Vgl. Peter J. Brenner. Reisen in die Neue Welt: Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 31– 44). Dass dies nicht nur charakteristisch für die deutsche Amerikaauswanderung, sondern auch konstitutiv für das Jahrhundertende war, zeigt Assmann, die für diese Epoche neben bestehenden fortschrittseuphorischen, zukunftsorientierten Kräften eine rasante Wiederkehr von fortschrittsskeptischen, rückschrittlichen Entwicklungen feststellt (vgl. Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 65).
116
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
2.2 Zum literarischen Aushandeln eines vermittelnden Weges zwischen konservativem Nationalismus und liberalem Globalismus oder zwischen Vergangenheit und Zukunft in Alte Nester Anhand der Erzählkonzeption, die Raabes Erzählung Alte Nester zugrunde liegt und in „Chronotopos der Heimkehr, Wiederbegegnungen und Erinnerung“³¹⁹ besteht, werden die Lebensgeschichten von fünf Jugendlichen, nämlich Just und Irene Everstein, Friedrich Langreuter, sowie Eva und Ewald Sixtus, die alle aus dem Provinzialraum Bodenwerder stammen, erzählerisch rekonstruiert. Nach Jahren des Zusammenlebens in ihrem von Zusammengehörigkeitsgefühl geprägten Freundeskreis trennen sie sich in ihrem Jugendalter und jeder geht seinen eigenen Lebensweg. Über ein Jahrzehnt später kommen sie aus verschiedenen Gründen wieder in ihrem gemeinsamen Kindheitsraum zusammen. Diese Wiederbegegnung gleicht einer „Fahrt in die Jugend zurück“ (BA 14, S. 25). Sie ist eine Zeitreise in das vergangene Zusammenleben, das durch die jeweiligen Erinnerungen wieder ins Leben gerufen wird. Aus diesem Chronotopos ergibt sich eine Erzählstruktur, die aus erzählter Vergangenheit und erzählter Gegenwart besteht. Die Hauptgestalt Just Everstein, „dieses unverbohrte Monstrum mit seiner lateinischen Grammatik“ (BA 14, S. 47), war Besitzer des Bauernhofs „Steinhof“, aber wegen finanziellen Schwierigkeiten, die ihn zu Schwerschulden geführt haben, musste er dieses ererbte Grundstück an einen Dritten zu einem Preis unter seinem eigentlichen Wert verkaufen. Der diegetische Erzähler Langreuter, „Doktor der Philosophie, Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms- Universität in Berlin“ (BA 14, S. 96), der in der Erzählgegenwart über dieses vergangene Ereignis berichtet, sagt: Ich erlebte es noch als Student, daß der Steinhof subhastiert wurde und weit unter seinem Wert an einen Landsmann fiel, der schon längst ein freundlich-begehrliches Auge darauf geworfen hatte und einst ebenfalls zu den fröhlichsten und behaglichsten Gastfreunden und Jagdgenossen des Vetters gehörte (BA 14, S. 84).
In der Erzählgegenwart trifft er auf den Heimkehrer Just Everstein, der nach dem Verkauf des Bauernhofs nach Amerika ausgewandert war. Dieses Treffen, das eigentlich den Kristallisationspunkt der Romanhandlung darstellt, nehmen die beiden zum Anlass, um über ihre jeweiligen Lebensgeschichten zu reflektieren, was zu einem gewissen Vergleich ihrer beiden Lebenswege führt. Langreuter „ist
Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes. S. 15.
2.2 Zum literarischen Aushandeln eines vermittelnden Weges
117
wohl selten aus seinem Traumwinkel und von der Ofenbank an die freie Luft hinausbefördert worden“ (BA 14, S. 93) und weist daher manche Züge eines gebildeten Konservativen auf, während Just Everstein in die Vereinigten Staaten von Amerika ausgewandert ist, wo er sich in einem deutschen Siedlungsgebiet namens Neu- Minden in Wisconsin aufgehalten hat. Während seines Aufenthalts in Amerika war Just Everstein als „lateinischer Bauer“³²⁰ (BA 14, S. 99) und Schullehrer tätig. In den USA sammelte er das nötige Kapital und kehrte in die Heimat zurück, wo er sein verlorenes Gut, den Steinhof, zurückerwarb. An Ritters Interpretationsansatz, demzufolge der Autor Raabe mit der erzählerischen Rekonstruktion der mit Krisen aufgeladenen Biographie Eversteins die allgemeine gesellschaftspolitische Lage seiner Epoche anthropomorphisiert,³²¹ wird hier angeknüpft. In seiner Studie stellt Göttsche zwei Hinweise in Alte Nester heraus, die eine derartige Lesart Ritters untermauern, nämlich die „erzählte Gegenwart“ und die „erinnerte Vergangenheit“.³²² In einer eingehenden Analyse zeigt er, dass die „erzählte Gegenwart“ im Jahre 1878 und die „erinnerte Vergangenheit“ gegen Ende der 1840er Jahre zu verorten sind. Dieser Befund ist sehr wichtig, denn er zeigt zum einen, dass die Handlung vor dem Hintergrund einer sich im Übergang von einer Agrar- zur Industriewirtschaft befindenden Gesellschaft der 70er Jahre spielt. Zum anderen lässt er erkennen, dass die Märzrevolution von 1848 ausschlaggebend ist für das Verstehen der erzählten Geschichte. Davon ausgehend wird die Literarisierung von gesellschaftspolitisch und gar ideologisch angelegten Zeitvorstellungen im Text Alte Nester eruiert. Der Text Alte Nester scheint mit der Biographie Eversteins nicht nur die epochale Krisenlage, sondern auch die von antagonistischen Zeitkonzeptionen geprägte gesellschaftspolitische Lage des Wilhelminischen Zeitalters zu anthropomorphisieren. In diesem epochalen Kontext, der nach der gescheiterten Revolution von 1848 durch einen eklatanten „Antagonismus von politischem Liberalismus und restaurativem Konservatismus geprägt ist“,³²³ agierten konkurrierende Kräfte, die ihren Positio-
Die Bezeichnung „lateinischer Bauer“ ist eine deutliche Anspielung auf eine bestimmte Gruppe von Deutschen, die in den 1848er Jahren in die USA auswanderten. „Kenner der Geschichte der deutschen Einwanderung nach Amerika werden wissen wie mit den Flüchtlingen aus der 48er Zeit in Amerika die spöttische Bezeichnung ‚lateinische Bauern‘ aufkam“. Zur Charakterisierung dieser Gruppe führt er weiter aus: „Es waren zum großen Teil Männer von Gymnasialund Universitätsbildung, die sich für die gelehrten Berufe weit besser eigneten als für die Landwirtschaft, in der ihre Versuche meist fehlschlugen“ (Albert B. Faust: Das Deutschtum in den Vereinigten Staaten: In seiner Bedeutung für die amerikanische Kultur.Wiesbaden: Springer 1912, S. 35). gl. Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 185. Vgl. Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes. S. 80 f. Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes. S. 5.
118
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
nierungen und Einstellungen zur gesellschaftspolitischen Entwicklung des Wilhelminischen Deutschlands bestimmte Zeitvorstellungen zugrunde legten. Mit seinen demokratischen Bestrebungen und seiner Abkehr von der als alt und rückwärtsgewandt gesehenen gesellschaftspolitischen Ordnung des Vormärz stellte sich der politische Liberalismus während und nach der gescheiterten Märzrevolution als eine auf Wandel, Fortschritt und Modernisierung ausgerichtete Kraft heraus. Dieser reform- und zukunftsorientierten Bewegung stellten sich konservative Kräfte entgegen, die weiterhin auf das Beharren auf dem Alten oder der Tradition setzten. Diesem Festhalten liegt ein bestimmter Umgang mit der Vergangenheit zugrunde, die dem Individuum und dem Kollektiv verlässliche Identifikationsmöglichkeiten bietet. Das Wilhelminische Zeitalter und besonders die Gründerzeit standen, wie bereits erwähnt, im Zeichen einer „Gesellschaft im Aufbruch“, die vom Wirtschaftsliberalismus dominiert und daher vom linearen Fortschrittsdenken vorwiegend geprägt war.³²⁴ Auf der politischen Ebene war der Durchbruch und Vorstoß der Liberalen, die sich als „Partei der Bewegung“ verstanden und den vernünftigen Fortschritt zu repräsentieren meinten, ebenfalls zu beobachten.³²⁵ Sie waren jedoch keine eindeutig dominante Kraft, denn die Kräfte des „restaurativen Konservatismus“ legten immer mehr zu und handelten für das Fortbestehen oder Wiederaufleben der vorrevolutionären Verhältnisse. Vor dem Hintergrund dieses wirtschaftspolitischen Kontextes, der von einer Polarisierung zwischen Zukunfts- und Vergangenheitsgerichtetheit charakterisiert ist, kann Raabes Text Alte Nester verstanden werden. Eine Parallelisierung der Lebenswege des Erzählers Langreuter und der Hauptfigur Just Everstein lässt deutlich bestimmte Differenzen herausstellen. „Langreuter […] verkörpert“, so Sammons, „den Typus des von der eigenen Umgebung eingeengten Deutschen, der im Unterschied zu Just in Amerika […] keinen Reifungsprozess durchlaufen hat“.³²⁶ Betrachtet man den Text als fiktionales Durchspielen von gesellschaftspolitischen Konstellationen der Epoche, kann diese Erkenntnis Sammons’ um eine ideolo-
Vgl. Ewald Frie: Das Deutsche Kaiserreich. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 2004, S. 2. Dies zeigt auch Krobb, der betont, dass dieses „lineare, fortschrittsoptimistische Geschichtsverständnis folgerichtig für eine zukunftsoptimistische, gestaltungsgewisse Epoche [war], die in der Reichsgründung von 1871 kulminierte“ (Florian Krobb: „kurios anders“. Dekadenzmotive in Wilhelm Raabes „Die Akten des Vogelsangs“. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 51 (2010), S. 111 f.). Vgl. Rudolf Vierhaus: Vergangenheit als Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 174. Jeffrey L. Sammons: Die Darstellung Amerikas unbesehen. Vergleichende Betrachtungen zu Spielhagen, Raabe und Fontane“. In: Christof Hamann u. a. (Hgg.): Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848: Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung. Bielefeld: transcript 2009, S. 161.
2.2 Zum literarischen Aushandeln eines vermittelnden Weges
119
giekritische Perspektive erweitert werden. Dem diegetischen Erzähler Langreuter, der seine Heimat, d.h. seinen Erfahrungsraum, nie verlassen hat und deshalb den Bericht der Hauptfigur mit großer Faszination hört und nacherzählt, kann eine konservative Haltung unterstellt werden. In zweierlei Hinsicht kann Everstein hingegen als Exponent einer liberalen Denkweise betrachtet werden. Zum einen ist seine Auswanderung an sich schon ein Hinweis darauf, dass er sich keinesfalls vom Bestehenden oder Vergangenen fesseln lässt, sondern neue Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte erschließt bzw. eröffnet und Zukunftsvisionen auf die Fremde projiziert. Zum anderen war das Auswanderungsziel Amerika in der Wilhelminischen Epoche der beliebteste Ort, auf den die Verfechter einer liberalen gesellschaftspolitischen Ordnung die fehlgeschlagene Freiheitsutopie nach der gescheiterten Revolution von 1848 projizierten. Im Gegensatz zu manchen Konservativen hatte der politische Liberalismus deswegen keine einseitig ablehnende Haltung gegenüber der deutschen Amerikaauswanderung.³²⁷ Mit der Auswanderung der Hauptgestalt Just Everstein in die Vereinigten Staaten gleich nach dem Bankrott seines Bauernhofs scheint Raabes Text anhand einer Lebensgeschichte die auf die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Krisenlage der Epoche zurückzuführende deutsche Amerikaauswanderung zu inszenieren. In dieser Konstellation lässt sich das manchen zeittypischen Vorstellungen von Amerika zugrunde liegende Zeitkonzept der Zukunft aufspüren, denn nach dem Verlust seines ererbten und dadurch auf eine familiäre Vergangenheit hinweisenden Grundstücks sieht Everstein in Amerika eine glanzvolle Zukunft. Unter diesen Vorstellungen, auf die im nächsten Kapitel eingegangen wird, ist im 19. Jahrhundert die verheißungsvolle Zukunftsvisionen implizierende
Dies betonen manche Forscher wie etwa Moltmann, der sich mit den Eigentümlichkeiten der deutschen Amerikamigration im 19. Jahrhundert auseinandersetzt. Nach Amerika emigrierten in der zweiten Hälfte dieser Zeit „Liberale, die gegen das reaktionäre politische System ihrer Heimat protestierten, sich dem Zwang zum Militärdienst entziehen wollten und in Amerika schlechthin das Land der Freiheit und des Fortschritts suchten“ (Günter Moltmann: Charakteristische Züge der deutschen Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert. In: Frank Trommler (Hg.): Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte. Opladen: Westdeutscher Verlag 1986. 40 – 49, S. 40). Zu den liberal eingestellten Auswanderungswilligen schreibt Harzig: „einige Auswanderer wollten auch die Ideale von Freiheit und Gleichheit, für die sie in der Revolution von 1848/49 erfolglos gekämpft hatten, in der Neuen Welt für sich und ihre Anhänger verwirklichen“ (Christiane Harzig: Lebensformen im Einwanderungsprozeß. In: Klaus J. Bade (Hg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck. 1992, S. 160).
120
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
Idee von Amerika als „Eldorado der europäischen Siedler“³²⁸ dominant (siehe hierzu Kap. 3.1.1 u. 3.1.2). Während seines Amerikaaufenthalts lässt sich Everstein trotz der erworbenen amerikanischen Staatsbürgerschaft (vgl. BA 14, S. 112) jedoch nicht amerikanisieren. In der Romanhandlung kommt er zudem kaum in Berührung mit Strukturen und Tätigkeiten, denen eine „radikale Zukunftsorientierung“³²⁹ als typisch
Peter Boerner: Utopia in der Neuen Welt: Von europäischen Träumen zum American Dream. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien: zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 2. Stuttgart: J.B. Metzler 1982, S. 361 Assmann stützt sich bei den einschlägigen Ausführungen auf Reichardt, der die Erkenntnis formuliert, dass eine „radikale Zukunftsorientierung“ die spezifische Zeitkultur der Vereinigten Staaten seit ihren Anfängen ist. Dabei rekurriert sie weitgehend auf die von Reichardt verwendeten Schlüsselkonzepte „Zukunft“ und „Modernisierung“, um sich mit den Spezifitäten und Gesetzmäßigkeiten des modernen Zeitregimes, für das Amerika repräsentativ steht, auseinanderzusetzen (Vgl. Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 106 – 130). Die Ausführungen Reichardts, der mit diesen beiden Konzepten die wichtige Stellung der USA als Motor der Globalisierung herausstellt, kommentiert Assmann wie folgt: „Der amerikanische Sonderweg habe das Programm der Modernisierung am radikalsten verwirklicht und damit zugleich den Prozess der Globalisierung entscheidend vor- und mitgeformt. Das diese Entwicklungen stützende Zeitkonzept basiert auf dem optimistischen Glauben an eine evolutionär-lineare Entwicklung, die das Versprechen eines stetigen Fortschritts enthält, sowie auf einer positiven Definition des „Neuen“ als Ort produktiver Entfaltung und Kreativität“ (Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 110). Das von Reichardt erarbeitete Konzept der „radikalen Zukunftsorientierung“ als Zeitparadigma der „Neuen Welt“ seit ihrer Entdeckung ist charakterisiert durch eine „Abwendung von der Vergangenheit (einschließlich Erinnerung und Tradition) und einer Hinwendung zur Zukunft als der wichtigsten und dominanten Zeitmodalität, die das Leben und Handeln organisiert und vor allem auch legitimiert“ (Reichardt zit. in Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 108). Assmann verdeutlicht die Implikation dieser Erkenntnis für die Erfassung der Erwartungen der Einwanderer an die Amerikamigration: „Die von Armut, Unterdrückung und Verfolgung gekennzeichneten Einwanderer sehnen sich nach Freiheit und Wohlstand. Sie sehen vor sich ein goldenes Tor, das die Chance eines Neubeginns […] verspricht“ (Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 116). Sie führt weiter aus: „Am Beispiel der amerikanischen Immigrationspolitik des 19. und weitgehend des 20. Jahrhunderts wurde deutlich, dass mit der Option für die Zukunft auch die Option gegen Vergangenheit und eine Entscheidung für Vergessen verbunden war“ (Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 122). Sie stützt sich bei ihrem Ansatz, dass die amerikanische Zeitkultur der Inbegriff par excellence des Globalisierungsprozesse fördernden modernen Zeitregimes ist, ebenfalls auf das 1908 veröffentlichte Theaterstück The Melting Pot des aus Russland eingewanderten Israel Zangwill. Die Kernbotschaft dieses Theaterstücks ist, dass im Gegensatz zu manchen Staaten, deren nationale Identität auf einer gemeinsamen Vergangenheit ruhen, die nationale Identität Amerikas ihrerseits eher auf einer gemeinsamen Zukunft aufbaut. Mit Blick auf die massenhafte Einwanderung in die Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert schreibt Zangwill mit einem gewissen patriotischen Pathos: „Was ist die Herrlichkeit Roms und Jerusalems, wo alle Nationen und Rassen zusammenkommen, um zu verehren und zurückzuschauen, verglichen mit der Herrlichkeit Amerikas, wo alle Rassen und Nationen zusammen-
2.2 Zum literarischen Aushandeln eines vermittelnden Weges
121
amerikanische Zeitkultur zugrunde liegt. Er wohnt in einer deutschen Siedlung und ist darüber hinaus weder tätig in Fortschritt erstrebenden kapitalistischen Aktivitäten wie etwa der Industrie- oder Geschäftswelt noch in auf rasche materielle Bereicherung abzielenden Tätigkeiten wie etwa dem Goldsuchen, in dem ein Großteil der Einwanderer sich versuchte. Entgegen allen Erwartungen entscheidet er, seine aus der Heimat mitgebrachte und auf dem verlorenen Bauernhof „Steinhof“ geübte bäuerliche Tüchtigkeit beizubehalten. „Everstein repräsentiert somit ein Amerika der vorkapitalistischen, agrarkulturellen“³³⁰ Werteordnung, die der Romanautor in Deutschland angesichts des tiefgreifenden sozialökonomischen Wandels der Gründerzeit nicht verloren gehen sehen möchte. Im Kontext einer Gesellschaft, die sich „in den siebziger Jahren auf dem Weg von der Agrarzur Industriewirtschaft, von der ländlichen zur industriellen Gesellschaft“³³¹ befand, zeichnet sich in dieser Konstellation eine Stellungnahme zugunsten der Agrarwirtschaft oder des Ländlichen ab. Diese Neigung zum Beibehalten des Alten ist deutlich erkennbar in Eversteins Bericht über seine Amerikaerlebnisse. Seinem Jugendfreund, dem Erzähler Langreuter, berichtet er, wie er in Amerika wieder zum Bauern im traditionellen Sinne des Wortes wurde: Ach, Fritz, es ist manchmal dem Menschen nichts dienlicher, als daß es mal recht vollständig umgekehrt wird! Wenn das Allerinnerste nach außen kommt, dann erfährt er erst, was eigentlich alles in ihm gesteckt hat und was ihm nur angeflogen war. Jetzt kehrst du zuerst den Bauer heraus, Just! Denke ich mir, mit der Faust vor der Stirn – den Urbauer, den deutschen Bauer aus der Zeit, wo er sich noch nicht einen Ökonomen schimpfen ließ (BA 14, S. 99).
Eversteins Tätigkeit und Wohnort weisen auf das Konservative hin in einer weitgehend auf Modernisierung, Fortschritt, Beschleunigung, d. h. dezidiert auf Zukommen, um zu arbeiten und nach vorn zu schauen!“ (Zangwill zit. in Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 117) Assmann erkennt allerdings, dass die afroamerikanische Minderheit aufgrund ihrer von Sklaverei, Gewalt und Rassismus geprägten Geschichte eine Subkultur hat, die sich von der „radikalen Zukunftsorientierung“ absetzt. Zur Charakterisierung der an Vergangenheit ausgerichteten Zeitkultur der afroamerikanischen Minderheit schreibt sie: „An die Stelle der puritanischen Zukunftsvision des Neuen Jerusalem tritt in dieser Subkultur die Vergangenheitsvision des „Mythos Afrika“ als imaginärer Ursprungsort afroamerikanischer Identität, verbunden mit dem Trauma der Verschleppung und Vernichtung ihrer Vorfahren“ (Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 127). Sie führt weiter aus: „In markantem Gegensatz zur amerikanischen Zukunftsorientierung mit ihrem Blankoscheck auf die Zukunft ist es das mahnende Schicksal der Vorfahren, deren Leiden es zu erinnern gilt“ (Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 129). Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 186. Hans Peter Ullmann: Das deutsche Kaiserreich, S. 14.
122
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
kunft, ausgerichteten Zeitkultur Amerikas. Der Romanautor „projiziert [hiermit] die agrarkonservativ beharrende Gesellschaft der ‚Bauern und Kleinbürger‘ in die back-country-Verhältnisse des ländlichen Westens abseits des ungeheuren ‚Fortschritts‘. Nur hier werde vorgelebt, wie Fortschrittsteilhabe und agrargesellschaftliches Beharren miteinander verbunden werden können.“³³² Eversteins spätere Rückkehr in die Heimat und vor allem der Wiedererwerb des verlorenen „Erbsitz[es] und Urvätereigentum[s]“ (BA 14, S. 100) bestätigen zudem den in seinem Sprechen und Handeln aufzuspürenden konservativen Diskurs, der allerdings deshalb als gemäßigt betrachtet werden kann, weil ihm Amerika als Exponent des Liberalismus einen Raum zur freien Selbstentfaltung bietet. Darüber hinaus wendet sich Everstein bei seiner vorkapitalistisch angelegten bäuerlichen Tätigkeit nicht grundsätzlich von kapitalistischen Prinzipien ab, denn dadurch erwirtschaftet er Gewinne. Im Text Alte Nester lassen die Lebensoptionen Eversteins sowie sein Handeln und Sprechen keinen Zweifel aufkommen, dass er seine Zukunftsvisionen keinesfalls auf die USA projiziert, sondern auf den eine familiäre Geschichte inkarnierenden „Steinhof“ oder auf die eine gemeinsame ethnische Vergangenheit semantisierende Heimat. Dies bekräftigt Sammons mit anderen Worten, wenn er schreibt: „Obwohl Just Everstein amerikanischer Staatsbürger gewesen ist, gibt es kein Anzeichen dafür, dass sein Aufenthalt auf Dauer angelegt ist; sein Ziel ist, stärker und tüchtiger heimzukehren, um sein Erbe und damit seine Zukunft in Deutschland zurück zu erobern“.³³³ Diesen selbstbewussten Rückweg Eversteins in die Vergangenheit kommentiert der von Bewunderung ergriffene Erzähler Langreuter: Wie er durch harte Arbeit, klugen Sinn und treuherziges Beharren in jeglichem wackeren Vornehmen durch gute und böse, durch harte und linde Zeiten, durch schlimme Tage und schlimmere Nächte seinen Weg als ein fester, wirklicher und wahrhaftiger Mann sich in das Vaterland und zu dem alten Erbsitz zurückgebahnt hatte (BA 14, S. 104).
Aus Amerika – dem Raum, auf den deutsche Siedler glanzvolle Zukunftsvisionen wegen der Krisenlage der heimatlichen Verhältnisse projizieren – hat Everstein durch harte Arbeit das erforderliche Kapital mitgebracht, womit das verlorene Gut zurückerobert wurde. In dieser Konfiguration „tendiert die gelingende Heimkehr
Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 174. Jeffrey L. Sammons: Die Darstellung Amerikas unbesehen, S. 168.
2.2 Zum literarischen Aushandeln eines vermittelnden Weges
123
zur konservativen Utopie, in der das nostalgisch Ersehnte Wirklichkeit wird“.³³⁴ Dass der Hauptgestalt der emotionale Wert des Steinhofs wichtiger ist als der ökonomische, zeigt er selbst, wenn er zu seinem Freund sagt: „Jetzt bin ich mit Ruhe ein Bauer auf meinem alten braven Hofe“ (BA 14, S. 103). Diesem emotionalen Bezug zum Steinhof liegt eine affektbeladene Bindung an eine familiäre und ethnische Vergangenheit oder Tradition zugrunde. In der Handlungskonfiguration des Textes zeichnet sich in der Heimkehr Eversteins und vor allem in der Rückeroberung des Steinhofs dank des aus Amerika mitgebrachten Kapitals eine Konstellation ab, in der dem Heimkehrer eine vermittelnde Funktion zwischen Vergangenheit und Zukunft zugesprochen wird. Diese vermittelnde Funktion erläutert Ritter: Raabe geht es um das metaphorische Verständnis […] einer Amerikafunktionalisierung, nach der die Auswanderer als zurückkehrende Mediatoren verstanden werden, die die Prinzipien für eine regressive Utopie agrarkultureller, gemäßigt industriegesellschaftlicher Zukunft Europas vorleben.³³⁵
Hier soll an den zu Anfang dieses Abschnittes angedeuteten Interpretationsansatz Ritters angeknüpft werden. Ausgehend von seinem Interpretationsansatz, dass Alte Nester anhand der Lebensgeschichte Eversteins die gesellschaftspolitische Krisenlage der Epoche anthropomorphisiert, kann dieser Text auf die Artikulation einer Diskursposition im Kontext einer zwischen vergangenheitsausgerichtetem Konservatismus und zukunftsorientiertem Liberalismus polarisierten Gesellschaft befragt werden. In Anknüpfung an Martini weiß Ritter diese Diskursposition schärfer zu umreißen: Raabes dahinter stehendes Verständnis von Geschichte und Zeitsituation führt, Welterfahrung [als] Ferment eines intensivierten Heimatbewusstseins in fortschrittlich-konservativem Handeln‘ vor und sucht perspektivisch danach, einen gesellschaftspolitischen Mittelweg zwischen ‚politischem Liberalismus‘, realisiert in den USA, und ‚restaurativem Konservatismus‘ für die gesellschaftliche Entwicklung anzubieten.³³⁶
Bei näherer Betrachtung zeichnet sich in diesem Mittelweg zwischen Vergangenheit und Zukunft eine leitmotivische Diskursposition im Text ab. Im Unterschied zu Just Everstein, der in Amerika in einem Bereich tätig ist, der überhaupt
Kai Marcel Sicks und Sünne Juterczenka: Die Schwelle der Heimkehr. Einleitung. In dies. (Hgg.): Figurationen der Heimkehr: Die Passage vom Fremden zum Eigenen in Geschichte und Literatur der Neuzeit. Göttingen: Wallstein 2011, S. 19. Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 176. Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 185.
124
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
nichts mit fortschrittsfördernden Techniken zu tun hat, ist der andere Heimkehrer Ewald bei seinem Aufenthalt in Irland Ingenieur. Kurz nach seiner Rückkehr kauft er das auf ein feudales Gesellschaftssystem, d. h. auf das Alte, hindeutende Schloß Werden. Auf Anregung von Just und Langreuter wird es jedoch abgerissen und aus seinen Steinen wird eine Brücke gebaut. Darüber berichtet der Erzähler: „Aus Schloß Werden eine Brücke zu bauen! Ein trefflicher Gedanke, der einen selbst in der Vorstellung schon […] sicher und fest in die Zukunft hineinführt“ (BA 14, S. 266). In den Augen des Erzählers signalisiert dieser Gedanke an sich eine Abkehr von der alten Zeit und eine Hinwendung zur neuen Zeit, denn mit dem Abreißen des Schlosses wird ein Bruch mit der Vergangenheit vollzogen und mit dem Brückenbau wird ein Brückenschlag in die Zukunft realisiert. Dass die in die Zukunft hineinführende Brücke ausgerechnet mit Steinen aus dem Schloss gebaut wird, zeigt jedoch, dass bei der Gestaltung einer „festen“ und „sicheren“ Zukunft die Vergangenheit miteinbezogen werden soll. Die sich im Text Alte Nester abzeichnende Diskursposition ist also durch eine Ablehnung jedweder Radikalität in der Wahrnehmung einer gesellschaftspolitischen Zeitsituation gekennzeichnet, die von einer Polarisierung zwischen vergangenheits- und zukunftsorientierten Kräften geprägt war. Genauso wie Everstein durch seine Amerikaauswanderung einen radikalen vergangenheitsausgerichteten Konservatismus ablehnt, weist er ebenso durch seine Heimkehr und die Rückeroberung des Bauernhofs einen radikalen zukunftsorientierten Liberalismus zurück, den Amerika hier mit seiner Zeitkultur, nämlich der bereits angedeuteten „radikalen Zukunftsorientierung“, symbolisiert. Der von Ritter in Anlehnung an Martini anhand des Attributs „fortschrittlich-konservativ“ formulierte Interpretationsansatz eines Mittelwegs zwischen „restaurativem Konservatismus“ und „politischem Liberalismus“³³⁷ bedeutet auch einen vermittelnden, gemäßigten Weg zwischen radikalem Nationalismus und radikalem Globalismus. Göttsche, der die Intention des Autors in diesem Text zu verdeutlichen versucht, betont, dass es bei Raabe darum geht, „einen vom Vormärz geprägten Liberalismus und ein soziales Ethos lebendig zu halten, das […] auf praktisch-humane Antworten auf die neuen Herausforderungen zielt“.³³⁸ In diesem Text zeichnet sich eine Diskursposition ab, nämlich ein gemäßigter Mittelweg, der zwischen ethnisch-nationalistischen und globalistisch-weltoffenen Kräften verhandelt. Wie die Lebensgeschichte Eversteins zeigt, konkretisiert sich diese Po-
Vgl. Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 185. Dirk Göttsche: Raabes Realismusverständnis, S. 20.
2.3 Literarische Gestaltung eines kritisch-realistischen Weges
125
sition in einer „Dialektik von Zukunftsorientierung und Vergangenheitssicherung“.³³⁹
2.3 Literarische Gestaltung eines kritisch-realistischen Weges zwischen monochronem und polychronem Zeitverständnis in Abu Telfan Auf die Termini „Monochronie“ und „Polychronie“ trifft man in Ausführungen und Ansätzen, die sich mit soziokulturellen, psychologischen und interkulturellen Problemstellungen von Zeitverhalten und -verständnis auseinandersetzen. Als monochron werden individuelle und kollektive Zeitverständnis und -kultur bezeichnet, bei denen Zeit als ein nicht unbegrenztes kostbares Gut angesehen wird, das gerade deshalb nach strengen Regeln genutzt und „möglichst ökonomisch verwendet werden sollte“,³⁴⁰ indem man es durch eine gewinnbringende Tätigkeit in einen pekuniären Nutzwert verwandelt. Rosa, der die Triebkräfte des Wachstums und der Beschleunigung in den Blick nimmt, erkennt in diesem Zusammenhang den Gedanken „Zeit ist Geld“ als einen gewichtigen Motor.³⁴¹ Die Monochronie, der die Verknappung der Zeitressourcen und demzufolge die Beschleunigung als Zeiterfahrung zugrunde liegt, ist in diesem Zusammenhang ein konstitutives Merkmal von Kulturen, in denen ein hohes Lebenstempo, die Pünktlichkeit und eine minutiöse Planung der Zukunft als geltende Zeitnormen erkennbar sind.³⁴² Gerade diese Zukunftsgerichtetheit, die das Handeln und Denken in monochronen Zeitkulturen vorwiegend charakterisiert, führt zu dem, was Rosa mit Blick auf den Zeitdruck als unmittelbare Konsequenz der Beschleunigungserfahrung das Phänomen der „Gegenwartsschrumpfung“ nennt.³⁴³ In einer polychronen Zeitkultur wird hingegen Zeit als ein unerschöpfliches Gut betrachtet, das nach Belieben genutzt und gar verschwendet werden kann. Im Gegensatz zum monochronen Zeitverständnis, bei dem Zeit eine lineare Ausrichtung hat und wesentlich zukunftsorientiert ist, ist sie im polychronen Zeitverständnis vorwiegend gegenwartsorientiert, was dazu führt, dass hier ganz gelassen und ohne Hektik mit Zeit umgegangen wird. Manche Forscher, die die zeitkulturellen Differenzen zwischen Europa und Afrika zu erfassen bemüht sind,
Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S.102. Olaf Morgenroth: Zeit und Handeln, S. 72. Vgl. Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, S. 203. Vgl. Olaf Morgenroth: Zeit und Handeln, S. 72. Vgl. Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, S. 201.
126
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
beziehen sich auf diese Merkmale, um die europäische Zeitkultur als monochron und die afrikanische als polychron zu charakterisieren.³⁴⁴ Im Roman Abu Telfan zeichnet sich eine räumliche Struktur der heimatlichen Gesellschaft ab, in der zwei unterschiedliche Entitäten zu erkennen sind. Einerseits gibt es den weitgehend dominanten philiströsen Gesellschaftsraum und andererseits die Katzenmühle, einen von Frau Klaudine Fehleysen bewohnten marginalen Zufluchtsort, der sich in vielerlei Hinsicht von seiner philiströsen Umgebung abhebt und abgrenzt. Die diesen Zufluchtsort umgebenden „großen neuen Fabriken hatten längst den Hauptfluß des Wassers für sich in Anspruch genommen“ (BA 7, S. 70), was von den verheerenden ökologischen Folgen einer rasanten Industrialisierung im Sog der globalen Modernisierung zeugt. Die Katzenmühle zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass alles daran gesetzt wird, „um rund um das alte Gemäuer, Gestein und Gebälk und das zerbrochene Radwerk eine Vegetation hervorzubringen und zu erhalten, wie kein Maler sie sich anmutiger, üppiger, frischer und grüner vorstellen konnte“ (BA 7, S. 71). Dieser Differenziertheit der räumlichen Struktur zwischen dem philiströsen Gesellschaftsraum und der Katzenmühle liegen bei näherem Hinsehen differente Verständnisse und Kulturen von Zeit zugrunde. Im Gegensatz zum philiströsen Gesellschaftsraum, der im Zuge einer global rasanten Modernisierungs- und Industrialisierungswelle von wirtschaftlichen Beschleunigungsprozessen ergriffen wird und radikal auf Fortschritt setzt, wird die Katzenmühle dargestellt als ein „Reich der Freiheit, Ruhe und stolzen Gelassenheit“ (BA 7, S. 332), das eher auf geruhsames Leben in einer beschaulichen Natur setzt. Somit ist sie jenen Prozessen und Phänomenen zuzurechnen, „die sich einer Dynamisierung entziehen oder sich ihr sogar aktiv widersetzen, indem sie […] Tendenzen zur Verlangsamung aufweisen“.³⁴⁵ Ihre Bewohnerin Klaudine Fehleysen, die die Katzenmühle nach der Auswanderung der Familie Katzenmüller nach Amerika übernommen hat, zeichnet sich aus durch ein Zeitverhalten, das sich eindeutig von dem herrschenden fortschrittlich angelegten Zeitverhalten der Philister abgrenzt. Seitdem ihr Sohn verschollen ist, hat sie hier Zuflucht gefunden und wartet auf dessen Rückkehr. Mit diesem langen Warten, das „ein […] Zwischenreich zwischen Ver-
Die auf Kollektivphänomene hinweisenden Singularbezeichnungen „europäische Zeitkultur“ und „afrikanische Zeitkultur“ sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keine einheitliche europäische sowie einheitliche afrikanische Zeitkultur gibt. Man sollte eher von europäischen Zeitkulturen und afrikanischen Zeitkulturen sprechen, um manchen Eigentümlichkeiten und Binnendifferenzierungen Rechnung zu tragen. Mit solchen Bezeichnungen wird jedoch vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass afrikanische Zeitkulturen einerseits und europäische Zeitkulturen andererseits jeweils eine gemeinsame Grundstruktur aufweisen. Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, S. 196.
2.3 Literarische Gestaltung eines kritisch-realistischen Weges
127
gangenheit und Zukunft erzeugt“,³⁴⁶ hat sie eine ganz unterschiedliche Wahrnehmung und Erfahrung von Zeit. Zu Hagebucher, der zur Katzenmühle gebracht wird, um Rat zu holen, sagt sie: „Es ist ein schöner Sommer, die Tage sind lang, und man hat volle Zeit, sich allerlei zu überlegen, bis der Herbst in das Land kommt“ (BA 7, S. 78). Dass sie sich der Differenz der Zeitwahrnehmungen zwischen der Katzenmühle und der philiströsen Welt bewusst ist, zeigt sie, wenn sie sagt: „Weiß ich es doch vor Hunderttausenden nur allzu gut, wie es da draußen zugeht und wie bitter, grausam und blutig das Treiben auf den Straßen der Erde ist!“ (BA 7, S. 82) Mit solchen Verhaltensweisen und Vorstellungen, denen einige Grundgedanken einer polychronen Zeitkultur zugrunde liegen, wird „auf diesen Ort […] der Identitätswunsch als humanes Anliegen projiziert“³⁴⁷ und zugleich der philiströsen Sozialwelt eine gewisse Inhumanität attestiert.³⁴⁸ Nicht von ungefähr lässt der Romanautor die Figuren Nikola von Einstein, Wassertreter und Hagebucher an diesem Ort der „Stille“ und „Geduld“ zusammenkommen, wo Frau Klaudine „nicht an dem Zeiger der Uhr rücken“ (BA 7, S. 82) will. Für ihre Bewohner ist die Katzenmühle ein Ort der Zuflucht und des inneren Exils.³⁴⁹ Der Wegebauinspektor Wassertreter ist der Vetter Hagebuchers und der einzige Verwandte, der seine Vorstellungen und Haltungen versteht und teilweise teilt. Im Höhepunkt des Konflikts zwischen Hagebucher und der heimatlichen Gesellschaft hält Wassertreter es für ratsam, den Afrikarückkehrer zu Frau Klaudine zu bringen, damit er sich bei ihr hilfreichen Rat holt, denn seiner Einschätzung nach liegt den Verhaltensweisen der beiden die gleiche Denklinie zugrunde. Bei der Ankunft der beiden Verwandten in der Katzenmühle treffen sie Fräulein Nikola von Einstein. Bei seiner Unterredung mit dieser Frau, die den laufenden Entwicklungen in der philiströsen Gesellschaft offensichtlich misstraut, verleiht der Afrikarückkehrer seiner Schwierigkeit Ausdruck, „sich wieder in der Zivilisation zurechtzufinden“ (BA 7, S. 31), denn „es ist eine so schwere und traurige Arbeit, zum zweiten Mal mit dem Abc des Lebens beginnen zu müssen“ (BA 7, S. 31). Darauf reagiert Nikola von Einstein wie folgt: „Weshalb geben Sie sich die Mühe? […] Ich würde es nicht tun, ich würde bleiben, wie ich wäre; gewiß, gewiß, ich würde eine solche Ausnahmestellung sicherlich nicht wieder austauschen gegen diese erbärmliche, langweilige Routine des europäischen Alltags-
Wolfgang Struck: See- und Mordgeschichten, S. 63. Christian Müller: Subjektkonstituierung in einer kontingenten Welt. Erfahrungen zweier Afrika-Heimkehrer – Gottfried Kellers „Pankraz, der Schmoller“ und Wilhelm Raabes „Abu Telfan“. In: Jahrbuch der Raabe- Gesellschaft 43 (2002), S. 108. Vgl. Christian Müller: Subjektkonstituierung in einer kontingenten Welt. S. 83. Vgl. Ernest Schonfield: Moonstone and „Mondgebirge“, SS. 141 u. 143.
128
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
lebens“ (BA 7, S. 31), das auf „rationell ökonomische Zukunft“ (BA 7, S. 375), d. h. auf rasanten Fortschritt und beschleunigte Modernisierung, ausgerichtet ist. Mit diesen Figuren in der Katzenmühle hat man ein Zusammentreffen „all derjenigen […], die unter den gesellschaftlichen Verhältnissen leiden“.³⁵⁰ Sie sind nahezu Gleichgesinnte, die die von Beschleunigung geprägten wirtschaftlichen Fortschritte der philiströsen Sozialwelt misstrauisch und gar sehr kritisch anschauen. In diesem symbolträchtigen Raum, in dem die Stille, das Herumsitzen, das Schwätzen und das Nichtstun das Zeitverhalten charakterisieren und daher einen gewaltigen Kontrast zum von Zeitdruck und Beschleunigung geprägten wirtschaftlichen Treiben der philiströsen Sozialwelt darstellen, „saßen Leonhard und die Frau Klaudine neben dem offenen Fenster, und keines von beiden merkte, wie das Licht und die Zeit vorübergegangen waren“ (BA 7, S. 83). Angesichts der an diesem Zufluchtsort herrschenden Raum- und Zeitverhältnisse sowie der Wahrnehmungen und Verhaltensformen der sich dort aufhaltenden Figuren gehört die Katzenmühle „sowohl territorial als auch im Hinblick auf bestimmte Handlungsund Praxiszusammenhänge [zu den] Nischen oder Entschleunigungsoasen, die von den akzelerierenden Modernisierungsprozessen bisher ganz […] ausgenommen sind“.³⁵¹ In derartigen „Entschleunigungsoasen“ wird die Qualität des Lebens und der gesellschaftlichen Beziehungen in den Vordergrund gerückt. Der Konflikt zwischen Hagebucher und seinem gesellschaftlichen und familiären Umfeld steht im Mittelpunkt der Gespräche zwischen Hagebucher und Klaudine, deren Verhaltensformen und Wahrnehmungen deutlich auf ein polychrones Zeitverständnis hinweisen, das wie bereits angedeutet konstitutiv ist für die afrikanische Zeitkultur.³⁵² Gerade diese sich vom herrschenden linear-fort-
Daniela Gretz: Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge. In: Dirk Göttsche u. a. (Hgg.): Raabe Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler. 2016, S. 126. Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, S. 196. Hervorhebung im Original. Zur Charakterisierung der europäischen und afrikanischen Zeitkultur benutzt Mbiti nicht die Attribute „monochron“ und „polychron“, sondern spricht seinerseits vielmehr vom „linearen“ und „traditionell afrikanischen“ Zeitbegriff (vgl. S. John. Mbiti: Afrikanische Religion und Weltanschauung. Berlin, New-york: De Gruyter 1974. Hervorhebung im Original). Diese Attribute weisen dennoch auf die gleichen zeitkulturellen Differenzen hin, denn eine monochrone Zeitkultur baut grundsätzlich auf einer linearen Zeitkonzeption auf, während die „traditionell“ afrikanische Zeitkonzeption alle Charakteristika einer polychronen Zeitkultur aufweist. Er schreibt, dass Afrikaner durch ständiges Herumsitzen und Nichtstun ihre eigene Zeit hervorbringen (vgl. S. John Mbiti : Afrikanische Religion und Weltanschauung, S. 24). Er führt weiter aus: „In der westlichen Gesellschaft des technologischen Zeitalters ist Zeit eine Ware, die nach ihrem Nutzwert gekauft oder verkauft wird. Im traditionellen afrikanischen Leben hingegen muss Zeit erzeugt oder erschaffen werden. Der Mensch wird nicht zum Sklaven der Zeit, sondern er ‚erzeugt‘ so viel
2.3 Literarische Gestaltung eines kritisch-realistischen Weges
129
schrittlichen Zeitverständnis der philiströsen Gesellschaft abhebenden Haltungen und Gedanken führen zur Zuspitzung des Konflikts zwischen Hagebucher und seinem familiären und gesellschaftlichen Umfeld. Dieser kurze Aufenthalt Hagebuchers in der Katzenmühle, die ihrer Bewohnerin sowie ihren Besuchern die Möglichkeit bietet, inmitten der vom hektischen prosaischen Treiben geprägten europäischen Zivilisation ihre durch Gelassenheit und Entschleunigung charakterisierten Haltungen deutlicher zu bekräftigen, bestätigt das, was Gretz das selbstauferlegte innere Exil des Afrikarückkehrers nennt.³⁵³ Mit diesem inneren Exil ist Hagebucher bemüht, „seine kritisch- reflexive, distanzierte Haltung zur Philistergesellschaft und sein Streben nach individueller Selbstbehauptung aufrecht zu erhalten“.³⁵⁴ Die Verhältnisse in der Katzenmühle sowie das Handeln und Sprechen mancher Daheimgebliebenen wie etwa Frau Klaudine und Fräulein Nikola legen nahe, dass das bei ihnen erkennbare polychrone Zeitverhalten als resistente Haltung gegenüber den Prozessen, die den laufenden sozio-ökonomischen Fortschritt anregen wie etwa Modernisierung und Industrialisierung, zu verstehen ist. Ein derartiges Zeitverhalten ist im epochalen Kontext, der weitgehend von der modernen Zeitkultur geprägt ist, eindeutig unvereinbar mit Beschleunigung als Signum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus suggeriert die oben dargestellte Konstellation, dass das polychrone Zeitverhalten bzw. -verständnis u. a. den bewussten Strategien zuzurechnen ist, mit denen man manchen Beschleunigungsprozessen entgegentreten kann. Rosa, der den Beweggrund von solchen bewussten und intentionalen Kräften des Widerstandes zu erfassen bemüht ist, ³⁵⁵ versteht diese Bestrebungen als „Reaktionen auf den Beschleunigungsdruck und seine Folgewirkungen“.³⁵⁶ Derartige Wahrnehmungs- und Haltungsmuster, die auf fortschrittsskeptische Haltungen und Gedanken hinweisen, können möglicherweise von dem medialen Afrikadiskurs der Epoche beeinflusst werden. In diesem zirkulieren zwar zahlreiche Vorurteile und Stereotype über den afrikanischen Kontinent,
Zeit wie er braucht. Wenn Ausländer, insbesondere solche aus Europa oder aus Amerika, nach Afrika kommen und sehen, wie Leute herumsitzen, scheinbar ohne irgendwas zu tun, bemerken sie oft: ‚Die Afrikaner vergeuden ihre Zeit, indem sie müßig herumsitzen!‘ Die Leute, die man herumsitzen sieht, sind in Wirklichkeit nicht dabei, Zeit zu vergeuden, sondern sie warten auf die Zeit, oder sie sind im Begriff, Zeit zu ‚erzeugen‘“ (vgl. S. John Mbiti : Afrikanische Religion und Weltanschauung, S. 24). Vgl. Daniela Gretz: Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge, S. 129. Daniela Gretz: Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge, S. 129. Vgl. Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, S. 196 f. Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, S. 200.
130
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
doch entsprechend manchen zivilisationskritischen Zügen, die sich durch solche exotistischen Diskurse aus den Zeitschriftentexten ziehen, wird oft über das andere ruhige Leben dort in einer angeblich unversehrt gebliebenen und naturschönen Umwelt berichtet. Die Handlung ist so strukturiert, dass man einen gewissen Zusammenhang zwischen der Schärfung der kritisch-distanzierten Sicht Hagebuchers, die sich u. a. in seinem resistenten Verhalten manifestiert, und dessen Afrikaaufenthalt herstellen kann. Darüber hinaus scheint die philiströse Gesellschaft selbst die aus ihrer Sicht Radikalisierung der antibürgerlichen Verhaltens- und Wahrnehmungsformen Hagebuchers in Zusammenhang mit seinem Afrikaaufenthalt zu bringen, obwohl, wie die Analyse der Verhältnisse in der Katzenmühle zeigt, dieses resistente Bewusstsein auch bei manchen Daheimgebliebenen wie etwa Klaudine doch schon erkennbar ist. Dieses von der philiströsen Gesellschaft als typisch-afrikanisch angesehene Zeitverhalten und -verständnis Hagebuchers gehört zu diesen antibürgerlichen Verhaltens- und Wahrnehmungsformen, die den Konflikt zwischen ihm und seinem gesellschaftlichen Umfeld weitgehend verschärfen. In der Romanhandlung gibt es zwei Momente, an denen sich die zeitkulturelle Differenz als Grund des Konflikts zwischen dem Afrikarückkehrer Hagebucher und seinem gesellschaftlichen Umfeld am deutlichsten manifestiert. Das erste Moment betrifft die Wertung seines elfjährigen Aufenthalts in Afrika. Gleich nach der Rückkehr Hagebuchers machen seine Familie und die Nippenburger Gesellschaft aus ihrer Enttäuschung über die Zeit, die ihr Sohn in Afrika zugebracht hat, keinen Hehl. Aus ihrer Sicht hat Hagebucher diese elf Jahre in Abu Telfan deshalb vergeudet und verschwendet, weil er genauso arm heimgekehrt ist, wie er die Heimat verlassen hatte. Zwei Konfigurationen hätten ihnen Genugtuung verschaffen können. Die erste ist, dass Hagebucher wie manche deutschen Wissenschaftler der Epoche in Afrika als verschollen erklärt würde (siehe hierzu Kap. 3.2), worauf die kleinbürgerliche provinzielle Gemeinschaft stolzer gewesen wäre. Die zweite ist, dass er mit Reichtümern heimgekehrt wäre, was dazu geführt hätte, dass sie seine verbrachte Zeit in Afrika zu schätzen gewusst hätten. Der Erzähler, der über die Erwartungen und besonders die Enttäuschungen des Nippenburger Spießbürgertums über Hagebuchers Nutzung seiner elfjährigen Aufenthaltszeit in Afrika berichtet, sagt: Nun wußte die Welt bereits, daß der Sohn des Steuerinspektors Hagebucher als ein armer Mann aus der Fremde heimgekehrt sei, und die wundervollen Illusionen, welche sich Nippenburg gemacht hatte, waren schnell in ihr Gegenteil umgeschlagen, und man teilte einander unter bedächtigem Kopfschütteln mit, daß ein Vagabond in alle Ewigkeit ein Vagabond bleiben werde und daß es vielleicht um vieles besser gewesen wäre, wenn die Mohren dahinten am Äquator den unnützen Menschen bei sich behalten hätten. In der Kiste, welche
2.3 Literarische Gestaltung eines kritisch-realistischen Weges
131
dem armen Leonhard auf einem Schubkarren gen Bumsdorf nachgefahren worden war, befanden sich keine Säcke voll Diamanten und Perlen, keine Schachteln voll Goldstaub, sondern höchstens einige afrikanische Merkwürdigkeiten zum Andenken für die näheren Freunde und Verwandten. Herr Leonhard Hagebucher konnte aus dem Inhalt dieses Reisekastens keine Villa bauen und nicht nunmehr im Schatten seines Parkes, an seinem eigenen Herde und in der Gesellschaft eines liebenden Weibes aus den besseren Ständen seine Tage verbringen. Keine Nippenburger Mutter hätte einem solchen in der Luft stehenden Individuum ihre Tochter zur Ehe gegeben (BA 7, S. 39).
Bei dieser Schilderung der Enttäuschungen und Ressentiments der Nippenburger wird der Akzent mehrfach auf manche Zuschreibungen zur Charakterisierung des Afrikarückkehrers gelegt. Er wird in diesem Zusammenhang als der „Vagabond“ gesehen, der seine Zeit mit unnützem Streifen durch zahlreiche Länder der Welt bis in den mit Naturreichtümern angefüllten Afrikaraum zugebracht hat und entgegen den Erwartungen und Hoffnungen der Nippenburger mit leeren Händen nach Europa zurückkehrt. Die Reaktionen der Nippenburger, die „den Mann aus dem Tumurkielande kurzweg für einen Lumpen“ (BA 7, S. 97) oder für einen „Phantast[en] [und] Landläufer“ (BA 7, S. 101) halten, weisen darauf hin, dass sie seine in der afrikanischen Fremde zugebrachte Zeit vornehmlich nach dem Kriterium ihres materiellen Nutzwertes beurteilen. Hagebucher „zählt [aber] nicht zu denjenigen, die ihr Glück in der Fremde versucht haben und darauf die Früchte ihres materiellen Erfolgs am heimatlichen Herd genießen“,³⁵⁷ nachdem sie ihre Zeit vornehmlich der Akkumulation der materiellen Güter gewidmet haben. Hagebucher findet hingegen ausdrücklich größere Genugtuung in seiner Aufenthaltszeit in der afrikanischen Fremde und zeigt trotzdem Verständnis für die Haltung seines familiären und gesellschaftlichen Umfelds. Deshalb sagt er: „Ich habe nichts heimgebracht aus der Fremde, halte es aber auch für kein Wunder, daß die Heimat gar nicht daran glaubt, eine solche Tatsache gar nicht fassen kann“ (BA 7, S. 90 f.). Mit dieser Zeit verknüpft er bewundernswerte Erlebnisse, deren Wert aus seiner Sicht weit über dem Materiellen liegt. Am wichtigsten in seinen Augen sind die unzähligen geistigen Reichtümer sowie das Humane, die er seinen anthropologischen und ethnographischen Erfahrungen abgewonnen hat und die er mit seiner Aufenthaltszeit in Afrika verknüpft. Das zweite Moment der Romanhandlung, in dem diese Differenz der Zeitkonzeptionen offensichtlich zur Verschärfung der Verstimmung zwischen Hagebucher und seinem gesellschaftlichen Umfeld führt, betrifft die Frage der Integration oder Re-Integration Hagebuchers in die heimatliche Gesellschaft.
lan Corkhill: Konstruktionen des Glücks bei Raabe. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 52 (2011), S. 77.
132
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
Nachdem der „Vagabond“, „Phantast“, „Landläufer“ und „afrikanische Taugenichts“ (BA 7, S. 48) Hagebucher aus der Sicht seiner Verwandten und der Nippenburger Gesellschaft eine Menge Zeit in Afrika vergeudet hat, soll er wieder ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft werden, indem er einen Beruf ergreift, mit dem er seinen Lebensunterhalt bestreitet und vor allem eine bessere Zukunft für sich selbst gestaltet. Demzufolge soll „dieser afrikanische Fremdling zu manchem nützlichen oder pekuniären Gewinn“ (BA 7, S. 288) gezwungen werden. Aus der Sicht der philiströsen Gesellschaft hat Hagebucher „doch niemals einen Begriff davon gehabt, wie ein verständiger Mann für sein Glück und sein Wohlbehagen sorgt“ (BA 7, S. 312). Bei näherem Hinsehen stehen im Mittelpunkt dieser Voraussetzung zur ReIntegration Hagebuchers in die heimatliche Gemeinschaft eine effiziente Zeitnutzung und eine Zeitorientierung an der Zukunft in einer spießbürgerlichen Gesellschaft, die das Leistungsethos zur allgemeingültigen Lebensregel erhoben und die gesellschaftliche Anerkennung vom sozialen Status des Einzelnen abhängig gemacht hat. Gesellschaftlicher und individueller Fortschritt und die damit zusammenhängenden Folgeerscheinungen wie etwa beschleunigter sozialer Wandel und beschleunigtes individuelles Lebenstempo³⁵⁸ sind hier übergeordnete Ziele. Eine Wiedereingliederung in eine spießbürgerliche Gesellschaft, die im Prozess ihrer Modernisierung ihre Strukturen immer mehr auf den Prinzipien einer linearen Zeitkultur aufbaut, setzt also voraus, dass der Afrikarückkehrer zum einen seine Zeit in eine Tätigkeit investiert, die ihm genug Einkommen zur Bestreitung seines Lebensunterhalts bringt, und zum anderen, dass er seine gegenwärtige Zeit vornehmlich der Gestaltung einer besseren und sicheren Zukunft widmet. Er soll, so der Beschluss des Familienrates, der über seine Zukunft berät, sich dringend „als Ratsschreiber aus der Nichtsnutzigkeit hinüber [auf] die wünschenswerte Respektabilität“ (BA 7, S. 43) emporarbeiten. Dieser Beschluss entspricht überhaupt nicht der Sichtweise Hagebuchers, der sich dem „Zeitdruck“ entziehen will, der „von vielen Angehörigen individualistisch ausgerichteter Kulturen empfunden“³⁵⁹ wird. Auf den Rat mancher Verwandten, er soll den Anforderungen der Gesellschaft Folge leisten und nicht mehr „in der Vagabondage, und Unreellität und sonstigen Phantasterei“ (BA 7, S. 41) leben, reagiert er wie folgt: „Jetzt habe ich des guten Rates genug; ich will nichts mehr hören, sondern meine Tage zerklopfen wie den Basalt an Euren Landstraßen, und Eure
Vgl. Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, S. 191– 195. Meggy Kantert: Als Gott die Welt erschuf, gab er den Afrikanern die Zeit und den Europäern eine Uhr. In: Daniela Eberhardt (Hg.): Unternehmenskultur aktiv gestalten: Praxisfälle aus Wirtschaft, öffentlichem Dienst, Kultur & Sport. Berlin, Heidelberg: Springer 2013, S. 192.
2.3 Literarische Gestaltung eines kritisch-realistischen Weges
133
Zivilisation mag über meine Gedanken und Hirngespinste weggehen und -fahren, was kummert’s mich“ (BA 7, S. 76). Hagebucher lässt sich offensichtlich jenen Heimkehrern zuordnen, „die ‚körperlich‘ zurückgekehrt sind, leben mitunter weiter in einem ‚inneren‘ Exil, verweigern sich der Inanspruchnahme durch ihre Heimat, gehen manchmal sogar in Opposition zu dieser“.³⁶⁰ Dem gesellschaftlichen „Glück“, dessen Voraussetzung im philiströsen Sinne eine pekuniäre Nutzung der Zeit ist, möchte der Afrikarückkehrer Ruhe und Gelassenheit entgegensetzen. Das Nippenburger Spießbürgertum wirft dem Afrikarückkehrer Hagebucher eine aus seiner Sicht destruktive Angewöhnung an eine Zeitkultur vor, die keinem fortschrittlichen Denken förderlich und daher unzeitgemäß sei. Manche Verwandten und Angehörigen bringen das Handeln und Denken des Heimkehrers in Zusammenhang mit dessen Afrikaaufenthalt. Die folgende Reaktion von Tante Schnödler gibt darüber Aufschluss: Ich aber sage, daß wir hier in Nippenburg nicht im afrikanischen Mohrenlande leben und daß kein Mensch es prätendieren kann, daß wir uns in die Mohren schicken; sondern die Mohren werden sich in uns schicken müssen, wenn sie mit uns hausen wollen. Ratsschreiber zu Nippenburg (BA 7, S. 44).
Genauso wie Tante Schnödler sind viele andere Nippenburger darüber entsetzt, wie der Afrikarückkehrer Hageburger in einer von Fortschritt, Leistungsethos und Aufstieg sowie deren zeitkulturellen Begleiterscheinungen wie etwa Beschleunigung und Zeitdruck charakterisierten Gesellschaft mit dem aus ihrer Sicht kostbaren Gut „Zeit“ verschwenderisch umgeht. Diese Reaktion der philiströsen Gesellschaft, die wie bereits erwähnt im Verhalten und Denken Hagebuchers manche Einflüsse seines Afrikaaufenthalts sieht und somit afrikanischen Denkund Verhaltensmustern Fortschritt hindernde Kräfte unterstellt, kann aus postkolonialer Perspektive als eurozentrische Sicht des westlichen Denkens interpretiert werden. Mit dieser eurozentrischen Sicht auf manche afrikanischen Wahrnehmungsmuster und Verhaltensformen übersieht dieses westliche Denken alle nicht-pekuniären und nicht-materiellen Werte dieser anderen Art und Weise zu denken und zu handeln. Hinz fragt in diesem Zusammenhang, „ob die[se] Überheblichkeit westlichen Denkens nicht [deshalb] den humanen Eigenwert dieses anderen Zeitverständnisses übersieht“,³⁶¹ weil es seinen Fokus wesentlich auf den pekuniären Wert der Zeit gerichtet hat.
Kai Marcel Sicks und Sünne Juterczenka: Die Schwelle der Heimkehr. Einleitung, S. 23. Andreas Hinz: Zeit als Bildungsaufgabe in theologischer Perspektive, S. 157.
134
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
Nach langem Trotz gegen seine Anpassung an die herrschenden Denkschemata und Verhaltensnormen, d. h. gegen seine Wiedereingliederung in diese „rationell geordnete Gewöhnlichkeit“ (BA 7, S. 189) der philiströsen Gesellschaft, weicht Hagebucher dem Druck seines familiären und gesellschaftlichen Umfelds, indem er doch vielmehr aus Resignation und keinesfalls aus Überzeugung Ratsschreiber zu Nippenburg wird.³⁶² Diese erzwungene Entscheidung, aus seiner „Phantasterei“ und seinem Müßiggang auszusteigen und seine Zeit jetzt konkret in eine pekuniäre Tätigkeit zu investieren und somit an der Gestaltung seiner Zukunft mitzuwirken, soll aber die kritische Geste seiner Denk- und Handlungsweisen nicht übersehen lassen. In ihnen zeichnet sich „die Entstehung eines individuellen zeitkritischen Bewusstseins mit dem Entwurf einer anderen Sozialität und Moral“³⁶³ ab, bei denen Zeit nicht nur deshalb einen Wert haben soll, weil sie einen pekuniären, materiellen und sozialen Mehrwert bringt. Dass Raabe die Romanhandlung so konfiguriert, dass die Re-Integration des Afrikarückkehrers Hagebucher ungeachtet seiner kritischen Denk- und Handlungsweisen oder „nur teilweise beziehungsweise um den Preis der Resignation“³⁶⁴ erfolgt, zeigt, dass der Romanautor die kritische Dimension in diesem offensichtlich realistischen Tableau überbetont. Über die zwei oben angesprochenen Momente hinaus zeichnet sich Hagebucher in der Romanhandlung durchweg durch ein ausgesprochenes Geschichtsbewusstsein aus, das sich an seinem großen Interesse an vergangenen Ereignissen und Entwicklungen erkennen lässt. Seine Schwärmerei für historische Entwicklungen mancher ethnologischen und anthropologischen Sachverhalte in Afrika zum einen sowie seine intensive Auseinandersetzung mit vergangenen Ereignissen in Europa zum anderen sind hinreichende Anzeichen dafür, dass er vielmehr ein vergangenheitsorientiertes Subjekt in einem an Zukunft ausgerichteten Milieu ist. Der Erzähler, der über diesen zweiten Aspekt berichtet, sagt: Leonhard erzählte nun ausführlich von seiner Hamsterexistenz und dem ersprießlichsten Kursus allermodernster Weltweisheit, den er augenblicklich gleichsam unter der Erde durchmachte. Er berichtete, wie er krebsartig politische und literarische Zeitungen und Journale bis zum Jahr achtzehnhundertundfünfzig rückwärts durchwandele und unermeßlichen Nutzen davon habe. Dunkle verworrene Sagen, wie zum Exempel die von jenem Feldzuge der Westeuropäer auf Tauris und der Belagerung der Stadt Sebastopol, löse er leicht mit allen Wurzeln aus der Nacht der Zeiten, um mit Vergnügen und Behagen das Resultat
Vgl. Lucas M. Gisi: Barbaren, Kinder und Idioten. Von Wilhelm Raabes „Abu Telfan“ und „Altershausen“ zu Robert Walsers „Jakob von Gunten“. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 55 (2014), S. 114. Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, S. 47. Lucas M. Gisi: Barbaren, Kinder und Idioten, S. 114.
2.3 Literarische Gestaltung eines kritisch-realistischen Weges
135
seiner Forschung seinen übrigen Kollektaneen anzureihen. Es sei wunderbar, meinte er, was alles geschehen und von den Leuten vergessen werden könne (BA 7, S. 125 f.).
In diesem Bericht wird deutlich, dass Hagebucher mehr Wert auf die Geschichte und deren immateriellen Reichtum legt, was sein Denken und Handeln mehrfach beeinflusst, denn „[j]ede Wissenschaft […], jede Technik war über ihn hinausgeschritten“ (BA 7, S. 40). Mit seinem rückwärtsorientierten Gedankengut, das von seinem Geschichtsbewusstsein zeugt, distanziert er sich von den vom vorwärtsorientierten Denken und Handeln geprägten Fortschrittsprinzipien der europäischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dieses tiefe Geschichtsbewusstsein bekräftigt seine Vergangenheitsorientierung und spiegelt sein polychrones Zeitverhalten als kritische Reaktion auf das weitgehend von Beschleunigung und Zukunftsgerichtetheit geprägte monochrone Zeitverhalten der Philistergesellschaft. Göttsche sieht zu Recht in dieser Konstellation eine kritische Sicht des Autors Raabe auf die epochalen Beschleunigungsprozesse, die den Blick des Einzelnen verkürzen, indem sie ihn von geschichtlichen Belangen abwenden.³⁶⁵ Hierzu schreibt er: „[Raabe] parodiert […] in Hagebuchers geistiger ‚Hamsterexistenz‘ stattdessen das verkürzende […] Bildungsverständnis des 19. Jahrhunderts und kritisiert […] das mangelnde Geschichtsbewusstsein der sechziger Jahre und die Entwertung der Bildung im beschleunigten Informationsumsatz einer modernen Öffentlichkeit“.³⁶⁶ Diese moderne Öffentlichkeit stand weitgehend unter dem Einfluss einer dynamischen Medienwelt, die mit deren populärwissenschaftlichen, wissenschaftlichen und literarischen Diskursen aus und über alle Teile der Welt eine beschleunigte kulturelle Mobilität sowie eine zunehmende „Referenzverdichtung“ im epochalen Kontext der Verflechtung der Welt möglich machte. Osterhammel, der mit dem Begriff „Referenzverdichtung“ manche kulturellen Verflechtungsprozesse der Welt im 19. Jahrhundert zu erfassen vermag, spricht von einer „Beschleunigung aller Formen von Zirkulation“³⁶⁷ dank den Verdiensten von „technologischen Erfindungen wie etwa dem Telegraph“,³⁶⁸ der mit der Eisenbahn und dem Schiff die prägnantesten Symbole der Beschleunigungserfahrung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellen.
Vgl. Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, S. 67. Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, S. 67. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 1291. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 1291.
136
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen als kritische Auseinandersetzung mit Zeitverhältnissen Bei Raabe ist ein breites Spektrum an Symbolen, die Geertz als „die gegenständlichen Vehikel des Denkens“³⁶⁹ bestimmt, zu erkennen. Ihr Stellenwert als höchst expressive textkonstituierende und -strukturierende Elemente für das Gestalten von Motivik und Thematik in seinem Werk ist unverkennbar. Die Meinung Martinis, Symbolbezüge und metaphorische Sinnbilder seien in sich mehrsinnig vage und forciert,³⁷⁰ mag bezüglich des von ihm behandelten Themas der Amerikavorstellungen begründbar sein. Diese trifft jedoch nicht auf alle Themenschwerpunkte zu, denn was die Globalisierungsthematik anbetrifft, erhält diese Symbolik einen prägnant gestalterischen und gar diskursiven Stellenwert, der sich im starken Einsatz der für Globalisierungsprozesse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als revolutionär angesehenen technischen Entwicklungen spiegelt. Die sich daraus ergebenden technischen Erfindungen und Fortschritte machen die technische Beschleunigung als wichtige Dimension der kulturellen Erfahrung von Modernisierung erfahrbar.³⁷¹ Als Instrumente der Kommunikation und des Verkehrs spielen Telegraph, Eisenbahn und Schiff eine entscheidende Rolle für „die Bildung weltumspannender Netze“,³⁷² die zu den bedeutendsten diskursiven Figurationen von Globalisierung gehören. Dass in manchen epochalen Diskursen die Wirkungen des Telegraphen, des Schiffes und der Eisenbahn, die die Welt verflechten, erkannt und eingesehen werden, zeigt der folgende Auszug aus einer Zeitschrift der Epoche:
Clifford Geertz: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, S. 136. Vgl. Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer. Amerikaspiegelungen im Erzählwerk von Keller, Raabe und Fontane. In: Bauschinger u.a (Hgg.): Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt – Nordamerika – USA. Stuttgart: Reclam 1975, S. 188 f. Vgl. Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, S.190 f. Rosa, der sich mit verschiedenen Aspekten der Beschleunigung als einschneidender Erfahrung von Modernisierung auseinandersetzt, differenziert zwischen „technischer Beschleunigung“, „Beschleunigung des sozialen Wandels“ und „Beschleunigung des individuellen Lebenstempos“. Zur ersten Dimension führt er aus: „Technische Beschleunigung lässt sich definieren als die intentionale Steigerung der Geschwindigkeit zielgerichteter Prozesse; sie bezeichnet damit in erster Linie die technische und technologische (also maschinelle) Erhöhung des Tempos, mit dem sich Transport-, Kommunikations- und Produktionsprozesse realisieren lassen“ (Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, S.190). Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 1011.
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
137
Die Unterschiede von Raum und Zeit gleichen sich heute bei dem Spiel des Telegraphen aus, der von einem Pol des Planeten zu dem anderen zuckt. Blitzesschnell eilt das Hochland auf den Flügeln des Dampfes zu der Tiefebene; der Weltenverkehr pulsirt rastlos durch das eiserne Geäder, das sein Netz um Land und Volk, um Meer und Ocean spinnt.³⁷³
Zu Recht betont Brenner in Anlehnung an Plessner, dass technische Entwicklungen des 19. Jahrhunderts eine Veränderung der alltäglichen Umwelt in einer bisher nicht gekannten Schnelligkeit bewirkt und somit zeittypische Beschleunigungsprozesse sinnlich erfahrbar gemacht haben.³⁷⁴ Man kann sich hier auf eine der Grundannahmen des New Historicism stützen, die Lehnert folgenderweise formuliert: „[Indem] Literatur die (Zeichen der) Welt in literarischen Zeichen symbolisch repräsentiert, […] macht sie erfahrbar und über die Zeiten hinweg kommunizierbar, was die jeweilige Kultur, in der sie entstanden ist, beschäftigt“.³⁷⁵ Kultur wird in diesem Zusammenhang verstanden werden als „ein System von […] Symbolen […], die in mehr oder weniger allen alltäglichen und außeralltäglichen Beziehungen beständig und unveränderlich ‚anwesend‘ sind“.³⁷⁶ Davon ausgehend wird in den nachfolgenden Analysen gezeigt, dass die Aufnahme der metaphorischen Symbole Telegraph, Eisenbahn und Schiff in die Texte Raabes kulturtechnische Fragen aufwirft, die die Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigte. Unter diesen Fragen nimmt die für die Globalisierungsthematik sowie für die Erfassung der epochalen Kultur konstitutive Frage der Zeiterfahrungen eine wichtige Stellung ein. Wie bereits am Anfang dieses Kapitels in Anlehnung an die Ausführungen von Grabes et al. erwähnt, birgt eine kulturell-historisch ausgerichtete Studie von Metaphern ein hohes mentalitätsgeschichtliches Erkenntnispotential in sich. Diese Erkenntnis bringen die Autoren deutlich zum Ausdruck, wenn sie schreiben: One might even […] suggest that, since metaphors are deeply entrenched in the cultural discourses of their age, the study of metaphors can give us insight into those habits and struc-
[Anonym]: [Rezension zu] Geographische Wanderungen von Karl Andree. In: Westermanns Monatshefte 6 (1859), S. 337. Vgl. Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt, S. 37. Gertrud Lehnert: Kulturwissenschaft als Gespräch mit den Toten? Der New Historicism. In: Iris Därmann und Christoph Jamme (Hgg.): Kulturwissenschaften: Konzepte, Theorien, Autoren. München: Wilhelm Fink 2007, S. 112. H. Medick: „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte. In: A. Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte, S. 63.
138
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
tures of thought, feeling, and ideas that Foucault christened the episteme and that is the object of the history of mentalities.³⁷⁷
Telegraphen sowie durch den Dampfmotor angetriebene Eisenbahnen und Schiffe werden in der Fachliteratur nicht nur in technischer, sondern auch in kultureller Hinsicht als einschneidende Motoren der Globalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dargestellt.³⁷⁸ In diskursanalytischer Hinsicht kann man ihnen historisch-kulturelle Dimensionen von „Kollektivsymbolen“ zuerkennen. „Unter Kollektivsymbolen“ sind, so Link, „Sinn-Bilder (komplexe, ikonische, motivierte Zeichen) [zu] verstehen, deren kollektive Verankerung sich aus ihrer sozialhistorischen, z. B. technohistorischen Relevanz ergibt, und die gleichermaßen metaphorisch wie repräsentativ-synekdochisch verwendbar sind“.³⁷⁹ Die Eisenbahn, der Telegraph und das Schiff als kulturelle und gesellschaftliche Praktiken revolutionierende technologische Errungenschaften des industriellen Zeitalters können daher als „Kollektivsymbole“ betrachtet werden, deren Analyse Aufschluss über herrschende Sinndeutungs-, Erfahrungs- und Wahrnehmungsmuster soziokultureller Phänomene wie etwa Zeit geben kann. In dieser Studie, die populärwissenschaftliche Texte mit einbezieht, um Berührungspunkte zwischen den Texten Raabes und dem zeitgenössischen Alltagsdiskurs herauszustellen, ist die Analyse solcher Kollektivsymbole, denen Link eine interdiskursive Funktion zuschreibt,³⁸⁰ sehr wichtig. In ihnen können sich Interferenzen und
Herbert Grabes, Ansgar Nünning und Sibylle Baumbach: Metaphors as a Way of Worldmaking, S. xx. In epochalen Diskursen lässt sich das Bewusstsein aufspüren, dass die Entdeckung des Dampfmotors Globalisierungsprozesse beschleunigt und die Wahrnehmung der Zeit radikal verändert hat. In einem 1853 veröffentlichten anonymen Brief an seinen Bruder schreibt ein nach Amerika Ausgewanderter über den rasanten Fortschritt Kaliforniens: „Californien, das zweite große Goldgefilde, das nach der Entdeckung Amerikas entdeckt worden ist, ist ein Land der Wunder und des Fortschritts. Noch im Anfange dieses Jahrhunderts gehörten mehrere Menschenalter dazu, um eine Stadt oder wohl gar einen Staat zu gründen. Aber auf den Rädern der Dampfkraft geht der Wagen der Industrie so schnell, als Jahrhunderte zu Jahren, Jahre zu Tagen werden, zumal seit der Dampf zugleich die entferntesten Erdtheile in die bequemste und schnellste Verbindung bringt. England und Amerika legten auf diesen Dampfrädern während des letzten Vierteljahrhunderts einen Weg zurück, wozu früher drei ganze Jahrhunderte nicht gereicht haben würden“ ([Anonym]: Das glückliche Thal. In: Die Gartenlaube 17 (1853), S. 180). Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik“. In: Jürgen Fohrmann und Harro Müller (Hgg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt/M: Suhrkamp 1988, S. 286. Hervorhebungen im Original. Vgl. Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 288 f.
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
139
Berührungen verdichten, die gleichzeitig den Alltags- und den Spezialdiskurs charakterisieren.³⁸¹ Angesichts der historisch-kulturwissenschaftlichen Analyseperspektive der vorliegenden Studie, in der epochale Globalisierungsphänomene als geschichtliche Kulturerscheinungen betrachtet werden, über die durch nicht-literarische und literarische Texte Diskurse produziert werden, ist eine Auseinandersetzung mit solchen Symbolen von gewichtiger Bedeutung. Sie stellen also zeitgenössische materielle Hervorbringungen dar, auf die sich manche immateriellen, d. h. ideellen Hervorbringungen der Epoche verdichten. Auf diese Weise können Deutungs- und Erfahrungsmuster sowie Wahrnehmungsformen der epochalen Wirklichkeit ans Licht gebracht werden. Diese können durch ein globalisierungsrelevantes Symbolsystem ermittelt werden, das in Raabes Werk zum Tragen kommt. Dass globalisierungsrelevante Symbole in Raabes Heimkehrertexten mehrfach zur Gestaltung kommen, zeigt auf, wie er sich anhand dieser Metaphern intensiv an Raum- und Zeitphänomenen abarbeitet, die auf Verflechtungsprozesse hinweisen. Heßler, die sich mit der historischen Entwicklung der „technischen Kultur“ des 19. und 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, betont in diesem Sinne, dass menschliche Handlungen, Praktiken, Erfahrungen und Wahrnehmungen von Raum und Zeit eine technische Konstituiertheit besitzen.³⁸² Dementsprechend können sie durch das Verhältnis des Menschen zur Technik analysiert und erfasst werden. Unter diesen Symbolen, die über diese „technische Kultur“ der Epoche Aufschluss geben können, nimmt der Telegraph, mittels dessen die globale gleichzeitige Kommunikation inszeniert wird, eine bedeutende Stellung ein.
2.4.1 Der Telegraph als literarisches Symbol zur Stilisierung der globalen Gleichzeitigkeit Bereits in seinem Frühwerk, das der Forschungsliteratur zufolge aus Romantexten der Wolfenbütteler Periode besteht und das manche Forscher wie etwa Göttsche im Zeichen der Suche nach seinem „eigenen Weg“ realistischen Erzählens verstehen,³⁸³ gibt es Handlungskonstellationen und Motivstrukturen, die um epochenmachende technische Erfindungen wie etwa den Telegraphen kreisen. Ex-
Vgl. Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 288 f. Vgl. Matina Heßler: Kulturgeschichte der Technik, S. 9. Vgl. Dirk Göttsche: Raabes Erzählungen und Romane, S. 122 – 125.
140
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
emplarisch hierfür steht Die Kinder von Finkenrode, ein 1859 erschienener Roman, in dem Raabe das für sein Zeitromanwerk charakteristische Rückkehrmotiv eröffnet. Mithilfe dieses Motivs wird die Figur des Heimkehrers bei Raabe als Instanz zur literarischen Inszenierung der inzwischen in den provinziellen Raum eingebrochenen epochentypischen Informations- und Kommunikationstechnologien und der damit zusammenhängenden kulturellen Modernisierungen funktionalisiert. Dank dieser Technologisierung und Modernisierung wird nicht nur die Provinz mit der Welt oder das Lokale mit dem Globalen vernetzt, sondern auch eine Gleichzeitigkeit zwischen den beiden Komponenten hergestellt. Diese kommt zustande dank der diesen Technologien innewohnenden Beschleunigung, die die räumliche Entfernung vernichtet. In einer Szene der Handlung des Textes Die Kinder von Finkenrode sagt Doktor Theobul Weitenweber, Redakteur der Zeitung „Kamäleon“: „Eines Tages renkten sich die Telegraphen auf den umliegenden Höhen fast die Arme aus […] wie ein flügellahmer Vogel“ (BA 2, S. 177). Zum einen ist es kein Zufall, dass Raabe einem Redakteur dieses Wort mehrmals in den Mund legt, denn als revolutionäre Erfindung der Epoche hat der Telegraph am meisten das Nachrichtenwesen geprägt³⁸⁴ und das Zeitkonzept einschneidend verändert.³⁸⁵ Zum anderen zeichnet sich in der Aussage Weitenwebers eine für die Raumschrumpfung und Erdumspannung bedeutende Metapher ab, nämlich die der sich auf den Höhen auf weitem Raum ausstreckenden Arme wie ein „flügellahmer Vogel“, was eine zeitliche Überwindung der Entfernungen anschaulicher macht. Auf solche symbolträchtigen Assoziationen, die für die Repräsentationen des Telegraphen in der epochalen Mentalität konstitutiv sind, trifft man sehr oft in der Diskurswelt mancher Zeitschriften. Über „Telegraph Street“, die große Zentralstation des englischen Telegraphenwesens, heißt es in einem Artikel: „T. S. streckt seine Zweige nach allen Richtungen aus“.³⁸⁶ Dass die Telegraphie ab den 1850er Jahren dank ihren Leistungen im Nachrichtenwesen weitestgehend zur Stärkung des Bewusstseins einer immer näher zusammenrückenden Welt beigetragen hat, betont Wendt: „Nachrichtenagenturen wie Reuters in London, Havas in Paris oder das Wolffsche Telegraphenbüro in Berlin vermittelten Informationen mit bislang
Wendorff zeigt in einer treffenden Analyse, wie der Telegraph weitgehend zum Entstehen einer dynamischen massenmedialen Welt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beigetragen hat. Dass die Zahl der Zeitschriften in deutscher Sprache von 700 im Jahre 1850 auf 2000 im Jahre 1875 stieg, ist darauf zurückzuführen, dass mit der dem Telegraphen innewohnenden Informations-Gleichzeitigkeit eine weltweite Ausbreitung aller wichtigen Nachrichten in Sekundenbruchteilen erzielt wurde (vgl. Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, S. 418). Vgl. Matina Heßler: Kulturgeschichte der Technik, S. 18. [S.]: Die weltverbindende Chiffre. In: Die Gartenlaube 27 (1871), S. 448.
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
141
ungekannter Schnelligkeit an die Presse. Die Welt rückte näher“.³⁸⁷ Die anhand der technischen Innovation Telegraphie ermöglichte Erfahrung der Gleichzeitigkeit der weltweiten Informationsverbreitung stärkte bei jedem Zeitgenossen das Bewusstsein, Teil des globalen Ganzen zu sein. In Prinzessin Fisch kommt das literarische Symbol Telegraph zur Gestaltung in einer Konstellation, die auch eng mit den Nachrichten verbunden ist. Aber hier handelt es sich vielmehr um die beschleunigte Verbreitung privater Nachrichten, was dennoch die Wahrnehmung und Erfahrung der Beschleunigung stärker macht, denn sie stehen in engem Bezug zum Alltagsleben. In einem Brief teilt Florine Drüding, die Tochter von Prof. Dr. Drüding, der Hauptgestalt Theodor mit, dass „seine“ Prinzessin Fisch, Frau Romana, von seinem Bruder entführt worden ist und niemand weiß, wo die beiden zu finden sind: Der Herr Kriegszahlmeister hat schon überall hintelegraphieren lassen, denn seit diesem Sommer kann man das schon von Ilmenthal aus, und auch dies ist so schrecklich und merkwürdig, denn in den bisherigen Märchenbüchern und Entführungsgeschichten war noch gar nicht darauf gerechnet (BA 15, S. 359).
In der Aussage Florines wird deutlich, dass die Schrecklichkeit und Merkwürdigkeit keinesfalls im Vorfall an sich liegen, sondern eher in der Tatsache, dass die beschleunigte Ausbreitung der Fahndungsanzeige durch den Telegraphen eine ganz neue Dimension eröffnet. Hier treten deutlich manche Erfahrungen des Telegraphen hervor als Nachrichtenausbreitung beschleunigendes und weite Entfernungen überwindendes technisches Instrument, das das Denken und die kulturellen Praktiken der Ilmenthaler nach wie vor prägt. So wissen sie, dass sie mit diesem technischen Erzeugnis private Nachrichten schneller als je zuvor an weit entfernt liegende Orte übertragen können, was ihr Bewusstsein der von Beschleunigung geprägten neuen Zeit stärkt. Mit dem durch den Telegraphen ermöglichten intensiven Austausch kultureller und informationeller Zeichen und anhand der beschleunigten Zirkulation dieser Inhalte werden räumliche Grenzen und Entfernungen überwunden. Hiermit werden in jedoch sehr bescheidenem Ausmaß einige Anzeichen eines „virtual neighbourhoods“³⁸⁸ veranschaulicht, das als charakteristisch für die neuen Formen der elektronischen Kommunikation in den letzten Jahrzehnten angesehen werden kann. In den durch Leistungen des Telegraphen zustande gebrachten Vernetzungen über große Distanzen hinweg tritt die gemeinsame Charakteristik mit dieser diskursiven Figuration der Globalisierung des 21. Jahrhunderts auf, Reinhard Wendt: Vom Kolonialismus zur Globalisierung, S. 293. Arjun Appadurai: The Production of locality, S. 218.
142
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
nämlich dass das physische Nebeneinander keine wichtige Komponente mehr darstellt. Zur Charakterisierung der „virtual neighbourhoods“ schreibt Appadurai: „[They] represent just that absence of Face- to-face links, spatial contiguity and multiplex social interaction the idea of a neighbourhood seems centrally to imply“.³⁸⁹ Dass der Telegraph in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend zur Stärkung dieses für die Globalisierung konstitutiven Bewusstseins der weite Entfernungen vernichtenden Beschleunigung beigetragen und somit die Mentalität der Zeitgenossen überaus geprägt hat, zeigt dieser Zeitschriftenauszug mit der vielsagenden Überschrift „Keine Entfernung mehr!“ auf: Das Wort der Bibel: „Herrschet über die Erde und machet sie euch untertan,“ wird durch die ewig fortschreitende Cultur und Wissenschaft bald eine Wahrheit werden. Entfernungen werden nach und nach eine Mythe, sie hören auf zu existiren. Nehmen wir England an. Durch den elektrischen Telegraphen wohnt ganz England wie in einer Stube. Man kann einem Freunde, der 600 Meilen weit wohnt, einen guten Morgen bieten und ehe die Tasse Kaffee kalt geworden, schon den Dank dafür zurück erhalten.³⁹⁰
Viele Zeitgenossen der Wilhelminischen Ära sahen den Telegraphen, mittels dessen sie die alltägliche Erfahrung der schnellmöglichsten Ausbreitung von Nachrichten in der ganzen Welt erlebten, als die wahre „weltverbindende Chiffre“³⁹¹ und als „Symbol einer zusammenrückenden und miteinanderverflochtenen Welt“³⁹² schlechthin. Mit der Grenzen überschreitenden rasanten Ausbreitung von Nachrichten und der damit verbundenen gegenseitigen Kenntnisnahme der verschiedenen fremden Völker „waren Menschen [nicht nur dank Migrationen]
Arjun Appadurai: The Production of locality, S. 219. [Anonym]: „Keine Entfernung mehr!“ In: Die Gartenlaube 7 (1853), S. 74. In einem bereits erwähnten Artikel über „Telegraph Street“ mit dem Titel „Die weltverbindende Chiffre“ heißt es: „Die O und P kennt jedermann als die zwischen England und Ostindien gehenden Postdampfer, die Chiffre der Peninsular und Oriental Company, und niemand ist, dem sich bei der Chiffre T. S. nicht das Bild eines Zeit und Raum aufhebenden Weltverkehrs entrollte […]. Die T. S. ist ewig bestrebt, seine Neuigkeiten mitzutheilen. Die ärgste Klatschbase in der Stadt in der klatschsüchtigsten kleinen Stadt vermag während ihres ganzen Lebens auch nicht ein Tausendstel der Gerüchte auszustreuen, wie T. S. im Laufe einer Stunde in die Welt hinaussendet. Und wie bunt und mannigfaltig ist der Charakter dieser Nachrichten! Die Kunde von den Pariser Mordbrennereien, die Geburt eines neuen Enkels der Königin Victoria, die letzte Rede Bright’s in Birmingham- alle diese Mittheilungen und noch hundert andere laufen in derselben Minute in T. S. ein und machen sich den Vorrang streitig“ ([S.]: Die weltverbindende Chiffre. In: Gartenlaube 27 (1871), S. 448). Emily S. Rosenberg (Hg.): Geschichte der Welt. 1870 – 1945: Weltmärkte und Weltkriege. München: C.H. Beck 2012, S. 828.
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
143
mit ihren Bedeutungen unterwegs, aber auch Bedeutungen konnten auf Wanderschaft gehen, selbst wenn die Menschen an Ort und Stelle blieben“.³⁹³ Mit der Bezeichnung des Telegraphen als „Viktorianisches Internet“ oder „Online-Pionier“ weist Standage nachdrücklich darauf hin, dass diese technologische Entwicklung im 19. Jahrhundert dieselbe Rolle spielte wie Internet im 20. und 21. Jahrhundert: In the nineteenth century there were no televisions, airplanes, computers or spacecraft; nor were there antibiotics, credit cards, microwave ovens, compact discs, or mobile phones. There was, however, an Internet. During Queen Victoria’s reign, a new communications technology was developed that allowed people to communicate almost instantly across great distances, in effect shrinking the world faster than ever before. A worldwide communications network whose cables spanned continents and oceans […] Today the Internet is often described as an information superhighway; its nineteenth- century precursor, the electric telegraph, was dubbed the “highway of thought”.³⁹⁴
Ihm stimmt Osterhammel zu, der den Telegraphen als „das große neue Medium mit globalisierender Wirkung“³⁹⁵ im 19. Jahrhundert bezeichnet. Dass Raabe in Prinzessin Fisch das literarische Symbol Telegraph in Verbindung mit dem Entführungsmotiv setzt, birgt in sich ein kritisches Potential gegenüber manchen kapitalistischen Praktiken. Zum einen, wie bereits in vorherigen Abschnitten betont, sind Alexander und Romana die Inkarnation der kapitalistischen Gesinnung. Dass sie zusammen ausbrechen, zeigt ein Zusammenfinden von Gleichgesinnten, deren Handlungen lediglich interessengeleitet sind. Zum anderen ist der Telegraph im Kontext der gründerzeitlichen globalen kapitalistischen Wirtschaft bekanntlich das Instrument zur beschleunigten Ausbreitung von Nachrichten aus den Finanzmärkten, was im Bewusstsein der Zeitgenossen zur Stärkung der Herrschaft des globalen Kapitalismus beiträgt. Mit der dargestellten Konstellation in Prinzessin Fisch wird die Funktion des Telegraphen umgekehrt, denn hier dient er nicht der Ausbreitung der Herrschaft des globalen Kapitalismus, sondern eher der Ausbreitung der ihm innewohnenden moralisch verwerflichen Gesetzmäßigkeiten und Handlungen. Die Tatsache, dass der Telegraph in Prinzessin Fisch der beschleunigten Ausbreitung von mit Auswüchsen des globalen Kapitalismus verbundenen schlechten Nachrichten dient, kann mit Blick auf die globale Wirtschaftskrise von 1873 als bittere Erfahrung der Zeitgenossen mit dieser technischen Entwicklung verstanden werden.
Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S. 25. Tom Standage: The Victorian Internet. The Remarquable Story of the Telegraph and the Nineteenth Century’s One-line Pioneers. New-York: Walker. 1998, S. XIIIf. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 1024.
144
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
In Die Akten des Vogelsangs werden mit dem Telegraphen keine einseitig kritischen, sondern vielmehr ambivalente Erfahrungen und Wahrnehmungen assoziiert. In der ersten Konstellation wird eine negative Erfahrung des von diesem technischen Instrument ermöglichten kulturellen Transfers zwischen weit entfernt liegenden Orten nahegelegt. Der Ich-Erzähler Karl Krumhardt berichtet über die negativen Auswirkungen der von Charles Trotzendorff von Amerika aus an seine Familie entsandten Banknoten auf das harmonische Nachbarschaftsleben von Vogelsang. Mit diesen Banknoten wird Agathe Trotzendorff eitel und hochmutig und hält prahlerische Reden, was weitgehend für Unruhe sorgt. Über die Reaktionen seines Vaters auf dieses Fehlverhalten berichtet der Erzähler: „Ohne im geringsten wegen Injurien belangt werden zu können, erklärt er sie für die albernste, unzurechnungsfähigste Gans, die jemals dem Vogelsang durch ihr Gegacker und Geschnatter die Harmonie gestört habe“ (BA 19, S. 249 f.). Der Erzähler führt fort: Obgleich er [Vater Krumhardt] selber die […] aus Amerika einlaufenden Banknoten und Wechsel zu deutschem Gelde zu machen hat, glaubt er doch im Grunde an sie [Agatha] nie recht und hat immer das Gefühl, der transatlantische Telegraph sei ihm bei dem Bankier mit dem einheimischen Staatsanwalt zuvorgekommen, und zwar in lakedämonischer Kürze durch das Wort: Schwindel! (BA 19, S. 250)
Vater Krumhardt zufolge ist dieses verwerfliche Verhalten auf seit kurzer Zeit in die Kleinstadt Vogelsang einfließende Banknoten aus Amerika zurückzuführen. Der transatlantische Telegraph,³⁹⁶ mittels dessen Charles Trotzendorff Geld an seine Frau versendet, ist demzufolge ein Instrument, das nicht nur finanzielle, sondern auch kulturelle Transfers in hoher Geschwindigkeit ermöglicht.³⁹⁷ Char-
Dass der Erzähler in Die Akten des Vogelsangs im Vergleich zu den beiden anderen Texten ausdrücklich vom transatlantischen Telegraphen spricht und somit den mittlerweile im Anwendungsgebiet sowie in Verlegung von Telegraphenleitungen erfolgten technischen Fortschritten Rechnung trägt, zeugt von dem engen Bezug von Raabes Werk zu den Entwicklungen seiner Zeit. In technikgeschichtlicher Hinsicht haben sich die Telegraphenleitungen von der oberirdischen über die unterirdische bis hin zur unterseeischen Verlegung entwickelt. Wie viele Forscher betont Heßler zu Recht die Symbolik der unterseeischen Verlegung für die Vernetzung der Welt. Die Verlegung des transatlantischen Kabels, mit der die Verkabelung der Welt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzt, wird dementsprechend gesehen „als Motor der Globalisierung“ (Matina Heßler: Kulturgeschichte der Technik, S. 126) oder als „Nimbus eines Startschusses für Globalisierungsprozesse“ (Matina Heßler: Kulturgeschichte der Technik, S. 126). Dass der Telegraph in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Intensivierung des kulturellen Austausches zwischen verschiedenen Völkern des Globus beigetragen hat, zeigen auch einige Texte aus den Zeitschriften der Epoche. In einem dieser Texte heißt es: „Mit der Schnelle […] vermittelt sich hier in die weiteste Ferne […] der Austausch des Gedankens, der Sitte, der Mode,
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
145
les Trotzendorff, dem Vater Krumhardt seit dem Jugendalter misstraut und der aus ökonomischen Gründen nach Amerika ausgewandert ist, sendet zwar nur Banknoten. Diese führen aber unverzüglich zur Eitelkeit und Prahlerei, die die in der Nachbarschaft „gehegten bürgerlichen und ideellen Ordnungs-, Gefühls- und Traumwerte“³⁹⁸ in Gefahr bringen. Göttsche und Krobb zufolge zeigt dieser Text deutlich, dass Raabe sich der weitreichenden kulturellen Einflüsse der globalen Ferne auf die lokale Nähe bewusst ist. Sie schreiben: „[It] is just one example of how keenly he [Raabe] was aware of the far-reaching implications of globalization for domestic culture and the individual’s Self- assertion“.³⁹⁹ Hier zeigt sich also eine eklatante Manifestation von Globalisierung, die Giddens wie folgt erläutert: „[globalisation refers to] the intensification of worldwide social relations which link distant localities in such a way that local happenings are shaped by events occuring many miles away“.⁴⁰⁰ Er führt weiter aus: „Globalisation concerns the intersection of presence and absence, the interlacing of social events and social relations ‘at distance’ with local contextualities“.⁴⁰¹ Dass die Entwicklung von technologischen Instrumenten wie etwa dem Telegraphen maßgeblich zu dieser Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen beiträgt, ist unverkennbar. Die physische Anwesenheit eines Akteurs ist demzufolge nicht mehr notwendig, um auf die Strukturen und Verhältnisse einer weit entfernt liegenden lokalen Gemeinschaft auszuwirken. In dem dargestellten Hereinbrechen von amerikanisch geprägten Handlungs- und Denkweisen über die lokalen Strukturen des Vogelsangs „zeichnet sich […] das Aufziehen einer neuartigen, globalen Weltordnung ab, an deren Horizont zumal ein Amerika schimmert“.⁴⁰² Vater Krumhardt ist umso misstrauischer, als er Charles Trotzendorff, der laut manchen epochalen Amerikavorstellungen auf „die Jagd nach dem Glück“ gegangen ist, eindeutig als Schwindler betrachtet und Amerika als Land der Schwindelei schlechthin sieht. Für ihn bedeuten diese Geldsendungen einen beschleunigten Import der aus Amerika kommenden Geldkultur, die er mit Schwindelei gleichsetzt. Gerade dieser vom transatlantischen Telegraphen erder Erfindung. Diese Gemeinschaftlichkeit, diese Solidarität der Völker, wie sie durch […] den Telegraphen bewirkt wird, mag zunächst nur eine ideelle sein, sie hat aber auch ihre nicht zu leugnenden praktischen Folgen“ ([Anonym]: [Rezension zu] Geographische Wanderungen von Karl Andree. In: Westermanns Monatshefte 6 (1859), S. 337.) Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer, S. 195. Dirk Göttsche und Florian Krobb: Introduction, S. 5. Anthony Giddens: The Consequences of Modernity, S. 64. Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Standford, California: Standford University Press. 1991, S. 21. Ansgar Mohnkern: „Die Nachbarschaft!“ – Über Raabes Soziologie des Häuslichen. In: Jahrbuch der Raabe- Gesellschaft 58 (2017), S. 49.
146
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
möglichte Einzug der amerikanischen Geldkultur in die Vorstadt Vogelsang zieht schnell boshafte Haltungen nach sich. Neben diese Konstellation, die den misstrauischen und skeptischen Blick von Vater Krumhardt, einem Verfechter des bürgerlich-konservativen Denkens, auf vom Telegraphen ermöglichten globalen Austausch aufzeigt, tritt eine zweite, die vielmehr realistische Züge aufweist. Diese entspricht der Perspektive des Erzählers und in ihr tritt ein realistisches Bild des Telegraphen auf, das frei von moralischen Werturteilen und klassengeprägten Grundsätzen ist. Dass sein Freund Velten Andres bei seinem Aufenthalt in der amerikanischen Fremde trotz der ungeheuren Entfernung keinesfalls als ein Verschollener betrachtet werden kann, ist dem Telegraphen zu verdanken. Der Jurist Karl Krumhardt sagt: Ich habe sie häufig in meinem Berufe zu suchen, die Verschollenen in der Welt; sie zu einem bestimmten Termin zu zitieren und sie, wenn sie nicht erscheinen, für tot zu erklären und ihren Nachlass den Erben oder dem Fiskus zu überantworten. Meistens ist es armes kümmerliches Volk, das so verlorengeht und gesucht werden muß, doch von Zeit zu Zeit ist da einer oder eine verschollen, auf deren Wege auch den abgehärtetsten Beamten die Phantasie und das Bedürfnis des Menschen, Wunder, wenn nicht an sich, so doch an anderen zu erleben, unwiderstehlich nachlockt. Das ist nun bei meinem Freund Velten Andres nicht im mindesten der Fall gewesen. […] Er ist stets mit uns in Korrespondenz geblieben; hat alle Verkehrswege […] ja auch den unterseeischen Telegraphen benutzt, um in möglichster Verbindung mit dem Vogelsang zu bleiben. Ich bin eben in seinem Leben über nichts im Dunkel geblieben als – über ihn selber (BA 19, S. 317 f.).
Im Gegensatz zu Hagebucher in Abu Telfan, der während seines elfjährigen Aufenthalts in Afrika für Bumsdorf als verschollen betrachtet wurde, ist Velten Andres während seiner Jahre in Amerika Vogelsang deshalb stets sehr nah geblieben, weil er regelmäßig seinen Freunden und Verwandten Nachrichten von sich mittels des unterseeischen Telegraphenkabels übermittelte. Mit der dadurch getilgten Riesenentfernung zwischen Amerika und Europa wird die „Erfahrung einer neuen, technisch vermittelten Nähe und des Gefühls der Gleichzeitigkeit“⁴⁰³ nicht nur zwischen dem ausgereisten Velten Andres und Vogelsang, sondern auch zwischen weit entfernt liegenden Orten auf der Welt ermöglicht. Diese Erfahrung der durch Beschleunigung zustande gebrachten Gleichzeitigkeit zeigt deutlich „den Zusammenhang von Telegraphie und Globalisierung“.⁴⁰⁴ Hier zeichnet sich im Werk Raabes eine vermittelte globale Gleichzeitigkeit ab, deren negative Effekte für eine Kultur der nachbarschaftlichen Gemeinschaft wohl nicht heruntergespielt werden sollen. Dennoch erweist sich die Telegraphie im Kontext von
Matina Heßler: Kulturgeschichte der Technik, S. 125. Matina Heßler: Kulturgeschichte der Technik, S. 126.
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
147
unumkehrbaren globalen Migrationen als ein unabdingbares Instrument zur Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen Ausgewanderten und Daheimgebliebenen. Conrad, der die „technik- und mentalitätsgeschichtlichen“⁴⁰⁵ Dimensionen derartiger epochaler Erfahrungen „der Gleichzeitigkeit und der Überbrückung des Raums“⁴⁰⁶ zu erfassen bemüht ist, betont, dass „Distanzen technisch komprimiert wurden und so die unterschiedlichen Regionen der Welt in eine Phase der Synchronizität einzutreten schienen“.⁴⁰⁷ Geradezu erst mit dem rasanten Aufbruch der Eisenbahnen war die praktische Dimension des zuvor technisch vollkommen entwickelten Telegraphen für mehrere Zeitgenossen handgreiflich sichtbar, denn die entlang der Schienenwege eingerichteten Telegraphenkabel dienten zur Übermittlung von Signalen, deren bedeutende Rolle für die Sicherheit der Eisenbahnfahrten im 19. Jahrhundert unverkennbar ist.⁴⁰⁸ Obgleich „das Telegraphennetz […] sich zunächst als Teil des Eisenbahnnetzes mit diesem“⁴⁰⁹ ausbreitete, war die Wirkung der Eisenbahn auf den gesellschaftlichen Alltag aufgrund ihres populären Charakters viel größer.
2.4.2 Zur ambivalenten Darstellung der Eisenbahn als Zeitmetapher Die Eisenbahn gehört eindeutig zu den einschneidenden technischen Innovationen, die „aufgrund ihrer das je etablierte Raum-Zeit-Regime transformierenden Qualitäten immer auch mit einer Veränderung von Alltags- und Handlungspraktiken einhergehen und oftmals neue Wahrnehmungs- und Verhaltensformen zur Konsequenz haben“.⁴¹⁰ Literarische Produktionen des Realismus gehören offensichtlich zu den Texten, in die das Eisenbahnmotiv verstärkt Einzug hält. Somit tragen sie einer technisch-industriellen Entwicklung Rechnung, die zur radikalen Veränderung der Raum- und Zeiterfahrungen der Epoche beigetragen hat. Hahn stellt fest: „Generell kommt dem Motiv der Eisenbahn, die das Raum- und Zeitgefühl im Industriezeitalter wie keine andere technische Erfindung veränderte, für die Literatur im 19. Jahrhundert eine wohl kaum zu unterschätzende Bedeutung zu“.⁴¹¹
Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S. 51. Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S. 51. Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S.51. Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 32. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S.33. Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, S. 201. Hans Joachim Hahn: Nester an der Eisenbahn. Nation, Welt und Bewegung bei Raabe und Auerbach. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt, S. 97.
148
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
In Raabes 1862 erschienenem Roman Die Leute aus dem Walde, d. h. in einem Text seines Frühwerks, findet das Eisenbahnmotiv zum ersten Mal Einsatz in seinem literarischen Schaffen. Dieser Text stellt die Lebenswege von Robert Wolf, der Hauptgestalt, und seinem Großbruder, dem Ausgewanderten Friedrich Wolf, in einer Gesellschaft dar, in der die „Rede […] über die Flüchtigkeit der Zeit“ (BA 5, S. 135) stets präsent ist. Das Eisenbahnmotiv wird hier in direkten Zusammenhang mit einer bei Raabe zentralen Problematik der Globalisierung gesetzt, nämlich der Auswanderung der Deutschen nach Amerika. Friedrich Wolf kehrt aus Amerika als reicher Mann in die Heimat zurück, um seine Jugendfreundin Eva Dornbluth, die lange auf ihn warten musste, zu heiraten. Er reist mit ihr nach Amerika zurück. Die Reise vom Dorfbezirk Poppenhagen nach Hamburg erfolgt mit der Bahn, die die Reisenden eine von Geschwindigkeit geprägte Reise regelrecht „erfahren“ lässt. Dieses hohe Tempo wird ihrer „Sehnsucht nach dem Unendlichen und Unerreichbaren, das zugleich nah und fern ist“,⁴¹² gerecht. Der Erzähler, der die Reise schildert, sagt: „der Zug setzte sich in Bewegung. Hinaus, hinaus, schnell und immer schneller hinaus in die Nacht, die Zukunft“ (BA 5, S. 137). Hier tritt deutlich die mit der Eisenbahnsymbolik verbundene Idee einer beschleunigten Beförderung in die Zukunft hervor. Einerseits metaphorisiert die der Eisenbahn an sich innewohnende Dynamik bereits einen Abschied von der Vergangenheit und einen entscheidenden Sprung in eine als verheißungsvoll imaginierte Zukunft, für die Amerika im Denken der Reisenden symbolhaft steht. Braun bringt diese Vorstellung auf den Punkt, wenn er schreibt: „Mit der Eisenbahn wird eine Zukunft verehrt, die man mit Maschinenkraft antizipatorisch bereits zu beherrschen glaubt“.⁴¹³ Brenner, der sich mit den Amerika-Erfahrungen in deutschen Auswandererbriefen des 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, betont, dass die Vorstellung von Amerika als Land der Zukunft zwar nicht die einzige, aber doch eine überwiegende Dimension darstellt.⁴¹⁴ In diesem Zusammenhang ist die Ei-
Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer; S. 189. Andreas Braun: Tempo, Tempo! Eine Kunst- und Kulturgeschichte der Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert, S. 25. Vgl. Peter J. Brenner. Reisen in die Neue Welt, S. 28. Er zeigt in seiner mentalitätsgeschichtlichen Studie, dass andere gleichzeitig bestehende zeitliche Konnotationen von AmerikaErfahrungen in solchen Textarten erkennbar sind. Mit Blick auf die Projektionen der Auswanderungswilligen auf ihren Zielort betont er, dass diese im Allgemeinen ihre eigene Zukunft von einer als potentiell bedrohlichen Zukunft des unbekannten Amerikaraums auseinanderzuhalten bemüht waren. In diesem Zusammenhang schreibt er, „dass bereits im eigenen Land eine Zukunft erfahrbar werde, welche die bisherigen Erfahrungsräume zu überschreiten droht, und vor dem Hintergrund dieser Befürchtungen entwickelt sich häufig eine Perspektive, die Amerika als das Land sieht, in dem die eigene geschichtliche Zeit gegenüber den Bedrohungen des Erwartungshorizontes bewahrt werden kann“ (Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt, S. 28).
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
149
senbahn als „bewegende Kraft“⁴¹⁵ anzusehen, die das Erreichen des als Zukunft gesehenen Zielortes überaus beschleunigt,⁴¹⁶ indem sie „die dem Raum ursprünglich innewohnende Trennungskraft“⁴¹⁷ zunichtemacht.⁴¹⁸ Mit ihrer die
Lothar Hums: Entwicklungstendenzen der deutschen Eisenbahn-Fachsprache in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Rudolf Hoberg u. a. (Hgg.): Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache. Wiesbaden: Gesellschaft für deutsche Sprache 1993, S.133. Hervorhebung im Original. Die Eisenbahn als populäres Personen- und Gütertransportmittel ist eine technische Entwicklung, deren Leistungen eine von Beschleunigung gekennzeichnete Zeitwahrnehmung maßgeblich geprägt haben und weitgehend zur Schärfung des Bewusstseins für eine neue Zeitkultur beigetragen haben. Die Wirkungen dieser Zeitwahrnehmung beschränken sich nicht auf das Verkehrswesen, sondern weiten sich über das gesamte gesellschaftskulturelle Leben aus. In Anlehnung an Thorean betont Assmann, dass „die Eisenbahn ein neues Zeitdispositiv einführte, das den Puls des Lebens, Sprechens und Denkens überall beschleunigte“ (Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 194). In der epochalen Diskurswelt ist sie als Anlage zu verstehen, die „durch ihre Konsistenz, Konstruktion und Glätte den Transport großer Gewichtsmassen, beziehungsweise die Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist“ (Brockhaus’ Conversations-Lexikon (1883), S. 859. Meine Hervorhebung). Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, S. 418. Auf diese für die Globalisierungsthematik zentrale Vorstellung der „Vernichtung des Raums durch die Zeit“, die u. a. von Castells und Harvey formuliert wird, hatte Heinrich Heine bereits am 5. Mai 1843 anlässlich der Eröffnung der Eisenbahnlinien Paris – Orléans und Paris – Rouen hingewiesen. Die mit dem Aufkommen der Eisenbahn eintretenden Veränderungen in der Anschauungsweise und den Vorstellungen der künftigen Generationen reflektierend, schreibt Heine: „Aber die Zeit rollt rasch vorwärts, unaufhaltsam, auf rauchenden Dampfwagen, und die die abgenutzten Helden der Vergangenheit […] werden wir bald aus den Augen verlieren […]. Die Eröffnung der beiden neuen Eisenbahnen, wovon die eine nach Orléans, die andere nach Rouen führt, verursacht hier eine Erschütterung, die jeder mitempfindet […]. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir nur Geld genug, um auch letztere anständig zu töten! In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orléans, in ebensoviel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt“ (Heine zit. in Ludwig Börne Lutetia: Heinrich Heine: Werke und Briefe. Bd. 6: Über die französische Bühne. Berlin, Weimar: Aufbau 1972, S. 478 f.). Darüber hinaus ahnt Heine den künftigen Stellenwert der Eisenbahn für das Aneinanderrücken der Nationen Europas voraus, wenn internationale Eisenbahnlinien eingerichtet werden. Mit diesen internationalen Eisenbahnlinien werden die Weichen für die räumliche Schrumpfung und kulturelle Verflechtung des Globus gestellt. Schivelbusch beschreibt in diesem Zusammenhang die Wirkung der Eisenbahn im 19. Jahrhundert als eine griffige Manifestation des Topos der Vernichtung von Raum und Zeit, mit dem die Globalisierung geläufig umschrieben wird (vgl. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 35).
150
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
Reisedauer zwischen Poppenhagen und der Hafenstadt Hamburg reduzierenden Geschwindigkeit wird de facto die räumliche Entfernung zwischen Deutschland und Amerika als um das Mehrfache verdichtet erfahren. Wie es bereits oben erwähnt wurde und in den nächstliegenden Ausführungen dieses Abschnitts näher zu beleuchten ist, ist in der Gestaltung des Eisenbahnmotivs bei Raabe eine deutliche Verschränkung mit der Migrationsthematik festzustellen. Es liegt auf der Hand, dass die beiden Dimensionen im Mobilitätsbegriff ihren Berührungspunkt finden. Die Eisenbahn gilt als „wesentlichste […] Verkehrsinnovation des 19. Jahrhunderts“⁴¹⁹ für die Förderung der Migration. Diese Rolle war für die Auswanderung der Deutschen in die USA oder der Europäer nach Amerika von zentraler Bedeutung, denn wie sich in manchen Studien ergibt, ist ein zeitliches Zusammenfallen zwischen den Modernisierungsetappen der Eisenbahnanlagen im Verein mit der technischen Revolution der Seeschifffahrt und den anhaltend ansteigenden Migrationsbewegungen festzustellen. Roth, der sich mit interessanten kulturgeschichtlichen Fragestellungen zur Geschichte der Eisenbahn im Zeitraum 1800 – 1914 befasst, schreibt hierzu: Die Eisenbahnen öffneten die Ventile für gewaltige Migrationsbewegungen über Hunderte, ja Tausende von Kilometern hinweg. In Verbindung mit der Revolution in der Seeschifffahrt trugen sie wesentlich zum Anschwellen des transatlantischen Auswandererstromes bei. Gerade bei der Auswanderung verkürzte der Ausbau der europäischen und amerikanischen Eisenbahnnetze und der transatlantischen Schifffahrtslinien kontinuierlich die Reisezeiten und stellten zugleich immer größere Transportvolumen zur Verfügung. Mit den neuen technischen Systemen konnten die zu bewältigenden Strecken mit immer geringerem Aufwand zurückgelegt werden […]. Allein aus Deutschland emigrierten zwischen 1800 und 1900 fünf bis sechs Millionen Menschen nach Amerika. Berücksichtigt man alle europäischen Staaten, waren es fünfzig bis sechzig Millionen. Diese Dimension der Auswanderungswellen wäre ohne die Eisenbahnen diesseits und jenseits des Atlantiks nicht vorstellbar gewesen.⁴²⁰
Mit der von der Eisenbahn vermittelten Beschleunigungserfahrung, die, seit „die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth erbaut wurde“ (BA 5, S. 223), einen entscheidenden Einschnitt im Denken, Handeln und Sprechen von Leuten in Poppenhagen markiert hat, wird die räumliche Entfernung zu den die Zukunft inkarnierenden USA überwunden und gar vernichtet. Die durch die erreichte hohe Geschwindigkeit der Eisenbahn bewirkte Reduzierung der Reisedauer sowie Verkleinerung der räumlichen Entfernung zu Amerika führen dazu, dass der amerikanische Kontinent zuerst in der Imagination der Auswanderungswilligen intensiv wahrgenommen wird, wenn sie noch in der Heimat sind und bevor sie
Ralf Roth: Das Jahrhundert der Eisenbahn, S. 13. Ralf Roth: Das Jahrhundert der Eisenbahn, S. 142.
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
151
den ersehnten Zielort betreten. Mit der Erwähnung dieses für die Geschichte der Eisenbahn in Deutschland einschneidenden Ereignisses deutet Raabe eine für die epochale Globalisierung spürbare Polarisierung zwischen euphorischen und skeptischen Diskursen an, die sich in der Diskussion um die Auswirkungen der Eisenbahn auf die Zeiterfahrung niederschlägt.⁴²¹
Die 1835 gebaute Eisenbahnlinie Nürnberg – Fürth, die die allererste Eisenbahnlinie Deutschlands war, hatte das Bewusstsein der Deutschen entscheidend geprägt, denn sie wurden des dadurch realisierbaren Aneinanderrückens der Völker und Nationen der Welt gewahr. Dass diese erste Eisenbahnlinie bis in die 1860er Jahre hinein unablässig für eine lebhafte Diskussion um Globalisierung gesorgt hat, die auf das Thema der Zeiterfahrung verlagert wurde, zeigt dieser Text aus dem Jahre 1858, der ursprünglich der Huldigung des Nürnberger Bürgermeisters Johannes Scharrer gewidmet ist. Hier heißt es: „Es gibt Wahrheiten, die so lange wiederholt werden müssen, bis sie Anerkennung finden; so ist es seiner Zeit mit den Eisenbahnen gegangen. Eine Reihe von Jahren war erforderlich, den Eisenbahnen in Deutschland die verdiente Anerkennung zu verschaffen, und dem größeren Publicum begreiflich zu machen, daß sie alle anderen Verkehrsmittel zu Wasser und Lande an Wichtigkeit übertreffen. Das praktische und unternehmende England war Deutschland mit dem Bau von Eisenbahnen um mehrere Jahre vorausgegangen, […] als zuerst in Nürnberg der Gedanke realisirt, die Erfindung der Eisenbahnen mit Dampfkraft auch auf den deutschen Boden zu verpflanzen […]. Scharrer verfolgte mit höchstem Interesse die Entwickelung der bereits erbauten auswärtigen Bahnen, indem sein Scharfblick mit Bestimmtheit voraussah, daß die Erfindung der Eisenbahn mit Dampfkraft […] für die Verbindung der Völker von einer ebenso unberechenbaren Wichtigkeit sei, als die Erfindung der Buchdruckerkunst für ihren geistigen Verkehr […]. Es leuchtet ein, daß bei weiter Entwicklung der Eisenbahnen selbst große Entfernungen durch das dem Flug der Vögel nachstrebende Verbindungs- und Transportmittel immer kleiner werden und Staaten und Nationen dadurch immer näher und näher aneinander rücken müßten […]. Manche bezeichneten die Eisenbahnen als ein Symptom krankhafter Unruhe und nervöser Ungeduld der Zeitverhältnisse, oder als nothwendiges Uebel, das die Engländer über die Menschheit gebracht hätten.Wieder andere beschränkte Köpfe machten sogar auf den starken Luftzug und die nachtheiligen Folgen aufmerksam, welche dieser für die Gesundheit der Fahrenden haben müsse. Statt die Eisenbahnen als Besiegerin der Zeit anzuerkennen, durch deren Benutzung die Weltanschauung der Menschen sich mannigfaltiger und reicher gestalten werde, klagten viele, daß man in Zukunft die Gegenden zu rasch durchfliege, um angenehm reisen zu können ([Anonym], „Bürgersleute und Bürgermeister. Deutschlands erste Eisenbahn und ihr Gründer Johannes Scharrer“. In: Die Gartenlaube 50 (1858), S. 717 f.). Bei näherem Hinsehen zeigt dieser Artikel, dass durch die Diskurse über die Wirkungen und Erfahrungen der Eisenbahn eine brisante Diskussion über positive Aspekte und Schattenseiten der laufenden Globalisierungsprozesse stattfand. Der Autor, der hier eindeutig eine technik- und beschleunigungseuphorische Stellung bezieht, betont die Funktion der Eisenbahn, die mit ihrer „dem Flug der Vögel“ ähnelnden Eigenschaft weitaus zur Schrumpfung und Verflechtung beiträgt. Darüber hinaus übt er Kritik an Skeptikern, die die negativen Wirkungen der mit Eisenbahn verbundenen Geschwindigkeit ins Feld führen. Die in dieser gesellschaftlichen Debatte bezogenen Stellungnahmen, die sich jeweils in technikeuphorische und -kritische bzw. -skeptische Argumentation einordnen lassen, fasst Assmann wie folgt zusammen: „Wo die Bewunderer der neuen Technik eine zunehmende Herrschaft des Menschen über Raum und Zeit sahen, sahen die
152
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
Der bei Raabe erkennbare charakteristische enge Bezug des Eisenbahnmotivs zur Auswanderungsthematik verweist darauf, dass die Eisenbahn ein kultureller, physischer und mentaler Motor der Globalisierung schlechthin ist. Das mit der Eisenbahn einhergehende geschärfte Bewusstsein für eine von hohem Tempo geprägte neue Zeit – mit der die bisher als Haupthindernis des Aneinanderrückens der Länder gesehene räumliche Entfernung getilgt wird – intensiviert die „Leidenschaft für die Ortsveränderung“.⁴²² Diese Erkenntnis, die über die von Beweglichkeit geprägte amerikanische Mentalität des 19. Jahrhunderts Aufschluss gibt, kann auch in Europa festgestellt werden. Dank dieser Kultur der Bewegung, die die Auswanderung beflügelt, kommen Begegnungen und Austausch zwischen Nationen und Völkern zustande wie etwa hier in Die Leute aus dem Walde. Indem mit der Eisenbahn „eine schnellere Bewegung für die Reisenden angestrebt“⁴²³ und somit die Entfernung zwischen Poppenhagen und Hamburg vernichtet wird, erfolgt eine schnelle Verbindung des kleinen Dorfbezirks mit der See, anhand derer der Weltverkehr möglich gemacht wird. Diese Kultur der Bewegung, die dank der Eisenbahn weitgehend Auftrieb erhält, führt zur Erschütterung der Vorstellung einer naturwüchsigen Gebundenheit des Einzelnen an den Herkunftsort und der sich u. a. in der beständigen Ansässigkeit im Heimatraum niederschlagenden natürlichen Zugehörigkeitsordnungen. Diese „Lösung von Bindungen an bergenden Heimatraum und ursprüngliche Gemeinschaft“⁴²⁴ wird dadurch erfahrbar gemacht und manche Subjekte beginnen zu imaginieren, dass sie ihre eigenen und bewusst selbst entschiedenen Lebenswege weit entfernt von der Heimat finden können. Dadurch besteht also die Möglichkeit einer Identitätsbildung in der Fremde (siehe hierzu Kap. 4.1.1 und 4.1.2). Die Rolle der Eisenbahn in der Biographie Friedrich Wolfs, der sich von der Bindung an die heimische Gemeinschaft loslöst, ist nicht zuletzt wichtig. Einen prägnanten Ausdruck findet die oben angedeutete Konstellation in Raabes Roman Stopfkuchen. Der Erzähler Eduard, der bei seiner Rückreise nach Südafrika an Bord des Schiffs sitzt und über seinen kurzen Aufenthalt in der Heimat berichtet, erinnert sich an seine Gefühle beim Verlassen der Geburtsstadt. Dazu sagt er:
Kritiker eine ‚Vernichtung von Raum und Zeit‘“ (Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 195). Chevalier zit. in Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, S. 421. Lothar Hums: Entwicklungstendenzen der deutschen Eisenbahn-Fachsprache in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S.131. Meine Hervorhebung. Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, S. 421.
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
153
Nur eine oder zwei neue Eisenbahnlinien durchschnitten jetzt die Ebene. Und der Zug, der eben auf der einen die Stadt verlassen hatte und mit langgezogener weißer Lokomotivenwolke der Ferne zuglitt, erinnerte mich in diesem Augenblick wieder daran, wie wenig Halt und Anhalt ich jetzt noch in der Geburtsstadt, in den Heimatsgefilden habe (BA 18, S. 123).
Dass in diesem Text das nachlassende Zugehörigkeitsgefühl Eduards zu seinem Herkunftsort geradezu in dieser Szene hervorgehoben wird, signalisiert, dass die Eisenbahn mit deren räumliche Entfernung vernichtender Beschleunigung die räumliche Bindung an Herkunftsorte überaus ins Wanken bringt. Mit der Eisenbahn, die für die Mobilität das bedeutet, was der Telegraph für das Nachrichtenwesen ist,⁴²⁵ wird „die Leidenschaft für die Bewegung“⁴²⁶ weiter intensiviert. Auf diese Weise wird ein entscheidender Schritt in Selbstverortungen und Lebenswege vollzogen, bei denen der Herkunftsort nur eine unter- oder nebengeordnete Rolle spielt. Kolonisten wie Eduard in Stopfkuchen und Migranten wie Friedrich Wolf in Die Leute aus dem Walde erscheinen in diesem Zusammenhang als Subjekte, die dank der von der Eisenbahn bereitgestellten Mobilitätsmöglichkeiten nicht der Heimat, d. h. dem angestammten Territorium mit dessen ethnisch angelegten Ordnungen, verhaftet bleiben wollen. Hier tritt deutlich hervor, dass die von technischen Entwicklungen wie etwa der Eisenbahn intensivierte physische Mobilität zur Herausbildung von Zugehörigkeitskonstellationen beiträgt, die nicht mehr ausschließlich auf eine räumliche Bindung an den Herkunftsort begrenzt sind, sondern komplexere Selbstverortungen mit einbeziehen. Eduard, der beim Verlassen der Herkunftsstadt mit der Eisenbahn nach Hamburg fährt, wird genau in diesem bestimmten Augenblick des Nachlassens seiner Relation zur Heimat gewahr. Mit der erfahrbaren Mobilität wird das Zugehörigkeitsgefühl Eduards tiefergreifend erschüttert, deshalb scheint ihm als Kolonisten am Kap der Guten Hoffnung seine Zugehörigkeit zu Südafrika wichtiger. Angesichts von Raabes Werk ist diese von gesteigerter Mobilität bewirkte neue Zugehörigkeitskonstellation ambivalent, denn sie kann als kritischer Gestus gegenüber manchen chauvinistischen Diskurssträngen in der Wilhelminischen Ära gedeutet werden. Dass das nachlassende Zugehörigkeitsgefühl Eduards zur Heimat eng mit seinen eigenen Wirtschaftsinteressen, d. h. mit ausbeuterischen kolonialen Interessen, verbunden ist, problematisiert jedoch weitgehend diese Konstellation. In Raabes Werk gewinnt der kritische Gestus gegenüber einer unreflektierten Hingabe für Geschwindigkeitssteigerung und Beschleunigungsekstase deutlichere Konturen in seinem 1874 veröffentlichten Text Meister Autor oder Die Ge Vgl. Matina Heßler: Kulturgeschichte der Technik, S. 125. Chevalier zit. in Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, S. 422.
154
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
schichten vom versunkenen Garten. Der Erzähler von Schmidt, der Bergbau studiert hat und dessen Gesundheit in seinem Jugendalter durch schlechtes Wetter für längere Zeit geschädigt wurde, stellt sich vor als „ein beschäftigungsloser Liebhaber wohlfeiler ästhetischer Genüsse“ (BA 11, S. 16). Bei einer Reise mit einem Schnellzug, der mit seiner große Entfernungen vernichtenden Stoßkraft oder raumüberwindenden Turbo-Beschleunigung den Topos der Schrumpfung der Welt sowie der Vernichtung von Raum und Zeit umschreibt,⁴²⁷ erlebt von Schmidt etwas Beunruhigendes in dieser für das herrschende Tempo-Virus symbolhaft stehenden technischen Entwicklung. Über dieses unglückliche Erlebnis berichtet er: Der Schnellzug hielt im freien Felde, ungefähr eine halbe Stunde von der Station, und während fünf Minuten unterhielten sich die Reisenden in sämtlichen Wagen, in der Erwartung, daß es sogleich weiter gehen werde, ruhig über die möglichen Gründe des plötzlichen Anhaltens. Nach einer weiteren Minute bogen sich die ungeduldigeren Passagiere aus den Fenstern, um sich nach diesen Gründen umzusehen, und einen kürzesten Moment später bot die lange Wagenreihe mit den daraus hervorguckenden Köpfen den Anblick einer Straßenseite, wenn drunten in der Gasse etwas ganz Außergewöhnliches vorgegangen ist und vorgeht […]. So war nichtsdestoweniger etwas, wenn auch nicht Außergewöhnliches, so doch gewiß ziemlich Aufregendes passiert, zumal für diejenigen, welche dergleichen noch nicht auf ihren Reisen erlebt hatten. „Personen- und Güterzug entgleist … Bahn unfahrbar!… Heizer und Lokomotivführer tot, viele Passagiere verwundet!“ (BA 11, S. 55).
In dieser Episode fallen zwei Szenen auf, die auf eine Infragestellung von technikeuphorischen und beschleunigungsekstatischen Haltungsmustern hindeuten. Auf der einen Seite gibt es das plötzliche Anhalten des Schnellzugs, das zwar an einer Verkehrssperre durch den verunglückten Zug liegt, aber dies führt nicht weniger zur Infragestellung der Allmacht der dem Schnellzug innewohnenden Geschwindigkeitskraft, die den Raum vernichtet. Auf der anderen zeichnen sich im geschilderten Zugunglück mit dessen gravierenden Folgen (Güterverluste und Tote) das Ungeheuerste und Unerhörteste der von Technik produzierten Geschwindigkeit ab. Darüber hinaus werden in Raabes Werk manche mit Beschleunigung einhergehenden menschlichen Verhaltensweisen wie etwa Ungeduld, Hast und Eile stets in Verbindung mit mechanischer Geschwindigkeit gesetzt (siehe auch Kap. 2.4.3). In dieser Episode fällt auf, wie die ungeduldigeren Passagiere damit rechnen, dass der angehaltene Zug sogleich wieder fahren wird. Dass in dieser Episode die bedächtige Pracht der Natur gegen die wirbelnde Kraft der Technik für einen kurzen Augenblick die Oberhand zurückzugewinnen scheint, zeigt der Bericht des Erzählers über seine Gefühle und Eindrücke beim
Vgl. Peter Borscheid: Das Tempo-Virus, S. 116.
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
155
Herumlaufen in der Gegend, nachdem alle Passagiere nach Anweisungen des Zugführers aussteigen mussten. Hierzu sagt von Schmidt: Wie schön doch die Welt geblieben ist […]. Gütiger Himmel und das liegt noch immer dicht neben uns, und lächelt uns mitleidig nach, während wir da vorüberrasen, befangen im Wahn in dem wüsten Gelärm durch eigenes Mitlärmen, Mitkeuchen und Mitgreifen das zu gewinnen, woran wir längst vorbeigewirbelt wurden (BA 11, S. 57).
Mit seinem gestalterischen Geschick lässt Raabe den Erzähler zwei entgegengesetzte Erfahrungen von Zeit in Folge erleben. Von Schmidt fährt den Großteil der Strecke in einem Schnellzug und muss plötzlich wegen eines kontingenten Ereignisses aussteigen, um in der Gegend herumzulaufen. Hiermit inszeniert der Romanautor mit treffender Prägnanz die bereits erwähnte Kontroverse zwischen Anhängern der Beschleunigung und Verfechtern einer von Bedächtigkeit geprägten Zeitkonzeption. In dieser Szene werden die Pracht und Güte der Natur, die gewöhnlich wegen der vorbeirasenden Eisenbahnen von den Fahrenden übersehen wurden, wiederentdeckt und gewissermaßen sublimiert. Von Schmidt setzt seine Schilderung fort: „Welch eine Fratze schneidet uns unser eigenes Leben, wenn wir einmal in der rechten Beleuchtung anschauen! Meine Herrschaften, da wäre die Gelegenheit, für die, die da lachten, zum Weinen, und für die, die da weinten, zu einem Lachen zu kommen!“ (BA 11, S. 57 f.) Diese Aussage deutet auf das Schicksal des Menschen hin, der unverrückbar einer Zerrissenheit ergeben ist, denn sein Leben ist ein verzerrtes Bild, in dem jeder Bestandteil jedoch eine bedeutsame Rolle spielt. Hier lässt sich eine Ambivalenz spüren, in der Beschleunigung und Bedächtigkeit oder Technik und Natur zwar wohl prinzipiell antinomisch, aber doch allesamt unhintergehbar und gar unverzichtbar sind. Diese Ambivalenz erhält deutlichere Züge, wenn von Schmidt von den Reaktionen der Passagiere unmittelbar nach dem Unfall berichtet: „Was mich anbetraf, so hatte ich wenig zu versäumen, und nachdem mir die Gewißheit geworden war, dass für eine längere Zeit an ein Freiwerden der Bahn und ein Weiterfahren des Zuges nicht zu denken sei, ergab ich mich gleichmütig in die Situation“ (BA 11, S. 56). Dass von Schmidt ungeachtet des ungeheuren Unfalls kühlen Kopf bewahrt und sich davor hütet, eine vorschnelle Entscheidung über den Verzicht auf eine Weiterfahrt mit dem Zug zu treffen, zeigt eine realistische Haltung, die sich in einem kritischen „Miteinander von Natur und Kultur als ein wünschenswertes Bild der Zukunft“⁴²⁸ niederschlägt. Nach dem Eisenbahnunfall trifft er keine radikale Entscheidung
Elias Onwuatudo: Entwürfe einer humanen Entwicklung in Wilhelm Raabes Stuttgarter Romanen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 33 (1992), S.108.
156
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
gegen die Beschleunigung, sondern zieht daraus einen Riesenprofit, indem er die der Natur innewohnende Bedächtigkeit entdeckt und genießt. Diese bei der Darstellung der Eisenbahn als Metaphorisierung der Zeitverhältnisse sich abzeichnende Ambivalenz wird in Prinzessin Fisch gesteigert. Dass die Eisenbahnmetapher in diesem Text im einführenden und abschließenden Tableau der Handlung auftritt, indiziert ihren bedeutenden Stellenwert als Chiffre zur Veranschaulichung von „Ilmenthal alt und neu“ (BA 15, S. 381). Dies wird symbolisiert auf der einen Seite durch den „alten Weg“, auf dem mittlerweile „Wurzeln und Gestrüppe“ (BA 15, S. 381) gewachsen sind und auf der anderen Seite durch die neue Chaussee und Eisenbahn. Der Wir-Erzähler, der am Anfang der Erzählung den Leser in die Geschichte hineinzuführen gedenkt, setzt die Handlung mit einem Bericht über seine Reise nach Ilmenthal ein, wo er durch sein „Werk unter Menschen und ihren Schicksalen“ (BA 15, S. 193) in manchen Verhältnissen Klarheit zu gewinnen versuchen wird. Hierzu schreibt er: Wir fahren, und auf der Eisenbahn. Halten wir ja das freie angenehme Gefühl des Getragenwerdens so lange als möglich fest, es macht nur zu bald andern weniger behaglichen körperlichen und seelischen Empfindungen Platz, vorzüglich wenn sich der Tag dem Abend zuneigt. Ja, wenn man seine Knochen zu Hause lassen könnte bei allen Versuchen zu fliegen! (BA 15, S. 193)
Das Abwechseln von angenehmen Gefühlen des „Getragenwerdens“ oder des „Fliegens“ und unbehaglichen „körperlichen und seelischen Empfindungen“ beim Reisen nach Ilmenthal deutet auf zwiespältige Erfahrungen hin. Mit dieser sich im Erzähler verdichtenden Mischung aus Ekstase und Unbehagen wird die Krise verdeutlicht, vor die die neuen Zeitverhältnisse den Einzelnen stellen. Der Erzähler nimmt zwar die Vorteile der Eisenbahn wahr, die ihn schnell nach Ilmenthal zur Ausübung seines Erzählerberufs befördert, doch erfährt er am eigenen Leib, welche körperlichen und seelischen Folgen damit verbunden sind. Die Handlung schließt ebenfalls mit einem Tableau, in dem die Eisenbahnmetapher entscheidend ist. Theodor, der aus Leipzig nach Ilmenthal fährt, vollzieht nur einen Teil der Strecke mit der Bahn und den anderen zu Fuß mit seinem Freund Bruseberger, der mit seinem zur Kostrastfolie für Eisenbahn funktionalisierten Schubkarren unterwegs ist. Bei seiner Unterhaltung mit Theodor sagt Bruseberger: „In einer kleinen Stunde steigen wir ins Städtlein hinunter. So geht’s wenn man in dieser Zeit der Eisenbahnen mit einem Schubkärrner fährt! Ohne mich hätten Sie den Weg in weniger als einer halben Stunde gemacht, Theodor“ (BA 15, S. 378). Manchen Interpretationen wie der Arnds zufolge bekundet Theodor mit seiner Wanderung zu Fuß seine Ablehnung der technischen Fortschritte oder seine Skepsis gegenüber der Eisenbahn als Exponent der Be-
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
157
schleunigung.⁴²⁹ Dass in dieser Szene der Romanautor der Hauptgestalt den vernünftigen Bruseberger mit seinem Schubkarren an die Seite treten lässt, ist jedoch in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. In seiner Aussage, in der sich die räumliche Distanz bis in die Stadt eher in Zeitquantum bestimmen lässt – was der Sprechweise in der epochalen Mentalität entspricht–, stellt sich heraus, dass er Theodor das Mühsame des Schubkarrens als Kontrastfolie zur Eisenbahn vor Augen zu führen gedenkt. Auf diese Weise möchte Bruseberger ihn implizit zum Anschluss an die „Zeit der Eisenbahnen“ auffordern. In dieser prägnanten Szene, in der Bruseberger an seinem Schubkarren festhält, aber ausdrücklich die Notwendigkeit erkennt, in die neue Zeit einzusteigen, kristallisiert sich gegenüber den neuen Zeitverhältnissen eine kritisch-realistische Haltung heraus. Mit dem starken Einsatz der Eisenbahnmetapher in Raabes Werk ist deutlich eine Gestaltung mancher zeitgenössischen temporalen Verhältnisse und eine Partizipation an einer durch den Aufbruch der Eisenbahnen intensivierten Diskussion über die gesellschaftliche Wirklichkeit der Epoche zu erkennen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete die Eisenbahn im Verein mit dem Schiff die revolutionären Verkehrsverbindungen, mittels derer „die ganze Welt […] tendenziell zu einem Erfahrungsraum geworden [war]“,⁴³⁰ denn sie haben zum Aufbau eines dichten Weltverkehrsnetzes beigetragen.
2.4.3 Das Schiff bei Raabe als Chiffre des Weltverkehrsnetzes In Raabes Werk werden mit der Schiff-Metapher zwei der von Osterhammel herausgestellten Hauptdimensionen der „Bildung weltumspannender Netze“⁴³¹ anschaulich gemacht, nämlich einerseits die interkontinentale Migration⁴³² und andererseits die Expansion von Kolonialreichen. Mit der intensiven Thematisierung von Auswanderung durch die bei ihm wiederkehrende Konstellation von in die Fremde ausbrechenden und später heim- oder zurückkehrenden Figuren wird unverkennbar ein weltumspannendes Verkehrsnetz inszeniert (siehe hierzu
Vgl. Peter Arnds: The Boy with the Old Face, S. 237. Reinhard Wendt: Vom Kolonialismus zur Globalisierung, S. 293. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 1011. Dass den transkontinentalen Migrationen und daraus folgend dem Zusammenrücken von Völkern die technischen Entwicklungen im Verkehrssystem wie etwa der Dampfmotor im Schiff weitgehend Schubkraft verliehen haben, zeigt Moltmann, der schreibt: „Das Dampfschiff verringerte die transatlantische Reise von durchschnittlich sieben Wochen auf 18 – 20 Tage“ (Günter Moltmann: Charakteristische Züge der deutschen Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert, S. 45).
158
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
Kap. 1.1.1.). Bei seiner Konstitution kommt dem Schiff eine entscheidende Funktion zu. In einigen Texten wird dieses weltumspannende Verkehrsnetz um die koloniale Dimension erweitert. Im Unterschied zu den Metaphern Telegraph und Eisenbahn, deren Funktionalisierung für die Gestaltung der Zeiterfahrungen deutlich erkennbar ist, lässt die Darstellung der Schiffsmetapher bei Raabe vielmehr an eine beschleunigte Konstitution eines Weltverkehrsnetzes denken, was nicht weniger wichtig für die Aufdeckung der dadurch implizierten Zeiterfahrungen und -verhältnisse ist. In Raabes Werk gibt es Szenen, in denen der Schiffsmetapher eine Schlüsselfunktion zugewiesen wird. Der aus Alexandria kommende „Lloydampfer“,⁴³³ der Hagebucher in Abu Telfan bei seiner Rückreise nach Europa in Triest absetzt sowie die chilenische Fregatte „Juan Fernandez“, mit der Agonista in Zum wilden Mann auf dem Pazifik nach Südamerika fährt, veranschaulichen ein dynamisches Weltverkehrsnetz. Das Schiff „Leonhard Hagebucher“, mit dem Eduard in Stopfkuchen ans Kap der Guten Hoffnung zurückkehrt oder das Schiff „Teutonia“, mit dem Robert Wolf in Die Leute aus dem Walde auf dem „Atlantischen Ozean westwärts“ (BA 5, S. 335) in die USA auswandert, stehen ebenfalls symbolhaft für ein rasantes weltumspannendes Verkehrsnetz. Manche Forscher, die das Dampfschiff als die wichtigste Globalisierungstechnologie der Epoche sehen, heben seine unverkennbare Rolle als Motor des Weltverkehrs hervor.⁴³⁴ Osterhammel betont in diesem Zusammenhang, dass der Globalisierungseffekt des Dampfschiffes größer war als derjenige der Eisenbahn.⁴³⁵ Im Roman Die Leute aus dem Walde hält nach dem Begräbnis Eva Wolfs, der Frau des verstorbenen Friedrich Wolf, der Hauptmann Konrad von Faber vor dem Geleit eine Rede, in der er Spekulationen über eine Zukunft macht, in der neue Nationen in die zu erschütternde Welthierarchie einbrechen werden. Hierzu sagt er: „In jener Zeit werden gewaltige neue Nationen auf Riesenschiffen zwischen den Ufern Asiens und Amerikas verkehren, wie jetzt zwischen Hull und Hamburg,
Mit dieser Erwähnung eines Dampfschiffes des Norddeutschen Lloyd wird auf ein historisch bedeutsames Instrument des Weltverkehrs seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angespielt. Laut Protokoll der am 3. Januar 1857 stattgefundenen ersten Versammlung war sein Ziel, „regelmäßige Dampfschiffahrtsverbindungen mit europäischen und transatlantischen Ländern herzustellen“ (zit. in Norddeutscher Lloyd Bremen: Die Entwickelung des Norddeutschen Lloyd Bremen. Bremen: Maritimepress 2013, S. 13). Darüber hinaus zählt der Norddeutsche Lloyd zu den Reedereien, die einen Kapitalismus von globaler Reichweite verkörperten (vgl. Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 1017). Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Informationen zur politischen Bildung 2012, Heft 315: Das 19. Jahrhundert (pdf.). In: www.bpb.de/…/informationen-zur-politischen-bil dung/…/das-19-jahrhun… (Zugriff am 11.08. 2016). Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 1018.
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
159
Dover und Calais“ (BA 5, S. 364). Auch wenn es sich nur um Spekulationen handelt, gibt seine Behauptung zumindest darüber Aufschluss, wie der Besitz von stoßkräftigen und „riesenhaften“ Schiffen als Mittel zur Beherrschung des Weltverkehrs im Wettlauf für Führungspositionen in der Welthierarchie bestimmend ist. Der Hauptmann phantasiert über durch Technik realisierbare „riesenhafte“ Schiffe, die in Zukunft die hohe See im Allgemeinen und den räumlich unermesslichen Pazifik im Besonderen innerhalb derselben kurzen Zeit überqueren werden, wie in der Handlungsgegenwart manche weniger große Schiffe zwischen Nachbarhäfen in Europa, d. h. auf weitaus reduzierten Distanzen, reisen können. Das von vornherein untilgbare räumliche Ungeheuer der Kontinente voneinander trennenden Ozeane wird überdies durch die Geschwindigkeit des Schiffs überwunden, was offensichtlich die Bildung eines interkontinentalen Verkehrsnetzes beschleunigen wird. Dass eine drastische Verringerung der Streckendauer etwa zwischen Europa und Amerika mithilfe von revolutionären technischen Entwicklungen, die eine erhebliche Steigerung der Geschwindigkeit des Schiffs anstreben, von zahlreichen Zeitgenossen sehnlichst erwartet, erwünscht und gar erträumt war, ⁴³⁶ zeigt dieser Auszug eines Artikels aus dem Jahre 1853: Wenn in’s Werk gesetzt wird, was uns ein gewisser Brown in seiner Schrift als ausführbar schildert, so werden Auswanderer nach Amerika in nächster Zeit binnen 48 Stunden von Hamburg nach New- York fahren. Nach Brown’s Behauptung läßt sich nämlich ein Schiff bauen, das binnen der angegebenen Zeit Amerika erreichen kann […]. Die notwendige Vergrößerung der Maschinen ist also gar kein Hinderniß. Ein so construirtes Schiff würde auf dem Wasser fliegen wie der Vogel in der Luft.⁴³⁷
Dieser die Hoffnung der potentiellen Auswanderer nach Amerika nährende Artikel zeugt davon, dass bereits zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die durch Technik angestrebte Erhöhung der Geschwindigkeit des Schiffs zu einer der zentralen Fragen in der Gesellschaft avanciert war, denn die Reisedauer ver-
Ein Blick in manche Texte aus der epochalen Unterhaltungs- und Trivialliteratur zeugt davon, dass das mit hoher Geschwindigkeit fahrende Dampfschiff ein verbreitetes Motiv war. Die in vielen Texten der Epoche zur Artikulation der Wahrnehmungen des Schiffes anzutreffenden Sinnbilder wie etwa „Seeschlange“, „Leviathan“, „Phantom“, „Eisbrecher“ oder „Seetier“ sowie manche Eigenschaften des Schiffes umschreibenden Attribute wie etwa „fliegend“ oder „projektiert“ geben zum einen Aufschluss über die herrschenden Hoffnungen auf die Technik. Sie spiegeln zum anderen manche um Beschleunigung kreisenden Phantasmen einer Öffentlichkeit, in der das Begehren, die See ohne zeitlichen Aufwand und psychologische bzw. körperliche Belastung für „die Jagd nach dem Glück“ in Amerika zu überqueren, immer größer wurde. [Anonym]: Für Auswanderer. In: Die Gartenlaube 39 (1853), S. 428.
160
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
längernde räumliche Weite des Atlantischen Ozeans stellte womöglich einen bedeutenden Demotivationsfaktor dar. Darüber hinaus zeigt dieser Artikel auf, einerseits wie der durch Beschleunigung angestrebte Zeitgewinn bestimmend war für die Auswanderungswilligen und anderseits wie mühselig ein langsames Tempo beim Reisen erfahren werden konnte. In einer anderen Szene desselben Textes kommt auf prägnante Weise zum Ausdruck, wie die die Gestalt der Ungeduld annehmende Beschleunigung als mentale Verfassung des Menschen in wechselseitiger Beziehung mit der von technischen Entwicklungen hervorgebrachten Geschwindigkeit steht. Robert Wolf und der Hauptmann Konrad von Faber reisen auf dem Mississippi mit dem Schiff aus St. Louis nach New Orleans, von wo aus Robert seine Heimreise antritt. So beschreibt der Erzähler die Schifffahrt: In der Frühe des nächsten Morgens schon befanden sich die beiden Reisenden auf der Fahrt den großen Fluss abwärts. Das gewaltige Vorwärtsstreben des schnaubenden keuchenden Schiffes genügte Robert nicht. Ihm hätte jetzt weder der Zaubermantel Mephistos noch das geflügelte Wunderroß des Zauberers aus dem Orient Genüge geleistet (BA 5, S. 394).
In dieser Szene wird die von Ungeduld, Eile und Hast geprägte mentale Verfassung Roberts nicht nur durch die Parallele mit dem gewaltig vorstoßenden Schiff, in dem er sich befindet, deutlicher, sondern auch in den auf Beschleunigung hinweisenden mythischen Elementen wie etwa dem „Zaubermantel Mephistos“ und dem „geflügelten Wunderroß“. Indem der Erzähler die von Hast und Ungeduld geprägte Haltung Roberts so darstellt, dass sie dem gewaltig vorwärtsstrebenden Schiff vorauseilt, wird auf die psychologische Konstitution und mentale Verfassung des Einzelnen im Kontext der „Steigerung des allgemeinen Lebenstempos“⁴³⁸ hingedeutet. Dass diese Ungeduld bei Robert sehr tief verankert und auch bei seiner Reise von New Orleans in die Heimat spürbar ist, zeigt der Erzähler, der fortsetzt: „Über die Wellen, über die Wellen! Schnell war das Schiff, schnell waren die Gedanken, die nach dem Heimatlande jagten und Schiff, Wolken, Vögel, Schall und Licht weit, weit hinter sich zurückließen“ (BA 5, S. 395). In diesem Kontext des beschleunigten Lebenstempos werden Wahrnehmungen, Erfahrungen und Gefühle ebenfalls beschleunigt, was zur von Eile und Hast geprägten Haltung des Menschen mit gravierenden Folgen führen kann, die Raabe ebenfalls thematisiert (siehe auch Kap. 2.1.1). Darüber hinaus deutet diese Inszenierung des hastenden Menschen in einem verhältnismäßig mit hohem Tempo fahrenden Schiff auf die Gestaltung einer Wechselbeziehung zwischen der mentalen Verfassung des Menschen und der Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, S. 415.
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
161
Technik hin. Der temposüchtige Mensch entwickelt revolutionäre Techniken zur Erhöhung von Geschwindigkeit und diese technischen Entwicklungen haben Rückwirkungen auf sein Handeln, Denken und Gefühlen. Die Leistungen dieser technischen Entwicklungen, die das Alltagsleben des Menschen prägen, beeinflussen seine Zeiterfahrung und -wahrnehmung und befördern sein Einleben in eine hastende Verhaltens- und Lebensweise. Somit wird er im Kontext der „Erfahrung der Zeitbeschleunigung“⁴³⁹ zum eilenden Subjekt. Ein Privatbrief der Zeitgenossin und deutschen Weltreisenden Pfeiffer zeugt davon, dass die von Hast geprägte epochale Mentalität die Handlungsweisen und Praktiken des Menschen auch in Amerika bestimmt, was sich an der Beschleunigung des sozialen Wandels festhalten lässt. Von Kalifornien aus schreibt sie: Da herrscht nun ein Leben, gleich dem in der City von London; da wird gefahren, geritten, gelaufen mit einer Hast, als gäb’ es kein Morgen mehr. Ueberall werden mit der größten Eile die prächtigsten Ziegelhäuser gebaut, so daß eine Straße nach 1– 2 Monaten gar nicht wieder zu erkennen ist.⁴⁴⁰
Im Roman Stopfkuchen wird wie in Die Leute aus dem Walde mittels der Dampfschiffsmetapher die interkontinentale Migration als Dimension zur Bildung eines globalen Verkehrsnetzes ebenfalls thematisiert und anschaulich gemacht. Den beiden Texten ist auch gemeinsam, dass das Dampfschiff durch die Überquerung der See die von der Eisenbahn angebahnte transnationale Mobilität zur Vollendung bringt. „Die beiden Verkehrsmittel verbinden sich zu größeren Systemen“⁴⁴¹ eines weltumspannenden Verkehrsnetzes.⁴⁴² Der Zeitschriftendiskurs der Epoche gibt Auskunft über seine Auswirkungen auf das Alltagsleben der Zeitgenossen sowie über ihr Bewusstsein für die sich verflechtende Welt. In einem von Brugsch in der Vossischen Zeitung vom 29. Januar 1893 mit dem Titel Die Anfänge des Weltverkehrs verfassten Artikel heißt es:
Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 198. Ida Pfeiffer: Ein Brief von Ida Pfeiffer aus Californien. In: Die Gartenlaube 1 (1854), S. 12. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 1013. Kramer betont in diesem Zusammenhang die bedeutende Funktion der Zusammenwirkung von Eisenbahn, Schiff und Telegraphie für eine „lückenlose, den ganzen Globus umfassende Konnektivität“ (Kirsten Kramer: Globalität und Weltbezug in der französischen Kulturanthropologie und der spanischen Erzählliteratur der Gegenwart. In: Christian Moser und Linda Simonis (Hgg.): Figuren des Globalen, S. 110). Ihr zufolge sind solche technischen Entwicklungen konstitutiv für die Moderne des 19. Jahrhunderts „unter den Bedingungen des ‚Weltverkehrs‘ […], der im Zeichen einer verkehrs- und informationstechnischen Netzwerkbildung steht“ (Kirsten Kramer: Globalität und Weltbezug in der französischen Kulturanthropologie und der spanischen Erzählliteratur der Gegenwart, S. 110).
162
Kapitel 2: Zeitvorstellungen und –erfahrungen als Reflexionsmodus
Der Weltverkehr unserer Zeit hat eine so gewaltige räumliche Ausdehnung und eine außerordentliche Vermehrung der erforderlichen Betriebsmittel erreicht, daß mit berechtigtem Stolze das jüngste Menschengeschlecht auf sein Jahrhundert zurückblicken darf, in welchem die entlegensten Länder und die fernsten Völker so nahe gerückt worden sind, als wären sie niemals durch die weitesten Entfernungen von einander getrennt gewesen. In kürzester Zeit lassen Schienenwege und Dampfschiffe die längsten Strecken auf unserem Erdball hinter sich liegen und eine jahrelange Reise um die Welt ist in eine Vergnügungsfahrt von wenigen Monaten umgewandelt worden. Der kühne Unternehmungsgeist treibt den Menschen von Meer zu Meer, von Land zu Land, und die mütterliche Erde besitzt kaum noch einen Winkel, verborgen genug, um ihre Kinder von dem großen Weltverkehr auszuschließen. Weder die Unterschiede der Rassen und der Religionen, noch der Kulturzustände und nationalen Eigenart bilden mehr ein Hinderniß für die gegenseitige Berührung, und kein Volkstamm ist so unnahbar geworden, um sich auf die Dauer der Macht des Weltverkehrs zu entziehen. Er hat die Erde bis zu ihren fernsten Rändern hin geöffnet.
Im Unterschied zu den meisten seiner Texte, in denen die Migration zwischen Europa und Amerika zur Gestaltung kommt, wird wie in Abu Telfan im Roman Stopfkuchen die europäische Migration nach Afrika thematisiert. Manche Forscher interpretieren in diesem Zusammenhang den Namen des Schiffes „Leonhard Hagebucher“ als einen intertextuellen Verweis, der einen Zusammenhang zwischen den beiden Texten herstellt. Wie bereits angedeutet, kehrt Eduard ans Kap der Guten Hoffnung zurück als erprobter Kolonist, der in Afrika seine ökonomischen Interessen wahrnimmt. Eduard, der an Bord des Schiffes sein Manuskript verfasst, erzählt: Es möchten vielleicht manche auf dem Schiffe gern wissen, womit sich eigentlich der Herr aus der Burenrepublik so eifrig literarisch beschäftige? […] Wir haben Deutsche, Niederländer, Engländer, Norweger, Dänen und Schweden, die ganze germanische Vetternschaft an Bord des Leonhard Hagebucher (BA 18, S. 60).
Dieses „Schiff stößt allzusehr“ (BA 18, S. 101) auf der See in Richtung Kap der Guten Hoffnung, sodass Eduard ab und zu keine Möglichkeit hat, sein Manuskript weiterzuschreiben. Mit diesem nach Südafrika vorstoßenden Schiff, dessen Passasgiere aus verschiedenen europäischen Ländern stammen, wird die Bildung eines kolonial geprägten Weltverkehrsnetzes inszeniert, das sich vom Nil, in dessen Region sich Hagebucher in Abu Telfan aufgehalten hat, bis ans Kap der Guten Hoffnung erstreckt. Das Schiff „Leonhard Hagebucher“ mit deutschen, niederländischen, englischen, norwegischen, dänischen und schwedischen Passagieren, deren koloniale Interessen für Afrika der Leser nur erahnen kann, tritt als Chiffre der Expansion von Kolonialreichen auf. Dass in Bezug auf das Erscheinungsjahr des Textes, d . h . 1891, Kolonialmächten mit direkter kolonialer Erfahrung wie etwa Holland,
2.4 Zur symbolischen Gestaltung von Beschleunigungsprozessen
163
Großbritannien und Deutschland andere europäische Nationen ohne direkte koloniale Erfahrung an die Seite gestellt werden, zeigt eine subtile Kritik an ganz Europa für die rasante Expansion eines kolonialen Geistes, von dem fast kein Land unberührt bleibt. Mit dieser Darstellung des Schiffes „Leonhard Hagebucher“ als technisches Instrument der Expansion von Kolonialreichen oder als Motor der intensiven Konstitution eines kolonialen Weltverkehrsnetzes mit dessen ausbeuterischen Systemen und Funktionsweisen erhält die Schiffsmetapher auch eine kritische Funktion. Aus der Analyse der Zeitvorstellungen und -erfahrungen in seinen Heimkehrertexten geht hervor, dass der Romanautor Raabe die für die Globalisierungsprozesse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstitutive Beschleunigungserfahrung anhand von bestimmten wiederkehrenden Konstellationen und Motiven in seinem Werk literarisch gestaltet. Dies erfolgt zum einen mittels der literarischen Gestaltung des rasanten soziostrukturellen Wandels im Zuge der Urbanisierungs- und Modernisierungsprozesse, die meistens in Verbindung mit globalem Kapitalismus stehen, und zum anderen mittels einer intensiven Auseinandersetzung mit technologischen Entwicklungen in Kommunikations- und Verkehrsmitteln, die manche Beschleunigungsprozesse auf der kulturtechnischen Ebene sichtbar machen. In den analysierten Heimkehrertexten lässt sich weder eine einseitig affirmative Diskurstendenz noch eine einseitig negative oder ablehnende Haltung gegenüber diesen zeittypischen Beschleunigungsprozessen erkennen. Durch die literarische Gestaltung der Aufbrüche der Rückkehrerfiguren in die weite Fremde sowie der mittlerweile in der Heimat sich beschleunigenden soziokulturellen Umbrüche tragen Raabes Heimkehrertexte den zeittypischen Beschleunigungsprozessen Rechnung. Auf der Ebene der Erzählstruktur lässt sich ansatzweise eine Diskursposition eruieren. Mittels des Chronotopos der Rückkehr – dem das temporale Phänomen der Erinnerung oder der Rückschau in die Vergangenheit inhärent ist – setzt Raabe der von Modernisierungsprozessen angeregten Beschleunigungserfahrung – der eine beständige Projektion in die Zukunft zugrunde liegt – eine Art Entschleunigung entgegen. Dabei scheint die Vergangenheit mehr oder weniger in die Gegenwart einzuwirken und die unaufhörliche Projektion in die Zukunft zu beeinflussen. Wenn auch dadurch das Streben nach Zukunft nicht behindert werden soll, so soll es doch zumindest kritisch reflektiert werden. Raabe, der sich im provinziellen Raum Brauschweig ungefähr vier Jahrzehnte aufgehalten und dort den Großteil seines Werks verfasst hat, schaut zwar kritisch auf die laufenden Beschleunigungsprozesse. Er scheint allerdings zu erkennen, dass sich der Einzelne von diesen Verhältnissen nicht radikal abwenden kann, sondern sich kritisch-reflektierend damit auseinandersetzen soll.
Teil II: Migrationen und Identitätsproblematiken bei Raabe
Einleitendes Ein Blick in Raabes Heimkehrertexte lässt deutlich erkennen, dass der wiederkehrende Figurentyp Rückwanderer strategisch ins Zentrum der jeweiligen Handlungen der Texte gerückt wird, um Mobilität als eine der markantesten historischen Erfahrungen des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen und in seiner zweiten Hälfte im Besonderen literarisch zu gestalten.⁴⁴³ Zum Heimkehrmotiv führt Nünning aus: In einer Welt, in der das Unterwegssein – bedingt durch ökonomische, politische und kulturelle Faktoren – zur bestimmenden Existenzform geworden ist, wird die Heimkehr nicht nur zu einem Kulturthema ersten Ranges, sondern auch zu einem Thema, das in fiktionaler und imaginärer Weise in der Literatur und anderen Medien eine zunehmende Rolle spielt.⁴⁴⁴
Einige Studien über die Geschichte der Migrationen in der Welt heben mit Nachdruck die gewaltigen Migrationswellen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervor. Was Deutschland anbetrifft, wird laut statistischen Annäherungsweisen die Massivität dieses epochalen Phänomens betont. Kocka zufolge fand die erste Auswanderungswelle im Zeitraum 1845 – 1854 statt mit durchschnittlich 100 000 Auswanderern pro Jahr. Die zweite fiel in die Jahre 1864– 1873 mit durchschnittlich 104 000 Auswanderern und die dritte in die Jahre 1880 – 1893 mit 127 000 deutschen Auswanderern im Jahresdurchschnitt (vgl. Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta 2014, S. 70 f.). Marschalck, der in seiner Studie Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert vornehmlich statistisch argumentiert, nennt höhere Zahlen für die deutsche Überseeauswanderung. Laut seinen Angaben gab es in der Periode 1845 – 1854 rund 1 036 500 Auswanderer und in den Zeiträumen 1865 – 1974 und 1880 – 1894 jeweils 1 027 300 und 1 824 700 Auswanderer (vgl. Peter Marschalck: Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur soziologischen Theorie der Bevölkerung. Stuttgart: Ernst Klett 1973, S. 48). Dass die Rückwanderung ein nicht unbedeutendes soziokulturelles Phänomen war, heben manche Studien hervor. Diese betonen jedoch immer wieder, dass Statistiken kaum existieren, da der Umfang dieses Phänomens erst Anfang des 20. Jahrhunderts von den Behörden wahrgenommen und statistisch festgehalten wurde. Was die Rückwanderung aus den USA angeht, bekräftigt Schniedewind, dass Hunderttausende von deutschen Einwanderern Amerika wieder verließen und in die alte Heimat zurückkehrten, sodass ihr Aufenthalt in den USA nur eine Zwischenstation auf ihrem Lebensweg markierte (vgl. Karen Schniedewind: Fremde in der Alten Welt. Transatlantische Rückwanderung. In: Klaus J. Bade (Hg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck 1992, S. 179). Unter Berufung auf die spärlichen Quellen bezüglich der Rückwanderung hat Schniedewind gezeigt, dass diese verhältnismäßig hoch war. Er hat sich mit den Unterlagen der HAPAG (Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft) auseinandergesetzt, aus denen hervorgeht, dass die Rückwanderungsrate der nach Amerika Ausgewanderten zwischen 4,7 Prozent im Jahre 1859 und 6,6 Prozent im Jahre 1875 schwankte (vgl. Karen Schniedewind: Fremde in der Alten Welt, S. 180). Ansgar Nünning: Vorwort. In: Sünne Juterczenka und Kai Marcel Sicks (Hgg.): Figurationen der Heimkehr, S. 7. https://doi.org/10.1515/9783110743029-006
168
Einleitendes
Diese Anmerkung Nünnings zum Thema „Figurationen der Heimkehr“ in Geschichte und Literatur der Neuzeit trifft auch auf die Kulturgeschichte sowie die fiktionale Produktion der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und besonders auf das Schaffen Raabes zu. Mit dem wiederkehrenden Motiv der Rück- und Heimkehr rückt Raabe die globale Mobilität in den Mittelpunkt seines literarischen Schaffens. Dies betont Göttsche: „Von dem frühen Roman Die Kinder von Finkenrode (1859) bis zu dem späten Fragment Altershausen (1902) dient der Chronotopos der Rück- und Heimkehr“,⁴⁴⁵ der bei Raabe „die neue globale Mobilität in reflexiver Brechung vor Augen führt und deutsche Provinz und überseeische Welten auf vielfältige Weise miteinander in Beziehung setzt“,⁴⁴⁶ zur literarischen Auseinandersetzung mit dieser Dimension von Globalisierung als prägnanter Erfahrung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nicht von ungefähr ist daher in Raabes Texten eine gewisse Fixierung auf den Rück- oder Heimkehrer zur intensiven Beschäftigung mit der Auswanderungsthematik als epochentypischem Phänomen von Globalisierungsprozessen festzustellen.⁴⁴⁷ Mit dieser Figur wird, um mit Krobb zu sprechen, die zu deren Vorgeschichte gehörende Auswanderung in den Mittelpunkt des literarischen Diskurses Raabes gestellt.⁴⁴⁸ In seinem Werk – zumindest was das Korpus dieser Studie angeht – kommen die Rückwanderer zwar meistens aus den USA (in Die Leute aus dem Walde, Alte Nester, Die Akten des Vogelsangs, Prinzessin Fisch) aber doch auch aus Afrika (in Abu Telfan und Stopfkuchen), Brasilien (in Zum wilden Mann) und den ehemaligen
Dirk Göttsche: Tom Jensen war in Indien, S. 35. Dirk Göttsche: Tom Jensen war in Indien, S. 35. Hamann et al. betonen zu Recht, dass die Auswanderungsthematik in literatur- und kulturwissenschaftlichen Studien über deutschsprachige literarische Texte aus dem Zeitraum 1848 – 1900 nicht genügend erforscht worden ist: „Bei Karl May kann Migration und Kolonialismus untersucht werden, bei Raabe hingegen die Entwicklung und Etablierung des Individuums. Deutlich zeigt sich dieser Befund in Studien über die Epoche des Bürgerlichen Realismus, etwa in dem von Edward McInnes und Gerhard Plumpe herausgegebenen Sammelband oder in Arbeiten von Sabina Becker, Bernd Balzer und Hugo Aust. Sowohl Wanderungsbewegungen im Allgemeinen als auch Amerikamigration im Besonderen sind diesen Untersuchungen zufolge kein Thema für Autoren wie Raabe, Keller oder Fontane“ (Christof Hamann & Ute Gerhard & Walter Grünzweig: Einleitung. In: dies. (Hgg.): Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848, S.12). Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass diese Thematik seit den 2010er Jahren immer mehr in den Fokus einiger Studien gerät. Neben dem von Hamann et al. herausgegebenen Sammelband ist der 2013 von Göttsche und Berbig herausgegebene Sammelband Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus zu nennen, in dem die Migration mit Blick auf die Vernetzung der Welt im 19. Jahrhundert bei Fontane, Raabe, Eschenbach, Auerbach, Spielhagen, Gutzkow und Stifter erforscht wird. Vgl. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 20.
Einleitendes
169
holländischen Kolonien Südostasiens (in Fabian und Sebastian). Bei näherer Hinsicht entsprechen diese ehemaligen fremden Aufenthaltsorte der Rückwanderer in Raabes Werk verhältnismäßig und doch mit unterschiedlicher historischer Gewichtung den Zielorten der deutschen Auswanderungswellen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Einige Studien, die sich mit der deutschamerikanischen Rückwanderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auseinandersetzen, betonen, dass die USA dem massiven Charakter der deutschamerikanischen Auswanderung entsprechend ebenfalls den Herkunftsort der bei weitem größten Mehrheit der Rückwanderer bildete. Sie führen aber auch andere, nicht unbedeutende Herkunftsorte der deutschen Rückwanderung in diesem Zeitraum an. Beispielhaft hierfür steht Vagts Studie mit dem Titel Deutsch-amerikanische Rückwanderung: Probleme – Phänomene – Statistik – Politik – Soziologie – Biographie. Hier führt er aus: Deutschlands Rückkehrer sind aus vielen Ländern gekommen […,] aus den niederländischostindischen Kolonien, wo Deutsche bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus als Soldaten und Administratoren dienten; aus Südamerika, woher Hermann Blumenau (1811– 1899), der Gründer der südbrasilianischen Kolonie, die seinen Namen trägt, 1884 zurückkam. Aber die stärkste und bedeutsamste Rückwanderung war, dem Umfang der Auswanderung entsprechend, und fast so alt wie diese seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in größerem Ausmaß bemerkbar, die aus den Vereinigten Staaten.⁴⁴⁹
Er betont darüber hinaus, dass Rückwanderer, die zuvor in Deutschland vielmehr als fiktive Figuren im künstlerischen Schaffen wahrzunehmen waren,⁴⁵⁰ angesichts ihrer Menge zu einem konkret greifbaren sozialen Phänomen avancierten.
Alfred Vagts: Deutsch-amerikanische Rückwanderung. Probleme – Phänomene – Statistik – Politik – Soziologie– Biographie. Heidelberg: Carl Winter 1960, S. 14. Dass Afrika unter den von Vagts angeführten Herkunftsorten der Rückwanderer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht genannt wurde, kann dadurch gerechtfertigt werden, dass das Rückwanderungsphänomen aus diesem Kontinent zu jenem Zeitpunkt marginal war. Zwei Elemente können diese Tatsache begründen. Zum einen gab es vor dem Einsetzen des deutschen kolonialen Abenteuers im Jahre 1884 eine auf vereinzelte Forscher eingegrenzte deutsche Migration nach Afrika. Demzufolge war die Zahl dieser später aus Afrika heimgekehrten deutschen Forscher sehr gering, um gesellschaftliches Aufsehen erregen zu können. Zum anderen lässt dieses kurzzeitige koloniale Abenteuer Deutschlands in Afrika im Zeitraum 1884– 1919 erkennen, dass sich die Rückwanderung der Deutschen aus Afrika – in diesem Fall also meist aus ehemaligen Kolonisten bestehend – erst nach dem Ersten Weltkrieg zu einem gesellschaftlichen Phänomen entwickelt hatte. Siehe hierzu Rolf Parr: Der „Onkel aus Amerika“. Import von Amerikawissen oder Re-Import alter Stereotype? In: Christof Hamann u. a. (Hgg.): Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848, S. 21– 38.
170
Einleitendes
Dieses Phänomen wird durch die technisch fortgeschrittenen Verkehrsmittel, die die Migrationswellen beschleunigten, ebenfalls beflügelt.⁴⁵¹ Es ist einleuchtend, dass Rückwanderungsphänomene vielseitige soziokulturelle Implikationen für die heimatliche Gesellschaft haben, denn manche sich in Vorstellungen sowie Praktiken niederschlagenden Sinngebungsstrukturen und Wertorientierungen können im Zuge ihrer Relationierung mit den vom Rückwanderer aus der Fremde mitgebrachten Denk- und Handlungsmustern relativiert und gar ihrer Selbstverständlichkeit entzogen werden. Rückwanderungen stellen des Weiteren Konstellationen individueller sowie kollektiver Identität bereit, die im Kontext der globalen Mobilität immer komplexer werden. Der Rückwanderer kann selten gegenüber den kulturellen Verhältnissen des fremden Aufenthaltsortes gänzlich gleichgültig bleiben. Er kann sie zwar einerseits kritisch reflektieren, aber andererseits kann er mehr oder weniger von der Kultur der Fremde affiziert oder beeinflusst werden. Mit seiner Rückkehr in die Heimat soll er seine Position als Subjekt im wiedergefundenen kulturellen Raum, der mittlerweile gewaltige Änderungen durchlaufen hat, verhandeln. Diese kollektive und individuelle Identität in ihren facettenreichen Konstellationen im Kontext der globalen Mobilität bei Raabe zu analysieren ist ein bedeutendes Ziel dieses Teils. Eine solche Analyse kann einem der Ziele der vorliegenden Studie, d. h. dem Erschließen verschiedener Diskurspositionen über das zeittypische Phänomen Globalisierung, näher führen. Abgesehen von Die Leute aus dem Walde, in dem ein Teil der Handlung in der Erzählgegenwart in den USA spielt, siedelt Raabe die Handlungen seiner Texte in Deutschland, d. h. in der „ursprünglichen“ Heimat der Rück- und Heimkehrerfiguren an. Dies weist darauf hin, dass auf der einen Seite weniger die sozialpolitischen und soziokulturellen Verhältnisse der Zielorte von deutschen Migrationen als vielmehr die in der Heimat umlaufenden sowie die Mentalität der Zeitgenossen prägenden Diskurs- und Vorstellungskomplexe über diese von Belang sind. Auf der anderen Seite deutet diese Konfiguration an, dass weniger das Leben und die Handlungen dieser ehemaligen oder derzeitigen Auswanderer in der Fremde als vielmehr die vielseitigen Folgen ihrer Handlungen auf der heimatlichen Gesellschaft literarisch reflektiert werden. Martini, der sich spezifisch mit der deutschen Amerikaauswanderung bei manchen Autoren des Realismus auseinandersetzt, spricht in diesem Zusammenhang von einer Blickverschiebung: „Man fragt weniger nach der Situation der Deutschen in Amerika […]. Man fragt mehr danach, was von dem Rückwanderer auf sein deutsches Ausgangsland zurückwirkt“.⁴⁵²
Vgl. Alfred Vagts: Deutsch-amerikanische Rückwanderung, S. 21. Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer, S. 180.
Kapitel 3 Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen über die epochalen Globalisierungsphänomene Migration und Kolonisation Das die Heimkehrertexte Raabes durchziehende Thema der deutschen Migration nach Übersee ist offensichtlich eine der globalisierungsrelevanten Dimensionen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit denen sich seine Texte am intensivsten auseinandersetzen. Hiermit ergreift das Werk Raabes das Wort auf einem hoch brisanten gesellschaftspolitischen Diskursfeld, auf dem sich verschiedene Stimmen aus unterschiedlichen literarischen und nicht literarischen Quellen hören lassen. In diesem Zusammenhang schreibt Krobb: Raabe begibt sich auf dem Diskursfeld der Auswanderung in Konkurrenz zu anderen Stimmen, prominent darunter die Auswanderungs-Handbücher, Werbemittel und länderkundliche, landwirtschaftliche, klimatische, lebenspraktische Vorabinformation zu möglichen Auswanderungsregionen. Die politisch-weltanschauliche Dimension von Auswanderungsliteratur, Ratgebern und Werbebroschüren⁴⁵³
war ebenfalls bedeutend im Verfassungszeitraum seiner Texte. Wie bereits erwähnt, suggerieren die Handlungskonstellationen der meisten Heimkehrertexte Raabes allerdings, dass diese Migrationen vielmehr Anlass zur literarischen Auseinandersetzung mit den in der Heimat zirkulierenden gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Diskursen geben. Eine Analyse des diesen Diskursen zugrunde liegenden Vorstellungs- und Wahrnehmungskomplexes über Migrationsphänomene bzw. über Zielorte von Migrationen kann demzufolge Aufschluss bieten über die herrschenden Deutungsmuster und mehr noch über die die zeittypische Mentalität prägenden Denksysteme. Darüber hinaus lässt eine Untersuchung dieser Repräsentationen nicht nur manche Elemente der symbolischen Ordnung der epochalen Kultur der Globalisierung herausstellen,⁴⁵⁴ sondern auch das Globalisierungsbewusstsein der Zeitgenossen ausloten. Dem methodischen Verfahren der vorliegenden Studie folgend kann ein In-Beziehung-Setzen der in den Texten Raabes literarisierten Diskurse zu zirkulierenden populärkulturellen Diskursen über Migration manche Berührungspunkte ans Licht bringen und oh-
Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 66. Vgl. Tilmann Köppe und Simone Winko: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 225. https://doi.org/10.1515/9783110743029-007
172
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
nehin zum Ergründen verschiedener Diskurspositionen zum Globalisierungsphänomen Auswanderung in seinem Werk verhelfen. Die bei Raabe literarisch reflektierten Diskurse, Vorstellungen und Imaginationen über bestimmte beliebte Zielorte der deutschen Migrationen nach Übersee weisen gewissermaßen auf die im sozialpolitischen und soziokulturellen Entstehungszusammenhang seines Werkes herrschende Diskussion hin, die im Allgemeinen polarisiert war. Sich an diesen die Mentalität seiner Zeitgenossen formenden epochalen Ideen und strukturierenden zeittypischen Diskursen abarbeitend, partizipiert Raabe also an einer brisanten globalisierungsrelevanten Diskussion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen Auswanderungsapologeten und -kritikern. Hiermit ergreift sein literarisches Schaffen das Wort in einem Kontext, in dem sich verschiedene Positionen in gesellschaftspolitischen und fiktionalen Diskursen aus der dynamischen medialen Welt der Epoche bekunden, was den hohen Grad an Brisanz seiner Texte in Bezug auf den Diskurszusammenhang ihrer Entstehungszeit deutlich zeigt. Diese auf den kulturgeschichtlichen Entstehungskontext hinweisenden zirkulierenden Diskurse über Auswanderung zu konturieren, kann wie bereits erwähnt zur Erschließung einer Diskurslinie bei Raabe beitragen. Entsprechend den bei Raabe am meisten infrage kommenden Zielorten der deutschen Überseeauswanderung werden in der folgenden Analyse die literarisch gestalteten Migrationen nach Amerika (USA),⁴⁵⁵ Afrika, Brasilien und in die holländischen Kolonien Südostasiens einer erfahrungsgeschichtlich angelegten diskursanalytischen Untersuchung unterzogen. Die den epochalen literarischen und nicht-literarischen Texten über das laufende Globalisierungsphänomen Migration zugrunde liegenden Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Interpretationskomplexe werden daher in den Fokus genommen.
Wie in der Forschungsliteratur bezüglich der Mythen über die Vereinigten Staaten häufig betont wird, gehört es u. a. zu den seit langer Zeit umlaufenden Mythen, den generischen Namen „Amerika“ eher für die USA als für den ganzen amerikanischen Kontinent zu benutzen. In dieser Studie werden sowohl die Namen „USA“ und „Vereinigte Staaten“ als auch den generischen Namen „Amerika“ als gleichbedeutend verwendet, um die zeittypischen Sprechweisen oder die epochale Begrifflichkeit abzubilden.
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
173
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika: kritische Reflexionen über Vorstellungen und Imaginationen über ein brisantes kulturelles und sozialpolitisches Phänomen Die Thematik der deutschen Auswanderung nach Amerika durchzieht das sich über die ganze zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erstreckende Zeitromanwerk Raabes. Dass diese Thematik, die in diesem Zeitraum ebenfalls die gesellschaftliche, politische und kulturelle Wirklichkeit prägte,⁴⁵⁶ im Mittelpunkt seines Schaffens steht, spiegelt die enge Verbindung seiner Texte mit ihrem entstehungsgeschichtlichen Kontext. Wie bereits erwähnt, ist bei Raabe eine Rekurrenz des Rückkehrmotivs zur Thematisierung von Auswanderungsfragen festzustellen. Ein Blick in seine Heimkehrertexte lässt deutlich erkennen, dass die Rückkehrerfiguren mehrheitlich aus Amerika kommen. Somit wird der gesellschaftspolitischen Gewichtigkeit sowie der soziokulturellen Relevanz der deutschen Migration in die Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Rechnung getragen. Der Rückkehrer spielte eine bedeutende Rolle für das Auswanderungsziel Amerika in dieser Epoche, denn für die Entscheidung von Auswanderungswilligen war der persönliche Erfahrungsbericht von Heimkehrern, d. h. deren Erfolg oder Scheitern, entscheidend.⁴⁵⁷ Hiermit lassen sich die Heimkehrertexte Raabes der umfangreichen Bandbreite fiktionaler Texte zurechnen, deren Rückwanderungsmotive „ein wichtiger Bestandteil der fiktionalen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der [Amerika‐] Auswanderung“⁴⁵⁸ im gesamten 19. Jahrhundert im Allgemeinen und im Besonderen in seiner zweiten Hälfte sind. Das Werk Raabes partizipiert mit der intensiven Thematisierung der deutschen Amerikaauswanderung gewissermaßen an einer Debatte, die mit Blick auf den literarischen Diskurszusammenhang der Epoche weitgehend polarisiert war. Der
In einer von Vagts aufgearbeiteten statistischen Darstellung der deutschen überseeischen Auswanderung nach Zielländern im Zeitraum 1847– 1914 stellt sich heraus, dass im Zeitraum 1851– 1900 die Auswanderung nach Amerika durchgehend über 80 Prozent der gesamtdeutschen überseeischen Auswanderung ausmachte (vgl. Alfred Vagts: Deutsch-amerikanische Rückwanderung, S. 49). Dass Deutschland zu den bedeutendsten Herkunftsländern der weltweiten massiven Einwanderung in die Vereinigten Staaten gehörte, betont Krobb, der anmerkt, dass 30 Prozent der eingewanderten Bevölkerung deutscher Staatsangehörigkeit waren (vgl. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 20). Vgl. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 68. Juliane Mikoletzky: Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur. Tübingen: Niemeyer 1988, S. 186.
174
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
Impuls zu dieser Polarisierung wurde von den Autoren Ernst Willkommen und Ferdinand Kürnberger gegeben. In ihren jeweiligen Romanen Die Europamüden (1838) und Der Amerika-Müde (1855) bezogen sie radikal entgegengesetzte Standpunkte.⁴⁵⁹ Diese in literarischen Diskursen festzustellende Polarisierung ist ein Spiegelbild der in der Gesellschaft bestehenden entgegengesetzten Vorstellungen und Wahrnehmungen über die Vereinigten Staaten, den beliebtesten Zielort der deutschen Überseeauswanderung. In diesem Zusammenhang führt Martini aus: Die heftigen Auseinandersetzungen pro und contra Amerika, die sich gegenseitig steigerten, waren keineswegs nur literarischer, vielmehr primär politisch-sozialer Art angesichts der Tatsache und des Problems massenhafter Auswanderungen; sie wurden als Werbung für oder Warnung vor der Auswanderung immer wieder mit politischem Brennstoff aufgeladen.⁴⁶⁰
Dass sich die Amerikafrage mit Blick auf die laufenden massiven Auswanderungen nach Amerika mit unheimlicher Vehemenz auf dem sozialen Feld durchsetzte, spiegelt die Intensität des Amerikadiskurses in einer Vielzahl von umlaufenden fiktionalen und nicht-fiktionalen Quellen.⁴⁶¹ Ein mit dem Titel „Amerika und Deutschland“ in Die Gartenlaube des Jahres 1853 erschienener Artikel zeugt von diesem übermäßigen Einzug des in der Öffentlichkeit immer mehr zulegenden Amerikadiskurses ins Bewusstsein der Zeitgenossen. Hier heißt es: Mehr und mehr nehmen die amerikanischen Zustände das Interesse Deutschlands in Anspruch und der deutsche Buchhandel läßt es sich angelegen sein, der Wißbegierde nach jeder Richtung hin Befriedigung zu schaffen. Die politischen Zeitungen bringen in ihren Feuilletons die ausführlichsten Berichte über die dortigen politischen Zustände und Per-
Wie eine nähere Betrachtung der Titel dieser beiden Bücher nahelegt, vertreten sie entgegengesetzte Wahrnehmungen, die für die epochale literarische Diskursivierung von Amerika typisch sind. Die von Willkommen vertretene Vorstellung von Europamüdigkeit „verband Reflexionen über die Ausweglosigkeit, die er und viele seiner Zeitgenossen damals [im alten Europa] empfanden, mit einer Hymne auf die Neue Welt als letzte Zuflucht für gefühlsstarke Menschen“ (Peter Boerner: Amerikabilder der europäischen Literatur. Wunsch und Kritik. In: Martin Christadler u. a. (Hgg.): Amerikastudien. 23, 1. Stuttgart: J.B. Metzlersche 1978, S. 46). Demzufolge erreicht die Amerikaverherrlichung in seinem Text einen kaum zu überbietenden Höhepunkt. Dagegen verdichten sich in Kürnbergers Vorstellung der Amerikamüdigkeit die negativen Wahrnehmungen über die Vereinigten Staaten. Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer, S. 179. Was die fiktionalen Quellen der Epoche angeht, siehe Juliane Mikoletzky: Die deutsche Amerika- Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur. Tübingen: Niemeyer 1988.
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
175
sönlichkeiten, die Auswanderungszeitungen, deren bereits drei bestehen, bieten jede Woche die reichhaltigsten Mittheilungen aus dem Lande, nach dem sich so Viele sehnen.⁴⁶²
Rößler, der die gewichtige Stellung der Medien für die Formation des Amerikadiskurses, die Bestimmung mancher gesellschaftspolitischen Wahrnehmungen und noch mehr ihre polarisierten Diskurspositionen in Auswanderungseuphorie und -skepsis betont, bekräftigt diese Entwicklung: Es gab eine Flut von Werbebroschüren und Auswandererratgebern, auch solche die vor dem grassierenden ‚Auswanderungsfieber‘ warnten. Daneben kursierten spezielle Auswandererzeitschriften, in der Presse veröffentlichte Reiseberichte und Korrespondenzen, fiktive Zeugnisse in der Trivialliteratur und viele Auswandererlieder.⁴⁶³
Die Dichte der in den Zeitungsquellen der Epoche erschienenen sachlichen Texte sowie literarischen Skizzen einerseits zur Kenntnisnahme und andererseits zur Fiktionalisierung von Amerika zeugt von der gewichtigen Stellung, die die Neue Welt nicht nur in den epochalen Diskursformationen einnahm, sondern auch in der Wahrnehmung, und im Bewusstsein der Zeitgenossen.⁴⁶⁴ Boerner, der die Verschränkung zwischen dem Bild eines fremden Landes in der Literatur und in der Gesellschaft zu erfassen versucht, fügt die Dimension des geistigen Lebens und Werkzeugs hinzu, was eine enge Beziehung zwischen Mentalität, alltagskulturellen Verhältnissen und literarischem Diskurs suggeriert: Jedes Bild eines anderen Landes stellt eine komplizierte Verbindung literarischer und gleicherweise nicht-literarischer Kräfte dar. Es
[Anonym]: Amerika und Deutschland. In: Die Gartenlaube 5 (1853), S. 54. Horst Rößler: Massenexodus. Die Neue Welt des 19. Jahrhunderts. In: Klaus J. Bade (Hg.). Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland, S. 150. In manchen populärwissenschaftlichen Quellen wird die intensive Diskursivierung der „Neuen Welt“ begründet einerseits mit ihrem rasanten Gedeihen und dem Bewusstsein der Zeitgenossen von ihrem steigenden Einfluss sowie ihrer gewichtigen Rolle für die Zukunft der „Alten Welt“. In einem Auszug aus einem Artikel heißt es: „Was immer man auch über Amerika sagen mag, das ist nicht zu läugnen, die Union offenbart als Reich im Innern wie nach Außen eine Lebenskraft und ein Gedeihen, wie es die Geschichte bisher in seinem Staate, weder des Alterthums noch der neuern Zeit, in gleichem Maaße erblickt hat. Den großen Einfluß, den in den jüngsten Tagen Amerika faktisch auf Europa schon ausübt, und der sich nothwendig mit jedem Tage noch steigern muß, macht es uns zur Pflicht, das Land und seine Zustände genau kennen zu lernen, das einst über unsere Zukunft das entscheidende Wort aussprechen wird“ ([Anonym]: Nordamerika, sein Land und seine Zustände. In: Die Gartenlaube 1 (1854), 10).
176
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
spiegelt, wenn auch bisweilen nur indirekt, die soziale und geistige Lage eines Volkes, von den Angelegenheiten des täglichen Lebens bis in den Bereich von Dichtung und Mythos.⁴⁶⁵
Diese Verschränkung zwischen Alltagskultur, Mentalität und literarischem Diskurs artikuliert sich mit besonderem Nachdruck in Raabes Werk. Bereits in seinem 1856 erschienenen Erstling Die Chronik der Sperlingsgasse wird die deutsche Auswanderung nach Amerika angedeutet.⁴⁶⁶ In zwei verschiedenen Szenen führt der Erzähler Wachholder dem Leser dieses akute soziale Problem vor Augen. In der ersten zeigen seine Gedankengänge, dass das Bild von auf den Atlantik fahrenden Schiffen, die deutsche Auswanderer scharenweise nach Amerika befördern, für die Zeitgenossen zum Alltag geworden ist. Über das vergangene Leben in der Sperlingsgasse berichtet er: Immer goldner glänzte der Himmel im Westen, immer tiefer sank die Sonne dem Horizont zu. Nacht ward’s auf der einen Hälfte dieses drehenden Balles, während auf dem großen Atlantischen Ozean vielleicht eben ein Schiff, dem jungen Amerika entgegensegelnd, die Sonne aufsteigend begrüßte. Vielleicht ist es nur ein Schiff, das jetzt im jungen Tage segelt, während hier die Nacht sich über so viele Millionen legt (BA 1, S. 71).
In der zweiten insistiert Wachholder auf den Gründen, die die deutschen Familien zum Ausbrechen aus der Heimat zwingen. Er beschreibt hierzu die Wohn- und Lebensverhältnisse der Familie des Schuhmachers Burger, die sich anschickt, am gleichen Abend nach Amerika zu fahren: Lange, lange hatte ich in dieser Gasse gewohnt, täglich fast war ich vor diesem Hause, vor diesen trüben Fenstern vorbeigegangen, und heute, am letzten Tage, den die arme hier wohnende Familie dahinter zubringt, steige ich zum ersten Male die feuchten Stufen hinab zu ihr. Der Zeichner stellte mich dem Hausherrn vor, dem Schuhmacher Burger […]. Heute Abend führt ihn und die Seinigen die Eisenbahn der Seestadt zu, von wo sie ein Schiff nach einer neuen Heimat, nach dem jungen Amerika bringen soll (BA 1, S. 165 f.).
Peter Boerner: Das Bild vom anderen Land als Gegenstand literarischer Forschung. In: Alexander Ritter (Hg.): Deutschlands literarisches Amerikabild. Neuere Forschungen zur Amerikarezeption der deutschen Literatur. Hildesheim, New York: Georg Olms 1977, S. 31. Dieser Text gehört zwar nicht zum Korpus der vorliegenden Studie, denn hier gibt es kein Rückkehrmotiv. Er wird jedoch hier angeführt, um die Bedeutung dieser das ganze Schaffen Raabes durchziehenden Thematik der deutschen Amerika-Auswanderung hervorzuheben. Das Erscheinungsjahr dieses Erstlings Raabes fällt ungefähr zusammen mit dem Ende des Zeitraums der ersten deutschen Migrationswellen nach Amerika (vgl. Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert, S. 70 f oder Peter Marschalck: Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 48).
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
177
Dass die in dieser Darstellung der Lebensverhältnisse der Familie Burger zu erkennende Armut keine Sondererscheinung, sondern prototypisch für eine die deutsche Bevölkerung in die Neue Welt zwingende generalisierte soziale Misere ist, betont Wachholder, der seinen Bericht fortführt: Es ist nicht mehr die alte germanische Wander- und Abenteuerlust, welche das Volk forttreibt von Haus und Hof, aus den Städten und vom Lande […], die den Hirten herabzieht von seinen Alpenweiden und sie alle fortwirbelt, dem fernen Westen zu: Not, Elend und Druck sind’s, welche jetzt das Volk geißeln, daß es mit blutendem Herzen die Heimat verläßt (BA 1, S. 166).
Mit der nachdrücklichen Betonung des weit verbreiteten sozialen Elends als einem der Gründe, weshalb die Deutschen massenhaft aus der Heimat in Richtung Amerika ausbrechen,⁴⁶⁷ wird einer der Push-Faktoren der deutschen Amerikaauswanderung angesprochen. Mit dem Wort „Druck“ wird hier ein anderer PushFaktor, nämlich die durch fehlende Freiheit gekennzeichnete politische Lage nach der gescheiterten Revolution von 1848 angedeutet. Im letzten abgeschlossenen Text Raabes, Die Akten des Vogelsangs, scheint das herrschende soziale Elend die Auswanderung von Charles Trotzendorff motiviert zu haben, denn der Erzähler Krumhardt sagt: „In unserer Heimatstadt war er Auswanderungsagent und wanderte seinerseit selber aus, und zwar aus zwingenden Gründen.“ (BA 19, S. 229) Dieses soziale Elend ergab sich aus einer
In manchen fiktionalen Texten aus populärkulturellen Quellen tritt auch das soziale Elend implizit oder explizit als Begründung zur Massenauswanderung der Deutschen nach Amerika hervor. Aus dem folgenden Auszug aus einem 1864 erschienenen Text mit dem Titel „Sie gehen nach Amerika“, in dem ein Gespräch zwischen zwei Künstlern inszeniert wird, – wobei der eine eindeutig gegen die laufende deutsche Amerikaauswanderung eintritt und der andere sie eher zu verstehen versucht – wird die bestehende soziale Lage als Begründung impliziert. In diesem Text steht: „Es war im großen politischen Blüthen- und Kränzejahre 1863, gerade in den Tagen der deutschen bundesfürstlichen Wiederverherrlichung der schwarz-roth-goldnen Fahnen, als ich mit meinem Freunde L., einem ebenso lebensfrohen als patriotischen Künstler, von Mainz aus den Rhein hinabfuhr. […] Was mir aber jene Fahrt so unvergeßlich machte, war nicht der deutsche Flaggenschmuck des Schiffs, sondern ein Auswandererzug, der auf dem Vorderdeck sein Lager aufgeschlagen hatte: deutsche Auswanderer – auf dem grünen Rhein, zwischen der lachendsten Herrlichkeit der ganzen deutschen Erde! Der Gedanke schon hat Kraft genug, jedem ehrlichen deutschen Mann das Auge zu trüben; aber der Anblick selbst macht doch noch empfindlicheres Herzweh. […] „Ist’s denn möglich,“ rief mein Freund aus, als er die Gruppe mit raschem Künstlerauge gemustert hatte. – „ist’s menschenmöglich, daß Deutsche auf diesem Strome ihr Vaterland verlassen können? Wer das über sich vermag, der muß von Vaterlandsliebe keinen Funken in sich spüren!“ „Freund, nicht ungerecht! Prüfe erst, und Du wirst finden, daß wir nicht sie anzuklagen haben, die von uns scheiden, sondern die Umstände, die sie von dannen treiben“ ([F.H.]: Sie gehen nach Amerika. In: Die Gartenlaube 6 (1864), S. 85 f.).
178
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
Zusammenwirkung von Bevölkerungsdruck, Missernten, Ernährungs- und Teuerungskrisen, Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit.⁴⁶⁸ Ein Blick in die mediale Diskurswelt der Epoche lässt deutlich erkennen, dass das aus einem Zusammenspiel von Überbevölkerung, Missernte und wirtschaftlicher Not resultierende soziale Elend im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses stand. Die Schärfe dieses den Großteil der Bevölkerung erdrückenden Pauperismus tritt deutlich in diesem Auszug aus einem 1851 erschienenen Artikel mit der Überschrift „Ueber den Nothstand in einem Theile von Westphalen“ hervor. In diesem anonymen Artikel aus einer christlich ausgerichteten Zeitung schreibt der Autor: Als ich in den rheinischen, und westphälischen Blättern, unter andern in Nr. 221 der deutsch. Volkshalle und in Nr. 33 u. ff. des westphälischen Volksblattes, die Berichte über den hereinbrechenden „Hungertyphus,“ der, wie vor einigen Jahren in Oberschlesien, die Gemeinden Stukenbrok und Hövelhof im Kreise Paderborn, Reg. Bez. Minden, mit seinem Pesthauche zu verheeren droht, las: da wurde ich von tiefem Schmerze des Mitleids ergriffen und hielt mich verpflichtet, auch an meine schlesischen Mitbrüder über die Sachlage nach meinem besten Wissen und Willen Bericht zu erstatten. Denn es muß Einem das Herz bluten, wenn man aus den glaubhaftesten Berichten ersieht, wie die Bewohner dieser unglücklichen Gegend, die als ein biederes, arbeitsames und religiöses Volk allgemein bekannt sind, Gras und Laub essen, um den Hunger zu stillen […,] hie und da hatten sich an geeigneten Plätzen Bauernhöfe gebildet, denen, da ihrer wenige waren, eine gewisse Wohlhabenheit nicht abgesprochen werden konnte. Nach und nach fing man aber an, die Wälder zu rasiren und den Boden urbar zu machen; auch der Anbau in den Haiden wurde begünstiget und die Population nahm in wenigen Jahren so zu, daß man bald da, wo man kurz zuvor noch Wald oder Haide sah, jetzt eine bunte Reihe von Häusern gewahrte. Da nun aber der kärgliche Ertrag des dürren Bodens nicht ausreichte, den ungewöhnlichen Zuwachs der Bewohner zu ernähren, so blieben die neuen Anbauer und Heuerlinge nach dem Beispiele ihrer Nachbaren in der Grafschaft Rietberg und Ravensberg, so wie in den Lippe’schen Staaten lediglich auf die Spinnerei und Weberei als ihre Hauptnahrungsquelle hingewiesen. Indessen ist auch diese fast einzige Erwerbsquelle dieser Gegend durch das Maschinenwesen gänzlich verdrängt. Mißwachs aller Art und das dort häufig grassirende sogenannte „holländische“ Fieber haben das Uebel noch gesteigert und die unglücklichen Bewohner in ein unabsehbares Elend gestürzt.⁴⁶⁹
Dieser Artikel zeigt deutlich am Beispiel des sozialen Elends in einer Region Deutschlands, wie dieses doch das ganze Land betreffende Problem aus einem Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren – eine rasant wachsende Bevölkerung, schlechte agrarwirtschaftliche Verhältnisse und Industrialisierung – wächst.
Vgl. Horst Rößler: Massenexodus, S. 149. [Anonym]: Ueber den Nothstand in einem Theile von Westphalen. In: Schlesisches Kirchenblatt 40 (1851), S. 499.
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
179
In manchen der in den jeweiligen Handlungen von Raabes Texten durchgespielten Konfigurationen der deutschen Amerikaauswanderung – die vom 1856 erschienenen Erstling Die Chronik der Sperlingsgasse bis letzten abgeschlossenen und 1896 veröffentlichten Text Die Akten des Vogelsangs das Schaffen Raabes weitgehend prägt – sind verschiedene Konstellationen dieses sozialen Elends als Push-Faktor erkennbar. In einigen Texten wird die wirtschaftliche Verschlechterung, die zu einer solchen sozialen Notlage geführt hatte, literarisch inszeniert. Dies ist ersichtlich an der Geschichte der Figur Just Everstein in Alter Nester. Er ist ein Bauer, dessen landwirtschaftliches Gut wegen hohen Schulden bankrottgegangen ist. Deswegen reist er nach Amerika, wo er sich in vielerlei Hinsicht entfaltet. Dort erfährt er vor allem eine „existentielle Wiedergeburt‘“⁴⁷⁰ sowie eine „psychische und soziale Regeneration“.⁴⁷¹ Ritters Interpretationsansatz, demzufolge Eversteins „Auswanderung […] in des Helden individueller Krisenzeit die zeitgenössische Krisenzeit und damit Raabes kritische Reflexion der eigenen Gegenwart und ihrer Geschichtlichkeit“⁴⁷² aufzeigt, ist in diesem Zusammenhang sehr interessant. Wie bereits im zweiten Kapitel angedeutet (siehe Kap. 2.2), wird hier durch die Darstellung der von einer scharfen Krise geprägten Biographie der Hauptgestalt postuliert, dass der Autor die krisenhafte gesellschaftspolitische Lage seiner Epoche anthropomorphisiert. „Raabe passt seinen Helden in die wanderungsgeschichtlich- soziologischen Verhältnisse der Zeit ein“⁴⁷³ und inszeniert somit die zur massiven Auswanderung nach Amerika führende zeittypische soziale und wirtschaftliche Wirklichkeit. Manche gängigen epochalen Interpretationen, Imaginationen und Vorstellungen, die die Neue Welt einerseits „als Land [d]er Träume und Hoffnungen“⁴⁷⁴ und andererseits als „Land der Verheißung“⁴⁷⁵ betrachten – wobei die Eldoradooder Paradies-Mythen vermehrt Einsatz in fiktionalen und nicht-fiktionalen Diskursen finden –, entsprechen zwar vielmehr den Erwartungen der Europäer gegenüber Amerika.⁴⁷⁶ Sie sind aber auch weitgehend mitgeprägt von dem Bild, das
Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 181. Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 182. Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 180. Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 185. Horst Rößler: Massenexodus, S. 153. Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt, S. 45 – 137. Dass diese Erwartungen der Europäer gegenüber Amerika eine lange Geschichte haben, zeigt Boerner, der zu jedem Jahrhundert seit der Entdeckung Amerikas die dominante Erwartung in ein Konzept zu fassen versucht. Seinen Ausführungen zufolge sind das 16. Jahrhundert von den „Gedanken an das goldene Land“ und das 17. Jahrhundert von der „Verheißung des Neuen Jerusalem“ dominiert. Im 18. Jahrhundert war das Bild der idealen und gerechten Republik vorherrschend, während die „Vorstellung von Amerika als einem Eldorado der europäischen Siedler“
180
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
die Auswanderer von der sozialen Lage der eigenen Heimat haben. In diesem Zusammenhang schreibt Rößler: „Die Wurzel des [Amerika]-Mythos bildeten mithin die Verhältnisse in der Heimat“.⁴⁷⁷ Mit manchen dieser den Amerika-Mythos bildenden geläufigen Vorstellungen und Imaginationen, deren Anreizfunktion für die Auswanderer unverkennbar ist, setzt sich das Werk Raabes intensiv auseinander.⁴⁷⁸ In einer vom Für oder Wider hinsichtlich der Amerikaauswanderung zerstrittenen Gesellschaft gilt Raabes literarische Auseinandersetzung mit solchen Repräsentationen von Amerika als Wortmeldung in einer brisanten gesellschaftspolitischen Debatte. In einer Szene des Textes Prinzessin Fisch stellt der Erzähler die Vorstellungen und Imaginationen des jungen Theodors über den Herkunftsort seines heimgekehrten Bruders Alexander dar. Er sagt: Aber der jüngere Bruder wußte auf einmal ganz genau, wo er eben gewesen war […]. In einem wundervollen, unermeßlichen Reich der Ungebundenheit, der Freiheit, der Schönheit, des Lichtes, der Jugend, des tapferen Mutes und des Glückes – weit weg – märchenhaft weit über dem Kuhstiege (BA 15, S. 265).
In dieser Darstellung der Vorstellungen Theodors über den fremden Aufenthaltsort seines Bruders verdichten sich die im populärwissenschaftlichen und fiktionalen Diskurs zirkulierenden Imaginationen der Epoche über Amerika.⁴⁷⁹
das 19. Jahrhundert bestimmte (vgl. Peter Boerner: Utopia in der Neuen Welt, S. 360 f). In dieser zusammenfassenden Darstellung der Ausführungen Boerners zeichnen sich einige Züge der geschichtsphilosophischen Bedeutung Amerikas ab. Horst Rößler: Massenexodus, S. 154. Die bei Raabe zu erkennende Vielzahl von zirkulierenden Vorstellungen und Imaginationen über Amerika sowie die spärlichen Details über amerikanische Verhältnisse, d. h. die Knappheit an detaillierter Milieuschilderung selbst, können daher rühren, dass der Autor nie den amerikanischen Boden betreten hat. Er „verwendet die aus Büchern und der Presse angelesenen Kenntnisse über Amerika und den Amerikaexodus“ (Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 176). Brenner, der sich mit den Briefen der deutschen Amerika-Auswanderer im 19. Jahrhundert beschäftigt, setzt sich u. a. mit diesen Vorstellungen auseinander. In Anlehnung an seine Ausführungen stechen die Vorstellungen von Amerika als Land der Verheißung, des Glücks, der Hoffnung, der Zukunft, des Goldes, des steigernden Wohlstandes, der wirtschaftlichen Blüte, der Freiheit sowie der Prosperität und der paradiesischen Natur mit unerschöpflichen Naturreichtümern hervor (vgl. Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt, S. 79 – 113).
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
181
3.1.1 Amerika als Land der Verheißung und der Zukunft: Zur literarischen Auseinandersetzung mit Glücksvorstellungen als Auswanderungsmotive Im Gegensatz zu Raabes Erstling Chronik der Sperlingsgasse, in dem die Massenauswanderung der Deutschen nach Amerika nur ein nebensächliches Motiv darstellt, steht sie in den darauffolgenden Texten im Mittelpunkt der jeweiligen Handlungen. All diesen Texten ist allerdings gemeinsam, dass das soziale Elend in der Heimat nach wie vor eine wichtige Rolle beim Entschluss der Auswanderungswilligen spielt. Im 1862 erschienenen Roman Die Leute aus dem Walde rückt der Erzähler die Amerikareisen bzw. -aufenthalte der Brüder Friedrich und Robert Wolf in den Mittelpunkt der Handlung. Durch die erzählerische Rekonstruktion der Auswanderungserlebnisse der beiden Brüder wird über ein brisantes gesellschaftspolitisches Phänomen, nämlich die deutsche Amerikaauswanderung, literarisch reflektiert. Darüber hinaus wird über die Darstellung der Auswanderungserlebnisse der beiden Figuren die Einstellung der Migranten zur Heimat als identitätskonstituierendes Element thematisiert (siehe Kap 4.1.1). Unter den Texten Raabes, die die deutsche Amerikaauswanderung behandeln, ist Die Leute aus dem Walde der einzige, in dem die amerikanische Wirklichkeit sowie das wirkliche Leben der deutschen Einwanderer vor Ort in den Mittelpunkt der Handlung gerückt werden. Dass dieser Text in seinen kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext eingebunden ist, zeigt Krobb auf, wenn er schreibt: „Die amerikanischen Orte, die das Itinerar aller Auswanderer des Romans streift, sind allesamt dem deutschen Publikum aus dem Auswanderungsschriftum und der Abenteuer-Literatur wohlbekannt“.⁴⁸⁰ Dies bekräftigt Ritter (2009: 177) mit jedoch anderer Akzentsetzung. Mit Blick auf die Auswanderungsthematik hebt er die Brisanz dieses Textes hervor, indem er zwei wichtige Argumente anführt, nämlich die erzählte Zeit und das Erscheinungsjahr des Textes.⁴⁸¹ Der Roman beginnt mit einer Rückschau in die Kindheit und das frühere Familienleben der
Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 67. Zwei Hinweise im Text deuten darauf hin, dass sich die Handlung in den 1840er Jahren abspielt, nämlich das Protokoll des Polizeischreibers Fiebiger sowie der Brief Friedrich Wolfs aus Amerika. Ritter zufolge fallen die Handlungszeit sowie das Erscheinungsjahr des Textes mit Zeiträumen der massiven deutschen Amerika- Auswanderung zusammen. Hierzu schreibt er: „Raabe wählt gezielt für die zeitgeschichtliche Platzierung der Romanhandlung eine krisenhafte Phase der deutschen Gesellschaftsverhältnisse vor der Reichsgründung aus. Die deutsche Massenmigration in diesen Jahren (1846 – 1857: über 1 Million; 1864– 1873: dito) ist eine Folge des Missverhältnisses von Bevölkerungswachstum und Erwerbsangebot“ (Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 177).
182
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
beiden Protagonisten. Robert Wolf ist ein Waisenkind einer ehemals sechsköpfigen Familie, von der nur er und das älteste Kind Friedrich Wolf weiter am Leben bleiben, denn vier seiner Geschwister waren an den Röteln erkrankt und der früher gestorbenen Mutter in den Tod gefolgt. Die beiden Brüder, die die Röteln überstanden hatten und von Pastor Tanne aufgenommen worden waren, hatten daraufhin ihren Vater verloren. Robert, der in der Erzählgegenwart dem Polizeischreiber Fiebiger die Geschichte seiner Familie erzählt, bleibt allein in der Heimat, denn, wie er selbst sagt, „jetzt ist er [Bruder Friedrich] längst in die weite Welt gegangen; ich habe nie wieder von ihm gehört“ (BA 5, S. 16). Im Text wird darauf hingewiesen, dass die Familie in armseligen Verhältnissen gelebt hatte. In der Schilderung der Geschichte seiner Familie sagt Robert: „Ja. Wir waren unser sechse; drei Jungen und drei Mädchen […]. Wir schliefen alle in einer großen Bettstatt voll Eichenlaub, trocken und warm. Die Mädchen hatten auch noch eine Bettdecke, wir Jungen hatten aber nichts weiter als des Vaters Soldatenmantel“ (BA 5, S. 14). Über das Leben seines Vaters nach dem Tod der Mutter und der vier Geschwister berichtend, sagt Robert: „Er hatte niemand, der ihm half in dieser großen Not“ (BA 5, S. 16). Diese Not des Vaters Wolf, die nicht nur psychologischer, sondern auch sozialer und materieller Art war, ist nur ein Beispielfall eines im Winkelwald verbreiteten Elends. Das ist der Grund, weshalb Friedrich mit „[dies]em wilden Leben im Forste“ (BA 5, S. 16) nichts mehr zu tun haben will. Sein Aufbruch in die Neue Welt in seiner Jugendzeit indiziert seine Erwartungen an die Auswanderung sowie die Vorstellungen, die er mit Amerika verknüpft. Er scheint in der Neuen Welt nicht nur einen Zufluchtsort gegen die herrschende soziale Not, sondern auch einen Ort der Zukunft und der Verheißung zu sehen. Amerika ist aus seiner Sicht der Ort, an dem er ein glückliches Leben führen und sich seine Persönlichkeit entfalten kann. Martini sieht im Auswanderungsentschluss Friedrichs ein Zusammenspiel von sozialem Elend und wagemutigem bzw. unternehmungslustigem Charakter des jungen Protagonisten. Er schreibt hierzu: „Friedrich Wolf führen die Not, der rauschhafte Mut zum freien Wagen und Handeln und das unerschütterliche Vertrauen auf die eigene Kraft“⁴⁸² nach Amerika. Manche der in dieser Charakterisierung der Figur Friedrich hervortretenden Züge entsprechen bei näherem Hinsehen einigen der bis heute dem typischen Amerikaner zugeschrieben Eigenschaften. Es ist gerade dank seinem mutigen Wagen und Handeln sowie seinem Selbstvertrauen, dass er sich in Amerika einen ansehnlichen Reichtum erkämpft. Als „prachtvoller Menschentypus“ (BA 5, S. 72) und Millionär kehrt „dieser junge Deutsch-Amerikaner“ (BA 5, S. 72) und „stolzeste, mutigste Ringer des Glücks“ (BA 5, S. 353) als Mister Warner
Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer, S. 189.
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
183
kurz heim, um seine alte Freundin Eva Dornbluth zu heiraten. Wenige Zeit später kehrt er nach Amerika zurück, das, wie er in einem Brief an seinen Bruder Robert schreibt, seine „neue Heimat“ (BA 5, S. 54) ist. Gerade an der oben dargestellten Konstellation, bei der sich deutsche Auswanderer unter dem Einfluss von erworbenen materiellen Reichtümern oder aufgrund der vorgefundenen Naturreichtümer des Aufnahmelandes zum Teil oder völlig amerikanisieren, scheint die Kritik des literarischen Diskurses Raabes anzusetzen, denn nach seiner Rückkehr in seine „neue Heimat“ stirbt Friedrich und seine Frau folgt ihm später in den Tod. Der Tod des in Amerika sehr reich gewordenen Friedrichs weist auf eine Relativierung einer ausschließlich materiell bedingten Glücksvorstellung hin, wobei die Vorstellung von USA als Land der Verheißung eindeutig infrage gestellt wird. Denn die anfänglich glanzvoll scheinende Zukunft Friedrichs endet mit seinem Tod abrupt. Hiermit wird das Phänomen der mit laufenden Auswanderungen einhergehenden Amerikanisierung der Deutschen zum gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Problem stilisiert. Das Werk Raabes zeigt sich kritisch gegenüber diesem Phänomen, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit verbreitet war (siehe hierzu Kap. 3.1.1). Dass dieses Globalisierungsphänomen, das durch eine übermäßige Amerikanisierung gekennzeichnet ist, nicht allein Deutsche, sondern Zugewanderte aus aller Welt betrifft, zeigt deutlich ein Auszug aus einem 1861 erschienenen Artikel, in dem manche Entwicklungen des Schmelztiegels Amerika unter dem Effekt der globalen Migration angeprangert werden: Welches Land, welche Nation hätte nicht ein Scherflein dazu beigetragen, diese eine große Nation der Vereinigten Staaten von Nordamerika zu bilden, in welcher alle Völker zu einem großen freien Brudervolke zerschmelzen! Leider vergessen diese verschiedenen Nationen sehr bald ihre Herkunft. Sie werden Yankee’s im vollsten Sinne des Wortes, alle Gewohnheiten, alle Sitten des alten Vaterlandes abstreifend; sie vergessen die Sprache, welche sie als Kind gelernt, um die Sprache dieses anderen neuen Vaterlandes zu sprechen; kurz Alle akklimatisiren sich, façonniren sich mehr oder weniger rasch, sie werden United States Citizen, und sind um so stolzer im Bewusstsein ihrer Freiheit, als sie im früheren Vaterlande unterdrückt und geknechtet worden sind.⁴⁸³
Die am Ende dieses Auszugs angedeuteten heimatlichen politischen Verhältnisse, die von Unterdrückung geprägt sind – was dazu führt, dass auf die Neue Welt die Wünsche nach Freiheit projiziert werden –, werden in Die Leute aus dem Walde als Auswanderungsmotiv nicht erwähnt. Dass der literarische Diskurs Raabes keinesfalls grundsätzlich negativ eingestellt ist gegenüber der deutschen Amerikaauswanderung oder den dort er [St]: eine mecklenburgische Colonie in Nordamerika. In: Die Gartenlaube. 9 (1861), S. 139.
184
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
worbenen materiellen Reichtümern, sondern vielmehr gegenüber manchen der mit ihr verbundenen Vorstellungen und Praktiken, lässt sich an einigen Stellen seines Werkes erkennen. Dies zeichnet sich etwa in der Auswanderung Roberts, der mittlerweile Arzt geworden ist, nach Amerika nach dem Tod seines Bruders Friedrich ab. Seine Auswanderung hebt sich in vielerlei Hinsicht von der seines Bruders ab, deshalb schreibt Martini: „Jeder der beiden Brüder erfährt sein eigenes, gleichsam verinnerlichtes Amerika“.⁴⁸⁴ Zum einen unterscheidet sich Roberts Auswanderung von Anfang an von der Friedrichs durch die Beweggründe, denn er fasst den Entschluss, nach Amerika zu reisen, lediglich aus familiären Gründen. Ihn treiben seine Barmherzigkeit und sein Mitleid für die totkranke und leidende Eva dorthin. Darüber hinaus deuten im Text keine Indizien darauf hin, dass die anlockenden umlaufenden Vorstellungen von Amerika als Ort der Verheißung, der Hoffnung, der Zukunft und des Glücks seinen Auswanderungsentschluss beeinflusst hätten. In einer Szene, in der die Gedankengänge und Aussagen der an Bord der „Teutonia“ nach Amerika reisenden Schiffspassagiere wiedergegeben und kommentiert werden, lässt der Erzähler den Kontrast zwischen Robert Wolf und dem Rest der Mitreisenden hervortreten: Oft beobachtete er [Robert] ernst das bunte Leben, welches auf dem Schiffe herrschte, und es kam ihm vor, als sei er der einzige, den nicht eine große glänzende Hoffnung über den Ozean führte. Da war niemand, jung und alt, Mann oder Weib unter den Fahrgenossen, der nicht von der Ferne, dem ‚Drüben‘ ein mehr oder weniger klar gedachtes fabelhaftes Glück für sich und andere erhoffte. Sie unterhielten ihn alle gern von ihren Plänen und Aussichten, denn die Hoffnung ist um so mitteilsamer, je verschlossener die Enttäuschung ist, und er horchte ihnen gern und teilnehmend. Er hatte jenseits der Wasser kein Glück zu erwarten; aber er hatte genug gelernt, um die Hoffenden, Frohlockenden nicht zu beneiden – und auch das war viel gewonnen hienieden, wo das Glück des einen selten, sehr selten den andern glücklich macht (BA 5, S. 336).
In dieser Passage wird deutlich, wie groß die Glückserwartungen und Hoffnungen der Passagiere sind, denn viele denken, „daß […] das Ziel der Weltgeschichte auf dieser Seite des Erdballs liege“ (BA 5, S. 374). Robert, der einzige, der sich von diesen verbreiteten Vorstellungen von Amerika eindeutig distanziert, erhält den Charakter eines Einzelgängers oder einer Ausnahmeerscheinung auf diesem Schiff. Zum anderen ist er fest davon überzeugt, dass er sich dort nicht ansiedeln, sondern sobald wie möglich endgültig heimkehren wird. Der Auswanderung Friedrichs wird ein Spiegel vorgehalten, indem ihr die Auswanderung Roberts als positives Kontrastbild gegenübergestellt wird. Deshalb werden voneinander abweichende Dimensionen bei beiden Protagonisten nicht nur im Ziel ihrer Ame Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer, S. 189.
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
185
rikareise und in ihren mit dem Zielort Amerika verbundenen Vorstellungen deutlich, sondern auch im Umgang mit den dort erworbenen Reichtümern. Bei seiner Anreise in die Vereinigten Staaten wird Robert von Konrad von Faber, „der alle Nationen, ihre Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche im eigentlichsten Sinne persönlich kannte“ (BA 5, S. 344), aufgenommen. Er ist ein „lebendiges Lehrbuch der Ethnographie“ (BA 5, S. 344) und ein einsichtiger Mann, der sich durch seine kritisch-reflektierende Haltung zum herrschenden Fieber des Goldsuchens auszeichnet. Er scheint sehr skeptisch gegenüber dem starke Einwanderung aus der ganzen Welt bewirkenden Effekt von Gold und den daraus erwachsenden gesellschaftlichen Entwicklungen zu sein, denn „Chilenen, Hindus, Deutsche, Mexikaner, Engländer, Yankees, Juden, Italiener, Spanier, Russen, Franzosen, alle sind da, jeder mit seinem Löffel“ (BA 5, S. 344). Roberts Umgang mit diesem weisen Weltreisenden führt offensichtlich zur Radikalisierung seiner ohnehin schon kritischen Gedanken und Haltungen gegenüber manchen heimischen Vorstellungen von Amerika sowie gegenüber manchen amerikanischen Verhältnissen, die er einmal mit Ironie und einmal mit Argwohn anschaut. Er erlangt durch als mühelos geschildertes Goldsuchen eilig eine ansehnliche Geldsumme und wird reich wie sein verstorbener Bruder Friedrich. Manche Interpreten finden diese Handlungskonstellation, bei der die Hauptgestalt gleich nach seiner Einreise in die USA durch müheloses Goldsuchen reich wird, merkwürdig, denn somit sei eher eine positive Gestaltung der Vorstellung von Amerika als Land des Wohlstands ohne mühselige Arbeit suggeriert. In diesem Sinne schreibt Sammons: „[…] but that Friedrich’s brother Robert strikes it rich in the gold rush has always seemed to me an unfortunate device“.⁴⁸⁵ Diesem Interpretationsansatz liegt der zu kurz greifende Gedanke zugrunde, dass das Werk Raabes einseitig antikapitalistische und gar nationalistische Tendenzen aufweist und daher grundsätzlich gegen die deutsche Amerikaauswanderung sei.⁴⁸⁶ In einer derar-
Jeffrey L. Sammons: Die Darstellung Amerikas unbesehen. Vergleichende Betrachtungen zu Spielhagen, Raabe und Fontane. In: Christof Hamann u. a. (Hgg.). Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848, S. 89. In diesem Zusammenhang vertritt Heldt die fragliche und zu Recht in der jüngeren Forschung infrage gestellte These, Raabes Texte gehörten zur Heimatkunst, denn in ihnen zeichne sich ein Idealbild von der „vaterländisch- germanischen“ Heimat ab, die gegen verwerfliche Entwicklungen der Moderne abzuschirmen sei (vgl. Uwe Heldt: Isolation und Identität. Die Bedeutung des Idyllischen in der Epik Wilhelm Raabes. Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang 1980). Aus meiner Sicht gestalten Raabes Texte komplexere Konstellationen, die überhaupt nicht mit reduktionistischen Schemata erfasst werden können. Auch wenn sich seine Texte kritisch mit auf die Heimat herüberströmenden Globalisierungsphänomenen und Modernisierungswellen auseinandersetzen, werden diese epochalen Entwicklungen als unhintergehbare und unumkehrbare
186
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
tigen Argumentation lässt sich dieselbe Annahme mancher wenig überzeugenden Interpretationsansätze finden, die Raabes Werk als grundsätzlich anti-amerikanisch abstempeln. Wie andere Konstellationen in Raabes literarischem Werk es nahelegen, weisen in Die Leute aus dem Walde die Auswanderung des Romanhelden nach Amerika sowie die von ihm erworbene ansehnliche Geldsumme durch müheloses Goldsuchen darauf hin, dass weder die deutsche Amerikaauswanderung an sich noch die dort befindlichen Reichtümer als verwerflich angesehen werden sollen. Hier wird vielmehr das Problem des Verhältnisses des deutschen Auswanderers zu seinem kapitalistisch geprägten Aufnahmeland aufgegriffen, was die Fragen des Stellenwertes der Heimat für den Auswanderer auf der einen Seite und des Umgangs mit materiellen Reichtümern auf der anderen aufwirft (siehe hierzu auch Kap. 4.1.1). Gerade diese beiden Dimensionen machen den Grundunterschied zwischen dem „jungen Kapitalisten [und] Glückspilz“ (BA 5, S. 416) Robert und seinem Bruder Friedrich aus. „Rücksichtslos“, erzählt Konrad von Faber, „hatte Fritz Wolf nach allem, was unter dem Himmelszelt dem Menschen wünschenswert erscheinen kann, gegriffen“ (BA 5, S. 363; meine Hervorhebung). Zudem scheint Friedrich keinen Begriff mehr von heimatlichem Gefühl zu haben. Robert Wolf zeichnet sich hingegen durch ein ausgewogenes Zusammenfügen von materiellem Haben, heimatlicher Bindung und humanistischen Werten aus. Dies stellt sich deutlich in der Rede heraus, die er in Amerika nach dem Tod Evas und kurz vor seiner Heimkehr hält. Dabei sagt er: Weit bin ich über die Erde gewandert, und mannigfaltige Mühen und Kämpfe der Menschen habe ich gesehen. Traurig, doch nicht gebrochen kehre ich heim zu euch; ich habe gelernt, daß allen Mühen ein Ende bereitet ist. Arbeiten und Schaffen soll jeder nach seiner Art, denn darin liegt sein Heil: bauen soll er in sich und außer sich, und was ihm in der Seele, was ihm im Umkreis seines Seins von entgegenwirkenden Kräften zerstört wurde, das soll er immer von neuem geduldig aufrichten, denn darin liegt sein Glück […]. Ich werde heimkommen; den Armen will ich mein Leben und meine Kunst widmen; das Elend und die Krankheit will ich in ihren traurigsten Schlupfwinkeln aufsuchen und bekämpfen. Dann – dann begegnet mir vielleicht dann und wann an der Seite des Freifräuleins die Geliebte (BA 5, S. 385 f.).
In dieser Rede des heimkehrenden Robert, der sich von manchen Haltungen und Vorstellungen seines verstorbenen deutsch-amerikanischen Bruders deutlich distanziert, zeichnet sich eine Reihe von Aufschlüssen ab, die für die Erschließung einer im Text skizzierten Position über die deutsche Amerikaauswanderung als eines der prägnantesten epochalen Globalisierungsphänomene in Deutschland Herausforderungen dargestellt, denen sich der Einzelne mit Verantwortungsbewusstsein und Verstand zu stellen hat.
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
187
ausschlaggebend sein können. Zum einen tritt in dieser mit gewissem Pathos gehaltenen Rede Roberts eine Position hervor, die im Kontext einer vorwiegend ökonomisch und sozial motivierten deutschen Amerikaauswanderung nicht nur den Ausbau der äußeren, sondern auch und vor allem der inneren Welt des Menschen anstrebt. Er fordert deshalb seine Heimatgenossen auf, „in sich und außer sich“ zu bauen, um die dem menschlichen Glück entgegenwirkenden Hindernisse sowohl in der „Seele“ als auch im sozialen Umkreis zu beseitigen. Zum anderen – was bei näherem Hinsehen einen engen Zusammenhang mit dem Dargestellten aufweist – wird hier die deutsche Amerikaauswanderung in eine kritisch-realistische Konfiguration überführt, an der sowohl die Negativität als auch die Positivität der deutschen Amerikaauswanderung zu erkennen sind. Wie die Darstellung der unterschiedlich angelegten Lebenswege der beiden Brüder Robert und Friedrich es nahelegt, wird die deutsche Amerikaauswanderung bei Raabe weitgehend als verwerflich angesehen, wenn sie ausschließlich dem Verfolgen und Erreichen individualistischer und materialistischer Ziele dient. An der Darstellung des Schicksals des amerikanisierten Deutschen Friedrich wird veranschaulicht, wie diese Negativität zugespitzt wird, wenn das materialistische Bestreben die Bindung des Auswanderers an die Heimat immer weiter lockert und zu seiner Anpassung an die Wertvorstellungen des Aufnahmelandes führt. Mit der Darstellung von Roberts Lebensweg, der nach Amerika auswandert, dort reich wird und in die alte Heimat zurückkehrt, „wo denn auch Hochzeit gefeiert und zugleich eine Zukunft eingeläutet wird“,⁴⁸⁷ wird dem Lebensweg Friedrichs ein Gegenmodell gegenübergestellt, das die Vorstellungen von Amerika als Land der Zukunft weitgehend relativiert. Manche epochalen Entwicklungen der Auswanderung nach Amerika wie etwa die Amerikanisierung der deutschen Auswanderer werden somit bei Raabe scharf kritisiert (siehe hierzu auch Kap. 4.1.1).⁴⁸⁸ Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, im Werk Raabes eine na-
Christof Hamann: Von der Familie zur Kolonialmacht. Die USA und Deutschland in Familienzeitschriften vor der Reichsgründung. In: ders. u. a. (Hgg.). Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848, S. 96 f. Dass dieses Phänomen der Amerikanisierung der nach Amerika zugewanderten Deutschen oft in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses rückte und von der Bedeutung dieser Dimension der deutschen Amerikaauswanderung in der Epoche zeugt, zeigt ein 1853 veröffentlichter Artikel, der eine anekdotische und doch vielsagende Geschichte schildert. In diesem Artikel mit dem Titel „Der Deutsche in Amerika“ steht: „Was mich tief anregt, schreibt ein Reisender aus Amerika, und worauf ich immer und immer zurückkomme, das ist die hier in Washington recht augenfällig heraustretende, traurige Stellung der Deutschen in politischer Beziehung. Im Senate saß im Sommer 1852 ein einziger Mann von deutscher Abkunft […]. Dieser Senator verläugne alles Deutsche dermaßen, daß er seine alte Mutter, die nur wenig Englisch verstehe, bei einer letzten Zusammenkunft Englisch angeredet, worüber die gute Frau Thränen des Kummers
188
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
tionalistisch geprägte Position zu sehen, die paradoxerweise in der „Wilhelminischen Epoche […] stets im Zeichen der Fragen von Mobilität, Zirkulation und Globalisierung“⁴⁸⁹ zulegte. Gerade solche nationalistisch geprägten Denkmuster scheinen bei Raabe auch kritisch hinterfragt zu werden, indem die Positivität von Mobilität und Zirkulation für das Wohl der Heimat in seinem Werk mehrfach zur Gestaltung kommt. Bei der literarischen Diskursivierung der deutschen Amerikaauswanderung in Die Leute aus dem Walde tritt die Positivität dieses Globalisierungsphänomens ans Licht, wenn sie dem kollektiven Wohl der Heimat dienen oder zur Lösung mancher ihrer sozialen Probleme beitragen kann. „Die[se] Befrachtung des Überseeischen mit allegorischer Bedeutung, seine Stilisierung zum Raum der Lösung aller Lebensfragen erscheint in Die Leute aus dem Walde noch weitgehend ohne ironische Brechung“.⁴⁹⁰ Robert möchte das in Amerika erworbene Geld in Wohltätigkeitsaktionen zur Bekämpfung des herrschenden sozialen Elends in der Heimat und für eine glückliche Ehe an der Seite von Helene Wieland, der Tochter der Bankiers Wieland, investieren, was offensichtlich einen krassen Kontrast zu den Plänen und zum Schicksal Friedrichs darstellt. Letzterer hat sich in der materialistisch-kapitalistischen Spirale der Anhäufung von Reichtümern verfangen lassen. Das Bild des in der Heimat glücklich lebenden jungen Ehepaars Robert – Helene kontrastiert eindeutig mit dem der auf das unglückliche Schicksal des Ehepaars Friedrich-Eva hinweisenden „zwei neue[n] Gräber auf dem jungen Boden“ (BA 5, S. 364) Amerikas. Dieses gleichzeitige Nebeneinander von Negativität und Positivität in der literarischen Diskursivierung der deutschen Amerikaauswanderung bei Raabe bringt Stein mit besonderer Prägnanz zur Sprache, wenn er schreibt: Auswanderung ist Heimatverlust und Heimatgewinnung (und umgekehrt). Sie ist das Ergebnis einer durch ‚Not, Elend und Druck‘ erzwungenen Entmutigung, die scharf kritisiert wird und zugleich die Chance einer großen Ermutigung, wenn die ‚Wegziehenden‘ ihr deutsches Vaterland im Herzen behalten.⁴⁹¹
vergossen habe. Dabei bemerkt ein Blatt: der Herr Senator verstehe genug deutsch, um sich verständlich machen zu können, allein er scheue sich sorgfältig dies merken zu lassen, um nicht bei seinen Gönnern, den Yankees, in Ungnade zu fallen“ ([Anonym]: Der Deutsche in Amerika. In: Die Gartenlaube 18 (1853), S. 197). Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S.14. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 64. Peter Stein: Zwei unterschiedliche Blicke auf Auswanderer: Raabe und Heine – Wandlungen vom Vormärz zum Nachmärz. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 51 (2010), S. 26. Hervorhebungen im Original.
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
189
Onwuatudo, der sich mit der Entwicklung des Humanen in Raabes Stuttgarter Romanen auseinandersetzt, stellt fest: „Was die qualitative Entwicklung der Helden ausmacht, ist ihre Einstellung zur Heimat. Die Helden verlassen nicht nur ihre Heimat wie die anderen Romanfiguren, sie verfügen darüber hinaus über die Fähigkeit, sich an ihre Vergangenheit zu erinnern“.⁴⁹² Diese Erkenntnis, die die zentrale Frage des Stellenwertes der verlassenen Heimat für den Auswanderer aufwirft und die von Onwuatudo um die Zeitdimension erweitert wird, trifft ebenfalls auf das Thema der deutschen Amerikaauswanderung in anderen Texten zu. Die verlassene Heimat wird als Vergangenheit und eine Heimkehr als Rückreise in die Vergangenheit gesehen. Dieses Konzept des „Humanen“, das die Aufrechterhaltung einer gefühlsbetonten Beziehung zum verlassenen „deutschen Vaterland“ oder zur „Vergangenheit“ suggeriert, schlägt sich in Die Leute aus dem Walde in Wohltätigkeitsaktionen Roberts zugunsten seiner Heimat nieder. Es kann jedoch auch um die vom Helden Robert in seiner Rede angedeutete Dimension des Ausbaus des Inneren oder der Seele erweitert werden. Der „junge Kapitalist“ Robert kehrt heim nicht nur mit ansehnlicher Geldsumme, sondern auch und vor allem mit gestärktem Bewusstsein für das Humane, das sich aus dem Ausbau seines Inneren oder aus der Stärkung seiner Seele speist. Robert verkörpert somit einen Kapitalismus, der durch seine in Amerika durchlaufene Bildung humanisiert wird. Eine ähnliche Konstellation, in der die materialistisch und kapitalistisch ausgerichteten Vorstellungen von Amerika als Land der Zukunft und der Verheißung durch bildungsorientierte Vorstellungen relativiert werden, tritt auch mit besonderer Prägnanz in Raabes 1879 erschienenem Text Alte Nester auf. Während die Heimatgenossen Roberts aus seiner Auswanderung nach Amerika einen Riesenprofit ziehen, indem ihnen die am Romanende geplanten Wohltätigkeitsaktionen des Heimkehrers zugutekommen, ermöglicht in Alte Nester dem Hauptprotagonisten Just Everstein seine Amerikareise den Wiederkauf eines vor wenigen Jahren in der Heimat verlorenen Bauernhofs. „Der Steinhof mußte zugrunde gehen unter einem Bauer wie der Vetter Just Everstein“ (BA 14, S. 57) und wegen zu hohen Schulden ist er ihm „wie im Traum von der Hand weggeblasen“ (BA 14, S. 100) worden, was ihn tief betroffen hat, denn dieser „Erbsitz und Urvätereigentum“ (BA 14, S. 100) war seine Idylle. Er unternimmt daher eine Reise nach Amerika, wo er als Bauer „mit Axt, Pflug und Spaten“ (BA 1, S. 103) das erforderliche Kapital sammelt und nach seiner Heimkehr das verlorene Gut zurückerwirbt. Das in Amerika erworbene Kapital hat ihm die Wiederherstellung einer idyllischen und gefühlsmäßig intensiven Beziehung zu seiner
Elias Onwuatudo: Entwürfe einer humanen Entwicklung in Wilhelm Raabes Stuttgarter Romanen, S. 103.
190
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
Heimat ermöglicht. Diese auf einen kritisch-realistischen Mittelweg zwischen Patriotismus und Weltoffenheit hinweisende Vereinbarkeit von Heimatgefühlen und erforderlichen materiellen Bedürfnissen in der Fremde bringt Everstein selbst zum Ausdruck, wenn er folgendes sagt: „Ein bißchen Heimweh dann und wann in der Fremde schadet keinem Menschen. Man kann trotzdem Geld machen und ein tüchtiger Arbeits- und Geschäftsmann sein“ (BA 14, S. 122). Mikoletzky, die eine quellenkritische Analyse der deutschen Amerikaauswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen Literatur mit Blick auf deren Wirklichkeitsbezug und Aktualität vornimmt, bezieht sich auf Sievers, um mithilfe von Konzepten „return of failure“ und „return of conservatism“ zwischen gescheiterten und erfolgreichen Rückwanderern zu unterscheiden.⁴⁹³ Nicht zu Unrecht rechnet sie dem „return of conservatism“ solche Rückwanderer wie etwa Robert Wolf und Just Everstein zu, die den in Amerika erworbenen Reichtum in der Heimat anlegen, denn diese Auswandererkategorie „bewahrt ihre traditionellen Verhaltensweisen weitgehend und kehrt möglichst schnell mit ihren Ersparnissen in die Heimat zurück“.⁴⁹⁴ Die Amerikaerlebnisse Eversteins sind besonders dadurch gekennzeichnet, dass er dort in einer deutschen Ansiedlung namens Neu-Minden in Wisconsin lebt und die Wiedergeburt seiner „deutschen“ Tüchtigkeit erlebt. In diesem Sinne „ist Amerika für den Deutschen keine exotische Fremde, sondern deutsche Heimat und kann ideologisch als Regenerationsraum deutscher Kultur für die zukünftige Entwicklung Deutschlands offeriert werden“.⁴⁹⁵ Davon ausgehend wird der hinterfragbare Interpretationsansatz formuliert, in diesem Text stecke eine „nationalkonservativ eingefärbte Botschaft“.⁴⁹⁶ Allerdings können solche Konzepte und Ansätze, die dem Werk Raabes eine konservative Tendenz und gar nationalistische Diskursposition unterstellen, als problematisch angesehen werden. Denn in dieser Konstellation, in der das aus Amerika stammende Kapital zur Rückeroberung einer vergangenen Idylle und zur Realisierung eines glücklichen Lebens in der Heimat verhilft, zeichnet sich auch eine Form der Humanisierung des Kapitals ab. Diese Konstellation verweist auch auf eine Relativierung der rein materialistisch angelegten Vorstellungen von Amerika als Land der Verheißung und der Zukunft, denn Just Everstein erlebt sein Glück nicht in der Neuen Welt, sondern in seiner Heimat. In diesem Text, in dem Amerika – jedoch in einem gemäßigten Ausmaß – als „Regenerationsraum
Vgl. Juliane Mikoletzky: Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur. Tübingen: Niemeyer 1988. Sievers zit. in Juliane Mikoletzky: Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 250. Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 178. Alexander Ritter: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück, S. 189.
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
191
deutscher Kultur […] von industriegesellschaftlichen Veränderungen“⁴⁹⁷ modelliert wird,⁴⁹⁸ lässt sich also eine mehr oder weniger raffinierte Kritik gegenüber manchen polarisierten sozialpolitischen Stellungnahmen der Epoche bezüglich der Auswanderungsproblematik aufspüren. Auf der einen Seite lässt sich hier eine subtil gestaltete kritische Position gegenüber dem „Nationalismus“ beobachten, „der besonders […] die fortgesetzte Auswanderung als ‚Blut- oder ‚Machtverlust‘ nur ungern verschmerzte“.⁴⁹⁹ Auf der anderen Seite ist eine Distanz zum herrschenden Sozialpessimismus, demzufolge die „Auswanderung nicht angetan war, die sozialen Probleme zu lösen oder zu lindern“,⁵⁰⁰ zu beobachten. Wenngleich in Raabes Texten keine grundsätzliche Ablehnung der deutschen Amerikaauswanderung zu erkennen ist, werden jedoch manche der mit ihr verbundenen Phänomene sehr kritisch betrachtet. Zu diesen gehören etwa, um mit Vagts zu sprechen, „das Dilemma der Zweiländer-Menschen“⁵⁰¹ sowie manche die Mentalität der Auswanderungswilligen prägenden Vorstellungen und Imaginationen. Diese kritisch-realistische literarische Diskursivierung der deutschen Amerikaauswanderung bei Raabe ist dadurch gekennzeichnet, dass auf der einen Seite manche Vorstellungen, die dieses Phänomen antreiben, relativiert und gar verworfen werden und auf der anderen Seite die Notwendigkeit dieses Globalisierungsphänomens für die Bewältigung mancher heimischen sozialen Probleme eingesehen wird.⁵⁰² Diese kritisch-realistische Diskursivierung erfährt in Alte Nester eine Steigerung mit der Dimension von Bildung. Während in Die Leute aus dem Walde Robert mit dem erworbenen Geld und mit der Formung seines humanistischen Charakters als reicher und moralisch
Christof Hamann, Ute Gerhard und Walter Grünzweig: Einleitung. In: dies. (Hgg.): Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848, S. 16. Hierzu schreibt Mikoletzky: „Eine im eigentlichen Sinne wirtschaftlich-innovative Wirkung der Rückwanderung, die über eine Wiederbelebung oder Sanierung des Alten hinausginge, [finde] kaum Eingang in […] Romane und Erzählungen“ (Juliane Mikoletzky: Die deutsche AmerikaAuswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 252). Diese Aussage trifft auf Raabes Text Alte Nester zu. In Die Leute aus dem Walde ist ebenfalls keine tiefergreifende Innovation der wirtschaftlichen Strukturen oder der sozialen Landschaft durch das mitgebrachte Kapital festzustellen. Alfred Vagts: Deutsch-amerikanische Rückwanderung, S. 35. Alfred Vagts: Deutsch-amerikanische Rückwanderung, S. 44. Alfred Vagts: Deutsch-amerikanische Rückwanderung, S. 48. Schultz bezieht sich auf die Meinung des Großteils des Figurenpersonals, das in Alte Nester „den Aufenthalt in der Ferne als notwendiges Übel“ ansieht, um diesen Interpretationsansatz kurz und bündig zu formulieren (Vgl. Hartwig Schultz: Werk- und Autorintention in Raabes „Alten Nestern“ und „Akten des Vogelsang“. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 20 (1979), S. 145).
192
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
reifer Mann heimkehrt, kommt Just Everstein in Alte Nester als reicher und geistig reifer Mann zurück. Letzterer sagt: Für mich, den Just von Steinhofe, ist da diese glorreiche Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika eine unbezahlbare Schulmeisterin gewesen. Hier bin ich wieder, und –ein Schulmeister bin ich drüben gewesen: ich habe mich doch nicht ganz umsonst von euch hier zu Lande auslachen lassen wollen […] und ein Buch könnte ich wohl auch jetzo zustande bringen, wenn auch nur eines – meine Lebensgeschichte (BA 14, S. 97).
Just Everstein hat bei seinem Aufenthalt in Amerika nicht nur das Wissen erwerben und erteilen, sondern auch sein Leben auf dieses Wissen abstimmen können. Mit seinem „Hang in das Geistige hinein und sein[em] Sehnen nach den weniger materiellen Interessen der Menschheit“ (BA 14, S. 75) verkörpert er erstrebenswerte Wertvorstellungen, die an der Schnittstelle von Materialismus und Humanismus zu verorten sind. Dank diesem Wissen hat er in seinem Leben den Auswüchsen dieser „boshaften, stürmischen Welt“ (BA 14, S. 195) entgegenwirken sowie die negativen Effekte des Kapitalismus in dieser „wilden Welt“ (BA 14, S. 105) domestizieren können. „Hier scheint von Raabe die Möglichkeit vorgeführt, der von Konkurrenz und Materialismus geprägten Gesellschaft, wie sie Raabe selbst insbesondere in seiner Darstellung der Vereinigten Staaten schildert, zu entrinnen“.⁵⁰³ Bei dieser Konstellation, in der Amerika mit dem Erstarken des Geistigen und der Formung der Persönlichkeit assoziiert wird, werden einige die Schattenseiten des „wilden“ Kapitalismus neutralisierende und erstrebenswerte Haltungen und Vorstellungen suggeriert. Sie stellen Alternativen zu den rein materialistisch angelegten Vorstellungen von Amerika als Land der Zukunft und der Verheißung dar. Am bedeutendsten für den Einzelnen scheint hier seine Fähigkeit, sein Menschsein durchzusetzen und die in seinem Umfeld zirkulierenden Vorstellungen, Wahrnehmungen und Interpretationen einer kritisch-reflektierenden Betrachtung zu unterziehen, wobei das Wissen, egal woher es kommt, sich als zentrales Element erweist. Hier scheint die vom Erzähler Wachholder bei seinem Gespräch mit Strobel und dem Meister in Raabes Erstling Die Chronik der Sperlingsgasse formulierte Idee „in dem Wissen liegt die Zukunft“ (BA 1, S. 104) deutliche Konturen anzunehmen.
Hartwig Schultz: Werk- und Autorintention in Raabes „Alten Nestern“ und „Akten des Vogelsang“, S. 133 f.
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
193
3.1.2 Zur literarischen Auseinandersetzung mit der Vorstellung von Amerika als Land der materiellen Prosperität Wie bereits erwähnt, tauchen in Raabes Heimkehrertexten mehrfach Motive auf, die auf eine Auseinandersetzung mit dem das Denken der Zeitgenossen sowie die sozialpolitische Diskussion um die Amerikaauswanderung prägenden Diskursund Vorstellungskomplex deutlich hinweisen. In diesem Zusammenhang lassen sich etwa in seinen Texten Die Leute aus dem Walde, Die Akten des Vogelsangs sowie Alte Nester Handlungs- und Figurenmotive herausstellen, die deutlich zeigen, dass der Autor die in der Wilhelminischen Epoche vorherrschende Vorstellung von Amerika als Land der Prosperität und wirtschaftlichen Blüte intensiv thematisiert.⁵⁰⁴ Auf der einen Seite durch die Figur des Millionärs⁵⁰⁵ und auf der anderen durch das Motiv des Goldsuchens⁵⁰⁶ gelangen also manche zirkulierenden Imaginationen wie etwa Amerika als Land der Prosperität einerseits und Land des Goldes andererseits zur Gestaltung.⁵⁰⁷ Bei näherem Hinsehen lässt sich im Diskurszusammenhang der Epoche die bei Raabe vornehmlich in Die Akten des Vogelsangs anzutreffende Figur des Millionärs neben das semantisch gleich zuzuordnende, aber ältere Motiv des reichen „Onkels aus Amerika“ ⁵⁰⁸ stellen. Vgl. Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt, S. 98. Bei näherem Hinsehen sind solche imaginierten Vorstellungen Artikulationen der seit dem frühen 19. Jahrhundert Fuß fassenden und in der Wilhelminischen Epoche erstarkenden Vorstellung von Amerika als materiellem Eldorado. Diese Vorstellung wurde angeregt von der Wahrnehmung mancher „politischen und sozialen Zustände in den Vereinigten Staaten, verbunden mit dem unterschwellig nach wie vor verbreiteten Konzept des Goldenen Landes“ (Peter Boerner: Utopia in der Neuen Welt, S. 361). Beispielhaft hierfür steht die in der Figur eines Deutsch-Amerikaners immer wieder erzählte, geglaubte und verbreitete Geschichte vom Millionär, der einmal als Tellerwäscher anfing (vgl. Peter Boerner: Utopia in der Neuen Welt, S. 367). Im aus Biographien prominenter DeutschAmerikaner sich speisenden sowie den zeitgenössischen Alltagsdiskurs prägenden Sprichwort „vom deutschen Habenichts zum amerikanischen Millionär“ kommt diese zum Mythos gewordene Vorstellung am prägnantesten zum Ausdruck (vgl. Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt, S. 122). Dass das für die europäische Wahrnehmung der Amerikaauswanderung konstitutive Motiv des Goldrauschs eine historische Grundlage hat, zeigt Brenner auf, der schreibt: „Im Januar 1848 lösten die ersten Goldfunde in Amerika wie Europa einen Goldrausch aus, der [mit jedoch unterschiedlicher Gewichtung je nach Land] der europäischen Auswanderungsbewegung zusätzliche Impulse gegeben haben dürfte“ (Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt, S. 85). Vgl. Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt, SS. 85 f. u. 97. Zu diesem Motiv schreibt Jantz: „[It] apparently entered German literature in the estimable play, Die Mätresse, 1780, by Lessing’s younger brother, Karl Gotthelf, but it rapidly became trivialized“ (Harold Jantz: The Myths About Amerika. Origins and Extensions. In: Alexander Ritter (Hg.): Deutschlands literarisches Amerikabild, S. 47). Parr siedelt den Anfang einer intensiven Trivialisierung dieses Motivs in den 1830er Jahren an mit dessen massivem Eingang in populäre
194
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
Während dieses Motiv zur Ausgestaltung der verbreiteten Vorstellung von Amerika als Land, in dem ein senkrechter materieller und dadurch auch sozialer Aufstieg durch harte Arbeit erreichbar ist, dient, verweist das vornehmlich in Die Leute aus dem Walde anzutreffende Motiv des Goldsuchens seinerseits auf die in der Vorstellung von Amerika als Land des Goldes vermittelte Idee des mühelos und zügig zu erlangenden Reichtums. Die in beiden Motiven vermittelten Vorstellungen geben darüber Aufschluss, wie ambivalent der epochale Diskurs über das Auswanderungsland Amerika war. In Raabes Spätwerk Die Akten des Vogelsangs wird das Figurenmotiv des in Amerika zum Millionär gewordenen deutschen Auswanderers intensiv gestaltet. In diesem Text, in dem der autodiegetische Erzähler Karl Krumhardt rückblickend über das vergangene Leben in der Nachbarschaft von Vogelsang berichtet, verdichtet sich auch das Rückkehrmotiv, mittels dessen der Amerikadiskurs literarisch konstruiert wird. Auf der einen Seite gibt es Charles Trotzendorff, einen ehemaligen und später selbst in die Vereinigten Staaten emigrierten Auswanderungsagenten, der als „allmächtiges Tier und unzähliger Millionär“ (BA 19, S. 315) kurz in seine alte Stadt Vogelsang zurückkehrt. Er will seine vor einigen Jahren wegen finanziellen Schwierigkeiten aus Amerika angereiste Frau Agathe sowie Tochter Helene Trotzendorff wieder in die Vereinigten Staaten zurückzuholen. Auf der anderen gibt es Velten Andres, der in der von Aufstiegsmentalität geprägten spießbürgerlichen Gesellschaft keine Anhaltspunkte finden kann, die seinen Wertvorstellungen entsprechen. Seinem Freiheitsdrang sowie seinen Liebesgefühlen für Helene Trotzendorff folgend bricht er in die Vereinigten Staaten auf, wo er sich kurz aufhält. In diesem Figurenpersonal werden Charles und seine Tochter Helene Trotzendorff zur Ausgestaltung der Vorstellung von Amerika als Land, in dem man binnen kurzer Zeit Millionär werden kann, mehrfach funktionalisiert. Zeller betont zu Recht, dass der Autor Raabe durch die literarische Darstellung der Figur Charles Trotzendorff an das Auswanderungsfieber seiner Zeit erinnert.⁵⁰⁹ In seinem Handeln und Denken als ehemaliger Auswanderungsagent lassen sich manche auf auswanderungseuphorische Positionen hindeutenden Vorstellungen und Imaginationen der Epoche über Amerika aufspüren. Dass Charles Trotzendorff zu Beginn der Handlung bereits als ausgewandert und durchweg als Millionärsfigur dargestellt wird, lässt den Leser nach seinem Auswanderungsziel fragen. Hierzu sagt der Erzähler Karl Krumhardt:
Stücke auf den deutschen Boulevard-, Volks- und Laienbühnen (vgl. Rolf Parr: Der „Onkel aus Amerika“. Import von Amerikawissen oder Re-Import alter Stereotype? S. 21). Vgl. Christoph Zeller: Veltens Erbe. Geld und Geist in Wilhelm Raabes ‚Die Akten des Vogelsangs‘. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 54 (2013), S.107.
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
195
Wie viele deutsche Jungen haben diese Cooperschen Lederstrumpferzählungen, „für die Jugend bearbeitet“, hinübergelockt in das Land der Langen Flinte, der Großen Schlange und des Renard subtil? Ob das bei Mr. Charles Trotzendorff aus dem Vogelsang auch der Fall gewesen war, kann ich nicht in den Akten nachweisen, was seine Jugendzeit betrifft. Aus späteren Dokumenten geht mir hervor, dass es sich nicht so verhielt – dass ihn weder der edle Unkas noch der tapfere Major Heyward und auch nicht die stolze schwarzhaarige Cora und die blonde liebliche Alice an- und dorthin gezogen hatten, sondern ganz was anderes: etwas, was nicht das geringste mehr mit jener wundervollen, lügenhaft-wahren Kinder-Urwaldswelt zu schaffen hatte, nämlich ganz einfach das Geschäft in den glorreichen Vereinigten Staaten von Nordamerika (BA 19, S. 228 f.; Hervorhebung im Original).
Dieser Bericht des Erzählers Karl Krumhardt hebt nachdrücklich hervor, dass Charles Trotzendorff keinesfalls aus Faszination für das Abenteuerliche – die wie bei manchen Ausgewanderten durch die Lektüre von in der Neuen Welt angesiedelten phantastischen Geschichten aus der Jugendliteratur bewirkt wird – nach Amerika ausgewandert ist, sondern aus Faszination für das Geschäftliche. Hiermit wird eine wesentliche Dimension des Amerikadiskurses aufgeworfen, die bereits in Raabes früher erschienenem Text Alte Nester vom Heimkehrer Just Everstein angedeutet wird. Dass das Geschäft für jeden Amerikaner von Kindesbeinen an ein wichtiger Bestandteil seiner angeborenen Eigenschaft, nämlich „des Praktischen“, ist, bringt er bei seinem Gespräch mit dem Erzähler Langreuter zum Ausdruck. Zu ihm sagt er: „Nun stelle dir den Vetter Just vor in einem Lande, wo jedes Kind, sowie es das Licht der Welt erblickt hat, sofort sich auf das Praktische legt und mit seinen Eltern über seine ersten natürlichen Geschäfte an zu handeln fängt!“ (BA 14, S. 99) Hiermit wird ein wichtiger Aspekt des epochalen Diskurses über die deutsche Amerikaauswanderung angedeutet, denn, wie es in einem Auszug aus einer Zeitschrift der Epoche heißt, „Amerika ist noch ein junges Land, neue Handelsplätze und Firmen schießen wie die Pilze aus der Erde“.⁵¹⁰ Dies macht die Attraktivität der amerikanischen Geschäftswelt mit deren verheißungsvoller Zukunft und erfolgsversprechenden Aufstiegsmöglichkeiten aus, was u. a. zum diskursiven Arsenal derer gehört, die einen Enthusiasmus für die Migration nach Amerika bekundeten. Ein Blick in die publizistische Diskurswelt der Epoche zeigt, dass das Thema der Funktionsweise der amerikanischen Geschäftswelt mehrfach aufgegriffen wird. In dieser publizistischen Diskurswelt werden dem zeitgenössischen Lesepublikum die Vor- und Nachteile des amerikanischen Geschäftslebens vor Augen geführt. Stichwortartig lässt es sich durch folgende positiv besetzte Merkmale charakterisieren: [Anonym]: Die geheime Agentur. Ein Bild aus dem amerikanischen Geschäftsleben. In: Die Gartenlaube 40 (1862), S. 633.
196
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
tatkräftiger Unternehmungsgeist, schöpferische Kraft, riesiges Investitionspotenzial und immer steigende Wachstumsraten mit den damit verbundenen materiellen und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten. Negativ besetzte Merkmale werden ebenfalls in der epochalen Diskurswelt nachdrücklich betont. In diesem Sinne tauchen in vielen Zeitschriftentexten Betrügereien, dubiöse und unlautere Machenschaften, Verfälschungen, verderbliches Treiben und Tun, Manipulationen, Überspekulation und Ungesetzlichkeit als der amerikanischen Geschäftswelt innewohnend auf. Der Erzähler Karl Krumhardt, der in Die Akten des Vogelsangs immer wieder von seinem Vater „zu einer soliden Existenz in der schwankenden Erdenwelt“ (BA 19, S. 226), d. h. zu einer strengen Beachtung der bürgerlichen Bildungsordnung und Lebensgrundsätze gemahnt wird, stellt die Figur Charles Trotzendorff durchweg als einen auf moralisch verwerfliche Weise reich gewordenen Mann dar. Mit ironischen oder eindeutig kritischen Kommentaren schildert der Erzähler die Gestalt Charles Trotzendorff als Schwindler. Er spricht von dem aus den Vereinigten Staaten kommenden Brief Trotzendorffs, „in welchem er dürr, nüchtern und wie als ob es sich so von selber verstehe, mitteilte, dass er demnächst als zehnfacher Dollarmillionär sich die Ehre geben werde, alte Freunde zu begrüßen und zugleich Weib und Kind zu sich zu holen“ (BA 19, S. 269 f.). Die Anreise von Agathe Trotzendorff mit ihrer Tochter Helene in Vogelsang kommentierend sagt der Erzähler mit kritisch-ironischem Unterton: „Der Hinweis auf den Schwindler, den Erzschwindler Trotzendorff, ihren Mann, imponierte mir aber so, dass ich nur meinen Hut nehmen konnte und sagen: ‚Da hört alles Eingreifen von verständiger Seite gründlich auf!‘“ (BA 19, S. 225) Abgesehen von seiner Familie wird der Millionär Charles Trotzendorff vom restlichen Figurenpersonal als Inkarnation des in der amerikanischen Geschäftswelt herrschenden Dubiösen angesehen, von dem manche profitieren, um materielle Reichtümer anzuhäufen. Auch für Velten Andres, der die in Vogelsang geltenden bürgerlichen Lebensgrundsätze sehr kritisch betrachtet und eine anders als bei Charles Trotzendorff motivierte Reise nach Amerika unternimmt, ist in Letzteren kein Vertrauen zu setzen. Von Amerika aus schreibt Velten seinem Freund Karl einen Brief, in dem er ihn informiert, „daß Mr. Charles Trotzendorff ein großer Schwindler war, der seine Sache verstand, also Glück gehabt hatte, es wieder haben konnte und jedenfalls im Pech sich zu helfen wußte“ (BA 19, S. 229). Dass Charles Trotzendorff selbst Opfer dieser unlauteren Praktiken in der amerikanischen Geschäftswelt geworden ist, berichtet der Erzähler, der sagt: „Das letzte Schreiben berichtete über ihn, daß er recht im Pech sitze, von ‚schlechten Menschen unglaublich betrogen worden sei‘ und deshalb fürs erste seinen Haushalt auflösen müsse“ (BA 19, S. 229). In Anknüpfung an den bereits angedeuteten Ansatz Zellers, dem zufolge die Darstellung der Figur Charles Trotzendorff an das Auswanderungsfieber der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erinnert, wird aus der oben vorgenommenen
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
197
Analyse ersichtlich, wie wichtig der Aspekt des amerikanischen Geschäftslebens in der Debatte über die deutsche Amerikaauswanderung war. Raabe steigt mit der literarischen Darstellung dieser Figur in eine brisante gesellschaftspolitische Diskussion ein, indem er diese für das Für und Wider der deutschen Amerikaauswanderung bedeutende Frage aufgreift. Dass in manchen populärwissenschaftlichen Texten der Epoche auf die Figur des Millionärs zurückgegriffen wird, um das deutsche Publikum über die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten zu informieren, zeigen zwei aufeinander folgende und inhaltlich zusammenhängende Artikel aus der Familienzeitschrift Die Gartenlaube des Jahres 1874 mit den Überschriften „Ein New-Yorker Millionär“ und „Nachträgliches zu dem ‚New-Yorker Millionär‘“. In diesen beiden Artikeln bieten die Autoren eine Geschichte von einem Geschäftsmann, dem „ehrgeizigen“, „impertinenten“ und „geldgierigen“ Iren Wilhelm M. Tweed dar, die sich im Jahre 1873 ereignet hat. Ihm ist geglückt, sich in New York mithilfe des lokalen politischen Milieus sowie des Justizwesens durch Korruption, Wahlbetrug und Sorglosigkeit einen wichtigen Posten der Stadt zu erschleichen, nämlich bei der Stadtkasse. Indem er massiv in die eigene Tasche wirtschaftet, wird er zum Millionär. Im Artikel „Ein New- Yorker Millionär“ heißt es: Wilhelm M. Tweed, ein Irländer, war bis vor etwa zehn Jahren dem großen Publicum gänzlich unbekannt, ein Advocat dritter Classe, der mit einer zahlreichen Familie in keineswegs glänzenden Verhältnissen lebte. Er galt für einen tüchtigen Geschäftsmann, von durchschnittlicher Redlichkeit.⁵¹¹
Aufgrund der Empörung eines Teils der Bevölkerung wird der zugewanderte und amerikanisierte Geschäftsmann und später Kassierer der Stadt, der nach „seinem großartigen Raubzuge […] im Besitze seiner Millionen (man spricht von fünfundzwanzig)“⁵¹² war, wegen Unterschlagung öffentlicher Gelder, illegaler Bereicherung und Korruption zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Dieses Urteil kommentiert der Autor: Und in der That sind die zwölf Jahre bei seinem Alter gleichbedeutend mit „lebenslänglich“. „Lebenslängliches Zuchthaus“ in Sträflingstonsur und Jacke für einen Mann, der Millionen auf Millionen besitzt, der in der Stadt und um sie herum Paläste und prachtvolle Landhäuser sein nennt.⁵¹³
[Anonym]: Ein New-Yorker Millionär. In: Die Gartenlaube 1 (1874), S. 9. [Anonym]: Ein New-Yorker Millionär. In: Die Gartenlaube 1 (1874), S.10. [Anonym]: Ein New-Yorker Millionär. In: Die Gartenlaube 1 (1874), S. 11.
198
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
In der Fortsetzung der Geschichte, die im zweiten Artikel „Nachträgliches zu dem ‚New- Yorker‘“ dargeboten wird, betont der Autor das Unrechtmäßige des amerikanischen gesellschaftspolitischen Systems, denn während der „Brotdieb“ mit harter Hand behandelt wird, wird dem „Millionendieb“ milde Rücksicht entgegengebracht. Auf die überraschende Begnadigung und Befreiung des Millionendiebs reagiert der Autor mit großer Empörung. Am interessantesten ist der hier formulierte Zweck der angedeuteten Artikel. Hierzu schreibt der Autor: Des Zweckes halber möchte die „Gartenlaube“ hier wohl einmal von ihrer Regel, nichts schon anderweitig Veröffentlichtes wieder vorführen zu wollen, abweichen. Der Zweck ist aber zunächst der, in Deutschland vor der idealen Auffassung amerikanischer Zustände ernstlich warnen zu wollen. – Nur die nüchternste und kälteste Beobachtung kann vor dieser Veridealisirung bewahren. Es ist überhaupt seltsam, wie man in Deutschland – sogar in der Presse – von einem Lande, mit dem so viele und mancherlei Berührungen und Beziehungen bestehen, noch so viel Unverstandenes, Unrichtiges gedacht, gesagt, geschrieben und behauptet wird.⁵¹⁴
Die in diesem Auszug formulierten Aufforderungen, die den deutschen Leser zum genaueren Hinsehen oder zur „nüchternsten und kältesten Beobachtung“ der in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus oder publizistischen Quellen zirkulierenden Diskurse mahnen, zeigen auf, dass die Diskussion um die „amerikanischen Zustände“ eine bedeutende Dimension der Auswanderungsfrage darstellte. Dass der Autor eine solche negativ konnotierte Ausgestaltung der Millionärsfigur benutzt, um manche idealisierenden Auswanderungsdiskurse zu relativieren, kann ein Hinweis für die gesellschaftliche Bedeutung der Vorstellung von Amerika als Land, in dem Millionäre aufblühen, sein. Mit der Gestaltung dieser Figur in Die Akten des Vogelsangs partizipiert Raabes Text also an einer brisanten gesellschaftlichen Frage seiner Zeit. Die in diesem Text anzutreffenden abwertenden Bezeichnungen „Gauner“, „Schwindler“ oder „Erzschwindler“ weisen deutlich auf eine einseitig negativ besetzte Charakterisierung des zum Millionär gewordenen deutschen Auswanderers hin. Dies zeigt, dass in Die Akten des Vogelsangs eine rein materialistisch motivierte Amerikaauswanderung – was u. a. im Argumentationsarsenal mancher Befürworter der Amerikamigration als Vorteile oder als Anreizfaktoren hervorgehoben wird – als moralisch verwerflich geschildert wird. Die Darstellung Trotzendorffs als Exponent einer von kapitalistischer Spekulation bestimmten amerikanischen Geschäftswelt, in der viele Millionäre aufblühen, erfolgt ausschließlich aus der Perspektive des ethischen und kulturellen Wertesystems eines konservativen Bürgertums, dem sich der Ich-Erzähler Karl Krumhardt ver [D.]: Nachträgliches zu dem ‚New-Yorker Millionär. In: Die Gartenlaube 39 (1874), S. 634.
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
199
pflichtet fühlt. „Es entspricht dieser Perspektivität der Darstellung, dass der […] Erfolg des Auswanderers Charles Trotzendorff, der in Amerika […] auf ungeklärte Weise zum Millionär wird, mit der charakteristischen Skepsis des Bildungsbürgertums gegenüber dem Spekulationskapitalismus“⁵¹⁵ der Vereinigten Staaten gesehen wird. Diese Darstellung legt nahe, dass der von Trotzendorff vertretenen materialistischen Aufstiegsmentalität unter dem Vorzeichen des amerikanischen „Spekulationskapitalismus“ die der dargestellten Gesellschaft von Vogelsang innewohnende bürgerliche Aufstiegsmentalität entgegengesetzt wird. ⁵¹⁶ Auch wenn sich in diesem Millionärmotiv eine positive Darstellung des bürgerlichen Wertesystems und eine negative Darstellung der amerikanischen Geschäftswelt abzeichnen, wäre es zu kurz gegriffen, diesen Text einseitig als eine Aufwertung des Lokalen oder als eine ablehnende Haltung gegenüber der Migration nach Amerika als bezeichnendes Globalisierungsphänomen der Epoche zu verstehen. Der Amerikadiskurs bei Raabe scheint viel zu komplex, um mit reduktionistischen Schemata dechiffriert zu werden. Diese Komplexität tritt deutlicher mit der Figur Velten Andres zutage.Wie bereits erwähnt, lässt der Autor Velten Andres, der deshalb am Rande der bürgerlichen Gesellschaft in Vogelsang steht, weil er sich zu deren Wertesystem nicht bekennt, aus Abenteuerlust, Freiheitsdrang und Liebe zu Helene Trotzendorff nach Amerika reisen. Dass Velten dort kein Interesse am Geschäftlichen oder an jeglicher materiellen Aufstiegsmöglichkeit hat, wird in seinem Brief an den Erzähler Karl Krumhardt zum Ausdruck gebracht. Mit ironischer Brechung fragt er: „Wünschest Du mich auch als Millionär wiederzusehen wie Mr. Charles Trotzendorff?“ (BA 19, S. 326) Aus dieser Gestaltung des Millionärmotivs, mittels dessen manche Aspekte der Amerikaauswanderung in Die Akten des Vogelsangs literarisiert werden, entsteht eine Konstellation, in der sich eine komplexe Diskursposition zur deutschen Amerikamigration abzeichnet. Dass im Gegensatz zu Trotzendorff der Außenseiter Velten Andres mit offensichtlich erstrebenswerten und anti-materialistischen
Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, S. 93. Drei Beispiele im Text veranschaulichen diese der bürgerlichen Gesellschaft innewohnende Aufstiegsmentalität. Das erste zeigt die Laufbahn des Vaters Krumhardt, der sich als Oberregierungssekretär auf die höchste Stufe der untergeordneten Beamtenschaft emporgearbeitet hat. Das zweite veranschaulicht das berufliche Leben des Erzählers, des „Oberregierungsrat[s] Doctor juris“ Karl Krumhardt, der nicht nur als Sohn eines untergeordneten Beamten den sozialen Sprung in eine höhere Beamtenschaft vollzogen, sondern auch alle bürgerlich vorgesehenen innenberuflichen Rangordnungen erreicht hat. In diesem Sinne sagt er: „Mein Weg ging aufwärts in der Rangordnung des Staatskalenders und der Gesellschaft“ (BA 19, S. 335). Das dritte Beispiel zeigt die Figur Leon Des Beaux, der aus einer Schneiderfamilie stammt. Sein Vater verkauft sein Schneidergeschäft, um den Übergang seines Sohns vom Schneider- zum Bankierberuf, d. h. von einer handwerklichen zu einer bildungsbürgerlichen Existenz, zu ermöglichen.
200
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
Idealen nach Amerika reist, kann ein Hinweis darauf sein, dass nicht die Amerikamigration an sich als problematisch gesehen wird, sondern die an sie herangetragenen Ziele und Erwartungen. Wie in Die Leute aus dem Walde die Amerikareise Roberts als Korrektur zur Auswanderung Friedrichs gesehen werden kann, so lässt sich auch Veltens Amerikareise als ideales Gegenmodell zur Auswanderung Charles Trotzendorffs verstehen. Auch wenn Veltens Tod, der Anlass zu den rückblickenden Reflexionen des Erzählers gibt, die Idealität seiner Einstellungen relativiert, erkennt Karl Krumhardt selbst im Leben dieses Außenseiters einen Sieg gegen die Grundsätze der bürgerlichen Gesellschaft. Er sagt: Ich habe alles erreicht, was ich erreichen konnte, er nichts – wie die Welt sagt – und – wie ich mich zusammennehmen muß, um, den Neid gegen ihn nicht in mir aufkommen zu lassen! Was kann ich heute an seinem Grabhügel anders sein als ein nüchterner Protokollführer in seinem Siegreich gewonnenen Prozeß gegen meine, gegen unsere Welt (BA 19, S. 295; Hervorhebung im Original).
Angesichts des Zeitromanwerks Raabes scheint Veltens Position jedoch keinen idealen dritten Weg zwischen einem fundamentalen Wider und einem vorwiegend materialistisch ausgerichteten Für der Auswanderung nach Amerika darzustellen. Sein Tod liegt an seiner Unfähigkeit, zwischen den materiellen Anforderungen der modernen Welt und manchen von ihm verkörperten höheren Idealen zu vermitteln. Die Darstellung der unrealisierbaren Liebesbeziehung Veltens zu Helene Trotzendorff, die im Text ebenfalls wie ihr Vater symbolhaft für die materialistische Dimension Amerikas steht, veranschaulicht mit besonderer Prägnanz die Unüberbrückbarkeit der beiden Weltsichten. Bereits beim Aufenthalt Helenes in Vogelsang nach dem Bankrott ihres Vaters und der darauffolgenden Heimkehr mit der Mutter lassen sich in den Aussagen des damals noch jungen Mädchens manche materialistisch geprägten Vorstellungen erkennen. Die Vorstellung ihrer Mutter wiedergebend sagt sie: „Wenn er [Vater Trotzendorff] kommt, ist er reicher und vornehmer und stärker als alle hier“ (BA 19, S. 243). Bei ihrem zweiten Aufenthalt in Amerika, nachdem der reich gewordene Vater sie zurückgeholt hat, gehen ihre Wünsche nach einem wohlhabenden Leben in Erfüllung, indem sie den amerikanischen Millionär Mr. Mungo heiratet. In einem aussagekräftigen Tableau, das zwar vielmehr der Imagination des reflektierenden Erzählers entspricht, wird die Unrealisierbarkeit der Liebe Veltens zu Helene Trotzendorff deutlich zum Ausdruck gebracht. Gleich zu Beginn der Handlung nach dem Erhalt von Helenes Brief, der ihn über den Tod Veltens informiert, reagiert der Erzähler: „Velten Andres tot, und die amerikanische Talermillionärin jetzt als seine Totenwache, wie es scheint, in seiner leeren Dachstube. Was will sie denn jetzt da?“ (BA 19, S. 216) Die in diesem Tableau betonten Kontraste (Velten tot in einem leeren Zimmer – Helene als lebende Millionärin)
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
201
weisen auf die jeweiligen Amerikaerlebnisse der beiden Figuren. In Amerika hat er nur die Liebe verfolgt und über das Materielle hinweggesehen, während wesentlich das Materielle das Handeln Helenes bestimmt. Die Liebe Veltens zu Helene Trotzendorff kann deshalb nicht erwidert werden, weil Letztere eher am Materiellen interessiert ist. Die beiden können nur zusammenfinden, wenn der Tod sie unüberbrückbar trennt, denn edlere Gefühle und materialistische Kalküle haben nichts miteinander zu tun. Ein anderes Motiv, mit dem die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zirkulierende sowie die Auswanderungsfragen bestimmende Vorstellung von Amerika als Land der materiellen Prosperität intensiv verarbeitet wird, ist die Goldsuche. Mithilfe dieses Motivs werden ebenfalls materialistische Kalküle und edlere Gefühle bei Raabe inszeniert. Im Roman Die Leute aus dem Walde ist die Handlung der Amerikaepisode von diesem Motiv geprägt. Fast alle nach Amerika ausgewanderten Figuren (Friedrich Wolf und seine Frau Eva Dornbluth, Robert Wolf, Ludwig Tellering und der Hauptmann Konrad von Faber) hatten – mit jedoch manchmal ganz unterschiedlichen Haltungs- und Einstellungsmustern – entweder einen gewissen Bezug zum Gold oder versuchten ihr Glück in der Goldsuche. Nicht zufällig verknüpft Raabe dieses Motiv mit dem Staat Kalifornien und dessen Hauptstadt San Francisco. Mit der Darstellung der Auswanderung Robert Wolfs nach Amerika scheint Raabe sich mit den Globalisierungseffekten des Goldsuchens auseinanderzusetzen und darüber hinaus die mit der Vorstellung von Amerika als Land des Goldes verbundenen Praktiken und Haltungen der Epoche zu problematisieren. Die Schilderung der Eindrücke der Hauptgestalt Robert Wolf bei seiner Anreise in San Francisco gibt ein Tableau einer Stadt ab, in der verschiedene Nationen nicht nur koexistieren, sondern auch sich an ihrem Aufbau beteiligen. In dieser rückblickenden Schilderung heißt es: Da lagen auf der Reede die Schiffe aller Nationen: die Chinesische Dschunke neben der englischen Brigg, das Fahrzeug aus Honolulu neben dem Bremer Schoner, und von jedem Bord hatte sich der Strom der Abenteurer aus Land ergossen auf dem Strande die tolle Zeltstadt San Francisco mit errichtet (BA 5, S. 339).
In diesem gewaltigen Zustrom von eingewanderten Abenteurern gibt es, wie die Handlung durchweg zeigt, einen Großteil, der von Gold angelockt wurde. Hiermit thematisiert der Text gleichzeitig manche Erfahrungen der deutschen Auswanderer und manche Aspekte des epochalen Amerikadiskurses bezüglich der laufenden deutschen Auswanderung.⁵¹⁷ In manchen Texten aus Zeitschriften der Moltmann schreibt in diesem Zusammenhang: „Um die Jahrhundertmitte mischten sich
202
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tritt deutlich hervor, dass die Entdeckung einer immensen Goldgrube im amerikanischen Staat Kalifornien zu einer euphorischen Einwanderung aus aller Welt mit dem Ziel des Goldsuchens geführt hat. Dies hat in vielerlei Hinsicht einen Globalisierungsprozess mit Amerika als Schauplatz in die Wege geleitet und beschleunigt. Der folgende Auszug aus einer Zeitschrift der Epoche veranschaulicht zur Genüge diesen Sachverhalt: Californien, das zweite große Goldgefilde, das nach der Entdeckung Amerikas entdeckt worden ist, ist ein Land der Wunder und des Fortschritts. Noch im Anfange dieses Jahrhunderts gehörten mehrere Menschenalter dazu, um eine Stadt oder wohl gar einen Staat zu gründen […]. Die Entdeckung des Goldes in Californien […] beschleunigte dieses Rennen und Laufen zu einem fieberhaften Rasen und Raufen in Industrie und Handel. In diesem fieberhaften Golddurste ward es den Engländern und Amerikanern, oder wie man sie zusammen nennt, den Angel-Sachsen – möglich, unglaubliche Wunder zu thun […]. Die AngelSachsen haben in Californien […] mit Indiern, Chinesen und Vertretern aller Nationen der Erde ein goldenes Zeitalter eröffnet, welches das Unterste thatsächlich zu oberst zu kehren und die Weltgeschichte zu unseren Gegenfüßlern entführen zu wollen scheint […]. Wo einst der Indianer in wilden Bergen und Thälern jagte oder der schlaue Jesuit aus seinem Eulenneste hervor Gift für Gold verkaufte, wimmelt jetzt in hingezauberten Städten eine rastlos, heißblutige Masse, ein furchtbares Gemisch aller Völker […]. „Das glückliche Thal“, wie 1849 noch der Mittelpunkt von San Francisco hieß, war damals fast nur von den rohesten Goldsuchern bewohnt […]. Drei Jahre später waren alle die Hügel und Thäler und Zelte verschwunden, in eine große Ebene verwandelt und mehrmals mit ganzen Straßen und Stadttheilen, zum Theil mit den prächtigsten Palästen, bebaut worden. Wo noch vor drei Jahren das unruhige Meer mit bodenlosem Dünensande spielte, erheben sich jetzt feste, stolze Straßen mit steinernen Palastreihen, ungeheuern Vorrathshäusern und En-gros-Geschäften mit Welthandel. Die Straßen wimmeln von Fuhrwerken und Fußgängern aller Farben und Formen […]. Da liegt nun San Francisco – eine ungeheuere Stadt in kahler Ebene, eine Mischung von weißen, schwarzen, braunen, rothen, grünen, gelben und blauangelaufenen Menschen.⁵¹⁸
Im Text Die Leute aus dem Walde erstattet Friedrich bei seinem kurzen Aufenthalt in der Heimat seiner künftigen Frau Eva Bericht über seine Amerikaerlebnisse. Er bekräftigt, dass das früher anhand eines euphorischen Goldsuchens ausgelöste weltweite Sehnen nach Amerika von Leuten wie ihm weitergeführt wird: Das Zauberland, über welchem allabendlich die Sonne untergeht, wo unbekannte majestätische Ströme durch unbekannte Täler rollen, wo unendliche Schätze offen und doch unerreichbar daliegen, bleibt immer in derselben Ferne; Das Sehnen nach ihm bleibt immer
Deutsche in den Strom der Goldsucher aus aller Welt, die in California ihr Glück suchten“ (Günter Moltmann: Charakteristische Züge der deutschen Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert, S. 46). [Anonym]: Das glückliche Thal. In: Die Gartenlaube 17 (1853), S. 180 ff.
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
203
dasselbe. Weiter, weiter ihr Pioniere! Sie sind auf dem Marsche, Angelsachsen, Deutsche Romanen und Kelten […]. Es soll da ein Goldland liegen – alte Sagen reden davon; spanische Missionäre wollen den Fuß darauf gesetzt haben; –wo ist das Land? Westward ho! Westward ho! (BA 5, S. 123 f.)
Besonders bezeichnend in diesem Text ist der Bezug bestimmter Figuren zum Gold oder zur Goldsuche. Eine Analyse der Vorstellungen, Urteile und Handlungen der Figur Friedrich Wolf auf der einen Seite und der Figuren Robert Wolf und Konrad von Faber sowie Ludwig Tellering auf der anderen Seite erschließt eine Position im Text über die im 19. Jahrhundert verbreitete Vorstellung von Amerika als „Eldorado der europäischen Siedler“⁵¹⁹ oder „Goldenes Land“, „wo sich materielle Bedürfnisse leicht befriedigen lassen“.⁵²⁰ In der Handlung wird Friedrich durchweg als unermüdlicher und begeisterter Goldsucher dargestellt. In ihm scheinen sich alle Charaktereigenschaften eines Auswanderers zu verdichten, der in den Bann der für Auswanderung werbenden Diskurse der Epoche gezogen wird, mit der Verheißung, in Kalifornien Gold zu finden, als Hauptargument. In seinem Bericht, der u. a. darauf abzielt, Eva zur Mitreise zu überreden, spricht er wie ein Auswanderungsagent, der Gold als Argument anführt. Denn seinen Bericht setzt er fort: Weiter, weiter – wer wird zuerst jauchzend Besitz von dem dorado, dem Goldland, ergreifen, wie es Pizzaro, wie es Ferdinand Cortez vergönnt war? Jedermann darf hoffen, der Glückliche zu werden, vielleicht ist auch uns beiden, Eva Dornbluth, unser Teil daran aufgehoben. Westward ho!“ (BA 5, S. 124)
Der von Friedrich verwendete und als „Slogan der Bewegung, des Aufbruchs und der Hoffnung“⁵²¹ zu deutende Aufruf „westward ho!“, der ursprünglich eine „Parole der Binnen-, das heißt der inneramerikanischen Siedlungskolonisation“⁵²² war, erteilt Einsicht in seinen eroberungslustigen und hoffnungsbeladenen Geist. Er indiziert im übertragenen Sinne das große Hoffnung weckende Argument der Eroberung von Goldfeldern als eines der Ziele der Auswanderung nach Amerika. Die Antwort Evas: „Ich folge dir, wohin du mich führst, Friedrich!“ (BA 5, S. 124) zeigt zwar zuerst ihre Liebe zu Friedrich auf, dann aber auch den Entschluss einer Auswanderungswilligen, die sich durch das Gold-Argument hat überzeugen lassen.
Peter Boerner: Utopia in der Neuen Welt, S. 361. Peter Boerner: Amerikabilder der europäischen Literatur, S. 41. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 68. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 68.
204
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
In Die Leute aus dem Walde wird die vom erfolgreichen Goldsucher Friedrich inkarnierte und die deutsche Auswanderung der Epoche antreibende Vorstellung von Amerika als Land des Goldes – was eine leichte und schnelle finanzielle Bereicherung und ein materielles Wohlhaben der Auswanderer unterstellt – anhand von zwei Gegenmodellen kritisch reflektiert und weitgehend relativiert. Das erste Gegenmodell wird vom Tischler Ludwig Tellering und dessen Vorstellungs- und Handlungsmuster vertreten. Er wandert kurz nach Friedrich Wolf nach Amerika aus, um wie viele deutsche Auswanderer Gold zu suchen. Nach den ersten missglückten Versuchen ändert er jedoch seine Haltung und stellt dem Goldsuchen die tüchtige Arbeit gegenüber. Bei seinem Treffen mit Robert in Amerika sagt er: Anfangs war ich natürlich ebenfalls in den Minen, hatte aber wenig Glück beim Goldsuchen – die tüchtige Arbeit ist doch überall das Beste, selbst hier in Kalifornien. Ein halbes Jahr vor deines Bruders Tode zog ich mit Marie hier herunter, wo mein Handwerk wirklich einen goldenen Boden hatte (BA 5, S. 347).
Tellerings Ausstieg aus dem Goldsuchen mag mit seinem Scheitern in diesem Bereich begründet sein, aber ein Blick in die Heimkehrertexte Raabes lässt erkennen, dass Tellerings Lob der deutschen „tüchtigen Arbeit“ in der Fremde eine wiederkehrende Komponente des Auswanderungsdiskurses in seinem Werk ist. In diesem bestimmten Zusammenhang dient diese Idee dazu, die deutsche „tüchtige […] Arbeit“ im Auswanderungsland Amerika zur Geltung zu bringen und die in der Epoche verbreitete Vorstellung zu relativieren, dass das Glück des deutschen Auswanderers in Amerika von den im Goldsuchen mühelos und schnell erworbenen materiellen Reichtümern abhängig ist. In Alte Nester hat man mit den beiden deutschen Auswanderern Ewald Sixtus, „ein[em] tüchtig[en] Ingenieur“ (BA 14, S. 122) in Irland, und Just Everstein, „diese[m] unverbohrte[n] Monstrum mit seiner lateinischen Grammatik“ (BA 14, S. 47), der zugleich „ein guter Bauer […] in dem amerikanischen Walde gewesen“ (BA 14, S. 102) ist, eine vollendete Gestaltung des Leitmotivs der deutschen Tüchtigkeit in der Fremde, das den Auswanderungsdiskurs bei Raabe kennzeichnet. Ausgehend von den Stellungnahmen, Aussagen und Handlungen der Figuren Robert Wolf und Konrad von Faber in Die Leute aus dem Walde lässt sich das zweite Gegenmodell konturieren, wodurch manche auf der Goldsuche aufbauenden Vorstellungen als konstitutive Elemente des Diskurses der Zeit über die Auswanderung nach Amerika weitgehend kritisch reflektiert oder relativiert werden. Bei der Anreise Robert Wolfs in San Francisco wurde er von dem Hauptmann Konrad von Faber, einem geistreichen Mann, der „zweimal die Welt umsegelt“ (BA 5, S. 24) hat, empfangen. Während seines Aufenthalts in Amerika
3.1 Zur literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Amerika
205
wird Robert Wolf von Konrad von Faber mit dessen kritischen Sichtweisen gegenüber manchen Mentalitäten weitgehend beeinflusst. Auf dem Weg zu verschiedenen Orten Kaliforniens mit Robert trifft Konrad von Faber auf eine Gruppe von Chinesen, die „mit Schaufeln und Spaten, mit Hacken, Pfannen und Körben […] zu den Minen“ (BA 5, S. 350) ziehen. Beim Anblick der chinesischen Goldgräber sagt Konrad mit ironischem Unterton: „Die Langzöpfe haben ein ganz verzweifeltes Glück […]. Sie scheinen das Gold unter der Erde zu wittern, wie das Schwein die Trüffeln“ (BA 5, S. 350). Der Erzähler, der manche Szenen aus der Perspektive dieser beiden Weggefährten heraus erzählt, gibt den Ton ihrer kritisch-distanzierenden Sichtweisen und Handlungen an, wenn er die Anreise Wolfs wie folgt kommentiert: Da lag es nun vor den Augen dieser armen Menschenkinder, da lag es – das Goldland – das Dorado, nach welchem fast seit Beginn der Geschichte die Menschheit auf verschiedenartigste Weise sich abängstete, das sie suchte im Stein der Weisen, das sie sah in den phantastischen Träumen vom Reich Ophir (BA 5, S. 338).
In diesen Erzählerkommentaren, die die Erwartungen der nach Amerika wegen des Goldes strömenden Einwanderer aus der Perspektive der Hauptgestalt schildern, ist eine subtile Ironie zu erkennen, die darauf hinweist, dass sich Robert Wolf von diesen zuströmenden und ausschließlich von Gold angelockten „armen Menschenkindern“ abhebt. Als Mittel zur kritischen Sicht auf ihre Amerikaerlebnisse wird diese Ironie in Szenen gesteigert, in denen Wolf mit dem Zuspruch des Hauptmanns Konrad von Faber bei der Beteiligung am Goldsuchen dargestellt wird. In einer dieser Szenen – die hier deshalb fast ausführlich angeführt wird, weil sich in ihr die kritisch-realistische Haltung der beiden Figuren herauskristallisiert – scheint das Goldsuchen inszeniert zu werden, um es besser kritisch zu reflektieren oder zu hinterfragen. Bei der Goldgrube des verstorbenen Friedrichs angelangt, sagt Konrad von Faber zu Robert: „So warten wir denn hier auf den neuen Frühling, und währenddem, Herr, mögt Ihr Euer Glück auf dem ‚Boden der goldenen Visionen‘ versuchen […] Also, Mann, ans Werk mit Schaufel und Spitzhacke. Benutzt die Zeit, welche Euch noch zur Arbeit übrigbleibt“ (BA 5, S. 365 f.). Dass diese Worte des Hauptmanns keinesfalls als Aufmunterung zur schnellen Bereicherung durch das Goldsuchen, sondern eher als Inszenierung zur kritisch-reflexiven Betrachtung einer aus seiner Sicht problematischen vorherrschenden Mentalität zu verstehen sind, zeigen diese Kommentare des Erzählers: Robert sah ein, dass der Rat gut war, und so stieg er nieder in die Grube, welche sein Bruder gegraben hatte […]. Der Hauptmann rührte keine Hand; auf einem Stein oder Baumstamm sitzend, seine kurze Pfeife im Munde, sah er mit philosophischem Gleichmut zu, wie der
206
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
junge Genosse sich abmühte und wirklich in kürzester Frist beträchtliche Schätze dem Boden abgewann […]. Robert Wolf wühlte das Gold mit einer Art wilder Ironie aus der Erde. Einmal fiel ihm ein Stück von bedeutendem Gewicht in die Hand; er wog es in der Hand, und vor seinem Geiste empor stieg das Bild des Bankiers Wienand während der Zeit seiner Geisteszerrütung; –Schaudernd ließ er das gleißende Metall fallen und setzte den Fuß darauf, als wolle er es wieder in den Boden treten. Aber Konrad von Faber legte es zu dem übrigen (BA 5, S. 366).
Nicht zufällig lässt der Autor diese für die Einstellungen und Haltungen der beiden Figuren aufschlussreiche Szene in der Grube des verstorbenen Friedrichs spielen. Die sich in dieser Szene abzeichnende Konstellation zielt deutlich auf eine Ironisierung des euphorischen Goldsuchens ab, das das Amerikaerlebnis Friedrichs sowie vieler Auswanderer dieser Epoche kennzeichnet. Der aufmerksame Leser von Raabes Werken kann nicht umhin, eine gewisse Parallele zwischen dieser Szene und dem in dieser Studie (siehe hierzu Kap. 2.1.2) analysierten Tableau aus dem Text Prinzessin Fisch zu ziehen, in dem Bruseberger und Theodor Rodburg am Ende der Handlung dargestellt werden. In den Haltungen und Aussagen des Hauptmanns und der Hauptgestalt Robert ist eine kritisch-distanzierende Betrachtung des Goldes und der damit verbundenen materialistischen Haltungs- und Denkmuster deutlich zu erkennen. Jedoch räumt der Hauptmann letztendlich ein, dass man auch bei höherer Idealität seiner Einstellungen den materiellen Anforderungen der modernen Welt Rechnung tragen soll. Diese kritisch- realistische Sichtweise tritt aus seiner Reaktion auf die Haltung Roberts hervor, der, sei es aus Ärger oder Abscheu, das ausgegrabene Goldstück wieder an den Boden, wo es aus seiner Sicht hingehört, zurückgeben möchte. Darauf reagiert er wie folgt: Eure Gedanken sind anerkennenswert, aber doch töricht […]. Wer weiß, welches Gewicht dieses Stückchen blankes Metall in der Waagschale Eures Glücks bedeutet? Wir leben in einer sehr realen Welt, mein Sohn und obgleich wir keine Flügel haben, so wäre es doch durchaus ungerechtfertigt, wenn wir aus Ärger darüber auf dem Kopfe gehen wollten (BA 5, S. 366 f.).
Der sich hier abzeichnende kritisch-realistische Diskurs des Weltweisenden Konrad von Faber, der seinen Weggefährten dazu auffordert, zwischen seiner Idealität und der Realität einen kritischen Mittelweg zu schlagen, ist in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit der Weltsicht Brusebergers in Prinzessin Fisch, der seinen Schützling Theodor Rodburg zu einem Weg auffordert, der kritisch zwischen einer idealen Vergangenheit und einer unumkehrbaren Zukunft vermittelt. Die Migrationsthematik bei Raabe ist der gesellschaftspolitischen Gewichtigkeit des epochalen Auswanderungsphänomens nach Amerika entsprechend weitgehend vom Amerikadiskurs dominiert. Afrika, Südamerika sowie das hol-
3.2 Wissenschaft und Kolonialismus als Auswanderungsmotive
207
ländische Südostasien, die bei Raabe eine nicht zuletzt wichtige Stellung für diese Auswanderungsthematik einnehmen, werden vielmehr funktionalisiert, um spezifische Aspekte wie etwa Kolonialismus, Kapitalismus und Wissenschaft, die bei näherem Hinsehen mit diesem Phänomen eng verbunden sind, literarisch zu gestalten. Somit partizipieren Raabes Texte an einer gesellschaftspolitischen Debatte, die zumeist über populärwissenschaftliche Diskurse mit den genannten Aspekten als Hintergrundthemen in der dynamischen Medienwelt der Epoche lief. Die literarische Diskursivierung von Afrika bei Raabe wird den populärwissenschaftlichen Diskurssträngen der Epoche entsprechend weitgehend von den Dimensionen Wissenschaft und Kolonialismus dominiert.
3.2 Wissenschaft und Kolonialismus als Auswanderungsmotive: Zur literarischen Reflexion des Afrikadiskurses bei Raabe Wendt stellt fest, dass die Auswanderung aus Europa in der Phase der „westlichen Dominanz im Zeitraum 1858 – 1930“ ihren Höhepunkt erreichte.⁵²³ Was die Auswanderung aus Deutschland angeht, waren Amerika und Südamerika bei weitem die beliebtesten Zielorte, denn verglichen mit diesen war die deutsche Auswanderung nach Afrika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statistisch gesehen so unbedeutend, dass sie in vielen Studien gar nicht erwähnt wird.⁵²⁴ Und doch zeichnen sich in dieser verhältnismäßig unbedeutenden deutschen Auswanderung nach Afrika manche Dimensionen der europäischen Dominanz ab. Zu Beginn dieses Zeitraums gab es nur vereinzelte deutsche Forscher, die nach Afrika reisten, um entweder aus eigener Initiative oder als Mitglieder von international ausgerichteten Forschungsgruppen an wissenschaftlichen Expeditionen teilzuhaben. Diese deutsche Afrikaauswanderung stieg jedoch ab den 1884er-Jahren deutlich an, nachdem sich Deutschland nach langem Zögern für den kolonialen Wettlauf entschieden hatte. Gerade diese beiden Dimensionen, d. h. Wissenschaft und Kolonialismus, stehen im Mittelpunkt des epochalen Afrikadiskurses, der bei Raabe in den Texten Abu Telfan und Stopfkuchen intensiv reflektiert wird. Ein Blick in die publizistische Diskurswelt der Epoche zeigt, dass in den Repräsen-
Vgl. Reinhard Wendt: Vom Kolonialismus zur Globalisierung, S. 254. Laut Statistiken in Marschalcks Studie wanderten im Zeitraum 1851– 1900 rund 3 107 900 Menschen nach USA und 110 800 nach Südamerika (82 800 nach Brasilien und 28 000 nach Argentinien) aus. Afrika wird überhaupt nicht als Ziel der deutschen Auswanderung erwähnt (vgl. Peter Marschalck: Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 50).
208
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
tationen der afrikanischen Fremde die beiden Dimensionen stets vorhanden sind. Raabe scheint mit diesen beiden Texten an einer brisanten Debatte zu partizipieren, die meist über die Zeitschriften der Epoche läuft. In einem Artikel heißt es: In keiner Zeit ist die Theilnahme der Deutschen an den Forschungsreisen eine so große gewesen als in der jetzigen. In Afrika überflügeln wir sogar die Engländer, obgleich diese dort nicht bloß von wissenschaftlichen, sondern auch von praktischen Motiven vorwärts getrieben werden und in großen Colonien im Westen und Süden des Welttheiles Anhaltepunkte besitzen.Wie viele deutsche Reisende eben jetzt in Afrika thätig sind, wissen unsere Leser.⁵²⁵
In Abu Telfan zeigen die am Romanende an der Wand einer Weinstube hängenden „Bilder, Fahrtenpläne und die Plakate der Auswanderungsagenten“ (BA 7, S. 310), dass der im Text thematisierte Afrikadiskurs sich in das Phänomen der „Auswanderung“, das das gesellschaftspolitische Leben sowie den Alltagsdiskurs prägte, einordnen lässt. In diesem Text lassen sich zwei Konfigurationen als konstitutive Elemente des Afrikadiskurses der Epoche herausstellen, nämlich das Wissenschafts- und das Forschungsmotiv. Die erste Konfiguration stellt die bereits erwähnte Beteiligung der Hauptgestalt Hagebucher an einem international geführten Wettlauf zur Erforschung des Verhältnisses zwischen dem roten und dem Mittelmeer dar, was als Manifestation einer imperialistisch geprägten mental map interpretiert wurde (siehe hierzu Kap. 1.2.2). Das Endziel dieser Untersuchungen ist die Durchgrabung der Landenge von Suez, an der die Hauptgestalt Hagebucher mitbeteiligt ist.⁵²⁶ Über seine Involviertheit „in die[se] verfängliche Weltfrage der Durchsetzung der Landenge von Suez“ (BA 7, S. 24) berichtet er selbst wie folgt: „Dazwischen redigierten wir Zeitungsartikel für alle möglichen europäischen und außereuropäischen Blätter, um nicht nur den Kanal, sondern auch die öffentliche Meinung in das rechte Bett zu leiten“ (BA 7, S. 25). Nicht von ungefähr lässt Raabe den „Afrikaner“ Hagebucher an diesem gigantischen infrastrukturellen Unterfangen mit großen Wirkungen für die globale Zirkulation teilhaben, denn die Fertigstellung und Eröffnung des Suez-Kanals im Jahre 1869 hatte der interkontinentalen Zirkulation den entscheidenden Schub verliehen. Der Suez-Kanal führte zur signifikanten und radikalen Verkürzung der Distanzen zwischen Europa, Afrika und Asien⁵²⁷ und steigerte den Stellenwert der Nilregion auf der
[Anonym]: Neue deutsche Reisende. In: Westermanns Monatshefte 12 (1862), S. 334. Dass diese Frage der Verbindung des Roten Meers mit dem Mittelmeer ein altes wissenschaftliches Rätsel darstellt, bestätigt der Zeitgenosse Ebers, der schreibt: „Schon dem alten Culturvolke der Aegypter konnte es nicht entgehen, welch ungeheurer Vortheil dem Nilthale durch einen das mittelländische und rothe Meer verbindenden Canal erwachsen würde“ (Georg Ebers: Der Canal von Suez. In: Nordische Revue 2 (1864), S.1). Vgl. Reinhard Wendt: Vom Kolonialismus zur Globalisierung, SS. 228 u. 271 f.
3.2 Wissenschaft und Kolonialismus als Auswanderungsmotive
209
geopolitischen Weltkarte.⁵²⁸ Hiermit verschreibt sich Raabes Text der publizistischen Aktualität seiner Zeit, denn seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stand diese Frage wegen deren weltweiter Bedeutung im Mittelpunkt zahlreicher populärwissenschaftlicher und publizistischer Schriften.⁵²⁹ „Als Raabe in der Mitte der 1860er begann, seinen Heimkehrer- und Afrikaroman ‚Abu Telfan‘ zu schreiben war die Fertigstellung des Suezkanals absehbar“⁵³⁰ und „die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf diesen Brennpunkt“⁵³¹ gerichtet.Wie in vielen europäischen Gesellschaften war diese Öffentlichkeit in Deutschland in zwei unterschiedlich eingestellte Lager gespalten, nämlich das der Gegner und das der Befürworter. Ein Artikel des Zeitgenossen Ebers, eines Befürworters dieses Riesenprojekts, zeigt nicht nur, dass diese „verfängliche Weltfrage“ im Mittelpunkt des Interesses der deutschen Öffentlichkeit stand, sondern auch, dass diese Öffentlichkeit ursprünglich gewissermaßen polarisiert war. In diesem Artikel, der der journalistischen Welt für die Aufklärung der Öffentlichkeit in dieser Suezfrage dankt, heißt es: Dies ist der rechte Augenblick, Ihnen und durch Sie dem ganzen deutschen Journalismus den Dank auszudrücken für den Antheil, den die deutsche Presse an diesen Vorkämpfen genommen hat. Sie hat unser Project unermüdlich unterstützt, sie hat es vertheidigt und erklärt; sie hat böswillige Gegner entlarvt und die wohlwollenden Geister überzeugt; sie hat den ungeheuern Nutzen eines Suez-Canals für die Civilisation, für die gesellschaftliche und commerzielle Zukunft der ganzen Welt dargelegt. Ausgezeichnete Publicisten haben unsere Sache mit Wärme, mit Begeisterung, mit Geist und Scharfsinn vertheidigt.⁵³²
Krobbs Studie setzt sich u. a. auseinander mit dem diskursiven Stellenwert des Suez-Kanals in Raabes Roman Abu Telfan. Ihm zufolge lässt sich dieses Motiv „im Zusammenhang mit den zeitgenössischen Interessen verstehen, also mit geopolitischen Erwägungen, die auf den sich modernisierenden Satellitenstaat Ägypten und die von ihm beherrschte Landenge von Suez gerichtet sind“ (Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 120). Er führt weiter aus: „Die verkehrstechnische Erleichterung und Beschleunigung, die der Suez-Kanal zeitigte, war vielleicht der folgenträchtigste Schritt in der vollständigen Vernetzung und Durchdringung […] der Welt“ (Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S.116). Folgende Zeitschriftenartikel zeugen von einem großen Interesse der deutschen Öffentlichkeit an diesem revolutionären Projekt: [Anonym]: Der Kanal durch die Landenge von Suez. In: Die Gartenlaube 8 (1856), S. 104– 107; [Anonym]: Der Canal von Suez. In: Die Gartenlaube 11 (1858), S. 144– 147; [Anonym]: Wie steht es mit dem Suez-Kanal? In: Globus 1 (1862), S. 52– 55; [Anonym]: Die Arbeiten an dem Kanal auf der Landenge von Suez. In: Globus 2(3) (1863), S. 188 – 189. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 116. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 115. Georg Ebers: Der Canal von Suez. In: Nordische Revue 2 (1864), S.1. meine Hervorhebungen.
210
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
Die Meinung der Befürworter einer Kanaldurchstechung zusammenfassend führt er weiter aus: Man sagte sich: es handelt sich um Wiederbelebung eines Bassins, um welches die Stätten und Wiegen aller Cultur lagern; es handelt sich um Eröffnung neuer Wege, um neue Bewegung und Berührung der Völker unter einander, und die Bewegung und die Berührung der Völker sind die mächtigsten Mittel, die wirksamsten Hebel der Civilisation.⁵³³
Ein Blick in zahlreiche populärwissenschaftliche Texte zeigt, dass ähnliche globalisierungseuphorische Positionen, die den Diskurs der Befürworter dieses Jahrhundertprojekts prägten, die publizistische Diskurswelt seit Anfang der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchzogen.⁵³⁴ Darüber hinaus stellt in vielen Quellen dieses Zeitraums das Verschollen mancher deutschen Forscher an bestimmten Orten Afrikas eine weitaus dominantere Komponente des Wissenschafts- und Forschungsmotivs im populärwissenschaftlichen Afrikadiskurs dar. Einige Untersuchungen beschäftigen sich mit dieser Thematik in Abu Telfan und stellen einen Zusammenhang zwischen Hagebuchers Itinerarium in Afrika und dem verschollener deutscher Forscher her, deren Biographien im Mittelpunkt der populärwissenschaftlichen Texte standen.⁵³⁵ Mit Blick auf
Georg Ebers: Der Canal von Suez. In: Nordische Revue 2 (1864), S.1 f. Bereits in einem 1856 erschienenen Artikel mit der Überschrift „Der Kanal durch die Landenge von Suez“ betont der anonyme Autor die gewichtige Rolle dieses Projekts für den Weltverkehr sowie die Verbindung der Völker hinsichtlich einer globalen Kultur. Er führt aus, dass das „Pathos“ eines solchen Projekts die „Befreiung und Erleuchtung unserer schönen Erdoberfläche für Verbindung und Versöhnung aller Völker zu gemeinschaftlichen Interessen des Weltverkehrs und einer Kultur [ist], die alle Nationen erleuchten, erwärmen, besser, humaner, reicher, glücklicher machen wird“ ([Anonym]: Der Kanal durch die Landenge von Suez. In: Die Gartenlaube 8 (1856), S.104 f.). Seine globalisierungseuphorische Position bekräftigt er, indem er die negativen Aspekte des Bestehens dieser die Völker weiterhin trennenden Landenge unterstreicht. Er führt weiter aus: „Die Landenge von Suez zerschneidet nämlich auf eine sehr hartnäckige Weise die ‚Brücke der Völker‘ […] gerade auf einem Wege, der mit jedem Tage wichtiger wird, indem diese Landenge die beiden größten Erdtheile, Asien und Afrika, zu verbinden scheint […]. Doch ist die Landenge von Suez nicht als Verbindung zwischen Asien und Afrika, sondern als barbarische Mauer zwischen den völkerverbindenden Meeren ein Stein des Aergernisses geworden“ ([Anonym]: Der Kanal durch die Landenge von Suez. In: Die Gartenlaube 8 (1856), S.105 f.). Aus der Schilderung von Hagebuchers Parcours in Afrika geht hervor, dass ihn seine Afrikareise vom Nildelta über Wadai bis hin zum Mondgebirge geführt hat. Dazu schreibt Tucker: „One of the most notorious regions was Wadai, a name that Hagebucher casually drops […].Wadai was the area in which two German explorers, Eduard Vogel and Moritz von Beurmann, had recently disappeared“ (Brian Tucker: Raabe, Westermann, and the International Imagination. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, International Perspectives, S. 29). Krobb betont seinerseits auf der einen Seite die wichtige Stellung der Nilregion für die
3.2 Wissenschaft und Kolonialismus als Auswanderungsmotive
211
diese Thematik rechnet Stüssel den Roman Abu Telfan jenen Texten des deutschsprachigen Realismus im 19. Jahrhundert zu, „die fest in das massenmediale System der Zeitungs- und Zeitschriftenkultur“⁵³⁶ mit deren zeittypischen Diskursen eingebunden sind. Die dem Suez-Kanal gewidmeten Passagen in Abu Telfan weisen ganz deutlich darauf hin, dass es sich hier um Globalisierungsdiskurse, d. h. um den Akt des Sprechens über laufende Globalisierungsphänomene handelt, und dabei werden Stellungnahmen abgegeben. In Abu Telfan ist weder eine einseitig euphorische noch eine einseitig skeptische Haltung des Hauptprotagonisten Hagebucher gegenüber dem SuezkanalProjekt zu erkennen. An seinen eigenen Berichten und an den Erzählerkommentaren lassen sich sowohl Begeisterung und Stolz des Hauptprotagonisten auf seine Beteiligung an den laufenden Forschungen als auch eine gewisse Kritik gegen manche Haltungsmuster der europäischen Forscherzunft ablesen. Diese Begeisterung und Stolz rühren jedoch weniger daher, dass dieses Projekt einen Meilenstein für den kommerziellen Weltverkehr darstellen wird. Offensichtlich lässt der Romanautor den Hauptprotagonisten die in manchen euphorischen Diskursen anlässlich des Suezkanal-Projekts in den Vordergrund gerückten Vorteile für die Weltwirtschaft herunterspielen und sogar ausblenden. An dieser Stelle zeichnet sich eine subtile Kritik des Textes ab gegen eine Überbietung der zirkulierenden wirtschaftlichen Argumente. Diese Kritik wird gesteigert durch eine aus der Sicht Hagebuchers verwerfliche Haltung der europäischen Forscherzunft, die zum einen die egoistischen Interessen ihrer jeweiligen Staaten in den Vordergrund rückt und gegeneinander einen erbitterten Konkurrenzkampf ums Prestige führt. Zum anderen profitiert sie von den Ergebnissen der Feldforschung, ohne eine Ahnung von der Wirklichkeit auf dem Terrain zu haben. Diese Sachverhalte deutet Hagebucher mit ironischer Pointe an:
europäische und deutsche Forscherzunft und auf der anderen das große Interesse der europäischen und deutschen Öffentlichkeit an den jeweiligen Schicksalen ihrer Forscher dort. Hierzu schreibt er: „Das Interesse der europäischen Öffentlichkeit konzentrierte sich in den 1850er und 1860er Jahren auf die von Raabe angedeutete Region, weil sich hier die Suche nach den Nilquellen abspielte, weil sich hier eine neue Grenze europäischer Wissensproduktion auftat, weil gerade die Mißerfolge europäischer Forschungsbemühungen den Ehrgeiz von Entdeckern vor Ort und die Phantasie des heimischen Publikums herausforderte. Das deutsche Interesse kristallisierte sich u. a. auf den Astronomen Eduard Vogel, der seit 1855 in dem geheimnisvollen Sultanat Wadai verschollen war“ (Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 105). Ein Blick in zahlreiche publizistische Quellen der Epoche zeigt auf, dass dem Schicksal dieses verschollenen Forschers eine Menge Artikel gewidmet wurde. Kerstin Stüssel: Entlegene Orte, verschollene Subjekte, verdichtetes Wissen, S. 251.
212
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
Aber gegen das Ende des Jahres siebenundvierzig waren unsere Untersuchungen leider schon beendet, und Monsieur Paulin Talabot, der Präsident der Société d’Études du Canal de Suez, welcher ruhig und bequem daheim in Paris geblieben war, publizierte das Resultat zum größten Ärger der Regierung Ihrer Majestät der Königin Viktoria (BA 7, S. 25; meine Hervorhebungen).
Offensichtlich wird die Beteiligung Hagebuchers am Suezkanal-Projekt funktionalisiert, um sich mit dem Stellenwert Afrikas oder der afrikanischen Handlungsund Denkmuster in einer sich vernetzenden Welt, die weitgehend von Europa dominiert war, auseinanderzusetzen. Dies impliziert eine Auseinandersetzung mit dem aus der Aufklärung stammenden „einsinnige[n] Fortschrittsgedanke[n], der im Denken des Weltverkehrs immer mitschwingt“⁵³⁷ und der manchen Forschungsexpeditionen sowie globalisierungsrelevanten Projekten des 19. Jahrhunderts zugrunde liegt. Dem Hauptprotagonisten Hagebucher scheint die Gelegenheit, die ethnographischen Schätze Afrikas im Allgemeinen und der Nil- und Sudanregion im Besonderen auszuwerten und zu bewundern, wichtiger als die wirtschaftlichen Verdienste, die dieses Projekt der Weltwirtschaft bringen sollte. Gerade diese ethnologisch-anthropologische Dimension stellt die zweite Konfiguration des Wissenschafts- und Forschungsmotivs im Afrikadiskurs im Text Abu Telfan dar. In den Erzähleraussagen sowie in vielen Berichten Hagebuchers über seine Reise und seinen Aufenthalt in Afrika taucht eine Vielzahl an ethnographischen Hinweisen, Beobachtungen und Beschreibungen über die Nil- und Sudanregion auf, sodass beim Leser der Eindruck entsteht, dass es sich um die Reise und den Aufenthalt eines europäischen Ethnologen in Afrika handelt. Der Erzähler berichtet über die Beobachtungen Hagebuchers im Laufe seines afrikanischen Parcours rückblickend: „Sein Selbstvertrauen wuchs, je näher er dem Äquator kam, seine Gedanken wurden um so lichter, je mehr sich das Pigment unter der Epidermis der Völkerschaften verdichtete und schwärzte“ (BA 7, S. 186). Über seine Zusammenarbeit mit der einheimischen Bevölkerung sowie seine Beteiligung an anthropologischen Ausgrabungen und Entdeckungen auf dem Terrain teilt Hagebucher selbst mit: Kommt ein Mann aus Nebi Musa zu unserem Abt und gibt an, er wisse einen Schatz in Wadi en Naar, dem Feuertal, welches gleichfalls zum Kidrontal gehört, und, Sidi, wie da das Kloster an zu lecken fing, das ist unglaublich zu erzählen. Wo und wie, wie und wo? ging das durcheinander, und der Beduin wußte auf alles einen Bescheid. Ein Christ habe den Schatz vergraben und nur ein Christ vermöge ihn zu heben, und in der nächsten Nacht sei die rechte Zeit […]. Das hätte man nun wohl nicht geglaubt zu Offenburg, Hanau oder Frankfurt am
Kerstin Stüssel: Entlegene Orte, verschollene Subjekte, verdichtetes Wissen, S.247.
3.2 Wissenschaft und Kolonialismus als Auswanderungsmotive
213
Main; aber in Mar Saba glaubte man es mit Vergnügen, und in der folgenden Nacht haben wir richtig den Schatz gehoben (BA 7, S. 143).
Die Reise und der Aufenthalt Hagebuchers in der Nil- und Sudanregion werden durchgehend mit ethnologisch-anthropologischen Tätigkeiten verknüpft. Dies weist darauf hin, dass Raabe mit seinem Text Abu Telfan manche Wissenschaftsfragen aufgreift, die im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa immer mehr an Attraktivität gewannen. Unter diesen führten Fragen mit weltweitem Interesse wie etwa die Frage nach der Wiege der Menschheit zu vielen Diskursen und Narrativen, an deren Konstruktionen die publizistische Diskurswelt intensiv teilhatte. Dass in diesem Zusammenhang die großräumige Gegend Sudan in dieser Epoche das Interesse der europäischen Öffentlichkeit weckte, bringt der zeitgenössische Beobachter Falkenhorst zum Ausdruck. Er schreibt: „Das Land der schwarzen Menschen, der ägyptische Sudan, beschäftigte seit jeher die öffentliche Meinung Europas. Ein Räthsel- und Fabelland war es in früheren Zeiten, und wunderbare Nachrichten dringen zu uns auch heute aus der Hauptstadt jenes Landes“.⁵³⁸ Seinen Text schließt er mit dem Hinweis: „So spielt sich, wie wir nur anzudeuten vermochten, im fernen Sudan ein Stück Weltgeschichte ab“.⁵³⁹ Das „Stück Weltgeschichte“, von dem es hier die Rede ist, deutet auf die Annahme mancher anthropologischen Fragen der Epoche hin, der Ursprung der Menschheit sei in dieser Region, worauf manche dort ausfindig gemachten Fossilien und Schätze hingewiesen haben sollen. Mit der Verknüpfung von Hagebuchers Reise und Aufenthalt mit ethnologisch-anthropologischen Tätigkeiten weckt Raabe beim Leser mehr Interesse für einen für die zeitgenössische Öffentlichkeit mythisch gewordenen Raum, wo der berühmte Forscher Eduard Vogel verschollen war. Er lenkt auch seine Aufmerksamkeit auf einen der geographischen Kristallisationspunkte von ethnologisch-anthropologischen Diskursen der Epoche wegen seiner für das Verstehen mancher Menschheitsrätsel bedeutsamen Reize und Schätze. Krobb, der sich mit manchen epochentypischen ÜberseeProjektionen oder Übersee-Erwartungen und – Hoffnungen befasst, an denen sich Raabe in Abu Telfan abarbeitet, schreibt in diesem Zusammenhang: […| das Überseeische [möge] die Schlüssel zur Lösung der Menschheitsrätsel liefern, besonders der Frage nach der Abstammung des Menschen und der Gesetze, die den historischen Verlauf der Menschheitsentwicklung bestimmen. Diesem Zweck waren die ethnographischen For-
C. Falkenhorst: Aus dem Reiche Ermin Paschas. Ein zeitgeschichtlicher Rückblick von C. Falkenhorst. In: Die Gartenlaube 20 (1888), S. 616. C. Falkenhorst: Aus dem Reiche Ermin Paschas. Ein zeitgeschichtlicher Rückblick von C. Falkenhorst. In: Die Gartenlaube 20 (1888), S.620.
214
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
schungen und ethnologischen Theoriebildungen über die entwicklungsgeschichtliche Stellung neu entdeckter ,,Primitiver“ oder ,,Natur„-Völker und die Suche nach Mittelgliedern zwischen Tier und Mensch gewidmet.⁵⁴⁰
Manche Fragen der Heimatgenossen an Hagebucher zeigen offensichtlich, dass sie von ihm einige Ergebnisse seiner Beobachtungen in Afrika erwarten. Hier zeichnet sich die Konstellation der Rückkehr eines Ethnologen ab, der aus seiner Feldforschung in Afrika den Durst der Europäer nach Wissen um „das innere Afrika“ (BA 7, S. 175) mit hinreichenden Befunden und Kenntnissen stillen soll. Diese Konstellation nimmt klare Konturen in seiner Zusammenarbeit mit Professor Reihenschlager, einem Sprachenforscher und koptischen Gelehrten, an. Für diesen Sprachenforscher, der sich im Rahmen seiner Forschungsfrage „was ist der Ursprung der Sprache“ (BA 7, S. 166) intensiv mit der Systematisierung der koptischen Grammatik beschäftigt, ist Hagebucher dank seinem Aufenthalt in Afrika „ein Licht in der innerafrikanischen Sprachennacht“ (BA 7, S. 168). Über seine Zusammenarbeit mit dem Sprachenforscher berichtet Hagebucher: Der alte Bursch quält sich unendlich mit der Abfassung einer koptischen Grammatik; nun helfe ich ihm dabei, und wir vertragen uns ausgezeichnet. Wir passen zueinander, und er ist der festen Überzeugung, das Schicksal habe mich nur seinet- und der Grammatik wegen zu den Äthiopen geschickt (BA 7, S. 160).
Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Forschungsgegenstand und -frage des Sprachenforschers mit dem Interessenschwerpunkt der zeitgenössischen Anthropologie und Ethnologie, denn auf der einen Seite ist das Koptische eine vorchristliche Sprache und auf der anderen führt die Suche nach dem Ursprung der Sprache mehr oder weniger zu den Fragen nach dem Wo und Wer. Krobb, der sich eingehend mit der Problematik von Forschung und Wissenschaft im Afrikadiskurs bei Raabe auseinandersetzt, weiß diesen Zusammenhang auf den Punkt zu bringen, wenn er schreibt: „Weiterhin gleicht das Ziel Reihenschlagers dem, welches die zeitgenössische Anthropologie und Ethnologie als ins Horizontale verschobene Ur- und Frühgeschichte der Menschheit umtreibt: die Suche nach Herkunft und Ursprung“.⁵⁴¹ Bei näherem Hinsehen gibt diese Suche nach Herkunft und Ursprung der Menschheit darüber Auskunft, was der zeitgenössische ethnologisch-anthropologische Diskurs von Afrika hält. In seinem Verständnis sei Afrika nur deshalb ein wichtiger Bestandteil der Weltgeschichte, weil sich dort die auf die Primitivität der Menschheit hinweisenden urweltlichen
Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 27. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 122.
3.2 Wissenschaft und Kolonialismus als Auswanderungsmotive
215
Schätze und Reize befänden, was eine ausschließlich passive Beteiligung an der Konstruktion der Weltgeschichte suggeriert. Afrika sei kein Akteur, der die sich abwickelnde und von Europa weitgehend bestimmte Weltgeschichte aktiv mitgestalten kann, denn sein Beitrag liege weit zurück und begrenze sich auf die Herkunft, d. h. auf die Urgeschichte der Menschheit. In dieser zweiten Konfiguration des Forschungsmotivs im Afrikadiskurs bei Raabe lassen sich zwei Kritikpunkte an manchen Dimensionen des von der europäischen Ethnologie und Anthropologie konstruierten Wissens und verbreiteten Diskurses aufdecken. Der erste ist ersichtlich an dem Verhalten des Hauptprotagonisten Hagebucher, der während seines Aufenthalts in Afrika nicht nur den Stellenwert des „primitiven“, „indigenen“ und „barbarischen“ Denkens und Handelns nicht als versteinerte, sondern als lebende Kultur zu schätzen weiß. Er scheint in diese Kultur einzutauchen und sie so intensiv zu leben, dass er sich diese bewusst oder unbewusst einprägen lässt. In dieser Konstellation ist eine positive Konnotation des Barbarischen zu erkennen,⁵⁴² mit der Raabe sich von herrschenden kategorisierenden und hierarchisierenden Denkmustern des ethnologischen und anthropologischen Mainstreams seiner Epoche absetzt.⁵⁴³ Den zweiten Kritikpunkt verdeutlicht Krobb mit seinem Interpretationsansatz. Diesem zufolge sind der Forschungsgegenstand und das Forschungsziel des Linguisten Reihenschlager eine Irritation der ethnologisch- anthropologischen Grundannahme der Epoche, Afrika sei ein Kontinent von Naturvölkern. Dazu führt er aus: Während das Innere Afrika der Ethnologen und Anthropologen der Erforschung von Naturvölkern und damit den ersten Stufen des biologischen Menschseins galt, versucht der historische Linguist die Sprachzeugnisse des Inneren Afrika auszuwerten, spricht also die dort lebenden Ethnien als Geschichtsvölker an, als Gemeinschafen mit (wenn vielleicht auch verschütteter) Schriftkultur und damit mit zivilisatorischer Entwicklung. Die Unterscheidung
Vgl. Christof Hamann: Schwarze Gesichter im deutschen Mondschein. Zum Konzept des Barbarischen in Wilhelm Raabes Abu Telfan. In: Michael Hofmann und Rita Morrien (Hgg.): Deutsch-afrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart. Literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Amsterdam, New York: Rodopi 2012, S. 70. Manche anthropologischen Diskurse der Epoche, die den Stellenwert Afrikas für die Entwicklung der Weltgeschichte unterstreichen, bleiben jedoch der exotistischen Diskurslinie verhaftet, die Afrikaner als paradiesische Naturvölker oder als „edle Mohren“ darstellt (vgl. Peter Martin: Schwarze Teufel, edle Mohren. Hamburg: Junius 2000.). In einem Auszug aus einem anthropologischen Bericht über Afrika heißt es: „Auch Afrika wird seinen Antheil an der zukünftigen Geschichte der Erdenkinder übernehmen […]. Man hat es nun seit länger als einem halben Jahrhundert von allen Seiten in Angriff genommen und bis tief in’s Innere erforscht, wo z. B. Deutsche, Barth und Overweg, mitten in Wüsten die herrlichsten Paradiese mit gutmüthigen, ziemlich gebildeten Menschen entdeckt haben“ ([Anonym]: Der Negerkönig. In: Die Gartenlaube 43 (1853), S. 472 f).
216
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
zwischen ,,Naturvölkern„ und ,,Geschichtsvölkern“ war für das Wissenschaftsverständnis und das Menschenbild der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts von weitreichender Bedeutung. Indem Raabe seinen Linguisten die Völker der von Hagebucher durchmessenen Regionen als Geschichtsvölker behandeln läßt, nimmt er Stellung zu den Annahmen der zeitgenössischen Anthropologie, welche innerafrikanische Ethnien auf den Status von Fossilien, von Relikten der vorzivilisatorischen Menschheitskindheit reduzierte.⁵⁴⁴
Hier zeichnet sich eine Konstellation ab, in der manche herrschenden Dichotomien und hierarchisierenden Kategorien seiner Zeit infrage gestellt werden. Die in ethnologisch- anthropologischen Diskursen postulierten Unterschiede über den Status des Menschen in Europa und Afrika werden weitgehend relativiert. In diesem Zusammenhang versteht Göttsche zu Recht den Text Abu Telfan als eine „radikale Kritik der kolonialen Anthropologie […], die den Afrikanern keine gleichwertige Kultur und Menschlichkeit zugesteht“.⁵⁴⁵ Dies zeigt der bereits erwähnte Vortrag des Afrikarückkehrers Hagebucher, in dem Vergleichungen zwischen dem Land Tumurkie und der Heimat vorgenommen werden, was für Empörung in der spießbürgerlichen Gesellschaft sorgt, denn nur der Titel an sich deutet darauf hin, dass Hagebucher die auf hierarchisierenden Kategorien beruhenden Denkmuster und Erkenntnisse des epochalen Afrikadiskurses zu verunsichern gedenkt (siehe hierzu auch Kap. 1.2.2). Aus der oben vorgenommenen Analyse ergibt sich eine gewisse Forschungsund Wissenschaftskritik, die bei Raabe in engen Zusammenhang mit der Kolonialismusthematik gesetzt wird. Einen intrikaten und dubiosen Konnex zwischen europäischen Forschungsaktivitäten und manchen merkantilen Tätigkeiten bzw. zwischen europäischen Forschern und Händlern bei deren gleichzeitigem Erscheinen in Afrika scheint der Text Abu Telfan aufzudecken. Dies ist ersichtlich im Treffen und in der Zusammenarbeit des Hauptprotagonisten Hagebucher mit dem Elfenbeinhändler Luca Mollo alias Semibecco, die eingehend dargestellt werden. Hiervon erzählt Hagebucher: Mit meinem Freunde Luca Mollo oder Semibecco und einem Haufen des niederträchtigsten Lumpengesindels […] zog ich nach Chartum und von da weiter stromaufwärts gen Kaka, wo wir gegen Anfang des Januar achtzehnhundertachtundvierzig eintrafen und unsern Handel mit den Leuten des Landes, den Schilluks, anfingen (BA 7, S. 26 f.).
Hagebucher, der von seinem Afrikaaufenthalt rückblickend berichtet und deshalb über die damit verbundenen Erfahrungen mit mehr Abstand zu sprechen vermag,
Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 123. Dirk Göttsche: Der koloniale „Zusammenhang der Dinge“ in der deutschen Provinz.Wilhelm Raabe in postkolonialer Sicht. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 46 (2005), S. 61.
3.2 Wissenschaft und Kolonialismus als Auswanderungsmotive
217
macht aus seiner kritischen Sicht gegenüber seiner Zusammenarbeit mit solchen skrupellosen europäischen Händlern keinen Hehl. In Bezug auf seine Gefangenschaft sagt er: „Ich sollte die Ehre, die Bekanntschaft dieses berüchtigten Elfenbeinhändlers vom Weißen Nil gemacht zu haben, teuer bezahlen“ (BA 7, S. 26). Die Attribute „niederträchtig“ und „berüchtigt“ sind nur einige Hinweise auf den Abscheu des Hauptprotagonisten vor solchen Tätigkeiten, die auf den Kolonialismus mit dessen ausbeuterischen Praktiken hindeuten. Bei Raabe ist eine Verknüpfung der Wissenschafts- mit der Kolonialismuskritik in der Literarisierung des Afrikadiskurses zu erkennen. Diese kommt in Abu Telfan auf der einen Seite dadurch zum Ausdruck, dass manche verwerflichen Praktiken in der Zusammenarbeit der Forschungs- und Kolonialmissionen aufgespürt werden. Auf der anderen Seite ist sie erkennbar in der eindeutigen Infragestellung des in epochalen Ethnologie- und Anthropologiediskursen verbreiteten Wissens, das die Überlegenheit des europäischen Subjekts postulierte und dem Kolonialismus eine wissenschaftlich fundierte Legitimation lieferte. Im Roman Stopfkuchen entlarvt Schaumann bei einer Unterhaltung mit dem Afrikarückkehrer Eduard den Status des Letzteren als Kolonisten wie folgt: „Einige werden in die Welt hinausgeschickt, um ein König- oder Kaiserreich zu stiften, andere, um ein Rittergut am Kap der Guten Hoffnung zu erobern“ (BA 18, S. 81). Man erkennt an der Biographie des Rückkehrers Eduard, der nicht nur ein Rittergut am Kap der Guten Hoffnung besitzt, sondern auch in Südafrika in eine burische Familie eingeheiratet hat, manche Züge „ein[es] in Afrika zu Wohlstand gelangte[n] Kolonialbürgertum[s]“.⁵⁴⁶ Darüber hinaus hat der Aufbruch Eduards nach Afrika eine wenn auch nur indirekte Verbindung mit der Forschung, was einen vielschichtigen Konnex zwischen Wissenschaft und Kolonialismus ergibt. Um diesen Konnex kreist auch die Kolonialismuskritik in Stopfkuchen.Während in Abu Telfan die Kolonialismuskritik u. a. in der Aufdeckung einer engen Zusammenarbeit zwischen Forschungstätigkeiten und kriminellen merkantilen Aktivitäten zur Gestaltung gebracht wird, oszilliert sie in Stopfkuchen zwischen zwei Polen. Zum einen besteht ein enger Zusammenhang zwischen Forschung und Kolonialismus, denn die wichtigste Anregung Eduards zum Aufbruch in den afrikanischen Raum ist wie bereits angedeutet das Buch „Reisen in das Innere von Afrika“, in dem der „Welt- und Reisebeschreiber“ (BA 18, S. 19) und Naturforscher Levaillant u. a. „von dem Innern Südafrikas erzähl[t]“ (BA 18, S. 207). Der Landbriefträger Störzer, der das Leben des Naturforschers als nachahmenswert beurteilt, sagt zu Eduard: „Das ist doch unser Buch! und der Welt- und Reisebeschreiber treibt einem die trüben Grillen aus dem Kopf. Und so ein Leben
Dirk Göttsche: Raabes Erzählungen und Romane, S. 135.
218
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
wie der sollten wir alle führen unter den wilden und zahmen Hottentotten“ (BA 18, S. 19). Mit dieser Anregung zur Reise nach Südafrika, wo die „Wildheit“ wieder zu entdecken ist, gleicht Eduards Aufbruch nach Afrika einem „‚Zurück‘ in einen ‚jungfräulichen‘ Erdteil mit ‚unberührte[m] Land‘“.⁵⁴⁷ Dass sich der Schwerpunkt des Aufenthalts Eduards in Südafrika von dem ursprünglich angestrebten Abenteuerlichen der Naturbeschreibung oder -forschung auf wirtschaftliche Interessen verlagert, zeigt, wie sein südafrikanischer Aufenthalt zweckentfremdet wird. Mit der Verlagerung von wissenschaftlich-abenteuerlichen auf wirtschaftlichausbeuterische Interessen wird eine Konstellation bereitgestellt, in der man die in der jüngeren Forschung über das Werk Raabes betonte Kolonialismuskritik erkennen kann.⁵⁴⁸ Darüber hinaus hat sich laut Stopfkuchens Aussage im Nachhinein herausgestellt, dass Störzer, der Mentor von Eduard, ein Mörder ist. Die Aufklärung dieses lokalen Kriminalfalls erschüttert Eduards koloniales Überlegenheitsgefühl.⁵⁴⁹ Sie zeigt, dass das wirtschaftlich-ausbeuterische Unterfangen des Kolonisten Eduard in Südafrika eine Verbindung mit Kriminalität in der europäischen Heimat hat (siehe hierzu auch Kap. 1.2.2). Dass im Text Stopfkuchen der Kolonialismus sowohl dem kolonisierten Raum als auch der europäischen Metropole erhebliche Schäden zufügt, zeigt Pizer, der schreibt: „It perpetuates brutality und tragic suffering in Europe and in ‚a world
Kitsinger zit. in Rolf Parr: Die Fremde als Heimat, S. 13. In einigen Untersuchungen wurden Aspekte dieser Kolonialismuskritik besonders im Text Stopfkuchen hervorgehoben. In ihrem Aufsatz über Stopfkuchen rekurriert Byram auf postkoloniale Ansätze, um den kolonialen Praktiken in der Peripherie innewohnende Gewaltstrukturen auch in den politischen, sozialen und kulturellen Sphären der europäischen Metropole aufzudecken. In diesem Sinne zeigt sie am Beispiel der Beziehung des Daheimgebliebenen Schaumann zu seiner Frau Valentine sowie des Verhältnisses Schaumanns zu seinem Freund Eduard, dass „Eroberung“, „Unterdrückung“, „Domestizierung“, „Infantilisierung“ und „Macht“ auch die zwischenmenschlichen Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft prägen (vgl. Katra Byram: Colonialism and the Language of German-German Relations in Raabe’s ‘Stopfkuchen’. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, International Perspectives, S. 61– 73). Diese Analyse Byrams rückt eine wichtige Dimension der Kolonialismuskritik bei Raabe ans Licht, denn sie zeigt, dass manche Strukturen der angeblich „fortgeschrittenen“ und „zivilisierten“ Metropole ebenfalls defizitär sind. Pizer zufolge gehört Stopfkuchen zu jenen Texten, in denen sich Raabe an der holländischen Kolonisation abarbeitet. In seiner Analyse vertritt er folgende These: „Raabe focused on Dutch colonialism because he wanted to illustrate the dangers of imperialism to his fellow Germans by drawing on the generally ill-fated experiences of a neighbouring country with close historical, ethnic and linguistic ties to the fatherland“ (John Pizer: Raabe and Dutch Colonialism. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, International Perspectives, S. 74 f.). Vgl. Dirk Göttsche: Raabes Erzählungen und Romane, S. 135.
3.3 Die epochale deutsche Auswanderung nach Brasilien in Zum wilden Mann
219
away‘, which is to say in the colonized territories themselves“.⁵⁵⁰ Während der Afrikadiskurs in Abu Telfan und Stopfkuchen im Spannungsfeld von Forschung und Kolonialismus literarisiert wird, kommt der Südamerikadiskurs in Zum wilden Mann im Spannungsfeld von Kolonialismus und globalem Kapitalismus zur Gestaltung.
3.3 Die epochale deutsche Auswanderung nach Brasilien in Zum wilden Mann als Kritik an einer kolonialkapitalistischen Expansion Deutschlands nach Südamerika im Wilhelminischen Zeitalter In der 1874 – d. h. drei Jahre nach der Reichsgründung – erschienenen Erzählung Zum wilden Mann stehen die sich an vielen Stellen kreuzenden Lebensgeschichten von zwei Figuren, nämlich die des Rückkehrers Agostin Agonista und die des Daheimgebliebenen Kristeller im Mittelpunkt der Handlung. In diesem Text werden das zeitgeschichtliche Phänomen der deutschen Auswanderung nach Brasilien und die Beteiligung Deutschlands an einer globalen kapitalistischen Expansion sowie an einer kolonial geprägten westlichen Dominanz der Welt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts literarisch reflektiert. Der Rückkehrer Agostin Agonista, der vor seinem Aufbruch nach Brasilien August Mördling hieß, hatte 30 Jahre zuvor Deutschland verlassen. Vor seinem Aufbruch in den brasilianischen fernen Raum hatte er die Bekanntschaft des Botanikers Kristeller, den er zufällig bei Exkursionen in den botanischen Wald getroffen hatte, gemacht. An seinem Verhalten und Gemüt konnte Kristeller, von dessen Erinnerungsprozess sich diese vergangene Binnengeschichte in der Handlungsgegenwart erzählerisch rekonstruieren lässt, deutliche Anzeichen des Unwohlseins und der Lebensmüdigkeit erkennen. Deshalb fragt Kristeller: „Ja, was war das? Was konnte das sein? Ein Betrunkener? Ein Wahnsinniger? Ein Epileptiker? Ein lebensmüder Unglücklicher, der sich diesen Ort ausgesucht hatte, um gerade jetzt daselbst zu Ende zu kommen mit sich?“ (BA 11, S. 192) Kurz vor seinem Aufbruch nach Brasilien hinterlässt der bis dahin mysteriös gebliebene August Mördling seinem Freund Kristeller und dessen Verlobten Johanna das ererbte väterliche Vermögen in Höhe von 9500 Talern mit der folgenden Anweisung in einem Abschiedsbrief: „Gründet ein Haus, das feststeht und glückliche, fröhliche Kinder in seinen Mauern aufwachsen sieht“ (BA 11, S. 196). Sein Ab John Pizer: Raabe and Dutch Colonialism. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, International Perspectives, S. 84.
220
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
schiedsschreiben schließt er mit der wichtigen Anmerkung, er ist „auf dem Weg zurück zu den Menschen“ (BA 11, S. 196). Erst nach seiner Rückkehr 30 Jahre später macht Agostin Agonista, der es mittlerweile in der brasilianischen Gendarmerie zum Oberst gebracht hat, durch seine Kommentare seinen damaligen Abscheu vor der europäischen Kapitalismusgesellschaft bekannt. Mit dem Verschenken des väterlichen Vermögens sowie dem Aufbruch in die Fremde bekundete er damals zum einen seine Abkehr von der aus seiner Sicht zu sehr kapitalistisch und materialistisch ausgerichteten europäischen Gesellschaft und zum anderen seine Suche nach einer menschlicheren Gesellschaft, die er in Südamerika zu finden glaubte. Auf seine Erklärungen reagiert Kristeller mit großem Staunen: „Du bist als ein eigentumsloser Bettler in deiner Verwirrung in die Welt hinausgelaufen; – du hast mir das Erbe deiner Väter überwiesen –“ (BA 11, S. 216 f.). Dieses Staunen bekräftigt Dorette, die Schwester Kristellers, wie folgt: „So ist es! Niemals hat ein Mensch mit gleich leerer Tasche dem alten Europa den Rücken gewendet!“ (BA 11, S. 217) Kristeller, der „die gesunde Gegend mit seinen Pillen und Mixturen noch gesunder zu machen“ (ΒΑ 11, 175) gedenkt, hat mit der Schenkung eine Apotheke mit dem Namen „Zum wilden Mann“ gegründet, die den vom Harzdorf und dessen Umgegend beliebten Magenbitter „Kristeller“ herstellt und deren „Kräuterhandel durch ganz Deutschland ins Unermessliche“ (BA 11, S. 175) gestiegen ist. Anlässlich des 30. Jubiläums der Apotheke lässt er seinen engen Freundeskreis in der Offizin zusammenkommen. Doktor Hanff, der letzte Gast, der die Offizin betritt, bringt einen Unbekannten mit, der sich wenig später als der Rückkehrer Agostin Agonista ausweist, d. h. der ehemalige August Mördling, der 30 Jahre zuvor dem Apotheker die Schenkung gemacht hatte, bevor er nach Brasilien aufgebrochen war. Der Rückkehrer teilt mit, dass er in „seiner neuen Heimat“ (BA 11, S. 242) Brasilien heiraten, eine Familie gründen und eine Hazienda kaufen will. Zur Erfüllung seiner Wünsche fordert er das Geld mit Zinsen zurück. Er bekommt 12 000 Taler, was die Apotheke ruiniert und 30 Jahre harte Arbeit des Apothekers zunichtemacht. Die Handlung endet mit einem aussagekräftigen Tableau, das die Pleite der Offizin zeigt. Dieses Tableau geht aus der folgenden Schilderung des Erzählers hervor: Was die Freunde der Umgegend anbetraf, so verwunderten sie sich in der Tat sehr, als im Laufe des Winters und Frühjahrs in der Apotheke „Zum wilden Mann“ sich vieles veränderte – als die Möbel aus den Gemächern abhanden kamen, das Vieh aus den Ställen verschwand, als der Blumengarten sich in einen Gemüseplatz verwandelte, das zierliche Dienstmädchen eine andere gute Herrschaft suchte, dem Knechte gekündigt wurde und es im Kreisblatte zu lesen stand, daß der Apotheker Herr Kristeller soundso viel Morgen Wiesen und Ackerfeld an die und die Bauern der Gemeinde und Feldmark verkauft habe […]. Ein kahleres Haus gab es nachher nicht im Orte (BA 11, S. 256).
3.3 Die epochale deutsche Auswanderung nach Brasilien in Zum wilden Mann
221
In diesem Text wird die Rückkehr von Agostin Agonista aus Brasilien inszeniert, um die deutsche Auswanderung nach Südamerika, die „in einem dezidiert globalen – welt- und kolonialpolitischen – Zusammenhang“⁵⁵¹ der Epoche steht, literarisch zu reflektieren.⁵⁵² Der Frage, wie sich der Text zu diesem epochalen Phänomen und dessen facettenreichen Folgen positioniert, wird in diesem Abschnitt nachgegangen. Diese tiefe zeitgeschichtliche Verankerung des Textes lässt sich vor allem an der die Handlung durchziehenden Thematik der Verschränkung von Kapitalismus und Kolonialismus in einer sich verflechtenden Welt erkennen.⁵⁵³ Wie manche Untersuchungen betonen, ist Raabes Text Zum wilden Mann vor dem sozial- und kulturell-diskursiven Hintergrund des gründerzeitlichen Kontextes der 1870er Jahre zu verstehen. Es soll hier betont werden, dass diese Zeit sowohl durch sprunghafte wirtschaftliche Verhältnisse im Zeichen des globalen Kapitalismus als auch durch die das zeitgenössische Bewusstsein prägende Kolonialfrage gekennzeichnet war.⁵⁵⁴ Die hier thematisierte brasilianische Auswanderung als gesellschaftlich-kulturelles Phänomen der Epoche wird vor dem Hintergrund des gründerzeitlichen Kapitalismus im Kontext einer kolonial geprägten globalen Zirkulation, die das Wilhelminische Zeitalter besonders charakterisiert, reflektiert. Mit der Erwähnung des Fleischextraktes in Fray Bentos (Argentinien) oder einer eventuellen Vermarktung des von Kristeller hergestellten Magenbitters „Kristeller“ in Südamerika werden zwei Themen aufgegriffen, die sich mit den inhaltlichen Schwerpunkten der zeitgleich erscheinenden Zeitschriften überschneiden.⁵⁵⁵ Auf diese beiden Themen werde ich noch zu sprechen kommen. Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S. 233. Manche Statistiken belegen, dass die deutsche Auswanderung nach Brasilien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein wichtiges soziokulturelles Phänomen war. Folgende Zeiträume mit jeweiligen Auswandererzahlen werden von Statistiken erfasst: 1848 – 1872: 19 523; 1872– 1879: 14 325; 1880 – 1889: 18 901; 1890 – 1899: 17 901 (vgl. „zur deutschen Einwanderung in Brasilien“. In: www.kas.de/wf/doc/10985 – 1442– 1– 30.pdf (Zugriff am 15.06. 2017). Raabe selbst betont den zeitgeschichtlichen Charakter von Zum wilden Mann. Er spricht in einem Brief an den Verlag Reclam von dem „zeitgeschichtlichen Repräsentativitätsanspruch dieses Textes“ (Raabe zit. in Rolf Parr: „Zum wilden Mann“. In: Dirk Göttsche u. a. (Hgg.): Raabe Handbuch, S.155). Vgl. Dirk Göttsche: Raabes Erzählungen und Romane, S. 133. Tucker zeigt enge thematische Berührungspunkte zwischen dem Text Zum wilden Mann und der Familienzeitschrift Westermanns Monatshefte, in der er vorerst als Fortsetzungstexte und Vorabdruck veröffentlicht wurde, bevor er als Volltext erschien. In zahlreichen Zeitschriftenausgaben, die im Zeitraum 1870 – 1873 erschienen sind, stellt Tucker eine intensive Auseinandersetzung mit den Themen „deutsche Auswanderung nach Brasilien“ und „Fleischextrakt“ fest, die ebenfalls in Zum wilden Mann behandelt werden. Hierzu schreibt er: „For readers in the 1870s, entering Kristeller’s home really would be like entering the world of Westermanns, since the
222
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
In diesem Text, der die deutsche Auswanderung nach Brasilien thematisiert, geht es u. a. darum, sich mit über dieses Phänomen umlaufenden Diskursen auseinanderzusetzen und darüber hinaus sich zum Phänomen zu positionieren. Dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die deutsche Auswanderung nach Brasilien Anlass zu polarisierten gesellschaftspolitischen Diskursen gegeben hat, zeigen etliche Artikel aus den Zeitschriften der Epoche. Beispielhaft hierfür steht ein Artikel Gerstäckers mit dem Titel „Deutsche Colonisation in Brasilien“, in dem steht: In den letzten Jahren ist das deutsche Publicum in Allem, was Brasilien betrifft, so verwirrt worden, daß sich wohl nur wenige ein richtiges Bild davon entwerfen konnten. Ich selber wenigstens betrat mit einem großen Vorurtheil gegen Brasilien das Land, und zwar weniger der Berichte wegen, die Brasilien als eine Hölle schilderten, als um derer willen, die mit Hülfe von kleinen „Auswanderungsbüchern“ und „wohlgemeinter Rath für Auswanderer“ etc. das Land mit den rosigsten Farben beschrieben und eine Glorie darum flochten.⁵⁵⁶
Zur Veranschaulichung dieser polarisierten Diskussion um die Frage der deutschen Auswanderung nach Brasilien, die meist als „Kolonisation“ angesehen und als solche diskursiviert wurde, werden exemplarisch im Folgenden zwei entgegensetzte Positionen angeführt. In einem 1864 veröffentlichten Artikel zeigt der Autor seine ablehnende Haltung nicht nur gegenüber Diskursen, die für dieses Phänomen werben, sondern auch gegenüber der deutschen Auswanderung nach Brasilien überhaupt. Hier schreibt der unter einem Pseudonym in Die Gartenlaube publizierende Autor: Auswanderung ist ein Naturproceß, die fortgesetzte Völkerwanderung, das hat man jetzt ziemlich allgemein begriffen, aber noch immer will man nicht einsehen, daß sich auch in dieser Beziehung die Natur keine Vorschriften machen läßt, d. h. daß auf falsch gewählten Zielpunkten der Auswanderung zu denen der natürliche Strom nicht freiwillig geht und wohin man ihn daher durch künstliche Mittel zu lenken und zu zwingen sucht, auch niemals eine wahre und gedeihliche Colonisation das Ergebniß wird sein können.⁵⁵⁷
stories and plans presented there reproduce topics of contemporary interest in the magazine’s pages. Both international themes, Brazilian emigration and meat extraction, had come into remarkable currency in the 1870s“ (Brian Tucker: Raabe, Westermann, and the International Imagination, S. 32). Hiermit wird die thematische Eingebundenheit des Textes in die massenmediale Aktualität der Epoche und davon ausgehend seine Teilhabe an gesellschaftspolitischen Alltagsdiskursen bekräftigt. Friedrich Gerstäcker: Deutsche Colonisation in Brasilien. In: Die Gartenlaube 29 (1862), S. 454. [Th. O.]: Auswanderung. In: Die Gartenlaube 22 (1864), S. 350.
3.3 Die epochale deutsche Auswanderung nach Brasilien in Zum wilden Mann
223
Aus der Sicht Gerstäckers, der die USA als Auswanderungsziel ablehnt, ist Brasilien „ein vortreffliches Land für deutsche Auswanderung, und besonders in jetziger Zeit, wo es keinem Deutschen anzurathen ist, nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika auszuwandern“.⁵⁵⁸ Der Geschichtswissenschaftler Conrad, der die Problematik der Diskussion um die deutsche Auswanderung nach Übersee im Allgemeinen auf den Punkt bringt, fasst die jeweiligen Argumentationen zusammen, die auch auf die Diskussion um die deutsche Auswanderung nach Brasilien im Besonderen zutreffen. Hierzu schreibt er: „Die Kritiker warnten vor dem Verlust an ‚Volkskraft‘, der mit dem ‚Abfließen‘ einer großen Anzahl Deutscher nach Übersee verbunden sein würde […]. Die Mehrzahl der Kommentatoren sah die Auswanderung vor allem als wirksames Instrument der Linderung sozialer Not“.⁵⁵⁹ Mit der Inszenierung der Rückkehr von Agostin Agonista, der sich ausdrücklich zu Brasilien als „neuer Heimat“ bekennt, wo er ein Landgut kaufen und eine Familie gründen will, verschreibt sich der Text Zum wilden Mann einer Diskussionslinie der zeitgenössischen Diskurse, die das Thema der deutschen Auswanderung nach Brasilien vielmehr im Spannungsfeld von Kolonisation und Wirtschaft besprechen. Diese beiden Dimensionen überwiegen im epochalen Zeitschriftendiskurs, denn deutsche Einwanderer gründeten im Aufnahmeland einige Ansiedlungen am Beispiel der 1850 in Südbrasilien vom deutschen Kolonisten Blumenau gegründeten Stadt mit demselben Namen, was davon zeugt, dass diese Auswanderung nach wie vor „mit kolonialen Ambitionen verknüpft“⁵⁶⁰ war. Darüber hinaus zeigt ein Blick in die meisten Artikel über diese Thematik, dass wirtschaftlich-finanzielle Aspekte im Vordergrund stehen, was nachvollziehbar ist, denn dem Großteil der deutschen Einwanderer ging es darum, auf dem aus ihrer Sicht „sehr fruchtbaren“ südamerikanischen Boden großflächige Ackerfelder zu bestellen und dadurch große Gewinne zu erwirtschaften. In diesen Texten aus der publizistischen Diskurswelt über dieses epochale Phänomen wird der Fokus auf die brasilianischen Verhältnisse gelegt. Dabei wird mit einigen ebenfalls in der deutschen Belletristik über Brasilien anzutreffenden Topoi wie etwa „die Üppigkeit und unermessliche Fruchtbarkeit, das beinahe unkontrollierbare Wuchern, die Wildnis“⁵⁶¹ auch diskursiviert. Hier kann man sich auf Zantop stützen, die die Wirkung der jahrhundertelangen Auseinandersetzung mit Lateinamerika in den deutschen Meis-
Friedrich Gerstäcker: Deutsche Colonisation in Brasilien. In: Die Gartenlaube 29 (1862), S.456. Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S. 231. Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S. 233. Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S. 246.
224
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
tererzählungen zu erfassen versucht. Ihr zufolge „schufen [sie] eine fiktive deutsche Kolonialgeschichte auf dem Papier und in den Köpfen ihrer Leser“.⁵⁶² In Anlehnung an diesen Ansatz kann man sagen, dass die Texte aus der Zeitungswelt, die fast auf die gleichen Topoi und Tropen wie die Belletristik vor 1871 zurückgreifen, zur Stärkung dieser Wirkung beigetragen haben. Raabes Text Zum wilden Mann hebt sich jedoch vom Großteil der Texte der kolonialen Belletristik und der Zeitschriftendiskurse der Epoche dadurch ab, dass er nicht die Verhältnisse im Zielland in den Mittelpunkt rückt. Hier wird wie beim Großteil der Heimkehrertexte Raabes die Handlung mithilfe des Heimkehrmotivs so konfiguriert, dass der Blick des Lesers zwar eher auf den Heimatraum Deutschland gerichtet wird, aber dessen Verhältnisse als eng verbunden mit den laufenden Verflechtungsprozessen zu verstehen sind, denen die Auswanderung weitgehend Vorschub leistet. Die spärlichen Hinweise über das Leben des Einwanderers Agonista in Brasilien und über Brasilien selbst dienen wesentlich dazu, die negativen Einflüsse des brasilianischen Aufenthalts auf den Rückkehrer und darüber hinaus auf den Heimatraum hervorzuheben. Aus der Sicht Dunkers hebt sich Raabes Text mit dieser Strategie von der exotistischen Struktur der kolonialen Texte der Epoche ab. Hierzu schreibt er: „When, for instance, Raabe does not include many details of Agonista’s deeds in Brazil, this is not because these details would be uninteresting to the reader, but precisely to avoid generating in the reader a similar fascination with the exotic detail of the colonial atrocities“.⁵⁶³ Diese wiederkehrende Strategie in den Heimkehrerexten Raabes hat in Zum wilden Mann eine Bedeutung, die über die zu Recht von Dunker betonte kolonialismuskritische Linie der Texte Raabes hinausgeht. Mit dieser Strategie wird in diesem Text die vom industriellen Kapitalismus geprägte gründerzeitliche Wirklichkeit der 1870er Jahre als eingebettet in die kolonial geprägten globalen Austausch- und Verflechtungsprozesse der Epoche dargestellt. Eine nähere Betrachtung der Lebensgeschichte Agonistas lässt eine radikale Veränderung seiner Werte, Vorstellungen und Haltungen erkennen. Mit dem Chronotopos der Heimkehr, der im Verein mit der Binnengeschichte die Rekonstruktion der Denk- und Handlungsweisen Agonistas vor seinem Aufbruch in die Fremde möglich macht, wird seine ideologische Entwicklung sichtbar. Der vor seinem Aufbruch nach Brasilien verzweifelte Europa- und Lebensmüde mit eindeutig kapitalismusskeptischer Lebenseinstellung erweist sich bei seiner kurzfristigen Rückkehr nach 30 Jahren in der Fremde als ein erprobter Kapitalist,
Susanne M. Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770 – 1870) Berlin: Erich Schmidt 1999, S. 11. Axel Dunker: First Contact and Deja Vu, S. 54.
3.3 Die epochale deutsche Auswanderung nach Brasilien in Zum wilden Mann
225
dessen kaltblütiger und rücksichtsloser Materialismus verheerende Auswirkungen auf die Heimat hat (siehe hierzu auch Kap. 1.2.3).⁵⁶⁴ Mit der verbrachten Zeit in Brasilien hat sich der europamüde Kapitalismusskeptiker hin zu einem zynischen Repräsentanten einer „denaturierten kapitalistischen Wirklichkeit“⁵⁶⁵ entwickelt. Seine monsterhaften Handlungen plündern die Heimat nicht nur finanziell, sondern vor allem wirtschaftlich und intellektuell, denn bei seiner Rückreise nach Brasilien nimmt er das Rezept des Magenbitters „Kristeller“ mit in seine „neue Heimat“ und raubt somit das intellektuelle Eigentum des Apothekers.⁵⁶⁶ Es mag schon verwundern, dass die Auswanderung nach Brasilien bei Raabe so eng in Verbindung gesetzt wird mit Kapitalismus, denn die Vorstellung von Amerika als Wiege des Kapitalismus war weit verbreitet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Vergleich zum Kapitalismus aus Amerika, der bei Raabe zwar kritisch reflektiert und gar misstrauisch betrachtet wird, aber in einigen Handlungskonfigurationen mancher Texte wie etwa Die Leute aus dem Walde und Alte Nester dem Heimatraum zugutekommen kann, wird der Kapitalismus aus Brasilien mit einseitig negativen Zügen dargestellt. Er nimmt am Beispiel der Handlungen sowie des Porträts des Rückkehrers, die, so Simon, mit Teufelszuschreibungen charakterisiert werden, die Gestalt eines für den Heimatraum zerstörerischen Monsters und Teufels an (siehe hierzu auch Kap. 4.1.2).⁵⁶⁷ In Zum wilden Mann wird anhand der Vorsätze des Rückkehrers – der in Brasilien eine „Hazienda“ kaufen will und darin finanziell investieren möchte – deutlich gezeigt, dass die deutsche Auswanderung nach Brasilien, die hauptsächlich an der Gründung von landwirtschaftlichen Gütern orientiert war, „im engen Zusammenhang mit der kapitalistischen Erschließung Südamerikas“⁵⁶⁸ stand. Die sich in diesem Text abzeichnende skeptische und gar ablehnende Position gegenüber der deutschen Auswanderung nach Brasilien, die in dieser Konstellation lediglich mit wirtschaftlich-finanziellen Interessen verbunden ist – d. h. die für den Auswanderer die Komponenten Bildung oder Humanismus nicht
Vgl. Dirk Göttsche: Raabes Erzählungen und Romane, S. 135. Der Analyse Bertschiks zufolge, „wendet er [Agonista] die kolonialistischen Praktiken der rücksichtslosen Ausbeutung nun auf die Verhältnisse in der deutschen Provinz an“ (Julia Bertschik: Poesie der Warenwelten. Erzählte Ökonomie bei Stifter, Freytag und Raabe. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 52 (2011), S. 48). Ralf Simon: Raabes poetologische Wälder (,Krähenfelder Geschichten‘). Eine metaphorologische Analyse des Raabeschen Erzählmodells. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 47 (2006), S. 2. Vgl. Axel Dunker: First Contact and Deja Vu, S. 58. Vgl. Ralf Simon: Raabes poetologische Wälder, S. 6 f. Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S. 264.
226
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
miteinschließt –, wird gesteigert durch den in der jüngeren Forschung herausgestellten kolonialismuskritischen Diskurs im Werk Raabes. Die Kolonialismuskritik in Zum wilden Mann kann deshalb als radikal artikuliert angesehen werden, weil in der literarisierten Auswanderungsthematik manche Aspekte einer komplexen Verstrickung von Kolonialismus und globalem Kapitalismus erkennbar sind. Diese komplexen Bezüge der deutschen Auswanderung nach Südamerika zu einem global angelegten Kapitalismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eines der wirkmächtigsten Instrumente der Kolonisation war, werden hier aufgedeckt und kritisch reflektiert. In der Handlungskonstellation, in der Agonista das 30 Jahre zuvor verschenkte Vermögen mit Zinsen zurückverlangt, d. h. die ursprüngliche Gabe als außervertragliches und stillschweigendes Darlehen betrachtet, sieht Bertschik zu Recht die „aus kolonialen Gabendiskursen bekannte, intrikate Verschränkung von Geschenk, Diebstahl und weltumspannendem Handel“.⁵⁶⁹ Diese Konstellation kann als literarische Gestaltung der dubiosen Manöver des globalen Kapitalismus – der gleichzeitig ein wirkmächtiges Instrument des Kolonialismus und wichtiger Motor der Globalisierung ist – angesehen werden. Der komplexe Bezug der deutschen Auswanderung nach Brasilien zu einem die Fremde und die Heimat verflechtenden globalen Kapitalismus tritt somit ans Licht. Diese Verschränkung zwischen deutscher Auswanderung nach Südamerika und „globalisierte[m] Kapital“⁵⁷⁰ ist ersichtlich in den bereits erwähnten international ausgerichteten Investitionsprojekten Agonistas. Zum einen möchte er das Rezept des Magenlikörs „Kristeller“ mit nach Südamerika nehmen für dessen internationale Produktion und Vermarktung, deshalb versucht er Kristeller und Dorette wie folgt zu überzeugen: Kristeller, wir werden drüben den feurigen siebenten Himmel durch einen Destillierkolben auf die Erde herunterholen. Fräulein Dorette, wir werden die Sonne und den Blitz auf Flaschen ziehen und unsere Preise danach stellen. Kristeller und Agonista – Sao Paradiso – Provinz Minas Gereas, Kaiserreich Brasilien! Mit diesem Getränk unter dem Arme kommen wir durch bei allen Nationen rund um den Erdball (BA 11, S. 238).
Zum anderen versucht Agonista den Apotheker zur gemeinsamen Gründung eines international ausgerichteten Unternehmens zur Fleischextrakt-Produktion zu gewinnen. Den Apotheker muntert Agonista zu diesem Projekt wie folgt auf: „Ich liefere dir das Vieh, und du lieferst mir den Extrakt“ (BA 11, S. 235). Diese Verhaltens- und Ausdrucksweise, in der sich eine bestimmte Weltanschauung nie-
Julia Bertschik: Poesie der Warenwelten, S. 50. Rolf Parr: „Zum wilden Mann“, S. 150.
3.3 Die epochale deutsche Auswanderung nach Brasilien in Zum wilden Mann
227
derschlägt, zeugt davon, dass die Handlungen des Rückkehrers im dargestellten Kontext einer sich umspannenden Welt von kolonialimperialistischen Vorstellungen gesteuert sind. Die Problematik der Beteiligung Deutschlands an der wirtschaftlichen Kolonisation, die im Zeichen des kapitalistischen Imperialismus und der europäischen Dominanz der Welt im Anschluss an die formelle Dekolonisation in Lateinamerika Fuß fasste, zeichnet sich in diesen literarischen Reflexionen ab. Der Text reflektiert somit die Partizipation Deutschlands an der vom kapitalistischen Imperialismus geprägten globalen Kolonisation im gründerzeitlichen Kontext der 1870er Jahre, d. h. in einer Zeit, in der Deutschland sein koloniales Abenteuer noch nicht begonnen hatte. Im Kontext der gesellschaftspolitischen und geopolitischen Frage der Epoche, ob Deutschland auch Territorien in Übersee erobern sollte, um in Konkurrenz mit den bereits etablierten Kolonialmächten England und Frankreich zu treten, ist dieser Text in zweierlei Hinsicht aufschlussreich. Zum einen zeigt er, dass Deutschland durch die kapitalistisch motivierte massive Auswanderung vor dem wirklichen Einsetzen seines kolonialen Abenteuers schon weitgehend an dem globalen wirtschaftlichen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts beteiligt war.⁵⁷¹ Zum anderen zeigt der Text, dass die lokalen Strukturen der gründerzeitlichen kapitalistischen Wirklichkeit verstrickt sind in das globale ökonomische System. Schmidt fokussiert den Lebensweg Agonistas und erkennt eine Entwicklung vom Scharfrichter in der Heimat hin zum Kolonialherrn, der in der südamerikanischen Kolonie Anerkennung und Reichtum erlangt.⁵⁷² Diese Anerkennung erkämpft er sich durch seine Beteiligung am Foltern des gegen die brasilianische „Majestät“ rebellierenden „vielfarbigen Gesindels“, was, so Schmidt, die Brutalität der kolonialen Herrschaft offen darstellt.⁵⁷³ Darüber hinaus ist Agonista die Inkarnation des deutschen Kolonisten schlechthin, der im Zuge der deutschen Auswanderung nach Südamerika alles im Herkunftsland aufgibt, um seine Arbeit „im Urwald, wie zwischen den Ackerfeldern“ (BA 11, S. 232) der brasilianischen Kolonie geltend zu machen. Hier treten die für den Kolonialdiskurs charakteris-
Auf die mit der deutschen Auswanderung nach Südamerika verbundenen kapitalistischimperialistischen Ziele weist Conrad hin, wenn er schreibt: „Die zahlreichen deutschen Einwanderer nach Brasilien waren der Auslöser für großartige Hoffnungen auf neue Märkte und wahre Exportphantasien […]. Tatsächlich nahm der deutsche Südamerikahandel in der Wilhelminischen Epoche stark zu“ (Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S. 266). Vgl. Michael Schmidt: Nichts als Vettern? Anspielungsstrukturen in Wilhelm Raabes Erzählung „Zum wilden Mann“. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 33 (1992), S. 124. Vgl. Michael Schmidt: Nichts als Vettern? S. 133.
228
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
tischen Topoi des Urbarmachens und des Verwandelns eines jungfräulichen Grundstücks in ein finanziell rentables Ackerfeld hervor. Diese Topoi sind auch in vielen Zeitschriftentexten der Epoche anzutreffen. Gerade in diesen Topoi manifestiert sich das Arbeitsethos des deutschen Einwanderers. Bei der praktischen Umsetzung dieser Mentalität im Urwald und in den Ackerfeldern Brasiliens wird die Wirkung „[sein]er kolonisierenden Arbeit“⁵⁷⁴ spürbar. Des Weiteren hat der Rückkehrer Agonista vor, sich endgültig in der Kolonie, die für ihn die „neue Heimat“ ist, anzusiedeln, denn dort sieht er seine Zukunft. Hiermit wird eines der am meisten diskutierten Probleme der deutschen Einwanderung aufgegriffen, nämlich das der deutschen Einwanderer, die sich in Brasilien einbürgern ließen.⁵⁷⁵ Conrad berichtet über dieses Phänomen wie folgt: „Hier fügten sich viele Auswanderer in die entstehenden sozialen Zusammenhänge ein, nahmen die Staatsbürgerschaft an […] und fühlten sich in erster Linie als Brasilianer“.⁵⁷⁶ Dank der die Heimkehrertexte Raabes durchziehenden Strategie, die die Handlung in Deutschland spielen lässt und somit wie etwa in Zum wilden Mann den Fokus nicht auf das kolonisierte Südamerika, sondern vielmehr auf das kolonisierende Europa legt, wird der Blick des Lesers auf die Rückwirkungen der kolonialen Expansion Deutschlands auf den Heimatraum gerichtet. Der Rückkehrer Agonista ist der Prototyp eines vom kolonisierten Südamerika zurück-
Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S. 253. Zwei Texte aus der epochalen Zeitungswelt, die entgegengesetzte Positionen über dieses Phänomen beziehen, zeugen davon, dass dieses Problem eines der meist diskutierten war. Gerstäcker empört sich über Autoren, deren Artikel die Auswanderer übermäßig kritisieren oder gar die deutsche Auswanderung nach Brasilien verurteilen. Er schreibt: „Der fleißige Arbeiter dagegen in […] Brasilien schreibt gar nichts; er bestellt sein Feld, macht einen Acker Land nach dem andern urbar, wird, während er seine Familie in glücklichen Verhältnissen heranwachsen sieht, reich oder doch wohlhabend, und ist mit seiner freundlich eingerichteten Plantage oder Chagra, mit seinen behäbigen, sorgenfreien Verhältnissen, die beste Illustration zu einem Buch über brasilianische Auswanderung“ (Friedrich Gerstäcker: Deutsche Colonisation in Brasilien. In: Die Gartenlaube 29 (1862), S. 454). Der unter dem Pseudonym Th. O. publizierende Autor übt scharfe Kritik an einem Text, der die brasilianischen Verhältnisse sowie die Einwanderer dort lobt und dessen Autor aus seiner Sicht der Einbürgerung der deutschen Kolonisten zustimmt: „,Im südlichen Brasilien könnt Ihr als fleißige Arbeiter Euer gutes Auskommen finden; für Deutschland aber werdet ihr verloren sein, und Eure Kinder werden Brasilianer werden.‘ Wem damit gedient ist, nun wohl, der mag hingehen! Der Colonist Georg, unter dessen Maske der Verfasser schreibt, ist in der That ganz zufrieden damit, er will, daß die Einwanderer aufhören Deutsche zu sein […]. Wunsch und Absicht der brasilianischen Regierung ist in der That, daß die deutschen Einwanderer so schnell als möglich in den Brasilianern aufgehen“ ([Th. O.]: Auswanderung. In: Die Gartenlaube 22 (1864), S. 351). Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, S. 243.
3.3 Die epochale deutsche Auswanderung nach Brasilien in Zum wilden Mann
229
kommenden Kapitalisten, der dem kolonisierenden Europa sein wahres Gesicht zeigt. Nach der Kolonisation des südamerikanischen Raums durch Gewalt und Arbeit kehrt Agonista nicht nur als selbstbewusster Kolonist, sondern auch als erprobter Kapitalist zurück und kolonisiert auch den europäischen Raum. Nicht nur der kolonisierte Raum Brasilien bekommt zu spüren, wie verwüstend die Brutalität und Gier eines kolonisierenden Kapitalismus sind, sondern auch und vor allem der kolonisierende Raum Deutschland. In der literarischen Gestaltung der deutschen Auswanderung nach Brasilien im Text Zum wilden Mann wird die Kritik an diesem epochalen Phänomen deutlich. Die Vehemenz dieser Kritik lässt sich u. a. dadurch begründen, dass es als eng verbunden mit kolonialimperialistischen Intentionen und Praktiken gesehen wird. Hiermit ist dieser Text jenen Diskursen der Epoche zuzuordnen, die im Zuge der herrschenden gesellschaftspolitischen Diskussion über die Auswanderungsfrage das Ziel Südamerika ablehnten. Diese Position wird deutlich in jenen Szenen, in denen der Rückkehrer Agonista funktionalisiert wird, um manche Verhaltensweisen der Auswanderungsagenten, die in der Epoche Auswanderungswillige für dieses Ziel anwarben, bloßzustellen. Der Rückkehrer Agonista nutzt u. a. das exotische Interesse seiner Zuhörerschaft an der südamerikanischen Ferne, um Werbung für dieses Auswanderungsziel zu machen. Über eine dieser Szenen berichtet der Erzähler: Der Oberst erzählte wieder von der Herrlichkeit seiner neuen Heimat und brachte die Leute aus dem stillen Erdenwinkel fast außer sich durch seine Beredsamkeit und die Farbenpracht seiner Schilderungen. Diesmal forderte er den Doktor auf, mit hinüberzugehen und ein Millionär und kaiserlicher geheimer Hofmedikus zu werden (BA 11, S. 242).
In solchen Szenen, in denen Agonista bei seinen Zuhörern „das liebe Brasilien wie das Land der Verheißung in der Ferne“ (BA 11, S. 239 f.) verkauft, erkennt Tucker zu Recht die eine bestimmte Diskurslinie der Epoche charakterisierende krasse Diskrepanz zwischen hyperbolischen Verheißungsversprechen und trauriger Realität. Hierzu schreibt er: „By connecting Agonista so emphatically with Brazil, Raabe places this discussion within the reader’s horizon of expectations […]. In this one character, Raabe’s narrative reveals the discrepancy between hyperbolic promises of prosperity and a more sinister reality“.⁵⁷⁷ Hiermit werden manche zynischen Anwerbungsstrategien der Auswanderungsagenten bloßgestellt, die in ihren Schriften einen auf überzogener Verschönerung der brasilianischen Verhältnisse beruhenden euphorischen Diskurs darbieten. Raabes Text Zum wilden Mann, dessen Handlungskonfigurationen, Motivik und Thematik sowie Erzähl Brian Tucker: Raabe, Westermann, and the International Imagination, S. 34.
230
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
strategien darauf hinweisen, dass er an „den tatsächlichen zeitgenössischen Rezipienten Raabes der 1860er bis frühen 1870er Jahre“⁵⁷⁸ adressiert ist, problematisiert hiermit deutlich den Wahrheitsanspruch mancher zirkulierenden Auswanderungsdiskurse. Mit dieser Konfiguration richtet sich der Text an die Leser der Auswanderungsschriften und gar an die Zeitgenossen überhaupt. Sie werden zur kritisch-realistischen Betrachtung solcher auswanderungseuphorischen Diskurse gemahnt, denn zum einen besteht oft eine Diskrepanz zwischen diesen Diskursen und den wirklichen brasilianischen Verhältnissen und zum anderen legitimieren solche Diskurse die auf „globalem Kapital“ beruhenden kolonialimperialistischen Expansionen im gründerzeitlichen Zeitalter.
3.4 Zur europäischen Auswanderung nach Südostasien im Zeichen der Dutch-Kolonisation: Phantasien und exotistische Wahrnehmungen in Fabian und Sebastian Im 1882 erschienenen, aber in der Forschung kaum Beachtung gefundenen Text Fabian und Sebastien werden exotische Imaginationen und auf Kolonialismus hindeutende mentale Strukturen literarisiert, die im Zusammenhang mit dem innerliterarischen Kontext der europäischen Auswanderung nach Südostasien stehen. Genauso wie in den anderen Heimkehrertexten Raabes, in denen die USA, Lateinamerika und Afrika Auswanderungsziele von Figuren aus dem europäischen Raum sind, ist Asien in Fabian und Sebastian Ziel des Aufbruchs und Lebensort einer Figur aus einem europäischen Raum, nämlich Deutschland. Der dominanten Handlungsstruktur der Heimkehrertexte Raabes entsprechend bilden in Fabian und Sebastian die Ereignisse in der überseeischen Welt eigentlich nur die Vorgeschichte der in der europäischen Welt spielenden Handlung. Diese Vorgeschichte wird durch eine erzählerische Rekonstruktion, die von den Aussagen der Figuren und von den Berichten des Erzählers ausgeht, zur Verfügung gestellt. Die Verbindung zwischen der deutschen Heimat, wo die um familiäre Intrigen zwischen Fabian und Sebastian kreisende Handlung sich abspielt, und der überseeischen Welt Indonesien, worauf die sich im Text verdichtenden Raumreferenzen „Sumatra“, „Java“ und „Batavia“ anspielen, wird von zwei Ereignissen zustande gebracht. Diese beiden Ereignisse, die die Besonderheit des Rückkehrmotivs in diesem Text ausmachen, sind zum einen das erzwungene Exil von Lorenz – dem jüngsten Bruder von Sebastian und Fabian –, der 20 Jahre zuvor nach Sumatra auswandern musste, und zum anderen die Reise Rolf Parr: „Zum wilden Mann“, S. 150.
3.4 Zur europäischen Auswanderung nach Südostasien
231
seiner Tochter Konstanze von dieser indonesischen Insel nach Deutschland (siehe hierzu Kap. 1.1 und 1.1.2). Sebastian hatte seinem Bruder Lorenz seine Verlobte Marianne ausgespannt und die angeblich schlechte Finanzlage der Schokoladenfabrik zur Last gelegt. Letzterer wurde deshalb aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgestoßen und ins Exil geschickt. Der Erzähler, der über dieses vergangene Ereignis aus der Perspektive der bürgerlichen Gesellschaft heraus berichtet, sagt: Es war ein leichtsinniger Patron, dieser Lorenz Pelzmann, und gar kein feiner Rechner wie der Bruder Sebastian. Die ganze Stadt war ja auch damals einer Meinung über ihn und hielt es endlich für das beste für alle, daß er in die Fremde ging und aus dem Leibhusarenregiment der Heimat als militärischer Abenteurer in den Dienst Sr. Majestät des Königs der Niederlande übertrat (BA 15, S. 86; Hervorhebung im Original).
Mit der Deutschlandreise von Konstanze, der in Sumatra geborenen 15-jährigen Tochter von Lorenz, „der auf Sumatra in einem Sumpf versunken liegt“ (BA 15, S. 40), wird das Rückkehrmotiv, mittels dessen die Rückbindung zu der väterlichen Familie in Europa vollzogen wird, besonders konstelliert. Im Unterschied zu den anderen Texten, in denen dieselbe Figur den Aufbruch in die Fremde und die Rückkehr in die Heimat nach mehr oder weniger Zeit vollzieht, wird in Fabian und Sebastian der Aufbruch von Lorenz, aber die Rückkehr von dessen Tochter vollzogen. Als Vertreterin der Anteile ihres verstorbenen Vaters in der Schokoladenfabrik, d. h. als Erbin des zuvor Verstoßenen, reist sie nach Deutschland. Mit ihrer Anwesenheit daheim wirkt „Konstanze wie ein kindlicher Todesengel“,⁵⁷⁹ der zum Tod der von Gewissensbissen geplagten Figuren Sebastian und Marianne führt. Der Aufenthalt Konstanzes trägt dazu bei, zuvor verdeckte Konflikte, Spannungen und Probleme, die das friedliche Zusammenleben belasten, ans Licht zu bringen. Ohne aktive und zielgerichtete Mitwirkung der von der bürgerlichen Gesellschaft als „wilden Asiatin“ (BA 15, S. 48) angesehenen Konstanze finden manche Probleme von selbst eine Lösung und am Ende der Romanhandlung kehrt Frieden ein. Ihr wird im Text daher eine der Funktionen der Denk- und Diskursfigur des „Edlen Wilden“ zugesprochen, denn sie „sieht nicht nur, wo die Probleme liegen, [ihre] natürliche Unschuld und Tugend weisen auch den Weg, wie man dem Übel begegnen könnte“.⁵⁸⁰
Moritz Baßler: „Fabian und Sebastian“. In: Dirk Göttsche u. a. (Hgg.): Raabe Handbuch, S. 197. Monika Fludernik: Der „Edle Wilde“ als Kehrseite des Kulturprogressivismus. In: Peter Haslinger und dies. (Hgg.): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos. Würzburg: Ergon 2002
232
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
Auch wenn sich die Handlung in Deutschland abspielt und die meisten handelnden Figuren deutsche Bürger sind, stellt die überseeische Expansion der Niederlande in ihre ostasiatische Kolonie einen Teil der Vorgeschichte und gar den Hintergrund der Handlung dar. Dieser Hintergrund, der die niederländische Migration nach Südostasien im Zeichen der Dutch- Kolonisation andeutet, ist jedoch eine bedeutende Dimension für das Erfassen des Imaginationskomplexes in der bürgerlichen Gesellschaft, was einen Einblick in das herrschende Wahrnehmungssystem des asiatischen Fremden gewährt. Mit dieser Hintergrundsituation, die die Auswanderung aus einem Nachbarland Deutschlands nach Asien im Zeichen der Kolonisation darstellt, zeugt Fabian und Sebastian zwar davon, dass Raabes Werk dem epochentypischen Charakter der Migrationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, d. h. als einem europäischen Phänomen, Rechnung trägt. Die Konstellation der Vorgeschichte, in der die bürgerliche Gesellschaft der militärischen Kraft der kolonisierenden Macht Niederlande einen ihrer Angehörigen zur Verfügung stellt, zeigt aber auch, dass die mit dem europäischen Auswanderungsphänomen einhergehende Dimension von Kolonisation in einer globalen Perspektive zu betrachten ist. Neben europäischen Ländern wie England, Frankreich und Holland, die bereits koloniale Imperien besaßen und eine direkte Kolonisation betrieben, scheinen die anderen Länder Europas mit subtileren Strategien ebenfalls an diesem „globalen“ Projekt des 19. Jahrhunderts mitzuwirken. Dabei nehmen Wahrnehmungen, Konstruktionen und Repräsentationen der kolonialen Fremde eine wichtige Stellung ein. Einige Untersuchungen heben zwei Aspekte im Text heraus, nämlich zum einen den Import von Rohprodukten Kakao und Zucker aus dieser holländischen Kolonie für die Herstellung von Fertigprodukten in der Schokoladenfabrik und zum anderen die Entsendung von Lorenz in die „Kompanie holländischer Infanterie“ (BA 15, S. 63). Sie stützen sich auf diese beiden Aspekte, um nicht zu Unrecht die These zu formulieren, dass Raabes Text Fabian und Sebastian die wirtschaftlich-ausbeuterische und militärische Dimension der Dutch- Kolonisation thematisiert (vgl. Pizer 2009: 79). Diese auf koloniale Praktiken hinweisenden Dimensionen, die hier nicht eingehend analysiert werden, tauchen auch in manchen Artikeln aus dem populärwissenschaftlichen Diskurs der Epoche auf.⁵⁸¹
In einem Artikel deutet Loewenberg diese beiden Dimensionen an. Er schreibt: „So wurde Holland nach unvermeidlichen, aber glücklichen Kämpfen mit den Eingeborenen die größte europäische Macht im ostindischen Archipel, und sein Colonialbesitz hier, der nur dem Englands nachsteht, bildet die Grundlage für den Wohlstand des europäischen Mutterlandes. Das gesammte Ländergebiet mit fast neunundzwanzigtausend Quadratmeilen und über dreiundzwanzig Millionen Bewohnern ist überreich an Naturproducten jeder Art, an Edelsteinen, Gold, Zinn, Eisen, vor allem an edlen Gewürzen, Zimmt, Muscaten, Nelken, Pfeffer, an Kaffee, Tabak, Opium,
3.4 Zur europäischen Auswanderung nach Südostasien
233
In Fabian und Sebastian bildet die Dutch-Kolonisation den Hintergrund, vor welchem Figuren daheim Verhaltensweisen einnehmen und Aussagen treffen, die auf manche Phantasien und kolonial geprägten mentalen Strukturen in der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. im europäischen Raum selbst, hinweisen. In der Romanhandlung führen die Entsendung des Verstoßenen Lorenz in diese ostindischen Inseln sowie der Aufenthalt der aus diesen Inseln kommenden Konstanze in der deutschen Provinz zur Entstehung und Entwicklung von Imaginationen und gar Phantasien nicht nur über diese fernen Welten und die daher stammenden Menschen, sondern auch über Dinge, die aus dieser exotischen Ferne importiert werden. Der Warenverkehr zwischen Asien und Europa, der aus dem Import von Rohstoffen aus diesem südostasiatischen Territorium für die Herstellung von Fertigprodukten besteht, trägt zum Aufbau einer kolonial angelegten globalen Wirtschaftsbeziehung bei, die diese Phantasien nährt und intensiviert. Die kunstfertige Verwandlung von Kolonialwaren Kakao und Zucker in Schokolade weist zwar wie bereits erwähnt auf eine technologische Eignung sowie ein handwerkliches Know-how der bürgerlichen Gesellschaft hin (siehe Kap. 1.2.3). Die Darstellung der Handhabung von Kolonialwaren in der Schokoladenfabrik und Zuckerwerksfirma Pelzmann und Kompanie lässt darüber hinaus eine Dimension deutlich werden, nämlich Phantasien, die bei näherem Hinsehen mit einer gewissen exotischen Faszination zusammenhängen. Bei seiner handwerklichen Tätigkeit mit den Kolonialwaren Kakao und Zucker, die sich durch ihre Transformation in Süßigkeiten zu Kernelementen der europäischen Oster- und Weihnachtskultur entwickeln, werden beim Onkel Fabian Phantasien angeregt bzw. gesteigert. Darüber berichtet der Erzähler: Mitten im Sommer fing sonst der Attrappenonkel am liebsten an, „auf Weihnachten vorzuarbeiten“, will sagen, pflegte seine Phantasie und Erfindungsgabe die grünsten Schossen zu treiben und es zu üppigster, närrischster Blüte zu bringen. Da wuchsen ihm auf jedem Schritte, den er von Trinitatis bis zu Mariä Geburt tat, die absonderlichsten, die drolligsten und für die Firma lukrativsten „Ideen“ nicht nur im Kopfe, sondern auch zwischen den seltsam geschickten Fingern (BA 15, S. 92).
Solche Phantasien geben Aufschluss über die Faszination, die solche exotischen Waren im 19. Jahrhundert auslösten. Schmidt, der die Funktion der exotischen Ware Zucker im 19. Jahrhundert fokussiert, schreibt, „dass Raabe sehr wohl um
Betel, Thee, Reis, Zucker, Campher, an Indigo und Cochenille und den vortrefflichsten Holzarten“ (J. Loewenberg: Holland in Noth. In: Die Gartenlaube 8 (1874), S. 135).
234
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
die Faszination des süßen Geschmacks und um die tröstende Funktion der ‚NährDroge‘ Zucker gerade in den Haushalten der kleinen Leute wußte“.⁵⁸² Obwohl die Schokoladenfabrik in Fabian und Sebastian viele Ähnlichkeiten mit dem Schröter’schen Handelskontor in Freytags Soll und Haben aufweist, unterscheiden sich die Phantasien in der Schokoladenfabrik einigermaßen von denen im Handelskontor (siehe Kap. 1.1). Im Unterschied zum Schröter’schen Kontor, wo Phantasien zu einer „weltumspannend- romantisierten ‚Poesie der Ware und des Geschäfts‘“⁵⁸³ führen, dienen Phantasien in der Schokoladenfabrik der kommerziellen Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit in einer globalen Arena des „Christmarktes“. Der Erzähler, der diese Dimension hervorhebt, sagt: Wie ein Poet, der den Winter am besten in den Hundstagen und des Lukulls Festmahle am delikatesten bei Wasser und Brod beschreibt, fand der Attrappenonkel das, was das Geschäft am nötigsten hatte, um an der Spitze der Affären für den Christmarkt aller Welt zu bleiben (BA 15, S. 92).
Im Text Fabian und Sebastian spielen europäische Repräsentationen des aus Asien kommenden Mädchens eine bedeutende Rolle für die Erfassung des Exotismus als herrschendes Wahrnehmungssystem in der bürgerlichen Gesellschaft. Konstanze wird von der bürgerlichen Aufnahmegesellschaft zum einen als „die Prinzessin aus dem Mohrenlande“ (BA 15, S. 38) und zum anderen als die zu zähmende kleine wilde Asiatin wahrgenommen (vgl. BA 15, S. 48). Bei näherem Hinsehen gelten die Aussagen und Gedanken der Angehörigen der bürgerlichen Gesellschaft über den „surinamschen, sumatraschen oder javanschen Paradiesvogel“ (BA 15, S. 47) und die wilde Konstanze nicht der einzelnen Figur allein, denn manche fällen Urteile über die Asiatin, ohne sie einmal erblickt zu haben oder ihr begegnet zu sein. Sie steht daher auch als repräsentativ für die Chiffre Asien, was eine kollektive Alterität suggeriert. Die in der bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Repräsentationen von Asien strukturieren demzufolge die Aussagen und Gedanken über Konstanze. Diese lassen manche Denk- und Wahrnehmungsmuster aufspüren, die Aufschluss geben über die von Exotismus strukturierten mentalen Bilder der bürgerlichen Gesellschaft und darüber hinaus über die europäische Konstruktion Asiens. Durch solche Wahrnehmungen wird das
Michael Schmidt: Marginalität als Modus der ästhetischen Reflexion. Juden und „unehrliche Leute“ im Werk Wilhelm Raabes. In: Rainer Erb und ders. (Hgg.): Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Berlin: Wissenschaftlicher Autorenverlag 1987, S. 395. Julia Bertschik: Poesie der Warenwelten, S. 47.
3.4 Zur europäischen Auswanderung nach Südostasien
235
asiatische Fremde als „Objekt des Begehrens und des Erschreckens (‚Faszination‘) vom [europäisch-bürgerlichen] Subjekt imaginär konstituiert“.⁵⁸⁴ Die sich in diesen Repräsentationen häufenden Assoziationen und Bilder aus der Naturwelt deuten auf das exotistische Wahrnehmungssystem hin, das das bürgerlich- europäische Bild des Asiaten prägt. Dabei spielen das Floristische und Faunistische eine bedeutende Rolle. Der Erzähler, der über die Willkommensaktionen der Einwohner des Provinzialraums Schielau am Ankunftstag Konstanzes berichtet, sagt: „Aber aus der Umgebung der Stadt brachten die Leute von ihren Spaziergängen alles das mit, was gleichfalls in den März hinein schickt und dazu gehört: Weidenkätzchen und Haselnußschäfchen, Seidelbastblüten, Leberblumen, Anemonen, Veilchen“ (BA 15, S. 48 f.). Schneider zufolge zielt dieses Verhalten der Schielauer darauf, „die artifizielle Beschaffenheit der Stadt zu verdrängen oder diese bewusst zu mindern [sowie] die urbane Kälte und Trübe verblassen zu lassen“.⁵⁸⁵ Die dieser Analyse zugrunde liegende zivilisationskritische Perspektive, der zufolge die Einwohner mit diesem kollektiven Gebaren dem auf die Industriegesellschaft zurückzuführenden Artifiziellen und Grauen der kleinen Stadt zumindest an einem Tag entgegenwirken wollen, zeigt den Bedarf an Natürlichkeit in einer von Kulturprogressivismus geprägten bürgerlichen Gesellschaft. Diese Häufung von Assoziationen und Bildern aus der Florawelt im Verein mit dem natürlichen und unschuldigen Charakter von Konstanze weist darauf hin, dass die Wahrnehmung der fremden Asiatin als „Prinzessin aus dem Mohrenlande“ positiv besetzt ist. Manche sehen in ihr eine Inkarnation der im Zuge der Industriegesellschaft verloren gegangenen Natürlichkeit. Dem jungen Mädchen aus Asien werden die Eigenschaften der in der europäischen Kulturgeschichte eine wichtige Stellung einnehmenden Denk- und Diskursfigur des „edlen Wilden“ zugesprochen. Sowohl die auf Konstanze angewandte Mohrenfigur, die hier womöglich Aufschluss gibt über eine gewisse Ignoranz – denn „Mohren“ haben mit Asien überhaupt nichts zu tun –, als auch die auf manche Topoi des Exotismus wie etwa Natürlichkeit, Reinheit und Schönheit des Fremden hinweisenden Assoziationen verschaffen Einblick in die hier herrschenden kolonial geprägten mentalen Strukturen. Während Assoziationen und Bilder aus der Florawelt dem begehrten Schönen Ausdruck verleihen, scheinen Bilder aus der Faunawelt das Bedrohliche der asiatischen Fremde zu artikulieren. Die animalischen Assoziationen und Bilder aus der Tierwelt, mit denen der Ursprungsraum von Konstanze repräsentiert und semantisiert wird, gehören zu
Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius: Hybride Kulturen, S. 16. Astrid Schneider: Von unten nach oben und von oben nach unten, S. 22.
236
Kapitel 3: Literarische Diskurse bei Raabe als Reflexionen
einer Kolonialrhetorik, der koloniale mental maps zugrunde liegen (siehe hierzu Kap. 1.2.3). Darüber hinaus deuten diese animalischen Assoziationen auf das Bedrohliche, das Gefährliche und das Nicht-Domestizierte hin. Die Überlegungen Fabians, ob er Konstanze entweder dem Institut der Madame Printemps oder dem von Lady Pinchbeck zur „Zähmung der kleinen und wilden Asiatin“ (BA 15, S. 48) anvertrauen soll, zeugen von dieser Wahrnehmung. Konstanze wird von der bürgerlichen Gesellschaft zum einen als die reine Natürlichkeit begehrt und bewundert und zum anderen als die bedrohliche Wildheit gefürchtet. Die in der Figur des „edlen Mohren“ formulierte Ambivalenz der Wahrnehmung des Afrikaners kann hier auf die koloniale Fremde überhaupt angewendet werden.
Kapitel 4 Identitäten in Globalisierungskontexten von Migration und Modernisierung Aus dem vorhergehenden Kapitel über Globalisierungsphänomene Migration und Kolonisation geht hervor, dass in den Heimkehrertexten Raabes alle Kontinente des Globus bis auf Ozeanien und Antarktika mehr oder weniger Gegenstand von literarischen Repräsentationen sind, was über die Weite des Welthorizonts in seinem Werk Aufschluss gibt. Ein Überblick über die Handlungsstruktur seiner Heimkehrertexte zeigt, dass die aus Deutschland, d. h. aus Europa kommenden Figuren sich in Amerika (Nord- und Südamerika), in Afrika (sudanischer Großraum und Südafrika) und in Asien (Südostasien) aufgehalten oder angesiedelt haben. Zum einen wird über die erzählerischen Rekonstruktionen der Aufbrüche der Heimkehrerfiguren in die Fremde oder ihrer Aufenthalte dort sowie über die literarischen Inszenierungen ihrer Passagen vom Aufenthalts- zum Geburtsort die Grenze „zu einem prekären Ort zwischen dem Eigenen und dem Fremden […] stilisiert“.⁵⁸⁶ Zum anderen werden über die Darstellungen ihrer Beziehungen zu den Heimat-Gesellschaften nach ihrer Heimkehr Konstellationen bereitgestellt, deren Analyse für die Erfassung mancher Identitätsproblematiken relevant ist. Diese Relevanz ist umso größer, als diese Konstellationen im innerliterarischen Kontext von Globalisierungsprozessen zu verorten sind, was eine der Grundannahmen der vorliegenden Studie, Raabes Texte verschreiben sich einer brisanten gesellschaftspolitischen Diskussion der Epoche über Globalisierung, nahelegt. Nicht nur „die sozialen Umbrüche der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts durch Industrialisierung und Urbanisierung […] werden als […] Erschütterung von Identitäten wahrgenommen“,⁵⁸⁷ sondern auch andere Globalisierungsphänomene wie etwa Mobilität oder zeitliche und räumliche Verdichtung. Soziale Umbrüche, Industrialisierung, Urbanisierung, Mobilität sowie räumliche und zeitliche Verdichtung sind Prozesse, die unweigerlich tiefergreifende Wirkungen auf die soziokulturelle Wirklichkeit haben. Diese ebenfalls für die Modernisierung zentralen Verhältnisse können Wandlungen, Verschiebungen oder Erschütterungen von gewohnten kulturellen Ordnungen, Loyalitäten
Christof Hamann: Bildungsreisende und Gespenster, S. 9. Peter Wagner: Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität. In: Aleida Assmann (Hg.): Identitäten. Frankfurt: Suhrkamp. 1998, S. 53. https://doi.org/10.1515/9783110743029-008
238
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
und Lebensorientierungen nach sich ziehen. Solche für die Globalisierung in der Epoche konstitutiven wirtschaftlichen und sozialen Phänomene gingen also einher mit einer „Dynamik von kulturellen Prozessen, konkret: von individuellen und kollektiven Identitätsbildungen“.⁵⁸⁸ Die oben genannten Phänomene stellen manche in dieser Studie herausgearbeiteten Dimensionen dar, die sowohl für individuelle Lebensentwürfe und Biographien als auch für kollektive Konstruktionsprozesse weitreichende Folgen haben können. Durch ihre Umstrukturierungs- und Umgestaltungskraft schaffen sie neue kulturelle und soziale Verhältnisse, die das Individuum vor neue Herausforderungen stellen und von ihm einen permanenten und oft unabschließbaren Selbstverortungsprozess fordern oder die das Kollektiv zu einem permanenten Aushandeln der Anrufungen, Lebensorientierungen oder verbindlichen kulturellen Ordnungen zwingen. Das die Texte Raabes durchziehende Heimkehrmotiv ist ein literarisches Motiv, das per se manche Identitätsfragen aufwirft. Sicks und Juterczenka, die sich mit den Figurationen der Heimkehr in Geschichte und Literatur der Neuzeit auseinandersetzen, betonen in diesem Zusammenhang, dass sich im Heimkehrmotiv manche Narrative über Identität entfalten. Hierzu schreiben sie: „Inszenierungen der Heimkehr sind […] – gerade, aber nicht nur im Scheitern – Dramen der Identität. Nicht nur individueller Identität allerdings: in den […] Inszenierungen entfalten personalisierte Narrative die Problematik der Identität und Differenz kultureller Einheiten“.⁵⁸⁹ Des Weiteren nennen sie einige Identitätskonstellationen, bzw. -problematiken, die bei der Literarisierung des Heimkehrmotivs im Allgemeinen infrage kommen können. „Inszenierungen [von Heimkehr] aus kulturwissenschaftlicher Sicht […] sind“, so Sicks und Juterczenka, als Hervorbringung von Heimat oder bestimmten Heimatkonzepten, als Reflexion kultureller Fremdheit bzw. des Verhältnisses von Fremdem und Eigenem, als Indikator sozialer In- und Exklusionsdynamiken, als Drama der Subjektivierung und Momentum der Literatur [zu verstehen]. Auf allen diesen Ebenen ist entscheidend, dass die Heimkehr eine Schwellenfigur darstellt, ein Dazwischen, ein Ereignis des Übertritts, der Über-Setzung.⁵⁹⁰
Sie deuten im ersten Teil ihrer Aussage einige mit ethnischen, kulturellen und sozialen Zugehörigkeitsordnungen verbundene Problematiken an, die bei der Interaktion zwischen dem Heimkehrer – als kulturelle Grenzen irritierendes Moritz Csẚky: Migration und Kultur. Urbane Milieus in der Moderne. In: Gertraud MarinelliKönig und Alexander Preisinger (Hgg.): Zwischenräume der Migration. Über die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten. Bielefeld: transcript 2011, S. 115. Kai Marcel Sicks und Sünne Juterczenka: Die Schwelle der Heimkehr, S. 20. Kai Marcel Sicks und Sünne Juterczenka: Die Schwelle der Heimkehr, S. 26.
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
239
Subjekt – und der eigenen oder fremden Gesellschaft – als vereinbarte Wertvorstellungen bewahrendes und pflegendes Kollektiv – in Betracht kommen können. Nünning, der die Globalisierungsdimension „Mobilität“ heranzieht, fügt hinzu: „Mehr als ein bloßes Zurückkommen birgt die Aussicht auf Heimkehr Hoffnungen auf die Restitution von Verbundenheit, Zugehörigkeit und Präsenz, die im Zeitalter der Mobilität verloren gegangen scheinen“.⁵⁹¹ Die dem Aufbruch in den fremden Aufenthaltsort sowie der Passage von diesem zum Geburtsort bzw. zur Heimatgesellschaft innewohnenden „grenzüberschreitende[n] Wanderungsbewegungen“⁵⁹² des Heimkehrers legen nahe, dass er durch seine Mobilität als Grenzgänger zu verstehen ist, der „komplexe existenzielle [und kulturelle] Grenzsituationen“⁵⁹³ erlebt. Er macht die Erfahrung unterschiedlicher kultureller und sozialer Wirklichkeiten und Ordnungen, d. h. differenter Gewohnheiten, Vorstellungen, Wahrnehmungen, Handlungsweisen, Bedeutungen und Diskurse. Die somit literarisch inszenierte Mobilität problematisiert „nicht so sehr die konkreten territorialen Grenzen, sondern eher symbolische Grenzen der Zugehörigkeit“.⁵⁹⁴ Einige der mit Mobilität verbundenen Problematiken der individuellen Identität erläutern Hallet und Neumann wie folgt: „Mobilität steht dabei oft in einem engen Zusammenhang mit Selbstbestimmung, individueller Suche nach Sinnidealen, kurzum mit einer quest, die sich in Transgressionen und Grenzerfahrungen exemplarisch konkretisiert“.⁵⁹⁵ Globalisierung ist ein Phänomen, das weitreichende Folgen für die kulturelle Identität hat. In diesem Zusammenhang führt Hall aus: Globalisierung verweist auf solche Prozesse, die weltweit wirken, nationale Grenzen durchschneiden, Gemeinschaften und Organisationen in neuen Raum-Zeit-Verbindungen integrieren und miteinander in Beziehung setzen und die Welt real wie in der Erfahrung stärker miteinander verbinden […]. Diese neuen zeitlichen und räumlichen Phänomene, die ein Resultat der Verdichtung von Distanzen und Zeiträumen sind, gehören zu den bedeutendsten Aspekten der Globalisierung, die kulturelle Identität betreffen.⁵⁹⁶
Ansgar Nünning: Vorwort, S. 7. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg: Rowohlt 2009, S. 198. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 201. Paul Mecheril: Hybridität, kulturelle Differenz und Zugehörigkeiten als pädagogische Herausforderung. In: Gertraud Marinelli-König und Alexander Preisinger (Hgg.): Zwischenräume der Migration, S. 44. Wolfgang Hallet und Birgit Neumann: Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung, S. 26. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung. In: Karl H. Hörning und Rainer Winter (Hgg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt/M: Suhrkamp 1999, S. 424.
240
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
Die auf Globalisierung hinweisende „Neugestaltung d[er] Raum-Zeit-Verbindungen […] hat erhebliche Auswirkungen darauf, wie Identitäten verortet und repräsentiert werden“,⁵⁹⁷ denn somit werden neue soziale und kulturelle Wirklichkeiten geschaffen, die neue Dynamiken der individuellen und kollektiven Identität auslösen. Im Globalisierungskontext leben manche Individuen und Kollektive in Wirklichkeit „in Zeit und Raum weit voneinander entfernt“,⁵⁹⁸ jedoch pflegen sie intensive soziale Beziehungen zueinander, sodass Zugehörigkeit, Identifikation und Miteinander über große Distanzen hinaus realisiert werden können. Dieses Auseinanderfallen von geographischer und sozialer Nähe⁵⁹⁹ führt zu komplex konstellierten oder zu „frei flottierend“ erscheinenden Identitäten, die sich von „besonderen Zeiten, Orten, Vergangenheiten und Traditionen“⁶⁰⁰ lösen. In diesem Kapitel wird von einer kulturtheoretischen Konzeption des Identitätsbegriffs ausgegangen und dabei wird ein besonderer Akzent auf soziologisch und kulturanthropologisch geprägte Annäherungsweisen an Identitätsproblematiken gelegt. Es liegt nahe, dass Identität und Kultur überhaupt nicht getrennt voneinander zu denken sind. Den Knotenpunkt zwischen den beiden Begriffen wissen Altnöder et al. treffend herauszustellen. Sie schreiben: Identität nimmt vielfältige Formen an, in denen sich die Bedeutung dieses Konzepts als konstitutives Element kultureller Formationen und Prozesse zeigt. In der Tat sind Identität und Kultur miteinander verflochten: Beide bedingen einander wechselseitig, indem Kulturen einerseits Identitäten entstehen lassen und gestalten, indem insbesondere kollektive Identitäten andererseits Kulturen sowie kulturelle Zugehörigkeiten erschaffen (2011: 1).
Die auf Dimensionen der Kommunikation (Sprache), des Denkens (Mentalität und Deutungsmuster), des Fühlens (Emotionen und Gefühle) und des Handelns (Aktion, Reflex, Verhalten) hinweisende Kultur⁶⁰¹ ist im Globalisierungskontext keine über die Zeit gleichbleibende Entität, die eine homogene und in sich abgeschlossene Nation oder Gruppe pflegt. Im Globalisierungskontext kommt es über Verflechtungen einerseits zu kulturellen Durchkreuzungen und Mischungen und andererseits zu interkulturellen und transkulturellen Beziehungen.
Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 426. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 428. Vgl. Paul Drechsel, Bettina Schmidt und Bernhard Gölz: Kultur im Zeitalter der Globalisierung. Von Identität zu Differenzen. Frankfurt/M, London: IKO 2000, S. 128. Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument 2012, S. 213. Vgl. Klaus P. Hansen: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen: Francke 2011, S. 33 – 111.
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
241
Die meisten Problematiken, mit denen sich die Analysen von Texten auseinandersetzen werden, werden im Spannungsfeld von Identität und Differenz erörtert, denn es stellt den Rahmen dar, innerhalb dessen viele Fragen über die kulturelle Identität diskutiert werden. Der Rekurs auf klassische Identitätskategorien wie etwa „Heimat“ und „Alterität“, anhand derer Identität und Differenz deutlicher werden, kann dazu verhelfen, interessante Identitätsfragen in einem Globalisierungskontext aufzuwerfen. In diesem Spannungsfeld von „identitätslogischen“ und „differenzlogischen“ Annäherungsweisen⁶⁰² wird deshalb ein besonderer Akzent auf differenzlogische Annäherungsweisen gelegt, weil die kulturelle Identität im Globalisierungskontext meistens auf heterogenen Identitätsmodellen gründet. Unter den verschiedenen Ansätzen, die auf heterogenen Identitätsmodellen gründen und die die kulturelle Differenz in den Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzungen stellen, nehmen deshalb die postkolonialen Identitätstheorien eine besondere Stelle ein, weil sie produktive und überzeugende Analysekategorien oder Analyseperspektiven in verschiedenen Globalisierungskontexten aufgearbeitet haben. Es wird demzufolge in den Analysen sehr oft auf Kategorien und Perspektiven der postkolonialen Identitätstheorien rekurriert. Bei jüngeren Ansätzen wie etwa dem Julliens, der in seinem Buch mit dem Titel Es gibt keine kulturelle Identität ⁶⁰³ manche Problematiken der kulturellen
Hall bringt auf prägnante Weise den Unterschied zwischen der identitätslogischen und der differenzlogischen Kulturtheorie auf den Punkt. Die identitätslogische Position „bestimmt ‚kulturelle Identität‘ im Sinne einer gemeinsamen Kultur, eines kollektiven ‚einzig wahren Selbstes‘, […] das Menschen mit einer gemeinsamen Geschichte und Abstammung miteinander teilen. Nach dieser Definition reflektieren unsere kulturellen Identitäten die gemeinsamen historischen Erfahrungen und die gemeinsam genutzten kulturellen Codes“ (Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, S. 27). Die differenzlogische Position „erkennt in dem, ‚was wir wirklich sind‘, oder […] ‚was wir geworden sind‘, neben den vielen Ähnlichkeiten auch die entscheidenden Punkte einer tiefen und signifikanten Differenz.Wir können nicht mehr länger exakt über ‚eine Erfahrung, eine Identität‘ sprechen, ohne ihre andere Seite anzuerkennen: die Brüche und Diskontinuitäten“ (Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, S. 29; Hervorhebung im Original). Identität und Differenz sind allerdings als zwei Seiten derselben Medaille anzusehen, die sich wechselseitig bedingen, deshalb betont Hall, „dass Identität und Differenz unauflösbar miteinander artikuliert oder verknüpft sind, dass die eine nie vollständig die andere überlagert“ (Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 434). Jullien baut seinen Ansatz auch auf einem heterogenen Identitätsmodell auf, das jede Vorstellung der Homogenität der kulturellen Identität sowie jede essentialistische Denkweise zurückweist. Er schließt sich der in diesem Zusammenhang etablierten Erkenntnis an, es kann keine kulturelle Identität geben, denn es gibt eine Vielfalt von Kulturen, Denkweisen und Sprachen, die im Globalisierungskontext mutieren und sich permanent verändern. Allerdings geht sein Ansatz über die etablierte Differenzlogik hinaus. Mit seiner Begrifflichkeit „das Universelle“, „das Gemeinsame“, „kulturelle Ressourcen“, „Fruchtbarkeit“ und „Abstand“ versucht er sich von der
242
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
Identität im Globalisierungskontext in den Blick nimmt, bleibt bisher eine konkrete Operationalisierbarkeit der von ihm aufgearbeiteten Kategorien und Perspektiven in Textanalysen aus. Deshalb wird auf solche interessanten Kategorien, die sich jedoch noch nicht etabliert haben, verzichtet. Postkoloniale Identitätstheorien, die sehr oft auf psychoanalytische (Fanon und Lacan) und dekonstruktivistische (Derrida) Ansätze rekurrieren, verstehen kulturelle Identitäten als „dynamische, diskontinuierliche und soziokulturell fundierte Konstrukte“⁶⁰⁴ sowie als diskursiv-performative Prozesse, die dem Einzelnen die Möglichkeit bieten, „sich […] in einem kulturellen, historischen und sprachlichen Raum zu situieren“.⁶⁰⁵ „Vorgefertigte Identitäten“⁶⁰⁶ und auf essentialistischen Kategorien ruhende ganzheitliche oder eindeutige Identitäten werden radikal zurückgewiesen. Der postkoloniale Theoretiker Homi K. Bhabha betont, dass er seinen Ansatz „im Feld der kulturellen Differenz – statt dem der kulturellen Diversität – ansiedeln“⁶⁰⁷ und sich somit von den auf kultureller Diversität gründenden Ansätzen wie etwa Multikulturalismus oder Kulturrelativismus absetzen möchte. Der kulturellen Diversität haftet „eine radikale Rhetorik der Trennung von Kulturen“ an, die, so Bhabha, „als Totalität gesehen werden und so, nicht besudelt von der Intertextualität ihrer historischen Orte, in der Sicherheit der Utopie einer mythischen Erinnerung an eine einzigartige kollektive Identität“.⁶⁰⁸ Im Mittelpunkt seiner Identitätstheorie steht das „hybride Subjekt“, das darauf hinweist, wie komplex die kulturelle Identität im Kontext der globalen Migration ist. Aus der Sicht Bhabhas ist die kulturelle Identität in diesem Kontext u. a. von Ambivalenz, Kontingenz und Widersprüchlichkeit gekennzeichnet. Stuart Hall stützt seinerseits seinen Ansatz auf die theoretische Position, „dass moderne Identitäten ‚dezentriert‘, ‚zerstreut‘ und fragmentiert sind“.⁶⁰⁹ Er fokussiert die Wirklichkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die im Zuge
differenzlogischen Theorie abzusetzen. Hierzu schreibt er: „Die Differenz, die mit Unterscheidungen vorgeht, trennt eine Art von anderen Arten und stellt über Vergleiche fest, was ihre Besonderheit ausmacht […]. Ist dieser Ansatz geeignet, um sich der Vielfalt der Kulturen zu nähern? Immerhin lässt die Differenz ja einen Term beiseite, sobald sie einmal einen Unterschied bestimmt hat“ (François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 38). Hanne Birk und Birgit Neumann: Go-Between. Postkoloniale Erzähltheorie. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hgg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT 2002, S. 120. Hanne Birk und Birgit Neumann: Go-Between: Postkoloniale Erzähltheorie, S. 122. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur (Übersetzt von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl). Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 38. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 50. Hervorhebung im Original. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 52. Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, S. 180.
4.1 Literarische Reflexionen über die Einstellung zur Heimat
243
der Globalisierung tiefgreifende Veränderungen erfahren hat, die erhebliche Wirkungen auf die Subjektposition haben. Diese Wirkungen fasst Hall unter dem Konzept „Krise der Identität“ zusammen, die sich hauptsächlich durch eine „DeZentrierung des Subjekts“⁶¹⁰ manifestiert, denn „Individuen [werden] sowohl in Bezug auf ihren Ort in der sozialen und kulturellen Welt als auch in Bezug auf sich selbst de-zentriert“⁶¹¹. Auch wenn das Ausmaß des Wandels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem des von Hall in den Blick genommenen Zeitraums nicht vergleichbar ist, können die von ihm hervorgehobenen Charakteristika der kulturellen Identität im Globalisierungskontext – nämlich „Diskontinuität, Fragmentierung, Bruch und Zerstreuung“⁶¹² – interessante Perspektiven für die nachfolgenden Analysen liefern. Zu den Identitätsproblematiken, an denen sich Raabe in seinen Texten intensiv abarbeitet, gehört die Einstellung zur Heimat im Kontext einer sich immer mehr verdichtenden und verflechtenden Welt, die von globaler Migration und Modernisierung geprägt ist.
4.1 Literarische Reflexionen über die Einstellung zur Heimat im Kontext der globalen Mobilität In einigen Heimkehrertexten Raabes ist eine intensive Auseinandersetzung mit der Beziehung der Rückkehrerfiguren zur ihrer Herkunftsgesellschaft – in Deutschland – und zu ihrer Aufenthaltsgesellschaft in der Fremde – in Amerika, Südamerika, Afrika und Asien – zu erkennen. Hiermit greifen diese Texte interessante Problematiken über die Konstitution von individuellen und kollektiven Identitäten und darüber hinaus hoch brisante gesellschaftspolitische Probleme auf, die mit den laufenden Globalisierungsprozessen eng verbunden sind. Heimat ist ein Begriff, über den kein definitorischer Konsens besteht. Allerdings ist fast allen definitorischen Herangehensweisen die Tatsache gemeinsam, dass die Kategorie „Identität“ eine zentrale Stelle einnimmt. „Heimat ist eine Identitätskategorie par excellence“,⁶¹³ denn dadurch können Fragen der Zugehörigkeit und Exklusion oder der Identität und Differenz erörtert werden. Es lassen sich in den Heimatdiskursen zwei Grundverständnisse herausstellen, nämlich ein essentialistisches und ein konstruktivistisches. Bei näherem Hinsehen liegen den beiden Verständnissen unterschiedliche Herangehensweisen an den
Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, S. 181. Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, S. 181. Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, S. 185. Andreas Huber: Heimat in der Postmoderne. Zürich: Seismo 1999, S. 29.
244
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
Identitätsbegriff zugrunde. In einem Globalisierungskontext, der von massiver Migration charakterisiert ist, kann Heimat als wichtige Kategorie angesehen werden für die Analyse der Selbstverortung des Migranten, des Heimkehrers oder des Daheimgebliebenen und darüber hinaus für die Analyse der Subjektposition überhaupt. In einem solchen Kontext werden die zwei unterschiedlichen Heimatverständnisse deutlicher. Schonfield erläutert die ihnen zugrunde liegenden Mechanismen wie folgt: Different people […] make different choices about their origins. Some individuals may accept the tradition(s) into which they are born: they remain loyal to tribal interests, class interests, or national interests. Other individuals may have a more problematic relationship with their familial, social, or national background. They may perceive these ties as stifling rather than promoting their development, and they may try to escape their background. Some choose to escape by means of emigration, a form of self-imposed exile, and eventually settle in another place which becomes like an adopted home.⁶¹⁴
Im essentialistischen Verständnis von Heimat, das manche Forscher auch als „naturales“ bezeichnen, wird der Diskurs äußerst naturalisiert. Diesem Verständnis zufolge verweist Heimat auf eine naturgegebene und originäre Bindung an Raum (Geburts- und Herkunftsort), Zeit (Kindheit und Jugend), kulturelle Elemente (Muttersprache, Bräuche, Denk- und Handlungsmuster der Herkunftsgesellschaft oder des Geburtsortes) sowie an eine Gemeinschaft (soziale Gruppe oder Ethnie). Dies führt also zu einer Mobilisierung von emotional gesteuerten ethnischen Identifikationskräften.⁶¹⁵ Nach diesem Verständnis stellen ererbte Eigenschaften und durch Habitus internalisierte Kultursysteme konstitutive Elemente von Identität dar. Diesem Heimatverständnis liegt eine mit angeborenen oder ethnischen Faktoren operierende autochthone und homogene Identität zugrunde. Die im Zuge von Globalisierung und Modernisierung erfolgte „Lockerung der bisher festen Verbindung zwischen Völkern […] und Territorium verwandelt
Ernest Schonfield: Moonstone and „Mondgebirge“, S. 138. Wolfram Pyta, Nils Havemann und Jutta Braun: Porsche. Vom Konstruktionsbüro zur Weltmarke. München: Siedler 2017, S. 30 f. Zum essentialistischen Heimatverständnis führen sie aus: „Naturales Verständnis von Heimat bedeutet, dass Heimat als ein geographisch definierter Herkunftsort gilt. Heimatbindung entsteht gemäß dieser Lesart durch Verwurzelung in einem geographisch definierten Kulturraum, der im Idealfall mit dem Ort identisch ist, an dem man geboren ist, aufwächst und sich dauerhaft niederlässt“ (Wolfram Pyta, Nils Havemann und Jutta Braun: Porsche: Vom Konstruktionsbüro zur Weltmarke, S. 30).
4.1 Literarische Reflexionen über die Einstellung zur Heimat
245
radikal die Basis kultureller Identität“⁶¹⁶ und bringt Konstellationen hervor, die eine essentialistische Auffassung von Heimat grundlegend infrage stellen. Aus der konstruktivistischen Perspektive wird Heimat als eine selbstgewählte Bindung aufgefasst, die auf der Basis selbstentschiedener Zuneigung und selbstbestimmter Präferenz erfolgt. In ihren Ausführungen bringen Pyta et al. die Kernidee des konstruktivistischen Heimatverständnisses auf den Punkt: Die konstruktivistische Auffassung von Heimat betont hingegen die Mobilität von Heimat: Heimat wurde delokalisiert und aus einer starren Ortsbezogenheit gelöst. In seine Heimat wird man daher nicht auf immer und ewig hineingeboren, sondern kann sich im Zuge individueller Mobilität Beheimatungen nach eigener Wahl schaffen […]. Nach dieser Version können Menschen auf Wanderschaft problemlos eine zweite, dritte oder vierte Heimat erwerben, indem sie sich dauerhaft in stabile soziale Verkehrskreise integrieren.
Die in der oben zitierten Aussage genannten Konstellationen, die sich ganz deutlich von einer essentialistischen Heimatkonzeption abheben, veranschaulichen die Komplexität der Subjektposition in einer global vernetzten und von Mobilität gekennzeichneten Welt. In einer solchen Welt, wo Heimat „delokalisiert“ und aus „einer starren Ortsbezogenheit“ herausgelöst wird und wo soziale und kulturelle Bezüge nicht mehr allein auf der Grundlage autochthoner Bindungen erfolgen, sondern auch auf der Grundlage selbst konstruierter Beziehungen, kann der Lebensort oder die Aufenthaltsgesellschaft in der Fremde ein konstitutives Element für die Selbstverortung des Einzelnen sein. Er kann demzufolge die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnung, d. h. die kulturelle Identität seiner „ursprünglichen Heimat“, freiwillig aufgeben und sich für eine „Wahlheimat“ an einem fremden Ort entscheiden, der seinen Wertvorstellungen und Lebensorientierungen entspricht. Er kann aber auch die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnung beibehalten und dazu eine andere Zugehörigkeitsordnung einer „zweiten Heimat“ oder „dritten Heimat“ in der Fremde aufweisen und somit verschiedene Identitäten leben. Busch bringt diese Vorstellung auf prägnante Weise auf den Punkt, wenn er schreibt: „Zweifellos können im Laufe eines Lebens neue Heimaten erworben werden und an die Seite oder an die Stelle alter Heimaten treten“.⁶¹⁷ Die diesem Heimatverständnis zugrundeliegende fle-
Arjun Appadurai: Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 13. Hans-Joachim Busch: Heimat als ein Resultat von Sozialisation – Versuch einer nichtideologischen Bestimmung. In: Wilfried Belschner u. a. (Hgg.). Wem gehört die Heimat? Beiträge der politischen Psychologie zu einem umstrittenen Phänomen. Opladen: Leske + Budrich 1995, S. 85.
246
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
xible Identität kann wie ein Kaleidoskop aus differenten, heterogenen und gar disharmonischen Elementen aussehen, die jedoch in ein selbstdefiniertes Modell eines geglückten Daseins, eines kulturellen Wohlfühlens und einer sozialen Sicherheit hineinpassen. Im Globalisierungskontext ist die kulturelle Identität des Einzelnen von verschiedenen „Spuren besonderer Kulturen, Traditionen, Sprachen und Geschichten […] geprägt“.⁶¹⁸ Er kann „das Produkt mehrerer ineinandergreifender Geschichten und Kulturen s[ein] und zu ein und derselben Zeit mehreren ‚Heimaten‘ und nicht nur einer besonderen Heimat angehören“.⁶¹⁹ Der Bezug auf die Alltagskultur der Epoche, die sich etwa über den Briefverkehr zwischen Ausgewanderten und Daheimgebliebenen oder über Texte aus der publizistischen Diskurswelt zum Teil erfassen lässt, zeigt, dass unter „Heimat“ sehr oft eine Identifikation mit einem nationalen Raum und dessen kulturellen Praktiken, Bedeutungen und Werten verstanden wird. Bastian, die sich in ihrer Studie mit der Begriffsgeschichte von „Heimat“ auseinandersetzt und sich dabei mit Auswandererbriefen aus Amerika und Brasilien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befasst, stellt einen „synonyme[n] Gebrauch von ‚das Deutsche‘, ‚das Deutschtum‘ und ‚die Heimat‘“⁶²⁰ fest. In diesen Briefen, in denen sich das Heimweh und die Sehnsucht in der Ferne als meist erwähnte Probleme herausstellen, oszilliert der Heimatbegriff zwischen einer emotionalen Bindung an den verlassenen Raum Deutschland als „Nation“ und „Vaterland“ und einer gefühlsbetonten Bindung an biographisch relevante regionale Faktoren.⁶²¹ Hierzu führt Bastian aus: „Heimat beinhaltet […] Deutschland als Territorium aber vor allem die gemeinschaftlichen Faktoren Familie, Verwandtschaft und Bekanntschaft“.⁶²² In vielen Heimkehrertexten Raabes gehört wie bereits angedeutet Heimat zu den Kategorien und Aspekten, anhand derer die Konstitution individueller und kollektiver Identität im Kontext der globalen Migration am intensivsten thematisiert wird.Wie positionieren sich Heimkehrer oder ausgewanderte Individuen und Kollektive zu ihrer Herkunftsgesellschaft sowie zu ihrer Aufenthaltsgesellschaft und welche Identifikationsmechanismen werden dabei entfacht, sind u. a. Fragen, denen in den Analysen nachgegangen wird.
Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 435. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 435. Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen: Niemeyer 1995, S. 84. Siehe auch Hermann Bausinger: Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte. In: Will Cremer und Ansgar Klein (Hgg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven. Bielefeld: Westfalen Verlag 1990, S. 80 f. Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 83.
4.1 Literarische Reflexionen über die Einstellung zur Heimat
247
4.1.1 Zur literarischen Auseinandersetzung mit dem Stellenwert von Heimat bei der Konstitution individueller und kollektiver Identität in Die Leute aus dem Walde Bereits in Die Leute aus dem Walde, einem Frühwerk Raabes, wird die Bedeutung von Heimat als Dimension zur Konstitution individueller und kollektiver Identität intensiv thematisiert. Über die Darstellung der Amerikaerlebnisse der Figuren Robert und Friedrich Wolf schildert Raabe nicht nur die Einstellungen deutscher Auswanderungswilliger zum Vorstellungskomplex und zu den Motiven, die Amerika in der Epoche zu einem Ort der globalen Migration gemacht haben (siehe hierzu Kap. 3.1.1 und 3.1.2). Dadurch behandelt er auch die Einstellungen der deutschen Einwanderer zu ihrer Herkunftsgesellschaft im Prozess der Konstitution ihrer individuellen und kollektiven Identität. Im Text Die Leute aus dem Walde ist deutlich zu erkennen, dass der Heimkehrer Friedrich Wolf sich in einer Phase seiner Identitätskonstitution befindet, in der seine Beziehung einerseits zu seiner Herkunftsgesellschaft in Deutschland und andererseits zu seiner Aufenthaltsgesellschaft in Amerika klargestellt werden soll. Seine Verhaltensweisen und Aussagen während seines kurzfristigen Aufenthalts in der Herkunftsgesellschaft lassen auf einen gewissen Grad an Akkulturation oder Assimilation schließen. Dass sich manche Änderungen an seiner Herkunftsidentität vollzogen haben und dass er nicht derselbe geblieben ist, der vor wenigen Jahren seine Herkunftsgesellschaft verlassen hatte, signalisiert u. a. seine Namensänderung. Der Heimkehrer stellt sich der heimatlichen Gesellschaft vor als „Friedrich Wolf aus Poppenhagen im Winzelwalde, alias Frederic Warner, Adoptivsohn von weiland Josua Jedidjah Warner von Jubilee Farm, Staat Louisiana“ (BA 5, S. 104). Er kehrt also als „junge[r] Deutsch-Amerikaner“ (BA 5, SS. 72 u. 92) zurück, heißt nun Frederic Warner und zeichnet sich durch eine „Yankeeselbstbeherrschung“ (BA 5, S. 94) aus. Aus dem Bericht Friedrichs über sein Leben in der amerikanischen Gesellschaft geht hervor, dass er eine positive Beziehung zur Kultur des Aufnahmelandes Amerika pflegt, und dass er dazu neigt, sich von den Deutungsmustern sowie Wahrnehmungsformen der amerikanischen Gesellschaft beeinflussen zu lassen. Die die amerikanische Kultur kennzeichnende „Mentalität des individuellen Vorwärtskommens und der Selbstbereicherung, der Konkurrenz und der Machbarkeit“⁶²³ will er sich zu eigen machen. Sein hart erkämpfter finanzieller Aufstieg und sein kämpferischer Geist in einem risikoreichen Umfeld zeugen davon. Er berichtet über seinen Lebensweg in Amerika wie folgt: „Seefahrer,
Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 72.
248
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
Krieger, Jäger war ich gewesen, blutige Abenteuer hatte ich glücklich bestanden; bei mehr als einer Gelegenheit sah ich dem Tod ohne Augenzwinkern ins Gesicht. Ich war jetzt reich, der freieste Mann auf Gottes Erdboden“ (BA 5, S. 128). Friedrich selbst glaubt keine Spuren mehr von seiner Herkunftsidentität zu haben und lässt bei den Daheimgebliebenen den Eindruck entstehen, dass er sich an die amerikanischen Denk- und Verhaltensweisen bereits völlig angepasst hat. Dies führt dazu, dass er von manchen Daheimgebliebenen als „Amerikaner“ angesehen und als solcher behandelt wird, d. h. als einer, der nicht mehr der heimischen Gesellschaft angehört. Aus ihrer Sicht ist der Heimkehrer ein akkulturierter bzw. amerikanisierter Deutscher. Er habe sich in die kulturellen Ordnungssysteme der Aufnahmegesellschaft eingefügt und zwecks seiner Integration die Geschichte des Aufnahmelandes einstudiert. Er scheint sich in der amerikanischen Geschichte über „Sklavenhalter und Abolitionisten, über Natives und Knownothings, Teatotaler, Locofocos, Republikaner und Demokraten“ (BA 5, S. 93) besser auszukennen als in der deutschen Geschichte. In der Romanhandlung sieht Friedrich seine Bindung an die Herkunftsgesellschaft als zur Vergangenheit gehörend an. Seiner Verlobten Eva erzählt er von seinem Aufbruch nach Amerika einige Jahre zuvor: „Die Heimat lag hinter mir, das Los war geworfen. Ich war endlich in der weiten Welt“ (BA 5, S. 118). Diese rückblickende Aussage mag sein Gefühl damals beim Verlassen der „Heimat“ zeigen. Doch sie spiegelt auch in der Erzählgegenwart zum Teil die Lage seiner Beziehung zu seiner Herkunftsgesellschaft. Der einzige Faktor, der ihn weiterhin an die Herkunftsgesellschaft bindet, ist sein bis dahin nicht erloschenes Liebesgefühl für Eva. Es ist das einzige Element, das seine Gegenwart und seine Zukunft in seiner Aufnahmegesellschaft mit seiner Vergangenheit in der Herkunftsgesellschaft verbindet. In seinen Berichten über sein gegenwärtiges Leben in Amerika besteht Friedrich darauf, dass er sich in seinem neuen sozialen und kulturellen Milieu sowie mit den Mitmenschen dort „zuhause“ fühlt. Eva erzählt er von seinen ersten Schritten und seinem gegenwärtigen Leben in der amerikanischen Fremde: In dem Walde fühlte ich mich seit Jahren zum erstenmal wieder so recht an meinem Platze. In den großen Wald gehörte der Knabe vom Eulenbruch […]. Ein wildes, freies, stolzes Leben führte ich jetzt […] im Kreise gleichgesinnter Genossen […] Ich wurde ein ganz anderer Mensch und schämte mich mancher Stunde der Vergangenheit. Und wie mein Geist freier wurde, so sah ich jetzt auch die Zeit meiner Jugend, die Verhältnisse meiner Heimat mit andern Augen an. Dein Bild Eva, tauchte zuerst aus dem wüsten Nebel auf, und immer klarer, immer glänzender ward es wieder; – in so weiter Ferne wurdest du von neuem zum Stern meines Lebens: Bei allem, was ich tat, dachte ich, von dieser Zeit an, an dich (BA 5, S. 122).
4.1 Literarische Reflexionen über die Einstellung zur Heimat
249
Die Heimreise Friedrichs zielt also darauf ab, sich von diesem einzigen noch verbleibenden Zugehörigkeitsgefühl zum Herkunftsort und zum Ort seiner Kindheit und Jugend zu lösen oder diese einzige noch existierende Brücke zu seiner Vergangenheit abzubauen, indem er Eva zu sich nach Amerika holt. Somit kann er seine volle Kraft in die angestrebte Integration in seine Aufenthaltsgesellschaft investieren. Für ihn spielt seine Herkunftsgesellschaft keine Rolle mehr für die Gestaltung seiner Zukunft, denn er identifiziert sich vielmehr mit den kapitalistisch geprägten Denk- und Wahrnehmungsmustern sowie mit den Strukturen der amerikanischen Aufenthaltsgesellschaft. Im Erzählerdiskurs zeichnet sich jedoch eine Relativierung der anvisierten Amerikanisierung Friedrichs ab. Darüber hinaus lassen sich im Text subtile Strategien herausstellen, die darauf hinweisen, dass die angestrebte Assimilation an die amerikanische Kultur sehr kritisch betrachtet wird. Dies erkennt man u. a. dadurch, dass der Romanautor den Migranten Friedrich sein Ziel nur halbwegs erreichen oder gar scheitern lässt. Die Namensänderung Friedrichs, wobei der neue Vorname „Frederic“ nur ein englisches Pendant des deutschen „Friedrich“ ist, weist zwar darauf hin, dass er nicht mehr derselbe ist, aber auch darauf, dass er noch nicht ganz anders ist. Der Sanitätsrat, der Friedrich zum ersten Mal sieht, sagt: Ein prachtvoller Menschentypus, dieser junge Deutsch-Amerikaner. Ich liebe diese breitschultrigen Gesellen mit diesen blonden Löwenmähnen und den vollen Bruststimmen. Man fühlt sich dabei in seiner Rasse noch für einige Zeit gesichert (BA 5, S. 72).
Dieser essentialisierende Diskurs, der auf biologistische Denkkategorien rekurriert, gehört u. a. zu den in den Text eingebauten Strategien, mittels derer eine kritische Distanz zu Friedrich und dessen Intentionen eingenommen und darüber hinaus eine kritische Position gegenüber manchen Entwicklungen der deutschen Amerikaauswanderung artikuliert wird. Die im Erzählerdiskurs mit dem vorangestellten Attribut „deutsches“ wiederkehrenden Wörter „Blut“, „Vaterland“ und „Volk“ weisen auf diese Essentialisierung hin. Der Erzähler scheint sehr kritisch gegenüber der Intention Friedrichs, sich von seiner Herkunftsidentität abzusetzen und sich eine andere Identität zu konstruieren, an der das amerikanische kulturelle Ordnungssystem maßgeblichen Anteil hat. Der Heimkehrer Friedrich wird oft mit ethnisch-rassischen Merkmalen identifiziert, als ob der Erzähler ihn dazu ermahnen möchte, dass er seine von der national-ethnischen Abstammung ererbten biologischen Merkmale nicht ohne weiteres loswerden könnte. In diesem Zusammenhang kann man Krobbs Interpretationsansatz, dieser Text Raabes spiegele auf diese Weise die Sorge um das
250
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
Aufgehen deutschen Volkstums in multikulturellen Aufnahmeländern,⁶²⁴ beipflichten. Auf der Ebene der individuellen Identität bedeutet dies, dass der Text die spezifisch deutsche Identität des ausgewanderten Subjekts in der amerikanischen Aufnahmegesellschaft verteidigt. An manchen Stellen des Textes lässt Friedrich selbst verstehen, dass seine Herkunftsgesellschaft seine „alte“ Heimat und Amerika seine „neue“ Heimat ist. Nach seiner Rückkehr nach Amerika schreibt Friedrich einen Brief an den Polizeischreiber Fiebiger. In diesem Brief erzählt er von seinem Leben und dem seiner Frau in der amerikanischen Gesellschaft. Dabei insistiert er nicht nur auf ihrem Glücksein und Wohlfühlen, sondern auch auf ihrer schrittweisen Anpassung an die lokalen Sitten und Bräuche. Diesen Brief führt er wie folgt ein: „Wir senden aus der neuen Heimat den Freunden drüben diese Botschaft“ (BA 5, S. 272; meine Hervorhebung). In dieser Aussage wird eine Identifikation mit der amerikanischen Aufnahmegesellschaft und eine Distanzierung von der deutschen Herkunftsgesellschaft ersichtlich. Das Zugehörigkeitsgefühl der beiden Ausgewanderten zu Amerika als „neuer Heimat“ führt dazu, dass Eva sich weigert, nach dem Tod und der Beisetzung ihres Mannes in Amerika nach Deutschland zurückzukehren. Die schwer kranke Eva versucht der vor kurzem in Amerika eingetroffene Robert Wolf von einer Rückkehr nach Deutschland zu überreden. Dabei sagt er: „Von deinem Lager weiche ich nicht, bis du ganz genesen bist, und dann – dann gehen wir über das Meer zurück und suchen die Heimat wieder auf, die rechte wahre Heimat, den Winzelwald und das stillste, vergessenste Tal darin“ (BA 5, S. 355 f.). Worauf Eva reagiert: „Nein, Bruder, meine Heimat, meine wahre Heimat ist hier auf dieser fremden Scholle, ist hier neben dem Grabe unter jener Fichte“ (BA 5, S. 356). Eva identifiziert sich also mit dieser amerikanischen Fremde, die für den verstorbenen Friedrich und sie die „neue“ und „wahre Heimat“ ist. Somit versuchen die beiden sich von einer autochthonen Identität herauszulösen und individuelle Identitäten zu konstruieren, die zu einer von globaler Mobilität geprägten Welt zu passen scheinen, denn sie überwinden somit manche essentialistischen Zugehörigkeitsdimensionen von Heimat, indem sie am Lebensort in der Fremde ein neues Zuhause zu konstruieren versuchen. Im Zuge der von beiden Figuren angestrebten Eingliederung in die amerikanische Gesellschaft sind sie darum bemüht, in den lokalen sozialen und kulturellen Strukturen Fuß zu fassen. Zu dieser Problematik macht Krobb eine interessante Anmerkung, die die bereits erwähnten Textstrategien zur kritischen Betrachtung der intendierten Assimilation Friedrichs bestätigt. Ihm zufolge kor-
Vgl. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 76.
4.1 Literarische Reflexionen über die Einstellung zur Heimat
251
respondiert das soziale Beziehungsgewebe, in das sich Friedrich eingliedert, „nicht mit irgendeiner bleibenden oder substantiellen Zugehörigkeit oder Lebensaufgabe“.⁶²⁵ Ungeachtet seiner unablässigen Bemühungen hat sich keine dauerhafte und stabile Integration in die lokalen Verkehrskreise ergeben, denn seine „Vergesellschaftungen […] erfolgen in schneller Abfolge, Loyalitäten gerinnen zu Beiläufigkeiten“,⁶²⁶ was dazu führt, dass bei ihm eine richtige Integration ausbleibt. Dem Identitätsmodell Friedrichs und Evas wird das Identitätsmodell Roberts – das durchaus affirmativ dargestellt wird – gegenübergestellt. Im Gegensatz zu Friedrich und Eva wird das Zugehörigkeitsgefühl Roberts zum Herkunftsort immer stärker. Sein kurzer Aufenthalt in der amerikanischen Fremde scheint bei ihm das Gefühl zu stärken, dass sein Wohlfühlen in einer sich durch Mobilität immer mehr vernetzenden Welt von einer Orientierung an seinem Geburtsort abhängt. Dieser Aufenthalt scheint auch seine Überzeugung zu festigen, dass seine Geborgenheit und Sicherheit in einer weiten und deshalb von unüberschaubaren Verhältnissen charakterisierten Welt von seiner unerschütterlichen Bindung an seine „rechte und wahre Heimat“ in Deutschland abhängig sind. Mit ihr hat er einen überschaubaren Identifikationsraum mit verlässlichen und vertrauten sozialen, familiären und kulturellen Bezügen. Bei seiner Hinreise in die USA auf dem Schiff „Teutonia“, in dem sich zahlreiche Auswanderer unterschiedlicher Herkünfte befinden, ist Robert sehr skeptisch gegenüber dem bevorstehenden Leben in der Fremde. Der Erzähler, der die Gedanken der Einwanderer aus der Perspektive der Figur Robert heraus wiedergibt, sagt: „Das Schiff war zu einer Art Heimat geworden; diesem unbekannten Lande, diesem unbekannten Leben gegenüber fühlte man sich vollkommen heimatlos“ (BA 5, S. 339 f.). Dieser Bericht aus der Erzählerperspektive, der in der Tat vielmehr über das Gefühl Roberts bei seiner Reise in die USA als über das der Einwanderer Aufschluss gibt, betont das Gefühl der Heimatlosigkeit, das seinen Aufenthalt in der amerikanischen Fremde charakterisiert. Auf der Rückreise in seine Herkunftsgesellschaft sind an dem Sprechen und Verhalten Roberts ein innerer Drang und eine übermäßige Begeisterung zu erkennen, die über seine eifrige Heimatliebe Auskunft geben. Der Erzähler, der über die Gedanken und Gefühle Roberts auf dem Heimweg berichtet, sagt: „Er sah ein, wie er jetzt die Zeit der wilden körperlichen Aufregung hinter sich habe, wie er zurückkehren müsse in das ruhige bürgerliche Leben. Mit unwiderstehlicher Macht zog es ihn nach dem Vaterlande zurück“ (BA 5, S. 384). Aus der Sicht
Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 70. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 70.
252
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
Roberts kann er nur in seiner Herkunftsgesellschaft sein Glück aufbauen und Geborgenheit sowie Sicherheit finden, deshalb sagt der Erzähler: „Ruhe gab es für ihn nicht eher, bis er die Heimat erreicht hatte“ (BA 5, S. 394). Die bereits erwähnten Textstrategien und der analysierte Erzählerdiskurs zeigen, dass sich in diesem Text Konfigurationen herausstellen lassen, die zeigen, dass an einer essentialistischen Vorstellung von Heimat und darüber hinaus an homogenen Identitäten festgehalten wird. Im literarischen Schaffen Raabes lässt sich jedoch eine deutliche Entwicklung beobachten, denn in seinem Spätwerk sind etliche Konstellationen anzutreffen, die auf anti-essentialistische oder gar konstruktivistische Vorstellungen von Heimat und darüber hinaus auf differenziertere Identitäten hinweisen. In der bereits erwähnten affirmativen Darstellung von Roberts Identitätsmodell wird gerade die essentialistische Vorstellung von Heimat im Frühwerk Raabes bestätigt. In ihr, der das Identitätsmodell Roberts verhaftet bleibt, zeichnet sich deutlich eine konservative Diskurslinie im Text ab. Sie nimmt bei der Thematisierung der Konstitution einer kollektiven Identität deutscher Einwanderer in den USA deutlichere Konturen an. In Die Leute aus dem Walde wird die soziokulturelle Wirklichkeit von jenen Regionen der USA, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter starkem Druck der Einwanderung aus der ganzen Welt standen, literarisch rekonstruiert. Dabei wird das soziale und kulturelle Leben der verschiedenen Einwanderergruppen in diesem in gewaltigen Umstrukturierungsprozessen befangenen Milieu thematisiert. Der Erzähler, der den Streifzug von Robert und Konrad von Faber durch Kalifornien schildert, sagt: „Allerlei Volk zog mit ihnen desselben Pfades oder kam ihnen aus den Bergen entgegen“ (BA 5, S. 351 f.). Die Darstellung von dieser sich konstituierenden soziokulturellen Lebenswelt gibt das Bild einer aus Einheimischen, Mexikanern, Deutschen, Engländern, Franzosen, Chinesen und Spaniern bestehenden multikulturellen Gesellschaft ab, in der jeder Einwanderergruppe die Freiheit eingeräumt wird, ihre national-kulturellen Eigenheiten auszuleben. Die Anmerkung Krobbs, „das Kalifornien des Goldrausches der 1840er Jahre, besonders das Einfallstor San Francisco, ist als Mikrokosmos Amerikas gestaltet: als Schmelztiegel eines Völkergemischs“,⁶²⁷ trifft auf die dargestellten soziokulturellen Verhältnisse zu. In der ersten Nacht Roberts in Kalifornien fällt ihm die kulturelle Lebhaftigkeit der Stadt auf, die der Erzähler wie folgt schildert: „Gegenüber in einer Teebude krächzte bis späthin eine chinesische Sängergesellschaft ihre mißtönigen Weisen ab. Ein malaiisches Gong sandte von Zeit zu Zeit seine dumpfen dröhnenden Klänge herüber.“ (BA 5, S. 349) In den Amerika- Episoden des Romans
Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 72.
4.1 Literarische Reflexionen über die Einstellung zur Heimat
253
hebt der Erzähler bei der Darstellung des Lebens der einheimischen und eingewanderten Goldsuchenden ihre kulturellen Aktivitäten hervor. Eine vielsagende Szene auf einem Goldfeld Kaliforniens schildert der Erzähler wie folgt: Aus der Tiefe schallte das Jauchzen der Goldsucher […]. Sie sangen auch in ihrer Freude, den Yankeedoodle, die Marseillaise und das Lied vom deutschen Vaterland, und das Echo tat das seinige, die wilde Harmonie oder vielmehr Disharmonie zu verstärken (BA 5, S. 352).
Die vom Erzähler betonte „wilde Harmonie oder vielmehr Disharmonie“, die sich aus Liedern der einheimischen und eingewanderten Goldsuchenden ergibt, weist auf die Diversität der sich konstituierenden multikulturellen Lebenswelt hin. In diesem multikulturellen Nebeneinander der verschiedenen Einwanderergruppen zeichnet sich jede Gruppe durch ihr typisch national-kulturelles Element aus. Nicht von ungefähr werden an dieser Stelle die „Yankeedoodle, die Marseillaise und das Lied vom deutschen Vaterland“ erwähnt. Sie stehen hier als politisch und ideologisch aufgeladene Lieder repräsentativ für die Herkunftsländer der entsprechenden goldsuchenden Gruppen. Hieraus ergibt sich ein auf Diversität aufgebautes multikulturelles Sozialgebilde, in dem einheimische und eingewanderte Gruppen sich durch jene national-kulturellen Elemente auszeichnen, die am prägnantesten „völkisch-ideologisch“ wirken. Hiermit wird eine der thematischen Schwerpunktsetzungen des Romans, d. h. die Frage der kollektiven Identität der deutschen Amerikaauswanderer, auf eine emotional-ideologische Ebene verlagert. Dass es vielen deutschen Auswanderern am Herzen liegt, ihre typische Kultur zu wahren und tagtäglich auszuleben, zieht sich durch die Amerika-Episoden des Romans. Dies lässt sich beobachten an der Mutter Anna, die den weinenden Säugling durch „ein deutsches Wiegenlied“ (BA 5, S. 349) wieder zur Ruhe bringt, an den deutschen Goldsuchenden, die „das Lied vom deutschen Vaterland“ singen sowie an den deutschen Bauermädchen und Bauerburschen, die in den deutschen Ansiedlungen am Missouri „nach deutschen Tanzweisen sich drehen“ (BA 5, S. 375). Dies gibt also ein Bild von deutschen Einwanderern ab, die trotz der Entfernung von dem Heimatraum an typisch deutschen kulturellen Verhaltensformen festhalten. Die Schilderung einer Station des Itinerars Roberts in den USA zeigt auf eklatante Weise, dass die deutschen Einwanderer ständig darum bemüht sind, ihre kollektive Identität in der amerikanischen Fremde durch bestimmte typisch deutsche kulturelle Praktiken und Strukturen lebendig zu halten, indem sie heimatliche Handlungsweisen bzw. Haltungsmuster oder heimatlich gefärbte Infrastrukturen reproduzieren. Zu dieser Station sagt der Erzähler:
254
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
Aber neu war alles hier; – neu waren die Häuser; ungemein neu waren die deutschen Einwanderer in den Gassen […]. Nirgends im ganzen Gebiet der Union schien das „Vaterland“ so festen Fuß fassen zu wollen wie an dieser Stelle. Man sah fast mehr deutsche als amerikanische Firmen an den Häusern. Jedes Schiff, welches von New Orleans heraufkam, brachte neue Einwanderer aus dem alten Land zwischen den Vogesen und der Weichsel mit, und jeden Dialekt der dialektreichen Heimat konnte man in den Gassen der jungen Stadt Saint Louis hören […]. Konrad von Faber machte den Reisegefährten auf alles das aufmerksam, und dann nahm ein deutsches Gasthaus, „Zum Vater Rhein“, die beiden Wanderer auf (BA 5, S. 379 f.).
Der oben aufgeführte Bericht des Erzählers lenkt das Augenmerk auf eine historische Wirklichkeit der deutschen Amerikaauswanderung in der Epoche, nämlich die Bedeutung mancher Regionen Amerikas für den starken Zustrom der deutschen Einwanderer und darüber hinaus für den Erhalt von typisch deutschen Bräuchen und kulturellen Praktiken in der amerikanischen Fremde. Solche Praktiken, Handlungs- und Denkmuster der deutschen Einwanderer zielen auf eine Reproduktion von aus der Heimat mitgebrachten ethnisch geprägten kulturellen Mechanismen ab. Harzig, eine Spezialistin der Migrationsgeschichte, die sich mit den Lebensformen der deutschen Einwanderer in den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, identifiziert ähnliche Praktiken zum Erhalt der ethnischen Kultur. Eine derartig intensiv „entfaltete ethnische Kultur bot Identifikationsmöglichkeiten und Schutzzonen und war damit zugleich Ausgangspunkt für eine selbstbewusste Auseinandersetzung mit der dominanten Kultur“.⁶²⁸ Das mit der deutschen Amerikaauswanderung verbundene Phänomen der Ortnamensgebung spiegelt bei näherem Hinsehen diese Bestrebungen der deutschen Einwanderer zum Erhalt einer kollektiven ethnischen Kultur in der amerikanischen Fremde.⁶²⁹ Nicht von ungefähr lässt der Romanautor in diesem
Christiane Harzig: Lebensformen im Einwanderungsprozeß, S. 170. Auf einer aufschlussreichen Karte, mit der die Spuren der deutschen Einwanderung in die Vereinigten Staaten ausgehend von deutschen Ortsnamen im amerikanischen Mittelwesten nachgezeichnet werden, zeigt Harzig auf, dass manchen amerikanischen Gebieten – in denen sich deutsche Einwanderer angesiedelt hatten – deutsche Ortsnamen gegeben wurden. Dass vielen dieser deutschen Ortsnamen die Vokabel „New“ vorgesetzt wird, zeigt die Karte, auf der Namen wie „New Berlin“, New-Frankfort“, „New Hanover“ und „New Münster“ zu finden sind (vgl. Christiane Harzig: Lebensformen im Einwanderungsprozeß, S. 159). Auf der Karte lässt sich das Gebiet „New Minden“, das in Alte Nester als Neu-Minden umgeschrieben wird, im Südosten des Staates Chicago lokalisieren. Zu diesem Phänomen führt sie aus: „Viele Ortsnamen in den USA weisen über das Land verteilt, auf ursprünglich deutsche Gründungen hin. Dennoch lassen sich Schwerpunkte erkennen, vor allem in Wisconsin, Illinois und Missouri“ (Christiane Harzig: Lebensformen im Einwanderungsprozeß, S.157. Meine Hervorhebung). Dieses Phänomen lässt sich
4.1 Literarische Reflexionen über die Einstellung zur Heimat
255
Anfang der 1860er Jahre erschienenen Text solche vielsagenden Szenen über das soziale und kulturelle Leben der deutschen Einwanderer in der genannten Region spielen, denn „in der Zeit […] (1861– 1865) konzentrierten sich die deutschen Siedler […] weitgehend in einem 200 Meilen breiten Gürtel von New York nach Maryland bis zum Mississippi sowie in der Gegend um St. Louis, am Missouri entlang“.⁶³⁰ St. Louis war Anfang der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine der amerikanischen Städte mit der höchsten deutschen und internationalen Einwanderungsquote. Im Gegensatz zu den anderen Hochburgen der deutschen Einwanderung in die USA war diese Stadt besonders dadurch gekennzeichnet, dass hier deutsche Einwanderer an ihren kulturellen Praktiken aus dem Heimatland festhielten.⁶³¹ Der Erzählerdiskurs über die oben dargestellten Verhältnisse scheint ambivalent zu sein, denn er ist zu verorten zwischen Affirmation, die im einerseits zustimmenden Unterton zu spüren ist, und kritischer Distanz, die sich im andererseits ironischen Unterton manifestiert. Dieser gilt manchen politischen Aspekten der dargestellten Verhältnisse und lässt sich an seinen Kommentaren zur Einrichtung des Gasthauses „Zum Vater Rhein“ erkennen. Der Erzähler sagt: Gottlob, noch sitzt der germanische Christ selbst in Amerika beim Bierkrug, und so gab es denn auch im „Vater Rhein“ ein echt deutsches Gastzimmer, in welchem nur die obligaten Bilder respektiven Landes-Väter, -Mütter, -Onkel, -Tanten, -Neffen und -Nichten fehlten, um die Illusion, daß man sich mitten unter den rührenden gemütvollen Institutionen der Heimat befinde, zu vervollständigen (BA 5, S. 381).
Der ironische Unterton des Erzählerdiskurses, der wie bereits erwähnt auf kritische Distanz hinweist, indiziert eine subtile Kritik an der Art und Weise, wie die deutschen Einwanderer ihre aus der deutschen Heimat mitgebrachte Kultur im fremden Amerika zu reproduzieren versuchen. Aus ihrer Sicht streben sie die
durch den hohen Anteil der „ethnisch“ geprägten und familienmäßig strukturierten Migration an der deutschen Amerika-Auswanderung erklären. Rößler führt hier das Beispiel von „New Melle“ an, wo über Jahrzehnte hinweg Familienangehörige und Nachbarn aus Melle in Westfalen nachwanderten (vgl. Horst Rößler: Massenexodus, S.155). Christiane Harzig: Lebensformen im Einwanderungsprozeß, S. 157. Von dieser historischen Wirklichkeit zeugt der folgende Auszug aus einer Zeitschrift der Epoche: „Für uns hat St. Louis noch das besondere Interesse, dass dort vorzugsweise das deutsche Element am meisten vertreten ist. Unter den 112.000 Einwohnern sind 36.000 Deutsche, 8.000 Franzosen, 10.000 verschiedene Nationalitäten, die übrigen eingeborene Amerikaner. Zwei Zeitungen erscheinen dort und so groß ist bereits der Einfluss unserer Landsleute, dass selbst deutsche Sitten und Getränke von den übrigen Bewohnern angenommen werden, während sich in anderen Städten die Deutschen fast ihres Mutterlandes und ihrer Sprache schämen“ ([Anonym]: Nordamerika, sein Land und seine Zustände. In: Die Gartenlaube 1 (1854), S. 11).
256
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
Auslebung einer genuin deutschen Kultur in der Fremde an. Aber die Ironisierung dieser kulturellen Praktiken zeigt, dass ein solches Ziel nicht erreicht werden kann, denn sie sind nach wie vor vom amerikanischen Lokalen beeinflusst. Im Gegensatz zu Die Leute aus dem Walde, wo der Stellenwert der Heimat bzw. der Heimatkultur für die Konstruktion der individuellen und kollektiven Identität betont wird, wird in einigen Texten Raabes die Bedeutung der Heimat für die Identität mancher Heimkehrer weitgehend relativiert und die Fremde wird sogar als „alternative“ Heimat inszeniert. Die Unheimlichkeit der Heimat und die Vertrautheit der Fremde stellen in diesem Zusammenhang bestimmte Konstellationen dar.
4.1.2 Unheimliche Heimat – vertraute Fremde: die Fremde als konstitutives Element der Identitätskonstruktion Die für die Identitätskonstruktion mancher Rückkehrerfiguren paradigmatische Konstellation, in der die Unheimlichkeit der Heimat und die Vertrautheit der Fremde literarisch inszeniert werden, lässt sich meistens in jenen Texten erkennen, in denen manche Rückkehrer zuerst provisorisch heimkehren und dann wieder in die Fremde zurückreisen, wo sie sich endgültig niederlassen. Im Text Stopfkuchen steht der Aufenthalt des homodiegetischen Erzählers Eduard in seiner Heimat im Mittelpunkt der Handlung. Dabei werden Szenen und Situationen dargestellt, die erkennen lassen, dass dem Rückkehrer sein Geburtsort und seine Herkunftsgesellschaft fremd geworden sind. Während seines Aufenthalts in der Heimat fehlen ihm offensichtlich sozialpsychologische Anhaltspunkte, auf denen ein Sich-heimisch-Fühlen aufbauen kann. Die Bedeutung von sozialpsychologischen Faktoren bei der Verknüpfung von Identität mit Heimat in unverkennbar.⁶³² Für die individuelle Identität ist diese sozialpsychologische Dimension in der Lebensgeschichte, nämlich u. a. in der Kindheit und Jugendzeit des Einzelnen, anzusiedeln, denn „ein Gefühl und ein Bewusstsein von Heimat erwachsen aus der Verbindung des ‚Wo‘ mit dem ‚Mit wem‘ der individuellen Biographie“.⁶³³ Im Text Stopfkuchen spielt bei näherem Hinsehen der Postbote Störzer eine wichtige sozialpsychologische Funktion für den Rückkehrer Eduard, denn der Erstere hat die Lebensgeschichte und Biographie des Letzteren weitgehend beeinflusst und geprägt. Deshalb misst Eduard dem „ihm [Störzer] zukommenden Freundschaftsbesuch bei diesem Besuch in der
Vgl. Hans-Joachim Busch: Heimat als ein Resultat von Sozialisation, S. 82. Hans-Joachim Busch: Heimat als ein Resultat von Sozialisation, S. 83.
4.1 Literarische Reflexionen über die Einstellung zur Heimat
257
Heimat“ (BA 18, S. 14) große Bedeutung bei. Aus der Sicht Eduards ist seine Kindheit in der Heimat zuallererst mit seinem Mentor Störzer verbunden. Der sozialpsychologische Anhaltspunkt, den Störzer dem Rückkehrer während seines Aufenthalts in der Herkunftsgesellschaft hätte verschaffen können, bleibt aber aus, denn der Landbriefträger ist kurz vor der Anreise Eduards gestorben. Auf die traurige Nachricht, die er gleich nach seiner Anreise erhält, reagiert Eduard mehrmals mit einem auf Sehnsucht nach der schönen Freundschaft in der Jugendzeit hinweisenden Seufzer: „Also der alte Störzer ist tot! – also der alte Störzer ist tot!“ (BA 18, S. 14) Diese Sehnsucht wird bekräftigt in seiner Bemerkung: „Mein alte[r] gute[r] Freund von der Landstraße der Kinderzeit in der nächsten Umgebung meiner Heimatstadt in Arkadien“ (BA 18, S. 7). Kurz bevor er seinen Geburtsort verlässt, räumt er selbst ein: „Er [Störzer], der mich im Grunde doch ganz allein auf die See und in die Wüste durch seinen Levaillant gebracht hatte, dem ich mein ‚Rittergut‘ am Kap der Guten Hoffnung einzig […] zu danken hatte. Er war nicht auszudenken“ (BA 18, S. 195 f.). Dieses traurige Ereignis nimmt nicht nur negativen Einfluss auf seinen Blick auf die Verhältnisse seines Geburtsortes, sondern auch auf seine Wahrnehmungen und Gefühle. Wie Busch nachdrücklich betont, sind soziale Interaktionen bestimmende sozialpsychologische Faktoren bei der Konstitution der personalen Identität in Verbindung mit Heimat.⁶³⁴ In der erzählerischen Darstellung des Aufenthalts der Rückkehrerfigur Eduard in der Herkunftsgesellschaft wird deutlich, dass er sich in den lokalen sozialen Verkehrskreisen, die ihm vor seinem Aufbruch in die Fremde vertraut waren, fremd fühlt. Darüber hinaus zeigt sie, wie eine reibungslose zwischenmenschliche Kommunikation mit dem früher vertrauten Personenkreis unmöglich geworden ist. Der erste ehemals vertraute Personenkreis, den er gleich nach seiner Anreise besucht, ist im „Brummersumm“, ein Wirtshaus, das er schon als Kind mit seinem Vater regelmäßig besuchen durfte, deshalb sagt er: „Ich bin also Stammgast des Brummersumms von Kindesbeinen an gewesen“ (BA 18, S. 12). Dem „Gast der Heimatstadt“ (BA 18, S. 12) kommen zwar viele daheimgebliebene Stammgäste des Brummersumms bekannt vor, aber die Kommunikation zwischen Eduard und ihnen verläuft nicht störungsfrei. Darüber hinaus sind ihm die basalen Kenntnisse der von einigen Stammgästen in diesem Wirtshaus hobbymäßig getriebenen Astronomie ganz fremd, was die zwischenmenschliche Beziehung zwischen ihm und diesen Stammgästen noch mehr belastet, denn ihre Interessen gehen auseinander. Nach seinen Erfahrungen in dem Brummersumm hat er deshalb das Gefühl, ein Ausgegrenzter und Entfremdeter in der Herkunftsgesellschaft zu sein, weil er hier fast keine sozialen Interaktionen erleben
Vgl. Hans-Joachim Busch: Heimat als ein Resultat von Sozialisation, S. 82 f.
258
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
kann. Zu Recht schätzt Byram den Besuch Eduards in der Heimat ein wie folgt: „His visit ‘home’ has shown him how little he belongs there, how few connections he has“⁶³⁵ Beim Verlassen des Brummersumms mit dem Gefühl, dass ihm alles an diesem Ort unheimlich und fremd geworden ist, geht Eduard zu seinem Schulfreund Stopfkuchen auf die Rote Schanze, wo er auf Besseres hofft: „Ich hatte es damit vollständig heraus, dass ich hier am Ort in der Heimat den Fuß zuerst auf einen verzauberten Boden gesetzt hatte, auf welchem die Enttäuschungen der Heimkehr doch vielleicht noch einem rechten, echten, wahrhaftigen, wirklichen Heimatsbehagen Raum geben konnten“ (BA 18, S. 56). Auf der Roten Schanze wird er von Valentine, der Frau des Schulfreundes, denjenigen zugerechnet, „die nur dreist in die Welt hinaus und nach Afrika laufen mochten, um ihre trivialen Abenteurerhistorien zu erleben“ (BA 18, S.109). Bei seinem Umgang mit seinem Schulfreund Schaumann alias Stopfkuchen macht Eduard eine bittere und sogar sein Selbstverständnis gefährdende Erfahrung.⁶³⁶ Er wird von Stopfkuchen ausgegrenzt und gar infantilisiert. Dazu benutzt Letzterer eine Diskursstrategie, die Byram treffend auf den Punkt bringt: „Schaumann’s constant references to him as ‘African‘ register his identity as an outsider“.⁶³⁷ Darüber hinaus gibt Stopfkuchen der Rückkehrerfigur Eduard keine Gelegenheit, seine Meinungen hörbar zu machen, was darüber Aufschluss gibt, „dass er in der Heimat weder mitreden darf noch kann“. ⁶³⁸ All die oben genannten Sachverhalte stärken bei Eduard das Gefühl und Bewusstsein der Fremdheit gegenüber seiner Herkunftsgesellschaft. Beim Verlassen seines Geburtsortes verleiht er selbst diesem Gefühl Ausdruck. Er sagt: „Und der Zug, der eben […] die Stadt verlassen hatte und mit langgezogener weißer Lokomotivenwolke der Ferne zuglitt, erinnerte mich in diesem Augenblick wieder daran, wie wenig Halt und Anhalt ich jetzt noch in der Geburtsstadt, in den Heimatsgefilden habe“ (BA 18, S. 123). Er verlässt die Herkunftsgesellschaft eher „mit den beruhigenden Gedanken an das ‚afrikanische Rittergut‘ und an [s]ein Weib und [s]eine Kinder daheim“ (BA 18, S. 198; meine Hervorhebung). Er ist
Katra Byram: Colonialism and the Language of German-German Relations in Raabe’s ‘Stopfkuchen’, S. 69. Vgl. Sandra Krebs: Identitätskonstitution in Wilhelm Raabes Ich-Romanen. Ich-Spiegelungen und Erzählprozeß. Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2009, S. 91. Katra Byram: Colonialism and the Language of German-German Relations in Raabe’s ‘Stopfkuchen’, S. 69. Sandra Krebs: Identitätskonstitution in Wilhelm Raabes Ich-Romanen, S. 91.
4.1 Literarische Reflexionen über die Einstellung zur Heimat
259
demzufolge nicht nur der festen Überzeugung, „dass ihn hier nichts festhält“,⁶³⁹ sondern auch, dass das Kap der Guten Hoffnung in Südafrika nicht nur sein Lebensort, sondern auch seine Wahlheimat ist. Im Gegensatz zu seinem Geburtsort hat Eduard in Südafrika zwei ausschlaggebende Identifikationsfaktoren, nämlich zum einen sein Vermögen und zum anderen seine Familie. Eduard identifiziert sich mit seiner Wahlheimat, d. h. mit seinem Lebensort oder seiner Aufenthaltsgesellschaft, wo sich seine familiären und ökonomischen Interessen befinden. Diese beiden Identifikationsfaktoren sind bei näherer Beobachtung in manche Dimensionen der epochalen Wirklichkeit wie etwa die Kolonisation und die globale Migration verstrickt. Zum einen steht sein Rittergut am Kap der Guten Hoffnung symbolhaft für die ausbeuterische Kolonisation. Zum anderen weisen manche Charakteristika seiner Familie auf die aus der epochalen globalen Migration resultierenden Hybridbildungen hin, die eine dem essentialistischen Heimatverständnis zugrundeliegende Homogenität der Identität infrage stellen. Eduard hat in Südafrika eine Burenfrau geheiratet und aus dieser Ehe hat er Kinder, die eine Sprachmischung aus Deutsch und Holländisch sprechen. Darüber hinaus weisen diese „verwilderten, halbschlächtig deutsch-holländischen Schlingel“ (BA 18, S. 12) Verhaltensweisen auf, die darauf hinweisen, dass sie auch zu den „Buren, Kaffern und Hottentotten“ (BA 18, S. 12) gehören. Sie sind demzufolge hybride Wesen, denn ihnen kann eine Verknotung und Durchkreuzung von kulturellen Einflüssen differenter Herkünfte attestiert werden. Byram, die den Status der Kinder Eduards zu erfassen versucht, führt zu Recht diese Hybridität auf die Tatsache zurück, dass sie in einem multi-ethnischen Umfeld leben.⁶⁴⁰ Sie lassen sich also in diesem heterogenen Umfeld von differenten Sprachen, Ordnungen, Diskursen, Wahrnehmungen und Emotionen beeinflussen.⁶⁴¹ Die hierdurch in Frage gestellte essentialistische Identität merkt man dem Erzähldiskurs Eduards an, der stark von Ironie geprägt ist. Er erzählt von seinen Kindern, die in Südafrika „unter den Buren, Kaffern und Hottentotten manch ein [deutsches] Kulturmoment weiter[geben]“ (BA 18, 12) sollen. Dazu sagt er: „Sie sagen dann gewöhnlich dabei: Mein Vater hat’s gesagt, und der hat’s schon von seinem Vater, unserm Großvater in Deutschland“ (BA 18, 12). Krobb, der die Bedeutung dieser Ironisierung des Erzählerberichts zu erfassen versucht, fragt: „Was [sei] denn
Roy Pascal: Die Erinnerungstechnik bei Raabe. In: Hermann Helmers (Hg.). Raabe in neuer Sicht, S. 134. Vgl. Katra Byram: Colonialism and the Language of German-German Relations in Raabe’s ‘Stopfkuchen’, S. 70. Vgl. Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius: Hybride Kulturen, S. 4.
260
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
dieses deutsche Kulturmoment, das über drei Generationen und über achttausend Kilometer hinweg weitergegeben werden soll“.⁶⁴² Diesen ironischen Erzähldiskurs Eduards interpretiert er zu Recht als Andeutung „eine[r] skeptische[n] Beurteilung der deutschen ‚Kulturmission‘“,⁶⁴³ die auf der Diffusion einer angeblich rein gebliebenen deutschen Kultur aufbauen könnte, denn keine Kultur kann über eine so lange Zeit und über eine so große räumliche Entfernung hinweg rein bleiben. Auf die Hybridität in den Texten Raabes komme ich noch eingehender zu sprechen (siehe hierzu Kap. 4.2). Das Manuskript, das Eduard bei seiner Rückreise nach Südafrika verfasst, kann in Anlehnung an Bhabha als Raum des Schreibens betrachtet werden.⁶⁴⁴ Ihm zufolge ist dieser Raum ein identitätskonstituierender Rahmen, in dem der Schreibende sich mit seiner Identität auseinandersetzt. In seinem Manuskript reflektiert Eduard erzählerisch seine Subjektposition und dokumentiert sie schriftlich. Beim Verfassen dieses Manuskripts an Bord des Schiffs „Leonhard Hagebucher“ sagt er: „Und unser Präsident, mein guter Freund daheim im Burenland, hat wirklich auch wenig Zeit [so] was“ (BA 18, S. 8; meine Hervorhebungen) zu lesen. Somit bekräftigt er sein Zugehörigkeitsgefühl zu seiner Aufnahmegesellschaft in Südafrika. Die Tatsache, dass Eduard sein Manuskript – in dem er u. a. über seine identitäre Selbstverortung reflektiert – an Bord eines Schiffes auf dem Rückweg zum Lebensort verfasst, stellt eine interessante Konfiguration dar, die jedoch unterschiedlich interpretiert werden kann. Struck hebt die Symbolik und Semantik der topographischen Räume „Schiff“ und „See“ hervor, die jeweils als „Medium […] der Passage zwischen den Kontinenten“⁶⁴⁵ und Raum des Reisens aufgefasst werden können. Er betont, dass „die Reise […] der Ort des WederNoch“⁶⁴⁶ ist. Nach dieser Lesart symbolisiert und semantisiert das auf die See fahrende Schiff das Dazwischen, wo die Identitätskonstitution Eduards verortet werden kann. Die oben genannte Konfiguration kann aber auch den Willen Eduards signalisieren, mit seiner Vergangenheit in der Herkunftsgesellschaft abzurechnen. Die Abfassung seines Manuskripts auf einem in Richtung Südafrika fahrenden Schiff indiziert eine Abkehr von der alten Heimat sowie eine Hinwendung zur neuen in Südafrika. In dieser Konfiguration wird sein Zugehörigkeitsgefühl zu Südafrika, seiner Wahlheimat bekräftigt.
Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 178. Florian Krobb: Erkundungen im Überseeischen, S. 178. Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 71. Wolfgang Struck: See- und Mordgeschichten, S. 61. Wolfgang Struck: See- und Mordgeschichten, S. 61.
4.1 Literarische Reflexionen über die Einstellung zur Heimat
261
In der Erzählung Zum wilden Mann lassen sich Konstellationen erkennen, in denen August Mördling – der in der Erzählgegenwart als Agostin Agonista aus Brasilien zurückgekehrt ist – bei der Darstellung seines kurzfristigen Heimatbesuchs zur Inszenierung der sozialen und kulturellen Fremdheit, Andersheit und Differenz funktionalisiert wird. Seine Namensänderung signalisiert bereits eine Distanz von der Herkunftsgesellschaft oder ein Zughörigkeitsgefühl zu seinem Lebensort Brasilien, wo er sich seit 30 Jahren aufhält. In der Herkunftsgesellschaft, der der Rückkehrer Agonista am Ende der Handlung den Rücken zukehrt, gründet sich seine Unvertrautheit vor allem auf seinen Alteritätsstatus,⁶⁴⁷ der damit zusammenhängt, wie die Bewohner des Harzdorfes ihn wahrnehmen. In der Handlung des Textes Zum wilden Mann wird der Rückkehrer von der Dorfgemeinschaft durchgehend nicht nur mit einem „sonderbaren Gaste“ (BA 11, S. 205) gleichgesetzt oder als „der Fremde“ schlechthin wahrgenommen, sondern auch mit individuellen Charakterzügen eines die lokale Gemeinschaft verunsichernden Sondertyps porträtiert. Simon hat einige Aspekte der Darstellung des Rückkehrers Agonista herausgearbeitet und erkennt in ihm eine wichtige Dimension von Alterität, nämlich ein unheimliches Monstrum, denn er „erscheint als Teufel oder als Teufelsbündner“.⁶⁴⁸ Die Teufelszuschreibungen von Agonista lassen sich an seiner Darstellung (Alterslosigkeit und Namensänderung), seinem Verhalten gegenüber den Daheimgebliebenen (Störfaktor des friedlichen bürgerlichen Zusammenlebens), an seinem Erscheinungsbild (Andeutungen des Schwarzen) sowie an seinem zerstörerischen Handeln (Pleite der Apotheke) festmachen.⁶⁴⁹ Dieser Auflistung kann man auch das unerwartete und unangemeldete Erscheinen Agonistas in der Apotheke am Anfang der Handlung sowie sein spurloses Verschwinden am Ende der Handlung hinzufügen. In vielen Handlungsmomenten sticht die soziale Fremdheit des Rückkehrers Agonista in der Herkunftsgesellschaft hervor. Er wird sowohl von dem Freundeskreis des Apothekers Kristeller als auch von der Dorfgemeinschaft als mysteriöses Wesen und soziale Kuriosität angesehen. Er kehrt als brasilianischer Oberst Alterität ist ein Begriff, mit dem versucht wird, das in der Andersheit und Fremdheit erfahrene und wahrgenommene Unvertraute, Abweichende, Unheimliche, Befremdliche, Anormale und/oder Bedrohliche zu erfassen. Lubrich, der die verschiedenen Ausprägungen sowie manche Wirkungen der Alterität zu erfassen versucht, schreibt: „[…] fremde Länder, unheimliche Monstren, mörderische Kriege oder soziale Unterschiede – Phänomene, die eine Befremdung und Verunsicherung hervorrufen oder eine Bedrohung auslösen und an denen sich eine eigene ,Identität‘ durch Abgrenzung konstituieren lässt“ (Oliver Lubrich: Das Schwinden der Differenz. Postkoloniale Poetiken. Alexander von Humboldt, Bram Stoker, Ernst Jünger, Jean Genet. Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 9). Ralf Simon: Raabes poetologische Wälder, S. 6. Vgl. Ralf Simon: Raabes poetologische Wälder, S. 6 f.
262
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
zurück, der sich 30 Jahre in der südamerikanischen Fremde aufgehalten hat. Seine Lebensgeschichte hebt sich dadurch deutlich von den typisch bürgerlichen Lebensentwürfen des Apothekers Kristeller, des Försters Ulebeule, des Landphysikus Hanff und des Pastors Schönlank ab. Nach dem ersten Treffen in der Apotheke zeigen die Reaktionen des Pastors und des Försters auf den Bericht Agonistas, dass Letzterer in ihren Augen eine regelrechte Kuriosität ist. Der Pastor sagt: „Mir ist dieser plötzlich wie aus dem Boden aufgestiegene Mensch entsetzlich! Die Kaltblütigkeit, mit welcher er aus nichts in seinem Leben ein Hehl machte, griff mir in alle Nerven.“ (BA 11, S. 222 f.) Der Förster reagiert seinerseits wie folgt: „Aber hat uns nicht gerade dieses kuriose, ins Kraut geschossene Menschenkind bewiesen, daß niemand weiß, was in ihm steckt und was er unter Umständen aus sich herausziehen kann?“ (BA 11, S. 224) Auch in der Dorfgemeinschaft wirkt er befremdlich, denn in der kleinen Provinzialstadt „schritt der Oberst zwischen der Hecke anstaunender Bauerngesichter durch“ (BA 11, S. 242) und „störte die Andacht des Dorfes durch seine Erscheinung vollständig“ (BA 11, S. 241). In diesem Text kann man in der Darstellung des Rückkehrers Agonista die kulturelle Alterität erkennen, die sich in „Wahrnehmungs- und Werteparadigmen“ niederschlägt, welche, so Nünning, „die Differenzen motivieren“.⁶⁵⁰ Die auf Nicht-Zugehörigkeit zur Herkunftsgesellschaft verweisende kulturelle Andersheit und Differenz des Rückkehrers Agonista manifestiert sich in seinem Verhältnis zu den Daheimgebliebenen. Agonista, dessen Handlungen manche Züge des Monströsen aufweisen, wird als Vertreter eines entfesselten Raubtierkapitalismus figuriert, der die traditionellen Wahrnehmungsmuster und Wertorientierungen der bürgerlichen Gesellschaft erschüttert und ins Wanken bringt.⁶⁵¹ Als Vertreter eines rücksichtslosen globalisierenden Kapitalismus sind die Wahrnehmungsformen und Werte Agonistas ausschließlich gewinnorientiert. Diese kapitalistisch geprägten Wahrnehmungs- und Wertemuster steuern seine Handlungen, deshalb macht er Kristeller und Dorothea Partnerschaftsangebote für Investitionen, aber diesmal nicht nur mit dem lokalen, sondern auch mit dem globalen Absatzmarkt als Ziel (siehe auch Kap. 4.2). Kristeller und Dorothea, die in den Handlungen und Intentionen Agonistas das Bedrohliche, Anormale und Abweichende der bürgerlichen Identität sehen, sagen aber seine Angebote ab und halten an ihren bürgerlichen Wahrnehmungs- und Wertemustern fest. Die kulturelle Andersheit und Differenz des Rückkehrers Agonista in der Herkunftsgesellschaft wird in der Motivik des auf das Unheimliche und Bedrohliche
Ansgar Nünning: kulturelle Alterität. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 18. Vgl. Dirk Göttsche: Zeit im Roman, S. 745.
4.1 Literarische Reflexionen über die Einstellung zur Heimat
263
hinweisenden Dämonischen modelliert. Agonista nimmt die Gestalt einer zerstörerischen Monsterfigur an, wenn er durch die Zurückforderung des 30 Jahre zuvor geschenkten Geldes mit Zinseszinsen die Apotheke ruiniert und somit nicht nur eine langwierige wirtschaftliche Errungenschaft, sondern auch eine langjährige kulturelle Institution der bürgerlichen Dorfgemeinschaft zunichtemacht.⁶⁵² Dieses „monströse Imaginäre des Kapitalismus verweist auf eine ikonographische Tradition des Abweichenden, Entstellten und Widernatürlichen, das […] Bestandteil von Konstruktionen des Fremden und des Bösen“⁶⁵³ ist. Mit dieser Konstellation werden gewissermaßen manche folgenschweren Wirkungen des globalisierenden Kapitalismus auf das lokal-bürgerlich ausgerichtete Kleinunternehmen literarisch inszeniert, denn die lokal-bürgerliche kulturelle Identität wird vom globalen Raubtierkapitalismus bedroht und gar vernichtet. In der Problemfigur des Diabolischen und Monströsen verdichten sich also die Wahrnehmungen des Kapitalismus als Bedrohung. Die sich im Status des Rückkehrers Agonista als „unheimlichen Gast“ und „Fremden“ abzeichnende Nicht-Zugehörigkeit zur Herkunftsgesellschaft rührt also zum Teil aus seiner kulturellen Differenz oder Andersheit. In einem anderen Handlungsmoment wird diese Nicht- Zugehörigkeit deutlicher erkennbar, nämlich wenn er seine Herkunftsgesellschaft verlässt und nach Brasilien zurückkehrt. In seinem Bericht über das Verhalten Agonistas und besonders über den Zeitpunkt, an dem der Rückkehrer die heimische Gesellschaft verlässt, um seine Rückreise nach Brasilien anzutreten, sagt der Erzähler: Er hatte, wie man zu sagen pflegt, immer auf dem Sprunge gestanden, der Kaiserlich Brasilianische Oberst Dom Agostin Agonista, aber diesmal reiste er wirklich, und zwar auf die Stunde zum angegebenen Zeitpunkt, nämlich am Mittage des 23. Dezembers. Man hatte ihn natürlich dringend von allen Seiten aufgefordert, wenigstens das Weihnachtsfest über noch zu bleiben, doch alles Bitten und Zureden war vergeblich geblieben (BA 11, S. 252).
Nicht nur die Tatsache, dass Agonista während seines kurzfristigen Aufenthalts in der Herkunftsgesellschaft „immer auf dem Sprung gestanden“ hatte, verweist auf sein Fremdheitsgefühl, sondern auch, dass er sie einen Tag vor dem Weihnachtsfest verlässt ungeachtet aller Überredungsversuche, über diese Zeit hinaus zu bleiben. Agonista kehrt also der Herkunftsgesellschaft den Rücken zu ausgerechnet vor dem Weihnachtsfest, einem symbolträchtigen Moment der christlich Dem Interpretationsansatz Parrs zufolge fungiert Agonista als ein „Grenzüberschreiter […], der als Fremder in den semantischen Raum der Kristeller’schen Apotheke eintritt, um ihn dann letztlich zu vernichten“ (Rolf Parr: Die nahen und die fernen Räume, S. 73). Till Breyer: Einleitung. In: dies. (Hgg.): Monster und Kapitalismus. Zeitschrift für Kulturwissenschaften. H. 2. Bielefeld: transcript 2017, S. 9.
264
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
europäischen Kultur, wo ein solidarisches und familiäres Zugehörigkeitsgefühl besonders betont wird. „Aus [s]einem neuen Vaterlande“ (BA 11, S. 235) Brasilien ist er nur deshalb gekommen, weil er sein Geld zurückhaben will. Zu seinen Projekten mit diesem Geld sagt er: „Ich werde eine Hazienda kaufen und hoffe, als ein begüterter Familienvater meine Tage in Ruhe im Kreise der Meinigen zu beschließen“ (BA 11, S. 234; meine Hervorhebung). Die Handlung des Textes Zum wilden Mann ist konfiguriert, „sodass Agonista in die alte Heimat als Grenzüberschreiter zurückkehrt, nicht aber als ‚Heimkehrer‘ im emphatischen Sinne“.⁶⁵⁴ Er fühlt sich nicht mehr zur Herkunftsgesellschaft gehörig, sondern zum Kreis der Seinigen, d.h. zu seinem familiären und gesellschaftlichen Kreis in der brasilianischen Fremde, wo er seinen Lebensabend verbringen möchte. Nicht nur die auf soziale Fremdheit und kulturelle Differenz hinweisende Alterität der Monsterfigur Agonista zeigt seine Nicht- Zugehörigkeit zur Herkunftsgesellschaft, sondern auch seine Selbstidentifikation zum Lebensort in der brasilianischen Fremde, wo er sich endgültig niederlassen und seine Zukunft aufbauen möchte. Mit diesem Text, in dem die Konstitution der individuellen Identität des Rückkehrers Agonista thematisiert wird, partizipiert Raabes Werk an einer brisanten gesellschaftspolitischen Diskussion über die kulturelle Identität der deutschen Einwanderer in Brasilien und darüber hinaus über das Schicksal der deutschen Kolonisten in Südamerika.⁶⁵⁵
4.2 Hybride Identitäten und hybride Kulturen im Zeichen von globaler Migration und Modernisierung Der Hybriditätsbegriff bezeichnet eine Überschneidung, Verbindung, Vermischung oder Durchkreuzung unterschiedlicher und gar widersprüchlicher Kulturen. Mit ihm „wird das wechselseitige Ineinanderwirken verschiedener, auch
Rolf Parr: Die nahen und die fernen Räume, S. 73. Dass diese Diskussion zum Teil über die Inhalte der Zeitschriften der Epoche geführt wurde, zeigt Tucker auf prägnante Weise auf. Er stellt thematische Berührungspunkte heraus zwischen dem Inhalt der Zeitschrift Westermanns Monatshefte – in der der Text Zum wilden Mann vorerst veröffentlicht wurde, bevor er als Volltext erschienen ist – und dem Inhalt des Textes selbst. Dabei zeigt er auf, wie das Thema deutsche Auswanderung nach Brasilien nicht nur im Zeitraum 1870 – 1874 in den verschiedenen Ausgaben der Zeitschrift intensiv diskutiert wurde, sondern auch, wie es in derselben Ausgabe, in der der Text Zum wilden Mann vorerst veröffentlicht wurde, der Interessenschwerpunkt zahlreicher Artikel war (vgl. Brian Tucker: Raabe, Westermann, and the International Imagination, S. 32– 36).
4.2 Hybride Identitäten und hybride Kulturen im Zeichen von globaler Migration
265
antagonistischer Kulturen und Teilkulturen betont“.⁶⁵⁶ Der grundlegende Gedanke des Hybriditätsbegriffs ist, dass die Beziehung zwischen verschiedenen Kulturen, aber auch die Beziehung innerhalb einer Kultur als ambivalenter Hybridisierungsprozess beschrieben werden kann: zum einen als Kontakt zwischen Körpern, Sprachen und Weltbildern höchst unterschiedlicher Herkunft“.⁶⁵⁷
Der Hybriditätsbegriff prägt maßgeblich die postkolonialen kulturtheoretischen Ansätze in den Kulturwissenschaften. Dabei nehmen Auseinandersetzungen mit Identitätsproblematiken eine wichtige Stellung ein. Homi Bhabha greift auf diesen Begriff zurück, um die Komplexität der Beziehung zwischen dem kolonisierenden und dem kolonisierten Subjekt erfassen zu können.⁶⁵⁸ Bei ihm bezeichnet die auf Heterogenität als Wesensmerkmal der Kultur hinweisende Hybridität unterschwellig und deshalb subtil wirkende kulturelle Differenzen, die die Beziehung zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten prägen. Die Effekte dieser der kolonisierenden sowie der kolonisierten Kultur inhärenten Hybridität manifestieren sich dadurch, dass die Macht und Autorität des kolonialistischen Diskurses erschüttert und gar infrage gestellt werden.⁶⁵⁹ Andere Kulturtheoretiker, die sich mit dem Hybriditätsbegriff auseinandersetzen, versuchen den Blick zu weiten oder breiter gefasste Annäherungsweisen aufzuarbeiten und verorten ihn in einem Globalisierungs- und Modernisierungskontext. Stuart Hall rekurriert auf den Hybriditätsbegriff, um den Übergang vom Nationalstaat zur Modernisierung und Globalisierung zu charakterisieren. In diesem Zusammenhang schreibt er: „Nationale Identitäten befinden sich im Niedergang, während neue Identitäten der Hybridität ihren Platz einnehmen“.⁶⁶⁰ Bronfen und Marius identifizieren idealtypische Situationen, in denen sich Hybridität auf prägnante Weise manifestiert. Ihnen zufolge manifestiert sich Hybridität am prägnantesten in „der Situation der Massenmigration, der globalen Zirkulation von Zeichen, Waren, Informationen und den Auswirkungen funktio-
Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 198. Ottmar Ette und Uwe Wirth: Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorie – Einleitung. In: dies. (Hgg.): Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorie. Berlin: Walter Frey 2014, S. 7. Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 164– 180. Hierzu schreibt Bhabha: „Bei Hybridität haben wir es mit einer Problematik kolonialer Repräsentation und Individuation zu tun, die die Wirkungen der kolonialistischen Verleugnung umkehrt, so dass andere ‚negierte‘ Kenntnissysteme vom dominanten Diskurs Besitz ergreifen und die Basis seiner Autorität – seine Erkenntnisregeln – verfremden“ (Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 168). Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 435.
266
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
naler Ausdifferenzierung der Gesellschaft“.⁶⁶¹ Zur Charakterisierung von Kultur in einer von Massenmigration und globaler Zirkulation geprägten Gesellschaft schreiben sie: „In einer solchen Situation ist Hybridität weder ein spezielles Merkmal noch eine zu vermeidende Gefahr, sondern ein grundlegendes Charakteristikum jeder Kultur“.⁶⁶² Bachmann-Medick nennt einige Akteure, deren Spezifitäten auf Ausprägungen von Hybridität hinweisen: „Migranten, Künstler und Intellektuelle verkörpern vielmehr gerade Hybridität, insofern sie sich kosmopolitisch zwischen den Kulturen bewegen und ihre mehrfache Zugehörigkeit produktiv machen bzw. kreativ entfalten können sollten“.⁶⁶³ Bei näherem Hinsehen sind es nicht nur Menschen, deren Lebensformen die traditionellen Loyalitäten weitgehend herausfordern, sondern auch „Menschen, die […] die Ambition aufgeben, irgendeine ‚verlorene‘ kulturelle Reinheit, einen ethnischen Absolutismus wiederentdekken (sic) zu können“.⁶⁶⁴ Die von den oben genannten Forschern dargestellten Sachverhalte, d. h. einerseits die Massenmigration sowie die globale Zirkulation als idealtypische Situationen von Hybridität und andererseits der Migrant als idealtypischer Akteur derselben lassen sich in der inhaltlichen und motivischen Struktur der Heimkehrertexte Raabes herausstellen. Zum einen sind die vorliegenden Analysen zu Identitätsproblematiken im inner- und außerliterarischen Kontext der Massenmigration und der globalen Zirkulation zu verstehen. Zum anderen wird der Heimkehrer in den Fokus genommen, d. h. ein Migrant mit besonderem Status, der sich zwischen Kulturen bewegt und deshalb „komplexe existentielle [und kulturelle] Grenzsituationen“⁶⁶⁵ erlebt, die die Konstitution seiner Identität maßgeblich beeinflussen.
Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius: Hybride Kulturen, S. 17. Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius: Hybride Kulturen, S. 17. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 200. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 435. Dass Hybridität als grundlegendes Merkmal der kulturellen Identität im Globalisierungskontext anzusehen ist, bekräftigt Hall, der weiter ausführt: „Überall entstehen kulturelle Identitäten, die nicht fixiert sind, sondern im Übergang zwischen verschiedenen Positionen schweben, die zur gleichen Zeit auf verschiedene kulturelle Traditionen zurückgreifen und die das Resultat komplizierter Kreuzungen und kultureller Verbindungen sind, die in wachsendem Maße in einer globalisierten Welt üblich werden“ (Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 434). Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 201.
4.2 Hybride Identitäten und hybride Kulturen im Zeichen von globaler Migration
267
4.2.1 Hybridität in Abu Telfan: zur hybriden Identität des Heimkehrers Hagebucher und der bürgerlichen Gesellschaft Abu Telfan gehört zu den Heimkehrertexten Raabes, in denen Hybriditätsphänomene auf der Ebene der individuellen Identität mehrfach zur Gestaltung kommen. An den Sprechweisen und Verhaltensformen der Figur des Heimkehrers Hagebucher sind bestimmte Dimensionen zu erkennen, die auf Hybriditätsphänomene hinweisen und darüber hinaus den hybriden Charakter seiner Identität zeigen. Zu den Dimensionen, die auf die hybride Identität des Heimkehrers Hagebucher hinweisen, gehört das, was Simo in Anlehnung an Hall ein Zusammensein von kulturellen Präsenzen unterschiedlicher Herkünfte nennt.⁶⁶⁶ Das gleiche Phänomen definieren Bronfen und Marius als eine Vermischung von unterschiedlichen Systemen, Wahrnehmungen, Traditionslinien und Diskursen.⁶⁶⁷ Diese unterschiedlichen kulturellen Präsenzen oder Traditionslinien, deren Spuren in den Verhaltens- und Sprechweisen, Gewohnheiten oder Wahrnehmungen Hagebuchers zu erkennen sind, kommen zum einen aus der islamischorientalischen Kultur – die ihn während seines afrikanischen Aufenthalts in der Nilregion geprägt hat – und zum anderen aus der christlich-abendländischen Kultur der europäisch-bürgerlichen Gesellschaft, in der er nach seiner Rückkehr wieder Fuß zu fassen versucht. Zu den prägnanten Momenten der Handlung gehören die wiederholten Aussagen und Gewohnheiten Hagebuchers, denen manche Kernvorstellungen, -ideen und -botschaften des Korans zugrunde liegen. Diese Spuren des Wissens aus dem Koran weisen auf eine islamisch-orientalische kulturelle „Präsenz“, die sein Weltbild prägt. In seinem Verhältnis zu seinem familiären und sozialen Umfeld weist Hagebucher oft Verhaltensweisen auf oder trifft Aussagen, die eine gewisse Einflussnahme mancher Elemente der islamisch-orientalischen Kultur auf seine Einstellungs- und Verhaltensstruktur zeigen. Er verwendet oft das für den Text leitmotivisch stehende Mohammed-Wort aus dem Koran: „Wenn ihr wüsstet, was
Vgl. David Simo: Subjektposition und Kultur im Zeitalter der Globalisierung. In: Matthias Middell und Hennes Siegriest (Hgg.): Die Verwandlung der Weltgeschichtsschreibung. Comparativ 20, 6. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010, 62 f. Er rekurriert auf diesen Begriff Halls, um die Spuren von verschiedenen kulturellen Anrufungskräften in einer Gruppe oder einer Person zu bezeichnen. Mit dem „Präsenzen“-Begriff wird „eine Wirklichkeit konstatiert und genannt, [die] als Zusammensetzung disparater konstitutiver Bestandteile erkennbar bleibt“ (David Simo: Subjektposition und Kultur im Zeitalter der Globalisierung, S. 62). Vgl. Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius: Hybride Kulturen, SS. 4 u. 14.
268
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
ich weiß, so würdet ihr viel weinen und wenig lachen“ (BA 7, S. 382)⁶⁶⁸ oder den für die islamische Kultur charakteristischen Spruch: „Bismillah! Gott ist wahrhaftig groß, und Mahomet ist in der Tat sein Prophet!“ (BA 7, S. 375) Das sind Szenen, an denen man deutlich erkennen kann, dass Hagebuchers Sprechen von Versatzstücken aus dem Koran oder von manchen mehr oder weniger umformulierten Geboten aus der islamischen Religion maßgeblich geprägt ist. Ähnliche Szenen durchziehen die Handlung des Textes. Hagebuchers Einstellungs- und Verhaltensstruktur sind allerdings auch vom Wissen aus der Bibel und der christlich-abendländischen Kultur beeinflusst. Bei einem Gespräch mit Nikola von Einstein sagt er: „Post spiritum tandem commotio, das ist eine Stelle aus dem Vulgata […], welche ich übersetze: Nach dem Winde kam endlich die Bewegung. Die Bibel setzt hinzu: aber der Herr war nicht in der Bewegung“ (BA 7, S. 160). In seinem Konflikt mit seinem familiären und gesellschaftlichen Umfeld bezieht er sich zur Auseinandersetzung mit seiner Situation mehrmals auf Textstellen aus Goethes Schriften, was von einer bürgerlich- europäischen kulturellen Präsenz in seiner Einstellungsstruktur zeugt. Aus einem Text Goethes bezieht er „[s]eine Haupt- und Leibmaxime: Denk an die Menschen nicht;/Denk an die Sachen!“ (BA 7, S. 157) In einer prägnanten Szene werden diese Vereinigung und Gleichzeitigkeit von okzidentaler und orientalischer Präsenz in seiner Vorstellungswelt deutlich. Diese Vermischung prägt nicht nur sein Sprechen, sondern auch sein Verhalten. Der Erzähler, der über diese Szene berichtet, sagt: „Und Herr Leonhard Hagebucher trat in den geweihten Kreis und bot ihm, wenn nicht den bekannten deutschen ‚guten Abend‘, so doch das arabische Selam aleikum, das Heil sei mit euch“ (BA 7, S. 41). In den oben dargestellten Szenen und Situationen sind in vielerlei Hinsicht einige Manifestationen von Hybridität zu erkennen, denn sie unterstreicht […] die Idee, dass die Identität wie ein Palimpsest funktioniert, das aus Inschriften aus verschiedenen historischen Erfahrungen, aber auch aus synchronischen
Im Roman Abu Telfan ist dieses Mohammed-Wort ein Element, das in vielerlei Hinsicht die Rezeption beeinflussen könnte. Erstens taucht es auf als peritextuelles Element, nämlich als Motto des Romans. Es ist in diesem Zusammenhang ein als Kommentar zum Text fungierendes Zitat mit einer „Bedeutung, die sich erst nach vollständiger Lektüre des Textes erschließt oder bestärkt“ (Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches (Übersetzt von Dieter Hornig). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 153). Zweitens schließt der Text mit dem gleichen Wort, indem der Autor es dem Hauptprotagonisten Hagebucher in den Mund legt. Drittens scheint die kritische Einstellung und Haltung Hagebuchers gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft zumindest zum Teil davon geprägt zu sein.
4.2 Hybride Identitäten und hybride Kulturen im Zeichen von globaler Migration
269
Konstellationen besteht. Dieses Zusammensein kann innerhalb derselben Person oder unter den Gruppen harmonisch oder konfliktuell, kooperativ oder antagonistisch funktionieren.⁶⁶⁹
An dem Sprechen und Verhalten des Heimkehrers Hagebucher zeigt sich, dass sein Weltbild und seine Verhaltensstruktur durch zwei „Präsenzen“ heterogener Herkünfte durchkreuzt sind, nämlich durch eine islamisch-orientalische und eine christlich-abendländische „Präsenz“. Bei Hagebucher ist zu festzustellen, dass die Vereinigung der beiden „kulturellen Präsenzen“ keinesfalls zu Spannung oder Konflikt führt. Sie führt auch zu keiner harmonischen mélange, denn die Bestandteile sind deutlich identifizierbar und erkennbar als differente kulturelle Hintergründe. Es scheint ihm keine Schwierigkeit zu bereiten, von den beiden kulturellen „Präsenzen“, die seine Identität prägen, Gebrauch zu machen. Diese beiden kulturellen „Präsenzen“ scheinen bei Hagebucher dialogisch zu funktionieren. Er bedient sich der beiden differenten kulturellen Traditionslinien und Weltbilder zur dialogischen Konfrontation zwischen islamisch-orientalischen und christlich-abendländischen Sinndeutungs- oder Bedeutungssystemen, anhand derer er die soziokulturelle Wirklichkeit verstehen und interpretieren möchte. Der Blick Hagebuchers auf die heimische soziokulturelle Wirklichkeit scheint weit gefasster und deshalb schärfer als der der Daheimgebliebenen, denn mit manchen Sinndeutungs- und Bedeutungssystemen aus der islamisch-orientalischen Kultur verfügt er über Interpretationsinstrumente, die Daheimgebliebene nicht haben. Nicht von ungefähr eignet er sich das Mohammed-Wort an, das bei näherem Hinsehen ein gewaltiges kritisches Potential in sich birgt. Er scheint damit zu unterstellen, dass er mit seinem mit islamisch-orientalischem Wissen angereicherten Weltbild das sieht, was Daheimgebliebene nicht sehen und dass sie sich über die laufenden Entwicklungen weniger freuen sollen. Hier lässt sich eine Anschlussstelle mit dem bereits erwähnten kritischen Exotismus herausstellen (siehe hierzu Kap. 1.2.2 u. 1.2.3). Die bürgerlich-europäische Welt wird somit mit einer islamisch-orientalischen Weltsicht konfrontiert, die jedoch bei Hagebucher deshalb ihr „‚ursprüngliche[s]‘ symbolische[s] Bedeutungssystem [gewissermaßen] eingebüßt“⁶⁷⁰ hat, weil sie von einem bürgerlich-europäischen Subjekt getragen wird und selbst als hybrid angesehen werden kann. Der Heimkehrer Hagebucher wird somit zur Vermischung und Vereinigung zweier Einstellungs- und Wahrnehmungstraditionen oder zweier kultureller Paradigmen differenter Herkünfte stilisiert. Seine Aussage „Ich kann […] eine Vor-
David Simo: Subjektposition und Kultur im Zeitalter der Globalisierung, S. 63. David Simo: Subjektposition und Kultur im Zeitalter der Globalisierung, S. 62.
270
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
lesung halten sowohl über die Familie wie über die bürgerliche Gesellschaft, über den Orient und den Okzident“ (BA 7, S. 158) spiegelt den hybriden Charakter seines Wissens und darüber hinaus seines Denkens. Solche „Hybridbildungen, die aus der […] Durchdringung verschiedener Logiken entstanden sind, manifestieren sich an hybriden Orten und Räumen“,⁶⁷¹ die von einer intensiven Zirkulation kultureller Zeichen im Globalisierungskontext zeugen. Mit dieser Kombination aus den beiden differenten Denklogiken wird die „für das 19. Jahrhundert typische Polarität zwischen Orient und Okzident“⁶⁷² im Text Abu Telfan literarisch überwunden und transzendiert. Die die beiden kulturellen Paradigmen strukturierenden Sinndeutungs- und Bedeutungssysteme stehen bei Hagebucher kooperativ und in einem dialogischen Verhältnis. Der islamisch-orientalischen Kultur wird somit der gleiche Stellenwert zugewiesen wie der christlich-abendländischen, was eine der Grundlagen des hegemonialen Denkens der bürgerlicheuropäischen Kultur weitgehend erschüttert. Dies kann in Zusammenhang mit der Kolonialismusthematik gebracht werden, die in Bezug auf die Identitätsproblematik in Abu Telfan eine besondere Form von Hybridität herausstellen lässt, nämlich die Mimikry.⁶⁷³ Mit dem Mimikry-Begriff können einige Dimensionen des Transfers der Repräsentations- und Deutungssysteme sowie Verhaltensformen der kolonisierenden, dominierenden oder hegemonialen Kultur auf kolonisierte, dominierte oder inferiorisierte Subjekte analysiert werden. In postkolonialen kulturtheoretischen Ansätzen wurde dieser Begriff stark von Homi Bhabha geprägt. Er ist hauptsächlich daran interessiert, den Prozess des Kulturtranfers zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten zu erfassen. In diesem Zusammenhang spricht er vielmehr von „kolonialer Mimikry“,⁶⁷⁴ deren Hauptcharakteristik die Ambivalenz ist.
Jan N. Pieterse: Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 97. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 30. In kulturtheoretischer Hinsicht bezeichnet Mimikry eine der prägnantesten Formen von Hybridität. Siehe hierzu Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 125 – 180; Yvonne Albrecht: Gefühle im Prozess der Migration. Transkulturelle Narrationen zwischen Zugehörigkeit und Distanzierung. Wiesbaden: Springer, S. 260; Gabriele Dürbeck: Postkoloniale Studien in der Germanistik. Gegenstände, Positionen, Perspektiven. In: Axel Dunker und dies. (Hgg.): Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld: Aisthesis 2014, S. 30 oder Jochen Dubiel: Dialektik der postkolonialen Hybridität. Die interkulturelle Überwindung des kolonialen Blicks in der Literatur. Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 162 u. 208. Die „koloniale Mimikry“ bezeichnet „das Begehren nach einem reformierbaren, erkennbaren Anderen als dem Subjekt einer Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist“ (Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 126. Hervorhebungen im Original). Zum einen wird sie als Kontroll- bzw. Machtstrategie des Kolonisators aufgefasst, der dadurch seine Autorität durch-
4.2 Hybride Identitäten und hybride Kulturen im Zeichen von globaler Migration
271
Die Mimikry kann auf zahlreiche Situationen des Kulturtransfers angewendet werden, in denen ungleichmäßige Machtverhältnisse zwischen den Akteuren bestehen, d. h. in denen es auf der einen Seite eine dominierende Kultur und auf der anderen ein dominiertes Subjekt gibt. Was die Auseinandersetzung mit dem Mimikry-Phänomen in Abu Telfan angeht, schließen die nachfolgenden Analysen an die Erkenntnis Gisis zur Situation des Heimkehrers Hagebucher in der bürgerlichen Gesellschaft an. „Versteht man die Konstellation, in die Hagebucher nach seiner Rückkehr gerät, als Übertragung einer kolonialen, insofern als die Philister ihren ‚Afrikaner‘ Hagebucher zivilisieren wollen“, so Gisi, „dann wird hier durchaus auch eine Strategie der Mimikry […] erkennbar“.⁶⁷⁵ Angesichts dieser Konstellation kann in den nachfolgenden Zeilen der koloniale Zusammenhang zwar nicht heruntergespielt werden, aber die physischen, sozialen und vor allem kulturellen Dimensionen der Mimikry werden in den Vordergrund gerückt. Im Text Abu Telfan gibt es zahlreiche Szenen, in denen manche Ausprägungen des Mimikry-Phänomens ersichtlich sind. Im Folgenden wird der Fokus auf die markantesten Szenen der Handlung gerichtet, in denen der Afrikarückkehrer und Grenzgänger Hagebucher im Mittelpunkt steht. Die erste Szene findet sich gleich zu Beginn der Handlung, die mit der Schilderung der Ankunft Hagebuchers auf dem europäischen Boden einsetzt. Der mit dem Lloyddampfer aus Alexandria kommende Afrikarückkehrer erreicht Triest, seine erste europäische Station auf dem Heimweg. Der Erzähler, der diese Ankunft Hagebuchers schildert, besteht auf seinem Aussehen, wodurch er sich von den anderen Passagieren deutlich auszeichnet. Mit dem Erscheinen Hagebuchers hat man den Eindruck, dass „etwas Neues sich darstellt“ (BA 7, S. 7). Der Erzähler spricht von „ein[em] verwildertere[n] und, trotz der halbeuropäischen Kleidung, aschanti-, kaffern- und mandigohaftere[n] Subjekt“ (BA 7, S. 7). Hier hat man ein Bild, das das Mimikry-Phänomen zeigt, denn Hagebucher trägt bei seiner Ankunft eine „halbeuropäische Kleidung“. Woraus die anderen Kleidungsteile bestehen, wird zwar nicht aus-
setzen kann, indem er dem Kolonisierten nur eine „partielle Reform“ zulässt, so dass Letzterer „fast, aber nicht ganz“ reformiert, transformiert und verändert ist (vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 128 – 134). Zum anderen wird sie als Tarnungs- und Widerstandsstrategie mit höchst subversivem Potential des Kolonisierten aufgefasst. Die durch die Mimesis – d. h. Imitation und Wiederholung der kolonisierenden Kultur – intendierte Transformation oder Reformation des Kolonisierten wird entweder auf eine unerwartete und ironische Weise oder „nie vollständig realisier[t], so dass sich die Dominierenden einem karikierten Bild, einer Parodie ihrer selbst, gegenübersehen“ (Ansgar Nünning: Mimikry. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 528). Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, S. 112.
272
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
drücklich gesagt, aber zahlreiche Indizien deuten darauf hin, dass sie afrikanischer Herkunft sind, was weitgehend zu seinem Aussehen als „aschanti-, kaffern-, und mandigohaftes Subjekt“, d. h. als Subjekt typisch afrikanischer Herkunft beiträgt. Die zweite Szene, in der das Mimikry-Phänomen deutlich zu erkennen ist, taucht im Schlusstableau der Handlung auf und ist im Rahmen des bereits erwähnten konfliktreichen Verhältnisses zwischen Hagebucher und seinem familiären und gesellschaftlichen Umfeld zu verstehen (siehe hierzu Kap. 2.3). In der Schilderung der unmittelbaren Reaktion Hagebuchers auf die Einberufung der Verwandtschaftsversammlung, die über seine Re-Integration beraten soll, merkt man ein Mimikry-Phänomen, das in diesem Absatz nicht eingehend analysiert wird. Über diese Reaktion berichtet der Erzähler: „Dem Manne aus dem Tumurkielande wuchsen mit den Haaren auf dem à la Tumurkie geschorenen Schädel auch die unangenehmeren europäischen Gefühle wieder“ (BA 7, S. 38). Hier wird die für die Mimikry charakteristische Spaltung zwischen Äußerlichem und Innerlichem ersichtlich. Eine wichtige Dimension der Beziehung des Afrikarückkehrers zur bürgerlichen Gesellschaft bringt Göttsche auf den Punkt, wenn er in einer treffenden Formulierung die Identitätsproblematik Hagebuchers zu erfassen versucht. Ihm zufolge ist diese Identitätsproblematik an der Schnittstelle zwischen seinem Anspruch auf Freiheit und seinem Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit anzusiedeln.⁶⁷⁶ Einige Aspekte dieser ambivalenten Identität können anhand der Mimikry eingehender herausgearbeitet werden. Dabei wird die dritte Szene fokussiert, in der dieses Mimikry-Phänomen deutlich ersichtlich ist. In der dritten Szene beschreibt der Erzähler Hagebucher, „der einen Augenblick später, ebenfalls mit einer langen Pfeife im Munde, auf der Treppe der Haustür erschien und seinem seligen Vater nach Statur, Gesichtsbildung, Haltung merkwürdig ähnlich sah“ (BA 7, S. 375). Es soll angemerkt werden, dass sich der Vater des Heimkehrers in der Handlung durchweg als hartnäckiger Verfechter der herrschenden Normen auszeichnet. Er tritt im Text deshalb als eine der repräsentativen Autoritätsinstanzen der bürgerlichen Gesellschaft auf. Hagebucher, der sich bisher gegen die Normen der bürgerlichen Gesellschaft gewissermaßen aufgelehnt hat, nimmt in der dargestellten Szene manche physischen Merkmale und Haltungen seines verstorbenen Vaters an, was einen gewissen Grad an Anpassung, d. h. Transformation, Reformation oder Veränderung signalisiert.⁶⁷⁷
Vgl. Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, S. 47. Wie Göttsche und Müller betonen, deuten die älteren Ansätze diese Szene als Anpassung oder Selbstaufgabe des Hauptprotagonisten, was als Pessimismus und Resignation gesehen wird
4.2 Hybride Identitäten und hybride Kulturen im Zeichen von globaler Migration
273
Hier wird an den Interpretationsansatz von Gretz angeknüpft, um diese Transformation Hagebuchers auf die Artikulation einer kritisch-realistischen Subjektposition hin zu befragen. Er stützt sich „auf eine subversive Lesart der Mimikry“⁶⁷⁸ und versteht die dargestellte Szene als „eine Art inneres Exil, das es Hagebucher erlaubt, seine kritisch-reflexive, distanzierte Haltung zur Philistergesellschaft und sein Streben nach individueller Selbstbehauptung aufrecht zu erhalten“.⁶⁷⁹ Bei der Mimikry wird ein nachgeahmtes Bild produziert „und die Funktion dieser Nachahmung ist die Tarnung. Dabei erfolgt nicht die Übereinstimmung mit einem Original, sondern nur die täuschend echte äußerliche Ähnlichkeit und Imitation“.⁶⁸⁰ In der dargestellten Szene wird die für die Mimikry konstitutive Spaltung zwischen Äußerlichem und Innerlichem inszeniert, denn Hagebucher scheint dadurch eine bürgerliche Maske zu tragen, die mit seinen inneren Überzeugungen nicht ganz übereinstimmt. In diesem Sinne schreibt Müller zu Recht: „Sein philiströses Äußeres, die physiognomische Angleichung an den Vater erweist sich als Mimikry, denn Leonhards kritische Einstellung gegenüber den Normierungszwängen der gesellschaftlichen Wirklichkeit bleibt konstitutiv für sein Inneres“.⁶⁸¹ Diese physiognomische Transformation kann demzufolge gedeutet werden als Tarnungs- und Widerstandsstrategie Hagebuchers, der dadurch seine Anpassung an die Philistergesellschaft vortäuscht, aber eigentlich ihren Normen weiterhin kritisch gegenübersteht. In Anlehnung an Bhabha kann man sagen, dass Hagebucher den Normen und Vorgaben der Philistergesellschaft zwar folgt, sie aber nie ganz erfüllt.⁶⁸² In Anknüpfung an die von Göttsche formulierte und bereits erwähnte Problematik kann man sagen, dass Hagebucher diese Mimikry strategisch einsetzt, um eine kritisch-realistische Subjektposition auszuhandeln, die für seine Identität konstitutiv ist. Zwischen der Freiheit in der weiten Welt und der Zugehörigkeit zur lokalen Gesellschaft konstituiert sich Hagebuchers Identität dank dieser Mimikry an einem ambivalenten Ort, nämlich in einer hybriden Zwischenstellung,
(vgl. Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, S. 68 oder Christian Müller: Subjektkonstituierung in einer kontingenten Welt, S. 109). Unter Rückgriff auf kulturwissenschaftliche Analysekategorien wie etwa Mimikry wird diese Szene in den neueren Interpretationsansätzen anders gedeutet. Daniela Gretz: Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge, S. 129. Daniela Gretz: Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge, S. 129. Yvonne Albrecht: Gefühle im Prozess der Migration, S. 260. Christian Müller: Subjektkonstituierung in einer kontingenten Welt, S. 109 f. Siehe Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. XIII.
274
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
die auf der einen Seite von einem „weder das Eine […] noch das Andere“⁶⁸³ und auf der anderen von einem Sowohl-als-auch charakterisiert ist. Die mit der Denkfigur des „Weder-noch“ formulierte Ablehnung einer einheitlichen, harmonischen und homogenen Identität konkretisiert sich in der Selbstpositionierung des Afrikarückkehrers. Hagebucher entscheidet sich nicht ausschließlich für die Freiheit,⁶⁸⁴ die ihn in die fremde und weite Welt gebracht hat. Diese ist mit gewissen Gefahren und Bedrohungen – wie etwa die Sklaverei in Afrika – verbunden. Er entscheidet sich auch nicht ausschließlich für die Zugehörigkeit, die ihm eine gewisse Sicherheit bringen sollte.⁶⁸⁵ Diese ist mit Enge und Normierungszwängen der Philistergesellschaft – wie etwa die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit zum Bestreiten des Lebensunterhalts – verbunden. Seine Identität konstituiert sich in diesem Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Zugehörigkeit in einem hybriden Zwischenraum. Hagebucher ist also „halb fügsam, halb widerspenstig“.⁶⁸⁶ Die Zugehörigkeit setzt eine zumindest partielle Aneignung gewisser Vorgaben und Normen und die Freiheit einen zumindest partiellen Widerstand voraus. In diesem „Modus sowohl der Aneignung als auch des Widerstandes“⁶⁸⁷ kristallisiert sich die Ambivalenz heraus, die die Mimikry charakterisiert. „Diese gleichzeitig bezugnehmende und sich abgrenzende Zwischenstellung“,⁶⁸⁸ in der sich Hagebuchers Identität konstituiert, weist auf seine hybride Subjektposition hin. Das Sowohl-als-auch, das diese Hybridität charakterisiert, verweist auf die Doppelzugehörigkeit Hagebuchers, die ihm einen Status als Grenzgänger zwischen der bürgerlichen oder lokalen Gesellschaft und der fremden oder weiten Welt verleiht. Die in Abu Telfan zur Gestaltung kommende Dimension der Mimikry, die im engen Zusammenhang mit der systematischen Inferiorisierung sowie der fehlenden Anerkennung des Afrikarückkehrers durch die Philistergesellschaft steht, kann im Rahmen der bereits angedeuteten kolonialen Konstellation im übertragenen Sinne erläutert werden. Nach Hagebuchers Heimkehr wird er deshalb von der Herkunftsgesellschaft geächtet und ausgegrenzt, weil er sich lange in Afrika aufgehalten hat. Aus der Sicht der Herkunftsgesellschaft sind seine Haltungen sowie Vorstellungen zutiefst von als minderwertig hingestellten Denk- und
Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 42. Vgl. Christian Müller: Subjektkonstituierung in einer kontingenten Welt, S. 109. Vgl. Christian Müller: Subjektkonstituierung in einer kontingenten Welt, S. 109. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 51. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 178. Karen Struve: Homi K. Bhabha. In: Dirk Göttsche u. a. (Hgg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler 2017, S. 18.
4.2 Hybride Identitäten und hybride Kulturen im Zeichen von globaler Migration
275
Handlungsmustern aus Afrika beeinflusst, deshalb kann er einige Vorgaben einer zivilisierten Gesellschaft nicht mehr einhalten. Er wird mit zahlreichen Zuschreibungen charakterisiert, die auf seine kulturelle Minderwertigkeit oder Unzivilisiertheit hinweisen. In diesem Zusammenhang wird er sehr oft als „der Barbar“, „der verwilderte Unmensch“, „der wilde Mann“ oder „der Afrikaner“ genannt. Solche abwertenden Zuschreibungen und Fremdbestimmungen, die sich bei näherem Hinsehen einem Inferiorisierungsdiskurs verschreiben, zielen darauf ab, Hagebuchers Versuche zur Selbstverortung bzw. Selbstpositionierung – die auch seine aus der Fremde mitgebrachte Vorstellungswelt miteinschließt – ins Wanken zu bringen und gar zu destabilisieren. Aus der Sicht der Philistergesellschaft soll der Afrikarückkehrer sozusagen wieder zivilisiert werden, um in den herrschenden Verhältnissen wieder Fuß fassen zu können. Aus dieser Konstellation geht hervor, dass Hagebucher als der unzivilisierte „Afrikaner“ wahrgenommen wird und die Philistergesellschaft sich das Vorrecht einer zivilisierenden Instanz anmaßt. In einigen Szenen der Handlung erkennt man deutlich, dass Hagebucher oft durch kritische Ironie geprägte Haltungen und Vorstellungen aufweist und reproduziert, die offensichtlich darauf abzielen, sich als Vertreter der ihm unterstellten „Unzivilisiertheit“ oder „Wildheit“ sowie des ihm zugeschriebenen „Barbarentums“ auszugeben. Durch seine Haltungen und Vorstellungen in der angeblich zivilisierten bürgerlichen Gesellschaft versucht er also das Bild eines unzivilisierten, wilden und barbarischen Menschen abzugeben. Diese Dimension der Mimikry erklärt Gisi wie folgt: „Auffallend ist, wie sehr Hagebucher diesen Zuschreibungen entspricht, zuweilen geradezu zu entsprechen versucht […], indem [er] selbst der Vorstellung des Barbaren zu entsprechen versucht“.⁶⁸⁹ Hagebucher räumt selbst ein, dass es ihm schwerfällt „sich wieder in der Zivilisation zurechtzufinden“ (BA 7, S. 31), und dass er „sogar das Schreiben verlernt“ (BA 7, S. 45) hat. Gegenüber manchen Angehörigen der Philistergesellschaft trifft Hagebucher eine Aussage, die seinen Status als Unzivilisierten in einer zivilisierten Gesellschaft zu bestätigen und die zivilisierende Aufgabe der Gesellschaft zu rechtfertigen scheint. Er sagt: „Wer länger als zehn Jahre mit den Fingern in die Schüssel greifen musste, der wird sich nur allmählich wieder an den Gebrauch von Messer und Gabel gewöhnen“ (BA 7, S. 45 f.). Die mehrfach produzierten Bilder der Nachahmung des Barbaren, Unzivilisierten oder Wilden zielen darauf ab, die bürgerliche Gesellschaft herauszufor-
Lucas M. Gisi: Barbaren, Kinder und Idioten. Von Wilhelm Raabes ‚Abu Telfan‘ und ‚Altershausen‘ zu Robert Walsers ‚Jakob von Gunten‘. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 55 (2014), S. 112.
276
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
dern, indem ihr die Ineffizienz ihrer zivilisierenden Aufgabe vor Augen geführt wird. Somit belegt Hagebucher eine Subjektposition, „von d[er] aus die dominante Kultur […] subversiv unterlaufen werden kann“.⁶⁹⁰ Er wird für die Philistergesellschaft eine „Bedrohung – eine Differenz, die fast total ist, aber nicht ganz“,⁶⁹¹ denn er erkennt zugleich seine zumindest partielle Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft. Dies führt dazu, dass er „fast total, aber nicht ganz“ differente Haltungen und Vorstellungen hat. Hier setzt der Heimkehrer Hagebucher die Mimikry als Strategie ein, „um mit vorgegebenen Identitätsmustern zu spielen“,⁶⁹² was ihm die Möglichkeit bietet, den gesellschaftlichen Normen zu trotzen, indem er seine Differenz aufzeigt. Hierdurch werden die von Patrut erwähnten Dimensionen des Neuen und Bedrohlichen, die die Mimikry hervorbringen kann, ersichtlich.⁶⁹³ Die Konkretisierung dieser Idee in Abu Telfan zeigt Gisi auf, wenn er schreibt: „[Durch die Mimikry] sichert er [Hagebucher] sich eine gewisse Subversivität. Als Barbar hat er das Potential zum Kulturerneuerer“,⁶⁹⁴ indem „er die eigenkulturellen Selbstverständlichkeiten heraus[fordert]“.⁶⁹⁵ Zur Subversion oder Herausforderung der bürgerlichen Kultur rekurriert Hagebucher auf ein Mittel der Mimikry, nämlich die Ironisierung. Er ironisiert die Vorgaben und Errungenschaften der bürgerlichen Kultur. In einer Szene, in der er in die Haut des Unzivilisierten zu schlüpfen versucht, sagt er mit ironischer Pointe zu einigen Angehörigen der Philistergesellschaft: „Ei, meine Herrschaften […] Es ist keine Kleinigkeit, inmitten der Errungenschaften eurer Zivilisation auf dem Rücken zu liegen und eure Taten und Siege nachzulesen“ (BA 7, S. 156). In dieser durch kritische Ironie geprägten Aussage zeichnet sich eine subversive Haltung des Afrikarückkehrers ab gegenüber den Vorgaben und Errungenschaften der zivilisierenden Kultur der bürgerlichen Gesellschaft. Eine andere Szene, in der die subversive Haltung Hagebuchers durch eine Strategie der Ironisierung zur Gestaltung kommt, schildert der Erzähler wie folgt: „Er lachte, der Barbar, er wagte sogar, laut zu lachen, der verwilderte Unmensch; und dann schüttelte er sich, er wagte es, sich zu schütteln […] und leider hatte er allen zartesten Regungen des Menschenherzens zum Trotz recht“ (BA 7, S. 52). Der Erzähler, der über diese Szene berichtet, scheint der Haltung des Afrikarückkehrers zuzustimmen. Er führt fort:
Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 205. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 136. Hervorhebung im Original. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. XIII. Vgl. Iulia-Karin Patrut: Binneneuropäischer Kolonialismus als deutscher Selbstentwurf im 18. und 19. Jahrhundert“. In: Gabriele Dürbeck und Axel Dunker (Hgg.): Postkoloniale Germanistik, S. 241. Lucas M. Gisi: Barbaren, Kinder und Idioten, S. 112 f. Lucas M. Gisi: Barbaren, Kinder und Idioten, S. 113.
4.2 Hybride Identitäten und hybride Kulturen im Zeichen von globaler Migration
277
„In diesem Lachen hatte er für seine künftige Existenz tausendmal mehr gewonnen“ (BA 7, S. 52). Dies weist auf eine kritische Stellungnahme des Erzählers hin gegenüber dem kulturellen Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft, die dazu neigt, das fremdkulturelle Element aus Afrika zu inferiorisieren. Die bürgerliche Kultur, auf die sich die Kollektividentität der Philistergesellschaft gründet, ist auf den ersten Blick homogen und monolithisch. Sie beruht auf Zugehörigkeitsordnungen, Wertvorstellungen oder Konventionen, denen sich die Angehörigen zustimmend unterordnen. Das konfliktreiche Verhältnis Hagebuchers zu seinem gesellschaftlichen Umfeld lässt den Eindruck aufkommen, dass sich nur beim Afrikarückkehrer manche Haltungen, Gewohnheiten und Vorstellungen aufdecken lassen, die nicht in die vorgegebenen Strukturen oder Schemata der Philistergesellschaft hineinpassen. Wie die Analyse der monochronen und polychronen Zeitkultur in Abu Telfan (siehe hierzu Kap. 2.3) aufgezeigt hat, gibt es bei näherem Hinsehen in dieser Philistergesellschaft subkulturelle Tendenzen, die sich von der dominanten Kultur abgrenzen. Auch wenn diese in einem gemäßigten Ausmaß auftreten, weisen sie auf einen gewissen Grad an Heterogenität hin. Die „Entschleunigungsoase“ Katzenmühle, in der sich einige Personen zusammenfinden, die sich von der herrschenden Beschleunigung als dominanten Zeitkultur abheben wollen, steht symbolisch für diese subkulturellen Tendenzen. Die Bürger leben, ohne sich dessen bewusst zu sein, in einer gewissermaßen von kultureller Heterogenität charakterisierten Gesellschaft. Die bürgerliche Kultur der Philistergesellschaft ist nicht so homogen und monolithisch, wie ihr Bild nach außen glauben lässt oder wie sich die Bürger einbilden. Sie birgt in sich Personengruppen, die auf Wertvorstellungen, Gewohnheiten und Haltungen Wert legen, die von den herrschenden Systemen, Vorgaben und Mustern abweichen.
4.2.2 Zur Herausbildung hybrider Identitäten in Globalisierungskontexten von Migration und Modernisierung Durch die intensive Auseinandersetzung mit globaler Migration und soziokultureller Modernisierung stellt Raabe epochale Dimensionen und Ausprägungen von Globalisierung in den Mittelpunkt seines literarischen Schaffens. Diese beiden zeittypischen Dimensionen von Globalisierung, die in den meisten seiner Texte auftauchen, stellen idealtypische Konstellationen und Konfigurationen bereit zur Artikulation von kulturellen Hybridisierungsphänomenen sowohl auf der Ebene der individuellen als auch der kollektiven Identität. Ausgehend von dem Text Die Akten des Vogelsangs, in dem die globale Migration und die mit Modernisierung einhergehenden soziokulturellen Umgestaltungen intensiv thematisiert werden,
278
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
wird im Folgenden analysiert, wie sich die kulturellen Hybridbildungen sowohl auf der Ebene des Individuums als auch des Kollektivs manifestieren. Dazu wird die Erzählung Prinzessin Fisch erwähnt, denn in diesem Text sind ähnliche thematische Schwerpunktsetzungen zu erkennen. Im Text Die Akten des Vogelsangs steht u. a. die Rekonstruktion der Identitäten der Jugendgenossen Helene Trotzendorff und Velten Andres im Mittelpunkt der Beschäftigung des autodiegetischen Erzählers Karl Krumhardt mit den Akten. Er nimmt den Brief Helenes, der ihn über den Tod Veltens informiert, zum Anlass, um sich anhand von seiner archivischen und erzählerischen Tätigkeit mit manchen Dimensionen ihrer gemeinsamen Kinder- und Jugendzeit in Vogelsang auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang nimmt er Reflexionen über den Lebensweg von jedem Jugendgenossen vor. Dabei nehmen Überzeugungen, Wertorientierungen, Vorstellungen und Wahrnehmungen, die jedem Lebensweg zugrunde liegen, eine zentrale Stelle ein. Bei seiner archivischen und erzählerischen Tätigkeit reflektiert der Erzähler darüber, was den einen oder anderen Lebensweg im dargestellten Globalisierungskontext kulturell und sozial steuert oder was die Identität des einen oder anderen Subjekts oder Kollektivs charakterisiert. Bei der Rekonstruktion des Lebenswegs von Helene Trotzendorff versucht der Erzähler aus seinen Erinnerungen heraus und ausgehend von den Notizen in den Akten sich ihre Handlungen, Aussagen und Stellungnahmen zu vergegenwärtigen. Ausgehend von den erzählerischen Rekonstruktionen des Erzählers kann man erkennen, dass Helene eine hybride und fluktuierende Identität hat, denn sie ist ein Subjekt, das sich auf kein kohärentes und einheitliches Bild bringen lässt. Der Erzähler selbst macht aus seiner Schwierigkeit, seine Jugendgenossin als einheitliches und stabiles Subjekt wahrzunehmen, keinen Hehl. Über eine Szene aus ihrer gemeinsamen Jugendzeit berichtend sagt der Erzähler: „Nun stand sie in dem letzten grauen Licht des Novembertags so ganz anders als die, auf welche ich mich die letzten Tage vorbereitet hatte“ (BA 19, S. 398). Helene steht unter dem Einfluss zahlreicher Faktoren, die dazu führen, dass sie „nicht [mehr] in das […] Grün des Vogelsangs hineinpasste“ (BA 19, S. 347).Wie nachdrücklich darauf hingewiesen, ist Raabes „Werk in besonderer Weise durch die Thematik der Geschichtlichkeit des sozialen Lebens in einer radikal sich verändernden Lebenswelt geprägt“.⁶⁹⁶ In diesem Text erkennt man in der Geschichtlichkeit von Vogelsang manche Züge einer „Gesellschaft des beständigen, schnellen und permanenten Wandels“,⁶⁹⁷ was weitreichende Folgen für die Subjektposition haben könnte. Die für die Identität des Einzelnen zentralen kul-
Dirk Göttsche: Zeit im Roman, S. 758. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 397.
4.2 Hybride Identitäten und hybride Kulturen im Zeichen von globaler Migration
279
turellen und sozialen Ordnungen werden in diesen permanenten Wandel mitgerissen, was stabile Identifikationen und Orientierungen weitgehend erschwert. Die Figur Helene scheint sich nicht nur wenig mit den traditionellen kulturellen und sozialen Ordnungen der bürgerlichen Gesellschaft zu identifizieren, sondern zeigt sich auch sehr aufgeschlossen gegenüber den mit den laufenden Modernisierungs- und Urbanisierungsprozessen einhergehenden sozialen und kulturellen Umgestaltungen. Sie wird mitgerissen in einen Prozess, der „unter heftiger, umfassender und kontinuierlicher Veränderung gefasst“⁶⁹⁸ ist. In Anlehnung an Hall kann man sagen, dass in diesem Kontext der Prozess der Identifikation, in dem sie ihre Identität entwirft, offener und variabler ist, deshalb produziert sie „eine Vielzahl von verschiedenen ‚Subjektpositionen‘, Identitäten“.⁶⁹⁹ In diesem Zusammenhang ist sie Gegenstand von facettenreichen Einflüssen, die im Zuge der Raum-Zeit- Verdichtung aus den sozialen Beziehungen sowie den kulturellen Austäuschen zwischen Amerika und Vogelsang resultieren, denn bei ihr erkennt man deutlich eine soziale und kulturelle Nähe zu Amerika ungeachtet der physischen Entfernung (siehe auch Kap. 2.4.1). Bei näherem Hinsehen ist der Lebensweg Helenes überaus durch Mobilität gekennzeichnet. Wenn man diesen nachzeichnet, zeigt er folgendes Itinerarium: Vogelsang – USA – Vogelsang – USA – Berlin. Diese grenzüberschreitende Mobilität hat auf ihre Identitätsbildung eine pluralisierende Wirkung, denn mit jeder Lebensphase an einem Aufenthaltsort sind bestimmte Dimensionen ihrer facettenreichen Lebensgeschichte verbunden. Ein ruhiges Leben mit bürgerlichem Sozialisationsweg prägt ihre Kindheit beim Aufwachsen in Vogelsang. Ihr erster Aufenthalt in den USA kann unter das Zeichen der Pleite des Vaters und der Familie gestellt werden. Als Heimkehrerin wird ihre Jugendzeit in Vogelsang gleichzeitig von nachbarschaftlichen Beziehungen zu Velten und Karl sowie von dem neuen Status ihres Vaters als Millionär in den USA beeinflusst. Helene lebt zwar in bescheidenen Verhältnissen in Vogelsang, aber „bleibt auf ihren Vater fixiert, von dem sie sich ein Leben als Prinzessin erträumt, in materiellem Reichtum geborgen“.⁷⁰⁰ Sie lebt also sowohl hier in Vogelsang, wo sie wohnt, als auch dort in den USA, denn sie pflegt intensive und erwartungsvolle Beziehungen zu ihrem dort lebenden Vater. Bei ihrem zweiten Aufenthalt in den USA heiratet sie einen reichen Amerikaner und wird nach dem Tod ihres Mannes selbst Mil-
Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 397. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 398. Manfred Kindermann: Subjektkonstitution als Entfremdung. Implizites psychologisches Wissen in Raabes Roman „die Akten des Vogelsangs“. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 41 (2000), S. 115.
280
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
lionärin. In Berlin, wo sie zu Beginn der Handlung neben der Leiche Veltens sitzt, deutet vieles darauf hin, dass sie wieder arm geworden ist. Die oben dargestellte umwegige und ereignisreiche Lebensgeschichte Helenes führt dazu, dass sie keine stabile, einheitliche oder kohärente Identität aufweisen kann. Sie hat eher eine fragmentierte und zersplitterte Identität, denn ihre Subjektposition ist gleichzeitig geprägt von mentalen Einstellungen, Wertvorstellungen und Haltungsmustern aus Vogelsang und aus den USA, aus den lokal-bürgerlichen und aus den global-kapitalistischen Ordnungen bzw. Systemen sowie aus den nachbarschaftlichen und aus den grenzüberschreitenden Beziehungen. Man kann Helene eine Bindestrich-Identität attestieren, d. h. eine Identität, die eine Zusammensetzung von Elementen differenter und gar widersprüchlicher Herkünfte ist und deshalb als territorial unabhängig angesehen werden kann, was einen gewissen Grad an Hybridität indiziert. Aus der Rekonstruktion ihrer von verschiedenen kulturellen Ordnungen beeinflussten Lebensgeschichte geht hervor, dass ihre Identität „kontinuierlich gebildet und verändert“⁷⁰¹ wird. Bronfens und Marius’ Erkenntnis, der zufolge in der Welt sowohl die personale als auch die kollektive Identität von Pluralität und Mehrfachkodierung charakterisiert sind,⁷⁰² trifft auf die Figur Helene Trotzendorff zu. Die plurale und mehrfach codierte Subjektposition Helenes rührt daher, dass sie in einer von räumlicher und kultureller Entgrenzung charakterisierten Welt lebt, was dazu führt, dass sich ihre Identität aus differenten Kulturelementen zusammensetzt, d. h. aus Elementen unterschiedlicher Herkünfte und Codes. Die hybride Subjektposition Helenes ruht demzufolge auf „dem inkohärenten Durcheinander und den kontingenten Überlagerungen verschiedenster Kulturelemente“,⁷⁰³ die sowohl aus den laufenden Modernisierungs- und Urbanisierungsprozessen als auch aus der Mobilität Helenes resultieren. Mit Blick auf das Zugehörigkeitsgefühl zur bürgerlichen Gesellschaft oder die Identifikation mit den dort herrschenden sozialen und kulturellen Ordnungen ist den Figuren Helene Trotzendorff und Velten Andres gemeinsam, dass sie sich mit der lokal-bürgerlichen Gesellschaftsordnung nicht völlig identifizieren oder anders formuliert, dass sie den lokal- bürgerlichen soziokulturellen Ordnungen nicht gefangen bleiben. Geht man von der identifikatorischen Bezugnahme aus, um die Selbstverortungen der beiden Figuren zu erfassen, liegt es nahe, dass sie sich nicht nur „von Bindungen an das Lokale und Partikulare“⁷⁰⁴ gewissermaßen abheben, sondern auch sich durch ihre Weltoffenheit auszeichnen. Diese Herabsetzung von der
Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, S. 183. Vgl. Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius: Hybride Kulturen, S. 7. Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius: Hybride Kulturen, S. 24. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 438.
4.2 Hybride Identitäten und hybride Kulturen im Zeichen von globaler Migration
281
Identifikation mit einer gruppenspezifischen oder ethnischen kulturellen Identität führt bei Velten Andres auch zu einer hybriden Identität. Im Unterschied jedoch zu Helene, bei der eine fragmentierte und zersplitterte Identität zu erkennen ist, hat man bei Velten Andres eine andere Ausprägung der hybriden Identität, nämlich die translokale Identität. Um deren Artikulation besser erfassen zu können, wird die Identitätsbildung seiner Kontrastfigur Karl Krumhardt auch kurz erwähnt. Velten Andres ist wie bereits erwähnt die Inkarnation der Mobilität und der Bewegung, denn er ist ein grenzüberschreitender Weltabenteurer, der sich die Freiheit und den Kosmopolitismus auf die Fahne geschrieben hat. Zur Figur Velten Andres macht Manthey eine Anmerkung, die über das seine Lebensorientierung bestimmende Denken und Handeln in der dargestellten globalisierten Welt Aufschluss geben kann. Er schreibt: „Nichts mehr, außer sich selbst durch eine Reihe von Ländern und Tätigkeitsbereichen, bewegt der nicht minder begabte Velten Andres“.⁷⁰⁵ Er ist ein „kritischer und engagierter Humanist“⁷⁰⁶ oder ein Romantiker,⁷⁰⁷ der sich von einer Bindung an lokal-bürgerliche Vorstellungsund Haltungsmuster absetzt und sich vielmehr mit „universalistischeren und kosmopolitischeren oder internationaleren Werten“⁷⁰⁸ identifiziert, was auf seine translokale Lebensorientierung hinweist. Die Artikulation dieser translokalen Selbstverortung kann besser beleuchtet werden, wenn Veltens und Karls Lebensentwürfe parallelisiert werden. Karl Krumhardt und Velten Andres vertreten entgegengesetzte Weltsichten, denn während Ersterer an seiner von lokal-bürgerlicher Kultur geprägten Lebensorientierung festhält und seine Identität davon bestimmen lässt, zeichnet sich Letzterer durch seine Anhänglichkeit an die Freiheit aus, die ihm ein abenteuerliches Globetrotter-Leben ermöglicht. In Anlehnung an die Ausführungen Halls, der die Identifikationsmechanismen zum Lokalen und zum Globalen zu erfassen bemüht ist,⁷⁰⁹ kann man die Identitätsbildungen der beiden Kontrastfiguren charakterisieren. Der verbreitetste Identifikationsmechanismus zum Lokalen ist die nationale Identität, die „eine partikularistische Form der Bindung oder Zugehörigkeit dar[stellt]“.⁷¹⁰ Das ist eine Identität, in der sich „Bindungen an besondere Orte, Ereignisse, Symbole und Geschichten“⁷¹¹ manifestieren. Diese
Jürgen Manthey: Wilhelm Raabe und das Scheitern des deutschen Liberalismus, S. 71. Jürgen Manthey: Wilhelm Raabe und das Scheitern des deutschen Liberalismus, S. 71. Vgl. Roy Pascal: Die Erinnerungstechnik bei Raabe, S. 137. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 438 f. Vgl. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 438 f. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 429. Hervorhebung im Original. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 429.
282
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
Erkenntnis kann im übertragenen Sinne auf die Identität des autodiegetischen Erzählers Karl Krumhardt angewendet werden. Bei ihm ist eine Bindung an das Lokale zu erkennen, die sich vielmehr durch eine Identifikation zu einer ethnischen bzw. gruppenspezifischen kulturellen Identität der bürgerlichen Gesellschaft manifestiert. Die von der bürgerlichen Gesellschaft angestrebte Einheitlichkeit oder Homogenität ihrer kulturellen Identität im Kontext des sich beschleunigenden sozialen Wandels im Zuge der Globalisierung bleibt jedoch eine Illusion, wie später erläutert werden soll. Der Bindung an das Lokale steht die Bindung an das Globale gegenüber, die mit „universalistischeren Identifikationen, zum Beispiel mit der ‚Humanität‘“⁷¹² eine ihrer Ausprägungen hat. Charakteristisch für derartige grenzüberschreitende Identitäten, die sich a. durch eine Anhänglichkeit an universalistische Ideale und Werte sowie an kosmopolitische Wertvorstellungen manifestieren, ist die Translokalität, denn sie sprengen nationale und lokale Grenzen und gehen über eine ethnisch geprägte kulturelle Identität hinaus. An die bereits erwähnten Interpretationsansätze Mantheys einerseits und Roys andererseits, denen zufolge Velten ein engagierter Humanist und ein Romantiker ist, kann anknüpft werden, um den Ansatz zu formulieren, dass bei Velten ein translokaler Identifikationsprozess zu erkennen ist. Somit bekundet er seine „Anpassungsbemühungen an die sich globalisierende und ent- territorialisierende Welt“,⁷¹³ was auch als Manifestation von Hybridität angesehen werden kann. Diese translokale Identifikation prägt oft die Identitätsbildung im Kontext von Globalisierung, denn Globalisierung ist ein Prozess, der eine schrittweise Lockerung der Bindungen der Menschen an territorial und räumlich gebundene Gruppen mit homogener Kultur bewirkt.⁷¹⁴ Velten scheint sich von gruppenspezifischen kulturellen Ordnungen abzusetzen und den Menschen in seiner anthropologischen Universalität in den Mittelpunkt seines Handelns und Denkens zu stellen. Dies lässt sich an seiner Anhänglichkeit an universelle Menschenwerte wie etwa Liebe und Freiheit erkennen. Gerade die von manchen Figuren wie etwa Mutter Veltens sowie Vater und Mutter Karls angestrebte Homogenität oder Einheitlichkeit der bürgerlichen Identität im Kontext des sich beschleunigenden Urbanisierungsprozesses erweist sich wie bereits erwähnt als Illusion. Die um die Kultur der nachbarschaftlichen Beziehungen kreisende kollektive Identität, die auf typisch bürgerlichen kulturellen Ordnungen, Sozialisationsstrukturen und Loyalitäten aufbaut, wird mit Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 429. Petrus Han: Soziologie der Migration. Erklärungsmodelle. Fakten. Politische Konsequenzen. Perspektiven. Stuttgart: Lucius & Lucius 2005, S. 82. Vgl. Petrus Han: Soziologie der Migration, 82.
4.2 Hybride Identitäten und hybride Kulturen im Zeichen von globaler Migration
283
dem Aufkommen des mit der Urbanisierung einhergehenden beschleunigten sozialen Wandels weitgehend erschüttert. Nicht nur das rasante Hereinbrechen von Firmen, Tanzlokalen, Mietshäusern und Bahnhöfen in die vormals beschauliche Landschaft Vogelsangs bringt die auf Nachbarschaftlichkeit ausgerichteten traditionellen Strukturen der Gesellschaft ins Wanken, sondern auch der Telegraph, der im Rahmen der Raum-Zeit-Verdichtung eine soziale Nähe zwischen Vogelsang und Amerika ermöglicht. Die in der dargestellten Gesellschaft Fuß fassenden industrie-, unterhaltungs-, verkehrs- und kommunikationsstrukturellen Neuigkeiten führen nicht nur zu einer tiefgreifenden Erschütterung der Kultur der nachbarschaftlichen Beziehungen, sondern auch zum Entstehen von grenzüberschreitenden Beziehungen zwischen Vogelsang und Amerika. Was die kollektive Identität der bürgerlichen Gesellschaft in Vogelsang charakterisiert, ist daher ein Nebeneinanderbestehen der Kultur der nachbarschaftlichen und der Kultur der grenzüberschreitenden Beziehungen, was auf den hybriden Charakter der kollektiven Identität der bürgerlichen Gesellschaft hinweist. Pieterses Erkenntnis, der zufolge Hybridität eine Hauptcharakteristik jeder sich modernisierenden Gesellschaft ist, trifft auf die kollektive Identität der bürgerlichen Gesellschaft in Vogelsang zu. Über diese Erkenntnis schreibt er: Hybridbildung [ist] ein Faktor in der Umgestaltung von sozialen Räumen. Strukturelle Hybridbildung, also das Aufkommen neuer Formen der sozialen Kooperation und des Wettbewerbs, und kulturelle Hybridbildung, also die Entstehung translokaler kultureller Ausdrucksformen, stehen in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander.⁷¹⁵
Dass sich manche resistenten Kräfte manifestieren, die ungeachtet der Rasanz des laufenden sozialen Wandels mit dessen pluralisierender Wirkung auf die kulturelle Identität am Festhalten an einer geschlossenen, homogenen und einheitlichen kulturellen Identität der bürgerlichen Gesellschaft arbeiten, ist in vielerlei Hinsicht interessant. Dies zeigt, dass die sich für den Erhalt einer traditionellen kulturellen Identität einsetzenden Kräfte den neueren Formen der kulturellen Identität nicht widerstandslos gewichen sind. Auf eine ähnliche Konfiguration, in der zwei unterschiedliche und gar widersprüchliche Formen der kulturellen Identität in einer sich modernisierenden Gesellschaft nebeneinander bestehen, trifft man im Text Prinzessin Fisch. Hier wird die Geschichtlichkeit von Ilmenthal unter dem Zeichen der rasanten Modernisierung und des damit einhergehenden gewaltigen sozialen Wandels thematisiert. Die in diesem Zusammenhang bereits erwähnte Schwellenmetapher, Jan N. Pieterse: Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, S. 120.
284
Kapitel 4: Identitäten in Globalisierungskontexten
die symbolhaft für eine sich zwischen zwei Zeitkulturen befindende Gesellschaft steht (siehe hierzu auch Kap. 2.1.2), verweist auf eine auf kulturellen Hybridbildungen ruhende kollektive Identität. Die in einer gewaltigen Verschönerungswelle ergriffene Ilmenthaler Gesellschaft ist von einem gleichzeitigen Nebeneinanderbestehen sowie Zusammenwirken von Strukturen und Ordnungen des Neuen und Alten, des Modernen und Traditionellen, des Fremden und des Einheimischen sowie des Globalen und Lokalen geprägt. In der Handlung gibt es etliche Szenen, die über die Ausprägungen solcher kulturellen Hybridbildungen in der soziokulturellen Wirklichkeit Ilmenthals Aufschluss geben. Über das Nebeneinanderbestehen der alten und neuen Strukturen berichtet der Erzähler: Das war der sogenannte ‚alte Weg‘, die Fahrstraße nach Ilmenthal vor der Erbauung der neuen „Kunststraße“. Obgleich diese neue Kunststraße nunmehr auch schon fast zwanzig Jahre in Benutzung war, befand sich der „alte Weg“ doch noch in ziemlich gutem Zustande und wurde im Sommer […] von manchem vorgezogen (BA 15, S. 369).
Das im Zeichen der Modernisierung hereinbrechende Neue steht in enger Verbindung mit kapitalistischen Investitionen aus der Fremde sowie mit der infrastrukturellen Umgestaltung Ilmenthals in einen internationalen touristischen Kurort. Diese enge Verbindung des Neuen mit den globalisierenden Effekten des Kapitalismus und Tourismus potenziert und pluralisiert seine Wirkung auf die soziokulturelle Wirklichkeit und darüber hinaus auf die kulturelle Identität der Gesellschaft.
Schlussbetrachtungen Im einleitenden Teil der Arbeit wurde ein Spannungsfeld von Globalisierungserfahrungen zwischen Vorstellungen, Ansichten, Wahrnehmungen und Repräsentationen sowie Haltungen und Reaktionen konstatiert. Aus den Textanalysen ergibt sich deutlich, dass all diese Dimensionen im Mittelpunkt der literarischen Auseinandersetzungen bei Raabe sowie der populärwissenschaftlichen Schriften mancher zeitgenössischer Akteure in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen. Das Ziel der Arbeit war es zu untersuchen, wie weit die Diskurse, die in Raabes Texte hineinführen und die sie strukturieren bzw. konstituieren, Themen und Problematiken aufwerfen, die gleichzeitig globalisierungsrelevante Diskussionsstoffe in Texten aus der populärwissenschaftlichen Diskurswelt der Epoche darstellen. Darüber hinaus ging es darum, die Beziehung zwischen den beiden Diskursebenen zu ergründen. Dementsprechend wurde analysiert, wie die für die Epoche konstitutiven Manifestationen von Globalisierung gleichzeitig in Raabes Texten und in populärwissenschaftlichen Diskursen aus der Zeitungswelt semantisiert werden. Die Verfolgung dieses Ziels in den Textanalysen hat die formulierte These bestätigt, dass Raabes Texte an einer intensiven und brisanten Diskussion über Globalisierung teilhaben, und dass sich in diesen Texten eine kritisch-realistische Position in einer polarisiert geführten Diskussion abzeichnet. Als Fazit aus den Analysen lassen sich drei zentrale Erkenntnisse herausstellen, die die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit beleuchten. Es lassen sich auf der strukturellen Ebene von Raabes Texten, so die erste Erkenntnis, Aspekte und Dimensionen identifizieren, die deutlich die Globalisierung vorstellbar machen. Auf dieser Ebene weist die wiederkehrende Handlungsstruktur der Heimkehrertexte Raabes ganz deutlich auf Globalisierung hin, denn im Mittelpunkt der jeweiligen Handlungen, die meistens in den europäischen Räumen spielen, steht die temporäre oder definitive Rückkehr mancher Figuren aus der Fremde, in der sie sich aufgehalten haben. Diese Rückkehr in ihre Heimatgesellschaften regt das Reden, das Denken und die Imaginationen der Daheimgebliebenen zum einen über die Weite sowie die Einheit und das Ganze der Welt und zum anderen über das Verhältnis zwischen der Provinz und der Welt oder zwischen Lokalem und Globalem an. Darüber hinaus stärkt die Kenntnisnahme der Erfahrungen der Heimkehrerfiguren während ihrer Hin- und Rückreisen ihr Bewusstsein, dass die Welt gleichzeitig groß und klein ist. In den jeweiligen Personenstrukturen, die das Verhältnis zwischen Heimkehrerfiguren, Daheimgebliebenen und manchen in der Fremde lebenden Figuren darstellen, wird Globalisierung ebenfalls inszeniert. Die Analysen der Motivstruktur in Raabes Texten haben deutlich gezeigt, dass die Inszenierung der Einheit der Welt oder des Bewusstseins des Globalen durch ein https://doi.org/10.1515/9783110743029-009
286
Schlussbetrachtungen
dichtes Netz von globalisierungsrelevanten Motiven möglich gemacht wird. Sie haben auch beleuchtet, warum das Rückkehrmotiv, das Motiv der geographischen Erschließung der Fremde, des Suez-Kanals sowie die auf die Auswanderung nach Amerika bezogenen Motive des Goldrausches und -suchens, des „Onkels aus Amerika“ oder des Millionärs hochgradig globalisierungsrelevante Motive sind. Aus der Analyse der metaphorischen Struktur von Raabes Texten sowie von Schriften aus den Zeitschriften der Epoche ergibt sich deutlich, dass der mehrfache Einsatz der Metaphern Telegraph, Eisenbahn und Schiff eine symbolische Gestaltung der Zeitphänomene Beschleunigung, Zeitverdichtung und globale Gleichzeitigkeit darstellt. Diese Metaphern weisen auf die für die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts konstitutiven Beschleunigungserfahrungen hin. Die zweite Erkenntnis, die vielmehr die diskursive Ebene betrifft, ist, dass sich in Raabes Texten zahlreiche Diskurse und Themen herausstellen lassen, die eindeutig Dimensionen, Manifestationen und Probleme der Globalisierung darstellen. Die herausgearbeiteten Diskurse über die räumliche Schrumpfung, die Vernetzung der Welt, den Kolonialismus, den Imperialismus, die Beschleunigung, die globale Gleichzeitigkeit und das Weltverkehrsnetz zeigen deutlich, dass die Globalisierungsthematik eine zentrale Stelle in Raabes Werk einnimmt. Wie die in den Analysen vorgenommene Inbeziehungsetzung der Texte Raabes zu den populärwissenschaftlichen Diskursen aufgezeigt hat, stehen diese Themen ebenfalls im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen der Zeitschriften der Epoche, was von ihrem Charakter als brisante Diskussionsstoffe der Epoche zeugt. Die Analysen haben ebenfalls aufgezeigt, dass, so die dritte Erkenntnis, sich zwei ganz unterschiedliche Hauptpositionen in den inszenierten Diskursen herauskristallisieren. Den einen kann man gewissermaßen als globalisierungseuphorisch und den anderen als globalisierungsskeptisch charakterisieren. Dass diese Polarisierung in zwei Diskurslagern die Diskussion um Globalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend prägte, haben die Analysen von Texten aus der Publizistischen Diskurswelt der Epoche gezeigt. Raabes Texte werden daher als Wortmeldung in einer brisanten Diskussion angesehen, nicht nur, weil sie die angedeuteten Positionen inszenieren, sondern vielmehr, weil sie sich mit ihnen intensiv auseinandersetzen. In diesen Auseinandersetzungen zeichnet sich ein dritter Weg ab, der gegenüber dem laufenden Globalisierungsphänomen weder einseitig affirmativ noch einseitig skeptisch oder kritisch ist. Diesen Weg kann man als kritisch-realistisch charakterisieren, denn er erkennt auf der einen Seite zwar die Schattenseiten des Globalisierungsphänomens, aber er hebt auf der anderen seine positiven Aspekte hervor und betont besonders seinen Charakter als die Zukunft bestimmendes Phänomen, aus dem der Mensch dank seinen kritischen Einstellungen und seinem vernunftgeleiteten Verhalten das Beste herausholen soll. Ein zusammenfassender Blick in die vier Kapitel der
Schlussbetrachtungen
287
Textanalysen kann eine Übersicht der jeweiligen Befunde liefern, die die dargestellten zentralen Erkenntnisse mehr verdeutlichen. Im ersten Kapitel, das der Analyse der räumlichen Dimensionen von Globalisierung in Raabes Texten gewidmet ist, wurden die Funktionalisierung und Semantisierung von Raumdarstellungen, -repräsentationen und -praktiken in den Mittelpunkt gerückt. Auf der Ebene der Raumdarstellungen wurde analysiert, wie und welche Strategien wie etwa das Rückkehrmotiv, der Chronotopos und die dreipolige Raumkonstellation in den Texten eingesetzt werden, um die Verbindung zwischen Nähe und Ferne, Provinz und Welt, Lokalität und Globalität sowie die Phänomene der Raumverdichtung und der Entgrenzung oder die Dimensionen der räumlichen Schrumpfung und Vernetzung darzustellen. Auf der Ebene der Raumrepräsentationen stellt sich heraus, dass Imaginationen und Vorstellungen der Interkonnektivität der Welt durch Phänomene wie Weltverkehr und Dynamik im Raum anschaulich gemacht werden. Darüber hinaus konkretisieren sich die Vorstellungen und Wahrnehmungen der Einheit und des Ganzen der Welt sowie der interkontinentalen Vernetzung zum Teil im Wissen aus der Geographie, die die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts weitgehend geprägt hat. Es wurde ebenfalls aufgezeigt, wie Raabes Texte durch Strategien des Vergleichens die in den kolonialen Imaginationen und imperialistischen Gedanken der Epoche vorherrschenden kulturellen Grenzen und gar Hierarchien zwischen manchen Räumen relativieren und irritieren, was auf eine kolonialismuskritische und antiimperialistische Diskurslinie hinweist. Auf der Ebene der Raumpraktiken ergibt sich aus den Textanalysen, dass die für die kulturgeschichtliche Wirklichkeit der Epoche konstitutiven kulturellen und ökonomischen Praktiken wie etwa die physische und informationelle Mobilität, der globale Kapitalismus und der Tourismus zur Entwicklung von translokalen und transnationalen Räumen führen, die in Raabes Texten kritisch-realistisch semantisiert werden. Im zweiten Kapitel, das sich mit der literarischen Gestaltung verschiedener temporaler Manifestationen der Globalisierung in Raabes Texten auseinandergesetzt hat, wurden vier Leitpunkte fokussiert, nämlich der sozio-ökonomische Wandel, die ideologisch angelegten Zeitverständnisse, die verschiedenen Zeitkulturen und zuletzt die symbolische Gestaltung von Zeitphänomenen. Was den ersten Leitpunkt angeht, haben die Analysen eine enge Korrelation zwischen dem mehrfach thematisierten sozio-ökonomischen Wandel und Beschleunigungserfahrungen ans Licht gebracht. Durch die intensive Thematisierung der beschleunigten soziokulturellen Umstrukturierungsprozesse wird Beschleunigung in Raabes Texten aus zwei Perspektiven inszeniert. Aus der ersten Perspektive wird sie als Zeitkonzeption angesehen, die das Denken und Handeln von Menschen bestimmt, und aus der zweiten wird sie als Zeiterfahrung erachtet, denn die Wahrnehmungen von Menschen werden durch den vor sich gehenden be-
288
Schlussbetrachtungen
schleunigten Wandel geprägt. Im zweiten Leitpunkt wurde der Fokus auf ideologisch angelegte Zeitverständnisse gelegt, die hinter den Ausrichtungen Nationalismus und Liberalismus stecken. Die Analysen, die sich auf die Lektüre eines der Texte Raabes als Literarisierung von politischen Ereignissen einer bestimmten Epoche in Deutschland stützen, haben gezeigt, wie im betreffenden Text ein kritisch-realistischer Mittelweg zwischen dem auf Vergangenheit ausgerichteten Nationalismus und dem an Zukunft orientierten Liberalismus ausgehandelt wird. Die Erkenntnis aus dem dritten Leitpunkt ergibt sich aus der Analyse der interkulturellen Begegnung zwischen zwei Zeitkulturen, nämlich zwischen der monochronen und polychronen Zeitkultur, denen grundsätzlich unterschiedliche Zeitverständnisse zugrunde liegen. Diese literarische Inszenierung einer Begegnung der beiden entgegengesetzten Zeitkulturen weist auf eine Verflechtung von verschiedenen Kulturen hin, die sich gegenseitig beeinflussen. Im vierten Leitpunkt, in dem die symbolische Gestaltung von Zeitphänomenen in den Blick genommen wurde, wurde aufgezeigt, wie Beschleunigung und globale Gleichzeitigkeit als Manifestationen der Zeitverdichtung durch die Zeitmetaphern Telegraph, Eisenbahn und Schiff im kulturgeschichtlichen Kontext der Epoche bei Raabe einerseits kritisch und andererseits realistisch dargestellt und semantisiert werden. Aus den Analysen zum dritten Kapitel, das sich mit der literarischen Gestaltung von epochalen Globalisierungsphänomenen Migration, Kolonialismus und Imperialismus befasst hat, gehen vier Erkenntnisse hervor. Erstens thematisiert Raabes Werk die Migration als globales Phänomen, denn die vier Kontinente, nämlich Amerika, Europa, Afrika und Asien, die in der Epoche eine wichtige Rolle auf der globalen und geostrategischen Ebene spielten, werden in den Blick genommen, was die Weite des Welthorizonts in Raabes Werk aufzeigt. Zweitens ergibt sich aus den Analysen zur literarischen Gestaltung der Auswanderung nach Amerika, dass die den epochalen Amerikadiskursen zugrunde liegenden Mythen und Vorstellungen dazu beigetragen haben, dass Amerika zu einem Ort der globalen Einwanderung wurde. Drittens hat die Analyse der Motive der literarisch dargestellten europäischen Auswanderung nach Afrika gezeigt, dass die Wissenschaft und die Kolonisation die konstitutiven Elemente dieser Auswanderung und des Afrikadiskurses sowohl in Raabes Texten als auch in den Schriften aus der populärwissenschaftlichen Diskurswelt der Epoche sind. Hier wurde deutlich gezeigt, wie kritisch sich der literarische Diskurs in Raabes Werk zu den zirkulierenden Vorstellungen über Afrika verhält. Viertens ergibt sich aus der Analyse von Ideologien, die die bei Raabe thematisierte deutsche Auswanderung nach Brasilien antreiben, dass seine Texte die kolonial-imperialistische Dimension dieser von manchen Zeitgenossen gelobten Auswanderung kritisieren. Zuletzt prägt auch diese kolonial-imperialistische Dimension die Phantasien und
Schlussbetrachtungen
289
Wahrnehmungen, die mit der bei Raabe thematisierten europäischen Auswanderung nach Südostasien im Zeichen der Dutch-Kolonisation assoziiert sind. Im vierten Kapitel, das sich mit der Analyse von Identitätsproblematiken auseinandergesetzt hat, die mit den im Werk Raabes literarisch gestalteten Globalisierungskontexten verbunden sind, lassen sich zwei wesentliche Erkenntnisse herausstellen. Die erste Erkenntnis ist, dass die Texte Raabes den Stellenwert von Heimat – die im paradoxerweise von nationalistischen Bestrebungen und Globalisierungsphänomenen geprägten Kontext des 19. Jahrhunderts eine gewichtige Größe darstellt – in der Konstruktion von individuellen und kollektiven Identitäten intensiv reflektieren. In diesem Zusammenhang kann man eine deutliche Entwicklung in seinem Werk erkennen, denn in seinem Frühwerk sind eine gewisse essentialistische Annäherung an mit Heimat verbundene Identitätsproblematiken und konservative Tendenzen festzustellen, während man in seinem Spätwerk eine Entwicklung und gar einen Wandel oder eine Veränderung merken kann. In seinem Spätwerk, so die zweite Erkenntnis, werden essentialistische und konservative Haltungsmuster im Prozess der Identitätskonstruktionen immer mehr relativiert und gar in Frage gestellt. Hier werden verschiedene Konstellationen literarisch gestaltet, in denen man die Komplexität der Konstruktion kultureller Identitäten im Globalisierungskontext wahrnehmen kann. Man erkennt in Identitätskonstellationen im Spätwerk Raabes etwa verschiedene Manifestationen und Formen von Hybridität, die auf einen gewissen Grad an Komplexität des Prozesses der kulturellen Identitätskonstruktion im von Kolonialismus, Imperialismus, Migrationen und Modernisierung geprägten Globalisierungskontext der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinweisen. Die vorliegende Arbeit, die trotz bereits existierender Studien über Globalisierung in den Texten von Autoren des poetischen Realismus im Allgemeinen und in den Texten Raabes im Besonderen bisher nicht beachtete Fragestellungen und Analyseperspektiven in den Mittelpunkt rückt, indem sie ein umfangreiches Korpus aus Raabes Werk in Beziehung zu nicht-literarischen Diskursen der Epoche setzt und somit eine kontextorientierte Untersuchung konsequent vornimmt, weist noch Desiderate auf. In diesem Hinblick soll ausgehend von den Erkenntnissen dieser Studie die Perspektive erweitert und auf Anschlussmöglichkeiten hingewiesen werden. In der vorliegenden Arbeit wurde zwar dem Kontext von Raabes Texten eine wichtige Funktion zugewiesen, aber der Fokus wurde vielmehr auf die soziokulturelle Dimension dieses Kontextes gelegt. Der politischideologischen Dimension – d.h. der Perspektive der Einbettung der verschiedenen literarischen und nicht-literarischen Diskurse über Globalisierung in den politischen Kontext des Wilhelminischen Zeitalters – wurde nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Darüber hinaus wurde die Perspektive der Arbeit auf die literarischen Texte eines einzigen Autors begrenzt. Im Anschluss an dieses
290
Schlussbetrachtungen
Projekt ist es denkbar, unter den gleichen theoretisch-methodischen Voraussetzungen wie in der vorliegenden Studie die literarischen Texte von drei oder vier Autoren der gleichen Epoche (z. B. Raabe, Fontane, Keller, Auerbach, Eschenbach, Spielhagen, Gutzkow, Stifter usw.) in Beziehung zu nicht-literarischen Texten zu setzen und sie auf die Artikulation von politisch motivierten Diskursen über Modernisierung und Globalisierung hin zu untersuchen. Dabei können die charakteristischen Züge dieser Diskurse mit besonderem Blick auf die ideologischen Ausrichtungen bei den jeweiligen Autoren ausgelotet werden. Diese Anschlussmöglichkeit stützt sich – wie in einem Abschnitt der Studie (Kap. 2.2) angeklungen – auf die Idee einer politisch-ideologischen Motivation von Positionen in der epochalen Diskussion über Globalisierung und Modernisierung.
Literaturverzeichnis Sigle BA Wilhelm Raabe. Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe. Hrsg. von Karl Hoppe (mit Bandnummer)
Primärliteratur Raabes Texte Raabe, Wilhelm: Die Kinder von Finkenrode. BA 2. Bearb. von Karl Hoppe und Hans Oppermann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1992 [1859]. Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. BA 1. Bearb. von Karl Hoppe und Max Carstenn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980 [1856]. Raabe, Wilhelm: Prinzessin Fisch. BA 15. Bearb. von Karl Hoppe u.a. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1979 [1883]. Raabe, Wilhelm: Fabian und Sebastian. BA 15. Bearb. von Karl Hoppe u. a. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1979 [1882]. Raabe, Wilhelm: Die Leute aus dem Walde. Ihre Sterne, Wege und Schicksale. BA 5. Bearb. von Kurt Schreinert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1971 [1862]. Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. BA 19. Bearb. von Hans Finck und Hans Jürgen Meinerts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970 [1896]. Raabe, Wilhelm: Kloster Lugau. BA 19. Bearb. von Hans Finck und Hans Jürgen Meinerts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970 [1894]. Raabe, Wilhelm: Stopfkuchen. BA 18. Bearb. von Karl Hoppe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969 [1891]. Raabe, Wilhelm: Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge. BA 7. Bearb. von Werner Röpke. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969 [1867]. Raabe, Wilhelm: Alte Nester. BA 14. Bearb. von Karl Hoppe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967 [1879]. Raabe, Wilhelm: Zum wilden Mann. BA 11. Bearb. von Karl Hoppe und Rosemarie Schillemeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1956 [1874]. Raabe, Wilhelm: Meister Autor oder die Geschichte vom versunkenen Garten. BA 11. Bearb. von Karl Hoppe und Rosemarie Schillemeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1956 [1874].
Quellen aus Zeitschriften und Zeitungen der Epoche [Anonym]: Nach Mercator’s Projection. In: Die Gartenlaube 36 (1878), S. 592 – 594. [Anonym]: Ein New-Yorker Millionär. In: Die Gartenlaube 1 (1874), S. 9 – 11. [Anonym]: Die angeblichen Quellen des Nils nach Livingstone‘s neuesten Entdeckungen. In: Westermanns Monatshefte 33 (1873), S. 229 – 232. https://doi.org/10.1515/9783110743029-010
292
Literaturverzeichnis
[Anonym]: Cannibalen in Südafrika. In: Westermanns Monatshefte. 27 (1869), S. 223 – 224. [Anonym]: Die neue Berghaus’sche Erdkarte. In: Westermanns Monatshefte 17 (1865), S. 105 –106. [Anonym]: Die Entdeckung der Nilquelle. In: Die Gartenlaube 24 (1863), S. 383. [Anonym]: Die Arbeiten an dem Kanal auf der Landenge von Suez. In: Globus 2,3 (1863), S. 188 – 189. [Anonym]: Wie steht es mit dem Suez-Kanal? In: Globus 1 (1862), S. 52 – 55. [Anonym]: Neue deutsche Reisende. In: Westermanns Monatshefte. 12 (1862), S. 334. [Anonym]: Die geheime Agentur. Ein Bild aus dem amerikanischen Geschäftsleben. In: Die Gartenlaube 40 (1862), S. 632 – 635. [Anonym]: Auch ein Hausmittel, das man aber nicht im Hause haben kann. In: Die Gartenlaube 4 (1862), S. 55 – 57. [Anonym]: [Rezension zu] Geographische Wanderungen von Karl Andree. In: Westermanns Monatshefte 6 (1859), S. 337. [Anonym]: Der Canal von Suez. In: Die Gartenlaube 11 (1858), S. 144 – 147. [Anonym]: Bürgersleute und Bürgermeister. Deutschlands erste Eisenbahn und ihr Gründer Johannes Scharrer. In: Die Gartenlaube 50 (1858), S. 717 – 719. [Anonym]: Der Kanal durch die Landenge von Suez. In: Die Gartenlaube 8 (1856), S. 104 –107. [Anonym]: Nordamerika, sein Land und seine Zustände. In: Die Gartenlaube 1 (1854), S. 10. [Anonym]: Keine Entfernung mehr! In: Die Gartenlaube 7 (1853), S. 74 [Anonym]: Für Auswanderer. In: Die Gartenlaube 39 (1853), S. 428. [Anonym]: Der Negerkönig. In: Die Gartenlaube 43 (1853), S. 472 – 474. [Anonym]: Der Deutsche in Amerika. In: Die Gartenlaube 18 (1853), S. 197. [Anonym]: Das glückliche Thal. In: Die Gartenlaube 17 (1853), S. 180 – 182. [Anonym]: Amerika und Deutschland. In: Die Gartenlaube 5 (1853), S. 54. [Anonym]: Ueber den Nothstand in einem Theile von Westphalen. In: Schlesisches Kirchenblatt 40 (1851), S. 499. [B.]: Das Gründungsfieber der Jetztzeit. In: Die Gartenlaube 36 (1872), S. 592 – 594. [D.]: Nachträgliches zu dem „New-Yorker Millionär“. In: Die Gartenlaube 39 (1874), S. 634. [F.H.]: Sie gehen nach Amerika. In: Die Gartenlaube 6 (1864), S. 84 – 87. [H.B.]: Himmel und Erde im Zimmer. In: Die Gartenlaube 50 (1863), S. 792 – 793. [S.]: Die weltverbindende Chiffre. In: Die Gartenlaube 27 (1871), S. 448 – 450. [St.]: Eine mecklenburgische Colonie in Nordamerika. In: Die Gartenlaube 9 (1861), S. 139 – 141. [Th. O.]: Auswanderung. In: Die Gartenlaube 22 (1864), S. 350 – 351. Andree, Karl Theodor: Vorwort. In: Globus 2 (1862), S. III-IV. Brugsch, Heinrich: Die Anfänge des Weltverkehrs. In: Die Vossische Zeitung vom 29. Januar 1893 Diezmann, August: Aus der Fremde. Die letzten Menschenfresser. In: Die Gartenlaube 1 (1862), S. 11 – 12. Ebers, Georg: Der Canal von Suez. In: Nordische Revue 2 (1864), S. 1 – 17. Falkenhorst, C.: Aus dem Reiche Ermin Paschas. Ein zeitgeschichtlicher Rückblick von C. Falkenhorst. In: Die Gartenlaube 20 (1888), S. 616 – 620. Gerstäcker, Friedrich: Deutsche Colonisation in Brasilien. In: Die Gartenlaube 29 (1862), S. 454 – 456. Gerstäcker, Friedrich: Civilisation und Wildniß. In: Die Gartenlaube 17 (1855), S. 224 – 225.
Sekundärliteratur
293
Glagau, Otto: Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. Berlin wird Weltstadt. In: Die Gartenlaube 8 (1875), S. 525. Hofmann, Friedrich: Hinaus in die Ferne. In: Die Gartenlaube 33 (1878), S. 552. Loewenberg, J.: Holland in Noth. In: Die Gartenlaube 8 (1874), S. 136 – 138. Pfeiffer, Ida: Ein Brief von Ida Pfeiffer aus Californien. In: Die Gartenlaube 1 (1854), S. 12. Schweinfurth, Georg: Völkerskizzen aus dem Gebiete des Bahr el Ghasal. In: Globus 23 (1873), S. 1 – 6.
Sekundärliteratur Ajouri, Philip: Wissenschaftsgeschichte. In: Dirk Göttsche u. a. (Hgg.): Raabe Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 310 – 315. Albrecht, Yvonne: Gefühle im Prozess der Migration. Transkulturelle Narrationen zwischen Zugehörigkeit und Distanzierung. Wiesbaden: Springer 2017. Altnöder, Sonja; Martin Lüthe und Marcel Vejmelka: Anders. Identitäts- und Alteritätsdiskurse in den Kulturwissenschaften. In: dies. (Hgg.): Identität in den Kulturwissenschaften. Perspektiven und Fallstudien zu Identitäts- und Alteritätsdiskursen. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2011, S. 1 – 20. Amann, Wilhelm; Georg Mein und Rolf Parr: Gegenwartsliteratur und Globalisierung. Vorüberlegungen zu einem komplexen Beziehungsverhältnis. In: dies. (Hgg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Synchron: Heidelberg 2010, S. 7 – 14. Appadurai, Arjun: Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 11 – 40. Appadurai, Arjun: The Production of locality. In: Richard Fardon (Hg.): Counterworks. Managing the Diversity of Knowledge. London, New York: Routledge 1995, S. 204 – 225. Arendt, Dieter: Raabe und der romantische Schlachtruf. Krieg den Philistern! In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 22 (1981), S. 55 – 84. Arnds, Peter: The Boy with the Old Face. Thomas Hardy’s Antibildungsroman Jude the Obscure and Wilhelm Raabe’s Bildungsroman Prinzessin Fisch. In: Gerald R. Kleinfeld (Hg.): German Studies Review XXI, 2 (1998), S. 221 – 204. Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München: Carl Hanser 2013. Auberlen, Eckhard: New Historicism. In: Ralf Schneider (Hg.): Literaturwissenschaft in Theorie und Praxis. Tübingen: Gunter Narr 2004, S. 83 – 115. Bachmann, Doris: Die „Dritte Welt“ der Literatur –„Abu Telfan“. Eine ethnologische Methodenkritik literaturwissenschaftlichen Interpretierens, am Beispiel von Raabes Roman Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge. In: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 45 (1979), S. 27 – 71. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg: Rowohlt 2009 [2006]. Bachmann-Medick, Doris: Einleitung. In: dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt/M: Fischer 1998, S. 7 – 64. Bachtin, Michail M.: Chronotopos (Übersetzt von Michael Dewey). Berlin: Suhrkamp 2008.
294
Literaturverzeichnis
Bänsch, Dorothea: Die Bibliothek Wilhelm Raabes. Nach Sachgebieten geordnet. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 11 (1970), S. 87 – 165. Baßler, Moritz: Fabian und Sebastian. In: Dirk Göttsche u. a. (Hgg.): Raabe Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 196 – 198. Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen: Francke 2005. Baßler, Moritz: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hgg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2003, S. 132 – 155. Baßler, Moritz: Einleitung. In: ders. (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen, Basel: Francke 2001 [1995], S. 7 – 28. Bastian, Andrea: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen: Niemeyer 1995. Bausinger, Hermann: Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte. In: Will Cremer und Ansgar Klein (Hgg.): Heimat. Analysen, Themen, Perpektiven. Bielefeld: Westfalen Verlag 1990, S. 76 – 90. Beck, Ulrich: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung. Frankfurt/M: Suhrkamp 1997. Becker, Sabina: Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Methoden und Theorien. Reinbek: Rowohlts 2007. Berbig, Roland und Dirk Göttsche: Einleitung. In: dies. (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin: De Gruyter 2013, S. 1 – 11. Berbig, Roland: Theodor Fontane Chronik. Bd. 4: 1884 – 1895. Berlin, New-York: De Gruyter 2010. Berking, Helmuth: Raumtheoretische Paradoxien im Globalisierungsdiskurs. In: ders. (Hg.): Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen. Frankfurt/M: Campus 2006, S. 7 – 22. Bertschik, Julia: Poesie der Warenwelten. Erzählte Ökonomie bei Stifter, Freytag und Raabe. In: Dirk Göttsche und Ulf-Michael Schneider (Hgg.): Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 52 (2011), S. 39 – 54. Bessière, Jean: Interaction littéraire, pensée contemporaine de la littérature, globalisation. En passant par Daniele del Guidice. In: Manfred Schmeling u.a. (Hgg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 125 – 146. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur (Übersetzt von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl). Tübingen: Stauffenburg 2000. Birk, Hanne und Birgit Neumann: Go-Between. Postkoloniale Erzähltheorie. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hgg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT 2002, S. 115 – 152. Blaschke, Bernd: Die Weltkugel als Reise- und Reflexionsraum bei Matthias Politycki. Globalisierung als Erfahrung und als poetische Herausforderung. In: Wilhelm Amann u. a. (Hgg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Heidelberg: Synchron 2010, S. 91 – 108. Boerner, Peter: Utopia in der Neuen Welt. Von europäischen Träumen zum American Dream. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien. Zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 2. Stuttgart: J.B. Metzler 1982. 358 – 371. Boerner, Peter: Amerikabilder der europäischen Literatur. Wunsch und Kritik. In: Martin Christadler u. a. (Hgg.): Amerikastudien 23, 1. Stuttgart: J.B. Metzlersche 1978, S. 40 – 50.
Sekundärliteratur
295
Boerner, Peter: Das Bild vom anderen Land als Gegenstand literarischer Forschung. In: Alexander Ritter (Hg.): Deutschlands literarisches Amerikabild. Neuere Forschungen zur Amerikarezeption der deutschen Literatur. Hildesheim, New York: Georg Olms 1977, S. 28 – 37. Bogdal, Klaus-Michael: Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999. Böhme, Hartmut: Einleitung. Raum – Bewegung – Topographie. In: ders. (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. IX-XXIII. Borscheid, Peter: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt/M, New York: Campus 2004. Braun, Andreas: Tempo, Tempo! Eine Kunst- und Kulturgeschichte der Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M: Anabas-Verlag 2001. Brenner, Peter J.: Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen: Niemeyer 1998. Brenner, Peter J.: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reiseund Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1991. Brenner, Peter J.: Die Einheit der Welt – Raabes Abu Telfan. In: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 30 (1989). Tübingen: Niemeyer, S. 45 – 62. Breyer, Till u. a.: Einleitung. In: dies. (Hgg.): Monster und Kapitalismus. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 (2017), S. 9 – 14. Bronfen, Elisabeth & Benjamin Marius: Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo- amerikanischen Multikulturalismusdebatte. In: Therese Steffen und dies. (Hgg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte (Übersetzt von Anne Emmert und Josef Raab). Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 1 – 29. Burtscher-Bechter, Beate: Diskursanalytisch-kontextuelle Theorien. In: Martin Sexl (Hg.): Einführung in die Literaturtheorie. Wien: Facultas 2004, S. 257 – 288. Busch, Hans-Joachim: Heimat als ein Resultat von Sozialisation – Versuch einer nichtideologischen Bestimmung. In: Wilfried Belschner u.a. (Hgg.): Wem gehört die Heimat? Beiträge der politischen Psychologie zu einem umstrittenen Phänomen. Opladen: Leske + Budrich 1995, S. 81 – 86. Byram, Katra: Colonialism and the Language of German-German Relations in Raabe’s „Stopfkuchen“. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, International Perspectives. London: Legenda 2009. 61 – 73. Cassirer, Ernst und Claus Rosenkranz: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Hamburg: Meiner 2010. Chartier, Roger: Kulturgeschichte zwischen Repräsentationen und Praktiken. In: Silvia Serena Tschopp (Hg.): Kulturgeschichte. Stuttgart: Steiner 2008, S. 96 – 119. Combe, Arno und Ulrich Gebhard: Sinn und Erfahrung. Zum Verständnis fachlicher Lernprozesse in der Schule. Opladen: Budrich 2007. Conrad, Sebastian: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich. München: C.H. Beck 2006. Corkhill, Alan: Konstruktionen des Glücks bei Raabe. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 52 (2011), S. 71 – 85.
296
Literaturverzeichnis
Csẚky, Moritz: Migration und Kultur. Urbane Milieus in der Moderne. In: Gertraud MarinelliKönig und Alexander Preisinger (Hgg.): Zwischenräume der Migration. Über die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten. Bielefeld: transcript 2011, S. 115 – 140. Doerry, Martin: Übergangsmenchen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreiches. München u. a.: Juventa 1986. Drechsel, Paul; Bettina Schmidt und Bernhard Gölz: Kultur im Zeitalter der Globalisierung. Von Identität zu Differenzen. Frankfurt/M, London: IKO 2000. Dubiel, Jochen: Dialektik der postkolonialen Hybridität. Die interkulturelle Überwindung des kolonialen Blicks in der Literatur. Bielefeld: Aisthesis 2007. Dunker, Axel: First Contact and Deja Vu. The Return of Agostin Agonista in Raabe’s Zum Wilden Mann. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes. International Perspectives. London: Legenda 2009, S. 52 – 60. Dürbeck, Gabriele: postkoloniale Studien in der Germanistik. Gegenstände, Positionen, Perspektiven. In: Axel Dunker und dies. (Hgg.): postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld: Aisthesis 2014, S. 19 – 70. Eichendorff, Joseph v.: Erlebtes. In: Joseph Eichendorff. Werke und Schriften. Bd. 2. Stuttgart: J.G. Cotta’sche 1957 [1866]. Erl, Astrid: kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2008, S. 156 – 179. Estermann, Alfred: Bibliographien – Programme. München u. a.: Saur 1988. Ette, Ottmar und Uwe Wirth: Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorie – Einleitung. In: dies. (Hgg.): Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorie. Berlin: Walter Frey 2014, S. 7 – 12. Faust, Albert B.: Das Deutschtum in den Vereinigten Staaten. In seiner Bedeutung für die amerikanische Kultur. Wiesbaden: Springer 1912. Fechner-Smarsly, Thomas: Clifford Geertz′ „Dichte Beschreibung“ – ein Modell für die Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft? In: Jürg Glauser und Annegret Heitmann (Hgg.): Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 81 – 101. Fischer, Martin: Von der Arbeitserfahrung zum Arbeitsprozesswissen. Rechnergestützte Facharbeiten im Kontext beruflichen Lernens. Wiesbaden: Springer 2000. Fludernik, Monika: Der „Edle Wilde“ als Kehrseite des Kulturprogressivismus. In: Peter Haslinger und dies. (Hgg.): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos. Würzburg: Ergon 2002. 157 – 176. Forster, Felix: Dante Gabriel Rossetti und der romantische Desillusionismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens (Übersetzt von Ulrich Köppen). Frankfurt/M: Suhrkamp 1981. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. (Übersetzt von Walter Seitter). München: Carl Hanser 1974. Frank, Manfred: Zum Diskursbegriff bei Foucault. In: Jürgen Fohrmann und Harro Müller (Hgg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt/M: Suhrkamp 1988, S. 25 – 44. Frie, Ewald: Das Deutsche Kaiserreich. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 2004
Sekundärliteratur
297
Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (Übersetzt von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann). Frankfurt/M: Suhrkamp 1987. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches (Übersetzt von Dieter Hornig). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001. Geppert, Hans Wilmar: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1994. Giddens, Anthony: Modernity and Self-Identity. Standford, California: Standford University Press 1991. Giddens, Anthony: The Consequences of Modernity. Cambridge: Polity Press 1990. Gisi, Lucas M.: Barbaren, Kinder und Idioten. Von Wilhelm Raabes „Abu Telfan“ und „Altershausen“ zu Robert Walsers ‚Jakob von Gunten‘“. In: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 55 (2014), S. 103 – 125. Görz, Günther: Alexander unterwegs in Ebstorf und anderswo. Ein Versuch zu kognitiven Karten, ihrer epistemologischen Rekonstruktion und logischen Implementierung. In: Sonja Glauch u. a. (Hgg.): Projektionen – Reflexionen – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Berlin, Boston: De Gruyter 2011, S. 347 – 368. Göttsche, Dirk und Florian Krobb: Introduction. In: dies. (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, International Perspectives. London: Legenda 2009, S. 1 – 12. Göttsche, Dirk; Florian Krobb und Rolf Parr: Wissenschaftliche Rezeption. In dies. (Hgg.): Raabe Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2016. S. 40 – 51. Göttsche, Dirk: Raabes Realismusverständnis. In: ders. u. a. (Hgg.): Raabe Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 16 – 21. Göttsche, Dirk: Raabe in postkolonialer Sicht. In: ders. u. a. (Hgg.): Raabe Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 293 – 298. Göttsche, Dirk: „Tom Jensen war in Indien“. Die Verknüpfung europäischer und außereuropäischer Welten in der Literatur. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin: De Gruyter 2013, S. 17 – 52. Göttsche, Dirk: „Pionier im alten abgebrauchten Europa“. Modernization and Colonialism in Raabe’s Prinzessin Fisch. In: Dirk Göttsche u.a. (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes. International Perspectives. London: Legenda 2009. 38 – 51. Göttsche, Dirk: Raabes Erzählungen und Romane. In: Christian Begemann (Hg.): Realismus. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 121 – 138. Göttsche, Dirk: Der koloniale „Zusammenhang der Dinge“ in der deutschen Provinz. Wilhelm Raabe in postkolonialer Sicht. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 46 (2005), S. 53 – 73. Göttsche, Dirk: Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexionen und Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink 2001. Göttsche, Dirk: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. Götze, Lutz: Zeit-Räume – Raum-Zeiten. Gedanken über Raum und Zeit in den Kulturen. Frankfurt/M: Peter Lang 2011. Grabes, Herbert; Ansgar Nünning und Sibylle Baumbach: Metaphors as a Way of Worldmaking, or: Where Metaphors and Culture Meet. In: dies. (Hgg.): Metaphors Shaping Culture and Theory. Tübingen: Narr 2009, S. xi-xxv.
298
Literaturverzeichnis
Greenblatt, Stephen: Kultur (Übersetzt von Moritz Baßler). In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen, Basel: Francke 2001 [1995], S. 48 – 59. Greenblatt, Stephen: Shakespearean Negociations. Oxford u. a.: Oxford University Press 1988. Gretz, Daniela: Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge. In: Dirk Göttsche u. a. (Hgg.): Raabe Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 125 – 130. Hahn, Hans Joachim: Nester an der Eisenbahn. Nation, Welt und Bewegung bei Raabe und Auerbach. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin: De Gruyter 2013, S. 79 – 97. Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument 2012 [1994]. Hall, Stuart: Kulturelle Identität und Globalisierung. In: Karl H. Hörning & Rainer Winter (Hgg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt/M: Suhrkamp 1999, S. 393 – 441. Hallet, Wolfgang und Birgit Neumann: Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung. In: dies. (Hgg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld: transcript 2009, S. 11 – 32. Hamann, Christof: Schwarze Gesichter im deutschen Mondschein. Zum Konzept des Barbarischen in Wilhelm Raabes Abu Telfan. In: Michael Hofmann und Rita Morrien (Hgg.): Deutsch-afrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart: literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Amsterdam, New York: Rodopi 2012, S. 53 – 70. Hamann, Christof: Von der Familie zur Kolonialmacht. Die USA und Deutschland in Familienzeitschriften vor der Reichsgründung. In: ders. u. a. (Hgg.): Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung. Bielefeld: transcript 2009, S. 83 – 103. Hamann, Christof: Bildungsreisende und Gespenster. Wilhelm Raabes Migranten. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur IX, 06 (2006), S. 7 – 18. Hamann, Christof; Ute Gerhard und Walter Grünzweig: Einleitung. In: dies. (Hgg.): Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung. Bielefeld: transcript 2009, S. 9 – 18. Han, Byung-Chul: Die Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens. Bielefeld: transcript 2014. Han, Petrus: Soziologie der Migration. Erklärungsmodelle. Fakten. Politische Konsequenzen. Perspektiven. Stuttgart: Lucius & Lucius. 2005 Hansen, Klaus P.: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen: Francke 2011 [1995]. Hanson, W.: Florinchen and „die dicke Dame“–The Function of Female Figures in Raabe’s Prinzessin Fisch. In: G.P.G. Butler u. a. (Hgg.): German Life & Letters XLIV (1990 – 1991). Oxford u. a.: Blackwell 1991, S. 306 – 316. Harvey, David: The conditions of postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change. Cambridge, Massachusetts: Blackwell 1992. Harzig, Christiane: Lebensformen im Einwanderungsprozeß. In: Klaus J. Bade (Hg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck 1992, S. 157 – 170.
Sekundärliteratur
299
Heldt, Uwe: Isolation und Identität. Die Bedeutung des Idyllischen in der Epik Wilhelm Raabes. Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang 1980. Henkel, Gabriele: Studien zur Privatbibliothek Wilhelm Raabes. Vom „wirklichen Autor“, von Zeitgenossen und „ächten Dichtern“. Braunschweig: Stadt Bibliothek 1997. Heßler, Matina: Kulturgeschichte der Technik. Frankfurt/M, New York: Campus 2012. Hinz, Andreas: Zeit als Bildungsaufgabe in theologischer Perspektive. Münster: Lit 2003. Hotz, Karl: Bedeutung und Funktion des Raumes im Werk Wilhelm Raabes. Göppingen: Alfred Kümmerle 1970. Huber, Andreas: Heimat in der Postmoderne. Zürich: Seismo 1999. Hums, Lothar: Entwicklungstendenzen der deutschen Eisenbahn-Fachsprache in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Rudolf Hoberg u.a. (Hgg.): Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache. Wiesbaden: Gesellschaft für deutsche Sprache 1993, S. 131 – 142. Jantz, Harold: The Myths About Amerika. Origins and Extensions. In: Alexander Ritter (Hg.): Deutschlands literarisches Amerikabild. Neuere Forschungen zur Amerikarezeption der deutschen Literatur. Hildesheim, New York: Georg Olms 1977, S. 37 – 49. Jolles, Charlotte: Weltstadt – Verlorene Nachbarschaft. Berlin-Bilder Raabes und Fontanes. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 29 (1988), S. 52 – 75. Joost, Ulrich: Das „Buch der Schöpfung“. Im „Zusammenhang der Wissenschaften“. Zum motivgeschichtlichen Hintersinn des gelehrten Buchbinders Baumann-Bruseberger in Wilhelm Raabes „Prinzessin Fisch“. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 21 (1980), S. 69 – 96. Jullien, François: Es gibt keine kulturelle Identität. Berlin: Suhrkamp 2017. Kaes, Anton: New Historicism. Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen, Basel: Francke 2001 [1995], 251 – 267. Kantert, Meggy: Als Gott die Welt erschuf, gab er den Afrikanern die Zeit und den Europäern eine Uhr. In: Daniela Eberhardt (Hg.): Unternehmenskultur aktiv gestalten. Praxisfälle aus Wirtschaft, öffentlichem Dienst, Kultur & Sport. Berlin, Heidelberg: Springer 2013, S. 187 – 198. Kindermann, Manfred: Subjektkonstitution als Entfremdung. Implizites psychologisches Wissen in Raabes Roman die „Akten des Vogelsangs“. In: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 41 (2000). Tübingen: Niemeyer, S. 102 – 121. Klawitter, Arne & Michael Ostheimer: Literaturtheorie – Ansätze und Anwendungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. Kleiner, Marcus S. und Hermann Strasser: Einleitung. In: dies. (Hgg.): Globalisierungswelten. Kultur und Gesellschaft in einer entfesselten Welt. Köln: Herbert von Halem 2003, S. 9 – 32. Kocka, Jürgen: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta 2014. Kohns, Oliver: Handkes Globalität. In: Wilhelm Amann u. a. (Hgg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Synchron: Heidelberg 2010. 179 – 192. Koll, Rolf-Dieter: Raumgestaltungen bei Wilhelm Raabe. Bonn: Bouvier 1977. Köppe, Tilmann und Simone Winko: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2013.
300
Literaturverzeichnis
Korte, Barbara: Erfahrungsgeschichte und die „Quelle“ Literatur. Zur Relevanz genretheoretischer Reflexion am Beispiel der britischen Literatur des Ersten Weltkrieges. In: Jan Kusber u. a. (Hgg.): Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven. Bielefeld: transcript 2010, S. 143 – 159. Kramer, Caroline: Zeit für Mobilität. Räumliche Disparitäten der individuellen Zeitverwendung für Mobilität in Deutschland. Stuttgart: Franz Steiner 2005. Kramer, Kirsten: Globalität und Weltbezug in der französischen Kulturanthropologie und der spanischen Erzählliteratur der Gegenwart. In: Christian Moser und Linda Simonis (Hgg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 105 – 127. Krebs, Sandra: Identitätskonstitution in Wilhelm Raabes Ich-Romanen. Ich-Spiegelungen und Erzählprozeß. Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2009. Krobb, Florian: „An dem glühenden Ofen Afrika’s, da ist mein Plätzchen“. Eduard Vogel und die Wege ins Innere. In: Herbert Uerlings und Iulia-Karin Patrut (Hgg.): Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 181 – 206. Krobb, Florian: „kurios anders“. Dekadenzmotive in Wilhelm Raabes „Die Akten des Vogelsangs“. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 51 (2010), S. 107 – 123. Krobb, Florian: Erkundungen im Überseeischen. Wilhelm Raabe und die Füllung der Welt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. Krobb, Florian: Watching the World Shrink and Grow. Globalism in the Works of Wilhelm Raabe. In: Dirk Göttsche und ders. (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, International Perspectives. London: Legenda 2009, S. 13 – 24. Krüger, Lorenz: Der Begriff des Empirismus. Erkenntnistheoretische Studien am Beispiel John Lockes. Berlin, New York: De Gruyter 1973. Lamping, Dieter: Die Welt der Weltliteratur. Denotationen und Konnotationen eines suggestiven Begriffs. In: Christian Moser und Linda Simonis (Hgg.). Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 169 – 179. Lange, Carsten: Architekturen der Psyche. Raumdarstellung in der Literatur der Romantik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. Le Goff, Jacques: Eine mehrdeutige Geschichte. In: Ulrich Raulff (Hg.): MentalitätenGeschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. Berlin: Klaus Wagenbach 1987, S. 18 – 32. Lehnert, Gertrud: Kulturwissenschaft als Gespräch mit den Toten? Der New Historicism. In: Iris Därmann und Christoph Jamme (Hgg.): Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren. München: Wilhelm Fink 2007, S. 105 – 118. Leise, Nina: Fictions of Time. Zeitvorstellungen, -erfahrungen und -reflexionen in englischen und amerikanischen Romanen der Gegenwart. Trier: WVT 2017. Lepsius, M. Rainer: Das Bildungsbürgertum. Ständische Vergesellschaftung. In: ders. (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil III: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung. Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. 9 – 18. Link, Jürgen: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Jürgen Fohrmann und Harro Müller (Hgg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt/M: Suhrkamp 1988, S. 284 – 306. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte (Übersetzt von Rolf D. Keil). München: Wilhelm Fink 1972.
Sekundärliteratur
301
Lubrich, Oliver: Das Schwinden der Differenz. Postkoloniale Poetiken. Alexander von Humboldt, Bram Stoker, Ernst Jünger, Jean Genet. Bielefeld: Aisthesis 2004. Lutetia, Ludwig Börne: Heinrich Heine. Werke und Briefe. Bd. 6: Über die französische Bühne. Berlin, Weimar: Aufbau 1972. Manthey, Jürgen: Wilhelm Raabe und das Scheitern des deutschen Liberalismus. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 17 (1976), S. 69 – 106. Margue, Michel: Lieux de mémoire au Luxembourg, Lieux de mémoire en Europe. In: Benoit Majeurs u. a. (Hgg.): Depasser le cadre national des „Lieux de mémoire“. Innovations méthodologiques, approches comparatives, lectures transnationales. Bruxelles: Peter Lang 2009, S. 9 – 22. Marschalck, Peter: Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur soziologischen Theorie der Bevölkerung. Stuttgart: Ernst Klett 1973. Marschall, Wolfgang: Zeitkonflikte in multikultureller Konfrontation. In: Peter Rusterholz und Rupert Moster (Hgg.): Zeit. Zeitverständnis in Wissenschaft und Lebenswelt. Bern u.a: Peter Lang 1997, S. 161 – 175. Martin, Peter: Schwarze Teufel, edle Mohren. Hamburg: Junius 2000. Martini, Fritz: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer. Amerikaspiegelungen im Erzählwerk von Keller, Raabe und Fontane. In: Bauschinger u.a (Hgg.): Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt – Nordamerika – USA. Stuttgart: Reclam 1975, S. 178 – 205. Martini, Fritz: Wilhelm Raabes „Prinzessin Fisch“. Wirklichkeit und Dichtung im erzählenden Realismus des 19. Jahrhunderts. In: Hermann Helmers (Hg.): Raabe in neuer Sicht. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1968, S. 145 – 172. Mbiti, S. John: Afrikanische Religion und Weltanschauung. Berlin, New-york: De Gruyter 1974. Mecheril, Paul: Hybridität, kulturelle Differenz und Zugehörigkeiten als pädagogische Herausforderung. In: Gertraud Marinelli-König und Alexander Preisinger (Hgg.): Zwischenräume der Migration. Über die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten. Bielefeld: transcript 2011, S. 37 – 53. Medick, H.: „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte. In: A. Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebenswelten. Frankfurt/M, New York: Campus 1989 Meter, Helmut: Kosmopolitismus und Schematismus in der zeitgenössischen Erzählliteratur Italiens. In: Manfred Schmeling u. a. (Hgg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 271 – 284. Meyer, Herman: Raum und Zeit in Wilhelm Raabes Erzählkunst. In: Hermann Helmers (Hg.): Raabe in neuer Sicht. Stuttgart u. a.: W. Kohlhammer 1968, S. 98 – 129. Middeke, Martin: Die Kunst der gelebten Zeit. Zur Phänomenologie literarischer Subjektivität im englischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. Mikoletzky, Juliane: Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur. Tübingen: Niemeyer 1988. Mohnkern, Ansgar: „Die Nachbarschaft!“ – Über Raabes Soziologie des Häuslichen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 58 (2017), S. 37 – 55. Moltmann, Günter: Charakteristische Züge der deutschen Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert. In: Frank Trommler (Hg.): Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte. Opladen: Westdeutscher Verlag 1986, S. 40 – 49.
302
Literaturverzeichnis
Montrose, Louis A.: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt/M: Fischer 2001 [1995], S. 60 – 93. Morgenroth, Olaf: Zeit und Handeln. Psychologie der Zeitbewältigung. Stuttgart: Kohlhammer 2008. Moser, Christian und Linda Simonis: Einleitung: Das globale Imaginäre. In: dies. (Hgg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 11 – 22. Müller, Christian: Subjektkonstituierung in einer kontingenten Welt. Erfahrungen zweier AfrikaHeimkehrer – Gottfried Kellers „Pankraz, der Schmoller“ und Wilhelm Raabes „Abu Telfan“. In. Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 43 (2002), S. 83 – 110. Neumann, Birgit: Imaginative Geographien in kolonialer und postkolonialer Literatur. Raumkonzepte der (Post‐)Kolonialismusforschung. In: Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (Hgg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld: transcript 2009, S. 115 – 138. Neumann, Michael und Kerstin Stüssel: Einführung: „The Ethnographer‘s Magic“. Realismus zwischen Weltverkehr und Schwellenkunde. In: dies. (Hgg.): Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Konstanz: Konstanz University Press 2011, S. 9 – 25. Nitsch, Wolfram: Topographien. Zur Ausgestaltung literarischer Räume. In: Jörg Dünne und Andreas Mahler (Hgg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin u. a.: De Gruyter 2015, S. 30 – 40. Nohr, Rolf: Die Natürlichkeit des Spielens. Vom Verschwinden des Gemachten und Computerspiels. Münster: Lit 2008. Norddeutscher Lloyd Bremen: Die Entwickelung des Norddeutschen Lloyd Bremen. Bremen: Maritimepress 2013. Nünning, Ansgar: Vorwort. In: Sünne Juterczenka und Kai Marcel Sicks (Hgg.): Figurationen der Heimkehr. Die Passage vom Fremden zum Eigenen in Geschichte und Literatur der Neuzeit. Göttingen: Wallstein 2011, S. 7 – 9. Nünning, Ansgar: Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellungen. Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven. In: Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (Hgg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld: transcript 2009, S. 33 – 52. Onwuatudo, Elias: Entwürfe einer humanen Entwicklung in Wilhelm Raabes Stuttgarter Romanen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 33 (1992), S. 95 – 108. Oschmann, Dirk: Wo soll man am Ende leben. Zur Verschränkung von Raum- und Zeitsemantik in Raabes „Stopfkuchen“ und Fontanes „Stechlin“. In: Roland Berbig & Dirk Göttsche (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin: De Gruyter 2013, S. 213 – 236. Oster, Angela: Globalität und Globus. Technikfaszination und Kunsthandwerk der Globographie in der Frühen Neuzeit. In: Christian Moser und Linda Simonis (Hgg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 535 – 554. Osterhammel, Jürgen und Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen. München: C.H. Beck. 2003
Sekundärliteratur
303
Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: C.H Beck 2009. Osterhammel, Jürgen: Die europäische Übergangsgesellschaft im globalen Zusammenhang. In: Ute Schneider (Hg.): Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper. Frankfurt/ M. u. a.: Peter Lang 2008. 707 – 723. Parr, Rolf: Zum wilden Mann. In: Dirk Göttsche u. a. (Hgg.): Raabe Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 149 – 157. Parr, Rolf: Die Fremde als Heimat. Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen. Konstanz: Konstanz University Press 2014. Parr, Rolf: Die nahen und die fernen Räume. Überlagerungen von Raum und Zeit bei Theodor Fontane und Wilhelm Raabe. In: Roland Berbig & Dirk Göttsche (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin: De Gruyter 2013, S. 53 – 76. Parr, Rolf: Raabes Effekte des Realen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 52 (2011), S. 22 – 38. Parr, Rolf: Der „Onkel aus Amerika“. Import von Amerikawissen oder Re-Import alter Stereotype? In: Christof Hamann u.a. (Hgg.): Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung. Bielefeld: transcript 2009, S. 21 – 38. Pascal, Roy: Die Erinnerungstechnik bei Raabe. In: Hermann Helmers (Hg.). Raabe in neuer Sicht. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1968, S. 130 – 144. Patrut, Iulia-Karin: Binneneuropäischer Kolonialismus als deutscher Selbstentwurf im 18. Und 19. Jahrhundert. In: Gabriele Dürbeck und Axel Dunker (Hgg.): postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld: Aisthesis 2014, S. 223 – 270. Pieterse, Jan N.: Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 87 – 120. Pizer, John: Raabe and Dutch Colonialism. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, International Perspectives. London: Legenda 2009, S. 74 – 86. Polko, Elise: Erinnerungen an einen Verschollenen. Aufzeichnungen und Briefe von und über Eduard Vogel. Gesammelt von seiner Schwester Elise Polko. Leipzig: Weber 1863. Pyta, Wolfram; Nils Havemann und Jutta Braun: Porsche. Vom Konstruktionsbüro zur Weltmarke. München: Siedler 2017. Ramponi, Patrick: Orte des Globalen. Zur Poetik der Globalisierung in der Literatur des deutschsprachigen Realismus (Freytag, Raabe, Fontane). In: Ulrich Kittstein und Stefani Kugler (Hgg.): Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 17 – 60. Reheis, Fritz: Entschleunigung. Abschied von Turbokapitalismus. München: Riemann 2003. Reichardt, Ulfried: Globalisierung. Literaturen und Kulturen des Globalen. Berlin: Akademie 2010. Reichardt, Ulfried: Globalisierung, Mondialisierungen, und die Poetik des Globalen. In: ders. (Hg.): Die Vermessung der Globalisierung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008, S. 1 – 47. Reidel-Schrewe, Ursula: Die Raumstruktur des narrativen Textes. Thomas Mann, „Der Zauberberg“. Würzburg: Königshausen & Neumann 1992.
304
Literaturverzeichnis
Ritter, Alexander: Einmal Deutscher „Steinhof“ – „Wisconsin“ hin und zurück. Die „Schulmeisteri“‘ USA und „Old German-Text-writing“ als patriotische Selbstfindung in Wilhelm Raabes Alte Nester. In: Christof Hamann u. a. (Hgg.): Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung. Bielefeld: transcript 2009, S. 171 – 189. Robertson, Roland: Globalization. Social Theory and Global Culture. London u.a: SAGE 1992. Röd, Wolfgang: Erfahrung und Reflexion. Theorien der Erfahrung in transzendentalphilosophischer Sicht. München: C.H. Beck 1991. Rogge, Jörg: Historische Kulturwissenschaften. Eine Zusammenfassung der Beiträge und konzeptionelle Überlegungen. In: Jan Kusber u. a. (Hgg.): Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven. Bielefeld: trancript 2010, S. 351 – 384. Rosa, Hartmut: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Berlin: Suhrkamp 2012. Rosa, Hartmut: Dynamisierung und Erstarrung in der modernen Gesellschaft – Das Beschleunigungsphänomen. In: Jochen Oehler (Hg.): Der Mensch – Evolution, Natur und Kultur. Berlin u. a.: Springer 2010, S. 285 – 302. Rosenberg, Emily S. (Hg.): Geschichte der Welt. 1870 – 1945: Weltmärkte und Weltkriege. München: C.H. Beck 2012. Rößler, Horst: Massenexodus. die Neue Welt des 19. Jahrhunderts. In: Klaus J. Bade (Hg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck 1992, S. 148 – 157. Roth, Ralf: Das Jahrhundert der Eisenbahn. Die Herrschaft über Raum und Zeit 1800 – 1914. Ostfildern: Jan Thorbecke 2005. Said, Edward: Orientalism. New-York: Vintage 1979. Sammons, Jeffrey L.: Die Darstellung Amerikas unbesehen Vergleichende Betrachtungen zu Spielhagen, Raabe und Fontane. In: Christof Hamann u. a. (Hgg.): Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung. Bielefeld: transcript 2009, S. 153 – 170. Sammons, Jeffrey L.: Representing America Sight Unseen. Comparative Observations on Spielhagen, Raabe and Fontane. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, International Perspectives. London: Legenda 2009, S. 87 – 99. Sammons, Jeffrey L.: Wilhelm Raabe: The Fiction of the Alternative Community. Princeton: Princeton University Press 1987. Sassen, Saskie: The Global City. Introducing a concept. In: The Brown Journal of World Affairs. XI, 2. Winter/Spring 2005, S. 1 – 18. Schäffter, Ortfried: Vorwort. In: ders. (Hg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 7 – 8. Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Wien: Ullstein 1979. Schmeling, Manfred; Monika Schmitz-Emans und Kerst Walstra: Vorwort. In: dies. (Hgg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 5 –21. Schmidt, Michael: Nichts als Vettern? Anspielungsstrukturen in Wilhelm Raabes Erzählung „Zum wilden Mann“. In: Josef Daum und Hans-Jürgen Schrader (Hgg.): Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft. Tübingen: Niemeyer 1992, S. 109 – 138.
Sekundärliteratur
305
Schmidt, Michael: Marginalität als Modus der ästhetischen Reflexion. Juden und „unehrliche Leute“ im Werk Wilhelm Raabes. In: Rainer Erb und ders. (Hgg.): Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Berlin: Wissenschaftlicher Autorenverlag 1987, S. 381 – 405. Schmied, Gerard: Soziale Zeit. Umfang „Geschwindigkeit“ und Evolution. Berlin: Duncker & Humblot 1985. Schmitz-Emans, Monika: Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse. In: Manfred Schmeling u. a. (Hgg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 285 – 308. Schneider, Astrid: Von unten nach oben und von oben nach unten. Raumsemantik in Wilhelm Raabes Fabian und Sebastian 1881/82. Saarbrücken: VDM 2008. Schniedewind, Karen: Fremde in der Alten Welt. Transatlantische Rückwanderung. In: Klaus J. Bade (Hg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck 1992. 179 – 185. Schonfield, Ernest: Moonstone and „Mondgebirge“. Exile and Identity in Wilhelm Raabe and Wilkie Collins. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes. International Perspectives. London: Legenda 2009, S. 138 – 148. Schöttler, Peter: Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der „dritten Ebene“. In: Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Frankfurt/M, New York: Campus 1989, S. 85 – 136. Schultz, Hartwig: Werk- und Autorintention in Raabes „Alten Nestern“ und ‚Akten des Vogelsang‘“. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 20 (1979), S. 132 – 154. Schüttpelz, Erhard: World Literature from the Perspective of longue durée. In: Christian Moser und Linda Simonis (Hgg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 141 – 156. Seier, Andrea: Überall Kultur und kein Ende. In: Hannelore Bublitz u. a. (Hgg.): Der Gesellschaftskörper. Zur Neuordnung von Kultur und Gesellschaft um 1900. Frankfurt/M: Campus 2000, S. 112 – 178. Sicks, Kai Marcel und Sünne Juterczenka: Die Schwelle der Heimkehr. Einleitung. In dies. (Hgg.): Figurationen der Heimkehr. Die Passage vom Fremden zum Eigenen in Geschichte und Literatur der Neuzeit. Göttingen: Wallstein 2011, S. 9 – 29. Siemann, Wolfram: Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849 – 1871. Frankfurt/M: Suhrkamp 1990. Simo, David: Subjektposition und Kultur im Zeitalter der Globalisierung. In: Matthias Middell und Hennes Siegriest (Hgg.): Die Verwandlung der Weltgeschichtsschreibung. Comparativ 20, 6. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010, S. 51 – 79. Simo, David: „…dem deutschen Philistertum den Kopf auf afrikanische Art zu waschen‘: Anmerkungen zu Wilhelm Raabes „Abu Telfan“. In: Leo Kreutzer und ders. (Hgg.) und Weltengarten: deutsch-afrikanisches Jahrbuch für interkulturelles Denken. H. 14. Hannover: Wehrhahn 2005, S. 95 – 112. Simon, Ralf: Raabes poetologische Wälder („Krähenfelder Geschichten“). Eine metaphorologische Analyse des Raabeschen Erzählmodells. In: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 47 (2006), S. 1 – 16. Sloterdijk, Peter: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt/M: Suhrkamp 2005.
306
Literaturverzeichnis
Sprengel, Peter: Interieur und Eigentum. Zur Soziologie bürgerlicher Subjektivität bei Wilhelm Raabe. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 9 (1974), S. 127 – 176. Standage, Tom: The Victorian Internet. The Remarquable Story of the Telegraph and the Nineteenth Century’s One-line Pioneers. New-York: Walker 1998. Stein, Peter: Zwei unterschiedliche Blicke auf Auswanderer. Raabe und Heine – Wandlungen vom Vormärz zum Nachmärz. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 51 (2010), S. 15 –28. Steinmetz, Horst: Globalisierung und Literatur(geschichte). In: Manfred Schmeling u.a. (Hgg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 189 –201. Struck, Wolfgang: See- und Mordgeschichten. Zur Konstruktion exotischer Räume in realistischen Erzähltexten. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 40 (1999), S. 60 – 70. Struve, Karen: Homi K. Bhabha. In: Dirk Göttsche u. a. (Hgg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler 2017, S. 16 – 21. Stüssel, Kerstin: Entlegene Orte, verschollene Subjekte, verdichtetes Wissen. Problematisches Erzählen zwischen Literatur und Massenmedien. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hgg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin: De Gruyter 2013, S. 237 – 255. Treue, Wilhelm: Neue Verkehrsmittel im 19. und 20. Jahrhundert. Dampf-Schiff und – Eisenbahn, Fahrrad, Automobil, Luftfahrzeuge. In: Hans Pohl (Hg.): Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft. Stuttgart: Franz Steiner 1989, S. 321 – 357. Tucker, Brian: Raabe, Westermann, and the International Imagination. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hgg.): Wilhelm Raabe: Global Themes, International Perspectives. London: Legenda 2009. 25 – 37. Ullmann, Hans Peter: Das deutsche Kaiserreich 1871 – 1918. Frankfurt/M: Suhrkamp 1995. Ullrich, Heiko: „Uit het Vaderland“. Raabes „Stopfkuchen“ und die Darstellung Südafrikas in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 58 (2017), S. 104 – 141. Vagts, Alfred: Deutsch-amerikanische Rückwanderung. Probleme – Phänomene – Statistik – Politik – Soziologie – Biographie. Heidelberg: Carl Winter 1960. van Laak, Dirk: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck 2005. Vierhaus, Rudolf: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung. In: Silvia Serena Tschopp (Hg.): Kulturgeschichte. Stuttgart: Franz Steiner 2008, S. 109 – 119. Vierhaus, Rudolf: Vergangenheit als Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. Vondung, Klaus: Einleitung. In: ders. (Hg.): Das Wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1976, S. 5 – 33. Wagner, Peter: Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität“. In: Aleida Assmann (Hg.): Identitäten. Frankfurt: Suhrkamp 1998, S. 44 – 72. Weigel, Sigrid: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München: Wilhelm Fink 2004. Wendorff, Rudolf: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewusstseins in Europa. Opladen: Westdeutscher Verlag 1985 [1980]. Wendt, Reinhard: Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500. Paderborn: Schöningh 2016 [2007].
Sekundärliteratur
307
Williams, Raymond: Innovationen. Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kultur. Frankfurt/M: Syndikat 1977. Zantop, M. Susanne: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770 – 1870). Berlin: Erich Schmidt 1999. Zeller, Christoph: Raabe in internationalen Bezügen. In: Dirk Göttsche u. a. (Hgg.). Raabe Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 21 – 27. Zeller, Christoph: Veltens Erbe. Geld und Geist in Wilhelm Raabes „Die Akten des Vogelsangs“. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 54 (2013), S. 96 – 125. Zimmerer, Jürgen: Kolonialismus und kollektive Identität. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. In: ders. (Hg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Frankfurt/M: Campus 2013, S. 9 – 38. Zweig, Stefan: Amerigo. Die Geschichte eines historischen Irrtums. Frankfurt /M: Fischer 2009.
Nachschlagewerke Brockhaus‘ Conversations-Lexikon 5 (1883), S. 859. Butzer, Günter und Joachim Jacob (Hgg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart: J.B. Metzler’sche & Carl Ernst Poeschel 2012, S. 368. Meyers Neues Konversations-Lexikon 7 (1864), S. 589. Nünning, Ansgar (Hg.): Dichte Beschreibung. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 137 – 138. Nünning, Ansgar (Hg.): Kulturelle Alterität. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 18 – 19 Nünning, Ansgar (Hg.): Literarische Zeitdarstellung u. -struktur. In: Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 820 – 821. Nünning, Ansgar (Hg.): Literarischer Raum / Literarische Raumdarstellung. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 634 – 638. Nünning, Ansgar (Hg.): Mimikry. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 528. Nünning, Ansgar (Hg.): Postkoloniale Literaturtheorie und -kritik. In: Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 615 – 617.
Internetquellen „Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung“. In: https://www.grkglobalisierung.uni-muenchen.de/dokumente/antrag_mittellang.pdf. (Zugriff am 25. 11. 2018). „Zur deutschen Einwanderung in Brasilien“. In: www.kas.de/wf/doc/10985-1442-1-30.pdf (Zugriff am 15. 06. 2017).
308
Literaturverzeichnis
Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Informationen zur politischen Bildung 2012, H. 315: Das 19. Jahrhundert (pdf). In: www.bpb.de/…/informationen-zur-politischenbildung/…/das-19-jahrhun… (Zugriff am 11. 08. 2016). Pause, Johannes: Zeitnetze, Globalisierung und postmoderne Ästhetik in Helmut Kraussers Roman UC. In: https://escholarship.org/uc/item/7dv8w8q1.pdf (Zugriff am 13. 06. 2015).
Personenregister Ajouri, Philip 57, 65 Albrecht, Yvonne 270, 273 Altnöder, Sonja 240 Amann, Wilhelm 10, 12 Appadurai, Arjun 39, 141 f., 245 Arendt, Dieter 114 Arnds, Peter 107, 156 f. Assmann, Aleida 89 ff., 92 f., 96, 115, 120 f., 125, 149, 152, 161, 237 Auberlen, Eckhard 16 Bachmann-Medick, Doris 16, 43, 239, 265 f., 276, Bachtin, Michael M. 33 Bänsch, Dorothea 59 Baßler, Moritz 16 ff., 231 Bastian, Andrea 246 Bausinger, Hermann 213 Beck, Ulrich 2, 51 Becker, Sabina 15, 17 f., 168 Berbig, Roland 6 f., 14, 36, 39, 42, 53, 75, 147 Berking, Helmuth 33 Bertschik, Julia 225 f., 234 Bessière, Jean 12 Bhabha, Homi K. 242, 260, 265, 270 f., 273 f., 276 Birk, Hanne 12 Blaschke, Bernd 11, 13, 242 Boerner, Peter 120, 174 ff., 179 f., 193, 203 Böhme, Hartmut 43 Borscheid, Peter 94 f., 106 ff., 154 Braun, Andreas 53, 94, 108, 148 Brenner, Peter J. 15, 54 f., 57, 72, 115, 137, 148, 179 f., 193 Breyer, Till 263 Bronfen, Elisabeth 15, 235, 259, 265 ff., 280 Burtscher-Bechter, Beate 15 Busch, Hans-Joachim 245, 256 f. Butzer, Günter 44 Byram, Katra 218, 258 f. Cassirer, Ernst
31
https://doi.org/10.1515/9783110743029-011
Chartier, Roger 23 Conrad, Sebastian 50, 91, 143, 147, 188, 221, 223, 225, 227 f. Corkhill, Alan 131 Csẚky, Moritz 238 Doerry, Martin 109, 114 Drechsel, Paul 241 Dubiel, Jochen 270 Dunker, Axel 67, 224 f., 270, 276 Dürbeck, Gabriele 270 Eichendorff, Joseph v. 95 Estermann, Alfred 58 Ette, Ottmar 265 Faust, Albert B. 117 Fischer, Martin 3 Fludernik, Monika 231 Forster, Felix 108 Foucault, Michel 78, 138 Frie, Ewald 118 Geertz, Clifford 88, 136 Genette, Gerard 278 Geppert, Hans Wilmar 31 Gerstäcker, Friedrich 72, 82, 222 f., 228. Giddens, Anthony 25 f., 91, 145 Gisi, Lucas M. 271, 275 f. Görz, Günther 61 Göttsche, Dirk 5 f., 34, 36, 39, 42 f., 50, 53, 57, 64 f., 70, 75, 79, 81,87, 89 f., 92 f., 97, 99 f., 109, 116 f., 124, 128, 134 f., 139, 145, 147, 168, 194, 199, 210, 216 ff., 219, 225, 231, 262, 271 – 274, 278 Götze, Lutz 88 Grabes, Herbert 86, 92, 137 f. Greenblatt, Stephen 15 ff. Gretz, Daniela 128 f., 273 Hahn, Hans Joachim 147 Hall, Stuart 28, 46, 239 – 242, 245, 265 f., 267, 278 – 281
310
Personenregister
Hallet, Wolfgang 32, 43, 77 f., 239, 243 Hamann, Christof 37, 118, 168 f., 185, 187, 191, 215, 237. Han, Byung-Chul 99 Han, Petrus 256 Hansen, Klaus P 240 Hanson, W. 104 Harvey, David 25, 91, 149 Harzig, Christiane 119, 254 f. Heldt, Uwe 185 Henkel, Gabriele 59, 65 Heßler, Martina 84, 139 f., 144, 146, 153 Hinz, Andreas 88 f., 133 Hotz, Karl 35, 43, 75 Huber, Andreas 243 Hums, Lothar 142, 152 Jantz, Harold 193 Jolles, Charlotte 47 Joost, Ulrich 104 Jullien, François 241 f. Kaes, Anton 18 f. Kantert, Meggy 132 Kindermann, Manfred 279 Klawitter, Arne 20 Kleiner, Marcus 93 Kocka, Jürgen 167, 176 Kohns, Oliver 12 f. Koll, Rolf-Dieter 35 Köppe, Tilmann 171 Kramer, Caroline 86 Kramer, Kirsten 161 Krebs, Sandra 258. Krobb, Florian 6 f., 20, 34, 39, 50, 55 ff., 64 f., 67, 70, 82, 118, 145, 169, 171, 173, 181, 188, 203, 209, 211, 213 f., 216, 218 f., 247, 249 – 252, 259 f. Krüger, Lorenz 2 Lange, Carsten 31 Le Goff, Jacques 28 f. Lehnert, Gertrud 137 Leise, Nina 86 Lepsius, M. Rainer 104 f. Link, Jürgen 138, 140,
Lotman, Jurij M. 30 ff., 44, Lubrich, Oliver 261 Manthey, Jürgen 49, 53, 103, 105, 108, 281 Marschalck, Peter 40, 167, 176, 207 Marschall, Wolfgang 91 Martin, Peter 215 Martini, Fritz 123 f., 136, 145, 148, 170, 173 f., 182, 184 Mbiti, S. John 128 Mecheril, Paul 239 Meter, Helmut 11 Meyer, Herman 28 Middeke, Martin 87, 95, 99 Mikoletzky, Juliane 173 f., 190 Mohnkern, Ansgar 145 Moltmann, Günter 157, 201 f. Morgenroth, Olaf 87 ff., 103, 110, 125 Moser, Christian 8 – 12, 23 f., 63. Müller, Christian 127, 272 ff. Neumann, Birgit 43, 77 ff., 84, 239, 242 Neumann, Michael 27, 72 Nitsch, Wolfram 44 Nohr, Rolf 61 Nünning, Ansgar 30 ff., 86, 91 f., 138, 167 f., 239, 242, 262, 271 Onwuatudo, Elias 155, 189 Oschmann, Dirk 75 f. Oster, Angela 8 Osterhammel, Jürgen 1, 25 ff., 54, 58, 68, 86, 91, 94, 96, 114 f., 135 f., 143, 157 f., 161 Parr, Rolf 10, 23, 39, 46, 53, 61, 76, 81, 169, 193 f., 218, 221, 226, 230, 263 f. Pascal, Roy 259, 281 Pause, Johannes 35 Petersson, Niels P. 1, 25 Pieterse, Jan N. 270, 283 Polko, Elise 56 Pyta, Wolfram 244 f. Ramponi, Patrick 48, 64, 70 Reheis, Fritz 107 f.
Personenregister
Reichardt, Ulfried 2, 9, 11 f., 18, 24, 27, 48 f., 120 Reidel-Schrewe, Ursula 31 Ritter, Alexander 37, 117, 121 – 124, 176, 179 ff., 190, 193 Röd, Wolfgang 3 Rogge, Jörg 28 Rosa, Hartmut 94, 100 f., 112, 125 f., 128 f., 132, 136, 147 Rosenberg, Emily 142 Rößler, Horst 175, 178 ff., 255 Roth, Ralf 40, 150
Siemann, Wolfram 90, 102 Simo, David 267, 269 Simon, Ralf 225, 261 Simonis, Linda 8 – 13, 24, 61, 63, 161 Sloterdijk, Peter 2, 48 Sprengel, Peter 110 Standage, Tom 143 Steinmetz, Horst 8, 13 Struck, Wolfgang 44, 73 f., 127, 260 Struve, Karen 274 Stüssel, Kerstin 27, 41, 72, 211 f. Tucker, Brian
Said, Edward 78 f. Sammons, Jeffrey L. 104, 118, 122, 185 Sassen, Saskie 47 ff. Schäffter, Ortfried 67 Schivelbusch, Wolfgang 95, 147, 149 Schmeling, Manfred 3, 8 – 13 Schmidt, Michael 227, 233 f. Schmied, Gerard 99 Schmitz-Emans, Monika 3, 8 ff., 12 f., 51 Schneider, Astrid 16, 38, 47, 83 ff. Schniedewind, Karen 167 Schonfield, Ernest 70, 127, 244 Schöttler, Peter 24, 90 Schultz, Hartwig 191 f. Schüttpelz, Erhard 17 Seier, Andrea 97 ff. Sicks, Kai 123, 133, 167, 238
311
210, 221 f., 229, 264
Ullmann, Hans Peter Ullrich, Heiko 73 f.
53, 121
Vagts, Alfred 169 f., 173 van Laak, Dirk 69 Wagner, Peter 237 Weigel, Sigrid 32 Wendorff, Rudolf 53 f., 96, 109 ff. 140, 149 Wendt, Reinhard 68 ff., 140 f., 157, 207 f., Williams, Raymond 18, 23, 88 Zantop, M. Susanne 223 Zeller, Christoph 65, 194, 196 Zimmerer, Jürgen 77 Zweig, Stefan 63