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German Pages 280 [274] Year 2013
Grundwerte Europas Band 3
Gleichheit Vom Wert der Nichtdiskriminierung
Herausgegeben von Clemens Sedmak
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar.
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Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73645-4 eBook (epub): 978-3-534-73646-1
Inhalt
Vorwort . .............................................................................................
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Clemens Sedmak Einleitung ...........................................................................................
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Begriffliche Grundlagen Stephan Gosepath Gleichheit: Begriffsgeschichte und aktuelle Debatten ..........................
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Gottfried Schweiger Gleichheit und soziale Gerechtigkeit ...................................................
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Mario Claudio Wintersteiger Streiflichter aus der politischen Ideenhistoriographie der Gleichheit – Egalitätsdenken vom antiken ‚Humanismus‘ bis zur ‚postmodernen‘ Demokratie . ...................................................
51
Clemens Sedmak Der Stachel der Ungleichheit . .............................................................
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Neuralgische Punkte Anne Siegetsleitner Über Gleichheit im Alter(n) – Philosophische Perspektiven ................
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Nicola Santamaria Diskussionsansätze zum Thema Behinderung: Einige Überlegungen in europäischem Kontext ................................... 111
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Inhalt
Stephanie Eldridge Gleichstellung als ein europäischer Wert mit besonderem Bezug zu sexueller Ausrichtung ................................. 141 Michaela Moser Gleichheit als Wert und Ungleichheit als Realität in Europa am Beispiel Gender ........................................... 167
Anwendungen Daniela Marielen Reitshammer Gleichheit im Lichte der europäischen Rechtsprechung ...................... 183 William J. F. Keenan Über kleine Freiheiten: Die Dualität der Bekleidungsfreiheit . ............. 203
Der Blick über den binneneuropäischen Diskurs hinaus Luis M. Sánchez Der Vorrang der „Alterität“ vor der „Gleichheit“ bei Befreiungsdiskursen von Lateinamerika ......................................... 227 Jean Scrimgeour Silky Promises, Torn Realities: Addressing the Failed Expectations of Citizens in Post-Apartheid South Africa ..................... 247
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ............................................ 279
Vorwort
Der vorliegende Band ist der dritte in der Reihe der europäischen Werte. Nach der Auseinandersetzung mit Wert und Begriff von „Solidarität“ und „Freiheit“ ist nun Gleichheit als Säule des europäischen Wertegefüges Gegenstand der interdisziplinären Annäherung. Immer wieder stoßen wir im vorliegenden Band auf neuralgische Punkte, an denen der Wert der Gleichheit bedroht ist und doch getestet werden kann und auf das Paradox, dass Gleichheit und Ungleichheit zusammengedacht werden können. Der Wert der Gleichheit entfaltet seine Strahlkraft, wenn er nicht in Form einer differenzeneinebnenden Nivellierung operationalisiert wird. Gleichheit ist wie jeder Wert angewiesen auf vertiefende und verdichtende Beispiele und Geschichten; diese dienen nicht nur der Illustration, sondern auch der Verankerung und der Vitalisierung des Begriffs, der genährt werden will, um in kulturellen Praktiken wirkmächtig werden zu können. Einige Geschichten kommen im vorliegenden Band vor, der dem Muster der interdisziplinären Annäherung und des Vergleichs über den europäischen Kontext hinaus folgt. Mein Dank gilt dem geduldigen Benjamin Landgrebe von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für die Begleitung des Projekts, Karin Berner für das gewissenhafte und zuverlässige Layout sowie Helmut Gaisbauer und Gottfried Schweiger bei der Umsetzung. Und natürlich herzlichen Dank an alle Autorinnen und Autoren! Ich wünsche dem Buch eine wohlwollende Aufnahme. Clemens Sedmak Salzburg, Frühjahr 2013
Clemens Sedmak
Einleitung
Die Ungleichheit der Menschen in ihrer Persönlichkeit bei gleichzeitiger Anerkennung der Gleichheit der Menschenwürde stellt eine der großen Herausforderungen dar, der sich das europäische Denken in seiner Werte tradition zu stellen hat(te). Anders gesagt: Wie kann beobachtbare Ungleichheit mit nicht beobachtbarer Gleichheit versöhnt werden? Oder auch: Wie kann eine fundamentale Gleichheit jenseits erfahrbarer Ungleichheit plausibel gemacht und operationalisiert werden? Es geht um die Herausforderung, Menschen in entscheidenden Hinsichten „als Gleiche“ und dennoch nicht „gleich“ zu behandeln. Wir könnten hier ein eigenartiges Paradox beobachten: Die Anerkennung der Einzigartigkeit von Menschen (damit: die Anerkennung der Ungleichheit) ist Grundlage für die Anerkennung der fundamentalen Gleichheit der Menschen. Wieder anders gesagt: Wenn wir anerkennen, dass die Einzig artigkeit von Menschen auf je gleiche Weise zustande kommt, haben wir einen Anhaltspunkt gefunden, „tiefer liegende Gleichheit“ bei Anerkennung der Differenzen zwischen Menschen und der Einzigartigkeit eines bestimmten Menschen zu identifizieren. Der rechte Umgang mit Ungleichheit wird seit den Anfängen der griechischen Philosophie als Merkmal von Gerechtigkeit gesehen. Die Idee der Gleichheit ist mit der Idee einer gemeinsamen „Conditio Humana“ in Zusammenhang zu bringen. Stoische Philosophie wie auch die Aufklärung haben hier entscheidende Impulse geleistet – der kategorische Imperativ Kants verbindet den Gedanken der Gleichheit mit einem Grundpfeiler der Moralphilosophie, der Universalisierbarkeit. Die Universalisierbarkeit gewinnt nur im Rückbezug auf Gleichheit ihre Plausibilität als Kriterium. Hier geht es vor allem um die Idee, dass Menschen etwas gemeinsam haben, das sie zu Menschen macht. In der Aufklärungstradition steht die gemeinschaftsstiftende Gleichheit von Anfang in einem bestimmten Spannungsverhältnis zu individueller Freiheit, die in der „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ von 1789 neben den Wert der Gleichheit gestellt wurde. Neben philosophischen Grundlagen des europäischen Werts der Gleichheit sollen aber auch die biblischen Wurzeln des Gleichheitsgedankens in der
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europäischen Geistesgeschichte nicht unterschätzt werden. Die Anerkennung geteilter Kreatürlichkeit, die Idee also, dass alle Menschen von Gott geschaffen wurden, schafft eine gemeinsame „Identitätsbedingung“, eine geteilte Form der Identitätszuweisung bei Menschen.1 Auch das Verhältnis zwischen Menschen und dem einen Gott, wie es in den in Europas Geschichte wirksamen Formen des Monotheismus deutlich wurde, schafft eine Form der Gleichheit vor Gott und damit auch eine Form horizontaler Gleichheit. Durch das Christentum kommen neue Impulse für die Gleichheit ins Spiel. Dies möchte ich in aller Kürze, weil im vorliegenden Band nicht geschehen, illustrieren (auch auf die Gefahr hin, den Eindruck zu erwecken, das Christentum als prioritäre Kraft in der Gleichheitsbewegung zu positionieren): Man könnte hier vier Eckpfeiler eines neuen Verständnisses von Gleichheit unterscheiden und anführen: Erstens der Hinweis auf die gleichheitsschaffende Kraft einer Glaubens- und Taufgemeinschaft. Ambrosius von Mailand gibt in seinem Exameron, das im vierten Jahrhundert entstanden ist, einen Hinweis auf die gebotene innerkirchliche Gleichheit: „Kein Reicher und Hochgestellter darf sich da überheben, kein Armer verächtlich und kein Niedriger wegwerfend von sich denken.“2 Der 461 verstorbene Papst Leo der Große wies in seiner Festpredigt zur Jahrtagsfeier seiner Erhebung auf den Stuhl Petri auf die durch Glauben und Taufe gewonnene Gleichheit hin: „In der Einheit des Glaubens und der Taufe genießen wir, Geliebteste, unterschiedslose Gleichheit und gemeinsame Würde.“3 Die Gleichheit der Menschen ergibt sich aus der Gleichförmigkeit des Glaubens und aus der durch die Taufe neu konstituierte Identität (stiftet doch die Taufe nach christlichem Verständnis ein „signum indelebile“). Zweitens wird Gleichheit im christlichen Denken, wie es sich in patristischen Schriften darstellt, durch den Glauben an die Menschwerdung Gottes neu bedacht. Die Theologie der Inkarnation, der Menschwerdung Gottes, geht von der Prämisse aus, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist und damit die Conditio Humana geteilt und den Menschen gleich geworden ist. Diese Gleichheit kommt am vielleicht deutlichsten im Philipperhymnus zum Ausdruck, wo es im Philipperbrief (2, 5–11) heißt: „Jesus Christus war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.“ Hier wird eine innergöttliche Gleichheit zum Ausgangspunkt für die Unerhörtheit einer neuen Gleichheit zwischen Gott und Mensch. Johannes Chrysostomus hebt in seinem Kommentar zum Matthäusevangelium den normativen Aspekt dieser neuen
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R. Williams, On being creatures. In: Ders., On Christian Theology. Oxford 2000, 63–78. Ambrosius von Mailand, Exameron III,12. Leo d. Gr., Sermones. Sermo IV,3.
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Gleichheit zwischen Gott und Mensch gerade mit Blick auf menschliche Hierarchien hervor, wie wir es bereits im „Exameron“ gesehen haben – der König steht nach dieser Lesart nicht viel höher als der Bettler.4 Auch Leo der Große unterstreicht das neue Verständnis von Gleichheit dadurch, dass Gott in die Conditio Humana eintaucht.5 Somit haben wir bereits zwei Anhaltspunkte für das Verständnis von Gleichheit als Wert: Die Glaubens- und Taufgemeinschaft und die Inkarnation. Drittens kann Gleichheit in der Lehre von der Dreifaltigkeit, in der Theologie der Trinität, gefunden werden. Diesen Aspekt von Gleichheit finden wir bei Ambrosius6 und an mehreren Stellen bei Johannes Chrysostomus hervorgehoben – Jesus und der Vater sind wesensgleich, gleich in Ehre, gleich an Wirkkraft.7 Deutlich wird dieser Aspekt von Gleichheit auch bei Leo dem Großen: „Die Gottheit, die in der Dreifaltigkeit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ein und dieselbe ist, [schließt] jegliche Annahme einer Ungleichheit aus. Hat doch hier ihre Ewigkeit nichts Zeitliches, ihre Natur nichts Ungleiches. Hier gibt es nur einen Willen, die nämliche Wesenheit und die gleiche Macht, nicht drei Götter, sondern nur Einen Gott, weil da wahre und unzertrennliche Einheit vorhanden ist, wo keinerlei Verschiedenheit bestehen kann.“8 Schließlich ein vierter Anhaltspunkt für ein neues Verständnis von Gleichheit im Christentum: Gleichheit durch moralische Gleichförmigkeit, durch ein gemeinsames Streben nach geteilten Zielen; durch ein Verfolgen desselben moralischen Ideals. Gleichheit ergibt sich hier als innere Struktur einer Moralgemeinschaft. Gleichheit wird durch Gleichgesinntheit hergestellt, wie sie eine Tugendethik nahelegt; dies kann zu einer „Lastergemeinschaft“ wie auch zu einer „Tugendgemeinschaft“ führen.9 In der frühchristlichen Literatur, etwa bei Johannes Cassian, wird vor der destruktiven Kraft des Vergleichs, vor Neid, gewarnt. Cassian benennt Fehlhaltungen der Seele, unter anderem den Neid.10 In seinen „Collationes patrum“ lesen wir, dass der Neid von allen Fehlhaltungen am schwersten zu heilen sei11 – und zwar deswegen, weil der Neid gerade von dem entflammt wird, was die anderen Fehlhaltungen heilen kann, da man schließlich gerade auch Tugendhafte 4 5 6 7 8 9 10 11
Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homiliae XIX,4. Vgl. Leo d. Gr., Sermones. Sermo XXI,1. Ambrosius von Mailand, Exameron VI,7. Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homiliae III,1; XV,5; XXXVIII,2; XLIII,1; XLIX,2. Leo d. Gr., Sermones. Sermo XXIII,3. Vgl. Leo d. Gr., Sermones. Sermo XXVI,6. An einer anderen Stelle spricht Papst Leo davon, dass unter den Christinnen und Christen „natürliche Gleichheit“ herrschen solle (Sermo XXXVII,7). Johannes Cassian, De institutis coenibiorum et de octo principalibus vitiis, 5,21. Johannes Cassian, Collationes patrum, 18,16.
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beneiden und die Kräfte des Guten gierig begehren kann. Der Vergleich als Ausdruck der Erfahrung von Ungleichheit wird also als moralzersetzend betrachtet. Das gilt nicht nur für Einzelne, sondern auch für eine Gemeinschaft: Die Mönchsregeln des ägyptischen Mönches Pachomius, warnen im ersten Drittel des vierten Jahrhunderts vor dem toxischen Effekt, der vom Vergleich ausgeht.12 Die Bedeutung der Ordnung wird unter anderem in den Klosterregeln des Pachomius dadurch klar gemacht, dass jeder Mönch seinen spezifischen Rang und Sitzplatz zugewiesen bekommt, eine Position, die nicht ohne ausdrückliche Intervention des Oberen verändert werden darf (I,1); mehr noch: es ist Ausdruck der Autorität, Ordnung einsetzen und verändern zu können. Wichtiges, aber nicht zwangsweise bindendes Rangprinzip ist die Seniorität im Sinne des Eintrittsalters. Die Ordnung der Gemeinschaft wird dadurch aufrecht erhalten, dass Eintrittsstellen für Unordnung unterbunden werden. Dies betrifft etwa die Aufnahme neuer Mitglieder der Gemeinschaft – Pachomius schildert hier einen anspruchs vollen Prozess, bei dem sich die Kandidaten durch Demut und Geduld auszeichnen müssen (I, 49). Eine mögliche Eintrittsstelle für Unordnung ist auch der Umgang mit Gästen – bei allem Respekt vor Gastfreundschaft (vgl. I, 51; 52) soll niemand die Vollmacht haben, einen Gast zum Tisch einzuladen (I, 50). Die Regelung des Kontakts zur Welt außerhalb des institutio nellen Schutzes des Klosters ist eine gewichtige Führungsaufgabe. In der frühchristlichen Literatur war die destruktive Kraft des Neids als einer Frucht der Gier erkannt worden, sowohl für das Seelenleben von einzelnen als auch für das Gemeinschaftsleben. Es verwundert deswegen nicht, dass sich in der Klosterregel des Pachomius immer wieder Hinweise dafür finden, dass der Vergleich zu unterlassen sei: Niemand soll den anderen beim Seildrehen oder beim Beten anschauen (I,7), die Mönche sollen sich auf das je eigene Werk konzentrieren. Auch beim Essen soll man nicht anderen zuschauen (I,30). Entscheidend für die Kontrolle von Eintrittsstellen für Neid ist der Umgang mit Privilegien: Es stellt nicht nur in monastischen Kontexten eine besondere Herausforderung dar, wie Privilegen erworben werden können. In den Klosterregeln finden sich immer wieder Hinweise auf Eintrittsstellen für Priviliegien: Die Tischdiener, die offensichtlich einen privilegierten Zugang zur Küche haben, sollen nach Mahnung des Pachomius nichts anderes essen als die anderen Mitbrüder auch und es ist ihnen ausdrücklich verboten, sich eigene Speisen zu bereiten (I,35); die mit besonderen Aufgaben betrauten und damit auch mit besonderen Privilegien ausgestatteten Minister sollen nichts nach eigenem Gutdünken für sich in Anspruch nehmen (I,38). Selbst im Krankheitsfall soll sich ein Minister nicht einfach etwas aus Küche oder Vorratsraum erhalten, sondern soll dies ausgehändigt bekommen (I,41) – das 12
Heinrich Bacht (Hg.), Pachomius, Klosterregeln. St. Ottilien. 2. Auflage 2010.
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gilt auch für andere Kranke (I, 43), die ebenfalls keine Zugangsprivilegien zur Nahrung erhalten. Der rechte Umgang mit Vorrechten, das „Ungleichheitsmanagement“, wird zur Schlüsselfrage der rechten Gestaltung des Kloster lebens. Eine moralische Gemeinschaft, wie sie eine monastische Kommunität unter anderem darstellt, ist auf die Anerkennung von und Verpflichtung auf Gleichheit angewiesen. Die moralische Komponente des Gleichheitsgedankens im Christentum wird auch von Gregor von Nyssa, der gegen Ende des vierten Jahrhunderts verstorben ist, in seinen „Homilien über die acht Seligkeiten“ ausdrücklich diskutiert: In seiner vierten Rede über die Seligpreisungen geht es um die Charakterisierung der Gerechtigkeit: „Selig sind die, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden“. Wir finden hier drei gewichtige Aussagen: Der Durst nach Gerechtigkeit, der wohl auch den Aspekt einer Verpflichtung auf Gleichheit impliziert, schafft eine Werte gemeinschaft; dieser Durst ist nicht selbstverständlich und schafft, wenn man so viel, Ungleichheit; und: dieser Durst wird belohnt. Der moralische Aspekt kann freilich auch bei äußerer Gleichheit zu „innerer Ungleichheit“ führen, wie Augustinus im „Gottesstaat“ deutlich macht. Im achten Kapitel des ersten Buches spricht er über den Unterschied zwischen tugendhaften und lasterhaften Menschen, ein Unterschied, der auch durch Gleichheit des Leidens nicht aufgehoben werden könne: „Denn die Ungleichheit der Leidenden bleibt auch bei Gleichheit der Leiden bestehen, und wenn auch der gleichen Marter unterworfen, ist Tugend und Laster doch nicht das gleiche. Denn wie im gleichen Feuer das Gold glänzt, der Schaum rußt und in der gleichen Dreschmaschine das Stroh zerstoßen, das Getreide gesäubert wird und wie sich die Ölhefe mit dem Öl nicht vermengt, obwohl sie durch den Druck der gleichen Kelter ausgepreßt wird, so erprobt, reinigt und klärt ein und dasselbe Geschick die Guten und verdammt, vernichtet und verscheucht die Bösen.“ Interessanterweise zeigt sich gerade an diesem Punkt einer neuen Grundlage für die Gleichheit eine neue Eintrittsstelle für Ungleichheit. Diese Tiefe der Ungleichheit ortet Augustinus auch bei Esau und Jakob.13 Wieder stoßen wir auf das Paradox, dass neue Eintrittsstellen für Gleichheit neue Eintrittsstellen für Ungleichheit mit sich bringen können. Augustinus selbst beschäftigt sich explizit mit dem schillernden Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit im 21. Buch des „Gottesstaates“: „Wie wunderbar zum Beispiel ist, wie man leicht einsieht, wenn man’s recht bedenkt, die Verschiedenheit des Gesichtes bei der unermeßlichen Zahl von Menschen und bei so großer Ähnlichkeit der Natur! Jeder hat ein anderes Gesicht, und dabei sind die Gesichter einander doch so ähnlich, daß man nur daran die Menschenarten von den übrigen Leibeswesen unterscheiden kann, und hinwieder einander 13
Augustinus, Gottesstaat V,4.
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so unähnlich, daß man nur daran die Einzelmenschen voneinander unterscheiden kann. Die wir also als gleich bezeichnen müssen, finden wir doch wieder ungleich. Merkwürdiger jedoch ist die Feststellung der Ungleichheit; denn die Gleichheit ist als eine Art selbstverständlicher Voraussetzung schon durch die gemeinsame Natur bedingt. Dennoch ist unser Staunen viel größer, wenn wir auf zwei Menschen stoßen, die einander so ähnlich sind, daß wir sie stets oder leicht miteinander verwechseln: so sehr gilt uns nur das Seltene für merkwürdig.“ Gleichheit wird hier als „natürlich“ dargestellt, wohl aufgrund des Menschseins und der Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie. Ungleichheit stellt sich uns als Ausdruck der Einzigartigkeit von Menschen dar. Ungleicheit wird „gemacht“, „errungen“, während Gleichheit die Ausgangsposition ist. Diese Ausgangsposition, so könnte man sagen, wurde nach christlichem Verständnis durch die Menschwerdung Gottes wieder hergestellt (was einerseits einen neuen Universalismus der Gleichheit durch die christliche Öffnung hin auf alle Menschen, andererseits neue Eintrittsstellen für Ungleichheit durch die Unterscheidung zwischen „christlich“ und „pagan“ mit sich brachte). Es bleibt das paradoxe Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit, das uns auch in diesem Band beschäftigt. Erzeugt die Annahme natürlicher Gleichheit soziale Imperative? Tatsächlich beschäftigen uns in der Auseinandersetzung mit Gleichheit vor allem auch die sozialen Differenzen. Die Auseinandersetzung mit Gleichheit wird nicht um eine besondere Aufmerksamkeit auf neuralgische Punkte und Risikogruppen umhinkommen. Hier sind „Lackmustests“ für die Gleichheit zu finden. Der Aufbau dieses Bandes versucht diesen Risiken Rechnung zu tragen. Der Band ist in vier Teile gegliedert: Begriffliche Grundlagen, erarbeitet von Stephan Gosepath, Gottfried Schweiger, Mario Wintersteiger und Clemens Sedmak bilden den ersten Teil, gefolgt von neuralgischen Punkten des Gleichheitsdiskurses mit Blick auf Altern (Anne Siegetsleitner), disability (Nicola Santamaria), sexuelle Orientierung (Stephanie Eldridge) und gender (Michaela Moser). Im dritten Teil kommen Anwendungen des Gleichheitsdiskurses zur Sprache, nämlich die europäische Rechtsprechung (Daniela Reitsamer) und eine Illustration am Beispiel der Bekleidungsfreiheiten (William Keenan). Der vierte Teil lässt über den binneneuropäischen Diskurs hinaus blicken, mit Beiträgen von Luis Sánchez über den Primat der Freiheit vor der Gleichheit in lateinamerikanischen Kontexten und von Jean Scrim geour über das Südafrika nach der Apartheid. Ein kurzer Überblick: Der Philosoph Stephan Gosepath gibt die Grund linien des Verständnisses von Gleichheit wieder – was ist Gleichheit? In Bezug worauf kann von Gleichheit gesprochen werden? Was sind Eckdaten der Problemgeschichte? Auf diese Weise wird das Handwerkszeug für den Umgang mit Gleichheit an die Hand gegeben. Gottfried Schweiger, auch er Philosoph, rekonstruiert den Gleichheitsbegriff, indem er ihn in einen
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Zusammenhang mit dem Begriff der Anerkennung stellt. Das Denken Axel Honneths hat wichtige Impulse für das Verständnis von Gleichheit geliefert. Der Wert der Gleichheit kann nicht von der Anerkennung als gleich gelöst werden. Dies geschieht nicht nur auf einem persönlichen Niveau, sondern hat auch strukturelle, wohlfahrtstaatliche Konsequenzen. Schweiger illustriert das am Beispiel der Arbeit. Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt ist eine Erosion des Gleichheitsgedankens, mehr noch: Identitätszuschreibung allein durch Erwerbsarbeit bedroht menschliche Integrität. Der Leistungsmodus in der Erwerbsarbeit steht, wie Schweiger schreibt, in einem Spannungsverhältnis zur Gleichheitsidee des Wohlfahrtsstaates. Das zieht denn auch Überlegungen zu Umverteilung nach sich. Mario Claudio Wintersteiger, ein Politikwissenschafter, geht in seinem grundsätzlichen Beitrag der Ideen geschichte nach. Er rekonstruiert die Entstehung des Gleichheitsdenkens aus der Mythologie und den Wertvorstellungen der antiken und mittelterlichen Welt. Er kann einige Anhaltspunkte vor der Aufklärung finden, die deutlich machen, dass der Gleichheitsgedanke tiefer in der europäischen Geistesgeschichte verankert ist, als man mitunter annimmt. Clemens Sedmak zeichnet den „Stachel der Ungleichheit“ nach – Ungleichheit ist einerseits ein Ärgernis, andererseits Ausdruck des Respekts vor der Einzigartigkeit von Menschen; zwei Grundlagen für die Anerkennung von Gleichheit bietet der Beitrag an: Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit und das europäische Selbstverständnis des Menschen aufgrund von „Innerlichkeit“. Anne Siegetsleitner setzt sich mit einem Aspekt der europäischen Gesellschaften auseinander, der angesichts der demographischen Entwicklung für den Gleichheitsdiskurs richtungweisend ist: Die Frage nach dem nichtdiskriminierenden Umgang mit älteren Menschen, die Frage nach der Gleichheit im Alter und im Altern. Als Philosophin skizziert Siegetsleitner die Conditio humana und Ansätze zu einer Phänomenologie des Alterns. Dann spricht sie die Frage nach Gleichheit und Würde im Altern an. Das Verständnis von Würde wird von ihr als Verankerung des Gleichheitsdiskurses positioniert. „Wie sich das Leben im Alter für die zunehmend ältere Bevölkerung in Europa gestalten wird, hängt nicht unerheblich davon ab, wie der Wert der Gleichheit die politischen und kulturellen Rahmenbedingungen bestimmt.“ Nicola Santa maria, eine englische Theologin, zeichnet Konturen des disability-Diskurses nach; auch hier finden sich neuralgische Punkte des Gleichheitsdiskurses; die Europäische Union hat sich auf die Nichtdiskriminierung von Menschen mit Behinderungen verpflichtet; im Alltag zeigen sich Herausforderungen für diese Verpflichtung, etwa in der Wahl der Sprache, die „sticky labels“ produzieren kann oder auch in einer medizinischen Terminologie verfangen bleibt. Der Diskurs wird auch von Standards politischer Korrektheit geprägt. Des weiteren zeichnet Santamaria die Geschichte der disability-Bewegung nach, die ein soziales Modell von disability in seiner politischen Dimension verfolgt. Es wird sich zeigen, inwieweit die Alltagspraktiken mit dem öffent-
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Clemens Sedmak
lichen Diskurs mithalten können. Stephanie Eldridge, eine junge englische Ethikerin, beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der operativen Bedeutung von Gleichheit in Bezug auf die Frage nach der sexuellen Orientierung; dabei geht sie in Fallstudien aus dem Vereinigten Königreich der Frage nach der Gleichstellung von Homosexuellen nach. Sie zeigt die Kontroversen, die sich rund um die einschlägigen Gesetze in Großbritannien entwickelt haben, im Zusammenhang mit IVF-Behandlung und dem Status von Lebensgemeinschaften. Die in diesen Debatten gezeigten Diskussionen zeigen, dass wir es mit „heißer Geschichte“ zu tun haben, mit einem Topos, an dem sich Wertehaltungen zeigen, die in Emotionen zum Ausdruck kommen. Die Möglichkeit des Ausdrucks dieser Emotionen ist wiederum ein wichtiges Vehikel für die Demokratie; so wird der gleiche Zugang zur öffentlichen Diskussion um Ungleichbehandlung zu einem demokratiepolitischen Gut. Die Armutsforscherin und Ethikerin Michaela Moser zeigt einen Lackmustest für Gleichheit – den Umgang mit Dynamiken der gender-Diskriminierung. Sie rekonstruiert die europäische Gleichstellungspolitik, um den Papieren Frauenrealitäten in Europa gegenüber zu stellen. Das Beispiel von Roma in der Slowakei zeigt die Realisierungslücke deutlich auf. Ebenso wie zwei weitere Beispiele aus Kopenhagen und Athen. Es gibt ihn, den europäischen Rand – und es gibt sie, die Frauen, die an den Rand gedrängt werden. Dass die soziale Ungleichheit in Europa wächst, ist kein Geheimnis. Frauen sind vielfach in diesen Ausgrenzungsdynamiken in besonderer Weise gefährdet. Gleichstellung allein, so wichtig sie ist, ist freilich nicht genug. Moser kommt auf die Frage nach Konzeptionen des Guten und des guten Lebens zu sprechen, die leitend sein sollten. „Flourishing“ kann hier zum Orientierungsbegriff werden, in dem sich europäische Werte verdichten und konkretisieren.Daniela Marielen Reitshammer schlägt die Brücke zur Anwendung und geht in einem rechtswissenschaftlichen Beitrag der Gleichheit im Lichte der europäischen Rechtsprechung nach. Sie rekonstruiert die Rechtsgrundlagen der Gleichheit um Unionsrecht und weist den Europäischen Gerichtshof als europäisches Höchstgericht mit Auslegungsmonopol aus. In den Mittelpunkt ihrer Darstellung rückt Reitshammer den Begriff der Diskriminierung. Dieser wird anhand von Diskriminierungsfällen in der Judikatur des europäischen Gerichtshofes verdichtet. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das Diskriminierungsverbot einen Pfeiler der europäischen Rechtskultur darstellt. Immer mehr Anlassfälle werden systematisch zu Diskriminierungsfällen gemacht. Philosophisch interessant ist freilich die Frage nach berechtigter bzw. rechtfertigbarer Diskriminerung, ein Thema, das Reitshammer auch angeht. William Keenan, ein Soziologe aus Nottingham, illustriert Gleichheit an einem Beispiel: am Wert kleiner Freiheiten, am Wert kleiner Ungleichheiten, wie man sagen könnte. Der Beitrag zeigt den Zusammenhang zwischen Gleichheit und Freiheit. Auf den ersten Blick mag man den Eindruck haben, dass hier ein Artikel aus der Art geschlagen ist; aber wenn man tiefer
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blickt, erkennt man den Zusammenhang zur Gleichheitsthematik – gewollt indirekt gehalten
. William Keenan geht vom großen Wort der Freiheit aus, die sich aber auch in kleinen Alltagsfreiheiten zeigt. Interessanterweise sind diese Alltagsfreiheiten (die Freiheit, sich zu kleiden!) mit dem Ausdruck des Andersseins verbunden, mit dem Recht auf Ungleichheit. Anders gesagt: Die Anerkennung von Gleichheit führt zum Recht auf Individualität und damit auch zu einem Recht sekundärer Ungleichheit auf der Basis primärer Gleichheit. Teilweise schelmenhaft geht William Keenan dieser Dynamik nach und zeigt, dass die Bekleidungsfreiheit keineswegs nur als Nebenfrage angesehen werden muss. Gleichheit zeigt sich: In der Ungleichheit! Luis Sánchez wirft einen Blick über den europäischen Gartenzaun und bringt den lateinamerikanischen Diskurs ein: Dabei zeichnet er im Rahmen der einschlägigen Befreiungsdiskurse den Vorrang der umkämpften und anzuerkennenden Alterität vor der Gleichheit aus. Der von ihm rekonstruier ten Befreiungsethik geht es vor allem um die Anerkennung des Anderen als Anderen. Auf diese Weise unterscheidet sich eine Befreiungsethik, wie sie in lateinamerikanischen Kreisen beheimatet ist, von einer europäischen Diskursethik. Der Begriff der Gleichheit spielt vor allem im Ringen um die Anerkennung der nichteuropäischen Lebens- und Denkwelten eine Rolle, bleibt dem Begriff der Freiheit aber nachgeordnet. Daran schließt die süd afrikanische Politikwissenschafterin Jean Srimgeour an – ihrem Beitrag wurde einiger Platz eingeräumt, vor allem auch deswegen, weil das südafrikanische Apartheidregime eine Negativfolie im Umgang mit Gleichheit darstellt. Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission war machtvoll und öffentlichkeitswirksam für die Idee der Gleichheit („promoting national unity“) eingetreten. Scrimgeour geht der Situation, zwanzig Jahre nach dem offiziellen Ende des Apartheidregimes, nach. Sie fragt nach den Ursachen der Zunahme gewalttätiger Proteste, die vor allem junge Südafrikaner involvieren. Die Erwartungen wurden hoch gesteckt, politische Versprechen abgegeben – und nicht erfüllt. Dadurch steigt nach einer Theorie Ted Gurrs die Bereitschaft zum Protest. Gebrochene Gleichheitsversprechen führen in Südafrika, so Scrimgeours Analyse, in die Gewalt. Gleichheit besteht zwar auf dem Papier, wirkt sich aber nicht in der ökonomischen Alltagsrealität der Menschen aus. Gleichheit braucht, so könnte man daraus schließen, einen „cash value“, eine Tangibilität – und vor allem: Eine Verhältnismäßigkeit zwischen Rhetorik und Versprechen auf der einen Seite und der Lebenswirklichkeit auf der anderen. Der vorliegende Band oszilliert zwischen diesen beiden Polen: Diskurse mit ihren Rhetoriken und Versprechen, Lebenswirklichkeiten mit ihren Fragilitäten und Komplexitäten.
BEGRIFFLICHE GRUNDLAGEN
Stefan Gosepath
Gleichheit: Begriffsgeschichte und aktuelle Debatten1
1. Einleitung
Gleichheit – griech. isotes, lat. aequitas, aequalitas, franz. égalité, engl. equality – kann in zwei Bedeutungen verwendet werden. Erstens im Sinne qualitativer Übereinstimmung, zweitens im Sinn numerischer Identität. In der ersten Bedeutung bezieht man sich mit ‚gleich‘ auf mehrere unterschiedliche Gegenstände, die in mindestens einer, aber nicht allen Hinsichten gleiche Eigenschaften haben. Die zweiten Bedeutung bezieht sich auf ein und denselben mit sich selbst in allen Merkmalen übereinstimmenden Gegenstand, auf den ggf. mittels verschiedener singulärer Termini bzw. Eigennamen oder Beschreibungen Bezug genommen wird. Dieser Artikel behandelt qualitative Gleichheit als soziale und politische Gleichheit, die gegenwärtig die kontroverseste unten den großen sozialen Idealen ist. ‚Gleichheit‘ kann sowohl deskriptiv als auch präskriptiv benutzt werden. ‚Gleichheit‘ ist in der präskriptiven Verwendungsweise ein aufgeladener Terminus. Wegen seiner normalerweise positiven Konnotation hat er eine rhetorische Kraft2, die den Begriff zum politischen Slogan geeignet sein lässt. ‚Gleichheit‘ bedeutet Übereinstimmung einer Mehrzahl von Gegenständen, Personen oder Sachverhalten in einem bestimmten Merkmal, bei Verschiedenheit in anderen Merkmalen. ‚Gleichheit‘ ist damit sowohl von ‚Identität‘ als auch von ‚Ähnlichkeit‘, dem Begriff für nur annähernde Über-
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Der folgende Text geht auf einen bereits publizierten Artikel zurück und ist eine über arbeitete Fassung meines Artikels „Gleichheit/Ungleichheit“ (erschienen in: Enzyklopädie der Philosophie, hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Hamburg 2010, Band 1, 919–924). Vgl. Westen, Peter, 1990, Speaking Equality, Princeton: Princeton University Press.
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Stefan Gosepath
einstimmung zu unterscheiden.3 ‚Gleichheit‘ bzw. ‚gleich‘ ist ein unvollständiges Prädikat und muss immer die Frage nach sich ziehen: gleich in welcher Hinsicht? Gleichheit besteht im wesentlichen in einer dreistelligen Relation zwischen zwei (oder mehreren) Gegenständen oder Personen und einer (oder mehreren) Eigenschaften. „Zwei Gegenstände a und b sind gleich hinsichtlich des Prädikationsspielraums P, wenn sie, was diesen Spielraums betrifft, unter denselben generellen Terminus fallen.“4 ‚Gleichheit‘ bezeichnet das Verhältnis zwischen den verglichenen Objekten. Jeder Vergleich setzt ein tertium comparationis voraus, ein konkretes Merkmal, in dem die Gleichheit gelten soll. Gleichheit bezieht sich auf den gemeinsamen Anteil an dem vergleichsentscheidenden Merkmal. Dieser relevante Vergleichsstandard stellt eine jeweils zu spezifizierende ‚Variable‘, (oder ‚Index‘, ‚Bewertungsspielraum‘ u. ä.) des Gleichheitsbegriffs dar5, die zu verschiedenen Konzeptionen der Gleichheit führt, wenn es sich bei den Standards um unterschiedliche moralische Normen handelt. Der Unterschied zwischen einem allgemeinen Begriff und spezifischen Konzeptionen6 der Gleichheit mag erklären, warum ‚Gleichheit‘ machen Autorinnen und Autoren zufolge keine einheitliche oder gar leere Bedeutung zu haben scheint.7 Im Unterschied zu numerischer Identität setzt ein Gleichheitsurteil die Verschiedenheit des Verglichenen voraus. ‚Völlige‘ oder ‚absolute‘ Gleichheit sind nach dieser Definition in sich widersprüchliche Aussagen. Zwei nicht-identische Objekte gleichen sich nie vollständig; sie unterscheiden sich zumindest in ihrer Raum-Zeit-Stelle. Einige Autorinnen und Autoren hin gegen möchten absolute qualitative Gleichheit jedoch nicht definitorisch ausschließen, sondern als Grenzbegriff zulassen.8 Von zentraler Bedeutung es ist, wie der Maßstab des Vergleichs bei deskriptiver wie präskriptiver Gleichheit bestimmt wird. Bei deskriptiver Gleichheit ist der gemeinsame Maßstab selbst ein deskriptiver: Zwei Menschen wiegen z. B. gleich viel. Präskriptive Gleichheit liegt vor, wenn ein präskriptiver Maßstab, d. h. eine Norm oder Regel verwendet wird, z. B. Gleichheit vor dem Gesetz. Die Maßstäbe, die präskriptiven Gleichheitsbehauptungen zugrunde liegen, enthalten zumindest zwei Komponenten: Einerseits eine deskriptive 3 4 5 6 7 8
Dann, Otto, 1975, „Gleichheit“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Hrsg. V. O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck, Stuttgart: Klett-Cotta 1975, 995–1046, hier: 997; vgl. auch Menne, Alfred, 1962, „Identität, Gleichheit, Ähnlichkeit“, Ratio, 4: 44 ff. Tugendhat, Ernst; Ursula Wolf, 1983, Logisch-Semantische Propädeutik, Stuttgart: Reclam, 169. Westen, Peter, 1990, Speaking Equality, Princeton: Princeton University Press, 10. Rawls, John, 1975 (1971), Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 21. Rae, Douglas, et al., 1981, Equalities, Cambridge: Harvard University Press, 127 f., 132 f. Rae, Douglas, et al., 1981, Equalities, Cambridge: Harvard University Press, 170.
Gleichheit: Begriffsgeschichte und aktuelle Debatten
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Komponente, da sie deskriptive Kriterien enthalten müssen, um diejenigen Personen zu identifizieren, auf die sich die Regel bezieht; diese deskriptiven Kriterien unterscheiden diejenigen, die unter die Norm fallen, von denen, die außerhalb des Geltungsbereichs der Norm stehen. Außerdem enthalten die Vergleichsstandards etwas Normatives, eine moralische oder rechtliche Regel, die angibt, wie die Menschen, die als unter die Norm fallend identifiziert wurden, behandelt werden sollen. Diese Norm macht die Präskription aus.9 Soziologische und ökonomische Analysen von (Un-)Gleichheit untersuchen deskriptiv, (i) wie (Un-)Gleichheit bestimmt und gemessen werden kann und (ii) was ihre Ursachen und Wirkungen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gefüge sind.10 Die Moral-, Sozial- und Politische Philosophie beschäftigt sich hingegen mit (Un-)Gleichheit hauptsächlich in ihrer präskriptiven Verwendung. 2. Zur Begriffs- und Problemgeschichte
Gleichheit gilt von der Antike an11 als ein konstitutives Merkmal der Gerechtigkeit. Wenn zwei Personen in mindestens einer relevanten Hinsicht als gleich gelten, müssen diese Personen in der Hinsicht gleich behandelt werden. Ansonsten wird eine ungerecht behandelt. Dies ist das allgemein akzeptierte formale Gleichheitsprinzip, das Aristoteles in Rückgriff auf Plato formulierte: Gleiche(s) gleich behandeln.12 Einige sehen dieses formale Prinzip der Gleichheit als eine spezifische Anwendung einer Rationalitätsregel (Rationalität). Es sei irrational, weil inkonsistent, ohne hinreichenden Grund gleiche Fälle ungleich zu behandeln.13 Statt dessen betonen die meisten, dass es sich hier um ein moralisches Prinzip der Gerechtigkeit handelt, das im wesentlichen der Universalisierbarkeit moralischer Urteile entspricht. Das formale Postulat bleibt allerdings solange leer, wie unklar ist, was hier ‚gleiche Fälle‘ und was ‚gleich behandeln‘ meint. Alle Debatten über die richtige Auf-
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12 13
Westen, Peter, 1990, Speaking Equality, Princeton: Princeton University Press, Kap. 3. Berger, Peter A. & Schmidt, Volker H. (Hrsg.), 2004, Welche Gleichheit, welche Ungleichheit? Grundlagen der Ungleichheitsforschung, Wiesbaden: Verlag für Sozial wissenschaften. Benn, Stanley, 1967, „Equality, Moral and Social“, in: Encyclopedia of Philosophy, Hrsg. Paul Edwards, New York: Macmillan, 1967, Band 3. 38–42; Albernethy, Georg L. (Hrsg.), 1959, The Idea of Equality, Richmond: John Knox; Lakoff, Sandford A., 1964, Equality in Political Philosophy, Cambridge: Harvard University Press; Thomson, David, 1949, Equality, Cambridge: Cambridge University Press. Aristoteles, 1967, Nikomachische Ethik, Zürich–München, V.3. 1131a10–b15; Aristoteles, 1971, Politik, Zürich–München, III.9.1280 a8–15, III. 12. 182b18–23. Berlin, Isaiah, 1955–56, „Equality“, Proceedings of the Aristotelian Society LVI, 301– 326.
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fassung von Gerechtigkeit, d. h. darüber, wem was zukommt – so bemerkte schon Aristoteles –, können als Kontroversen über die Frage aufgefasst werden, welche Fälle gleich und welche ungleich sind.14 Jeder normative Disput kann als Widerstreit einer vorgeschlagenen Norm mit einer anderen dargestellt werden, d. h. als Widerstreit zwischen einer Konzeption von Gleichheit mit einer anderen. Deshalb ist es richtig, wenn Gleichheitstheoretiker15 betonen, dass es fast nie um die Frage geht, ob überhaupt Gleichheit, sondern (nur) um die Frage, welche Art von Gleichheit. Eigentlich jede normative Theorie stellt sich als eine Gleichheitsposition dar. Egalitaristen müssen also, um ihre Position zu skizzieren, eine spezifischere (egalitärere) Konzeption von Gleichheit in Anschlag bringen. Platon und Aristoteles vertreten ein Prinzip proportionaler Gleichheit:16 Wenn Faktoren für eine Ungleichverteilung sprechen, weil die Personen in relevanten Hinsichten ungleich sind, ist diejenige Verteilung gerecht, die proportional zu diesen Faktoren ist. Ungleiche Verteilungsansprüche müssen proportional berücksichtigt werden; das ist die Voraussetzung dafür, dass die Personen gleich berücksichtigt werden. Beide verstehen gleiche Berücksichtigung (noch) im Sinne der Formel des Ulpian: „Suum ciuque tribure“, also: „Gerecht ist eine Handlung, wenn sie jedem das gibt, was ihm zukommt.“17 Diese Definition ist ganz formal, den offen ist noch, wem was zukommt. Ungleiche Berücksichtigung der Rechte verschiedener Personen heißt demnach, dass nicht jedem zugeteilt wird, was ihm zusteht. Die zugrundeliegenden vorausgesetzten Rechte können dabei aber ungleich sein – und sind es für Platon und Aristoteles auch. Gegen Plato und Aristoteles hat die Ulpianische Formel im Laufe der Geschichte den inhaltlich egalitären Sinn angenommen, dass jedem die gleiche Würde (Menschenwürde) und jedem gleiche Achtung gebührt. Diese Formulierung findet sich auch im 1. Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen (10. Dezember 1948): „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“18 Diese ist die heute weitgehend geteilte Auffassung substanzieller universalistischer 14 15
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Aristoteles, 1971, Politik, Zürich–München, 1282b 22. Nagel, Thomas, 1994 (1991), Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit und andere Schriften zur politischen Philosophie, Paderborn: Ferdinand Schöningh; Rae, Douglas, et al., 1981, Equalities, Cambridge: Harvard University Press; Sen, Amartya, 1992, Inequality Reexamined, Oxford: Clarendon Press, Cambridge: Harvard University Press, 13. Platon, 1958, Nomos, in: Platon, Sämtliche Werke, Band 6, Hamburg: Rowohlt, 757b– c; Aristoteles, 1967, Nikomachische Ethik, Zürich–München, 1130b–1132b. Plarton, 1958, Politeia, in: Platon, Sämtliche Werke, Band 3, Hamburg: Rowohlt, 331e, 332b–c; Ulpianus, Domitius, 1854, Fragementa, Bonn, 1,1,10. Vgl. Gosepath, Stefan & Lohmann, Georg (Hrsg.), 1998, Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Gleichheit. Sie entwickelte sich in der Stoa, die die natürliche Gleichheit aller rationalen Wesen betonte, und im frühen Christentum des Neuen Testaments, das die Gleichheit der Menschen vor Gott zum Prinzip erhob, das die christliche Kirche später allerdings nicht immer konsequent vertrat. In der Neuzeit, vom 17. Jh. an, wurde die Idee natürlicher Gleichheit in der Tradition des Naturrechts und der Vertragstheorie (Gesellschaftsvertrag) dominant. Thomas Hobbes ging davon aus, dass die Menschen im Naturzustand gleiche Rechte haben, weil sie über die Zeit hinweg die gleiche Fähigkeit haben, einander zu schaden.19 John Locke vertrat die Auffassung, dass alle Menschen gleiche natürliche Rechte auf Freiheit und Eigentum besitzen.20 Jean-Jacques Rousseau erklärte soziale Ungleichheit (Ungleichheit) durch einen nahezu urgeschichtlichen Verfall der Menschengattung von einer natürlichen Gleichheit im harmonischen Naturzustand, hervorgerufen durch den Drang der Menschen zur Vervollkommnung, wodurch Eigentum und Besitz wirkmächtig wurden. Die dadurch entstandene Ungleichheit und Herrschaft der Gewalt kann nur durch die Einbindung der freigesetzten Subjektivität in einer gemeinsamen Bürgerexistenz und Volkssouveränität (Souveränität) überwunden werden.21 In Imanuel Kants Moralphilosophie formuliert der kategorische Imperativ das Gleichheitspostulat der gleichen universellen Achtung.22 Die transzendentalphilosophische Reflexion des Gedankens der Autonomie und Selbst gesetzgebung führt zur Anerkennung der gleichen Freiheit aller Vernunftwesen, die Kant auch zum einzigen Rechtsprinzip erklärt. „Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von andern auch thätlich eingeschränkt werden dürfe; und dieses sagt sie als ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist.“23 19 20 21
22 23
Hobbes, Thomas, 1651, Leviathan, With Selected Variants from the Latin Edition of 1668, Hrsg. Edwin Curley, Indianapolis: Hackett 1994. Locke, John, 1690, The Second Treatise of Government, Hrsg. C. B. MacPerson, Indianapolis: Hackett 1980. Rousseau, Jean-Jacques, 1755, A Discourse on Inequality, London: Penguin 1984, partly reprinted in L. Pojman & R. Westmoreland (Hrsg.), Equality. Selected Readings, Oxford: Oxford University Press 1997, 36–45; Rousseau, Jean-Jacques, 1762, The Social Contract, Engl. trans. Maurice Cranston. Harmondsworth: Penguin 1987. Kant, Imanuel, 1785, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Gesammelte Schriften, Hrsg. Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., Band IV. Kant, Imanuel, 1797, Metaphysik der Sitten, In: Kants Gesammelte Schriften, Hrsg. Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., Band VI, AA 231.
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Die aufklärerischen Ideen stimulierten die großen sozialen Bewegungen und Revolutionen und schlugen sich in den modernen Verfassungen und Menschenrechtserklärungen nieder. Neben Freiheit und Brüderlichkeit wurde Gleichheit in der Französischen Revolution Grundlage der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789.24 Das Prinzip der gleichen Würde und Achtung25, das heute von allen Hauptströmungen der modernen westlichen Kultur als Minimalstandard akzeptiert wird26, schreibt in einer üblichen Unterscheidung vor, Personen als Gleiche zu behandeln (treating persons as equals), nicht aber das in vielen Fällen unplausible Prinzip, Personen genau gleich zu behandeln (treating persons equally).27 Seit dem 19. Jh. liegt der politische und philosophische Schwerpunkt neben der Sicherung gleicher Freiheitsrechte und gleicher politischer Partizipationsrechte (Partizipation) verstärkt in der Auseinandersetzung um ökonomische und soziale Ungleichheit.28 Dabei ist die Idee der Gleichheit seitens sozialistischer und marxistischer Kreise durchaus kritisiert worden. So lehnt Karl Marx den Gedanken der Rechtsgleichheit ab, weil sie sich (i) ungleich auswirkt, da sie nur eine begrenzte Zahl moralisch relevanter Gesichtspunkte heranziehe und andere vernachlässige; (ii) konzentrierten sich Theorien der Gerechtigkeit zu sehr auf die Verteilung statt auf die grundlegenden Fragen der Produktion; drittens brauche die kommunistische Gesellschaft kein Recht und keine Gerechtigkeit, weil in ihr die gesellschaftlichen Konflikte aufgelöst sein würden. „Trotz dieses Fortschritts ist dieses gleiche Recht stets noch mit einer bürgerlichen Schranke behaftet. […] Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht 24 25
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Barbeuf, G., 1796, „Manifeste de Égaux“, in: Histoire de G. Barbeuf et du Babouvisme, Paris 1884, engl. trans. in L. Pojman & R. Westmoreland (Hrsg.), Equality. Selected Readings, Oxford: Oxford University Press 1997, 49–52. Vlastos, Gregory, 1962, „Justice and Equality“, in: R. Brandt (Hrsg.), Social Justice, Englewood Cliffs: Prentice-Hall; reprinted in: J. Waldron (Hrsg.), Theories of Rights, Oxford: Oxford University Press 1984, 41–76; reprinted in L. Pojman & R. Westmoreland (Hrsg.), Equality. Selected Readings, Oxford: Oxford University Press 1997, 120– 133. Kymlicka, Will, 1996 (1990), Politische Philosophie heute, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Dworkin, Ronald, 1995 (1977), Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 370. Marshall, Thomas Humphrey, 1950, „Citizenship and Social Class“, in: T. Marshall, Citizenship and Social Class and Other Essays, Cambridge: Cambridge University Press 1950, reprinted London (Pluto) 1981, 1992.
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verschiedene Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z. B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. […] Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein.“29 3. Gegenwärtige Debatten
Da in zeitgenössischen Theorien ‚Behandlung als Gleiche‘ der moralisch geteilte Standard ist, gehen die heutigen Debatten darum, welche Art von Behandlung normativ gefordert ist, wenn wir uns wechselseitig als Personen mit gleicher Würde achten. Die Debatten drehen sich dabei um zweierlei, erstens ob überhaupt Gleichheit und zweitens, wenn ja, welche Art von Gleichheit gefordert ist. (i) Nach non-egalitärer Meinung impliziert gleiche Würde gar keine Gleichheit, weil sich aus der Achtung der Würde überhaupt keine komparativen (also vergleichenden) Prinzipien der Gleichheit ergeben. Vielmehr kann man nach non-egalitärer Auffassung ohne Vergleich wissen, was moralisch zu tun ist.30 „The fundamental error of egalitarianism lies in supposing that it is morally important whether one person has less than another regardless of how much either of them has.“31 Egalitäre Auffassungen hingegen bestreiten, dass sich die moralische Begründung und Bestimmung des Gesollten ohne vergleichende Berücksichtigung dessen, was anderen in gleicher Lage zusteht, beurteilen lassen. Dabei wird Gleichheit nicht um ihrer selbst willen angestrebt, sondern weil erst sie soziale Gerechtigkeit realisiert bzw. konstituiert. (ii) Eine Minimalpositionen vertritt der Libertarismus (Libertarianism) und Wirtschaftsliberalismus, vertreten durch Robert Nozick oder Friedrich Hayek, der, auf Locke zurückgehend, gleiche ursprüngliche Freiheits- und Besitzrechte postuliert und damit gegen Umverteilungen und soziale Rechte und für den freien Markt argumentiert.32 Es wird ein Gegensatz von Gleichheit
29 30 31 32
Marx, Karl, 1978 (1875), Kritik des Gothaer Programms, in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 19, Berlin, 13–32, hier: 20 f. Vgl. Kymlicka, Will, 1996 (1990), Politische Philosophie heute, Frankfurt am Main: Suhrkamp, Kap. 5. Krebs, Angelika (Hrsg.), 2008, Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Frankfurt, Harry, 1987, „Equality as a Moral Idea“, Ethics, 98: 21–42, hier: 34. Nozick, Robert, 1974, Anarchy, State, and Utopia, New York: Basic Books; Hayek, Friedrich A., 1960, The Constitution of Liberty, London: Routledge.
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und Freiheit behauptet. Dagegen wird eingewandt, dass gerade wenn das eigene freie Verdienst zählen soll, der eigene Erfolg nicht so sehr von Glück, natürlicher Ausstattung, ererbtem Besitz und Status abhängen darf. Es bedarf mindestens noch der Chancengleichheit, die dafür sorgt, dass das Schicksal der Menschen von ihren Entscheidungen und nicht von ihren sozialen Lebensumständen bestimmt wird, die sie nicht zu verantworten haben. Der Egalitarismus will jedoch mehr. Für ihn ist eine Welt moralisch besser, wenn in ihr Gleichheit der Lebensbedingungen herrschen. Dies ist ein amorphes Ideal, das Klärung verlangt. Warum ist Gleichheit der Lebensbedingungen ein Ideal, und Gleichheit von was genau?33 (iii) Eine Maximalposition stellt strikte Gleichheit dar, die allen einen gleichen materiellen Level an Gütern und Leistungen gewähren will. Sie wird allgemein als unplausibel verworfen. Sie scheitert an Problemen, die allgemein gegen Gleichheit eingewandt werden, und die jede plausible Gleichheitsauffassung lösen muss. Erstens müssen angemessene Indices für die Messung der Gleichheit der zu verteilenden Güter angegeben werden. In Begriffen von was soll Gleichheit bzw. Ungleichheit hier verstanden werden? So kann Gleichheit materieller Güter zu ungleicher Zufriedenheit führen. Als üblicher, wenn auch bekanntermaßen unzulänglicher Index wird das Geld benutzt, wobei offensichtlich mindestens Gleichheit der Chancen anders erfasst werden muss. Zweitens muss angeben werden, in welchem Zeitraum das angestrebte gleiche Verteilungsmuster realisiert sein muss. Strikte Gleichheit fordert Gleichheit innerhalb kürzerer Zeitabstände. Dies scheint jedoch die Verfügungsgewalt von Personen über ihren Anteil unzulässig einzuschränken. Drittens verzerrt Gleichheit ökonomische Leistungsanreize und führt zu einem Mangel an Effizienz, weil bei der Umverteilung Schwund an Gütern durch administrative Kosten auftritt.34 Gleichheit und Effizienz müssen in ein ausgewogenes Verhältnis gesetzt werden. Oft wird, hauptsächlich von Ökonomen, diesbezüglich Pareto-Optimalität verlangt. Ein Zustand ist pareto-optimal oder pareto-effizient, wenn es nicht möglich ist, in einen anderen sozialen Zustand überzugehen, der mindestens von einer Person als besser oder von keiner als schlechter beurteilt wird. Diese Beurteilung ist jedoch immer relativ zu einem gegebenen Ausgangszustand, der ungleich und ungerecht sein kann. Deshalb mag es zur Herstellung von Gerechtigkeit nötig sein, Pareto-Optimalität zu verletzen. Zumindest darf Gleichheit in den Augen der Kritikerinnen und Kritiker nicht dazu führen, dass man33 34
Cohen, Gerald A., 1989, „On the Currency of Egalitarian Justice“, Ethics, 99: 906–944; Arneson, Richard, 1993, „Equality“, in: R. Goodin & P. Pettit (Hrsg.), A Companion to Contemporary Political Philosophy, Oxford: Blackwell, 489–507. Okun, Arthur M., 1975, Equality and efficiency: The Big Tradeoff, Washington: The Brookings Institution.
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che auf Güter verzichten müssen, obwohl dadurch kein Schlechtergestellter besser gestellt würde. Viertens gibt es moralische Einwände: Strikte und mechanische Gleichbehandlung aller Beteiligten nimmt die Unterschiede zwischen den Individuen und ihren Situationen nicht ernst. Eine Kranke hat intuitiv andere Ansprüche als ein Gesunder; ihr das Gleiche zuzuteilen wäre falsch. Bei einfacher Gleichheit werden die Freiheit der Individuen unzulässig beschränkt und die je individuelle Besonderheit der Person nicht hinreichend berücksichtigt; insofern wird sie eben nicht gleich berücksichtigt. Moralisch besteht nicht nur ein Recht auf die Berücksichtigung besonderer Bedürfnisse, sondern auch ein Recht auf die Früchte der eigenen Arbeit, darauf, dass die eigene Leistung, das Verdienst auch zählt. Zu guter Letzt besteht die Gefahr, dass Gleichheit zu Gleichmacherei, Uniformität und Einebnung führt, statt Differenz und Pluralität zu respektieren.35 Als Desideratum kann man insofern festhalten: Statt einfacher Gleichheit bedarf es deshalb einer Konzeption komplexerer Gleichheit, der es durch Unterscheidung von verschiedenen Güterklassen, getrennten Sphären (Michael Walzer36) und differenzierteren Kriterien gelingt, auf diese Problemlagen zu antworten. (iv) Gleichheit der Wohlfahrt motiviert sich durch die Intuition, dass es das Wohlergehen der Individuen ist, um das es in der politischen Moral geht. Das Wohlfahrtsniveau auszugleichen müsse daher das relevante Gerechtigkeitskriterium sein. Auch diese Auffassung ist jedoch mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert.37 Es scheint unplausibel, alle Präferenzen der Personen (gleichermaßen) zu zählen; einige Präferenzen sind aus Gerechtigkeitsgründen unzulässig. Zufriedenheit bei der Erfüllung der Wünsche kann kein Maßstab sein, weil Personen mehr wollen als Glücksgefühle. Als Maßstab für Wohlfahrtsvergleiche kann also nur die Beurteilung des Erfolgs bei der Erfüllung der Präferenzen fungieren. Sie darf jedoch nicht nur auf einem subjektiven Urteil basieren. Für eine gerechtfertigte Beurteilung bedarf es eines Standards, der angibt, was hätte erreicht werden sollen oder können. Dieser setzt wiederum schon eine Annahme über eine gerechte Verteilung voraus, ist also kein unabhängiges Gerechtigkeitskriterium. Ein weiteres beträchtliches Problem jeder an Wohlfahrt ausgerichteten Konzeption von Gleichheit ist,
35 36 37
Walzer, Michael, 1992 (1983), Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp; Young, Iris Marion, 1990, Justice and the Politics of Difference, Princeton: Princeton University Press. Walzer, Michael, 1992 (1983), Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Vgl. Dworkin, Ronald, 1981, „What is Equality? Part 1: Equality of Welfare“, Philosophy and Public Affairs 10, 185–246, reprinted in: R. Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, Cambridge: Harvard University Press 2000, 11–64.
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dass Personen mit teurem Geschmack nach dieser Konzeption mehr Ressourcen beanspruchen dürfen; dies verletzt eindeutig moralische Intuitionen, weil der teure Geschmack kultiviert ist. Zudem kann Gleichheit der Wohlfahrt für den Aspekt des Verdienstes38 nicht aufkommen. (v) Solche Probleme vermeidet die vor allem von John Rawls und Ronald Dworkin vertretene Gleichheit der Ressourcen.39 Sie hält Individuen für ihre Entscheidungen und Handlungen verantwortlich, nicht jedoch für die Umstände ihrer Situation (Verantwortung). Das, was man nicht zu verantworten hat, darf kein Verteilungskriterium sein. Rasse, Geschlecht, Hautfarbe, Intelligenz, soziale Stellung sind als irrelevante Ausnahmegründe ausgeschlossen. Statt dessen sind ungleiche Anteile an sozialen Gütern dann fair, wenn sie sich aus den Entscheidungen und absichtlichen Handlungen der Betreffenden ergeben. Chancengleichheit ist nicht ausreichend, weil für ungleiche natürliche Ausstattung nicht kompensiert wird. Was für soziale Umstände gilt, soll auch für natürliche Gaben gelten. Natürliche Begabungen und soziale Umstände sind beides reine Glücksache und müssen ausgeglichen werden. Damit wird das gängige Verdienstkriterium berücksichtigt, aber deutlich relativiert. Die Menschen sollen eine anfängliche gleiche Ausstattung an Grundgütern als allgemein dienliche Mittel (Rawls) oder Ressourcen (Dworkin) bekommen und können später aufgrund ihres eigenen ökonomischen Handelns durchaus unterschiedliche Mengen an Gütern besitzen. Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind nach Rawls bei vorrangiger Sicherung gleicher Grundfreiheiten und -rechte gerecht, wenn sie zwei Bedingungen erfüllen: „erstens müssen sie mit Ämtern und Posi tionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen, und zweitens – das ‚Differenzprinzip‘ – müssen sie sich zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschafts mitglieder auswirken.“40 Ansonsten muss umverteilt werden. Hinter dem für die ursprüngliche Situation der Entscheidung über Prinzipien einer gerechten Gesellschaft unterstellten ‚Schleier des Nichtwissens‘ würde man nach Rawls des Differenzprinzip wählen, weil es sicherstellt, dass man nicht im 38
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Vgl. Feinberg, Joel, 1970, „Justice and Personal Desert“, in: J. Feinberg, Doing and Deserving, Princeton, reprinted in: Louis P. Pojman & Owen McLeod (Hrsg.), What Do We Deserve? A Reader on Justice and Desert, Oxford (Oxford University Press) 1998. 70–83. Vgl. Rawls, John, 1975 (1971), Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp; Dworkin, Ronald, 1981, „What is Equality? Part 2: Equality of Resources“, Philosophy and Public Affairs 10, 283–345, reprinted in: R. Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, Cambridge: Harvard University Press 2000, 65–119. Rawls, John, 1998, Politischer Liberalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 69; Rawls, John, 1975 (1971), Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 336.
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freien Markt durch die Maschen fällt, und dass es allen besser geht als in einer Situation totaler Gleichverteilung, deren Level mangels Effizienz unter dem des im Differenzprinzip Schlechtestgestellten liegt. Dworkin beansprucht mit seiner Theorie, noch ‚absichts-sensitiver‘ (‚ambition-sensitive‘) und ‚ausstattungs-insensitiver‘ (‚endowement-insensitive‘) als die Rawlsche Theorie zu sein.41 Er schlägt eine hypothetische Auktion vor, auf der sich jeder bei gleichen Zahlungsmitteln Güterbündel so zusammenstellen kann, dass er am Ende niemandes Güterbündel beneidet. „Equality of resources supposes that the resources devoted to each person’s life should be equal. That goal needs a metric. The auction proposes what the envy test in fact assumes, that the true measure of the social resources devoted to the life of one person is fixed by asking how important, in fact, that resource is for others. It insists that the cost, measured in that way, figures each person’s sense of what is rightly his and in each person’s judgement of what life he should lead, given that command of justice.“42 Auf dem freien Markt hängt es dann von den Ambitionen der Individuen ab, wie sich die Verteilung ent wickelt. Die ungerechtfertigten Ungleichheiten aufgrund von unterschiedlicher natürlicher Ausstattung, Begabung und von Glück sollen durch ein differenziertes fiktives Versicherungssystem kompensiert werden, dessen Prämien hinter einem ‚Schleier des Nichtwissens‘ ermittelt werden, um dann im echten Leben auf alle umgelegt und per Steuer eingetrieben zu werden. So soll ein fairer Ausgleich für die natürliche Lotterie erfolgen, der eine ‚Versklavung‘ der talentierten Erfolgreichen durch zu hohe Abgaben verhindert. (vi) Theorien wie die eben genannten, die sich darauf beschränken, grundlegende Mittel gleich zu verteilen, in der Hoffnung, sie könnten den verschiedenen Zwecken aller Menschen gerecht werden, werden von Amartya Sen kritisiert.43 Wie wertvoll die Güter für jemanden sind, hängt von den Möglichkeiten, der natürlichen Umgebung und den individuellen Fähigkeiten ab. Sen schlägt statt dessen vor, sich an grundlegenden menschlichen Möglichkeiten (capabilities) zur Ausübung bestimmter relevanter Seinsweisen und Tätigkeiten (functionings) bei der Verteilung zu orientieren. „According to the capability approach, the ends of well-being, justice and development should be conceptualized in terms of people’s capabilities to function; that is, 41 42
43
Dworkin, Ronald, 1981, „What is Equality? Part 2: Equality of Resources“, Philosophy and Public Affairs 10, 283–345, reprinted in: R. Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, Cambridge: Harvard University Press 2000, 65–119. Dworkin, Ronald, 1981, „What is Equality? Part 2: Equality of Resources“, Philosophy and Public Affairs 10, 283–345, hier: 284; reprinted in: R. Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, Cambridge: Harvard University Press 2000, 65–119. Sen, Amartya, 1992, Inequality Reexamined, Oxford: Clarendon Press, Cambridge: Harvard University Press.
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their effective opportunities to undertake the actions and activities that they want to engage in, and be whom they want to be. […] What is ultimately important is that people have the freedoms or valuable opportunities (capabilities) to lead the kind of lives they want to lead, to do what they want to do and be the person they want to be. Once they effectively have these substantive opportunities, they can choose those options that they value most. For example, every person should have the opportunity to be part of a community and to practice a religion; but if someone prefers to be a hermit or an atheist, they should also have this option.“44 Die Bewertung des individuellen Wohlergehens muss sich an basalen Funktionsweisen wie Ernährung, Gesundheit, Abwesenheit von Gefahren für das Leben usw. festmachen. Wichtig ist aber auch der Freiheitsaspekt, der in der Möglichkeit, die Art und Weise der Verwirklichung der Funktionsweisen selbst zu wählen, enthalten ist. Capabilities sind daher nach Sen das Maß für die angestrebte Gleichheit der Möglichkeiten des Menschen, sein Leben zu führen. (vii) Eine andere Konzeption der Gleichheit, die beansprucht, das Desideratum komplexerer Gleichheit zu erfüllen, arbeitet prozedural mittels einer Präsumtion der Gleichheit, d. h. eines prima facie-Gleichverteilungsprinzips für alle politisch zur Verteilung anstehenden Güter:45 Alle Betroffenen sind ungeachtet ihrer empirischen Unterschiede gleich zu behandeln, es sei denn, bestimmte (Typen von) Unterschiede(n) sind in der anstehenden Hinsicht relevant und rechtfertigen durch allgemein annehmbare Gründe eine ungleiche Behandlung oder ungleiche Verteilung. Wenn alle ein Interesse an den zu verteilenden Gütern haben, so zählen die Befriedigung der Präferenzen aller prima facie (in Abwesenheit besonderer Rechtfertigungsgründe) gleich viel, weil die Personen gleich viel zählen. Wer mehr will, schuldet den anderen eine angemessene allgemeine und reziproke Rechtfertigung. Wenn es keinen Grund für eine Ungleichverteilung, den alle im Prinzip anerkennen können, gibt, dann ist Gleichverteilung die einzige legitime Verteilung. Gleichverteilung ist damit nicht eine unter vielen Alternativen, sondern die unvermeidliche Ausgangsposition, sofern man die Rechtfertigungsansprüche aller als 44 45
Robeyns, Ingrid, 2005, „The Capability Approach: a theoretical survey“, Journal of Human Development, 6, 93–114, hier: 95. Gosepath, Stefan, 2004, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt: Suhrkamp, Kap. II.8; Hinsch, Wilfried, 2002, Gerechtfertigte Ungleichheiten, Berlin–New York: de Gruyter; Tugendhat, Ernst, 1997, Dialog in Letitia, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, Kap. III; Williams, Bernard, 1973, „The Idea of Equality“, in: B. Williams, Problems of the Self, Cambridge: Cambridge University Press, 230–249, reprinted in L. Pojman & R. Westmoreland (Hrsg.), Equality. Selected Readings, Oxford: Oxford University Press 1997, 91–102; Bedau, Hugo Adam, 1967, „Egalitarianism and the Idea of Equality“, in: J. R. Pennock, J. Chapman (Hrsg.), Equality, New York: Atherton, 3–27, hier: 19.
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gleichberechtigt ernst nimmt. Diese Präsumtion der Gleichheit gibt ein elegantes Verfahren für die Konstruktion einer Theorie der Verteilungsgerechtigkeit ab. Folgende Fragen müssten allerdings beantwortet werden, um zu einem inhaltlich gefüllten Gerechtigkeitsprinzip zu kommen: Welche Güter und Lasten stehen zur Verteilung (bzw. sollten zur Verteilung stehen)? Was sind die sozialen Güter, die den Gegenstand gerechter Gleichverteilung abgeben? An wen soll verteilt werden? Wer hat prima facie einen Anspruch auf einen fairen Anteil? Was sind die gerechtfertigten Ungleichheiten je nach Sphäre oder Güterklasse? Dabei werden viele Aspekte der genannten Theorien egalitärer distributiver Gerechtigkeit eine wesentliche Rolle spielen. (viii) Ist Gleichheit ein Wert an sich?46 Viele Egalitaristen sind heute bereit zuzugestehen, dass Gleichheit im Sinne von Gleichheit der Lebensumstände keinen starken Wert an sich hat, sondern ihre Bedeutung im Rahmen liberaler Gerechtigkeitskonzeptionen im Zuge der Verfolgung anderer Ideale erhält – wie Freiheit für alle, volle Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und der Persönlichkeit, die Beseitigung von Leid, Dominanz und Stigmatisierung, stabiler Zusammenhalt moderner freiheitlich verfasster Gesellschaften etc. Dies öffnet die Tür für die kritische Anfrage, ob nicht ein anderer Gesichtspunkt als Gleichheit der Lebensumstände (auch für Egalitaristen) das Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit ist. Alternativen sind zum einen die Sicherung eines hinreichend guten Auskommens für jeden (Suffizienz)47 und zum anderen die vorrangige Verbesserung der Situation der Schlechtergestellten (priority view).48 Beides ist in der Tat dringlich, der Egalitarismus will aber mehr, weil er Gleichheit als einen wichtigen Wert an sich betrachtet.
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Raz, Joseph, 1986, The Morality of Freedom, Oxford; Frankfurt, Harry, 1987, „Equality as a Moral Ideal“, Ethics, 98: 21–42; reprinted in: H. Frankfurt, The Importance of What We Care About, Cambridge University Press 1988; reprinted in: L. Pojman & R. Westmoreland (Hrsg.), Equality. Selected Readings, Oxford: Oxford University Press 1997, 261–273; Scanlon, Thomas, 1996, „The Diversity of Objections to Inequality“, in: The Lindley Lecture, Lawrence, KA: The University of Kansas; reprinted in T. Scanlon, The Difficulty of Tolerance: Essays in Political Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press. „What is important from the moral point of view is not that everyone should have the same but that each should have enough. If everyone had enough, it would be of no moral consequence whether some had more than others.“ Frankfurt, Harry, 1987, „Equality as a Moral Ideal“, Ethics, 98: 21–42, hier: 21; reprinted in: H. Frankfurt, The Importance of What We Care About, Cambridge University Press 1988; reprinted in: L. Pojman & R. Westmoreland (Hrsg.), Equality. Selected Readings, Oxford: Oxford University Press 1997, 261–273. Parfit, Derek, 1997, „Equality and Priority“, Ratio, 10: 202–221.
Gottfried Schweiger
Gleichheit und soziale Gerechtigkeit
Gleichheit ist einer der prägenden Begriffe und Werte moderner Gesellschaften, dabei jedoch umstritten und in seiner Bedeutung und Applikation nicht eindeutig.1 Die Fragen, welche Art von Gleichheit jeweils gemeint ist und bezogen auf welche Dimensionen oder Güter und Lasten Gleichheit anzustreben und herzustellen sei, begleitet politische und soziale Praktiken ebenso wie den philosophischen und wissenschaftlichen Diskurs. Zumindest in der sozialen und politischen Arena ist Gleichheit wie beispielsweise auch Armut ein umstrittener („contested“) ebenso wie ein dichter („thick“) Begriff, in dem deskriptive und präskriptive Elemente vereint werden.2 Gleichheit ist normativ aufgeladen. Dieser über den bloßen beschreibenden Aspekt hinaus gehende Gehalt wird insbesondere dann sichtbar, wenn Gleichheit in ihrem Zusammenhang mit einem weiteren, nicht minder umstrittenen Begriff und Konzept diskutiert wird, nämlich der sozialen Gerechtigkeit. Beide, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, scheinen schon auf den ersten Blick und intuitiv miteinander verbunden bzw. so als würden sie in ihren Bedeutungen zumindest in Anteilen konvergieren und sich überlappen. Gleichheit als Bestandteil der sozialen Gerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit als Ausdruck der Gleichheit. Wird Gleichheit als Grundwert diskutiert, wird diese Verknüpfung umso wichtiger, da, so eine erste Vermutung, eben jene Wertigkeit von Gleichheit, der Grund sie anzustreben und das politische und soziale Handeln daran zu orientieren, in ihrem Bezug zur sozialen Gerechtigkeit liegen könnte. Ebenso ist aber auch davon auszugehen, dass der Wert der sozialen Gerechtigkeit – und dass diese einen gewichtigen Wert darstellt, kann wohl nur schwer bestritten werden – sich über eine Diskussion des Wertes und der
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Irene Becker und Richard Hauser, Soziale Gerechtigkeit – ein magisches Viereck. Zeitdimensionen, Politikanalysen und empirische Befunde, 1. Aufl., Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung 104 (Berlin: Edition Sigma, 2009); Angelika Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit: Texte der neuen Egalitarismuskritik, 1. Aufl. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000). Gottfried Schweiger, „Philosophie und Armut. Überlegungen zu ihrem Zusammenhang“, diskurs. gesellschafts- und geisteswissenschaftliche interventionen 8, Nr. 1 (Juli 2012): 66–87.
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Bedeutung von Gleichheit erschließen lässt. Die umfangreiche philosophische Literatur, die sich um die Frage des Verhältnisses von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit ausgebildet hat, ist hierfür nur ein Zeuge.3 Dieser Beitrag will einige wenige Schlaglichter auf dieses Verhältnis werfen, nicht mit der Absicht, die Literatur zu referieren oder Teile hieraus darzustellen, sondern vielmehr aus einer spezifischen, normativen Perspektive heraus, in der Gleichheit und soziale Gerechtigkeit problematisiert und selbst wiederum problematisch werden. Dieser theoretische Rahmen kann als Theorie oder Sozialphilosophie der Anerkennung bezeichnet werden, die ihre Wurzeln vor allem in der Philosophie Hegels hat, in den letzten Jahren aber prominent von solchen Denkerinnen und Denker wie Nancy Fraser und Axel Honneth weiter entwickelt wurde.4 In meiner Diskussion will ich in drei Schritten vorgehen. Zunächst gilt es die grundlegenden Begriffe und Theoreme einer Theorie der Anerkennung auszubreiten und zu erläutern. Im zweiten Schritt wird dann der gerechtigkeitstheoretische Kern dieser Theorie diskutiert, der einerseits auf die Zentralität von Autonomie und Selbstverwirklichung, andererseits auf die intersubjektiven, also auch sozialen und politischen Bedingungen eben dieser beiden, verweist und in dem Gleichheit ein Bestandteil von sozialer Gerechtigkeit ist, jedoch der Differenz und Ungleichheit eine ebenso wichtige, normative Bedeutung zugeschrieben wird. Gerechtigkeit zielt auf die Verwirklichung von Gleichheit in bestimmten Dimensionen, aber auch auf die Ungleichheit in anderen. Daraus ergibt sich dann eine inhärente Spannung zwischen Bestrebungen der Ausweitung von Gleichheit, also ihrer Verwirklichung in weiterern Dimensionen, und Bestrebungen der Ausweitung der Differenz und Ungleichheit. Kurz: eine solche Spannung von Gleichheit und Ungleichheit prägt die moderne Gesellschaft und ihre Kämpfe um Anerkennung, sei es in den Bereichen der Arbeit, der Verteilung von Einkommen und Posten und Vorteilen oder der Inklusion in die sozialen Sicherungssysteme. Die Zunahme der auf Gleichheit ruhenden Inklusion von immer mehr Gesellschaftsmitgliedern kann dann sowohl als Fortschritt interpretiert werden, der jedoch genügend sozialen Raum für die Ausprägung des Einzelnen und damit seiner je eigenen Differenz gegenüber Anderen lassen sollte. Gleichheit ist für eine Theorie der Anerkennung also ein wesentlicher Bestandteil von sozialer Gerechtigkeit, jedoch nicht ihr einziges oder bestimmendes Maß.
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Krebs, Gleichheit oder Gerechtigkeit: Texte der neuen Egalitarismuskritik. Nancy Fraser und Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung? Eine philosophischpolitische Kontroverse, 1. Aufl. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003).
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1. Eine Theorie der Anerkennung
Es gibt nicht die geeinte Theorie der Anerkennung, sondern unterschiedliche Ausdeutungen der Einsicht, dass Anerkennung in modernen Gesellschaften, in sozialen und politischen Praktiken, für das Verstehen und Erklären von Welt und für die Entwicklung evaluativer und präskriptiver Theorien von großer Bedeutung ist. Eine Theorie der Anerkennung kann deshalb sowohl empirisch und deskriptiv sein, womit sie eher in den Bereich der Sozial wissenschaften gehört, aber auch explizit normative Ansprüche erheben, also in den Bereichen der Ethik, der politischen Philosophie und Sozialphilosophie angesiedelt werden.5 In der Variante, wie ich sie hier diskutieren möchte, wird eine Theorie der Anerkennung vornehmlich als normative Theorie, also als Theorie darüber, was als gut und gerecht, was als moralisch verwerflich und ungerecht anzusehen ist und nach welchen Maßstäben und Prinzipien die Gesellschaft und ihre Institutionen eingerichtet werden sollten.6 Dabei lassen sich vier Bereiche unterscheiden, die den Kern einer Theorie der Anerkennung ausmachen: (1) Anerkennung und Missachtung sind ihrer Form nach anthropologisch universal, ihrem Inhalt nach historisch und sozial relativ. (2) Anerkennung und Missachtung besitzen einen intrinsischen normativen Wert und sind darüber hinaus wertvoll, weil und insofern sie Autonomie und Selbstverwirklichung ermöglichen. (3) Die Aufgabe einer normativen Theorie der Anerkennung besteht dann darin, Formen der Missachtung, insbesondere jene, die in einer Gesellschaft weit verbreitet sind, zu kritisieren, also ihre Ursachen und Auswirkungen zu rekonstruieren und schließlich (4) Vorschläge zur Einrichtung und zum Erhalt solcher sozialer Strukturen, in denen gelungene Anerkennung möglich ist, zu entwickeln, also darüber nachzudenken, wie eine Gesellschaft sozial gerecht eingerichtet werden kann. Anerkennung ist dabei deshalb von so großer Bedeutung, weil sie eine anthropologische und daraus folgend eine eminente soziale und normative Funktion besitzt. Anerkennung ist ein Bedürfnis des Menschen, wobei diese auf unterschiedliche Dimensionen des Menschseins reagiert. Dabei sind drei grundlegende Formen von Anerkennung unterscheidbar: Anerkennung in der Form der Liebe und der personalen Zuwendung, die sich auf den Menschen als einzigartiges Individuum bezieht. Anerkennung in der Form der Achtung, die den Menschen als autonomes Wesen, welches mit gleicher Würde ausge5
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Carl-Göran Heidegren, „Anthropology, social theory, and politics: Axel Honneth’s theory of recognition“, Inquiry 45, Nr. 4 (2002): 433–446; Shane O’Neill und Nicholas H. Smith (Hrsg.), Recognition theory as social research: investigating the dynamics of social conflict, 1. Aufl. (Basingstoke–New York, NY: Palgrave Macmillan, 2012). Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 1. Aufl. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994); Axel Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, 1. Aufl. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000).
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stattet ist, sieht. Und schließlich Anerkennung in Form der sozialen Wertschätzung, welche sich auf den Menschen als besonderer Teil eines größeren Ganzen, einer Gemeinschaft und Gesellschaft, bezieht. Diese drei Anerkennungsformen umschreiben damit auch Dimensionen der Verletzbarkeit, die dem menschlichen Leben als Möglichkeit inne wohnen. Jeder Mensch kann physisch, psychisch und sozial verletzt werden, sei es durch Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit, soziale Ausgrenzung oder Entrechtung. Wenn wir uns gegenseitig anerkennen, so ist dies also nicht nur eine adäquate Reaktion auf spezifische Seins- und Verhaltensweisen, sondern schützt auch vor solchen Verletzungen. Solche Verletzungen, die als moralisch verwerflich angesehen werden können, stellen die negativen Gegenstücke zu den drei Formen der Anerkennung dar und lassen sich in drei Formen der Missachtung beschreiben: Missachtung als Verletzung der physischen und psychischen Integrität, Missachtung als Verletzung der Autonomie, und schließlich Missachtung als Verletzung des sozialen Status. Die Erfahrung wechselseitiger Anerkennung und der Schutz vor Missachtung bilden dann den intersubjektiven Rahmen und die sozialen Bedingungen dafür ein gelungenes Leben führen zu können, also eigene Ziele, für die man gute Gründe hat, sie zu schätzen, anzustreben und zu verwirklichen. Anerkennung besitzt einen intrinsischen Wert als auch einen Wert, indem es die Möglichkeitsbedingungen abbildet, die für die Gestaltung eines gelungen Lebens nötig sind. Doch beschreiben diese drei Formen von Anerkennung und Missachtung, ebenso wie der Terminus des gelungenen Lebens7 noch nicht deren konkrete Inhalte und wie sie für den Einzelnen und in unterschiedlichen sozialen Kontexten realisiert werden. Die Dichotomie von Form und Inhalt lässt hier einen weiten Gestaltungsspielraum, der sich in weiterer Folge als das Spannungsverhältnis zwischen einer kontext-sensitiven und einer kontext-übergreifenden Bedeutung von Anerkennung beschreiben lässt. Liebe und personale Zuwendung können ebenso auf vielfältige Art und Weise realisiert werden, wie auch Achtung und der Bereich des Rechts ausdifferenziert sind und soziale Wertschätzung sich innerhalb und zwischen Gemeinschaften und Gesellschaften unterscheidet. Die empirische Forschung hat hier eine Vielzahl an Erkenntnissen zusammengetragen, die sich jedoch nicht so ohne weiteres verallgemeinern lassen. Eine grundlegende Tendenz in vielen modernen Gesellschaften ist es jedoch, dass die materielle Grundversorgung durch den Staat abgesichert wird und dass dies eine verrechtlichte Anerkennung kontext-sensitiver Bedürfnisse darstellt. Die Versorgung in Notlagen, bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder im Alter wird in Wohlfahrtsstaaten, dem Prinzip nach zumindest, als Recht, welches der Würde des Menschen
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Holmer Steinfath (Hrsg.), Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen, 1. Aufl. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998).
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entspringt, angesehen und für alle gleichermaßen, wenn auch in sich nach bestimmten Kriterien differenziert, sichergestellt. Eine weitere Eigenschaft, die in fast allen modernen Gesellschaften anzutreffen ist, ist die Ausweitung der Bedeutung von Erwerbsarbeit als universalem Inklusionsmechanismus und Anerkennungsquelle. Insbesondere soziale Wertschätzung wird zu einem erheblichen Anteil, sicherlich nicht ausschließlich, über und in Erwerbsarbeit vermittelt.8 Gleiches gilt auch für Formen der Missachtung: Arbeitslosigkeit, Armut als Versagen am Arbeitsmarkt, prekäre Jobs usw. sind die sozialen Pathologien in einer auf Erwerbsarbeit konzentrierten Gesellschaft.9 Hier findet Demütigung, Entwürdigung, Scham, Rückzug statt. Erwerbsarbeit und Wohlfahrtsstaat als die beiden großen Anerkennungsstrukturen hängen offensichtlich zusammen, wobei sie sich wechselseitig verstärken aber auch Räume des Konflikts öffnen.10 In beiden wird ebenso Anerkennung vermittelt, wie sie auch Kontexte der Missachtung darstellen. Von diesem Grundriss her eröffnet sich eine anerkennungstheoretische Konzeption sozialer Gerechtigkeit. Eine jede Theorie der sozialen Gerechtigkeit hat zumindest drei Fragen zu klären: Welche Güter, Vorteile und Nachteile oder Fähigkeiten sollen gerecht verteilt werden? In welchem sozialen Kontext sollen diese gerecht verteilt werden? Nach welchen Prinzipien sollen diese verteilt werden? Daraus ergibt sich die Grundform sozialer Gerechtigkeit als die gerechte Verteilung der Güter g im Kontext k gemäß der Prinzipien p. Eine Theorie der Anerkennung gibt hierauf folgende Antwort, die wiederum in zwei Hinsichten spezifiziert werden kann. Einmal kann Anerkennung selbst als zu verteilendes Gut verstanden werden, dann lautet die Grundform, dass ein sozialer Kontext jeweils dann gerecht ist, wenn all seine Mitglieder über ein adäquates Maß an Anerkennungserfahrungen verfügen. Andererseits kann Anerkennung als Prinzip der Verteilung verstanden werden, also so, dass ein sozialer Kontext dann gerecht ist, wenn die Güter gemäß der Formen der Anerkennung von Liebe, Achtung und sozialer Wertschätzung verteilt werden. Beide Hinsichten sind zutreffend und decken unterschiedliche Dimensionen einer Theorie der Anerkennung ab. Die erste, also jene, der es um die gerechte Verteilung von Anerkennung geht, impliziert, dass Anerkennung sich in unterschiedlichen Gütern, Vor- und Nachteilen mani-
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Ursula Holtgrewe, Stephan Voswinkel und Gabriele Wagner (Hrsg.), Anerkennung und Arbeit, 1. Aufl. (Konstanz: UVK, 2001). Gottfried Schweiger, „Relative Armut und soziale Wertschätzung“, SATS 13, Nr. 1 (Januar 2012): 39–59; Clemens Sedmak, „Menschenwürdige Arbeitslosigkeit“, in: Menschenwürdiges Arbeiten. Eine Herausforderung für Gesellschaft, Politik und Wissenschaft, von Thomas Böhler u. a., 1. Aufl. (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009), 133–192. Gottfried Schweiger, „Die zeitliche Dimension sozialer Wertschätzung im Lebenslauf “, Prolegomena 10, Nr. 2 (2011): 239–264.
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festiert, ja materialisieren kann. Einkommen kann dann ebenso eine Form der Anerkennung sein, wie auch Möglichkeiten der politischer Partizipation oder Zugang zu Gesundheitsversorgung. In der anderen Hinsicht wird in den drei Formen der Anerkennung eines bzw. ein jeweils spezifisches Verteilungsprinzip ausgemacht: Diese können unter Rückgriff auf die Theorie von David Miller als die Prinzipien des Bedarfs (implizit in der Anerkennungsform der Liebe), des Verdienstes (implizit in der Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung) und der Gleichheit (implizit in der Anerkennungsform der Achtung) verstanden werden.11 Dann gilt es zu klären, welche Güter oder Anerkennungsformen nun mit Hilfe welchen Prinzips verteilt werden sollten. Offensichtlich ist hier mit Unschärfen zu rechnen. Man denke nur an das Gut Geld. Dieses kann offensichtlich Anerkennung ausdrücken, und dies in ganz unterschiedlichen Kontexten und Formen tun. Geld kann als Arbeitseinkommen eine Form der sozialen Wertschätzung sein, die jemand für seine produktive Arbeit von seinem Arbeitgeber erhält. Geld kann jedoch auch in Form einer staatlichen Unterstützungsleistung, etwa bei einem Pflegebedarf, sein, die eher als Form der Achtung verstanden werden sollte und durch den Wohlfahrtsstaat rechtlich gesichert ist, ohne dass hierfür besondere Leistungen erbracht werden müssen. Weiters kann Geld aber auch ein Ausdruck der Liebe und der personalen Zuwendung sein, etwa in Form eines Geschenkes oder auch Ausdruck einer Partnerschaft, wenn nur eine Person Einkommen bezieht, dieses jedoch gemeinsam genutzt wird. Die Verteilung von Geld findet in unterschiedlichen Kontexten, verstanden als unterschiedliche Anerkennungsformen und gemäß unterschiedlicher Prinzipien, statt und es lässt sich, ohne eine nähere Prüfung, nicht abschließend klären, welche dieser Verteilungen gerecht ist. Einmal kann es die Verteilung gemäß Bedarf sein, einmal die gleiche Verteilung und einmal die Verteilung gemäß eines vorher definierten Verdienstmaßstabes. Damit ist weiters angesprochen, dass die Frage welche Güter denn zu verteilen sind, aus anerkennungstheoretischer Perspektive nicht so einfach zu beantworten ist, da diese einerseits kontextsensitiv, andererseits kontext-übergreifend bestimmt werden können. Vielmehr ist eine Theorie der Anerkennung hier auf andere Theorien verwiesen, die bestimmen helfen, ob hier der Fokus auf Grundgüter, Fähigkeiten oder Lebenschancen, um nur eine kleine Auswahl an Möglichkeiten zu nennen, gelegt werden sollte, wobei wahrscheinlich keine für alle Kontexte und Fragestellungen verbindliche Antwort möglich ist. Was nun die Eingrenzung des sozialen Kontextes angeht, auch hier gibt es keine fixe anerkennungs 11
Axel Honneth, „Philosophie als Sozialforschung. Die Gerechtigkeitstheorie von David Miller“, in: Grundsätze sozialer Gerechtigkeit, von David Miller, 1. Aufl., Theorie und Gesellschaft 58 (Frankfurt am Main–New York, NY: Campus, 2008), 7–25; David Miller, Grundsätze sozialer Gerechtigkeit, 1. Aufl., Theorie und Gesellschaft 58 (Frankfurt am Main–New York, NY: Campus, 2008).
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theoretische Perspektive, sondern vielmehr eine thematische Breite und Tiefe. Es können sowohl kleinere Kontexte wie Familien und Kommunen aber auch größere Kontexte wie Gesellschaften oder der globale Kontext relevante Rahmen für die Bestimmung sozialer Gerechtigkeit und die Schaffung von adäquaten Anerkennungsverhältnissen sein. Ausschlaggebend für die anerkennungstheoretische Perspektive ist vielmehr der Zielhorizont, also das Ergebnis sozialer Gerechtigkeit, als die Schaffung solcher sozialer Bedingungen, in denen die Erfahrung unverzerrter Formen der Anerkennung für alle Gesellschaftsmitglieder möglich ist und sie vor illegitimen Erfahrungen der Missachtung, seien diese individuell oder institutionell, geschützt werden. In diesem Beitrag möchte ich mich vor allem auf zwei Bereiche kon zentrieren, nämlich das Verhältnis von Wohlfahrtsstaat und Erwerbsarbeit und die Verteilung von Einkommen durch diese beiden und in diesen beiden Kontexten, wobei jener der Erwerbsarbeit Teil des Wohlfahrtsstaates ist. Der Wohlfahrtsstaat ist somit sowohl Rahmen für sich selbst bzw. seine Institu tionen, die Einkommen verteilen als auch für den Kontext der Erwerbsarbeit. Als hypothetische Formulierung lautet das Ziel dann, dass die Einkommen im Wohlfahrtsstaat so zu verteilen sind, dass sie die Inklusion und die Erfahrung von Anerkennung ermöglichen (Einkommen als Mittel für weitere Anerkennung) aber auch die Verteilung selbst nicht als missachtend, sondern als anerkennend erfahren wird (Einkommen als Zweck und Form der Anerkennung). Erst beide geben die sozialen Bedingungen ab, dass Menschen ihre eigenen Ziele verfolgend und verwirklichen können, wobei auch hier wiederum Einkommen als Mittel und als Zweck dienen kann. Obwohl ich mich im nächsten Abschnitt also auf Einkommen beschränken werde, ist damit zumindest implizit eine ganze Reihe weiterer Vor- und Nachteile angesprochen. Einkommen ist untrennbar mit sozialem Status, Bildung, politischer Partizipation, Gesundheit, Konsum und Lebenschancen verknüpft.12 Anerkennung in der Form von Einkommen wird daher immer auch Auswirkungen auf andere wichtige Bereiche haben, in denen eigentlich andere Verteilungsprinzipien wirken sollten bzw. in denen andere Anerkennungsverhältnisse erwünscht wären. So kann es ein Ergebnis sein, dass Einkommen primär nach Verdienst verteilt werden sollte, dies jedoch insoweit eingeschränkt werden darf, als Einkommen eine ungleiche Verteilung von Gesundheit verursachen, obwohl doch Gesundheit allen Menschen gleichermaßen zukommen sollte. Solche Zielkonflikte werden mich im Folgenden ebenfalls interessieren, da genau hierin der Wert der Gleichheit problematisch wird.
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Lee Rainwater, What money buys: inequality and the social meanings of income (New York, NY: Basic Books, 1974); Kurt Salentin, Armut, Scham und Stressbewältigung: die Ver arbeitung ökonomischer Belastungen im unteren Einkommensbereich, 1. Aufl. (Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag, 2002).
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2. Gleichheit und soziale Gerechtigkeit: Arbeit und Wohlfahrtsstaat
Gleichheit wurde bislang nur implizit thematisiert und es herrscht auch keine Einigkeit darüber, welche Stelle und Funktion sie in einer Theorie der Anerkennung inne hat oder inne haben sollte. Zunächst ist sie vor allem in der Anerkennungsform der Achtung, die sich idealtypisch als Recht realisiert, zu verorten. Achtung basiert auf der Einsicht, dass alle Menschen Personen mit gleicher Würde und ihrem Gattungswesen nach vernünftig und autonom sind. Alle Menschen sind gleich in Bezug auf ihre Würde, daher stehen ihnen auch alle gleiche Rechte und Pflichten zu. Doch auch hier ist wiederum nur die Form bzw. das allgemeine Prinzip der Anerkennung vorgezeichnet, dessen Inhalt erst konkretisiert werden muss und auch auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein kann. Dies bezieht sich dann in einem universalen Maßstab auf Menschenrechte, in einem nationalen Maßstab auf jeweils spezifische Staatsbürgerrechte und kann sich in einem organisatorischen Maßstab auf Mitgliederrechte beziehen. Immer ist es das Prinzip der Verallgemeinerung und des Absehens von bestimmten Eigenschaften, welches der Achtung zu Grunde liegt. Geachtet wird jemand unabhängig davon, was er oder sie leistet, oder was er oder sie für spezifische Eigenschaften und Vorlieben hat, sondern nur gemäß der unverfügbaren Eigenschaft als autonomes Wesen bzw. als Mitglied eines bestimmten Kontextes. Das heisst gerade nicht, dass hier keine Exklusionsmechanismen wirken können, ja, diese sind gerade die idealtypische Form der Missachtung, wenn es um Anerkennung in der Form der Achtung geht. Dann finden Prozesse der Entmenschlichung und Entrechtung statt, wie sie in Diktaturen, rassistischen Gesetzen oder Diskriminierungen anzutreffen sind. Diese Erfahrungen der Missachtung ruhen darauf, dass hier eine ungleiche Behandlung bis hin zu offener Feindseligkeit und Angriffen vorliegt, wo doch Gleichheit angestrebt werden sollte. In solchen Kontexten, die von Achtung geprägt sein sollten, ist die gleiche Verteilung von Gütern, Vor- und Nachteilen das Ziel und die gerechte Form der Verteilung. Alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger haben die gleichen Rechte und Pflichten, die gleichen Freiheiten und sind gleich vor dem Gesetz, um nur einige mögliche Beispiele zu nennen. Aber auch in den anderen beiden Formen von Anerkennung ist Gleichheit von Bedeutung und ist implizit angesprochen. Gleichheit ist hier jedoch zumeist kein Wert für sich, sondern nur eine Bedingung, um andere Ziele zu erreichen. Personale Zuwendung zielt aber ebenso wie soziale Wertschätzung vor allem die Differenzierung zwischen Menschen entlang unterschiedlicher Merkmale, von denen das Prinzip der Achtung gerade absieht. Der Bereich der Liebe, Freundschaft und der emotionalen Fürsorge ist auf den Einzelnen als gerade nicht austauschbare und einzigartige Person ausgerichtet, in dem Gleichheit keine oder nur eine stark untergeordnete bzw. abgeleitete Rolle spielt. Partnerinnen und Partner, Freunde und Familie werden eben gerade nicht gleich behandelt, Zuwendungen, Gefühle und Sympathie sind
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keine Güter, die nach Bedarf hergestellt und verteilt werden könnten.13 Dies macht gerade ihre Besonderheit aus. Damit ist nicht gesagt, dass hier gerechtigkeitstheoretische Überlegungen keine Rolle spielen können und sollen, sie treffen jedoch auf spezifische Schwierigkeiten, weshalb dieser Bereich auch in vielen Theorien der sozialen Gerechtigkeit ausgespart bleibt. Ebenso wirft der Anspruch auf soziale Wertschätzung Schwierigkeiten auf, die mit der Spezifität dieser Anerkennungsform zu tun haben. Wird soziale Wertschätzung gleich verteilt, so verliert sie ihre Funktion und ihren Wert, sie kann nicht mehr besondere Leistungen, Eigenschaften und Tätigkeiten auszeichnen. Anerkennung wird dann leer, ja sie kann sogar als Missachtung erfahren werden.14 Wenn zwei Personen Unterschiedliches leisten, sei es im Beruf oder im Privatleben, dafür jedoch die selbe Wertschätzung erhalten, so kann dies als Nichtbeachtung oder als Geringschätzung erfahren werden. Jeder Mensch bedarf, und dies ist ja der Hintergrund einer Theorie der Anerkennung, eben jener Anerkennung seiner Besonderheit. Besonders ist aber jeweils nur, was eine Differenz ausdrückt und nicht von allen gleichermaßen geteilt oder erhalten wird. Gleichheit ist dann jedoch wiederum gefordert, wenn es um illegitime Differenzen geht. Wenn zwei die selbe Arbeitsleistung erbringen, dafür jedoch nur auf Grund der Hautfarbe unterschiedlich entlohnt werden, so ist dies keine legitime Differenzierung gemäß Besonderheit. Offensichtlich kommen hier, wie in fast allen Fällen und Kontexten, zwei Anerkennungs formen, nämlich Achtung und soziale Wertschätzung, zusammen und können sich ergänzen aber auch zu Konflikten führen. Gleichheit ist immer nur insoweit gefordert als keine guten Gründe für eine Ungleichverteilung bestehen und es ist prinzipiell nicht ausreichend, dass alle das Gleiche erhalten, wenn sie unterschiedliche Anerkennungsansprüche, sei es auf Grund von bedarf oder Verdienst, besitzen. Damit will ich auf die beiden Kontexte von Wohlfahrtsstaat und Erwerbsarbeit zu sprechen kommen und an ihnen eine Spannung, die ich als jene zwischen Gleichheit und Differenz bezeichnen möchte, aufzeigen. Idealtypisch ist der Wohlfahrtsstaat eine die Gesellschaft übergreifende Institutionalisierung von Anerkennungsansprüchen, die sich vornehmlich auf den Bereich des Schutzes und der Anerkennung von legitimen physischen, psychischen und sozialen Bedürfnissen beziehen, die über den Bereich der Anerkennung von Freiheitsrechten hinausgehen.15 Hier werden Ansprüche des Bedarfs in 13 14
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Eva Illouz, Der Konsum der Romantik: Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, 1. Aufl. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009). Stephan Voswinkel, „Bewunderung ohne Würdigung? Paradoxien der Anerkennung doppelt subjektivierter Arbeit“, in: Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, hg. von Axel Honneth, 1. Aufl., Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie 1 (Frankfurt am Main–New York, NY: Campus, 2002), 65–92. Christoph Sachße und H. Tristam Engelhardt (Hrsg.), Sicherheit und Freiheit. Zur Ethik des Wohlfahrtsstaates, 1. Aufl. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990).
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rechtliche Ansprüche transformiert und damit in ein Anerkennungsverhältnis der Achtung überführt. Dabei sind immer auch Elemente der sozialen Wertschätzung und des Verdiensts enthalten, die sich in der Differenzierung von Ansprüchen und der Finanzierung ausdrücken. Jene, die mehr einzahlen, erhalten in einigen Bereichen mehr (etwa Arbeitslosenversicherung und Pensionsansprüche), während in anderen Bereichen alle das gleiche bekommen (etwa die Familienbeihilfe in Österreich), während in anderen Bereichen nach Bedarf Leistungen gestellt werden, die dann aber für alle, die ihrer bedürfen, gleich sind (etwa in der Gesundheitsversorgung). All diese Leistungen des Wohlfahrtsstaates können als Formen der Anerkennung rekonstruiert werden, die auf unterschiedliche Bedürfnisse und Dimensionen der Verletzbarkeit reagieren und diese schützen, andererseits aber auch Systeme der zeitlich verschobenen Anerkennung für vergangene Leistungen und Verdienste darstellen. Idealtypisch sind hierfür Pensionsansprüche, in denen diachrone und synchrone Elemente der Anerkennung vereint werden. Einerseits ist die Absicherung im Alter eine Grundleistung für alle jene, die eben gerade alt sind und eine Pension benötigen, andererseits sind diese als Ansprüche nicht nur als Absicherung zum Lebenserhalt begründet, sondern auch wesentlich in der vorher erbrachten Leistung und des Einzahlens in die sozialen Sicherungssysteme. Hier kommen also Anerkennungsansprüche in den Formen der Achtung, des Bedarfs und des Verdienstes zusammen und stützen sich gegenseitig, können aber auch konfligieren. Die Umverteilungsfunktion des Wohlfahrtsstaates ist selbst Bestandteil dieses Anerkennungsverhältnisses, indem es spezifische soziale, symbolische und materielle Anerkennungs formen für alle Bürgerinnen und Bürger sicher stellt und hierfür die Mittel derer einsetzt, die höhere Einkommen erzielen. Die Ausweitung der wohlfahrtsstaatlichen Funktionen und Ansprüche kann dabei als ein historischer Fortschritt angesehen werden, der einerseits den Einzelnen entlastet und absichert, andererseits dadurch neue Freiheitsspielräume eröffnet, aber auch zu Restriktionen führt. Sicherheit wird über den Preis der Institutionalisierung von Lebensläufen und Biographien entlang mehr oder weniger starr vorgegebener Muster erkauft.16 Der Wohlfahrtsstaat wirkt inkludierend, indem er Bildung, Gesundheit, Wohlstand, soziale und politische Teilhabe für eine größere Bevölkerungsmehrheit sicher stellt und egalisiert. Viele dieser Leistung sind dann auch das Resultat jahrzehntelanger Anerkennungskämpfe, insbesondere der erwerbstätigen Bevölkerung, die soziale Sicherung von der Arbeitsleistung unabhängig zu machen und sind dahingehend auch unmittelbar mit dem Kontext der Erwerbsar16
Martin Kohli, „Der institutionalisierte Lebenslauf: ein Blick zurück und nach vorn“, in: Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002, hg. von Jutta Allmendinger, 1. Aufl. (Opladen: Leske & Budrich, 2003), 525–545.
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beit verknüpft. Der Wohlfahrtsstaat ist zumindest teilweise ein Produkt der Auslagerung von Anerkennungsansprüchen aus dem privaten, betrieblichen Bereich in den öffentlichen, staatlichen, um diese auf eine breitere Basis zu stellen, also den Kreis der Betroffenen auszuweiten, als auch abzusichern gegenüber der Willkür der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Diese Absicherung ist dann demokratisch legitimiert und politisch institutionalisiert worden. Der Bereich der Erwerbsarbeit wiederum ist idealtypisch durch die Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung und somit von Differenzierung geprägt. Das maßgebliche Verteilungsprinzip ist nicht Gleichheit und auch nicht Bedarf, sondern Verdienst und Leistung. Zwei Kategorien, die auch außerhalb der Erwerbsarbeit normatives Gewicht beanspruchen und zur Legitimation von Ansprüchen und Praktiken genutzt werden.17 Der Arbeitsmarkt vergibt Positionen, Einkommen und sozialen Status – wiederum idealtypisch – an jene, die sich hierfür durch Leistungserfüllung qualifiziert haben. Dabei sind mehrere Konzepte prekär und bislang auch im Bereich der normativen Philosophie weitgehend ungeklärt. Was als Leistung, welche Art der Anerkennung verdient ist, unterschiedet sich zwischen Berufen und Sektoren erheblich. Die Einkommensschere ist nur ein Ausdruck davon. Leistung wird demgemäß unterschiedlich gedeutet und zur Anwendung gebracht: es können rein ökonomische Kriterien angelegt werden, Kriterien des Aufwands und des Erfolgs, aber auch soziale Kriterien, Seniorität und der Nutzen für das Gemeinwohl oder solche, die noch schwerer zu messen sind, wie Innovation und Mitarbeiterführung. Die Kehrseite der Medaille ist die Produktion von Missachtung und sozialem Leid durch und im Arbeitsmarkt. Dies kann dabei vornehmlich zwei Formen annehmen: Einerseits ist hier der unfreiwillige Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt durch Arbeitslosigkeit zu nennen. Hier wird der Zugang zu einer wichtigen Anerkennungsressource, Erwerbsarbeit, unterbunden und gleichzeitig ist die Situation der Arbeitslosigkeit, insbesondere, wenn sie längere Zeit anhält, selbst mit vielfältigen Formen der Missachtung verbunden und wird von Betroffenen mitunter als leidvoll erfahren.18 Andererseits ist die Erwerbsarbeitswelt selbst gebrochen und mit Belastungen verbunden. Verstärkt auch durch den Matthäuseffekt19, also die 17 18
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Kai Dröge, Kira Marrs und Wolfgang Menz (Hrsg.), Rückkehr der Leistungsfrage. Leistung in Arbeit, Unternehmen und Gesellschaft, 1. Aufl., Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung 89 (Berlin: Edition Sigma, 2008). Alfons Hollederer und Helmut Brand (Hrsg.), Arbeitslosigkeit, Gesundheit und Krankheit, 1. Aufl. (Bern: Huber, 2006); Marie Jahoda, Wieviel Arbeit braucht der Mensch? Arbeit und Arbeitslosigkeit im. 20. Jahrhundert, 1. Aufl. (Weinheim–Basel: Beltz, 1983); Gottfried Schweiger, „Anerkennung und Arbeitslosigkeit“, Meta: research in Hermeneutics, Phenomenology, and Practical Philosophy 3, Nr. 2 (2011): 291–310. Robert Hunter Wade, „On the causes of increasing world poverty and inequality, or why the Matthew effect prevails“, New Political Economy 9, Nr. 2 (Juni 2004): 163–188.
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Kumulation von Vorteilen, stehen einer gut abgesicherten, einkommensstarken und vernetzten Gruppe zunehmend Menschen in perkarisierten und flexibilisierten Beschäftigungs- und Arbeitsverhältnissen gegenüber.20 Prekarität kann ebenso wie die in manchen Bereichen, sicherlich nicht allen, anzutreffende Subjektivierung und Entgrenzung von Arbeit21 als strukturelle Verunsicherung beschrieben werden, die von vielen, wiederum nicht allen, Betroffenen als leidvoll erfahren werden, eben weil ihre Anerkennungsansprüche nicht eingelöst werden.22 Aber auch die Zunahme von psychischen Belastungen und Störungen durch und in der Erwerbsarbeit können dahingehend interpretiert werden.23 Der Leistungsmodus in der Erwerbsarbeit steht nun in einem Spannungsverhältnis zum Bedarfsmodus und der Gleichheitsidee des Wohlfahrtsstaates. Diese wurde explizit von Hans-Christoph Schmidt am Busch aufgezeigt, dass der Marktmechanismus zur Verteilung von Einkommen mit der Umverteilungsfunktion des Wohlfahrtsstaat in Konkurrenz tritt und bei den Betroffenen, sowohl bei jenen, die vom Marktmechanismus als auch bei jenen, die vom Wohlfahrtsstaat profitieren, unterschiedliche Motivationen und Anerkennungsansprüche erzeugt. Es gibt, aus Perspektive einer Theorie der Anerkennung, gute Gründe in Konkurrenz zum Wohlfahrtsstaat seine eigenen Anerkennungsansprüche aus der Erwerbsarbeit, also vor allem auch sein Einkommen, zu maximieren wie es auch gute Gründe gibt, sich gegen die Marktverteilung zu positionieren und vom Wohlfahrtstaat maximale Umverteilung, und damit Bedarfssicherung und Gleichheit, zu beanspruchen.
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Robert Castel und Klaus Dörre (Hrsg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, 1. Aufl. (Frankfurt am Main–New York, NY: Campus, 2009). Gottfried Schweiger, „Arbeit im Strukturwandel“, in: Menschenwürdiges Arbeiten. Eine Herausforderung für Gesellschaft, Politik und Wissenschaft, von Thomas Böhler u. a., 1. Aufl. (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009), 39–71. Gottfried Schweiger, „Typisch atypisch. Eine anerkennungstheoretische Perspektive auf die Veränderungen der Arbeitswelt“, in: Identität und Inklusion im europäischen Sozialraum, hg. von Elisabeth Klaus u. a., 1. Aufl., VS Research (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010), 156–192; Gottfried Schweiger, „Der individualisierte Lebenslauf als Modus moralischer Verletzung“, in: Crossing Borders. Grenzen (über)denken. Beiträge zum 9. Internationalen Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philo sophie in Wien, hg. von Alfred Dunshirn, Elisabeth Nemeth und Gerhard Unterthurner, 1. Aufl. (Wien: Österreichische Gesellschaft für Philosophie, 2012), 609–618. Heiner Keupp und Helga Dill, „Vorwort: Erschöpfende Arbeit – Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt“, in: Erschöpfende Arbeit: Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt, hg. von Heiner Keupp und Helga Dill, 1. Aufl., Reflexive Sozialpsychologie (Bielefeld: Transcript, 2010), 7–19; Elin Thunman, „Burnout as a social pathology of self-realization“, Distinktion: Scandinavian Journal of Social Theory 13, Nr. 1 (April 2012): 43–60.
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„Ein Unternehmer, der nach Maßgabe sozialer Wertschätzung besser gestellt wäre, wenn er sich finanziell nicht an der Aufrechterhaltung eines öffentlichen Rentensystems beteiligen würde, wird einen Grund haben, seine Befürwortung dieser Institution (sowie der entsprechenden Ansprüche und Rechte) in Frage stellen; und ein Angestellter, der durch einen individuell ausgehandelten Arbeitsvertrag ein höheres Einkommen erzielen kann als durch einen tarifvertraglich vereinbarten, wird einen Grund haben, an der Berechtigung tariflicher Vereinbarungen zu zweifeln. Wie diese Beispiele zeigen, ist es fraglich, ob eine auf marktwirtschaftlich ermittelten gesellschaftlichen Nutzen von Arbeitsleistungen abstellende Praxis sozialer Wertschätzung tatsächlich keine negativen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Anerkennung von sozialen Rechten hat.“24 Der Kern des Problems liegt also in der normativen Wertigkeit von sozialer Wertschätzung, die in einer Theorie der Anerkennung nicht nur eine motivationale Funktion hat, sondern als integraler Bestandteil von sozialer Gerechtigkeit konzipiert wird. Leistungsgerechtigkeit tritt in Konkurrenz zu einer auf Bedarf und Gleichheit ruhenden Verteilung, weil diejenigen, die nach dem gängigen Marktverständnis mehr leisten, die beiden anderen Anerkennungsansprüche für ihr Mitbürgerinnen und Mitbürger (mit)finanzieren und erhalten. Die diskursiven aber auch politischen und, in machen Ländern auch gewaltsamen, öffentlichen Auseinandersetzungen, um die Umgestaltung des Wohlfahrtsstaates, um soziale Gerechtigkeit, Einkommen, Armut und Pensionen sind zu einem guten Teil von diesen, sich widersprechenden Motiven und Anerkennungsansprüchen getragen, wobei die Tendenz zur Zeit dem marktförmigen Leistungsdenken immer größere Bedeutung zumisst. Auch die Bedarfsabsicherung, insbesondere bei Arbeitslosigkeit, wird zusehends an Leistungen der Empfängerinnen und Empfänger geknüpft, die auch durch Strafen und Kontrollen abgesichert werden.25 Hierbei wird auch der Maßstab der Leistung selbst, nämlich Erfolg am Markt, selbst nicht problematisiert, sondern als die beste, ja einzig mögliche Bestimmung und Verteilung von sozialer Wertschätzung, also auch Einkommen, gesetzt. Alternativen sind selbst bei Honneth, der seine Theorie der Anerkennung immerhin als kritisch
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Hans-Christoph Schmidt am Busch, „Lassen sich die Ziele der Frankfurter Schule anerkennungstheoretisch erreichen? Überlegungen im Ausgang von Nancy Fraser und Axel Honneths politisch-philosophischer Kontroverse“, in: Anerkennung, hg. von Hans-Christoph Schmidt am Busch und Christopher F. Zurn, 1. Aufl., Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband 21 (Berlin: Akademie Verlag, 2009), 259. Bernd Dollinger und Henning Schmidt-Semisch (Hrsg.), Gerechte Ausgrenzung: Wohlfahrtsproduktion und die neue Lust am Strafen, 1. Aufl. (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011).
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bezeichnet, nicht auszumachen.26 Die Ideen der Gleichheit und der Bedarfssicherung, jenseits des Marktes und unabhängig von Leistung, geraten unter Druck und werden zusehends ausgehebelt. Neben den der Erwerbsarbeit in ihrer heutigen Form und Organisation inhärenten sozialen Pathologien beeinflusst der Marktmechanismus auch außerhalb der Erwerbsarbeit Zonen der sozialen Welt und der Gesellschaft, die eigentlich Refugien der Entlastung von Arbeit sein sollten. Weitere Beispiel für diese Spannung zwischen sozialer Wertschätzung und Gleichheit sind in den Bereichen der Bildung, der sozialen Teilhabe oder der Gesundheit auszumachen. Überall, wo die Kumulation von Vorteilen in der Erwerbsarbeit sich auf die Verteilung von Gütern, Vor- und Nachteilen und Fähigkeiten überträgt, die eigentlich nach dem Prinzip der Gleichheit auf Grund der gleichen Achtung der Würde aller Menschen zugänglich und gesichert werden sollten, treten ähnlich gelagerte Konflikte auf. Die marktgestützte Einkommensverteilung als soziale Wertschätzung ist damit wesentlich einflussreicher und nicht auf den Markt und die Erwerbsarbeit beschränkt. Eine einfache Lösung für diese Spannung zwischen Leistungsmechanismus und der Idee der Gleichheit ist im Rahmen einer Theorie der Anerkennung nicht zu finden, eben weil sie nicht die Option ziehen will, Verdienst und Leistung als normative Quelle von Ansprüchen und als gerechtes Verteilungsprinzip aufzugeben. Diese, sowohl aus Perspektive des Egalitarismus wie aus jener der Suffizienz oft vertretene Option, würde zumindest alle wichtigen Güter, darunter auch Einkommen und Vermögen, nach gänzlich anderen Prinzipien verteilen als Verdienst. Eine andere, vielversprechendere Option, die sich aus Perspektive einer Theorie der Anerkennung nahe legt, wäre die Umdeutung von Leistung und sozialer Wertschätzung selbst, um sie der bloßen Willkür des Marktes zu entziehen und verstärkt andere Kriterien einzufordern. Soziale Wertschätzung könnte dann nicht nur Resultat von Markt erfolg sein – auch wenn dies weiter eine wichtige Quelle von Anerkennung bleiben wird – sondern vor allem auch die gerechte Anerkennung für sozial wertvolle Tätigkeiten, insbesondere auch abseits des formellen Marktes oder in solchen Bereichen, die tendenziell zu wenig Anerkennung finden (etwa Pflege und Reproduktionsarbeit).27 Eine andere Option wäre dem Markt und der Erwerbsarbeit prinzipiell seine Anerkennungsfunktion zu entziehen
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Axel Honneth, „Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser“, in: Umverteilung oder Anerkennung. Eine philosophisch-politische Kontroverse, von Nancy Fraser und Axel Honneth, 1. Aufl. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003), 129–224; Schmidt am Busch, „Lassen sich die Ziele der Frankfurter Schule anerkennungstheoretisch erreichen? Überlegungen im Ausgang von Nancy Fraser und Axel Honneths politisch-philosophischer Kontroverse“. Angelika Krebs, Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, 1. Aufl. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001).
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oder diese zu schwächen und in andere Bereiche, etwa die Politik, die Freizeit oder Gemeinwohltätigkeiten zu übertragen. So lange moderne Gesellschaften jedoch Arbeitsgesellschaften sind, in denen Arbeit der wichtigste Anerkennungsmodus ist, ist es sehr schwer, adäquate Räume außerhalb der Erwerbsarbeit zu sichern, die nicht selbst wiederum mit einem Stigma behaftet sind. Als Forderung bestehen bleibt dann die Sicherung der Gleichheitsidee und die Versorgung bei Bedarf, die nicht zu einem Tauschgeschäft für Erfolg oder Mühen am Arbeitsmarkt verkommen darf, um damit die Unterwerfung unter Marktmechanismen, die notwendigerweise Gewinner und Verlierer produziert, zu erreichen. Vielmehr ist auch gegen solche Ansprüche, die auf marktlich eingeforderter sozialer Wertschätzung beruhen, die Inklusion aller Gesellschaftsmitglieder in gesicherte Anerkennungsverhältnisse zu fordern, in denen überhaupt erst Liebe und personale Zuwendung, Rechte und Pflichten, politische und soziale Teilhabe möglich sind. Wenn die drei Anerkennungsformen (Liebe, Achtung und soziale Wertschätzung) die intersubjektiven Bedingungen eines gelungen und autonomen Lebens abbilden, dann sind auch die Spannungen zwischen diesen dreien so auszuhalten, dass nicht eine von ihnen und nur zum Nutzen weniger Bevölkerungsgruppen die Oberhand gewinnt. Eine stringente Argumentationslinie hierfür müsste dann die Priorität von Bedarf und Gleichheit vor sozialer Wertschätzung auch immanent und in Bezug auf empirische Erkenntnisse untermauern. Ein Desiderat der Forschung, welches ich hier nicht einholen kann. Honneth hat hierfür die Richtung angedeutet. „Vielmehr bedarf es stets auch einer reflexiven Überprüfung der Grenzen, die sich zwischen den Hoheitsgebieten der unterschiedlichen Anerkennungsprinzipien jeweils etabliert haben, weil nie der Verdacht auszuschließen ist, daß die gegebene Arbeitsteilung zwischen den moralischen Sphären die Chancen der individuellen Identitätsbildung beeinträchtigt; und nicht selten wird eine derartige Infragestellung zu dem Ergebnis gelangen, daß eine Ausweitung von individuellen Rechten vonnöten ist, da unter dem Regime der normativen Prinzipien von ‚Liebe‘ oder ‚Leistung‘ die Bedingungen von Respekt und Autonomie nicht hinreichend gewährleistet sind.“28
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Honneth, „Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser“, 223– 224.
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3. Schlussbetrachtung
In diesem Beitrag wurde der Versuch unternommen, das den Wert der Gleichheit in ihrem Bezug zu sozialer Gerechtigkeit zu diskutieren. Dabei wurde eine innere Spannung aufgezeigt, die modernen Gesellschaften inhärent ist, nämlich jene zwischen sozialer Absicherung, die sich auf Gleichheit als Ideal bezieht und der Differenzierung gemäß Verdienst und sozialer Wertschätzung, die Ungleichheiten zumindest in manchen Bereichen und hinsichtlich einiger Eigenschaften rechtfertigen will. Diese Spannung ist nicht unbekannt, weder in noch außerhalb der Gerechtigkeitstheorie, da strikte Gleichheit von den allermeisten Theoretikerinnen und Theoretikern nicht als anstrebenswertes oder gar realisierbares Ziel gesehen wird. Fraglich ist jedoch, inwieweit Ungleichheiten rechtfertigbar, notwendig oder gar gerecht sind und in welchen Hinsichten Gleichheit anzustreben ist. Eine Theorie der Anerkennung gibt hierauf eine differenzierte, letztlich aber nicht befriedigende Antwort: sie versucht beiden Aspekten, der Ungleichheit und der Gleichheit, einen Spielraum einzuräumen, wobei es ihr nicht überzeugend gelingt, die Grenzen festzuhalten, in denen sie ihr jeweiliges Recht haben sollen. Diese Unschärfe drückt sich in den vielfältigen Erfahrungen der Missachtung ebenso aus wie in ungerechtfertigten Erfahrungen der übermäßigen Anerkennung und entsprechender Kämpfe um Anerkennung zwischen Einzelnen und Gruppen. Die heutigen großen sozialen Probleme und Spannungen wie Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Exklusion sind ebenso wie ihre Gegenüber von Reichtum, Wohlstand und Sozialneid jeweils Ausdrücke dieser Konflikte, die sich um eine rechte Interpretation der Frage, Gleichheit worin und wie viel, drehen. Soziale Wertschätzung ist dann Motivation für ein mehr an Gleichheit ebenso wie Motivation für ein mehr an Ungleichheit, wobei die Tendenz der letzten Jahre eine Zunahme der Ungleichheit in wesentlichen Dimensionen (Einkommen, Vermögen, soziale Absicherung, Konsumgüter und soziale Teilhabe) erkennen lässt. Literatur Becker, Irene, und Richard Hauser, Soziale Gerechtigkeit – ein magisches Viereck. Zeitdimensionen, Politikanalysen und empirische Befunde. 1. Aufl. Forschung aus der Hans-BöcklerStiftung 104. Berlin: Edition Sigma, 2009. Castel, Robert, und Klaus Dörre (Hrsg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. 1. Aufl. Frankfurt am Main–New York, NY: Campus, 2009. Dollinger, Bernd, und Henning Schmidt-Semisch (Hrsg.), Gerechte Ausgrenzung: Wohlfahrtsproduktion und die neue Lust am Strafen. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011. Dröge, Kai, Kira Marrs, und Wolfgang Menz (Hrsg.), Rückkehr der Leistungsfrage. Leistung in Arbeit, Unternehmen und Gesellschaft. 1. Aufl. Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung 89. Berlin: Edition Sigma, 2008.
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Gottfried Schweiger
und Clemens Sedmak, 39–71. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009. –, „Der individualisierte Lebenslauf als Modus moralischer Verletzung“. In: Crossing Borders. Grenzen (über)denken. Beiträge zum 9. Internationalen Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie in Wien, herausgegeben von Alfred Dunshirn, Elisabeth Nemeth und Gerhard Unterthurner, 609–618. 1. Aufl. Wien: Österreichische Gesellschaft für Philo sophie, 2012. –, „Die zeitliche Dimension sozialer Wertschätzung im Lebenslauf “. Prolegomena 10, Nr. 2 (2011): 239–264. –, „Philosophie und Armut. Überlegungen zu ihrem Zusammenhang“. diskurs. gesellschaftsund geisteswissenschaftliche interventionen 8, Nr. 1 (Juli 2012): 66–87. –, „Relative Armut und soziale Wertschätzung“. SATS 13, Nr. 1 (Januar 2012): 39–59. –, „Typisch atypisch. Eine anerkennungstheoretische Perspektive auf die Veränderungen der Arbeitswelt“. In: Identität und Inklusion im europäischen Sozialraum, herausgegeben von Elisabeth Klaus, Clemens Sedmak, Ricarda Drüeke und Gottfried Schweiger, 156–192. 1. Aufl. VS Research. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010. Sedmak, Clemens, „Menschenwürdige Arbeitslosigkeit“. In: Menschen würdiges Arbeiten. Eine Herausforderung für Gesellschaft, Politik und Wissenschaft, von Thomas Böhler, Otto Neumaier, Gottfried Schweiger und Clemens Sedmak, 133–192. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009. Steinfath, Holmer (Hrsg.), Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998. Thunman, Elin, „Burnout as a social pathology of self-realization“. Distinktion: Scandinavian Journal of Social Theory 13, Nr. 1 (April 2012): 43–60. Voswinkel, Stephan, „Bewunderung ohne Würdigung? Paradoxien der Anerkennung doppelt subjektivierter Arbeit“. In: Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, herausgegeben von Axel Honneth, 65–92. 1. Aufl. Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie 1. Frankfurt am Main–New York, NY: Campus, 2002. Wade, Robert Hunter, „On the causes of increasing world poverty and inequality, or why the Matthew effect prevails“. New Political Economy 9, Nr. 2 (Juni 2004): 163–188.
Mario Claudio Wintersteiger
Streiflichter aus der politischen Ideenhistoriographie der Gleichheit – Egalitätsdenken vom antiken ‚Humanismus‘ bis zur ‚postmodernen‘ Demokratie
‚Mythologische‘ Annäherung an die politisch-normative ‚Kraft‘ der Gleichheit
In seinen wunderbaren Metamorphosen schildert uns Ovid, einer der Vir tuosen der römischen Dichtkunst, zunächst die mythischen Anfänge unserer Welt1 sowie den ethischen Verfall des Menschengeschlechts während der sogenannten „vier Weltalter“.2 Deren letztes „Zeitalter“, das „von hartem Eisen“, gilt dem Poeten als das Ende von „Gemeingut“ und Gemeinsinn.3 Die Schilderung des ersten hingegen beginnt er mit den folgenden berühmten Worten: „Als erstes entstand das goldene Geschlecht, das keinen Rächer kannte und freiwillig, ohne Gesetz, Treue und Redlichkeit übte. Strafe und Furcht waren fern, keine drohenden Worte las man auf öffentlich angebrachten Erztafeln, keine bittflehende Schar fürchtete den Spruch ihres Richters, sondern sie waren auch ohne Rächer geschützt.“4 Diese Verse – in ihrem Originalwortlaut wohl jedem ‚Lateiner‘ unvergessen – eröffnen das Panorama einer sagenhaften Frühzeit von ‚anarchisch‘ ungezwungener, regelrecht ‚paradiesischer‘ Friedfertigkeit.5 Die Metamorphosen, wahrlich eine großartige „‚Summa mythologiae‘ der alten Griechen und Römer“6 (Gerd-Klaus Kaltenbrunner), verleihen dem antiken Topos des 1 2 3 4 5 6
Vgl. P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Lateinisch / Deutsch, hrsg. v. Michael von Albrecht (Reclams Universal-Bibliothek 1360), Stuttgart 2010, 1,5–88, S. 6–13. Vgl. ebd., 1,89–150, S. 12–17. Vgl. ebd., 1,127–150, S. 14–17. Ebd., 1,89–93, S. 12 f. Vgl. ebd., 1,89–112, S. 12–15. Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Ovid. „Sogar Götter entstehn durch Gedichte …“ (1990), in: ders., Vom Geist Europas III. Sternbilder. Schattenrisse. Spiegelungen, Asendorf 1992, S. 30–45, hier S. 36.
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Mario Claudio Wintersteiger
„goldenen Zeitalters“, der religionsgeschichtlich vielfach bezeugt ist7, seine wohl geläufigste (und überaus wirkmächtige) poetische Form.8 Aus der Perspektive der politischen Ideenhistoriographie ist das Motiv einer legendären „goldenen“ Urzeit vor allem deshalb bemerkenswert, weil es auf einen verlorengegangenen egalitären „Naturzustand“ verweist und somit ein gesellschaftskritisch getöntes Ideal postuliert9, das die wohl älteste Quelle einer ‚politischen Philosophie der Gleichheit‘ darstellt.10 Aus der Geschichtsschreibung wissen wir um deren frühe Spuren, etwa um die Kulturkritik hellenistischer Lehrmeister11 oder aber um die mit den römischen „Saturnalia“ verbundenen Feierlichkeiten, zu denen die Standesunterschiede temporär aufgehoben wurden.12 Da all dies – wie man uns versichert – ganz im Bann des „Golden Age of Saturn“ vollzogen wurde13, gilt es – und zwar gerade auch aus politologischer Sicht – die geheimnisvolle Kraft der darin wirkenden „idyllic imagination“14 (Irving Babbitt) zu ergründen. Woraus schöpft sie ihren scheinbar unwiderstehlichen Reiz? Zunächst einmal wäre wohl das kaum zu überschätzende „Prestige der ‚Anfänge‘“ 15 hervorzuheben, auf das Mircea Eliade, einer der großen Kenner der Mythologie, hingewiesen hat: Demnach wird ein „Ursprungsmythos“ allgemein als ausgesprochen ‚machtvoll‘ erlebt, gerade weil er von der „heiligen“ Zeit eines „absoluten Anfangs“ erzählt.16 Und damit ist er auch gewiss der Mythos par excellence!17 Anders, als manche vielleicht annehmen würden, ist sein geistiger Einfluss allerdings nicht auf die (im traditionellen Sinne) ‚sakrale‘ Domäne
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Vgl. dazu (insbes. zum griechischen Beispiel) Mircea Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, Bd. I: Von der Steinzeit bis zu den Mysterien von Eleusis (Herder spektrum 5274), Freiburg–Basel–Wien 2002, S. 235 ff. Für dieses Urteil vgl. auch Otto Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung. Das Gleichheitspostulat in der alteuropäischen Tradition und in Deutschland bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert (Historische Forschungen 16), Berlin 1980, S. 49. Vgl. hierzu ebd. Über diese Wurzel vgl. Sanford A. Lakoff, Equality in Political Philosophy, Cambridge (MA) 1964, S. 8 f. u. S. 19 f. Vgl. dazu ebd., S. 20. Vgl. darüber ebd., S. 19 f. sowie Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 49 f. Vgl. Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 19 f. Irving Babbitt, Democracy and Leadership, Indianapolis (IN) 1979, S. 102. Zur engen Verbindung der „idyllic imagination“ mit den Vorstellungen vom „golden age“ vgl. ebd., S. 102 f. Nebenbei sei erwähnt, dass dies nicht nur im Zusammenhang mit ‚Gleichheit‘, sondern auch hinsichtlich des Wertes ‚Freiheit‘ aufschlussreich sein kann. Vgl. dazu Mario Claudio Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit. Ein Versuch zur Phänomenologie vormoderner, moderner und postmoderner Liberalität, in: Freiheit. Vom Wert der Autonomie, hrsg. v. Clemens Sedmak (Grundwerte Europas 2), Darmstadt 2012, S. 77–94, hier S. 80 f. u. S. 87. Mircea Eliade, Mythos und Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1988, S. 43. Vgl. ebd., S. 43 ff. Vgl. dazu die Kernelemente von Eliades Begriffsbestimmung: ebd., S. 15 ff.
Streiflichter aus der politischen Ideenhistoriographie der Gleichheit
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beschränkt:18 Wie etwa Henning Ottmann hinsichtlich der modernen politischen Theorie zeigt, gibt es nämlich auch noch säkulare „Geschichten absoluter Anfänge“, die beispielsweise der ‚Apotheose‘ der Freiheit dienen19 oder deren allgemeine, gleiche Verteilung legitimieren sollen.20 Eine anders akzentuierte, aber offenbar nicht ganz unähnliche Funktion wird auch von der legendären „goldenen“ Zeit erfüllt, da sie – wie man liest – ein beeindruckendes Ideal der Gleichheit hochhält.21 Wenn wir nun mit Gerd Brand unterscheiden zwischen einem vollständigen „Mythos“ und seinen verstreuten Bruchstücken, den sogenannten „Mythemen“, wie sie einem auch im politischen Vokabular begegnen können22, so ließe sich sagen, dass die Gleichheit wohl zur Gruppe solcher „Alltagsmytheme“23 gehört. Und wenn wir nun – wieder mit Brand – in Rechnung stellen, dass es unter den Menschen sowohl eine „diffuse Mythologizität“ als auch eine verbreitete „Sehnsucht nach dem Ursprung“ gibt24, dann wird klarer, woher die egalitären Wertvorstellungen einen Teil ihrer beträchtlichen Anziehungskraft beziehen. Diese kleine Suche nach den frühen Spuren eines mythischen „goldenen Zeitalters“, das – etwa als beschaulich-ländliches „Arkadien“ – die Kunst der Renaissance mitprägte25 und auch die Ästhetik der modernen utopischen Literatur beeinflusste26, bildet den Anfang einer ideenhistorischen ‚Reise‘: Diese führt – in aller hier gebotenen Kürze – durch die Geschichte eines normativen Phänomens, nämlich des politischen Wertes der Gleichheit. Die Arbeit an dieser Materie ist – zumindest im übertragenen Sinn – jener der „Archäologie“ nicht ganz unähnlich27, da diese – wie man uns erinnert – 18 19
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Der genuine religionswissenschaftliche Begriff des Mythos hat aber freilich diese Konnotation. Vgl. dazu ebd. Vgl. Henning Ottmann, Politische Theologie als Begriffsgeschichte. Oder: Wie man die politischen Begriffe der Neuzeit politisch-theologisch erklären kann, in: Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, hrsg. v. Volker Gerhardt, Stuttgart 1990, S. 169–188, hier bes. S. 179–182. Vgl. dazu auch Mario Claudio Winter steiger, Die Rolle der christlichen Religion in Genealogie und Wesen liberalen politischen Denkens. Eine religionspolitologische Untersuchung, phil. Diss. Salzburg 2010, bes. S. 199 f. Vgl. Ottmann, Politische Theologie als Begriffsgeschichte, S. 182. Vgl. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 49; Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 19 f. Vgl. Gerd Brand, Welt, Geschichte, Mythos und Politik, Berlin–New York 1978, S. 236 f. Ebd., S. 236. Vgl. ebd., S. 237. Über das „Arkadien“ der Antike und Renaissance vgl. Rüdiger Stephan, Goldenes Zeitalter und Arkadien. Studien zur französischen Lyrik des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts (Studia Romanica 22), Heidelberg 1971, S. 10 f. Zu diesen Utopien vgl. ebd., S. 20–27. Diese Analogie ist gewiss nicht neu, in der ‚diskursanalytischen‘ Forschung ist die (ähnliche, aber nicht deckungsgleiche) Rede von einer philosophisch-ideengeschichtlichen
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Mario Claudio Wintersteiger
ebenfalls deskriptiv vorgeht und dabei historische Zeugnisse auswertet.28 In gewisser Weise könnten wir also – wenn auch mit einigem Vorbehalt – von einer Art ‚Archäologie der Gleichheit‘29 sprechen, die auf ihrer Suche nach alten Zeugnissen auch auf die bereits erwähnte Mythologie gestoßen ist. Diese muss hier schon allein deshalb thematisiert werden, weil die Gleichheit mitunter von einigen skeptisch als ein „Mythos“ beäugt wird30, von den anderen aber als ebensolcher hochgehalten wird.31 Ein moderner Meisterdenker, den man auch als ‚Mythologen‘ einer egalitären Naturordnung beschrieben hat32, ist der französisch-schweizerische Philosoph Jean-Jacques Rousseau. Er, dessen 300. Geburtstag im Jahr 2012 gefeiert wurde, hat aber selbst Zweifel daran geäußert, dass es diese rein ‚natürliche‘ Lage der Menschheit überhaupt je so gegeben hat.33 Sehr bemerkenswert ist überdies, dass er recht genau zu differenzieren wusste zwischen den Ungleichheiten, die eine schicksalhafte „natürliche“ Quelle besitzen und jenen, die eine von Menschenhand geschaffene „politische“ Ursache aufweisen34 – eine wichtige Unterscheidung, dessen Ausarbeitung man zu seinen großen Leistungen gezählt hat.35 Die Diagnose des Jean-Jacques besagt hierzu konkret, dass es einerseits Unterschiede geben kann, die als „natürliche“ Verschiedenheiten unhinterfragbar sind, andererseits jene, die „gesellschaftliche“ Differenzierungen darstellen36, aber dennoch gerechterweise unumgänglich sind37, und schließlich solche, die nicht nur ‚unnatürlich‘ sind, sondern auch
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„Archäologie“ sogar fest verankert. Vgl. dazu Markus Pfannkuchen, Archäologie der Moral. Zur Relevanz von Michel Foucault für die theologische Ethik (Studien der Moraltheologie – Abteilung Beihefte 6), Münster 2000, bes. S. 21–31. Vgl. ebd., S. 21 u. S. 23. Dies in (teilweiser, freierer) Anlehnung an die klingenden Titel anderer ‚Archäologien‘. Vgl. z. B. ebd. Vgl. z. B. Dieter E. Zimmer, Der Mythos der Gleichheit, München 1980. Als ein Anzeichen hierfür könnte etwa das Phänomen eines „postmodernen“ Marxismus gelten. Vgl. zu diesem Peter Koslowski, Supermoderne oder Postmoderne? Dekonstruktion und Mystik in den zwei Postmodernen, in: Postmoderne – Anbruch einer neuen Epoche? Eine interdisziplinäre Erörterung, hrsg. v. Günther Eifler/Otto Saame, Wien 1990, S. 73–98, hier S. 83. Vgl. Babbitt, Democracy and Leadership, S. 98 f. Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, hrsg. v. Philipp Rippel (Reclams Universal-Bibliothek 1770), Stuttgart 2008, S. 23. Vgl. ebd., S. 31. Über diese Position vgl. auch Wintersteiger, Die Rolle der christlichen Religion in Genealogie und Wesen liberalen politischen Denkens, S. 204 f. Vgl. für dieses Urteil Louis M. Dumont, Gesellschaft in Indien. Die Soziologie des Kastenwesens, Wien 1976, S. 27. Vgl. Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, S. 31. Vgl. ebd., S. 156 f. Für eine Besprechung dieser Stelle vgl. Dumont, Gesellschaft in Indien, S. 28.
Streiflichter aus der politischen Ideenhistoriographie der Gleichheit
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als rechtswidrige politische Unsitten zu gelten haben.38 Für eine Phänomenologie der (normativen) Gleichheit, wie sie nunmehr folgt, ist dieser Befund insofern bedeutsam, als er uns daran erinnert, dass wir den entsprechenden politischen Wert nicht rein abstrakt, sondern in seiner mehrdimensionalen Komplexität betrachten müssen.39 Überlegungen zu einer ‚Phänomenologie‘ politischer Gleichheit
Wie schon während dieser ersten, noch wenig systematischen Spurenlese gelegentlich angeklungen sein dürfte, ist die normative Konzeption der ‚Gleichheit‘ – trotz all ihrer erwähnten Anziehungskraft – kein völlig unumstrittener Wert. Anders als die ‚Freiheit‘, zu der sich – wie J. L. Talmon andeutet – sogar illiberale „totalitäre“ Strömungen formal ‚positiv‘ äußern40, wird der Wert der Gleichheit mitunter mit einer Art „Recht auf Ungleichheit“41 (Helmut Schoeck) konfrontiert, sprich mit den Wünschen nach einer individuellen Entfaltungsmöglichkeit für die jeweils eigene Persönlichkeit.42 Dies geschieht in wohl all den Fällen, in denen die egalitär verstandene „Gleichheit“ aller Menschen mit der beabsichtigten „Selbstverwirklichung“ des Einzelmenschen in Konflikt gerät.43 In der Dialektik der Aufklärung, einem der Klassiker des kritischen Denkens, erfährt man dazu, dass nicht nur der „Fortschritt“ zum „Rückschritt“ pervertieren kann44, sondern auch, dass ein „Triumph der repressiven Egalität“ möglich ist, bei dem das „Unrecht durch die Gleichen“ an die Stelle der „Gleichheit des Rechts“ tritt.45 Umgekehrt scheint es aber auch ein grundlegendes Axiom der Demokratietheorie (und zwar seit ihren antiken Anfängen) zu sein, gleichmäßig verteilte Rechte und freies Dasein als untrennbar miteinander verwoben zu betrachten, also die Freiheit quasi aus der Gleichheit hervorgehen zu lassen.46 38 39 40 41 42 43 44 45 46
Vgl. Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, S. 113 f. Ähnliches gilt ja auch für den Wert der Freiheit(en), wozu wir uns bereits andernorts geäußert haben. Vgl. dazu Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, bes. S. 78 f. Vgl. J. L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln–Opladen 1961, S. 1 f. Helmut Schoeck, Das Recht auf Ungleichheit, München–Berlin 1979. Vgl. darüber (im Kontext der Diskussion um politische Gleichheit) ebd., S. 10 f. Zu diesem Konflikt vgl. ebd., 10–13. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 172008, S. 5. Vgl. ebd., S. 19. Zur antiken Position hierzu vgl. Werner Conze/Christian Meier u. a., Freiheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2: E–G, hrsg. v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Stuttgart 1975, S. 425–542, hier S. 427 f. Für dieselbe Annahme in modernerer Fassung vgl. Jean-
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Angesichts dieser etwas unübersichtlichen, äußerst facettenreichen Lage ist es wenig verwunderlich, dass die (als normativer Anspruch verstandene) Gleichheit doch zu einem Politikum geworden ist, welches das philosophische Denken zu entzweien vermag: Die Scheidelinie ist dabei – wie man uns wissen lässt – nicht die Gleichheit per se, sondern ihre (verhältnismäßig) unterschiedliche Gewichtung.47 Auch wenn man damit die politische Landschaft grob bipolar einteilen kann48, so ist die Gleichheit dennoch kein (ausschließlich) ‚linksgerichteter‘ Wert:49 Immerhin erfährt die ‚juristisch-moralische‘ Gleichbehandlung auch im liberal-konservativen Spektrum die ihr gebührende Wertschätzung.50 Folglich wird man gut beraten sein, sich einen gewissen Sinn für Abstufungen und Konnotierungen zu bewahren, die eine mehrdimensionale Erörterung ermöglichen. Was aber könnte damit etwa gemeint sein? In seinem Werk Equality in Political Philosophy geht Sanford A. Lakoff davon aus, dass man immerhin drei alte Schulen des Gleichheitsdenkens zu unterscheiden hat, nämlich eine quasi ‚sozialistische‘ (seit den Vorstellungen vom „Golden Age“), eine ‚konservative‘ (seit Platon) und eine ‚liberale‘ (seit der Stoa).51 Es ist hier freilich nicht der Ort, an dem wir all dies in größter Ausführlichkeit besprechen könnten. Dennoch ist es für eine Phänomenologie der politischen Gleichheit unerlässlich, ein – wenn auch zwangläufig unvollständiges – Panorama verschiedener normativer Positionen in ideenhistorischer Perspektive zu zeichnen: Ähnliches haben wir – im zweiten Band dieser Buchreihe – bereits mit dem Wertekomplex ‚Freiheit‘ (beziehungsweise mit den Freiheiten) unternommen.52 Wir werden daher auch hier methodisch ähnlich vorgehen, indem wir ‚ästhetisch-hermeneutische‘ sowie phänomenologische Zugänge zur Thematik zu finden versuchen.53 Überhaupt ist der vorliegende Beitrag zur Gleichheit als eine Art ‚Pendant‘ zu unseren „Streiflichtern zu Freiheitsdenken, Freiheitsgefühl und Freiheitssymbolik“54 zu lesen, wobei einige der Parallelen auch darauf zurückzuführen sind, dass – wie oben bereits angedeutet wurde – die Gleichheit offenbar nicht ohne ihren jeweiligen – wie auch immer gearteten, positiven oder aber negativen – Bezug zur Freiheit besprochen werden kann.
47 48 49 50 51 52 53 54
Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, hrsg. v. Hans Brockard (Reclams Universal-Bibliothek 1769), Stuttgart 2008, 2. Buch, 11. Kap., S. 56. Vgl. Norberto Bobbio, Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994, S. 76 ff. Vgl. darüber ebd. Für Nuancierungen vgl. ebd., S. 77 f. Vgl. z. B. die Stellungnahme von Russell Kirk, The Roots of American Order, Wilmington (DE) 42004, S. 408 f. Vgl. Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 8 f. Vgl. Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit. Zur Methodologie vgl. ebd., S. 79 f. und die dort genannten Quellen. Ebd., S. 80.
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Gleichheit und Demokratie in den Epen und politischen Philosophien der antiken Welt
Wer einige politisch-philosophische Überblickswerke durchgeht, stößt nicht selten auf die Einschätzung, das stoische Weltbild habe als erstes eine allgemeine Anthropologie ausgearbeitet und sei daher die erste ‚egalitäre‘ Strömung der Geschichte gewesen.55 Das mag sich so verhalten (zumindest dann, wenn man den Gleichheitsbegriff ausschließlich im heutigen ‚liberalen‘ Sinn auffasst)56, doch bedeutet dies keineswegs, dass die Gleichheit niemals davor ein kulturelles oder gar politisches Thema gewesen wäre. Schon die monumentalen Epen des großen Homer spiegeln offenbar entsprechende Konfliktlinien wider: Die einschlägige Literatur verweist nämlich mitunter auf ein durchaus beachtenswertes Zwischenspiel in der Ilias, während dem ein gewisser Thersites recht unverblümt den Unmut des Heeres gegen König Agamemnon artikuliert57 und damit eine (wenn auch noch vage) Vorstellung von Gleichheit58 oder – wie Ottmann es pointiert ausdrückt – latente „antiaristokratische Ressentiments“ sichtbar macht.59 Als aufschlussreich anzusehen ist dieser Erzählstrang nicht nur deshalb, weil Homer als poetischer „Schöpfer der europäischen Kultur“60 gilt, sondern vor allem auch, weil er an sich ja durchaus ‚herrschaftliche‘ Wertvorstellungen vertritt.61 Interpreten des erwähnten Geschehens um Thersites merken daher an, dass in der Ilias wohl bereits dezente, noch ‚aristokratisch‘ umrahmte ‚Gleichheitsvorstellungen‘ aufgespürt werden können, die dann in der Odyssee bereits etwas deutlicher zum Ausdruck kommen.62 In seinem Buch The Bow and the Lyre zeigt etwa der US-amerikanische Altphilologe Seth Benardete, dass uns im Epos über die Irrfahrt des Odysseus bereits einige quasi-‚demokratische‘ Haltungen
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Vgl. z. B. Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/2: Die Griechen. Von Platon bis zum Hellenismus, Stuttgart–Weimar 2001, S. 300 u. S. 305. Ähnlich auch Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 12 f. Zum ‚Proto-Liberalismus‘ der Stoa vgl. ebd., S. 8. Vgl. etwa Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1: Die Griechen. Von Homer bis Sokrates, Stuttgart–Weimar 2001, S. 34 ff.; Siep Stuurman, The Voice of Thersites: Reflections on the Origins of the Idea of Equality, in: Journal of the History of Ideas 65 (2004), Heft 2, S. 171–189. Die Schmährede, auf die dort verwiesen wird, findet sich im zweiten Gesang der Ilias. Vgl. Homer, Ilias, in: ders., Ilias. Odyssee (insel taschenbuch 1204), Frankfurt am Main 1990, S. 11–484, hier II, 212–244, S. 37 f. Vgl. dazu Stuurman, The Voice of Thersites, passim. Vgl. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1, S. 35. Ebd., S. 19. Vgl. darüber ebd., S. 21–29 u. bes. S. 35. Zu ähnlichen Lesarten der Homerischen Werte vgl. Stuurman, The Voice of Thersites, S. 180 f. Vgl. z. B. ebd., S. 187 ff. Ähnlich auch Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1, S. 35 f.
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des Protagonisten begegnen – so etwa sein ‚freundschaftlicher‘, respektvoller Umgang mit der verbliebenen Mannschaft.63 Homer, der „Erzieher der Griechen“64 (Ottmann), war – wie schon angedeutet – der Sohn einer elitär denkenden Zivilisation65, seine Heimat wurde aber auch zu einem Ort, der bis heute als „das klassische Land des Gleichheitsdenkens“66 (Otto Dann) und als die Wiege einer demokratisch orientierten Politik gilt.67 Die frühen kulturellen Zeugnisse hierfür sind durchaus zahlreich: Die griechische Mythologie etwa kennt schon die einleitend erwähnte Vision vom einstigen „Goldenen Zeitalter“.68 Die kosmologischen Überlegungen desselben Kulturraumes wiederum fassen – wie einschlägige Werke uns in Erinnerung rufen – das ‚Gleichmaß‘ als ein natürliches Weltenbauprinzip auf.69 Aus den politischen Gemeinwesen des alten Griechenland stammt schließlich auch die egalitäre Konzeption der „isonomia“, sprich das normative Postulat der ‚Rechtsgleichheit‘70, ein Prinzip, das in der Literatur darüber als der Vorbote beziehungsweise die Frühform der demokratischen Ordnung gilt.71 Diese ‚Volksherrschaft‘ à la Athen, der „Geburtsstätte der Demokratie“72 (Ottmann), stellt sich als ein System dar, das – wie allgemein bekannt sein dürfte – neben einem Ratskollegium auch regelmäßige Versammlungen der Bürgerschaft mit radikal direktdemokratischen Grund zügen vorsah.73 Werfen wir nun kurz einen Blick auf jene Formen der politischen Philosophie, die sich mit der (antiken) Demokratie verbinden konnten! In den Fokus gerät dabei insbesondere eine bedeutende geistige Strömung, die von Kennern der Materie mitunter im Zusammenhang mit frühegalitären Positionen 63 64 65 66 67 68 69
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Vgl. Seth Benardete, The Bow and the Lyre. A Platonic Reading of the Odyssey, Lanham (MD)–Boulder u. a. 1997, S. 84 u. S. 122. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1, S. 19. Zur entsprechenden Weltanschauung des alten Griechenland vgl. ebd., S. 21–29. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 31. Zur Demokratie griechischen Stils vgl. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1, S. 92–112. Über die griechische „Synthese“ von Verdienst und Gleichheit vgl. ebd., S. 15 f. Vgl. hierzu Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 49; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1, S. 52 f. Vgl. z. B. Otto Dann, Gleichheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2: E–G, hrsg. v. Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck, Stuttgart 1975, S. 997–1046, hier S. 1000. Dort wird auch verwiesen auf Gregory Vlastos, Equality and Justice in Early Greek Cosmologies, in: Classical Philology 42 (1947), Heft 3, S. 156–178. Bei diesem liest man etwa über die altgriechische Weltsicht: „Cosmic equality was conceived as the guaranty of cosmic justice: the order of nature is maintained because it is an order of equals.“ Ebd., S. 156. Vgl. darüber Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 33 ff. Vgl. ebd., S. 35; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1, S. 92. Ebd. Über dieses institutionelle Gefüge des demokratischen Athen vgl. ebd., S. 105 ff.
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oder aber mit Apologien demokratischer Politik genannt wird74, nämlich die sogenannte Sophistik: Wie uns Ottmann zeigt, sind unter jenen ‚humanistischen‘ Meistern der Rhetorik – trotz ihres sonst oft so üblen Leumundes – die wohl ersten politischen Gegner der Sklavenhaltung zu finden.75 Wie aber wurde die sophistische Spielart der Gleichheit argumentiert? Vielzitiert ist ein im platonischen Dialog Protagoras überlieferter Ausspruch des Hippias, demzufolge alle – wenn schon nicht juristisch, so doch zumindest essentiell – „Verwandte“ seien.76 Der genannte Philosoph begründet dies mit den folgenden Worten: „Denn das Ähnliche ist dem Ähnlichen dem Wesen nach verwandt, das Gesetz aber, weil es ein Tyrann der Menschen ist, erzwingt vieles gegen ihr Wesen […].“77 All das mag schon fast wie die (freilich erst viel später und neu ausformulierte) Rousseau’sche Denkfigur von ‚positivrechtlicher‘ Ungleichheit und ‚naturrechtlicher‘ Gleichheit anmuten78, das Argumentationsmuster basiert hier aber auf einem der Haupttopoi der sophistischen Lehre.79 Wie sehr das Weltbild der Sophistik mit der demokratischen Gesinnung kompatibel ist, zeigt etwa Ottmann anhand der Positionen des Protagoras, dessen bedeutsamer „Mythos“ sogar eine prononcierte Rechtfertigung der in der Demokratie stattfindenden Diskussionsprozesse enthält.80 Ganz in diesem Sinne spricht das alte ‚Schulhaupt‘ der Sophistik wie folgt: „Sooft sie [die Bürger Athens, Anm. d. Verf.] […] an eine Beratung auf dem Felde politischer Tüchtigkeit gehen, […] ertragen sie selbstverständlich jedermann, da es jedem zukomme, zumindest an dieser Tüchtigkeit teilzuhaben, oder es könne keine Städte geben.“81 Aus der Ideenhistoriographie wissen wir, dass diese frühen Ansätze durch den Einfluss der klassischen Demokratiekritiken (etwa jener aus platonischer Feder) zunächst weitgehend zurückgedrängt wurden.82 Das bedeutet aber keineswegs, dass nicht weiter an einer (politischen) Philosophie der Gleichheit 74 75 76
77 78 79 80 81 82
Vgl. Dann, Gleichheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 1000; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1, S. 213, S. 217 f. u. S. 221 f. Vgl. ebd., S. 212 f. u. S. 217. Vgl. Platon, Protagoras, Griechisch/Deutsch, übers. v. Hans-Wolfgang Krautz (Reclams Universal-Bibliothek 1708), Stuttgart 2009, 337c–d, S. 77. Die Stelle wird mehrfach als Beleg für die egalitäre Position der Sophisten genannt. Vgl. z. B. Dann, Gleichheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 1000; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1, S. 217. Platon, Protagoras, 337d, S. 77. Vgl. dazu Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, bes. S. 113. Über den diesbezüglichen „Gegensatz von Physis und Nomos“ vgl. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1, S. 213 f. u. S. 217 f. Vgl. ebd., S. 219–222. Der dortige Bezugspunkt ist die folgende Erzählung: Platon, Protagoras, 320c–323a, S. 33–39. Ebd., 322e–323a, S. 39. Vgl. dazu Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 40 ff.
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gefeilt worden wäre. Das gilt insbesondere für den diesbezüglich fruchtbaren „Nährboden“83 (Dann) der hellenistischen Welt, für die es ja – wie man liest – überaus charakteristisch war, ‚universal‘ und ‚kosmopolitisch‘ zu denken.84 Neben der diesbezüglich schon erwähnten Stoa mit ihrer religiös gestimmten Gleichheitslehre85 sollte auch die – natürlich etwas anders akzentuierte – ‚Genussphilosophie‘ der Epikureer nicht vergessen werden, da man sich von ihrer Schule, dem berühmten „Garten des Epikur“, erzählt, dass sie unterschiedslos jedem zugänglich war.86 Die erklärten Ziele ihres Lehrmeisters waren allerdings in erster Linie eine angenehme Lebensführung87 und die dazu gehörende, möglichst zurückgezogene Ungestörtheit88, keinesfalls jedoch das Auslösen größerer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.89 Und auch die stoische Philosophie, die in ihrem zurückhaltenden Stil zumindest anfangs politisch recht nahe bei Epikur steht90, ist – wie Lakoff festhält – mit den ‚egalitär‘ orientierten Elementen ihres Weltbildes in politicis kaum durchgedrungen.91 Die hellenistischen Lehren haben – so Dann – freilich in die juristischen Gleichheitsdiskurse des alten Rom hineingewirkt, doch blieben sie dort unterhalb der Schwelle, über der sie zu einer explizit politischen Kritik geworden wären.92 Aus all dem ergibt sich ein doch recht komplexes Bild des antiken Gleichheitsdenkens, das wir hier nun kurz festhalten sollten: Man sieht in diesen Zeiten des Altertums – als sein wohl „schönstes Erbe“93 (Ottmann) – die Wurzeln des griechisch-römischen „Humanismus“ und seiner „Menschenfreundlichkeit“.94 Überdies begegnet man – wie wir gesehen haben – allerlei Grundsatzüberlegungen, die man als ‚egalitär‘ ansehen könnte. Doch sind diese insgesamt noch allesamt Versatzstücke des von Lakoff beschriebenen „premodern egalitarian thought“, also eines spezifisch ‚vormodernen Egalitarismus‘.95 Und wie man in dem Buch Equality in Political Philosophy
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Ebd., S. 47. Vgl. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/2, S. 257 f. Vgl. darüber ebd., S. 305. Vgl. ebd., S. 292 f. Vgl. Epikur, Die Hauptlehrsätze (Kyriai Doxai), in: ders., Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Christof Rapp (Kröners Taschenausgabe 218), Stuttgart 2010, S. 11–21, hier bes. III–V, S. 13. Vgl. ebd., XIV, S. 15. Für Epikurs Absage an überzogene „Kämpfe“ vgl. ebd., XXI, S. 16 f. Zur in diesem Kontext aufschlussreichen ‚Minimalpolitik‘ der Epikureer vgl. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/2, S. 293 f. Für diesen Befund vgl. ebd., S. 301. Vgl. Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 12 ff. Vgl. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 47 f. Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 2/1: Die Römer und das Mittelalter. Die Römer, Stuttgart–Weimar 2002, S. 21. Über diese vgl. ebd., S. 21–26. Vgl. Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 19.
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genauer nachlesen kann, besitzt dieser die beiden folgenden Charakteristika: Er ist erstens stets noch mit den hierarchischen Gedankengebäuden verbunden96 und sein eigenes Wesen liegt zweitens meist in ‚mythisch‘ entrückten oder aber in elitären Gleichheitskonzeptionen begründet.97 Gleichheit in den Sozialentwürfen des Mittelalters, der Renaissance und des Absolutismus
An dieser Grundstruktur des politischen Gleichheitsdiskurses ändert sich – auch in längerfristiger Perspektive – zunächst einmal überraschend wenig: Wie der erwähnte Lakoff zeigt, folgen die mittelalterlichen Sozialentwürfe weitgehend den klassischen Vorlagen – was bedeutet, dass auch die ethischen Beigaben christlicher Herkunft diesbezüglich zu keiner grundsätzlichen Umorientierung geführt haben:98 Denn – so heißt es weiter – ähnlich wie die alten Mythologien und Philosophien verlegte auch das Christentum seine ‚egalitären‘ Topoi in verlorene Zeiten des Ursprungs oder aber in separate Gemeinschaften asketischer Prägung.99 Wenn sich dies so verhält, so müssen natürlich noch tiefere Gründe dafür offen gelegt werden, weshalb die biblische Gesellschaftslehre von den heidnisch-antiken Denkern dennoch als politisch derart unheimlich empfunden wurde100 oder weshalb später jemand wie der scharfzüngige Philosoph Friedrich Nietzsche im Christentum gar die normative Essenz der ‚umstürzlerischen‘ Gesinnung zu sehen glaubte.101 Will man die Motive hierfür plausibel darlegen, so ist die Münze der biblischen Anthropologie auf beiden ihren Seiten zu beleuchten: Wir können auf der einen Seite zwar festhalten, dass die (paulinisch geprägte) christliche Religion kaum geneigt war, auf politischem Wege gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, da sie die damalige Sozialordnung als „gottgewollt“ aufzufassen pflegte.102 Auf der anderen Seite sehen wir aber,
96 97 98 99 100
Vgl. ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 13 f. Vgl. ebd., S. 14. u. S. 19 ff. Für Hinweise zu einigen derartigen Kritiken am Urchristentum vgl. Mario Claudio Wintersteiger, Religionspolitologische Bemerkungen zur Kulturabhängigkeit von Zeitvorstellungen, in: Die Kulturabhängigkeit von Begriffen, hrsg. v. Michael Fischer (Subjekt und Kulturalität 1), Frankfurt am Main–Berlin u. a. 2010, S. 97–104, hier S. 100; ders., Die Rolle der christlichen Religion in Genealogie und Wesen liberalen politischen Denkens, S. 68 und die jeweils dort angeführten Quellen. 101 Vgl. Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums (insel taschenbuch 947), Frankfurt am Main–Leipzig 1986, S. 78. 102 Vgl. Wintersteiger, Die Rolle der christlichen Religion in Genealogie und Wesen liberalen politischen Denkens, S. 66.
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dass ebendieses gesellschaftliche Gefüge, das an sich nicht infrage gestellt wurde, mit der Behauptung einer allgemeinen, „metaphysischen“ Gleichheit im Auge eines ‚richtenden‘ Gottes konfrontiert wurde.103 All dies scheint sich auf den ersten Blick noch nicht allzu sehr von den anderen vormodernen Gleichheitslehren zu unterscheiden, die sich ja laut Lakoff alle durch diese „dualistic position“ auszeichnen.104 Was aber deren biblische Spielart grundlegend von der heidnischen trennt, ist ein anderes Element, nämlich das damit verbundene Geschichtsbild: Wir sollten uns verdeutlichen, dass die alten Mythen von einer „zyklisch“ verlaufenden Zeit geprägt waren, während die jüdisch-christliche Tradition das Motiv einer „linear“ ablaufenden Heilsgeschichte eingeführt hat.105 Und wir müssen uns klar werden, dass Werte sich in ihrer gesellschaftlichen Stoßrichtung verändern, sobald sie nicht mehr einer „zyklischen“, sondern einer „linearen“ Logik gehorchen!106 Insgesamt können wir daher wohl doch festhalten, dass das Christentum unterschwellig über ein „egalitäres Potential“ verfügte107, das es dann in das komplexe gesellschaftliche Spiel der „Dialectics of Equality“108 (Walter A. Weisskopf ) eingebracht hat. Und aus ideenhistorischer Perspektive lässt sich hinzufügen, dass dieses „revolutionäre“ Reservoir immer genau dann wirksam wurde, wenn es sich seiner Hegung widersetzte, um politisch oder ‚säkular‘ zu werden109 – was im Mittelalter aber nur in Form von radikalen häretischen Sekten geschah.110 Für die mittelalterliche Politik an sich ist freilich die christliche Tönung beziehungsweise Umprägung der Schlüsselkonzepte recht bedeutsam.111 Das sollte allerdings nicht den Blick für die mannigfach anzutreffenden Konti nuitäten zur vorchristlichen Antike trüben: Sie beschränken sich nicht bloß
103 Vgl. ebd., S. 67 ff. 104 Vgl. Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 13 f. 105 Vgl. dazu Wintersteiger, Religionspolitologische Bemerkungen zur Kulturabhängigkeit von Zeitvorstellungen, S. 98 ff. 106 Wir haben dies bereits andernorts am Beispiel der Freiheit gezeigt. Vgl. ders., Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, S. 81. 107 Vgl. ders., Die Rolle der christlichen Religion in Genealogie und Wesen liberalen politischen Denkens, S. 69. 108 Walter A. Weisskopf, The Dialectics of Equality, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 84 (1973), Heft 409, S. 163–173. Diese ‚Dialektik‘ besteht darin, dass ‚egalitäre‘ Bestrebungen immer dann aufkommen, wenn bestehende Ungleichheiten, die einst als fraglos legitim galten, im Lichte neuer Ideen fragwürdig werden. Vgl. dazu ebd., S. 165 f. 109 Vgl. dazu Wintersteiger, Religionspolitologische Bemerkungen zur Kulturabhängigkeit von Zeitvorstellungen, S. 100–103. 110 Vgl. über diese ders., Die Rolle der christlichen Religion in Genealogie und Wesen liberalen politischen Denkens, S. 111–119. 111 Vgl. zu diesem Prozess Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 2/2: Römer und Mittelalter. Das Mittelalter, Stuttgart–Weimar 2004, S. 3 f.
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auf das vitale „heidnische Erbe“ in Kultus, Symbolik und Brauchtum112, sondern erstrecken sich gerade auch auf die politischen Werte: Wie das alte Rom einst seine „libertas“ (die defensiv aufgefasste „Freiheit“ und begrenzte Gleichheit)113, so verstand auch das Mittelalter seine ständisch geprägte „Freiheit“ nicht abstrakt, sondern als Komplex von konkreten, unregelmäßig verteilten „Freiheiten“ (nota bene im Plural!) beziehungsweise fixierten Rechten.114 Wie aber steht es in diesem Kontext um die Gleichheit? Die mittelalterliche Gesellschaft war – wie wir schon andernorts angedeutet haben – wohl eher ein Hort der (mitunter überraschend beträchtlichen) „Freiheiten“ als einer der Gleichheit115 – ein Umstand, der auch sein ästhetisches Spiegelbild in der vielgestaltigen Architektur des gotischen Stils gefunden haben mag.116 Doch auch wenn unbestritten ist, dass besagte Epoche von (teilweise erheblichen) sozialen Unterschieden bestimmt war117, so sollte man die Augen doch nicht vor den gegenläufigen Aspekten verschließen: Aus der wirtschafts- und sozialhistorischen Forschung weiß man etwa erstens, dass es durchaus Ansätze von „Zunftdemokratie“ gab118, zweitens, dass die Besitzverteilung innerhalb dieser Zünfte relativ ausgewogen war119 und drittens, dass die (nachweisbare) Zunahme sozioökonomischer Ungleichheit in erster Linie mit der wirtschaftlichen Fortentwicklung in den Städten zu tun hatte.120 Vor diesem Hintergrund wird auch verständlicher, weshalb das (freilich recht romantisierte) Mittelalter einen so starken Reiz auf spätere kapitalismuskritische Ästheten wie etwa die englischen Präraffaeliten ausgeübt hat.121 Derselbe ästhetische Zauber scheint der Epoche auch heute noch mitunter zuzukom-
112 Über dieses vgl. z. B. Wintersteiger, Religionspolitologische Bemerkungen zur Kultur abhängigkeit von Zeitvorstellungen, S. 101 und die dort angeführten Quellen. 113 Zu dieser Konzeption vgl. Conze/Meier u. a., Freiheit, bes. S. 431 ff. 114 Für diesen Befund vgl. Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, S. 83–86 sowie die dortigen Belege, insbes. das aufschlussreiche liberale Mittelalterbild in F. A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit (Wirtschaftswissenschaftliche und wirtschaftsrechtliche Untersuchungen 7), Tübingen 1971, S. 196–199. Sachlich nicht ganz unähnlich auch die Schilderung von Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 61. 115 Vgl. Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, S. 83–86. 116 Vgl. darüber ebd., S. 84. 117 Für diesen Befund vgl. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 59 ff.; Horst Jecht, Studien zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 19 (1926), Heft 1/3, S. 48–85, hier S. 70 f. 118 Vgl. ebd., S. 83. 119 Vgl. ebd., S. 73 f. 120 Vgl. ebd., S. 71 u. S. 81. 121 Über diese Aspekte ihres ‚Ästhetizismus‘ vgl. Mario Claudio Wintersteiger, Schönheit, Kunst und Macht. Politischer ‚Ästhetizismus‘ aus ‚ästhetisch-politologischer‘ Sicht [http://www.uni-graz.at/tpw_wintersteiger_paper.pdf ], 2012, eingesehen 30.11.2012, bes. S. 8 f., S. 15 f. u. S. 19.
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men122 und jene, die ihm erliegen, weisen uns oft auf Aspekte hin, die uns wohl entgingen, wenn wir bloß ein „dunkles“ Mittelalter kennen würden:123 So meint etwa der britische Lebenskünstler Tom Hodgkinson, dass die mittelalterliche Gesellschaft zwar hierarchisch verfasst war, es aber dennoch vielfach gelang, diese Ordnung mittels quasi-‚anarchischer‘ Selbstverwaltung zu konterkarieren.124 Zu seinem unorthodoxen Blick auf das, was er – verklärend – als „Schöne alte Welt“125 bezeichnet, sowie zu seinen kulturkritischen Klagen über die Industrie und den Staatseinfluss der Moderne126 mag man stehen, wie man will, doch sollte man diese zumindest als Indizien dafür auffassen, dass die neuzeitlichen Prozesse hinsichtlich der Gleichheit offenbar gebrochen und teilweise sogar zueinander diametral verlaufen sind.127 Auf einen dezidierten „Rückgriff auf eine vermeintlich ideale Vergangenheit“128 (Hodgkinson) stößt der historisch forschende Geist immer wieder129, unter anderem auch in der Renaissance, die sich – wie schon erwähnt – mitunter nach einem egalitären „Arkadien“ sehnt.130 In diesem Zusammenhang ist wohl auch die Begründung des Genres der Utopie zu sehen.131 In seiner berühmten Schrift Utopia entwirft der britische Humanist Thomas Morus das Bild einer entlegenen, planmäßig verwalteten Insel mit einer homogenen Bevölkerung132, die weitgehend geldlos wirtschaftet und ihren Wohlstand gleichmäßig verteilt.133 An der Interpretation dieser utopischen Erzählung – insbesondere der ‚kommunistisch‘ anmutenden Beigaben – scheiden sich seit 122 Vgl. dazu etwa die klaren Präferenzen in Tom Hodgkinson, Schöne alte Welt. Ein praktischer Leitfaden für das Leben auf dem Land, Berlin 2011, bes. S. 18 f. 123 Für eine ausgewogene Auseinandersetzung u. a. mit diesem Mittelalterbild vgl. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 2/2, S. 1 ff. 124 Vgl. Tom Hodgkinson, Die Kunst, frei zu sein. Handbuch für ein schönes Leben, Berlin 2 2007, S. 10. 125 So der klingende Titel eines seiner Bücher: ders., Schöne alte Welt. 126 Vgl. ebd., S. 11 f. 127 Um zu verdeutlichen, was hiermit gemeint ist, nur einige ergänzende Bemerkungen: Auf der einen Seite wären da die neuen ökonomischen Ungleichheiten zu nennen, die im Gefolge der Industrialisierung entstehen und die von Hodgkinson kritisch vermerkt werden. Vgl. ebd. An selbiger Stelle wird von ihm aber auch der Arm des Staates angesprochen. Vgl. ebd. Wie wir wissen, wirkt dieser, der in der Neuzeit immer stärker wird, aber weitgehend normierend, was die andere Seite derselben Medaille darstellt. Über die neuzeitliche Staatsmacht (mit Blick auf Gesellschaft und Ästhetik) vgl. Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, S. 84 ff. 128 Hodgkinson, Die Kunst, frei zu sein, S. 12. 129 Für einige geschichtliche Beispiele vgl. ebd. 130 Vgl. darüber Stephan, Goldenes Zeitalter und Arkadien, S. 10 f. 131 Vgl. dazu ebd., S. 21. Dass die Wurzeln der Gattung an sich jedoch weiter zurückreichen, zeigt Georg Quabbe, Das letzte Reich. Wandel und Wesen der Utopie, Leipzig 1933, S. 9, wo Platon als „Ahnherr aller Utopisten“ vorgestellt wird. 132 Vgl. Thomas Morus, Utopia, hrsg. v. Horst Günther (insel taschenbuch 1206), Frankfurt am Main–Leipzig 1992, S. 93–97. 133 Vgl. ebd., bes. S. 121 ff.
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jeher die Geister.134 Überaus bedeutsam erscheint aber, dass – wie Ottmann schreibt – manches davon Teil eines „Humanistenscherzes“ gewesen sein dürfte, durch den Morus die Utopie „aufbricht“ beziehungsweise sie selbst ‚realistisch‘ relativiert.135 Gerade diese Thematisierung der tendenziell autoritären Züge des Systems von Utopia 136 scheint uns schon das Janusgesicht der Gleichheit zu enthüllen: In der frühen Neuzeit keimen einerseits so zarte Pflanzen wie die ersten allgemeinen Menschenrechtsdiskurse137, andererseits aber beginnt der erstarkende Staat auch mit einem deutlich ‚egalisierenden‘ Prozess ganz anderer Art, nämlich dem der absolutistischen „Sozialdisziplinierung“138 (Gerhard Oestreich). Der frühneuzeitlich-absolutistische Zeitabschnitt bildet – so können wir festhalten – ein historisches Zwischenspiel, während dem die alte „Liberalität“ des Mittelalters unterging, die neue (also jene der Moderne) aber noch nicht geboren war.139 Wenn dieser geschichtliche Einschnitt aber schon – wie manche behaupten – eine ‚egalitäre‘ Orientierung modernen Zuschnitts aufwies140, so handelte es sich dabei wohl (noch) um eine ganz bestimmte, vielfach unfreie Form von Gleichheit – also um genau den Geist, dessen Kind teilweise auch die Reformation war.141 Wie Alexander Rüstow in seiner Ortsbestimmung der Gegenwart recht unverblümt enthüllt, hatte der von Luther eingeläutete Prozess – anders als viele denken – keineswegs bloß eine ‚entlastende‘ Wirkung, denn er bestand gerade auch in der gegenläufigen Tendenz, nämlich in der gleichen Unterordnung aller unter letztendlich ‚puritanische‘ gesellschaftliche Vorschriften.142 Auf säkular-politischer Ebene hat der abso134 Für einen kompakten Überblick über die verschiedenen Lesarten vgl. Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/1: Die Neuzeit. Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen, Stuttgart–Weimar 2006, S. 155 ff. 135 Vgl. ebd., S. 157. 136 Vgl. darüber ebd., S. 156 f.; Gerhard Möbus, Politik des Heiligen. Geist und Gesetz der Utopia des Thomas Morus, Berlin 1953, bes. S. 70 u. S. 84. 137 Vgl. darüber Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/1, S. 106–112. 138 Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 179–197, hier S. 187. Zu den Merkmalen dieses Vorgangs vgl. ebd., passim. Zur politisch-ideen geschichtlichen Einordnung desselben vgl. auch Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, S. 84 f. 139 Vgl. diesbezüglich die Ausführungen zu Mittelalter, Neuzeit und Aufklärung: ebd., S. 83–89. 140 Vgl. z. B. Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 24 f., wo die Reformation als der eigentliche Wendepunkt in der Geschichte des Gleichheitsdenkens dargestellt wird. 141 Zum „illiberalen“ Charakter etwa des späten Luther’schen Gleichheitsdenkens vgl. Ale xander Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kultur kritik, 2. Bd.: Weg der Freiheit, Erlenbach–Zürich–Stuttgart 19632, S. 287. 142 Vgl. ebd., S. 293. Zu diesem protestantischen „Egalitarismus“ vgl. auch Wintersteiger, Die Rolle der christlichen Religion in Genealogie und Wesen liberalen politischen Denkens, S. 129.
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lutistische Staat mit seiner erwähnten „Sozialdisziplinierung“143 formal sehr ähnliche Schritte gesetzt, so dass man wohl – übereinstimmend mit Gerhard Oestreich – sagen muss, dass es sich hierbei um einen durchaus zeittypischen „Fundamentalvorgang“ handelte.144 Politische Interpretationen der Gleichheit im revolutionären Aufbruch der Moderne
Wenn wir die bisherigen historischen Streiflichter noch einmal kurz Revue passieren lassen, so sehen wir – stark vereinfacht – eine ‚vormoderne‘ Welt mit eingeschränkter Gleichheit, aber diversen ‚Freiheiten‘ sowie eine früh neuzeitliche Übergangsphase, die eine tendenziell gleichförmige Einschränkung des freien Lebens herbeiführt und gleichzeitig die hierarchische Ordnung noch absolutistisch übersteigert.145 Im Absolutismus begegnet uns folglich ein politisches System, das paradoxerweise schon weitgehend von der (freilich noch abgeschwächten) Form einer „repressiven Egalität“146 (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno) avant la lettre beherrscht zu werden scheint.147 Festzuhalten gilt es auch, dass dieser neue Gesellschaftsbau seit seinen Anfängen erbittert bekämpft wurde – und zwar von ‚konservativen‘ und ‚progressiven‘ Strömungen gleichermaßen.148 Die moderne politische Theorie, die aus diesen Auseinandersetzungen hervorgeht149, versucht dann – hierin anders als die meisten ihrer antiken, mittelalterlichen oder früh neuzeitlichen Vorläufer – Gleichheit und Freiheit (nunmehr im Singular!) miteinander zu vereinen.150 So heißt es etwa im berühmten Gesellschaftsvertrag aus der Feder des Jean-Jacques Rousseaus, alle würden „gleich und frei geboren“ werden151 und allen habe die Gesellschaft die gleichen Rechte zu verleihen.152 Dies noch präzisierend, meint der französisch-schweizerische Philosoph weiter in seinen Schriften, es gehe nicht um eine ‚strikte‘ Egalität,
143 Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, S. 187. 144 Vgl. ebd., S. 187 f. 145 Man denke nur an die absolutistische ‚Machtkumulierung‘, wie sie ebd., bes. S. 180 beschrieben wird. 146 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 19. 147 Über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu modernen Totalitarismen vgl. Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, S. 180 f. 148 Vgl. darüber Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, S. 85–88. 149 Vgl. zu diesem Prozess ebd., S. 86 ff. 150 Zu diesem modernen Verständnis vgl. ebd. und die dort angeführten Quellen, insbes. auch Conze/Meier u. a., Freiheit, S. 485 ff. 151 Vgl. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 2. Kap., S. 7. 152 Vgl. ebd., 1. Buch, 9. Kap., S. 26 u. 2. Buch, 4. Kap., S. 35.
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sondern vielmehr um eine „ausgleichende Gerechtigkeit“153, sowie darum, auch die „Freiheit“ zu bewahren.154 Man sagt mit großem Recht, „Freiheit und Gleichheit“ seien das politische „Begriffspaar“ des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts gewesen.155 Und in der Ideenhistoriographie steht wohl auch außer Streit, dass einige – wie auch immer in ihrem Gewicht zu beurteilende – Verbindungslinien zwischen Rousseau und der Menschenrechtserklärung des Revolutionsjahres 1789 bestehen.156 Gerade das wechselhafte Schicksal dieses Dokumentes, auf das es nun noch kurz einzugehen gilt, zeigt aber, wie überaus anspruchsvoll die schon angesprochene Arbeit an einer ausbalancierten Einheit der freiheitsfreundlichen und der egalitären Werte sein kann: Wie Ottmann anhand der verschiedenen Fassungen der Erklärung schön aufzeigt, wurde die konkrete Gewichtung der Menschenrechte während des Revolutionsgeschehens mehrfach verändert, sodass zunächst die Freiheitsrechte an erster Stelle standen, dann jedoch – während der Jakobinerdiktatur – die Gleichheit dezidiert an die vorderste Stelle gereiht wurde, bevor zuletzt der „Primat der Freiheit“ wiederhergestellt wurde.157 Diese normativen Schwerpunktverschiebungen sind für unsere Thematik ungeheuer aufschlussreich. Sie führen uns zumindest zweierlei Dinge klarer vor Augen: Zum einen zeigt die Prominenz der egalitären Programmatik während der diktatorischen Phase der Revolution158, dass der Wert der Gleichheit politisch durchaus auch instrumentalisierbar ist159 und dann sehr wohl „zum Unrecht durch die Gleichen“160 (Horkheimer/ Adorno) pervertiert werden kann. Zum anderen wird deutlich, dass – wie 153 Vgl. Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, S. 156. Für eine ausdrückliche Hervorhebung dieser Stelle vgl. Dumont, Gesellschaft in Indien, S. 28. 154 Vgl. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 4. Kap., S. 11. Zur politischen Einordnung dieser Stelle vgl. auch Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, S. 87. 155 Vgl. Conze/Meier u. a., Freiheit, S. 531. Prominent vertreten sind die beiden Werte auch in der reichen utopischen Literatur jener Zeit. Vgl. dazu Stephan, Goldenes Zeitalter und Arkadien, S. 20–27. 156 Vgl. z. B. Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/2, Die Neuzeit. Das Zeitalter der Revolutionen, Stuttgart–Weimar, 2008, S. 87; Eberhard Braun/Felix Heine/Uwe Opolka, Politische Philosophie. Ein Lesebuch. Texte, Analysen, Kommentare, Hamburg 1984, S. 194 f. Deutlich zurückhaltender urteilt Louis Dumont, Individualismus. Zur Ideologie der Moderne, Frankfurt/Main–New York–Paris 1991, S. 106 f. 157 Vgl. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/2, S. 86 ff. 158 Über die Jakobinerherrschaft vgl. ebd., bes. S. 82 f. u. S. 98–105. 159 Zur „propagandistischen“ Nutzbarkeit des Schlagwortes ‚Gleichheit‘ vgl. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 19. Ähnlich auch Kirk, The Roots of American Order, S. 407. Für einige (wenn auch oft polemisch kommentierte) kulturanthropologische Hintergründe zu diesem Themenfeld vgl. Helmut Schoeck, Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft, Freiburg–München 1966, bes. S. 36–41 u. S. 357–376. 160 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 19.
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etwa Lakoff aufzeigt – der moderne normative Begriff der ‚Gleichheit‘ für ganz unterschiedliche Interpretationen offen blieb, sodass durchaus auch Zielkonflikte mit der Freiheit gesehen werden konnten.161 Von der ‚individualistischen‘ Gesinnung heißt es, sie könne sich ‚libertär‘ und „egalitär“ auswirken, was auch die Spaltung in die „ideale“ und die „faktische“ Egalität begründen würde.162 Tatsächlich treten in der Moderne etliche weltanschauliche Risse entlang genau dieser Linien auf: Nicht nur, dass sich die aufgeklärten von den romantischen Wegen zum freien Dasein scheiden163, auch die politischen ‚Schulen‘ des Gleichheitsdenkens erhalten nunmehr ihr spezifisch modernes Profil.164 Es bietet sich daher an, die ideenhistorischen Fäden aufzunehmen und die Genese der modernen Positionen zur politischen Egalität nachzuzeichnen. Wie schon erwähnt, unterscheidet Lakoff in Equality in Political Philosophy drei altertümliche Wurzeln, nämlich die Bilder des „Golden Age“, den platonischen Staatsentwurf und die stoische Philosophie.165 Diese Stränge weiterverfolgend, zeichnet er drei Wege nach: Der erste, ‚sozialistische‘ Pfad führt vom Mythos des „Golden Age“ über bestimmte asketische Gemeinschaften166 zu den – noch überraschend wenig ‚egalitaristischen‘ – Sozialisten vor Marx167 und schließlich weiter zum Marxismus mit seiner Erwartung eines quasi-‚paradiesischen‘ Kommunismus.168 Die zweite, ‚konservative‘ Linie, die der Gleichheit mit den relativ größten Vorbehalten gegenübersteht169, lässt er – wohl für einige unerwartet – über Rousseau verlaufen170 und schließlich in einen politisch gemäßigten, elitären Individualismus einmünden.171 Der dritte, ‚liberale‘ Strang schließlich, den 161 Vgl. Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 1–4. Nicht unähnlich – und sich teilweise auf Lakoff berufend – auch Dumont, Individualismus, S. 89 f. Zu dem Konflikt am Beispiel der Chronologie der Französischen Revolution vgl. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/2, S. 82 f. 162 Vgl. Dumont, Individualismus, S. 89 f. 163 Vgl. darüber Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, S. 86–91. 164 Vgl. hierzu Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 8 ff. 165 Vgl. ebd., S. 8 f. 166 Vgl. ebd. 167 Vgl. darüber ebd., S. 194 u. S. 211–216. Zu ähnlichen Grundzügen im frühen Sozia lismus vgl. auch Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/3: Die Neuzeit. Die politischen Strömungen im 19. Jahrhundert, Stuttgart–Weimar 2008, S. 133 f. u. S. 139–143. 168 Über diesen vgl. Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 225–233. 169 Vgl. dazu ebd., S. 8 ff. 170 Vgl. ebd., S. 92. Allzu ‚exotisch‘ ist dieses Lesart allerdings keineswegs. Zu derartigen Deutungsmustern vgl. auch Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/1, S. 504 f. 171 Vgl. Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 156 ff. Was diese Wendung angeht, so wäre geistesgeschichtlich auch auf die Rolle des „Ästhetizismus“ hinzuweisen. Vgl. dazu Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, S. 90 f.
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er zwischen den beiden anderen einordnet172, verhält sich für ihn so, dass er zunächst über Locke hinaus wächst173, sich dann aber – in Auseinandersetzung mit den anderen zwei Strömungen – ‚individuell‘ weiterentwickelt.174 Dieses Panorama ist für uns insofern nützlich, als es uns dabei hilft, einige Aspekte des politischen Gleichheitsdiskurses der Moderne hervorzuheben: Zunächst wäre da natürlich (noch einmal) der Umstand zu nennen, dass es – wie erwähnt – die Gewichtung der Gleichheit ist, an der sich die politischen Geister letztendlich scheiden.175 Dadurch aber ermöglicht es uns das Studium der skizzierten Linien, die sich – wie man der einschlägigen Literatur entnehmen kann – durchaus auch überschneiden können176, herauszufinden, welche Aspekte der Egalität normativ (mehr oder weniger) umkämpft sind beziehungsweise welche (mehr oder weniger) unumstritten zum modernen europäischen Wertekanon gehören: Dabei zeigt sich, dass die – wie es heißt – „faktische Gleichheit“177 der Gesellschaftsmitglieder eigentlich nur innerhalb des Kommunismus als Wert postuliert wird.178 Die sogenannte „ideale, mit der maximalen Freiheit eines jeden zu vereinbarende Gleichheit“179 (Louis Dumont) hingegen kann auf eine in weltanschaulicher Hinsicht wesentlich breitere Basis bauen: Sie findet nämlich liberale, liberal-konservative und sozialistische Fürsprecher180, was sie wohl auch zur modernen Gleichheit par excellence macht.
172 173 174 175 176
177 178
179 180
Vgl. Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 8 f. Vgl. ebd., S. 92. Vgl. ebd., S. 126 ff. Vgl. dazu Bobbio, Rechts und Links, S. 76 ff. Vgl. z. B. Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 8 f., wo auf den ‚konservativsozialistischen‘ Kreuzungspunkt im platonischen Werk hingewiesen wird, sowie S. 127 (zu einigen ‚sozialistisch-liberalen‘ und ‚liberal-konservativen‘ Berührungspunkten). Über ‚gemischte‘ Strömungen vgl. auch Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/3, S. 2–20 u. S. 59 f. Dumont, Individualismus, S. 90. Vgl. dazu ebd. sowie Passagen aus der dort ebenfalls genannten Quelle: Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 194 (über sozialistischen Antikommunismus) u. S. 225–233 (über den marxistischen Gleichheitsbegriff). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die marxistische Kritik der bürgerlichen Rechtsgleichheit. Vgl. dazu Dann, Gleichheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 1038–1041. Dumont, Individualismus, S. 89 f. Vgl. dazu ebd. (zum Liberalismus); Kirk, The Roots of American Order, S. 408 f. (exemplarisch für den Konservatismus); Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 211–216 (über den ‚liberalen‘ Sozialismus).
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Das romantische Freiheitsstreben und die Gleichheit in der ‚postmodernen‘ Gesellschaft
Wer im Lexikon über Geschichtliche Grundbegriffe nachschlägt, der erfährt, dass das politische Schlagwort der (offenbar greifbareren) „Gleichberechtigung“ zunehmend jenem der eher vagen „Gleichheit“ den Rang abgelaufen hat181, da letzterer (im deutschen Diskurs etwa seit dem neunzehnten Jahrhundert) immer weniger mit „positiven“, dafür aber mitunter sogar mit abwertenden Konnotationen verwendet wurde.182 Freilich war – wie Dann, der Verfasser des zitierten Artikels, ausführt – dieses zumindest teilweise „Verschwinden von ‚Gleichheit‘ als abstraktem sozialpolitischen Schlagwort […] keineswegs identisch mit dem Ende der geschichtlichen Rolle von sozialen Gleichheitsvorstellungen“183, da diese im Gegenteil sogar anwuchs – wenn auch nunmehr unter einem Etikett wie „Gleichberechtigung“.184 Dass die Gleichheit kritisch beäugt werden konnte, ohne dass die ‚egalitäre‘ Sache dadurch aufgegeben worden wäre, ist natürlich ein auf den ersten Blick etwas verwirrendes Phänomen. Doch wollen wir versuchen, es ideengeschichtlich etwa aufzuhellen – und zwar nicht nur durch den (an sich einleuchtenden) Verweis auf den Gegensatz zwischen bürgerlichen und marxistischen Sichtweisen185, sondern auch noch mittels Reflexion auf einen anderen Aspekt, nämlich die romantische Gefühls- und Gedankenwelt: Diese – oft ästhetisch motiviert – hat bekanntlich recht individualistisch gegen manche Gleich förmigkeit des modernen Lebens zu revoltieren versucht.186 Wie Hans Georg Schenk betont, hat sie dies jedoch nicht als bloßer „Schwanengesang des europäischen Adels“ getan187, sondern sich – als sozial breitere Strömung188 – gegen den erstarkenden „Leviathan“ gestemmt.189 Wenn wir sagen können, dass „ein Freiheitsgefühl mit den Begleiterscheinungen einer ganz anderen Freiheit zu ringen“190 hatte, so stellt sich die Frage, ob sich dies von der Gleichheit ebenfalls behaupten lässt. Und tatsächlich kann man feststellen, dass sich hier offenbar auch zwei unterschiedlich konzipierte ‚Gleichheiten‘
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187 188 189 190
Vgl. Dann, Gleichheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 1038 u. S. 1044 ff. Vgl. ebd., S. 1038 u. S. 1044. Ebd., S. 1045. Vgl. ebd. Vgl. zu diesen ebd., S. 1038–1045. Vgl. darüber Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, S. 89 ff. u. die dort genannten Quellen, v. a. Hans Georg Schenk, Die Kulturkritik der europäischen Romantik (Institut für Europäische Geschichte Mainz. Vorträge 14), Wiesbaden 1956, bes. S. 11 ff., S. 15–22 u. S. 24 ff. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. darüber ebd., S. 18 f. Vgl. ebd., S. 11. Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, S. 90.
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gegenübertreten: Auf der einen Seite stehen Phänomene einer „nivellierenden Herrschaft“191 (Horkheimer/Adorno) oder zumindest die (erzwungene) Gleichheit im Schatten des sprichwörtlichen „Leviathan“.192 Auf der anderen Seite trifft man auf die sogenannte ‚natürliche‘ Gleichheit193, also jene aus dem (mehr oder weniger) romantischen „Naturzustand“, von dem Helmut Kuhn schreibt, dass er entweder ein „Schäferidyll“ oder aber ein regelrechtes „Raubtieridyll“ sein kann.194 Damit schließt sich einerseits der Kreis, da wir die vorliegende Abhandlung ja mit Überlegungen zur ‚mythischen‘ Kraft der „idyllic imagination“195 (Babbitt) begonnen haben, andererseits drängen sich in diesem Zusammenhang weitere Themenfelder der politischen Philosophie beziehungsweise der Ideenhistoriographie auf: Die eine wesentliche Problematik, auf die wir aber hier nicht umfassend eingehen können, betrifft den Streit um die angemessene Anthropologie und das entsprechende Verhältnis von „Natur“ und „Gesellschaft“.196 Die andere Frage, die sich uns abschließend stellt, ist die, was all dies für die jüngeren, sogenannten ‚postmodernen‘ Gesellschaften bedeutet! Werfen wir zunächst einen Blick auf einige aufschlussreiche Parallelen: Wie soeben gezeigt, trat der Geist der Romantik im Namen (gleicher) Freiheit gegen die moderne Gleichförmigkeit auf. Die Postmoderne, die teilweise in diese Modernitätskritik mit einstimmt197, betont ihrerseits die Gleichheit (in Gestalt einer ‚radikalen‘ Demokratie)198, ihre wohl größte Leidenschaft scheint aber die Verteidigung der Vielfalt gegen jegliche ideologische Vereinheitlichung zu sein.199 Wodurch aber wird versucht, diese beiden Pole zusam191 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 19. 192 Über diese vgl. Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 77 ff. Nicht unerwähnt bleiben kann natürlich der politiktheoretische Klassiker, dem die dortigen Überlegungen gelten, nämlich Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, hrsg. v. Iring Fetscher (Politica 22), Neuwied–Berlin 1966. Dort heißt es, der staatliche „Leviathan“ halte den Rang eines „sterblichen Gottes“ inne. Vgl. ebd., S. 134. Für eine religionspolitologische Auseinandersetzung mit Hobbes vgl. Wintersteiger, Die Rolle der christlichen Religion in Genealogie und Wesen liberalen politischen Denkens, S. 206 f. 193 Vgl. darüber Lakoff, Equality in Political Philosophy, S. 75 ff.; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/1, S. 288; Babbitt, Democracy and Leadership, S. 98 f. 194 Vgl. Helmut Kuhn, Der Staat. Eine philosophische Darstellung, München 1967, S. 456 f. 195 Babbitt, Democracy and Leadership, S. 102. 196 Vgl. dazu exemplarisch Camille Paglia, Die Masken der Sexualität, Berlin 1992, S. 11–14, S. 27 f. u. passim. 197 Für die entsprechenden Kontinuitäten in puncto Freiheit vgl. Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, S. 89–93. 198 Zur postmodernen Konzeption von Demokratie vgl. Wolfgang Welsch, Topoi der Postmoderne, in: Das Ende der großen Entwürfe, hrsg. v. Hans Rudi Fischer/Arnold Retzer/ Jochen Schweitzer (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1032), Frankfurt am Main 1992, S. 35–55, hier S. 41 f. 199 Vgl. darüber ebd., S. 37–42.
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menzuhalten? Für Wolfgang Welsch, einen philosophischen Fürsprecher der Postmoderne, ist der entscheidende Punkt die Bereitschaft, „gleichermaßen legitime […], jedoch […] differente Optionen“ auf der Grundlage „der gleichen Freiheit“ zu akzeptieren.200 Den Angelpunkt dieser Konzeption bildet somit ein Kanon der „Grundrechte“201, also im Prinzip die ‚Rechtsgleichheit‘ beziehungsweise die – wie sie bei den alten Griechen hieß – „isonomia“.202 Hierin liegt freilich eine bemerkenswerte vormodern-postmoderne Kontinuität203 und man kann mit Dann mutmaßen, dass diese Auffassung von Gleichheit wohl „nicht zufällig“ sowohl während der antiken Anfänge als auch am (vorläufigen) ‚Endpunkt‘ dieses Ideenstranges auftaucht.204 Überlegungen im Anschluss an eine Ideenhistoriographie der Gleichheit
Wer seinen Blick noch einmal über das – im vorliegenden Beitrag zwangsläufig unvollständige – historische Panorama des europäischen Egalitätsdenkens schweifen lässt, dem wird schnell klar, dass der (politisch-normativ verstandenen) Gleichheit ein recht wechselhaftes Schicksal beschieden war. Das gilt natürlich auch mit Blick auf den durchaus schon alten „Streit um die Demokratie“205 (Ottmann). Doch was – wenn man abschließend resümiert – als wirklich bemerkenswert zu bezeichnen ist, ist die Tatsache, dass es gerade auch in den Zeiten, während denen demokratische Gesellschaftsentwürfe nur geringes Ansehen genossen206, einen – wie auch immer gearteten – kulturellen oder gar politischen Gleichheitsdiskurs gegeben hat. Wie ist dies zu erklären? Zunächst kann man wohl sagen, dass es (in der einen oder anderen Form) manch – wie Ottmann schreibt – gleiches oder „anarchisches Grundfaktum der menschlichen Existenz“ gibt, an dem selbst ein „Leviathan“ nicht zu rütteln vermag.207 Und darüber hinaus mag sein, dass es auch eine offene,
200 201 202 203
204 205 206 207
Vgl. ebd., S. 42. Zu deren diesbezüglichen Rolle vgl. ebd. Vgl. darüber Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 33 ff. Und es ist freilich nicht die einzige derartige „Wiederkehr“. Vgl. darüber Wintersteiger, Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit, S. 91 ff. Andeutungsweise in Bezug auf die Philosophie an sich vgl. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1, S. 213. Vgl. Dann, Gleichheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 1046. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1, S. 110. Und dies ist historisch gesehen ein durchaus beachtlicher Zeitraum. Vgl. darüber Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 42. Vgl. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/1, S. 288 f. Das Argument wird dort – freilich recht düster getönt – aus dem Hobbes’schen „Naturzustand“ heraus entwickelt. Vgl. ebd., S. 288. Es geht hier jedoch keineswegs um die brutale inhalt
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‚egalitäre‘ Orientierung gibt, die wesentlich tiefer verwurzelt ist als ihre politisch-demokratische Spielart.208 Doch was hat dieser letztere Gedanke heute zu bedeuten? Wohl vor allem, dass auch in Zeiten der viel beklagten „Postdemokratie“209 (Colin Crouch) der (sprichwörtliche) „Garten des Epikur“210 noch immer weit offen steht. Literatur Babbitt, Irving, Democracy and Leadership, Indianapolis (IN) 1979. Benardete, Seth, The Bow and the Lyre. A Platonic Reading of the Odyssey, Lanham (MD)– Boulder u. a. 1997. Bobbio, Norberto, Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994. Brand, Gerd, Welt, Geschichte, Mythos und Politik, Berlin–New York 1978. Braun, Eberhard/Heine, Felix/Opolka, Uwe, Politische Philosophie. Ein Lesebuch. Texte, Analysen, Kommentare, Hamburg 1984. Conze, Werner/Meier, Christian u. a., Freiheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2: E–G, hrsg. v. Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck, Stuttgart 1975, S. 425–542. Crouch, Colin, Postdemokratie (edition suhrkamp 2540), Frankfurt am Main 2008. Dann, Otto, Gleichheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2: E–G, hrsg. v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Stuttgart 1975, S. 997–1046. –, Gleichheit und Gleichberechtigung. Das Gleichheitspostulat in der alteuropäischen Tradition und in Deutschland bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert (Historische Forschungen 16), Berlin 1980. Dumont, Louis M., Gesellschaft in Indien. Die Soziologie des Kastenwesens, Wien 1976. –, Individualismus. Zur Ideologie der Moderne, Frankfurt/Main–New York–Paris 1991. Eliade, Mircea, Geschichte der religiösen Ideen, Bd. I: Von der Steinzeit bis zu den Mysterien von Eleusis (Herder spektrum 5274), Freiburg–Basel–Wien 2002. –, Mythos und Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1988. Epikur, Die Hauptlehrsätze (Kyriai Doxai), in: ders., Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Christof Rapp (Kröners Taschenausgabe 218), Stuttgart 2010, S. 11–21. Hayek, F. A. von, Die Verfassung der Freiheit (Wirtschaftswissenschaftliche und wirtschaftsrechtliche Untersuchungen 7), Tübingen 1971.
liche, sondern um die formale Dimension der Denkfigur, die wohl auf verschiedenerlei Problematiken übertragen werden könnte. Nebenbei erwähnt sei zudem noch, dass sich die Anthropologie des „Leviathan“ ‚freiheitlich‘ wenden lässt. Über eine derartige Inter pretation vgl. etwa Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 4/1: Das 20. Jahrhundert. Der Totalitarismus und seine Überwindung, Stuttgart–Weimar 2010, S. 199 f. 208 Für den Hinweis auf einen derartigen „deep egalitarianism“ vgl. Diego A. von Vacano, The Art of Power. Machiavelli, Nietzsche, and the Making of Aesthetic Political Theory, Lanham (MD)–Boulder u. a. 2007, S. 129. 209 Colin Crouch, Postdemokratie (edition suhrkamp 2540), Frankfurt am Main 2008. 210 Über diesen vgl. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/2, S. 292 f.
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Mario Claudio Wintersteiger
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Clemens Sedmak
Der Stachel der Ungleichheit
Einleitende Bemerkung
Paulus schreibt im zweiten Korintherbrief von einem Stachel in seinem Fleisch (2 Kor 12,7), den ihm Gott belassen hat, um nicht überheblich zu werden. Ähnlich kann man die Ungleichheit in einer Gesellschaft sehen; sie ist wie ein Stachel im Fleisch, der eine Gesellschaft zu einem Reflexionsprozess zwingt. Ungleichheit kann nicht weggenommen werden, wie die Geschichte gezeigt hat. Die Fragen „Welche Form von Ungleichheit ist zulässig?“ bzw. „Wie viel Ungleichheit ist zumutbar?“ bleiben als „Stachel“ einer sozialethischen Reflexion aufgetragen. 1. Das Ärgernis der Ungleichheit
Soziale Exklusion kann definiert werden als der unfreiwillige Ausschluss von Menschen von standardisierten kulturellen Aktivitäten. Ein soziales System verteilt Zugänge zu bestimmten Kontexten und Praktiken, etwa Zugänge zu Gesundheitssystem und Arbeitsmarkt, zu Bildung und zu kulturellen Aktivitäten. Soziale Ungleichheit bringt es mit sich, dass Menschen aufgrund ihrer Position im sozialen Gefüge von standardisierten und begehrten Gütern regelmäßig weniger erhalten als andere bzw. überhaupt keinen Zugriff auf standardisierte und begehrte Güter haben. Das ist ein Ärgernis, zunächst einmal für die, die Opfer dieser Exklusion sind; dann auch ein Ärgernis für die, die diese Ungleichheit nicht rechtfertigen können – und möglicherweise ein Ärgernis für die Gesellschaft insgesamt, wenn sich wachsende Ungleichheit als destruktiv für das Sozialsystem darstellt. Jared Diamond hat den Untergang von Gesellschaften beschrieben und als einen Faktor aufgezählt, dass Gesellschaften auf lebensbedrohliche Probleme nicht reagieren, weil sich die Eliten besser schützen können.1 Damit wird ein Hinweis darauf gegeben, dass Mechanismen sozialer Ausdifferenzierung ein systembedrohliches Aus1
J. Diamond, Kollaps. Frankfurt/Main 2005.
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maß erreichen können. Dieses Argument findet sich prominenterweise in dem nicht unumstrittenen Werk von Richard Wilkinson und Kate Pritchett, die als Konsequenzen massiver Ungleichheit einen Verlust an Vertrauen, eine Bedrohung von Gemeingütern, höhere Stresspegel, geringeres Sozialkapital, geringere Innovativität und größere Unzufriedenheit genannt haben.2 Damit sind zumindest drei Momente von Ungleichheit als Ärgernis benannt. Im 21. Jahrhundert ist die wachsende Kluft zwischen arm und reich, auch und gerade in Europa, nicht von der Hand zu weisen. Der Trend, dass Reiche reicher und sehr Reiche noch reicher werden, während die armutsgefährdete Bevölkerung tiefer in die Armut rutscht, akzeleriert und vertieft sich. Die Ungleichheit nimmt zu. Stewart Lansley beschreibt die Herausbildung einer „two track economy“, die „fast track“ (Finanzwirtschaft) und „slow track“ (produktive Wirtschaft) unterscheiden lässt. Die „fast track economy“ nährt die Idee, dass man sehr schnell sehr reich werden könne. Dies geschieht durch eine Form von „business activity“, die vor allem darin besteht, „mergers“ zu organisieren oder die Bilanzen neu anzuordnen, ohne dass dabei echtes neues Vermögen geschaffen würde. Diese Praktiken werden durch finanzielle Deregulierung ermöglicht und führen ihrerseits zu finanzieller Instabilität und einer Vergrößerung der Ungleichheit (Stichwort „pay explosion in the city“).3 Gleichzeitig verschärft sich die Armutssituation in Europa: Die Armut ist in der Mitte Europas angekommen – immer mehr Menschen verlieren den sozialen Anschluss, drohen zu denjenigen zu gehören, die die Gesellschaft schlichtweg abgehängt hat und deren Armut sich verfestigt. Das untergräbt auch das Vertrauen in die politischen Spielregeln und die Mechanismen des Marktes. Auch Joseph Stiglitz weist auf das Ärgernis der Ungleichheit hin, das Demokratie und Rechtsstaat aushöhlt. Es ist vor allem die Praxis des „rent-seeking“, die zur Beschleunigung ungerechtfertigter Ungleichheit beiträgt (Vermögensbildung nicht durch Zuwachs, sondern durch Privilegien wie Zugangsbeschränkungen oder Regulierungen). Die unsichtbare Hand, der Markt, hat versagt; falsche Anreize für Banken haben zu Instabilität, extremer Ungleichheit und einer Bedrohung der finanzgetriebenen Demokratie geführt. Es lässt sich ein Vermögenszuwachs der Reichen auf Kosten der Armen nachweisen. Entscheidend bei dieser Form der Vermögensbildung ist die Intransparenz der Märkte, an denen „Insider-Wissen“ gehandelt werden kann.4 Es ist ein Ärgernis, wenn eine größer werdende Zahl von working poor oder vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen mit immer höheren Profiten der ökonomi2 3 4
R. Wilkinson, K. Prickett, The Spirit Level. London 2009; vgl. J. Goldthorpe, Analyzing Social Inequality. European Sociological Review 26,6 (2010) 731–744. St. Lansley, The Cost of Inequality. Why economic equality is essential for recovery. London 2012, v. a. 13 ff. und 55 ff. J. Stiglitz, Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht. München 2012, v. a. Kapitel 2 und 3.
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schen Elite oder immer höheren Remunerationen des Finanzsektors konfrontiert wird.5 Das Ärgernis der Ungleichheit liegt gerade darin, dass es sich nicht um ein Naturgesetz handelt, das über uns hereinbricht. Der englische Geograph Daniel Dorling hat darauf aufmerksam gemacht, dass die hartnäckige Persistenz von ungerecht zu nennender Ungleichheit mit tief verwur zelten Grundüberzeugungen zusammenhängt, die die meisten Mitglieder einer westlichen Gesellschaft als selbstverständlich wahr annehmen.6 Diese hartnäckigen Überzeugungen beziehen sich auf den Elitismus („elitism is efficient“), auf die Plausibilität von Vorurteilen („prejudice is natural“), auf die Bedeutung von energischem Strebevermögen nach Mehr („greed is good“), auf auf die Unvermeidbarkeit von „sozialen Verlusten“ („despair is inevitable“). Diese Grundhaltungen führen zu einer Verfestigung von Ungleichheit. Ungleichheit wird zum Ärgernis, wenn Privilegien nicht gerechtfertigt werden können; unter einem Privileg kann eine zuerkannte Sonderstellung verstanden werden, die einen Vorteil gegenüber anderen mit sich bringt. Durch ein Privileg wird eine Person oder eine Personengruppe herausgehoben aus der Gemeinschaft der ansonsten Gleichgestellten. Ein Privileg ist eine für alle anderen in ihren Konsequenzen gültige Regelung, die aber nur eine kleine Gruppe oder eine einzelne Person betrifft. Der Begriff des Privilegs macht darauf aufmerksam, dass Gleichheit nicht nur durch negative Diskriminierung, sondern auch durch positive Diskriminierung bedroht werden kann. Privilegien haben in der Regel einen „Meritorisierungseffekt“ in dem Sinne, dass die Nutznießer auf Rechtfertigungsrhetoriken zurückgreifen und die Privilegien als „verdient“ ansehen und damit tendenziell als Einlösung eines erworbenen Anspruchs rekonstruieren und zweitens einen „Habitualisierungseffekt“, der darin besteht, dass sich Privilegiennutznießer (und in vielen Fällen auch die soziale Umgebung) an das Privileg gewöhnt und als selbstverständlich ansieht, in die anderen Ansprüche eingliedert, sodass ein Privileg den Charakter eines Sonderrechts verliert und von dieser Position aus weitere Forderungen stellen. Daraus folgt dann auch, dass die Abschaffung eines Privilegs mit großem sozialem Aufwand verbunden ist, weswegen eine Klugheitsregel nahe legen würde, bei der Einführung eines Privilegs Vorsicht walten zu lassen. Es kann durchaus beobachtet werden, dass die Nutznießer eines Privilegs das Privileg nicht als solches wahrnehmen, sondern von da aus „Normalität“ definieren, was etwa in der Diskussion um männliche Privilegien und deren Unsichtbarkeit nachvollzogen werden kann. Diese Asym metrie der Wahrnehmung und der Rechtfertigungskulturen kann ein Privileg zu einem Ärgernis werden lassen.
5 6
Vgl. C. Sedmak, Working Poor: Poorly Functioning Societies? In: W. Pfeil, C. Sedmak (Hgg.), Arm trotz Erwerbstätigkeit. Wien 2012, 115–138. D. Dorling, Justice. Why Inequality persists. Bristol 2011.
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Ungleichheit ist nicht als solche ein Ärgernis – sondern wird zum Ärgernis aufgrund der Operationalisierung. Selbstverständlich unterscheiden sich Menschen in vielen Aspekten. Anerkennung der Ungleichheit ist entscheidendes Vehikel für identitätsbildende Anerkennung, die den Einzelnen als einzigartig wahrnehmen lässt. Die Unterstellung freilich einer fundamentalen Gleichheit, die auch durch sichtbare Unterschiede nicht aufgehoben werden kann, trägt zum respektvollen Umgang von Menschen miteinander bei. Die Anerkennung dieser fundamentalen Gleichheit muss sich in bestimmten Interaktionsgütern niederschlagen, etwa in Formen von Gleichbehandlung, in gleichen Ansprüchen und Rechten. Die Anerkennung einer fundamentalen Gleichheit führt zu einer bestimmten Form der Wahrnehmung, etwa zu jener Wahrnehmung, die Menschen „als Menschen“ wahrnehmen lässt, vor allen Unterschieden (einen Wahrnehmungsmodus, den Martha Nussbaum7 als Bildungsauftrag an erzieherisch tätige Institutionen vorgestellt hat). Wenn diese Anerkennung fundamentaler Gleichheit nicht verankert ist, können bestimmte ethisch bedenkliche Phänomene auftreten, wie etwa jene besondere, im Alltag auftretende Form der Missachtung menschlicher Würde, die darin besteht, Menschen so zu behandeln, als ob sie Dinge wären. Florence Aubenas, die sich ein Jahr im Niedriglohnsektor als Reinigungskraft verdingt hat, um als Journalistin diese Seite der Welt kennen zu lernen, wurde in einem Vorbereitungskurs darauf aufmerksam gemacht, dass eine Reinigungskraft nicht damit rechnen dürfe, gegrüßt zu werden, daran müsse man sich gewöhnen.8 Eine Reinigungskraft wird nicht selten wie ein Möbelstück behandelt, das man zwar nicht umrennen kann, mit dem man aber doch nicht interagieren muss. Wir haben es hier mit einer Einstellung zu tun, die Menschen wie dinghafte Gegenstände behandeln lässt. Damit ist eine Haltung gegeben, die der israelische Philosoph Avishai Margalit als „blindness to the human aspect“ beschrieben hat.9 Diese „blindness to the human aspect“ bedeutet eine Einstellung, die einen Menschen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer äußeren, nicht ihrer psychischen Erscheinung betrachtet. Wir haben es hier mit einer Form von Wahrnehmung zu tun, die sich nicht als Ausdruck einer Entscheidung, einer Wahl ergibt, sondern mit tiefer liegenden Aspekten der menschlichen Lebensform zu tun hat. Das Menschsein einer anderen Person erschließt sich einem menschenblinden Menschen nicht durch Wahrnehmung und Erleben, sondern durch Nachdenken und „Konstruktion“. Nach diesem Verständnis ist Menschenblindheit ein Krankheitsbild, eine Dysfunktionalität, die analog zur Farbenblindheit verstanden werden kann. Margalit weist darauf hin, dass diese Form der Blindheit sich
7 8 9
M. Nussbaum, Cultivating Humanity. Cambridge, Mass 1997. F. Aubenas, Le quai de Ouistreham. Paris 2010, 45. A. Margalit, The Decent Society. Cambridge, Mass 1996, 96–103.
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auch darin äußern kann, Menschen zu ignorieren, durch sie hindurchzuschauen. Es ist ein Topos der antikolonialistischen Literatur, Menschen nicht wahrzunehmen.10 Es ist zwar ein Unterschied, ob Menschen als Dinge wahrgenommen oder schlichtweg übersehen werden, es bleibt aber die perzeptive Verweigerung, einen Menschen als Menschen zu sehen. Wir bewegen uns hier auf der Stufe der Wahrnehmung; wir sind mit Wahrnehmungsmustern konfrontiert, nicht mit rational gerechtfertigten Interpretationen. Menschenblindheit kann sich auf einzelne Menschen beziehen, tritt aber häufig im (etwa rassistischen oder auch sexistischen) Umgang mit Menschengruppen auf, die nicht unter dem Gesichtspunkt des Menschlichen gesehen werden.11 Hier wird die Ungleichheit so weit strapaziert, dass das Gemeinsame zwischen den Menschen nicht mehr gesehen wird. Das Risiko, Gegenstand menschenblinder Wahrnehmung zu werden, trifft besonders verwundbare Menschen in höherem Maße. Hier wird Ungleichheit in ihrer Operationalisierung zu einem sozialethischen Skandalon, das die Kohäsion einer Gesellschaft und den Begriff der Menschlichkeit gefährdet. 2. Anerkennung von Ungleichheit
Ungleichheit ist gerade deswegen ein „Stachel“, weil Ungleichheit erwartbar und gegeben ist. Ungleichheit ist der Normalfall, nicht die Ausnahme, also die „default position“. Menschen sind ungleich und werden ungleich behandelt. Einen Menschen anzuerkennen, bedeutet unter anderem, ihn in seiner Einzigartigkeit und damit in seiner Differenz zu anderen Menschen zu sehen. Das ist ein Akt der Humanisierung, denn es ist unmenschlich, einen Menschen nicht in seiner Einzigartigkeit zu sehen. Jodie Halpern und Harvey Weinstein haben auf die Bedeutung der Berücksichtigung von Einzigartigkeit für eine Humanisierung des Anderen hingewiesen.12 Gerade nach einem Konflikt ist es für einen Versöhnungsprozess entscheidend, den Menschen als Person und nicht als epistemisches Objekt zu sehen – nur dann können Veränderungen in der Wahrnehmung eintreten: „Perceptual shifts … that occur when one becomes interested in another’s distinct subjective perspective are central to rehumanization.“13 Die große Herausforderung in einem Versöhnungsversuch besteht darin, „Dehumanisierung“ umzukehren „and to return humanity to those from whom categorization has removed
10 11 12 13
Ebd., 102. Cf. M. Krygier, Civil Passions. Selected Writings. Melbourne 2005, 206–7. J. Halpern, H. M. Weinstein, Rehumanizing the Other: Empathy and Reconciliation. Human Rights Quarterly 26,3 (2004) 561–583. Ebd., 565.
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all individual attributes“.14 Dehumanisierung besteht gerade darin, das Einzigartige an einem Menschen zu leugnen und den Menschen auf ein epistemisches Objekt zu reduzieren. Empathie ist die Fähigkeit und Bereitschaft, einen anderen Menschen in seiner Einzigartigkeit wahrzunehmen und ihm aufgrund dieser Einzigartigkeit zu begegnen. So gesehen ist Empathie nur auf der Grundlage der Anerkennung von Ungleichheit möglich. Wir wissen aus den erkenntnistheoretischen Überlegungen zur Weltanschauung von Terroristen, dass sie Menschen aus Fleisch und Blut in epistemische Objekte verwandeln und bestimmte Menschen nur mehr als Repräsentanten einer Kategorie ansehen, aber nicht mehr in ihrer je besonderen Einzigartigkeit.15 Der frühere IRA Terrorist Eamon Collins beschreibt in seiner Autobiographie die Wandlung seines Geistes.16 Nach Darstellung von Collins rutscht er langsam in den Terrorismus hinein; die britische Armee erschießt drei unschuldige Jugendliche und lügt über den Hergang; sein Vater wird vor den Augen der Familie gedemütigt. Collins beschreibt, wie er in seinem Zimmer sitzt und sich ausmalt, britische Soldaten zu töten. Er wird mit der Ermordung eines britischen Zollbeamten betraut; zu diesem Zweitpunkt hatte er bereits jegliche Sympathien für seine Opfer überwunden, eine Haltung, an der er auch (im Sinne einer revolutionären Notwendigkeit) arbeitete. Seine Wahrnehmung hatte sich verändert – er nahm nun nicht mehr Menschen aus Fleisch und Blut wahr, sondern als „epistemische Objekte“, als Mitglieder einer bestimmten Kategorie, wobei die Mitglieder dieser Kategorie nicht in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit wahrgenommen wurden. Anerkennung der Ungleichheit von Menschen ist ein Akt, der zur Anerkennung der Einzigartigkeit von Menschen führen kann. „I think it takes time – it took me time – to realise just how very different people are from each other“, schreibt Stephen Grosz nach 25 Jahren Erfahrung als Psychoanalytiker.17 Entsprechend verwundert es nicht, dass er viele verschiedene Geschichten von Menschen, mit wachem Blick für Nuancen und Besonderheiten, erzählen kann. Einen Menschen anzuerkennen hat gerade auch damit zu tun, ihn als besonderen und einzigartigen Menschen zu sehen. Die Rede von der Identität des Menschen ist mit der Idee verbunden, ein besonderer (einzigartiger) und bestimmter (mit Profil und charakteristischen Eigenschaften ausgestatteter) Mensch zu sein. Die Anerkennung eines Menschen in seiner Einzigartigkeit
14 15
16 17
Ebd., 567. T. Auchter: Angst, Hass und Gewalt. Psychoanalytische Überlegungen zu den Ursachen und Folgen des Terrors, in: Ders. u. a. (Hg.): Der 11. September. Psychoanalytische, psychosoziale und psychohistorische Analysen von Terror und Trauma. Gießen 2003, 134–163. E. Collins mit M. McGovern, Blinder Haß. Autobiographie eines irischen Terroristen. Frankfurt/Main 1997. S. Grosz, The Examined Life. How we Lose and Find Ourselves. London 2013, 2.
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und damit vergleichsweisen Ungleichheit zielt auf Unverwechselbarkeit, Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit ab. Jerold Seigel charakterisiert das Selbst mit Bezug auf den Begriff der Partikularität als „the particular being any person is, whatever it is about each of us that distinguishes you or me from others, draws the parts of our existence together, persists through changes, or opens the way to becoming who we might or should be.“18 Partikularität ist denn auch mit Kohärenz und Integration verbunden. Dieser Aspekt von Identität wird gefährdet, wenn Menschen die Botschaft ihrer Substituierbarkeit erhalten. Es entspricht der Eigenart von Liebesbeziehungen, dass Menschen für einander unersetzbar werden und wechselseitig besondere Verpflichtungen eingehen. Wenn Eltern ein Kind verlieren, wird das verlorene Kind stets unersetzbar und unwiederbringlich verloren sein, selbst wenn es noch einmal zu einer Elternschaft kommt (das ist ein Punkt, der in der Rahmenerzählung des Buchs „Hiob“, in der der Verlust und das neue Geschenk von Kindern geschildert wird, irritieren kann). Ein besonderer Mensch hat sich einen Ort im (sozialen, epistemischen, kulturellen) Raum geschaffen, der nur von diesem besonderen Menschen eingenommen werden kann; oder auch: einen Ort, der durch diesen Menschen erst konstituiert wurde. Dies ist wohl ein Aspekt von Hannah Arendts Idee von“ Natalität“, dass durch das Erscheinen eines Menschen das soziale Gefüge neu gemacht wird und die Welt Neuerung erfährt.19 Jeder Mensch setzt und ermöglicht allein durch das Geborensein und dann auch durch sein soziales Geborensein im Handeln einen Neuanfang. Das Besondere eines Menschen ist auch über diesen je einzigartigen Neuanfang erkennbar. Menschen, die als Teil einer Masse oder in anonymisierter Form gehalten werden, haben aufgehört, besondere Menschen zu sein. Hier macht sich wiederum das Phänomen der Menschenblindheit bemerkbar. 3. Entstehung von sozialer Ungleichheit: Rahmenbedingungen
Der Stachel der Ungleichheit kann auch in der Frage gesehen werden, wie soziale Ungleichheit zustande kommt. Die Herausforderung der Ungleichheit stellt sich gerade bei großen sozialen Unterschieden. Wie kommen diese zustande? Handelt es sich um die Bestätigung des Sprichworts „Jeder ist seines Glückes Schmied“? Welche Rolle spielen Rahmenbedingungen? Ich möchte diesen Aspekt des Stachels der Ungleichheit an einem Beispiel illustrieren, das tief mit der europäischen Geschichte verbunden ist: Der ökonomische und soziale Aufstieg des Mayer Amschel Rothschild (1744–1812), des Mannes,
18 19
J. Seigel, The Idea of the Self. Thought and Experience in Western Europe since the Seventeenth Century. Cambridge 2005, 3. H. Arendt, Vita activa. München 91997, 215 ff.
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der am Anfang des Aufstiegs des Hauses Rothschild stand.20 Es soll ein kurzer Blick auf die Geschäftsgeschichten dieses Mannes, der unter der Diskriminierung der Juden litt und in einem Klima wachsenden Bewusstseins vom Wert der Gleichheit seinen Weg ging, geworfen werden: Mayer Amschel Rothschild wuchs um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Frankfurter Judengasse, auf. Er stammte aus einer Familie kleiner Händler, die vor allem mit Stoffen Geschäfte machten. Generationen vor ihm hatte die Dynamik sozial überlegter Heiraten begonnen, die einen langsamen sozialen Aufstieg ermöglichten. Mayer Amschel lernte die Grundlagen des Geschäftslebens bei Wolf Jakob Oppenheim in Hannover und begann als Händler von (seltenen) Münzen. Um in diesen Geschäftszweig einzusteigen, waren zunächst zwei Dinge erforderlich: gute Kontakte zu Münzsammlern (also zur Aristokratie) und solide Kenntnisse der Numismatik. 1764 kehrte er nach seiner Lehrzeit nach Frankfurt zurück und konnte ein Jahr später ein erstes signifikantes Geschäft mit Erbprinz Wilhelm abschließen. Dieser Zugang zu einem königlichen Hof war entscheidend – 1769 konnte Mayer Amschel den Status eines Hofagenten beantragen, was ihm 1770 gewährt wurde. Das war auch das Jahr der sozial-strategischen Verehelichung mit Gutle Schapper, Tochter eines Hofagenten, die in Form einer Mitgift wichtiges Kapital in seine Geschäftsgebarung einbrachte. Zugang zum Hof, Zugang zu anderen Kontakten und Zugang zu Kapital zeigen sich in diesem Lebensstadium als Schlüssel zum wachsenden Erfolg. Ein vierter Faktor war die Erweiterung des Handelsportfolios, da Mayer Amschel neben dem Handel mit Münzen und Medaillen nun auch das Geschäft mit Antiquitäten in sein Programm aufnahm. Ein entscheidender Erfolgsfaktor waren penibel ausgearbeitete Kataloge, die er in seinem sich weitenden Kreis von aristokratischen Kunden versenden ließ. Geschäftstüchtigkeit zeigte Mayer Amschel auch in einer gewissen Preisflexibilität, die ihn Nachlässe gewähren ließ. Langsam wuchsen sein Vermögen und sein Geschäftsradius. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die genannten Faktoren (soziales Kapital, mitgiftbedingtes finanzielles Kapital, Kommunikationsfähigkeit in Form von Katalog und Preisgestaltung) sowie die Genauigkeit der Buchführung, die Mayer Amschel eigen war, zu stetem wirtschaftlichem Aufstieg beigetragen, allerdings nicht zu Reichtum. Der Durchbruch zu namhafter Vermögensbildung erfolgte durch den Transfer in einen lukrativen Geschäftszweig, das Bankgeschäft. Dieser Überstieg (bzw. diese Erweiterung der Geschäftsinteressen) wäre ohne die durch Münz- und Antiquitätenhandel lukrierten Mittel nicht möglich gewesen. In den frühen 1790er Jahren vollzog sich dieser Wandel. Niall Ferguson beschreibt den Übergang zum Banking nicht als strategischen, sondern als gewissermaßen „natür-
20
Zum Folgenden die klassisch gewordene Studie von Niall Ferguson – N. Ferguson, The House of Rothschild. Money’s Prophets 1798–1848. London 1999.
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lichen“ Weg: „In some ways, the transition was a natural one. An antiquedealer with a growing circle of suppliers and customers naturally would extend credit to some of these.“21 Im Jahr 1797 war Mayer Amschel Rothschild bereits einer der reichsten Juden Frankfurts, wesentlich bedingt durch Bankgeschäfte. Im Übrigen scheint es so, dass Mayer Amschel die nötige Sorgfalt im Umgang mit wachsendem Vermögen und dem Geschäft mit Geld erst lernen musste, wurde er doch, weil in seinem Büro viel Bargeld herumlag, auch Opfer einer Unterschlagung durch einen Bediensteten. Ab 1796 kam ihm der Krieg zuhilfe – hier entstanden neue Geschäftsgelegenheiten. Er konnte mit zwei Partnern einen Vertrag lukrieren, die österreichische Armee während der Operationen in der Rhein-Main Region mit Getreide und Geld zu versorgen. Mayer Amschel nutzte auch die britische industrielle Revolution aus, indem er seinen Sohn Nathan um 1798 nach England schickte, um Textilgeschäfte anzubahnen. Dort musste Nathan aus strategischen Gründen verbergen, dass er für eine Frankfurter Firma arbeitete. Nathan bereitete seinem Vater durch Schlamperei und Unerfahrenheit einige Sorgen, etablierte sich dann aber langsam, erst als Händler und dann auch als Textilhersteller. Die Aufbruchsstimmung der damaligen Zeit kam Nathans ungestümem Temperament, das er nach und nach besser zu kontrollieren verstand, entgegen: „It took a combination of burning aggression and cool calculation to survive and thrive.“22 Durch eine strategische Heirat mit der Tochter eines bedeutenden Londoner Händlers gewann Nathan, durch das neue Sozialkapital, den neuen Status und die Mitgift an Geschäftsmöglichkeiten. Durch das Kriegsgeschehen und die von Napoleon verhängte Handelsblockade wurde Nathan etwa ab 1807 in die Illegalität gedrängt, um seine Geschäfte fortsetzen zu können und wurde als Schmuggler tätig. „In October 1807 he was sending a consignment of coffee to Sweden via Amsterdam, using an American registered ship and fake Dutch documents.“23 Auch nach Aufhebung des Handelsembargos wurde der Schmuggel zur Vermeidung der Importzölle aufrecht erhalten.24 Gleichzeitig kam Mayer Amschel das Klima wachsenden Gleichheitsbewusstseins zugute, das den Antisemitismus im Zuge der französischen Revolution deutlich weniger salonfähig machte. Ein zweifellos wichtiger Schritt zum finanziellen Aufstieg der Rothschilds war die Beziehung zu Wilhelm IX, dem vermögenden Kurfürsten zu Hesse-Kassel.25 Mayer Amschel bemühte sich um die Mög-
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Ferguson, a.a.O., 45. Ebd., 54. Ebd., 58. F. Morton, The Rothschilds. New York 1961, 45–48. Vgl. F. Backhaus, Mayer Amschel Rothschild. Ein biografisches Porträt. Freiburg/Br. 2012, 80–96; A. Elon, Founder: A Portrait of the first Rothschild and his Time. London 1996, Kap. 3; D. Wilson, Rothschild. The Wealth and Power of a Dynasty. New York 1988, 38–44.
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lichkeit, in den Radius dieses Geschäftslebens einzutreten, eine strategische Freundschaft mit Karl Friedrich Buderus kam ihm dabei zu Hilfe. Dieser verschaffte ihm Insider-Wissen und Mayer Amschel schaffte es auf diese Weise, den Fuß in die Tür zu bekommen und seine Geschäftsbeziehungen stetig auszubauen. Nachdem Wilhelm ins Exil gezwungen war, verwalteter Rothschild dessen Geschäftsangelegenheiten, vertrauenswürdig und zuverlässig, durchaus unter persönlichen Risiken gegenüber der französischen Aufsicht. Einmal einem Verhör unterzogen, entschuldigte sich Mayer Amschel mit seinem schlechten Gedächtnis, ähnlich unschuldig und unwissend stellte sich die befragte Ehefrau Gutle dar.26 Mit diplomatischem Geschick präsentierte er sich gegenüber seinen Mitbewerbern als harmlos und verfolgte dabei mit kühlem Kalkül die Strategie, zu möglichst vielen Fürstenhäusern Geschäftsbeziehungen aufzubauen. 1800 wurde er Hofagent des österreichischen Monarchen, ab 1804 hatte er nahezu das Monopol im dänischen Königshof errungen. Die Familie verzweigte sich durch die Geschäftstätigkeit, die Mayer Amschels Söhne aufnahmen. Mit größter Diskretion – unter Zuhilfenahme hebräischer Schrift etwa – wurden hier mit großer Geschwindigkeit Informationen ausgetauscht, etwa den Wechselkurs betreffend, ein Faktor, der wesentlich zur Vermögensbildung beitrug. Vermögensbewahrend und -vermehrend war wohl auch der Umstand, dass Mayer Amschel Töchter und Schwiegersöhne vom Geschäft kategorisch ausschloss.27 Versuchen wir eine kurze moralphilosophische Analyse dieser biographischen Dynamik: Natürlich spielte Geschäftstüchtigkeit eine große Rolle, etwa die Bereitschaft, eigenen Profit zu reduzieren, um langfristige Geschäftsverbindungen aufzubauen; Weitsichtigkeit und die Fähigkeit zu „delayed gratification“ waren sicherlich bedeutend; ebenso wichtig wohl auch die Einheit der Familie und der innere Zusammenhalt. Der Mythos freilich „Moralische Tugenden werden mit Reichtum belohnt“, der im Zusammenhang mit der Geschichte des Hauses Rothschild des öfteren bemüht wird und den man auch in Kontexten finden kann, die einer bestimmten Auslegung der jüdisch-christlichen Tradition verpflichtet sind, ist bei näherer (moralphilosophischer) Betrachtung mit Blick auf Details schwer haltbar. Niall Ferguson nennt drei Faktoren, die einem Investor Wettbewerbsvorteile über die Konkurrenz verschaffen: Zugang zu Information und damit die Nähe zu den politischen Machtzentren, Geschwindigkeit der Nachrichtenübermittlung und die Fähigkeit, die Nachrichtenübermittlung an die Konkurrenz zu manipulieren.28 Das Haus Rothschild hat diese Aspekte erkannt und genutzt. Ein hilfreicher Umstand im Zusammenhang mit Informationsverwaltung war die
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Ferguson, a.a.O., 68. Ebd., 74. Ebd., 5.
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Sprache des „Judendeutschen“, Deutsch in hebräischen Buchstaben. In dieser Sprache und Schrift kommunizierten Mitglieder des Hauses Rothschild miteinander und konnten dies mit einer gewisse Unverblümtheit tun, da sie mit der Unzugänglichkeit der Kommunikationsform rechnen konnten. Entscheidend zur Vermehrung des ökonomischen Kapitals war aber allemal der Zugang zu sozialem Kapital: Der Zugang zu bestimmten sozialen Schichten erhöhte das Sozialkapital und damit die Möglichkeit, finanzielles Kapital zu vermehren. „Mixing with members of the aristocracy was essential if it was they who governed, and almost as much political information came from informal socialising as from formal meetings with ministers“.29 Das bedeutet auch einen bestimmten Umgang mit „Zeit“ (informelle Treffen …) und „Beziehungen“ (strategische Kommunikation und Instrumentalisierung von Gesprächspartnern und damit auch eine Dynamik, Menschen auf epistemische Objekte zu reduzieren). Die Rolle der Gemeinschaft bei diesen Aufstiegen ist nicht nur die der Komparsen: Niall Ferguson identifiziert „political confidence“ als einen entscheidenden Punkt in der Geschichte des ökonomischen Aufstiegs der Rothschilds.30 Dieses Vertrauen besteht darin, dass Investoren das Vertrauen in die Staaten haben, mit denen sie Handel treiben, die eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Nun kann man sich fragen, woher denn ein Staat, wenn nicht aus den vielen kleinen Beiträgen durch „die Vielen“, die Mittel haben sollte, diesen Verpflichtungen nachzukommen, sind doch Massensteuern der Löwenanteil am Steueraufkommen. Mayer Amschel Rothschild konnte soziale Ungleichheiten (Fürstenhöfe, Aristokratie) geschickt nutzen, um sich selbst von anderen abzusetzen. Gleichzeitig erfolgt das in einem Klima, das den Gleichheitsgedanken höher stellte, was für die Herausbildung von Opportunitäten sicherlich nicht nachteilig war. Das soziale und politische Umfeld war der entscheidende Faktor, gepaart mit der Geschäftstüchtigkeit, die Mayer Amschel Rothschild mitbrachte. Diese Befunde decken sich mit den normativen Überlegungen, die Thomas Nagel und Liam Murphy in ihrem Buch über Ethik der Besteuerung angestellt haben.31 Murphy und Nagel diskutieren den Übergang von „pre property world“ zu einer „property world“ und den Übergang von einer „pre tax world“ zu einer „after tax world“; die Hauptthese ihres Buches besteht darin, dass eine „pre tax world“ eine Illusion darstellt; es ist derselbe Staat mit denselben Gesetzen, der Eigentum überhaupt erst ermöglicht und dann auch Steuern einhebt; Bürger/innen verdanken es diesen staatlichen Kontexten, dass sie überhaupt Eigentum haben können; es ist ein Mythos, zu glauben, dass es Privateigentum jenseits des Staates gäbe. Der Begriff des Pri-
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Ebd., 8. Ebd., 5. L. Murphy Th. Nagel, The Myth of Ownership. New York 2002.
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vateigentums impliziert soziale und sozial geschützte Konventionen; soziale Ungleichheit wird im Rahmen solcher sozialen Konventionen möglich. Diese Abhängigkeit von einzelnen von sozialen und politischen Rahmenbedingungen trägt zum Stachel der Ungleichheit bei. 4. Neue Formen von ungleicher Gleichheit
Ein weiterer Stachel der Ungleichheit besteht in der Situation, in der wir uns im 21. Jahrhundert befinden. Wir haben eine eigentümliche Situation vor uns: Wir befinden uns einerseits in einer neuen Gleichheit und andererseits in einer neuen Ungleichheit. Wenn wir drei Abkürzungen für die vorliegende Situation verwenden wollten, so könnten es Fukushima, Lampedusa, New Moore Island sein. Fukushima als Ort einer Nuklearkatastrophe, Lampedusa als Realität und Symbol wiederkehrender Flüchtlingsdramen, New Moore Island, die aufgrund des Klimawandels untergegangene kleine Felseninsel in der Bucht von Bengalen – sind drei Orte, die gleichzeitig „Topoi“ sind und für Signaturen unserer Zeit stehen, die mit Risiken, Ausgrenzung und Unwägbarkeiten zu kämpfen hat. Fukushima, Lampedusa und New Moore Island weisen zumindest vier bemerkenswerte Charakteristika auf: Unumkehrbarkeit, Dringlichkeit, Unentrinnbarkeit, Ungleichheit. Unumkehrbarkeit besagt, dass bestimmte Ereignisse Kausalketten auslösen, die nicht mehr reversibel sind. Die Realitäten von Kernenergie, Flüchtlingsströme und Klimawandel haben Tatsachen geschaffen, die den Ausgangspunkt weiterer Ereignisse bilden, ihrerseits aber nicht mehr umgekehrt werden können. Sie schaffen nicht vorläufige Zustände, sondern Ausgangslagen für Künftiges. Dringlichkeit: Fukushima, Lampedusa und New Moore Island sprechen in der Sprache der Katastrophe und des Desasters Prozesse an, die rasches Handeln erfordern und eine Imminenz in sich tragen, eine drohende Ankündigung weiterer widriger Konsequenzen. Die Dimension der Unentrinnbarkeit spricht eine „neue Gleichheit“ an: Die Dringlichkeit ergibt sich gerade auch deswegen, weil die angesprochenen Risiken nicht lokal eingedämmt werden können. Fragen der Nuklearenergie sind ebenso globale Fragen wie Flüchtlingsströme und Klimawandel. Ähnlich wie im Psalm 139 vom Allzugriff Gottes die Rede ist („steige ich hinauf in den Himmel, so bist du dort; bette ich mich in der Unterwelt, bist du zugegen; Ps 139,8), sprechen diese Katastrophen eine Sprache der Unentrinnbarkeit: Wir können unser Leben langfristig nicht so einrichten, dass wir von diesen Topoi nicht betroffen wären. Als Signaturen unserer Zeit sind sie Teil des Schicksalsgefüges, mit dem wir handelnd umgehen müssen. Dennoch sind diese Topoi, die „neue Gleichheit“ erzeugen, gleichzeitig Produzenten neuer Ungleichheit: Selbst wenn Dringlichkeit und Unentrinnbarkeit eine gewisse Gleichheit erzeugen und auf diese Weise so etwas wie einen Egalitarismus angesichts globaler Katastrophenszenarien
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andeuten, so sind doch die Menschen in unterschiedlicher Weise von diesen Katastrophen betroffen. Anders gesagt: Die Ungleichheit unter den Menschen zeigt sich unter anderem in der Weise, wie Menschen von diesen Signaturen betroffen sind. Manche Menschen können sich durch Wohlstandsprivilegien vor diesen Herausforderungen wirksamer schützen als andere. Das Vermögen, mit bedrohlicher Kontingenz umzugehen, wird zur knappen Ressource, die Ungleichheit erzeugt oder auch verfestigt. Aus der Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Ungleichheit kommen wir nicht heraus. Die genannten Topoi erzeugen eine Conditio, die uns an die Grenzen der monetären Machbarkeit stoßen lässt. Niklas Luhmann hatte seinerzeit mit gutem Grund das Geld als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium und Universalsymbol positioniert, das Umtausch und Verrechnung von Gütern aller Art ermögliche.32 Geld ermögliche Übersetzbarkeit von einer Sprache in eine andere, von einem Kontext in einen anderen. Geld ermöglicht gleichzeitig die wirksamste Dynamik zur Erzeugung sozialer Ungleichheit. Die im 20. Jahrhundert für Herausforderungen aller Art (artikuliert als Vorbereitung der angemessenen Reaktion) artikulierten Grundfragen lauten: Wie viel kostet das? Und: Wer bezahlt das? Die Kostenfrage und die Zahlfrage wurden als Schlüssel für die Gestaltung von Kontingenz etabliert. Wenn Kosten- und Zahlfrage geklärt sind, verliert eine Katastrophe das Gespenstische, nimmt Gestalt an und wird zu einer Größe in der Handlungsplanung. Wenn nach einem Unfall geklärt ist, wer die Kosten in bestimmbarer und bestimmter Höhe übernimmt, gilt die Unfallsituation als geklärt und abgeschlossen – denn durch die Beantwortung dieser Fragen wurden Kausalaspekte und Ätiologie geklärt und der Hebel zur Umkehrbarkeit angesetzt. Nun haben diese beiden Fragen, die Kosten- und die Zahlfrage, ihre Legitimation und ihren Wert, vor allem auch in einem entsprechend ausgestatteten Rechtssystem, das man durchaus als Maschinerie zur Klärung dieser beiden Fragen ansehen könnte. Gleichzeitig ist klar, dass diese beiden Fragen an Grenzen stoßen. Die angesprochenen Katastrophen von Fukushima, Lampedusa und New Moore Island lassen Grenzen der Kosten- und der Zahlfrage erkennen. Anders gesagt: Wenn die Welt aufgrund nuklearer Verseuchung unbewohnbar geworden ist (ein Szenario, das Michael Frayn in seiner Dystopie A Very Private Life von 1968 beschrieben hat), ist die Frage „Wer soll denn das bezahlen?“ hinfällig geworden. Hier zeigt sie sich wiederum, „die neue Gleichheit“. Fukushima, Lampedusa und New Moore Island werfen Szenarien auf, die sich jenseits dessen bewegen, was mit Geld saniert werden kann: Nukleare Katastrophen können unkontrollierbar werden, wie Fukushima gezeigt hat; eine globale Wirtschaftsform und Vermögensordnung übersteigt die Kontrolle
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Niklas Luhmann, Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in: ders., Aufsätze und Reden. Stuttgart 2001, 31–75.
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einzelner Staaten oder auch Staatengemeinschaften, wie wir im Falle von Lampedusa sehen, und kann nicht durch den Einsatz finanzieller Mittel unter Beibehaltung des ökonomischen Systems saniert werden; der Klimawandel ist einerseits wie Fukushima eine Größe, die die Lebensgrundlagen tangiert, und hat andererseits, wie Lampedusa, eine globale Dimension. Hier werden die Grenzen von monetärer Gestaltbarkeit erreicht, die Kosten- und die Zahlfrage gehen ins Leere. Angesichts dieser neuen Gleichheit kommt der Ungleichheit, also den ungleich verteilten Zugängen zu Möglichkeiten, mit Gleichheit umzugehen, eine neue Kraft zu – der Stachel verstärkt sich … Ich möchte die Gestalt dieser neuen Gleichheit nutzen und auf die gemeinsame und geteilte Verwundbarkeit als eine entscheidende Quelle von Gleichheitsüberlegungen verweisen. 5. Gleichheit: Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit
Wir haben am Beispiel des Begriffs der Menschenblindheit gesehen, dass moralische Begriffe auch auf der Wahrnehmungsebene verankert sind. Moralische Begriffe müssen mit Erfahrungen genährt werden. Das moralische Gefühl für die Wahrnehmung von Gleichheit hängt wesentlich am Faktor der Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit. Gehen wir einmal von folgender Frage aus: „Wenn ich jetzt weiß, dass mein Leben dereinst von Angewiesensein, Verwirrung und Verfall gekennzeichnet sein wird, wie würde ich jetzt mein Leben leben?“ Nennen wir diese Frage die „Zerbrechlichkeitsfrage“. Die Zerbrechlichkeitsfrage thematisiert Verwundbarkeit und führt ein Szenario von Zerbrechen und Verlust vor Augen. Diese Frage ergibt sich unschwer auf einem realistischen Hintergrund menschlicher Lebenserwartung und im Kontext unserer Fragilität. Um ein Beispiel zu nennen: Arno Geiger hat in seinem bekannten Werk Der alte König in seinem Exil seinem Vater ein Denkmal gesetzt.33 Ein Kind erlebt den Verfall des Vaters. Das fällt schon einmal schwer, weil Kinder daran gewohnt sind, dass die Eltern stark sind. Geiger spricht wiederholt die Verwunderung an, dass es seinen Vater erwischt hat, das habe er ihm nicht „zugetraut“ (25). Zu Beginn der Krankheit, als die Diagnose noch nicht erfolgt ist, reagiert der Sohn mit Zurückweisung: „Meine ganze Kindheit lang war ich stolz gewesen, sein Sohn zu sein. Jetzt hielt ich ihn zunehmend für einen Schwachkopf “ (23). Es ist bitter, Zeuge einer unaufhaltsamen Verwandlung zu sein: „Es ist, als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zusehen. Das Leben sickert Tropfen für Tropfen aus ihm heraus. Die Persönlichkeit sickert Tropfen für Tropfen aus der Person heraus“ (12). Der Vater verliert das Gefühl der Geborgenheit in der Welt, das 33
Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil. München 2011.
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Gefühl für Vertrautheit, das Vertrauen in Leben und Welt. „Mich erschreckte jedesmal, wie verwundbar er wirkte, wie verlassen. Er hatte sich verändert, sein bedrückter Gesichtsausdruck sprach nicht mehr von der Verzweiflung darüber, vergesslich zu sein, sondern von der tiefen Heimatlosigkeit eines Menschen, dem die ganze Welt fremd geworden war“ (55). In dieser Verlorenheit wächst das Angewiesensein auf andere. Mit fortschreitender Erkrankung steigt die Abhängigkeit. „Der Vater war jetzt nicht mehr in der Lage, den Alltag ohne Gefahren für sich selbst zu bewältigen. Ohne die Fürsorge anderer wäre er verloren gewesen“ (63). Diese Verlorenheit zeigt sich an allen Ecken und Enden, auch im Elementarsten: Der Vater sitzt vor einem Stück Brot und weiß nicht, was er damit anfangen soll (113). Der Vater resigniert. Das drückt sich in Sätzen aus, wie wir sie auch bei Kafka finden: „‚Leider, ich weiß‘, fügte er hinzu, ‚ich erbringe keine guten Ergebnisse mehr, meine Leistungen sind ziemlich schwach geworden. Es ist schwierig. Ich werde dir wohl nicht viel helfen können‘“ (100). Oder: „Ich bin einer, der nichts zu melden hat. Da ist nichts mehr zu machen“ (114). Die Krankheit ist unumkehrbar, der Verfall schreitet voran. Das Leben hat dem Menschen eine Niederlage zugefügt, eine Wunde, von der er sich nicht mehr erholen wird. Arno Geiger erkennt, „dass es einen Unterschied macht, ob man aufgibt, weil man nicht mehr will, oder weil man weiß, dass man geschlagen ist. Der Vater ging davon aus, dass er geschlagen war“ (8). Diesen Punkt, an dem wir uns geschlagen geben müssen, weil die Spuren des Alters nicht mehr kaschiert werden können, erreichen viele Menschen – ohne Zeitpunkt und Umstände vorhersagen zu können. Nun möchte ich die Frage in der ersten Person Singular stellen: Wenn ich jetzt schon weiß, dass ich dereinst wie Arno Geigers Vater mein Leben beenden werde (Jahre um Jahre einer fortschreitenden Krankheit, die die Geborgenheit entzieht und überall Löcher der Heimatlosigkeit aufreisst!) – wie werde ich jetzt mein Leben leben? Wie würde ich angesichts von Fukushima, Lampedusa und New Moore Island und dieser Wunde des Wissens leben? Die Struktur der Zerbrechlichkeitsfrage hat also drei Merkmale: (i) Sie wird aus der engagierten Perspektive der ersten Person Singular konzipiert und geht der Frage nach dem Lebensentwurf nach: Wie soll mein Leben aussehen? Diese Perspektive hat den Vorteil, dass das Subjekt der Frage nicht ersetzbar ist – und sich nicht das Problem stellt, wie Angelegenheiten allgemeiner Gültigkeit ganz zu eigen gemacht werden können.34 Es soll nicht um eine allgemeine Perspektive auf die gesamte Gesellschaft gehen, sondern um 34
Christine Korsgaard hat diese Herausforderung so ausgedrückt: „We construct ourselves from our choices, from our actions, from the reasons that we legislate. But if all reasons, once we legislate them, are public, then it seems as if none of them are mine. Everybody’s reasons seem to belong equally to everyone, that is, they have normative force for everyone, and so apparently I have just as much reason to carry out your project as my own“ (C. Korsgaard, Self-Constitution. Agency, Identity and Inegrity. Oxford 2009, 207).
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einen je persönlichen Standpunkt auf das je eigene Leben. (ii) Das Szenario stellt nicht die Frage nach den Prinzipien einer wohl geordneten Gesellschaft, sondern die Frage nach einer „wissensgemäßen“ persönlichen Lebensform, also nach einer Lebensform, die dem Wissen um zunehmenden Verfall und wachsende Angewiesenheit in angemessener Weise Rechnung trägt. (iii) Das Szenario ist als hypothetische Frage „vom Ende her“ konzipiert; sie nimmt also einen Standpunkt ein, der das Leben als Ganzes in den Blick nimmt, und zwar aus einer „letzthin ratifizierenden“ Perspektive, in der die einzelnen Herausforderungen Gewicht und Proportion erhalten. Sterblichkeit und ein letzter Lebensabschnitt im Angesicht des Todes konstituieren insofern eine Gleichheit unter den Menschen, als sie in der Conditio Humana verankert sind und von allen Menschen geteilt werden. Selbst wenn sozialer und ökonomischer Status in der Gestaltung des letzten Lebensabschnitts und in der Frage der Gestaltung der „post mortem“-Dimension eine Rolle spielen, sind wir Menschen doch alle insofern gleich, als wir je einzeln die Pforte durchschreiten, die das Leben vom Tod trennt. Dieses Szenario – wir könnten es „Wunde des Wissens“ nennen, durchaus in gewolltem Kontrast zu einem „Schleier des Nichtwissens“ – erinnert an jene Verwundbarkeit und Sterblichkeit, die uns allen eigen ist. Menschen sind verwundbare Wesen; wir können die Lebensrisiken vielleicht reduzieren, aber nicht auf Null herabsetzen, schon gar nicht angesichts des letzten Lebensabschnitts und im Angesicht des Todes. Wenn ich mein Leben von einer „Wunde des Wissens“ aus lebe, werde ich das Leben als Ganzes in den Blick nehmen und nicht nur jene Aspekte als relevant betrachten, die mit Gestaltung und Autonomie zu tun haben, sondern auch jene, die an Geformt werden und Abhängigkeit rühren. Von der Zerbrechlichkeitsfrage aus wird sich der Blick vom Kurzfristigen auf das Langfristige richten und dabei gerade auch die Angelegenheiten des sozialen Gefüges in den Blick nehmen. Leben heißt dann auch, um es in einem Bild zu sagen: am Netz stricken, in das wir vermutlich dereinst fallen, wenn wir nicht mehr balancieren können. Durch diesen Blick auf das Ganze stellt sich ein Reflexionsmodus ein, der uns die großen Fragen („worum soll es auf Dauer und im Ganzen gehen?“) stellen und uns eine fundamentale Gleichheit eingestehen lässt. Die Wunde des Wissens ist eine existentiell relevante und persönlich angeeignete Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit. Der Begriff der Verwundbarkeit kann als Schlüssel zur Verankerung der fundamentalen Gleichheit angesehen werden – um auch mit dem Stachel der Ungleichheit zurecht zu kommen. Verwundbarkeit ist mehr als ein Wissen, „dass etwas passieren“ könnte“. Verwundbarkeit als „capacity to be wounded“35 meint „existentielles
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H.-M. Füssel, Vulnerability: A generally applicable conceptual framework for climate change research. Global Environmental Change 17 (2007) 155–167, hier 155.
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Wissen um Anfälligkeit für Wunden“; anders gesagt: ein tief greifendes Wissen um die Möglichkeit, dass eigene Integrität beschädigt wird. Verwundbarkeit ist Wissen um die Vorläufigkeit unsere Identität.36 Verwundbarkeit ist die Einsicht, dass das, was unsere Identität ausmacht, beschädigt oder zerstört werden kann. Verwundbarkeit ist ein Wissen um das Menschsein, dessen allgemeine Lebensrisiken nicht auf Null reduziert werden können und das „exposure to contingencies and stress“ aufweist.37 Wir können uns gegen diese Risiken zwar zu schützen suchen – und diese Strategien der Risiko minimierung sind ungleich verteilt und Ausdruck sozialer Positionen –, aber eben nicht vollständig und andauernd. Es gibt keine Versicherung gegen das Auftreten von Demenz, gegen das Involviertwerden in Autounfälle, gegen das Eintreten von Naturkatastrophen. Fukushima und New Moore Island zeigen Grenzen der Sicherheiten auf. Was bedeutet es, Verwundbarkeit anzuerkennen? Wenn jemand weiß, dass das menschliche Leben grundsätzlich nicht risikofrei gelebt werden kann, dass unsere Identität grundsätzlich vorläufig ist und wir uns stets in Situationen finden können, in denen unsere Abhängigkeit von anderen Menschen tiefer und direkter sichtbar wird (etwa Pflegebedürftigkeit nach einem Schlaganfall), dann wird man mit einer gewissen Demut und mit einer grundsätzlichen Bereitschaft, Lebensrisiken anderer Menschen mitzutragen, durchs Leben gehen. Wer Arno Geigers zitierte Schilderung seines demenzkranken Vaters gelesen hat und sich vorstellen kann, dereinst auch mit dieser Verwirrung und Angewiesenheit das eigene Leben zu beschließen, der wird sich leichter zum Gedanken motivieren können, dass wir alle verwundbare Wesen sind, die auf einander angewiesen sind. Natürlich sind, wie gesagt, die Verwundbarkeiten ungleich verteilt. William Vollman hat in seinen Studien über Armut „accident proneness“ als ein Charakteristikum von Armut festgestellt.38 Dennoch kann niemand sein Leben jenseits der Verwundbarkeit einrichten. Ironischerweise kann man dies gerade auch am Leben des Friedrich Nietzsche zeigen, der auf seine Weise ein Plädoyer für Unverwundbarkeit gegeben hat. Diese gleichheitsfördernde Einstellung kann weniger durch abstrakte Prinzipien als durch konkrete Erfahrungen in der Lebenswelt eingeübt werden. Anders gesagt: Wenn wir an einer Gesellschaft bauen wollen, die Gleichheit als Wert prominent positioniert, müssen wir Zugang zu Erfahrungen von Verwundbarkeit erschließen. Eine Anerkennung von Verwundbarkeit lässt „mit Blick auf andere“ leben und fundamentale Gleichheit anerkennen. Wir können unser Leben nicht mehr unabhängig
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Dieser Zugang wird klar dargestellt in F. Delor. M. Hubert, Revisiting the concept of „vulnerability“. Social Science and Medicine 50 (2000) 1557–1570. R. Chambers, Rural Development. London 1983, 1. W. Vollmann, Poor People. New York 2007, 135–140.
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von anderen positionieren. Anders gesagt: Verwundbarkeit führt zu einem Denken in der zweiten Person. Die Perspektive der 2. Person nehmen wir ein, wenn wir Ansprüche und Anerkennungen in Bezug auf eine andere Person formulieren, wenn wir unser Verhalten auf das Verhalten einer anderen Person abstimmen, von der wir auch wissen, dass sie ihr Verhalten auf unser Verhalten abstimmt. Wir könnten auch so sagen: Die Perspektive der zweiten Person liegt dort vor, wo sich zwei Subjekte als Quellen von Ansprüchen, als Ursprünge von Normativität anerkannt haben.39 Das ist ein Schlüssel für die grundlegende Anerkennung von Gleichheit, die dann auch die Einzigartigkeit und „spezifische Ungleichheit“ in den Blick nehmen kann. Fundamentale Gleichheit transformiert Ungleichheit in besondere Ungleichheit – und den Sinn für die eigene Einzigartigkeit. Wenn wir Erfahrungen in der zweiten Person machen, eignen wir uns neues Wissen an – und auch eine neue Form der Selbstwahrnehmung. Durch eine neue Tiefe des Wissens um Verwundbarkeit stellt sich neu die Frage, worum es denn eigentlich geht in diesem Leben. Hier mögen jene Kräfte, die die angesprochenen ungerechten Dynamiken zur Erzeugung sozialer Ungleichheit vorantreiben, verstummen. Michael Schophaus, ein erfolgreicher Journalist, dessen Sohn Jakob im vierten Lebensjahr an Krebs verstarb, stellte sich in seinem Buch über Leben und Sterben seines Sohnes die Frage: „Warum mußte er erst an Krebs erkranken, damit ich die Bedeutung von Leben verstand?“40 In einem Satz: Eine Wunde des Wissens ist eine Antwort auf den Stachel der Ungleichheit.
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Stephen Darwall, The Second Person Standpoint: Morality, Respect and Accountability. Harvard UP 2006. Darwall entfaltet die Grundlinien der 2. Person-Perspektive in den ersten beiden Kapiteln dieses Buches. M. Schophaus, Im Himmel warten Bäume auf dich. Die Geschichte eines viel zu kurzen Lebens. Zürich 2000, 9.
NEURALGISCHE PUNKTE
Anne Siegetsleitner
Über Gleichheit im Alter(n) – Philosophische Perspektiven
1. Einleitung
Immer mehr Menschen in Europa ist es vergönnt, ein höheres Lebensalter zu erreichen. Wird über das Alter(n) sowie unsere Vorstellungen und Rede weisen von diesem reflektiert, so ist der Gleichheitsgedanke nicht fern. Macht nicht erst der Tod, sondern bereits das Alter(n) alle Menschen gleich? Was bedeutet es, im Alter(n) gleich an Würde zu sein? „Altern“ bezieht sich dabei nicht nur auf einen biologischen Prozess, sondern meint auch eine gesellschaftlich und kulturell bestimmte Lebensphase, mit der Rollen, Status, Rechte und Pflichten zugewiesen werden (siehe Heinz 2003, 151 f.). Vor allem im 18. und 19. Jahrhundert prägten Lebenstreppen das Verständnis dieses Lebensabschnittes. Das Alter erscheint in diesen als Niedergang, als Abstieg (vgl. Ehmer 2008 und 2009). Ebenso werden Jahreszeitenmetaphern seit mehr als zwei Jahrtausenden zum Verständnis heran gezogen, wie dies bereits im 6. Jhd. v. Chr. der griechische Lyriker Mimnermos eindrucksvoll zum Ausdruck brachte. Das Alter entspricht in diesem Konzept Herbst und Winter. Bei aller möglichen Kritik an der Abtrennung eines solchen Abschnitts im individuellen Lebensverlauf ist diese Abtrennung in den europäischen Gesellschaften Realität. In ihnen wird eine Lebensphase Alter abgegrenzt, wie unscharf die Grenze auch gezogen werden mag und wie sehr nicht nur im europäischen Kontext gegenwärtig um eine Neudefinition des Beginns und um das Verständnis dieser Lebensphase gerungen wird. Der Gleichheitsgedanke kommt aus philosophischer Sicht vor allem unter zweierlei Perspektiven in den Blick. Zum einen beschäftigen sich Existenz philosophie und Anthropologie bei allen Unterschieden mit den für alle Menschen „gleichen“ Bedingungen des Menschseins, der sogenannten conditio humana. Geht es um das Alter(n), befassen sie sich mit der conditio humana im Alter(n). Im Zentrum stehen hierbei bestimmte Grundfragen und Erfahrungen, die im Alter existentiell bedeutsam werden. Diesen Aspek-
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ten werde ich mich im ersten Teil meines Beitrages zuwenden. Im Anschluss daran wird der Fokus auf der ethischen Diskussion einer „gleichen“ Würde im Alter(n) liegen. Verschiedene Auffassungen von Würde und von Gleichheit geben auf zentrale Fragen der Lebensgestaltung unterschiedliche Antworten, nicht zuletzt für die Lebensführung von Frauen und Männern. 2. Gleichheit und die conditio humana im Alter
Wie bereits erläutert, meint die conditio humana Grundbedingungen des Menschseins, der menschlichen Existenz. Bestimmte Grundfragen, Erfahrungen und Urängste werden im Alter existentiell bedeutsam. Hierzu zählen (a) die Erfahrung von Endlichkeit und Vergänglichkeit, (b) die Angst vor Einsamkeit, Krankheit und Tod, (c) die Erfahrung der Entfremdung vom eigenen Körper und (d) die Frage nach dem Lebenssinn. Ich werde die Erfahrung von Endlichkeit und Vergänglichkeit sowie die Erfahrung der Entfremdung vom eigenen Körper herausgreifen. Insbesondere werde ich mich mit den Ausführungen dazu bei Jean Améry und Simone de Beauvoir befassen. Existenzphilosophische Zugänge beschäftigen sich damit, was diese Bedingungen des Menschseins für den einzelnen Menschen bedeuten und wie sich diese beschreiben lassen. Nicht zuletzt geht damit eine Suche nach einer treffenden Sprache einher. Einen in meinen Augen angemessenen Zugang hierzu hat Jean Améry, der österreichisch-belgische Literat und Journalist, gefunden. Améry überlebte die Konzentrationslager in Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen, wurde jedoch danach in der Welt nicht mehr heimisch. 1978 beging er in Salzburg im Österreichischen Hof Selbstmord. In seinem Essay Über das Altern, der 1968 in Buchform erschien1, will Améry die Erfahrung des Alterns aus der Perspektive des alternden Subjekts beschreiben. Ebensolches unternimmt die Philosophin Simone de Beauvoir in ihrem umfangreichen Werk Das Alter aus dem Jahre 1970. Ein wesentlicher Punkt ist für beide die Erfahrung von Endlichkeit und Vergänglichkeit, der alle Alternden ausgesetzt sind. 2.1 Endlichkeit und Vergänglichkeit
Améry verweist darauf, dass je weniger Zeit jemand vor sich zu haben glaubt, umso mehr Zeit in ihm sei. Die Vergangenheit verschlucke zusehends Gegenwart und Zukunft und wer wenig Zukunft hat, habe damit auch nur mehr wenig Welt und Gestaltungsmöglichkeiten vor sich. Dass die erfahrene Zeit 1
Der Essay war zuvor als Radio-Essay im Südwestdeutschen Rundfunk gesendet worden.
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irreversibel sei, werde erst vom alternden Menschen voll realisiert (Améry 1968 [2010, 30 ff.]). Dass die subjektiv empfundene Lebenszeit im Alter schneller zu vergehen scheint als in jungen Jahren, hat auch Beauvoir hervorgehoben: „[…] die Frist verfließt in den verschiedenen Augenblicken unseres Daseins nicht stets in der gleichen Weise: Sie eilt immer mehr, je älter wir werden.“ (Beauvoir 1970 [2007, 486]). Wie Améry analysiert Beauvoir das Alter als eine Lebensphase, in der die Zukunft als Möglichkeitsraum, als Raum dafür, neue Lebensentwürfe zu verwirklichen und eine neue Identität zu entwickeln, schwindet: „Seine [des jungen Menschen] Hoffnungen weisen in eine Zukunft, deren Ende er sich noch nicht vorstellen kann. Der alte Mensch weiß, dass sein Leben gelebt ist und dass er es nicht noch einmal leben kann. Die Zukunft ist nicht mehr von Verheißungen erfüllt, sie schrumpft in dem Maße, wie das endliche Sein, das sie zu leben hat.“ (Beauvoir 1970 [2007, 491]). Lakonisch stellt sie diesbezüglich fest: „Gewöhnlich setzt ein junger Mensch, auch wenn er unzufrieden mit sich selbst ist, seine Hoffnung auf die Zukunft, die sich vor ihm auftut. Für den alten Menschen ist das Spiel aus.“ (Beauvoir 1970 [2007, 535]). Diese Sichtweise wird heutzutage von vielen als zu pessimistisch abgetan. Eine auf Neues und die Zukunft ausgerichtete Lebensperspektive wird selbst für ältere Menschen propagiert. In diesem Sinne jung zu bleiben ist angesagt. Für einen bestimmten Teil der Lebensphase, die wir heute als „Alter“ bezeichnen, mag dies eine motivierende Einstellung sein, für das gesamte Alter wohl nicht. Der deutsche Philosoph Hermann Lübbe hält auch 2010 noch daran fest, dass für jemanden im sogenannten „alten“ Alter – Lübbe schrieb dies im Alter von 84 Jahren – „fast alles schon getan [sei]“ (Lübbe 2010, 35). Die Ermunterung, in den Worten Lübbes, „noch einmal mit einem ganz anderen Leben den Anfang zu machen“, „wirkt im alten Alter belästigend“ (Lübbe 2010, 36). Das heißt nicht, dass damit die Freuden ein Ende nähmen, sondern lediglich, dass sich die Freude verändere: „Die Lebensfreude des Alters ist […] die Freude erfüllter Zeit. Sie wird im Lebensrückblick vergegenwärtigt, der evident macht, dass nichts für das eigene Leben und für die eigenen Lebensbeziehungen wirklich Wichtiges und Dringliches noch zu tun bleibt.“ (Lübbe 2010, 37). Die Formulierung „die [Hervorhebung A. S.] Lebensfreude des Alters“ mag zu absolut gesetzt sein, lenkt jedoch den Blick damit auf eine Freude, die vor allem alten Menschen möglich ist. Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit und Vergänglichkeit ist geprägt vom Gewahrwerden, dass die eigene Lebenszeit beschränkt ist. Sich auf die Zukunft hin zu entwerfen hat auch heute im Alter von 60 Jahren eine andere Perspektive als mit 85. Wobei die Einschränkung der zukünftigen Möglichkeiten aus zweierlei Richtungen kommt: Zum einen handelt es sich um eine zeitliche Beschränkung, die die Frage betrifft: Wie viel Zeit bleibt noch? Zum anderen geht es um eine soziale Beschränkung, in der es um die Frage geht: Was wird mir von der Gesellschaft noch zugestanden? In einer Analyse des
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Angeblickt-Werdens („Der Blick“ in: Das Sein und das Nichts) zeigt Jean Paul Sartre, wie Menschen dem Urteil anderer Menschen unterworfen sind: Die Anderen legen eine/einen in einer bestimmten Rolle fest. Darauf zurückgreifend meint Améry: Dem Blick und dem Urteil der Anderen entgingen wir nicht (Améry 1968 [2010, 69]). Es sei der Blick der Anderen, der das soziale Alter zumesse (Améry 1968 [2010, 79]). Der Selbstdefinition und einem „Man ist so alt, wie man sich fühlt“ sind damit enge Grenzen gesetzt. Bei jedem/jeder komme, so Améry weiter, der Zeitpunkt, an dem „die Welt […] nicht mehr den Kredit seiner [ihrer; A. S.] Zukunft [bewilligt]“ (Améry 1968 [2010, 79]). Der alternde Mensch werde nur mehr als der gesehen, der er ist (Améry 1968 [2010, 79]). Er werde ein Geschöpf ohne Potentialität, die Anderen hätten bereits Bilanz gezogen. Selbst die Ehrung der Alten sei bloße Konvention und so düster wie ein Nekrolog (Améry 1968 [2010, 95, 101]). Der Endlichkeit und Vergänglichkeit zu unterliegen, ihrer Erfahrung und den Beschränkungen ausgesetzt zu sein, gilt für alle Menschen gleichermaßen. Gleichheit meint hier jedoch zunächst „lediglich“ Allgemeinheit. Die Behauptung kann ohne Bedeutungsverlust übersetzt werden in „Alle Menschen unterliegen der Endlichkeit und Vergänglichkeit“. Die Gleichheitsterminologie ist hier ebenso redundant, wie man anstelle von „Alle Menschen sollen gleichermaßen genug zu essen haben“ einfach sagen kann: „Alle Menschen sollen genug zu essen haben.“ (Vgl. Krebs 2001, 565 und Siegetsleitner 2004, 381). Dass sich das Ausmaß und die Art der Bedingung – geschweige denn deren Auswirkungen im individuellen Leben – gleichen, wird dadurch nicht gesagt. Insbesondere sei davor gewarnt, kulturelle Besonderheiten dieser Bedingungen ins Allgemein-Menschliche und damit Unabwendbare zu überhöhen. 2.2 Entfremdung vom eigenen Körper
Eine weitere grundlegende Erfahrung sieht Améry in Entfremdungserfahrungen, nicht zuletzt in einer Entfremdung vom eigenen Körper. Er zitiert hierzu eine Stelle aus Beauvoirs Werk Der Lauf der Dinge, das sie als rund 55-Jährige verfasste: „Oft bleibe ich konsterniert haften an dem unglaublichen Zeug, das mir als Antlitz dient. Ich hasse mein Spiegelbild: über die Augen die Mützen, unter ihnen die Taschen, das allzu volle Gesicht, und diese Traurigkeit um den Mund, die von den Falten kommt. Ich sehe meinen Kopf von früher, der jetzt von Blattern befallen ist, die nicht abfallen werden.“ (Beauvoir 1963; zit. n. Améry 1968 [2010, 47]). Améry berichtet von einem Schaudern darüber, wie das Spiegelbild ein feindliches Bild werde, das die Frage herauf beschwört: Bin das noch ich? Er beschreibt den Widerwillen gegen die eigene Haut, das eigene Erscheinungsbild: Was ist aus mir geworden? Die Welt werde körperlich zum Widersacher. Selbst wenn es lange gut gehe, so komme der Tag des Rückzugs für jede und jeden. Améry diagnostiziert im Alterungs-
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prozess eine Ich-Dissonanz: Das geistige Ich rebelliert gegen das Ich, zu dem der Körper es zu machen sich anschickt. Der/die Alternde empfindet den Körper als etwas Äußeres, etwas Fremdes. In diesem Sinne äußerte sich auch die Psychologin Margarete Mitscherlich: „Wenn man wie ich 93 Jahre alt ist, ist die Realität des Alters äußerst mühsam. […] Jeden Morgen wundere ich mich erneut über die mir so ungewohnte Art, wie meine Beine sich verhalten.“ (Mitscherlich-Nielsen 2010, 238). Mitscherlich ist im Juni 2012 verstorben. Das Verhältnis zum eigenen Körper im Alter ist, so wiederum Améry, zwiespältig (Améry 1968 [2010, 52]). Einerseits wird der Körper zum Gefängnis. Andererseits entwickelt er sich letztlich zum Obdach. Da wir nicht aus der eigenen Haut fahren können, zwingt eine(n) der Körper, endlich zum Leibe zu werden (Améry 1968 [2010, 59]), d. h. zu einer psycho-physischen Einheit. Aus der Selbstentfremdung werde somit Selbstfindung. Deshalb nennt Améry als Grunderlebnis mutig Alternder: die Verklammerung von Selbstentfremdung und Selbstfindung (Améry 1968 [2010, 52]). Menschen in Europa haben heute mit diesen Bedingungen, denen sie alle unterliegen, wenn auch nicht in gleicher Weise, umzugehen. Wie sich der individuelle Umgang mit diesen Erfahrungen von Endlichkeit und Vergänglichkeit sowie der Entfremdung vom eigenen Körper gestaltet, hängt hingegen von vielerlei kulturellen, gesellschaftlichen und individuellen Faktoren ab. Wer beispielsweise an ein Leben nach dem Tod, in welcher Weise auch immer, glaubt, wird anders darauf reagieren als jemand, dem diese Zuversicht fremd ist. Selbst im Alter werden nicht alle Menschen religiös. So versagte sich Améry alle Tröstungen, selbst die irdischen, auf die viele bauen, wie jene, Bleibendes im Raum zu hinterlassen, seien es Kinder, Bücher, Gemälde oder Grabsteine (Améry 1968 [2010, 34 f.]). Dies hält Améry – und damit leite ich zum zweiten Abschnitt meines Beitrages über – nicht davon ab, die Frage nach einem Alter(n) in Würde zu stellen. Für ihn liegt Altern in Würde darin, die soziale und biologische Vernichtung anzunehmen, und zwar revoltierend, aber in dem Wissen, die Revolte sei zum Scheitern verurteilt (Améry 1968 [2010, 105]). Die Philosophin Eva Birkenstock versteht Amérys Auffassung eines würdevollen Alterns deshalb als einen „ehrenvollen Kampf auf verlorenem Posten“ (Birkenstock 2008, 128). 3. Im Alter(n) gleich an Würde 3.1 Hinführung
Geht es um das Alter(n) bzw. die Frage, wie dieses zu gestalten sei, wird nicht nur bei Améry der Begriff der Würde ins Spiel gebracht. So werden bestimmte Arten des Umgangs mit alten Menschen in der Pflege als menschenunwürdig beurteilt. Aber auch der Umgang mit dem eigenen Alter wird an diesem
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Maßstab gemessen. So meinen manche, das Nicht-Anerkennen der eigenen Endlichkeit in manchen Formen der Anti-Aging-Medizin sei würdelos, wie ich weiter unten erläutern werde. In der Auseinandersetzung um Gleichheit in Bezug auf Alter(n) ist in Europa die Rede von gleicher Würde zentral geworden, weshalb ich mich auf diesen Aspekt konzentriere. Im Hintergrund derartiger Urteile stehen bestimmte Auffassungen von Würde und davon, was es heißt, ein Mensch zu sein, und inwiefern Menschen deshalb auf einen bestimmten Umgang mit dem Alter(n) verpflichtet seien. Selten explizit gemacht werden hierbei geschlechtsspezifische Annahmen und Konsequenzen, wodurch die Gleichheitsfrage in diesem Kontext zweifach an Bedeutung gewinnt. 3.2 Alter(n) beurteilen
Der Gerontologe und Theologe Heinz Rüegger weist darauf hin, dass wir nicht nur im Vergleich zu früheren Generationen mehr Möglichkeiten haben, die Lebensphase Alter nach eigenen Vorstellungen und Wünschen zu gestalten, sondern dass wir gerade deshalb das Altern bzw. die Gestaltung dieser Phase zunehmend einer Beurteilung unterziehen. Wir sprechen von gesundem und krankhaftem Alter(n), von erfolgreichem und weniger erfolgreichem. Nicht zuletzt machen wir uns Gedanken über ein würdevolles oder würdeloses bzw. würdiges oder unwürdiges Alter(n). In der Regel ist damit eine Forderung oder eine Empfehlung ausgesprochen, den Alterungsprozess und das Alter gemäß einem bestimmten Bewertungsmaßstab zu gestalten (vgl. Rüegger 2011, 254). Wenn ich mich nun im Folgenden der Frage nach einem würdigen Alter(n) widme, so geht es um einen moralisch-ethischen Beurteilungsmaßstab, der in der Auseinandersetzung mit der Gestaltung dieser Lebensphase eine herausragende Rolle spielt. „Würde“ meint in Urteilen über würdevolles oder würdeloses Alter meist „Menschenwürde“. Dass in einem Diskurs der Ausdruck „Würde“ auftaucht, heißt jedoch nicht, dass damit immer dasselbe gemeint ist, weder geschichtlich gesehen noch in den aktuellen Gesprächen. Wir kommen deshalb nicht umhin, uns mit verschiedenen Auffassungen von „Würde“ und „Menschenwürde“ zu beschäftigen. Die zentralen Auffassungen hierbei sind: (1) Menschenwürde als ein Ensemble von gleichen moralischen Grundrechten, (2) Menschenwürde als Gattungswürde und (3) Würde als sozial differenzierte Würde.
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3.3 Menschenwürde als ein Ensemble von gleichen moralischen Grundrechten
Ich werde zunächst eine Rede von Menschenwürde untersuchen, die Menschenwürde als ein Ensemble von gleichen moralischen Grundrechten versteht, obwohl ich in diesem Rahmen vieles nur wenig ausführen kann. Wenn von einem würdigen oder würdevollen Alter(n) gesprochen wird, wird häufig ein menschenwürdiges Alter(n) gemeint. Die Gestaltung dieser Lebensphase wird an einem Standard „Menschenwürde“ gemessen, daran, was Menschenwürde verlangt. In Europa ist der Begriff der Menschenwürde im moralischen, ethischen und rechtlichen Diskurs zentral. Der Ausdruck „Menschenwürde“ hat sowohl in staatliche Verfassungen Eingang gefunden – wie beispielsweise in den Art. 1, Abs. 1, des Deutschen Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“) – als auch in Grundrechtskataloge. In der EU-GrundrechteCharta lautet Kapitel 1, Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Speziell für alte Menschen wird in Artikel 25 formuliert: „Die Union anerkennt und achtet das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben.“ Die Bedeutung des Ausdrucks „Würde“ bzw. „Menschenwürde“ ist sehr offen, obwohl man meinen könnte, seine Bedeutung sei eindeutig festgelegt. Für manche ist die Bedeutung des Ausdrucks „Menschenwürde“ so offen, dass sie ihn am liebsten gar nicht verwenden möchten und ihn nur als eine „Leerformel“ betrachten. Jedenfalls scheint es bei der Menschenwürde leichter, sich darüber zu einigen, dass das Gemeinte von zentraler und existentieller Wichtigkeit sei, als darüber, was damit eigentlich gemeint sei. Der Ausdruck fungiert häufig, wie beispielsweise der deutsche Philosoph Dieter Birnbacher betont, als „conversation stopper“, „der eine Frage ein für allemal entscheidet und keine weitere Diskussion duldet“ (Birnbacher 2001, 244). Werden Zustände in Altersheimen wie das Fixieren als menschenunwürdig bezeichnet, so ist es schwer, diese noch zu verteidigen. Es heißt dann lediglich: Ende der Debatte. Dass der Begriff häufig in dieser Funktion verwendet wird, heißt dennoch nicht, dass wir ihn nicht gebrauchen dürfen. Sich in einer Argumentation auf Würde oder Menschenwürde zu berufen, ist legitim. Man sollte sich jedoch der Schwierigkeiten bewusst sein. Auf alle Fälle ist es hilfreich, Bedeutungsunterschiede herauszuarbeiten, um Missverständnisse zu vermeiden und letztlich über die Sache und inhaltliche Positionen diskutieren zu können. Es soll gerade kein Streit um Worte sein. Wer mit Worten streiten will, sollte sich aber möglichst klar darüber sein, was sie/er mit diesen Worten meint. „Menschenwürde“ wird, wenn als ein Ensemble von gleichen Grundrechten gesehen, so verstanden, dass ihr(e) Träger(in) eine Reihe von moralischen Rechten besitzt, die anderen bestimmte negative Unterlassungspflichten und
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positive Handlungspflichten auferlegen. Zum Kernbereich werden gemeinhin und auch von vielen Philosoph(inn)en folgende drei Rechte gezählt: (1) das zentrale Recht, als Subjekt eines eigenen Lebens in seiner Einzig artigkeit anerkannt zu werden, (2) das Recht auf körperliche Unversehrtheit und ein Minimum an leiblicher Lebensqualität (z. B. genügend Nahrung, sauberes Trinkwasser, medizinische Grundversorgung) und (3) das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung. Gleiche Würde: Menschenwürde im Sinne eines Ensembles von gleichen moralischen Grundrechten soll bestimmte Grundgüter sichern, ohne die ein Leben nicht als menschenwürdig erachtet wird. Werden diese Grundgüter für jemanden nicht gesichert, so wird ihre/seine Würde verletzt, ohne dass damit die Würde verloren geht. Es handelt sich bei diesem Menschenwürdeverständnis wiederum zunächst um Gleichheit im Sinne einer Allgemeinheit, einer Inklusion: Menschwürde kommt allen Menschen zu, jeglichen Alters, jeglichen Geschlechts. Es geht um Rechte, Freiheiten und Ansprüche, die Menschen allein aufgrund ihres Menschseins zugestanden werden, unabhängig von weiteren biologischen oder sozialen Spezifikationen. Sie alle sollen so behandelt werden, wie der Menschenwürde-Standard es vorschreibt. Damit ist nicht notwendigerweise gefordert, dass der Standard für alle eine substanziell gleiche Zuweisung vorsieht. Als relevant erachtete Unterschiede könnten auch eine unterschiedliche Zuteilung rechtfertigen. Deshalb ist es bei der Rede von gleicher Würde entscheidend, welche Unterschiede zwischen Menschen als relevant akzeptiert werden. Recht auf Anerkennung als Subjekt: Das zentrale Recht der Menschenwürde als Ensemble von moralischen Grundrechten ist das Recht aller Menschen, als Subjekt eines eigenen Lebens in seiner Einzigartigkeit anerkannt zu werden. Das meint v. a. (1) nicht nur als Nummer, als Fall zu gelten und (2) ein Instrumentalisierungsverbot, für dessen Interpretation meist Immanuel Kants zweite Formel des Kategorischen Imperativs aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten herangezogen wird: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Kant 1785 [1965, 52]).2
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„Würde“ definiert Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten folgendermaßen: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“ (Kant 1785 [1965, 58]). Wer hat nach Kant eine solche Würde? „Also ist die Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat“ (Kant 1985 [1965, 59]). Die Würde des Menschen ist bei Kant durch seine Fähigkeit, moralisch zu urteilen und zu handeln (Kant nennt diese „Autonomie“), begründet.
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Recht auf körperliche Unversehrtheit und ein Minimum an leiblicher Lebens qualität: Zudem wird für alle Menschen ein Recht auf körperliche Unversehrtheit und ein Minimum an leiblicher Lebensqualität gefordert.3 Hier geht es beispielsweise um Gewaltfreiheit, genügend Nahrung, sauberes Trinkwasser oder medizinische Grundversorgung. So ist (sexuelle) Gewalt im Alter durchaus ein Problem, nicht zuletzt im Pflegekontext. Gewalt und Vergewaltigung sind in diesem Menschenwürdeverständnis eine Würdeverletzung. Eben solches gilt für den Fall, dass Pflegebedürftige so miserabel gepflegt werden, dass ihre Lebensqualität unter ein annehmbares Minimum sinkt. Das Geschlecht spielt beispielsweise in Österreich und Deutschland hier insofern eine Rolle, als es sich bei rund 2/3 der Pflegebedürftigen um Frauen handelt. Zudem hat die sexuelle Orientierung Konsequenzen. Im Zusammenhang mit häuslicher Pflege wird davon berichtet, lesbische und schwule Menschen hätten Angst, Pflege in Anspruch zu nehmen, weil sie Diskriminierung und schlechte Behandlung befürchten (Calasanti 2009, 478). Als dritter Problem bereich sei hier die Armut genannt. Es ist nach dieser Auffassung von Menschenwürde eines Menschen unwürdig, angesichts von ausreichenden Ressourcen in Altersarmut leben zu müssen. Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung: Im Sinne eines gleichen Rechts auf Freiheit und Selbstbestimmung sind auch alte Menschen als Wesen zu betrachten, die eigene Pläne und Auffassungen von einem guten Leben haben, von dem, was das Leben für sie lebenswert macht und was nicht. Besonders relevant ist dieses Recht u. a. bei Fragen der Sachwalterschaft, bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in der Pflege und bei fortgeschrittener Demenz. Selbst Menschen mit fortgeschrittener Demenz haben in diesem Verständnis von Menschenwürde einen Anspruch auf Freiheit und Selbstbestimmung, soweit es ihre Sicherheit zulässt. Im österreichischen Heim aufenthaltsgesetz heißt es allgemein: „Die persönliche Freiheit von Menschen, die aufgrund des Alters, einer Behinderung oder einer Krankheit der Pflege oder Betreuung bedürfen, ist besonders zu schützen. Ihre Menschenwürde ist unter allen Umständen zu achten und zu wahren (…).“ (Bundesgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit während des Aufenthalts in Heimen und anderen Pflege- und Betreuungseinrichtungen, BGBl I 2004/11, § 1 [1]).
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Ich sehe diesen Anspruch als einen, der vom Anspruch auf Freiheit und Selbstbestimmung unabhängig ist, d. h. der Anspruch auf minimale leibliche Lebensqualität hängt in seiner Berechtigung nicht davon ab, ob er zu einem Mindestmaß an Freiheit und Selbstbestimmung führt. Der Erhalt der eigenen leiblichen Existenz durch Ernährung, Unterkunft, Kleidung und medizinische Versorgung wird nicht nur unter dem Blick winkel von Freiheit und Selbstbestimmung betrachtet.
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Anfang 80: Nicht immer geht es in diesem Zusammenhang um extreme Erfahrungen, sondern häufig um Alltäglichkeiten, wie der Kinofilm Anfang 80 von Sabine Hilber aus dem Jahre 2011 zeigt. Der Inhalt im Überblick: Bruno (Karl Merkatz), ein Mann Anfang 80, verliebt sich in Rosa (Christine Ostermayer), eine Frau Anfang 80. Rosa hat aufgrund einer Krebserkrankung nur mehr ein paar Monate zu leben. Bruno sucht mit Rosa eine gemeinsame Wohnung und pflegt sie bis zum (selbst gewählten) Lebensende. Als Beispiel der allgemein sehr positiven Kritiken sei jene aus den Salzburger Nachrichten angeführt, in der es heißt: „Ein überzeugendes Plädoyer für Freiheit und Selbstbestimmung.“ (Miedl 2011). Tatsächlich thematisiert der Film mehrere Diskriminierungsaspekte hinsichtlich eines würdevollen Alter(n)s sehr gut: (1) Der Sohn will seinen Vater „entmündigen“ lassen, (2) das Recht auf eine eigene Wohnung mit Privatsphäre, (3) das Recht, nicht dem Reglement in einem Altersheim zu unterliegen, und nicht zuletzt (4) die Freiheit, auch mit Anfang 80 noch eine Liebesbeziehung einzugehen, die wesentlich Sexualität beinhaltet. In der offiziellen Filmbeschreibung heißt es, dies hervorhebend: „Die Geschichte eines Neubeginns, einer Liebe gegen alle Widerstände.“ Geht es um gleiche Freiheit und Selbstbestimmung im Sinne einer Inklusion, darf jedoch nicht ignoriert werden, dass Auffassungen von einem guten Leben in vielen Gesellschaften geschlechtsspezifisch sind. Es fließen demnach hier sehr rasch geschlechtsspezifische Maßstäbe ein. Wo dies der Fall ist, handelt es sich nur um eine oberflächliche, vermeintlich gleiche Freiheit. Nehmen wir den Umgang mit Sexualität als kritischen Punkt. Zwar scheint es hier zur Emanzipation älterer Frauen zu kommen, wofür als Beleg in den Medien Werke wie Elfriede Vavriks Nacktbadestrand herangezogen werden. Doch sollten wir uns kritisch fragen, ob in einem Kontext, in dem die Norm für Frauen lautet „Stehe zur Verfügung, sei willig“, auch im Alter willig zu sein, einen Ausdruck von Freiheit bedeutet. Bei allen diesen Rechten ist jeweils gesondert zu betrachten, wie viel substanzielle Gleichverteilung von Gütern für die Gewährung dieser Rechte für alle notwendig ist. Für die Sicherstellung einer medizinischen Grundversorgung mögen im Alter mehr Aufwendungen vonnöten sein als in jüngeren Jahren. Gleiche Würde kann ungleiche Ausgaben erfordern. 3.4 Menschenwürde als Gattungswürde
Im liberalen Verständnis von gleicher Menschenwürde als einem Ensemble von gleichen Grundrechten werden die Mitmenschen zu einem bestimmten Umgang mit alten Menschen verpflichtet. Menschenwürde gilt jedoch vielen als etwas, das Menschenwürde-Träger(innen) selbst verpflichtet. Für diese ist mit diesem Status ein Standard verbunden, dem man/frau selbst gerecht wer-
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den muss. In ihrem Verständnis geht mit Menschenwürde eine verpflichtende oder zumindest als Ideal betrachtete Vorstellung vom Menschsein bzw. der menschlichen Gattung einher. In dieser Menschenwürde als Gattungswürde geht es um die Sonderstellung der Menschen innerhalb der Schöpfung aufgrund ihrer Gottesebenbildlichkeit. Diese weist sich nach diesem Verständnis durch die Vernunft des Menschen aus (z. B. nach Augustinus und Thomas von Aquin). Menschen sind dieser Auffassung gemäß der Natur, die Gott ihnen gegeben hat, verpflichtet. Sie dürfen nicht selbst darüber verfügen. Es sind hier mit Menschenwürde Vorstellungen verknüpft, dass das Altern und die Vergänglichkeit zur (gottgewollten) Natur des Menschen gehören. Der Mensch sei nun einmal ein vergängliches Wesen. Das anzuerkennen fordere seine Würde. So wird auf diesem Hintergrund eine extreme AntiAging-Medizin, der es darum geht, das Altern ganz aus der Welt zu schaffen, abgelehnt. Das Argument gegen eine radikale Anti-Aging-Medizin auf dem Hintergrund der Menschenwürde als Gattungswürde lautet im Kern: 1. Wer die (gottgewollte) Natur des Menschen nicht anerkennt, handelt würdelos. 2. Das Altern und die Endlichkeit des menschlichen Lebens sind Teil der (gottgewollten) menschlichen Natur. 3. Wer radikale Anti-Aging-Medizin anwendet, erkennt die (gottgewollte) Natur des Menschen nicht an. 4. Daher: Wer radikale Anti-Aging-Medizin anwendet, handelt würdelos. Unter der Zugrundelegung eines anderen Weltbildes wird dieses Argumentationsschema aber ebenso von Verfechter(inne)n einer radikalen Anti-AgingMedizin verwendet. So meint Aubrey de Grey: „Aging really is barbaric. It shouldn’t be allowed“ (zit. n. Rüegger 2011, 250). Rüegger übersetzt Aubrey problematisierend ins Würdevokabular: „Alt werden ist eines Menschen unwürdig, ist zu bekämpfen wie die Pest und wenn irgendwie möglich zu überwinden. Ist Anti-Aging, ist der Kampf gegen das Altern etwa der tapfere Ritter, der sich mutig ins Schlachtgetümmel wirft zur Verteidigung der menschlichen Würde, weil es der menschlichen Würde widerspricht, spürbar und sichtbar zu altern mit allen Konsequenzen, die das nach sich ziehen kann?“ (Rüegger 2011, 250). Hier werden jedenfalls auch die Würdeträger(innen) von einem bestimmten Menschenbild gebunden. Der Menschheit als (anthropologische) Gattung kommt Würde zu, dem einzelnen Menschen nur sekundär und nie gegen diese. Vom Individuum wird verlangt, so zu handeln, wie es diese Würde von ihm fordert, beispielsweise um dem Bild einer Menschheit willen zu leiden, die so stark ist, Leiden zu ertragen und ihm im Äußersten noch Sinn abzugewinnen. Beiträge in der Altersforschung, die offen oder verdeckt auf einem christlichen Menschenbild aufbauen, sprechen häufig davon, das Altern sei eben ein Entwicklungsprozess, dem man/frau sich nicht entziehen dürfe
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(Rüegger 2011, 263).4 So meint die katholische Ethikerin Regina Ammicht Quinn, das Älterwerden solle als Teil der Würde des Menschen betrachtet werden (Ammicht-Quinn 2005, 87). Wer den Begriff „Menschenwürde“ in dieser Bedeutung verwendet, muss sich bewusst sein, dass sie/er damit nicht mehr die freie Selbstbestimmung des menschlichen Individuums fordert, sondern diese in bestimmten Hinsichten beschränkt. Gleiche Würde bedeutet somit gleiche Verbindlichkeit für alle. Eine wichtige Entwicklung und gleichzeitige Abwendung geschah hinsichtlich dieses Verständnisses von Menschenwürde in der Renaissance. Vor allem Pico della Mirandola hat dies in der zweiten Hälfe des 15. Jahrhunderts in seiner berühmten Rede über die Würde des Menschen (Oratio de hominis dignitate) ausgedrückt. Das Vorwort, das vor allem eine Befürwortung philosophischer und theologischer Studien bietet, wird mit einer Lobpreisung des Menschen eingeleitet. Nichts sei bewundernswürdiger als der Mensch. Der Mensch nehme in der Schöpfung eine besondere Stellung ein. Gott schuf, so Pico, den Menschen zuletzt und wünscht, dass er etwas Besonderes sei. Er gibt jedoch den Menschen keine spezifische Natur wie den übrigen Geschöpfen. Pico della Mirandola vertritt im Unterschied zu essentialistischen (wesensmäßigen) Interpretationen des Menschseins die Ansicht, das Eigent liche des Menschen sei seine Eigenschaftslosigkeit, die Natur des Menschen sei unbestimmt, seine Lebensentfaltung nicht präzise festgelegt. Pico lässt in einem Schöpfungsmythos den Schöpfer zu Adam sagen: „Du sollst dir deine [Natur] ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen.“ (Pico della Mirandola 1496 [1990, 5 f.]). Bei Pico hängen Würde und Selbstbestimmung des Menschen aufs engste zusammen: Die Einzigartigkeit der Menschen – die Grundlage ihrer Würde – besteht gerade darin, die Freiheit zu haben, ihr Leben und ihre „Natur“ nach ihren eigenen Entwürfen zu formen. Von Eva ist im Text übrigens nicht die Rede. Eine andere Begriffstradition liegt in der Würde als sozial differenzierte Würde, womit ich zum letzten Teil meines Beitrages komme. 3.5 Würde als sozial differenzierte Würde
Im Verständnis der Würde als sozial differenzierte Würde ist diese immer mit einer gesellschaftlichen Position bzw. einer sozialen Rolle verbunden. Auch Cicero (106–43 v. Chr.), ein römischer Redner, Politiker und Philosoph, auf den in der Menschenwürdetradition verwiesen wird, redet in seinem Werk 4
Um die Würde der biologischen Gattung, bei der die Identität und Eindeutigkeit der Gattung gesichert werden soll und somit Mischwesen Mensch-Tier oder Mensch-Maschine abgelehnt werden, geht es in der Debatte um ein würdiges Alter(n) nur am Rande.
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De officiis von der „dignitas“ des Menschen zunächst als einer gesellschaftlichen Stellung. Wir haben diese Verwendungsweise noch heute, wenn wir sagen, jemand sei eine Würdenträgerin, sei in Amt und Würden usw. Der Maßstab ist hier ganz offensichtlich nicht für alle gleich: Es geht um die je spezifische Würde eines bestimmten Amtes, die Würde „der Frau“, die Würde „des Mannes“ etc. Wie bei der Gattungswürde muss dem Maßstab im eigenen Verhalten entsprochen werden, ansonsten ist dieses „würdelos“, „unwürdig“. Insofern die soziale Stellung erlangt werden oder verloren gehen kann, wird auch die Würde erlangt bzw. verloren. (Einen guten Überblick über die Ideengeschichte bietet Wils 2003, 539.) Der Beginn der Lebensphase „Alter“ kann auf dem Hintergrund von Rollenzuweisungen geschlechtsspezifisch festgelegt werden. Wann sind die zentralen, „eigentlichen“ Lebensaufgaben erfüllt? Wird die zentrale Aufgabe eines Mannes in seiner Ernährerfunktion gesehen, so erfährt diese mit dem Ende seines Berufslebens einen herben Einschnitt. Die Bestimmung des Alters als nachberufliche Lebenszeit (Ruhestand) orientiert sich an dieser Norm des Mannes als Ernährer und einer männlichen Berufsbiographie. Dass das Alter bei Frauen in diesem Verständnishorizont früher ansetzt, erklärt sich daraus, dass ihre „eigentliche“ Lebensaufgabe mit Menopause bzw. dem Auszug der Kinder aus dem gemeinsamen Haushalt als erfüllt gilt. Was Männern und Frauen in dieser traditionellen Sichtweise für die Lebensphase danach zugestanden wird, sind (minderwertige) Ersatzfelder dieser Aufgaben: Ehrenamt, Hobbys, Großelterndasein. Auch wenn in diesem Verständnis allen alten Menschen Würde zukommen mag, solange sie dieser nicht verlustig gehen, so erfordert dieser Status sowohl von Würdeträger(inne)n als auch von den Mitmenschen ein rollendifferenzierendes Verhalten. Von Menschen in der Rolle der/des Alten wird zunächst allgemein erwartet, Besitz und Macht loszulassen, sich aufs „Altenteil“ zurückziehen sowie sich in Gelassenheit und Sanftmut zu üben (zunehmend tritt die Forderung nach ehrenamtlichem Engagement hinzu), doch wird vor allem von alten Frauen erwartet, in Fortführung ihrer früheren Rolle sich weiterhin um Eltern, Kinder und Enkelkinder zu kümmern. Welchen Urteilen eine Frau, die diesen Erwartungen nicht nachkommt, ausgesetzt ist, schildert Bertolt Brecht in seiner Erzählung Die unwürdige Greisin. Die Erzählung entstand 1939 und wurde 1949 in Brechts Kalendergeschichten aufgenommen. Auf diesem Hintergrund zeigt sich der Film Anfang 80 in einem anderen Licht: Anfang 80 – die Zweite. Was ist eines alten Mannes/einer alten Frau würdig? Unter einer kritischen geschlechterbewussten Perspektive wird deutlich, dass der Film zwar mit Rollenerwartungen ans Alter bricht, jedoch um den Preis, damit Rollenerwartungen aus früheren Lebensphasen zu prolongieren. Im Zentrum des Geschehens stehen Brunos Wünsche: sich wie ein jüngerer Mann verlieben und seine Frau verlassen zu dürfen. Darüber
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hinaus wird für Brunos Unfähigkeit beim Kochen und Putzen beachtliches Verständnis gezeigt. Seine Freundin Rosa entgeht insofern manchen Rollenerwartungen, als sie ohne familiäre Verpflichtungen und reich genug ist, die neue Wohnung zu finanzieren. Nicht zuletzt werden ihre Wünsche in der Ausnahmesituation des sich ankündigenden nahen Todes akzeptiert. In ihren geschlechtsspezifischen Verpflichtungen bleibt hingegen Herta, Brunos Ehefrau, gefangen, zumindest zunächst. Sie sorgt sich um den Haushalt, während Bruno außer Haus (bei Rosa) ist, und hat die Trennung ohne großes Lamentieren hinzunehmen. Wovon sie nach der Trennung leben wird, wird im Film nicht Thema. Dürfte und würde sie darüber hinaus ebenso selbstverständlich ihren Mann verlassen?5 In keiner der zahlreichen Besprechungen, die mir zugänglich waren, wurden diese Fragen angesprochen. Alle konzentrierten sich auf das neue Liebespaar. Insofern sich Herta nun nicht mehr um Bruno kümmern muss, könnte es jedoch selbst für sie ein wenig mehr Freiheit geben, wenn stimmt, was Simone de Beauvoir in Das Alter bemerkte: „Besonders für die Frauen ist das hohe Alter eine Befreiung: […] Nun können sie sich endlich um sich selbst kümmern.“ (Beauvoir 1970 [2007, 639]). 4. Schlussbemerkungen
Wie sich das Leben im Alter für die zunehmend ältere Bevölkerung in Europa gestalten wird, hängt nicht unerheblich davon ab, wie der Wert der Gleichheit die politischen und kulturellen Rahmensetzungen bestimmt. Besonders gilt dies für die Sicherstellung von gleicher Würde im Alter(n). Dabei ist es unerlässlich, genau hinzusehen, welches Gleichheits-, Würde- oder Geschlechterverständnis vorausgesetzt wird, damit formale Gleichheit nicht in substanzieller Benachteiligung endet.
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In Wolke 9, einem Film von Andreas Dresen, plagen die Protagonistin Inge, die sich in einen anderen Mann verliebt, viele Skrupel, bevor sie ihren Ehemann Werner verlässt. Überdies wird ihre neue Beziehung mit dem Wissen belastet, dass Werner die Trennung nicht verkraftet und Suizid begangen hat.
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Diskussionsansätze zum Thema Behinderung: Einige Überlegungen in europäischem Kontext
1. Hintergrund Information
In ihren Anmerkungen im Vorwort zu einem Buch über Menschenrechte und Personen mit geistigen Behinderungen1 stellt Mary Robinson in ihrer Position als UNO Hauptkommissarin für Menschenrechte fest, dass die Europäische Union das Jahr 2003 zum europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen erklärt hat. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf einige Prioritäten im Bezug auf die Gleichstellung von Behinderten. Sie weist darauf hin, dass es nicht genug ist, Gesetze zu erlassen, die eine Gleichberechtigung für Menschen mit Behinderungen vorsehen. Eine weitaus größere Herausforderung als dieser bedeutende Schritt ist sicherzustellen, dass Behinderte auch wirklich diese Rechte in Anspruch nehmen können. Sie verweist weiters auf eine notwendige Änderung in der Haltung zu Menschen mit Behinderungen, bei der wir sie nicht länger als fehlerhaft ansehen, sondern beginnen, die „Unzulänglichkeiten in sozialen und wirtschaftlichen Mechanismen zu sehen, die keinen Unterschieden Platz lassen“.2 Sie spricht indirekt über die Veränderung, die mit einem korrekt angenommenen sozialen Modell für Behinderte einhergehen. Dieses Modell, auf welches später im Kapitel noch genauer eingegangen wird, war verantwortlich für eine Änderung der Sichtweise von Behinderungen. Es ist nicht länger akzeptabel zu denken, dass die Schwierigkeiten einer behinderten Person deren alleiniges Problem seien. Stattdessen ist der Fokus darauf gerichtet, was der Rest der Welt beitragen kann, um sicher zu stellen, dass alle Einwohner erreichen können, was immer sie wollen. Einige Jahre früher, 1998, publizierte die Europäische Kommission ein Arbeitspapier zum Thema „Beschäftigungsstatus für Menschen mit Behin1
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S. S. Herr, L. O. Gostin, and H. H. J. Koh, The Human Rights of Persons with Intellectual Disabilities: Different but Equal (Oxford University Press, 2003). Eine Anmerkung zur Übersetzung: In diesem Text wird das englische Wort „disability“ durchgängig mit „Behinderung“ übersetzt. Robinson, M., in: ibid., p. vi.
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derungen“.3 Dieses Dokument, welches informelle Diskussionen mit öffentlichen Stellen und Behinderten Organisationen heranzog, behandelt die Arbeitsmarktsituation für Menschen mit Behinderungen und betrachtet die Herausforderungen, die sich bei dem Versuch, die Berufsaussichten für diese Personen zu verbessern, ergeben. Dieser Ansatz beinhaltet, sicherzustellen, dass es Menschen mit Behinderungen ermöglicht wird, die nötigen Qualifikationen, um der Arbeitswelt beitreten zu können, zu erlangen, passende Jobangebote für Behinderte zu erschaffen und geht der Frage nach, in welcher Art und Weise Arbeitgeber das Arbeitsumfeld an die Bedürfnisse von behinderten Mitarbeitern anpassen können. Das Dokument berücksichtigt den Beschäftigungsstatus zu der Zeit, als der Bericht veröffentlicht wurde, und betrachtet auch zukünftige Ziele. Die Höhe der Erwerbstätigkeit von behinderten Personen zu dieser Zeit (1998) wurde um 20 bis 30% niedriger geschätzt als die von nicht behinderten Personen. Die Probleme resultierten aus einer Mischung, die sich aus der „Sozial leistungsfalle“ zum einen und dem niedrigen Bildungsstand vieler behinderter Menschen zum anderen ergeben hat. Das Arbeitspapier fordert auch eine koordinierte Strategie, um die Probleme in diesem Bereich in Angriff zu nehmen. Die Kernaussage des Dokuments ist sehr positiv und ermutigend, jedoch fragt man sich, ob die Ziele des Papiers umgesetzt worden sind. Neueste Zahlen deuten darauf hin, dass keine signifikante Steigerung der Beschäftigungsrate seit 1998 erzielt worden ist.4 Eine Menschenrechtskonferenz, die 20045 in Norwegen stattfand, konzentrierte sich hauptsächlich auf die Probleme, denen behinderte Kinder und deren Familien gegenüberstehen. Die Vorsitzende der Konferenz, Frau Kristin Ravenger, eine norwegische Ministerin, sprach in ihrer Willkommensrede bei der Konferenz über die Agendapunkte.6 Es wurde berichtet, dass sie über die
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European Commission, Industrial Relations European Commission. Directorate-General for Employment, and Social Affairs. Unit V/E.4, Raising Employment Levels of People with Disabilities: The Common Challenge: Commission Staff Working Paper (Office for Official Publications of the European Communities, 1999). Gemäß dem Shaw Trust ‚sind nur die Hälfte der behinderten Personen im arbeitsfähigen Alter in einem Beschäftigungsverhältnis, bei den nicht behinderten Personen sind es 80%‘, http://www.shaw-trust.org.uk/disability_and_employment_statistics [Stand: 12.11.2012]. Europäischer Ministerrat. Komitee der Minister. Abteilung über die Teilübereinkunft im Sozial und Gemeingesundheitsbereich. Human Rights – Disability – Children: Towards International Instruments for Disability Rights – the Special Case of Disabled Children: Proceedings of the Conference: Council of Europe, Strasbourg 8–9 November 2004 (Council of Europe Pub., 2005). Norwegen hatte zu dieser Zeit den Vorsitz beim europäischen Ministerrat inne.
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gemeinsame Verantwortung der Bürger aller Mitgliedstaaten im Kampf um Würde und Menschenrechte sprach, um zu verhindern, dass Menschen aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert würden.7 Dies verdeutlicht ihre Tagesordnung, und der gemeinsame Tenor aller Mitgliedstaaten ist, gegen Diskriminierung anzugehen und gleiche Rechte für alle Menschen mit Behinderungen zu fordern.8 Der Menschenrechtskommissar Manuel Lezertua sprach über die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, was auch von anderen Vortragenden zur Sprache gebracht wurde. Einige Bereiche, in denen Probleme aufgezeigt wurden, beinhalteten, wie Behinderung definiert werden kann, die Ablehnung der Institutionalisierung im Sinne von „sich kümmern um behinderte Kinder und Erwachsene“, die Notwendigkeit, behinderte Personen in die Selbständigkeit zu führen, und Strukturen zu entwickeln, in denen die Familien Unterstützung finden. Teil dieser Konferenz war es, eine Verbindung zum Entwurf der UN Behinderten Konvention herzustellen. Ein Teil liefert eine hilfreiche Zusammenfassung über jene Schlüsselstellen, wo Fortschritt nötig ist. Diese sind: Gemeinschaftsleben, ein barrierefreies Umfeld und zugängliche Transportmöglichkeiten, Gesundheitswesen, Bildung und Beschäftigung, Teilnahme am kulturellen und politischen Leben, Information, Kommunikation und Forschung, gesellschaftliche und rechtliche Absicherung, Schutz vor Missbrauch und, zu guter Letzt, Bewusstseinsbildung.9 Zwei Arbeitskreise wurden eingerichtet, der erste zum Thema Deinstitutionalisierung und der zweite zum Thema behinderte Kinder und deren Familien. Bei jeder Arbeitsgemeinschaft wurden Präsentationen gezeigt, beim ersten von Personen aus Norwegen, Ungarn, Albanien und beim zweiten von Per-
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Brown, H., in: Europe, Social, and Field, Human Rights – Disability – Children: Towards International Instruments for Disability Rights – the Special Case of Disabled Children: Proceedings of the Conference: Council of Europe, Strasbourg 8–9 November 2004, p. 7. Bei einer Konferenz in Malaga 2003 unterschrieben deren Mitglieder ein offizielles Übereinkommen, gemeinsam für Verbesserungen für behinderte Personen in den Bereichen Zugänglichkeit und Service einzutreten und deren wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Position zu stärken. Die Mechanismen um die Vorschläge umsetzen zu können beinhalteten auch die Deinstitutionalisierung und die Verbesserung der Unterstützung für Familien und Eltern behinderter Kinder. Europe, Social, and Field, Human Rights – Disability – Children: Towards International Instruments for Disability Rights – the Special Case of Disabled Children: Proceedings of the Conference: Council of Europe, Strasbourg 8–9 November 2004, p. 73. Der Vortragende war Mr. J. Hans Sluiter, ein niederländischer Minister für Gesundheit, Sozialwesen und Sport.
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sonen aus Frankreich, Norwegen und Malta. Diesen Vorträgen folgten Vorschläge für den Maßnahmenplan des europäischen Ministerrats. Lisa Waddingtons Beitrag zum Thema Behinderung entsprang einem rechtlichen Hintergrund. Sie ist spezialisiert auf juristische Fragen und benutzt den Rechtsweg, um gegen alle Arten der Diskriminierung behinderter Personen anzukämpfen. Ihr Ansatz ist es, die europäische Gesetzgebung mit der in den USA zu vergleichen. Sie versucht auch festzustellen, wie sehr Alltagsprobleme von der Gesetzgebung beeinflusst sind, und ist sich des Unterschieds zwischen Theorie und Praxis bewusst. Sie gibt eine hilfreiche Zusammenfassung vom Fortschritt, der im Bereich der Gesetzgebung gegen Diskriminierung gemacht wurde, in „From Rome to Nice in a Wheelchair“ 10, Untertitel ‚The Development of a European Disability Policy‘. Dieses kleine Buch ist eine längere Version des Vortrages, den sie bei einer Lehrveranstaltung in europäischem Behindertenrecht und der Universität Maastricht hielt. Sie fasst die europäische Behinderten Verordnung vor Mitte 1990 zusammen, beschreibt die Veränderungen, die zwischen 1995 und 1999 stattfanden, erstellt einen Überblick über die Entwicklungen von 1999 bis zum heutigen Tag (2005) und gibt eine Vorausschau in die Zukunft. Sie zeigt den philosophischen Wandel auf, der sich vollzog, als das soziale durch das medizinische Bild der Behinderung ersetzt wurde. Ihr ist ebenfalls aufgefallen, wie durch eine höhere Teilnahme von behinderten Aktivisten Veränderungen in der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten in Gang gesetzt wurden. Diese Veränderungen beziehen sich auf Transport, Beschäftigung und Gesundheitsversorgung inmitten anderer Bereiche. Verschiedene Abkommen wurden unterzeichnet. Zu dem Zeitpunkt, als sie ihren Vortrag hielt, war das Abkommen von Nizza (2003) das letzte, welches Behinderung zum Thema hatte. In dem Teil, der die Gesetzgebung von 1999 bis 2005 behandelt, hebt sie hervor, dass das erste europäische Abkommen, welches Behinderung anspricht, das Abkommen von Amsterdam im Jahre 1999 war. Aus der Sicht der Behinderung sollte das Hauptaugenmerk auf den Artikel 5 der Anordnung liegen, welcher angemessene Unterbringungen für behinderte Personen fordert.11 Die Schwierigkeit liegt darin, dass sich darüber streiten lässt, was man unter angemessenen Unterbringungen versteht. Arbeitgeber zum Beispiel müssen ihre Arbeitsumgebung anpassen, um behinderten Personen die Möglichkeit 10 11
L. Waddington, From Rome to Nice in a Wheelchair: The Development of a European Disability Policy (Europa Law, 2006). Ibid., p. 21. Die Verordnung, auf die sie sich bezieht, ist die Framework Employment Directive von 2000.
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zur Jobausübung zu geben. Nur wenn dies eine unzumutbare Belastung darstellt, können sie von dieser Forderung befreit werden. Die Definition von ‚unzumutbarer Belastung‘ ist unklar, und ich nehme an, dass die meisten Arbeitgeber argumentieren würden, einen Lift anzuschaffen sei zu teuer. Verschiedene Mitgliedstaaten haben ‚angemessene Unterbringung‘ unterschiedlich ausgelegt. In Holland ist beispielsweise der bevorzugte Begriff ‚erfolgreiche Unterbringung‘ (doeltreffende aapassingen), wobei erfolgreich bedeutet, dass die Unterbringung angemessen und notwendig ist, um der Person zu ermöglichen, zu tun, was immer sie will. Im Jahre 2010 veröffentlichte die europäische Kommission ihre Strategie für 2010 bis 2020, Personen mit Behinderungen haben dieselben Rechte – ein kurzes Dokument, welches die zukünftigen Pläne und Zielsetzungen zusammenfasst. Drei Kernpunkte des Statements sind nicht diskriminierende Gesetzgebung, Chancengleichheit und aktive Teilnahme. Die Europäische Union hat die UN Konvention über Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet, welche erklärt, dass ‚Menschen mit Behinderung denselben Anspruch auf Würde, Unabhängigkeit und Teilnahme am sozialen Leben haben wie jeder andere auch‘.12 EU-weit sind Gesetze erlassen, um zu garantieren, dass behinderte Personen gleichberechtigt sind. Die Herausforderung besteht nun darin, diese Gesetze umzusetzen und zur Realität im täglichen Leben der Behinderten zu machen. Behinderte Personen mögen das gleiche Recht auf Arbeit haben, dies bedeutet jedoch nicht, dass alle behinderten Menschen, die arbeiten wollen, auch wirklich einen Arbeitsplatz bekommen. Die EU Behinderten Strategie 2010–2020 wurde erstellt, um alle Aspekte der Gesetzgebung umzusetzen und die Verordnungen Realität werden zu lassen. Acht Arbeitsgebiete wurden festgelegt, diese sind · Erreichbarkeit, wobei die Schlüsselstellen Gebäude, Transport, Information und Kommunikation sowie Service sind. · Teilnahme, inklusive Zugang zu kulturellen, Freizeit und sportlichen Aktivitäten, sowie die freie Wahl des Wohnortes. · Gleichberechtigung, welche sich hauptsächlich auf die Gesetzgebung gegen Diskriminierung bezieht. · Beschäftigung, wobei das Angebot von Kursen, Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes und Bereitstellung von geschützten Werkstätten als Maßnahmen gelten. · Bildung, welche sich nicht nur auf das Schulalter bezieht, sondern ein lebenslanges Lernen beinhaltet.
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Europäische Kommission, People with Disabilities Have Equal Rights: The European Disability Strategy 2010–2020 (Publications Office [of the European Union], 2010).
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· Soziale Absicherung und Einbeziehung, welche auch eine Reform des Sozialhilfesystems beinhalten kann. · Gesundheit, welche Zugang zu einem hoch qualifizierten Gesundheits system genauso beinhaltet wie die Förderung von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. · Öffentlichkeitsarbeit, welche zum Ziel hat, das Bewusstsein auf globalem Niveau zu heben. Finanzierungsinstrumente, wie der europäische Sozialfond, werden benützt, um Projekte zu finanzieren, welche die Beschäftigungsrate von behinderten Personen erhöhen sollen. Einige Projekte sind finanziert durch das Programm für Beschäftigung und Soziale Solidarität (PROGRESS), welches auch andere Projekte finanziert, in denen es um Anti-Diskriminierung geht. Eine jährliche Konferenz erklärt jedes Jahr den 3. Dezember zum europäischen Tag der Menschen mit Behinderungen. Die Konferenz ermöglicht Akademikern, den Verordnungserlassern, den Menschen mit Behinderungen, den Medien und anderen Interessensgruppen sich zu treffen, um zu diskutieren und Probleme anzusprechen. Im Folgenden möchte ich die Herausforderungen, die sich aus dem Diskurs über „disability“ für den Wert der Gleichheit ergeben, nachzeichnen. Dabei werde ich die Frage nach der rechten Sprache stellen, sodann eine kurze Geschichte der disability-Bewegung, die um Gleichheit gekämpft hat und kämpft, skizzieren, schließlich das soziale Modell von „disability“ diskutieren, das Gleichheit als Basis für ein Überdenken der sozialen Konstruk tionen ansieht. 2. Behindertenfreundliche Sprache
Die Welt der behinderten Personen ist überflutet mit Vokabeln. Einige Ausdrücke sind ‚in‘, während andere definitiv ‚out‘ sind. Manchmal kann es schwierig sein zu wissen, was akzeptabel ist und was nicht, zumal sich diese Regeln je nach Zeit und Umstand ändern. Der kommende Abschnitt versucht einen Weg durch diese Schwierigkeiten zu finden, indem er die Art und Weise, wie Kennzeichnungen verwendet werden und sich verändert haben, untersucht. 2.1 Sprachspiele und Grenzstreitigkeiten
Wittgensteins Konzept von Sprachspielen verfolgt die Idee, dass wir, so wie in der Vergangenheit, glauben, etwas ist wahr aufgrund des Wortes, welches wir benutzt haben, um es zu beschreiben. Ein Bild hält uns gefangen. Wir kön-
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nen nicht entkommen, weil es sich in unserer Sprache befindet, und Sprache scheint es uns unaufhörlich zu wiederholen.13 Das kann mit der Sprache für Behinderung passieren, wenn es uns nicht gelingt, über die Bezeichnung, die wir der Konstitution eines Menschen geben, hinwegzusehen, um zu der Person dahinter zu gelangen. Ein anderer Aspekt desselben Problems wird von Mairian Corker angesprochen, die erklärt, dass Sprache ‚is not a system of signs with fixed meanings with which everyone agrees, but a site of variation, contention and potential conflict. As such, language is about power relations and politics, because discourses compete with each other on many different levels and in many different contexts.‘14 Definitionen von ‚normal‘ sind relativ, und die Grenzen zwischen dem, was normal ist und was nicht, sind unklar. Dies bezieht sich sowohl auf die physische Gesundheit als auch auf psychischen Fähigkeiten. Wenn schon der Begriff ‚normal‘ nicht deutlich definiert werden kann, wie kann dann ‚abnormal‘ definiert werden? Wenn jemand nicht tun kann, was die meisten anderen Menschen tun können, ist dies dann eine Behinderung? Die Antwort hängt davon ab, wie wichtig es ist, in der Gesellschaft zu funktionieren und die jeweilige Sache zu beherrschen. Wenn man unter Tontaubheit leidet, kann es sein, dass man nicht richtig singen kann, aber niemand würde behaupten, dass das die Lebenschancen beeinträchtigen würde, solange man nicht eine Karriere als Opernsänger anstrebt. Genauso ist Farbenblindheit nur ein Problem für gewisse Beschäftigungen. Wäre es angemessen, jemand als behindert zu beschreiben, wenn er oder sie tontaub, farbenblind oder allergisch auf Nüsse ist? Ein anderes Beispiel, wie schwer sich im Bereich Behinderung Grenzen ziehen lassen, zeigt sich, wenn wir uns Störungen im akustischen Spektrum besehen, bei welchen Judy Singer den Begriff ‚verschwommene Grenzen‘ (‚fuzzy boundaries‘)15 verwendet. Nachdem die Bezeichnung des Zustandes das Wort ‚Spektrum‘ beinhaltet, wird unterstellt, dass Personen nicht in eigenständige, klar umschriebene Kategorien gehören. Das ist etwas, was auf viele andere Zustände zutrifft und zu dem Schluss führt, dass wir alle, in der ein oder anderen Weise, behindert sind, auch in der Hinsicht, als dass wir uns alle auf verschiedenen Plätzen im Spektrum der Fähigkeiten wiederfin13 14 15
L. Wittgenstein, Philosophical Investigations Translated by Gem Anscombe (Blackwell, 1974) (115). M. Corker, „Disability Discourse in a Postmodern World.“ The disability reader: Social science perspectives (1998), p. 226. J. Singer, „Why Can’t You Be Normal for Once in Your Life? From a ‚Problem with No Name‘ to the Emergence of a New Category of Difference.“ Disability discourse (1999).
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den. Natürlich gibt es Umstände, wo man sehr klar sagen kann ‚ich habe das nicht‘, so wie bei Infektionen, wo Erreger deutlich identifiziert werden können. Aber es gibt sehr viele andere Umstände, in denen sich Menschen in einem gewissen Rahmen bewegen können, der sich sogar von Tag zu Tag ändern kann.16 Taubheit ist ein anderer Bereich, bei dem die Grenzen nicht klar sind. Taube Menschen, die in eine Gemeinschaft von Gehörlosen, welche die Zeichensprache verwenden, geboren werden, sehen sich selbst nicht als behindert. Stattdessen fühlen sie sich zu einer anderen kulturellen und sprachlichen Gemeinschaft zugehörig, mit deren eigenen Normen und Erfahrungen. Jemand, der Zeit seines Lebens gewohnt ist, über gesprochene Sprache zu kommunizieren, und der zu einem späteren Zeitpunkt in seinem Leben taub wird, jedoch, wird sich sehr behindert fühlen, wenn sein bewährter Weg der Kommunikation nicht länger verfügbar ist. Wenn Grenzen nicht klar sind, dann entstehen Spannungsbereiche. Eine ähnliche Spannung kann man auch in akademischen Debatten finden, wie bei Strukturalismus und Post-Strukturalismus. Mairian Corker schlägt hier vor, dass niemand ohne den anderen verstanden werden kann. Desgleichen muss man, um Behinderung verstehen zu können, begreifen, was nichtbehindert bedeutet. ‚The identity of something is as much a function of what it is not as what it is.‘17 Diese Aussage wurde von Personen wie Tanya Titchkosky18 infrage gestellt, die argumentieren, dass wir eine Frau nicht als jemand bezeichnen würden, dem ein Penis fehlt, und einen Mann nicht als jemand, dem die Vagina fehlt.19 Ein weiteres Beispiel der Tendenz, Personen 16
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Viele psychische Erkrankungen sind vergänglich, mit Symptomen, die täglich oder von Woche zu Woche variieren. Depression ist ein Beispiel dafür und Depression ist auch ein Symptom welches, gemäß der NHS website, eine von zehn Personen zumindest einmal im Leben betrifft. http://www.nhs.uk/Conditions/Depression/Pages/Introduction.aspx. Corker, „Disability Discourse in a Postmodern World“, p. 227. Titchkosky sagt, dass Personen mit visuellen Beeinträchtigungen sich oft schwer tun, sich selbst als ‚blind‘ oder ‚sehend‘ zu bezeichnen. Sie verwendet das Beispiel der Landkarten um diesem Problem auf den Grund zu gehen. Landkarten beinhalten Informationen, die es uns erlauben, die Welt zu befahren, in diesem Beispiel die Welt der Behinderung. Zusatzfunktionen beinhalten Aufnahmekriterien (wie entscheiden wir, ob jemand behindert ist), den Schweregrad (wenig, gemäßigt, schwer) und Information darüber, wie man sich in dieser Welt bewegen kann. Blindheit ist normalerweise polarisiert mit den Begriffen blind oder sehend. Viele Menschen mit visuellen Beeinträchtigungen scheinen zwischen diesen Grenzen hin und her zu schwanken. Wenn jemand etwas sehen kann, wie es oft der Fall ist, und wenn der Grad der Sichtigkeit schwankt, wie bei voranschreitenden Augenkrankheiten, dann kann die Frage ob man blind ist für jemand zum Problem werden. ‚I was working with a cultural map that pointed out the land of blindness and that of sightedness with a clearly defined border between the two.‘ T. Titchkosky, „Cultural Maps: Which Way to Disability?“ Disability/postmodernity: Embodying disability theory (2002). Ibid.
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darüber zu definieren, was sie nicht sind, kann in der Psychiatrie gefunden werden, wo die psychiatrischen Berichte das Negative (was der Patient nicht kann) erfassen und nicht erwähnen, was funktioniert. Das ergibt nur ein unvollständiges Bild der Person.20 2.2 Kennzeichnung und Stigma
Kennzeichnungen sind unumstritten hilfreich, indem sie eine bequeme Zusammenfassung einer Situation liefern. Viele dieser Begriffe, welche im Bereich Behinderung verwendet werden, stammen von medizinischem Vokabular, welches zum Zweck der Diagnose und Behandlung notwendig ist. Wenn ein Arzt bei einem Patienten einen bestimmen Zustand identifiziert hat, kann die notwendige Behandlung eingeleitet werden. Eine Kennzeichnung ist eine objektive Art, eine Person zu beschreiben, so dass jeder, der mit dieser Person zu tun hat, die Situation kennt. Sogar stereotype Bezeichnungen können Überlebenswert haben. Eine Person, welche in der Nacht allein durch eine dunkle Gasse geht und eine Gruppe Jugendlicher mit Kapuzen entgegenkommen sieht, kann sich nicht den Luxus erlauben, vorurteilsfrei gegenüber deren Absichten zu sein. Nichtsdestotrotz, werden im Bereich der Behinderung Kennzeichnungen zu Recht oft als unsensibel, irreführend und manchmal auch als beleidigend kritisiert. Eine besondere Schwierigkeit mit Kennzeichnungen kann sein, dass diese nur schwer zu verändern sind, Rosenhan spricht hier von ‚Klebeetiketten‘ (‚sticky labels‘).21 Rosenhans Studie über Pseudopatienten, welche fälsch licherweise behaupteten, Stimmen zu hören, und welche in psychiatrische Einrichtungen in den USA eingewiesen wurden, enthüllte, dass, auch wenn die Patienten nicht länger über diese Symptome berichteten und vom Krankenhaus entlassen wurden, die Unterlagen sie als Patienten mit ‚Schizophrenie in Remission‘ auswiesen. Wenn jemand mit einer bestimmten Bezeichnung beschrieben wird, sind die Bilder, die diesen Begriff begleiten, permanent mit der Person verbunden. Es spielt dabei keine Rolle, ob diese Bilder inkorrekt sind, die Verbindung ist hergestellt. 20
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Ein Beispiel dafür ergab sich kürzlich, als mir eine Freundin, deren Sohn an Down Syndrome litt, von seiner jährlichen Behördenbesprechung erzählte. Das war das erste seit er in einem Camphill Community Haus lebte. Dieses Mal, zum allerersten Mal, berichteten sie nicht nur über seine Bedürfnisse und wie diese erfüllt wurden, so wie es schon zuvor geschehen war, sondern auch darüber, was er zur Gemeinschaft beitrug und wie froh sie waren, ihn bei sich zu haben, aufgrund der positiven Dinge, die er in ihren Leben und Aktivitäten bewirkte. Dass er Freude, Liebe, Freundschaft, Loyalität und Hilfsbereitschaft einbrachte, waren Qualitäten, die nie zuvor ausdrücklich gewürdigt oder beachtet wurden. D. L. Rosenhan, „On Being Sane in Insane Places.“ Science 179, no. 4070 (1973).
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Einige Ausdrücke verändern sich auch mit dem Fluss der Zeit. Der Begriff ‚zurückgeblieben‘ ist nunmehr überholt und wurde ersetzt durch Phrasen wie ‚Personen mit Entwicklungsbehinderungen‘ oder ähnlichem. Jedoch unterscheiden sich die vorgefertigten Meinungen, die Personen haben, welche die neuen Terminologien verwenden, kaum von denen von früher. Das Klischee bleibt bestehen, auch wenn sich die Worte geändert haben. Lerita Coleman erläutert, ‚because stigmas mirror culture and society, they are in constant flux‘22, und sie stellt fest, dass ‚stigma is a response to the dilemma of difference‘.23 Wenn sie die Phrase ‚Dilemma der Differenz‘ benutzt, unterstellt sie damit, dass Menschen sich einem Problem gegenübersehen, wenn sie mit jemandem konfrontiert sind, der anders ist als sie selbst. Das ist das Kernstück von Tajfels Theorie der sozialen Identität24, welche zu erklären versucht, warum es Teil der menschlichen Natur ist, Vorurteile zu haben und an Stereotypen zu hängen. Gemäß der Theorie der sozialen Identität ist es unmöglich, die Tendenz zur Favorisierung derer, die so sind wie wir, gänzlich auszulöschen und gegenüber denen, die anders sind, weniger positiv eingestellt zu sein. Diese Tendenzen stärken das Selbstwertgefühl und helfen Menschen sich gut zu fühlen, nachdem sie, wie sie glauben, zur überlegenen Gruppe gehören. Haben wir einmal realisiert, dass wir diesen Tendenzen folgen, können wir diese feind selige Haltung aufgeben und zusammen auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Im Falle von Behinderung kann dieses Ziel bedeuten, dass Menschen mit Behinderungen als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft ein erfülltes Leben führen können. Alle Kennzeichnungen, positiv oder negativ, überholt oder auf dem neuesten Stand, zielen darauf ab, eine Botschaft zu senden, die über den Kontext, in dem der Begriff verwendet wird, vermittelt wird. Wenn die Gesellschaft einen Begriff so versteht, dass er etwas Minderwertiges, Negatives oder Unerwünschtes beschreibt, dann übernimmt die Person, auf die die Bezeichnung angewendet wird, diese Konzept. Bedenken wir die Bandbreite von verschiedenen Ausdrücken in der Liste von Deborah Creamer: „Veraltete“ Wörter wie „Idiot“, „Schwachkopf “, „schwachsinnig“, „Trottel“, „Geisteskranker“ und „zurückgeblieben“ genauso wie moderne Phrasen wie „Personen mit geistigen Behinderungen“, „Personen mit 22 23 24
L. M. Coleman, „Stigma: An Enigma Demystified.“ The disability studies reader (1997). Ibid. H. Tajfel, „Experiments in Intergroup Discrimination.“ Intergroup relations: Essential readings (2001). Tajfel’s Theorie der sozialen Identität postuliert, dass wenn Menschen in Gruppen unterteilt sind dazu tendieren, Positives über die In-Gruppe, die Gruppe zu der sie sich selbst zählen, und Negatives über die Out-Gruppe zu (er)finden, sei es auch noch so weit hergeholt. Es dient vor allem der Steigerung des Selbstwertgefühls, zu glauben, man gehöre der besseren Gruppe an.
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Entwicklungsbehinderungen“, „Personen mit speziellen Herausforderungen“ oder „Personen mit speziellen Bedürfnissen“ porträtieren die gesellschaftliche Haltung gegenüber geistiger Behinderung.25 Die Gesellschaft wird Menschen mit solchen Kennzeichnungen auf verschiedenste Arten betrachten, und alleinig das Verändern dieser Kennzeichnungen bewirkt nicht, dass die negativen Assoziationen verschwinden. Wenn Wittgenstein behauptet, ‚if we had to name anything which is the life of the sign, we should have to say that it was its use‘26, könnte er zustimmen, dass es keinen Unterschied macht, ob man das Wort ‚schwachsinnig‘ oder die Phrase ‚Personen mit Entwicklungsbehinderungen‘ verwendet, wenn diese Ausdrücke in demselben Zusammenhang verwendet werden. 2.3 Medizinische Terminologie
Nachdem in erster Instanz hauptsächlich Ärzte definieren, beschreiben und kennzeichnen, welche Beeinträchtigungen eine Person hat, sind Definitionen sehr oft vom medizinischen Ansatz beeinflusst. Von Ärzten wird erwartet, bezüglich Behandlung einen Vorschlag zu machen, und die Vorliebe der medizinischen Welt für wissenschaftliche Begriffe hat den Vorteil, objektiv zu sein. Ärzte können bei der Rehabilitation hilfreich sein. Die moderne Praktik, behinderten Menschen zu helfen, ein erfülltes Leben zu führen, ist vorzugsweise, sie in Institutionen einzuweisen, wie schon in der Vergangenheit geschehen.27 Der medizinische Ansatz benutzt starr definierte Systeme zur Klassifizierung.28 Eines der Hauptsysteme ist das der Welt-Gesundheits-Organisation (WHO), welches die Klassifikation ‚Beeinträchtigungen, Behinderungen und Handicaps‘ (ICIDH) und die Klassifikation ‚Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit‘ (ICF)29, erstellt hat, letztere ist eine Überarbeitung der vorangegangenen. Die ICF berücksichtigt Funktionen und Faktoren im 25 26 27
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D. B. Creamer, Disability and Christian Theology: Embodied Limits and Constructive Possibilities (Oxford University Press, USA, 2009). Wittgenstein BB4. Sogar die Namen, die diesen Institutionen gegeben wurden, hören sich heutzutage überholt an. Ein Beispiel ist die Einrichtung in Putney, welche früher Royal Hospital for Incurables (RHI) genannt wurde und heute bekannt ist als Royal Hospital for NeuroDisability. Ihre Website trägt den Slogan ‚Finding Ability in Disability‘ als Überschrift [Website http://www.rhn.org.uk/home.asp accessed 16.11.10], ein Zeichen, dass in modernen Instituten eine positivere Haltung vorherrscht. Beispiele zeigen die WHO’s ICF, und die DSM, welche in den USA gebräuchlich ist. Die ICF kann auf folgender Website nachgelesen werden: http://www.who.int/classifications/icf/en/. Stand 16.11.10.
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Kontext, aber kein Modell berücksichtigt die Idee des sozialen Modells, nämlich dass Behinderung sozial aufgebaut ist. Sie haben ihre Berechtigung, aber kollidieren mit lose definierten, von Benutzern geführten Ansätzen. Menschen mit Behinderungen wurden nie in die medizinischen Einteilungen miteinbezogen, und einige widersetzen sich der Klassifizierung oder ziehen es vor, ihre eigenen Bezeichnungen über sich selbst zu haben. Nichtsdestotrotz war der medizinische Ansatz einflussreich. Wilson und Beresford30 behaupten, dass diagnostische Klassifizierungssysteme drei Zwecken dienlich sind: 1. Erleichterung beim Krankenhaus Management. 2. Vereinfachung der Kommunikation zwischen Ärzten und Therapeuten. 3. Vereinfachung der Forschung nach Ursachen, Vorsorge und Behandlung. Der Nachteil ist, dass die Symptome der Personen so geformt werden, dass sie in das Kategorisierung- und Klassifikationssystem passen. Unter den Kritikern der DSM befinden sich Wilson and Beresford, die meinen, dass die DSM […] auf einer wissenschaftlichen Illusion basiert und ein fundamentaler Fehler ist.31 In einem Artikel von Theresia Degener über Anti-Diskriminierungsgesetze wird angemerkt, dass Definitionen von Behinderungen, wie beispielsweise die der WHO, nicht nur das behinderte Individuum, sondern auch deren Lebensverhältnisse berücksichtigen. Dies beinhaltet die Schwierigkeit, dass die Lebensverhältnisse eines behinderten Menschen durch die Art und Weise bestimmt sind, wie diese Person von der Gesellschaft, in der sie lebt, behandelt wird. Die Konsequenz kann in einem Kreislauf enden, wobei die Behinderung aus der Diskriminierung resultiert und die Diskriminierung Resultat der Behinderung ist, wie Degener erklärt: ‚The WHO notion of disability as a result of an interaction between an impaired individual and his or her social environment mixes characteristics and treatment. A discrimination law has to separate these two things by saying which treatment is regarded as prohibited discrimination and against whom. Disability discrimination laws thus need to define discrimination as well as disability and it therefore makes no sense to define disability as the outcome of discrimination.‘32
30 31 32
A. Wilson and P. Beresford, „Madness, Distress and Postmodernity: Putting the Record Straight.“ Disability/postmodernity: Embodying disability theory (2002). Ibid. T. Degener, „The Definition of Disability in (German and) International Discrimination Law.“ Disability Studies Quarterly 26, no. 2 (2006).
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Die WHO Kategorisierungs- und Diagnosesysteme können in der Realität oft nicht so deutlich umgesetzt werden. Es scheint klar, dass eine blinde Person nicht sehen, oder eine taube Person nicht hören kann. Liest man allerdings Rod Michalkos Bericht, wie sich sein Sehvermögen über Jahre hinweg verschlechterte, wird deutlich, dass Blindheit nicht so einfach zu definieren ist.33 Er ringt damit, zu welchem genauen Zeitpunkt man ihn als tatsächlich blind beschreiben kann, die Kategorisierung scheint nicht länger so wasserdicht zu sein wie die Systeme zur Klassifizierung es gerne hätten. Es ergeben sich auch große Nachteile, wenn man sich auf die medizinische Terminologie verlässt, zumal diese nie die ganze Bandbreite abdeckt. Medizinische Terminologie neigt dazu, den Aspekt der persönlichen Tragödie bei Behinderung hervorzuheben. Simi Linton erklärt, dass Begriffe wie ‚an den Rollstuhl gefesselt‘ und ‚Opfer von Zerebralparese‘ die Einschränkungen von jemandem hervorheben und den Aspekt der Tragödie stärken. Besser wäre, meint sie, neutralere Begriffe zu verwenden, wie zum Beispiel ‚benutzt einen Rollstuhl‘ oder ‚hat eine Zerebralparese‘.34 2.4 Politische Korrektheit
Der Gleichheitsdiskurs ist ein wesentlicher Aspekt des Umgangs mit dem Wert von „Gleichheit“. Gerade wenn „Gleichheit“ als Wert eine Bedeutung haben soll, sind entsprechend sprachliche Stragien zu verfolgen und Grenzen einzuführen. Mairian Corker verweist darauf, dass sich Bedeutungen mit der Zeit ändern. ‚Post-structuralism, however, deals specifically with language and discourse, and, as such, is bound up with issues of meaning, representation and identity. Its main premise is that meaning can never be fixed because human discourse is constantly evolving and therefore continually engaged in creating new meanings.‘35 So gesehen überrascht es nicht, dass sich die Sprache über Behinderung und die Bedeutung von Bezeichnungen, die Menschen mit Behinderungen gegeben werden, auch verändern. Ein Beispiel dafür stammt von Lennard Davis, der erklärt, dass der Begriff ‚normal‘ nicht immer dasselbe bedeutet hat und ursprünglich nur von Mathematikern angewendet wurde, um eine Linie zu 33 34 35
Rod Michalko, The Difference That Disability Makes (Philadelphia, Pa.: Temple University Press, 2002). Simi Linton, Claiming Disability: Knowledge and Identity, Cultural Front; Variation: Cultural Front (Series) (New York: New York University Press, 1998), p. 25. Corker, „Disability Discourse in a Postmodern World.“
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beschreiben, die im rechten Winkel zu einer anderen Linie steht. Weiters behauptet er, dass der soziale Prozess des Unvermögens mit der Industrialisierung und mit dem Einsetzen von Praktiken und Diskursen begann, die an die Ansichten über Nationalität, Rasse, Geschlecht, Kriminalität, sexueller Orientierung usw. der späten 80er und 90er Jahre gekoppelt waren.36 Er verwendet den Begriff „ableism“37, um etwas zu beschreiben, das genau so aus der Mode gekommen und unakzeptabel ist wie Rassismus und Sexismus. Weitere Beispiele dafür, wie sich die Terminologie verändert hat, beinhalten Bezeichnungen wie „Krüppel“, „geistig behindert“, „geistig zurückgeblieben“, „mongoloid“, welche alle sehr altmodisch, ja sogar beleidigend für das moderne Ohr klingen.38 Gesundheitsdienste beziehen sich nicht mehr auf Personen als Patienten, und in einigen Gebieten hat sich der Begriff ‚Personen, die Dienstleistungen in Anspruch nehmen‘ durchgesetzt. Das negative Image jedoch bleibt und es ist anzuzweifeln, ob die Kluft zwischen Arzt und Patienten überbrückt werden kann, indem ein Name geändert wird. Innovationen in der Sprache können für einige Personen auch sehr schwierig zu handhaben sein. Es gibt viele ältere Leute, die sich mit politisch korrekter Sprache schwer tun. Obwohl es nicht länger üblich ist, Personen mit Lernschwächen als ‚zurückgeblieben‘ zu bezeichnen, wurde dieser Begriff in den USA erst kürzlich für ungesetzlich und inakzeptabel erklärt.39 Nichtsdestotrotz, wenn jeder weiss, dass ‚lernbehindert‘ das Gleiche bedeutet wie der Zustand, welcher früher als zurückgeblieben bezeichnet wurde, sind die Konsequenzen dieselben. Vorteile einer politisch korrekten Sprache sollten gegen deren Nachteile abgewogen werden. Begriffe wie ‚anders begabt‘ können mit den besten Absichten verwendet werden, aber sie können auch herablassend scheinen, und, anstatt die Unterschiede zwischen Vermögen und Unvermögen zu reduzieren, diese auch vermehren. Ein anderes Problem, welches mit politisch korrekter Sprache einhergeht, ist, dass das Stigma, welches eine Bezeichnung bringt, nicht notwendigerweise 36 37
38 39
L. J. Davis, The Disability Studies Reader (CRC Press, 2006). Genauso, wie Diskriminierung von jemandem aufgrund seiner ethnischen Herkunft als Rassismus bezeichnet wird, wird Diskriminierung von jemandem aufgrund seiner Behinderung als ‚ableism‘ bezeichnet. Ähnlich dazu beschreibt ‚audism‘ Vorurteile gegenüber Gehörlosen. Ein Beispiel für ein inakzeptables Wort ist der Begriff ‚Invalide‘, welcher negative Assoziationen auslöst und auch un-gültig bedeuten kann, im Sinne von nicht gültig; ein gültiger Pass öffnet Türen, wohingegen ein ungültiger den Eintritt unmöglich macht. Rosa’s Gesetz wurde von Präsident Obama in vollem Umfang erlassen, indem er die Gesetzesvorlage am 5. Oktober 2010 unterzeichnete. Rosa hat Down-Syndrom und als ihre Eltern erfuhren, dass sie in der Schule als zurückgeblieben bezeichnet wurde, starteten sie eine Kampagne zusammen mit anderen Eltern, um diesen Begriff per Gesetz verbieten zu lassen, weil ihn andere als Einladung auffassten Rosa schlecht zu behandeln. – Siehe http://www.specialolympics.org/rosas-law.aspx. Stand 16.11.10.
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verschwindet, wenn diese Bezeichnung durch eine politisch korrekte ersetzt wird. Es ist möglich, dass wenn das Wort ‚speziell‘ zuerst mit ‚behindert‘ oder ‚zurückgeblieben‘ in Verbindung gebracht wird, jetzt aber in Bezug auf Personen mit Lernschwächen angewendet wird, dieselben negativen Asso ziationen bestehen bleiben. So gibt es viele Wege, den Wert der Gleichheit auf subtile Weise zu unterlaufen. 2.5 Behindertenfreundliche Sprache: Neue Ausdrücke
Simi Linton betont, dass, wie sie es nennt, ‚nette‘ Wörter wie ‚speziell‘ oder ‚herausfordernd‘ eine Freud’sche Reaktion manifestieren könnten. Das Ego fühlt sich unwohl bei jemandem mit einer Behinderung, und somit ist das freundliche Wort nur eine Maske dieses Unwohlseins. Sie vergleicht diese ‚netten‘ Wörter mit den ‚gemeinen‘, wie ‚Krüppel‘, während sie beobachtet, dass die Gemeinschaft der Behinderten diese Worte nun zurückgefordert hat, ja sogar einige behinderte Personen diese stolz verwenden, um sich selbst zu beschreiben, als ob sie demonstrieren wollten, dass diese ‚gemeinen‘ Worte keine Macht mehr über sie haben. ‚They are personally and politically useful as a means to comment on oppression because they assert our right to name experience.‘40 41 Einige behinderte Aktivisten scheinen zu wollen, dass der Begriff behindert etwas anderes bedeuten soll als die allgemein gültige Definition vorgibt. Simi Linton verwendet den Begriff ‚re-authoring‘, um den Prozess zu beschreiben, bei dem behinderte Menschen das Wort Behinderung zurückfordern und so tun als hätte es eine andere Bedeutung. Der Nachteil hier ist, dass diese neue Bedeutung nicht notwendigerweise von dem Rest der Bevölkerung akzeptiert wird. Menschen werden immer ihre eigenen Definitionen haben, nämlich die, mit denen sie vertraut und aufgewachsen sind. Das bedeutet aber auch, dass Wörter neue Bedeutungen annehmen. Das Wort ‚retarded‘ wurde von der Jugend zu ‚tard‘ deformiert und ist ein Begriff über Missbrauch, wofür von einer früheren Generation das Wort ‚spastic‘ verwendet wurde. Glück licherweise kann der Begriff ‚Zerebralparese‘ nicht so einfach umgangs sprachlich verunstaltet werden. 40 41
Linton, Claiming Disability: Knowledge and Identity. Words such as ‚gimp‘ and ‚crip‘ seem to be permitted when disabled people use them to describe themselves, whilst an able person using them would be condemned for insensitivity or prejudice. Lennard Davis has a chapter in his book, Bending Over Backwards, entitled ‚Crips Strike Back‘ in which he reviews the emergence of disability studies being undertaken by disabled researchers. In the same book a chapter by Billy Golfus is called ‚Sex and the single gimp‘. Lennard J. Davis, Bending over Backwards: Disability, Dismodernism, and Other Difficult Positions, Cultural Front; Variation: Cultural Front (Series) (New York: New York University Press, 2002).
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Behinderte Aktivisten haben sowohl die Terminologie, welche ihre Befindlichkeit beschreibt, als auch die Einschränkungen, die sie durch die negativen Assoziationen erfahren, ausgelöst durch die Bezeichnung ihrer Behinderung, herausgefordert. Manche, wie Vic Finkelstein, haben neue Begriffe kreiert, die jene beschreiben, die nicht behindert sind. Finkelstein bezeichnet jene, die keinen Rollstuhl brauchen, um sich fortzubewegen, als ‚an Schuhe gefesselt‘, ein Begriff, welcher ausdrückt, dass solche Personen auch limitiert sind.42 Oliver verwendet die Begriffe ‚Geher‘, ‚Fast-Geher‘ und ‚Nicht-Geher‘ in seinem Kapitel zur Rehabilitierung der Gesellschaft.43 In mancher Hinsicht wird sich die Debatte über Sprache und Bezeichnungen nie legen. Sprache entwickelt sich ständig, und neue Begriffe werden erfunden, um den veränderten Bedürfnissen der Gemeinschaften, die sie erfunden haben, gerecht zu werden. Ein größeres Bewusstsein über die Unbeholfenheit und Fehler alter Terminologie soll uns helfen, in Zukunft sensibler zu sein, um dadurch den Wert der Gleichheit tiefer verankern zu können. Um zu verstehen, wie sich Sprache entwickelt und verändert hat, wenden wir uns nun der Geschichte der Behinderten Bewegung zu, auch um aus der Vergangenheit zu lernen. Diese Geschichte kann vor allem auch als Kampf um tieferes Verständnis für Gleichheit gelesen werden. 3. Eine kurze Geschichte der Disability-Bewegung
Die Geschichte über etwas zu schreiben wirft das Problem auf, womit man beginnt. Wann fängt Geschichte an? Im Fall der Behinderten Bewegung könnte die Veröffentlichung der Fundamentalen Prinzipien der UPIAS44 im Jahre 1976 als Schlüsselmoment betrachtet werden. In bestimmten Schlüsselmomenten schärfen sich Konturen des Gleichheitsverständnisses. Ich will im Folgenden besonderes Augenmerk auf Entwicklungen in England legen. 3.1 Bewegungen und Entwicklungen
Colin Barnes fasst zusammen, wie Vic Finkelstein die Geschichte der Behinderten Bewegung in drei Sektionen einteilt.45 42 43 44 45
V. Finkelstein, „Emancipating Disability Studies.“ The disability reader: Social science perspectives (1998). M. Oliver, Understanding Disability: From Theory to Practice (Palgrave Macmillan, 1996). http://www.leeds.ac.uk/disability-studies/archiveuk/UPIAS/fundamental%20principles. pdf, accessed on 18.11.10. C. Barnes, „The Social Model of Disability: A Sociological Phenomenon Ignored by Sociologists.“ The disability reader: Social science perspectives (1998).
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1. Die Feudalperiode, in der es Baumwollfabriken gab, in denen behinderte Personen untergebracht wurden. 2. Die Industrielle Revolution, während der behinderte Menschen isoliert wurden. 3. Die Befreiung – gerade erst am Anfang. Diese Gliederung wurde dafür kritisiert, zu vereinfachend zu sein, und es bleibt völlig unklar, welchen Platz das Leben von behinderten Personen in der Feudalperiode bekam, wo doch die Lebensumstände generell viel beschwerlicher waren. Nichtsdestotrotz ist klar, dass die Industrielle Revolution Produktivität so wichtig werden ließ, dass jeder, der nicht mit dem Rest mithalten konnte, auch nicht arbeiten konnte. Hilfreicher ist es, die verschiedenen Arten, wie Behinderte in der Vergangenheit angesehen wurden, zu betrachten. Len Barton argumentiert, dass behinderte Menschen traditionell in drei Kategorien eingeteilt wurden, solche, die eine Bedrohung darstellen und in eine Anstalt gehören, die, die eine Last sind und in gewisser Weise eliminiert gehören und solche, die verletzbar sind und beschützt werden müssen.46 Natürlich wurden Behinderte nicht allein deswegen in Anstalten eingewiesen, weil sie eine Bedrohung darstellten, sondern auch weil man der Ansicht war, sie könnten in einer separaten Gruppe besser betreut werden. Oft wurden Familien ermutigt, behinderte Kinder schon sehr früh in eine Anstalt zu geben, in dem Glauben, die Familie könne sich nicht adäquat um sie kümmern. 3.2 Alte und neue Modelle: Medizinische und soziale
Vor den 1970er Jahren, als die Entstehung des sozialen Modells die Sichtweise von Behinderung veränderte, war das medizinische Modell das führende Prinzip im Umgang mit Behinderungen. Das medizinische Modell erachtet eine Person mit einer Behinderung als medizinisches Problem, welches es zu lösen gilt. Normal wird als wünschenswert angesehen, und es werden Maßnahmen gesetzt, um die Person so normal wie nur möglich zu machen. Behandlungen zielen darauf ab, jemanden wieder gehend zu machen, auch mit Hilfe einer Prothese. Das medizinische Modell entwickelte sich in den Jahren nach den beiden Weltkriegen als Antwort auf zahlreiche Soldaten, welche vom Krieg mit fehlenden Gliedmaßen heimkehrten, und als Antwort auf große Epidemien wie Polio, die eine signifikante Anzahl von Personen zurückließ, welche ihre Gliedmaßen nicht mehr voll gebrauchen konnten.
46
L. Barton, „Sociology, Disability Studies and Education: Some Observations.“ The disability reader: Social science perspectives (1998).
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Das medizinische Modell basierte auf einer angenommenen Norm, welche jedermann anstreben sollte. Indem man einen statistischen Ansatz heranzog, war klar, dass manche Menschen über dem Durchschnitt und manche darunter lagen. Die einzige Frage, die sich stellte, war, wie groß die Abweichung von der Norm sein musste, um eine Behandlung zu erfordern. Das medizinische Personal geht wissenschaftlich vor, ist biologisch determinisiert und erachtet jedes Individuum mit einer Behinderung als Problem, welches es zu lösen gilt. Personen werden normalerweise in Isolation behandelt, ihre Lebensverhältnisse gelten dabei nicht als relevant, zumal unter Rehabilitation verstanden wird, dass die Person in der ‚normalen‘ Gesellschaft wieder funktioniert. Ein weiterer Aspekt des medizinischen Modells ist das Bestreben nach Prävention, daraus ergeben sich Methoden wie das Pränatal-Screening und Beratungen bei all jenen, die genetische Auffälligkeiten vorweisen. Der Ansatz der persönlichen Tragödie der Behinderung, der von dem medizinischen Modell stammt, bewirkt, dass sich behinderte Menschen wie isoliert und als Opfer fühlen. Der Aspekt der persönlichen Tragödie der Behinderung ist etwas, das große Wohltätigkeitsorganisationen in ihren Spendenaktionen ausgeschlachtet haben. Zurückzuschlagen, wie das Micheline Mason tat, als sie in ihrem Bericht über das ‚Wegwerfen des heiligen Wassers von Lourdes‘ schrieb, ist ein Weg, Selbstbestimmung wieder zu erlangen.47 Ein anderer Weg führt über Kunst oder Politik. ‚There are many routes to transforming personal into political consciousness. At the core, however, is a rejection of disability as personal tragedy.‘48 Das soziale Modell versteht Behinderung als gesellschaftlich aufgebaut und besteht darauf, dass Behinderung und Schwäche getrennt betrachtet werde. Es ist mehr ein situationsabhängiges als ein veranlagungsbedingtes Modell, welches davon ausgeht, dass die Probleme, denen sich eine behinderte Person gegenübersieht, ihren Ursprung nicht in dieser Person haben, wohl aber in der Situation, die sie umgibt. Als erstes sei die Idee der persönlichen Tragödie genannt. Kein Wunder, dass behinderte Personen, als sie zum ersten Mal davon hörten, diese neue Art zu denken positiv aufnahmen. Anstelle von Mitleid und Bevormundung forderten sie Emanzipation. Das soziale Modell brachte Transformation und Befreiung, was manchmal mit den Veränderungen, die durch die Bürgerrechtsbewegung oder durch die Befreiung der Frauen Jahre zuvor, einhergingen, in Zusammenhang gebracht wurde.
47
48
Mason beschreibt, wie sie einen Moment der persönlichen Erleuchtung erfuhr, als sie eine Wunderheilung für Ihre Behinderung ablehnte. Ihre Geschichte wird erzählt in Kapitel 6 von J. Campbell and M. Oliver, Disability Politics: Understanding Our Past, Changing Our Future (Routledge, 1996). Ibid., p. 115.
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3.3 Gesetzgebung
Sehen wir uns Meilensteine des Gleichheitsdiskurses mit Blick auf die disability-Bewegung am Beispiel Großbritanniens an. Das zweite Kapitel von Campell and Oliver’s Disability Politics handelt von den gesetzlichen Rahmenbedingungen, die den Disabled Persons (Employment) Act (1944), den Education Act (1944), den National Health Services Act (1948) und den National Assistance Act (1948) beinhalten. Diese sollten von der ‚Wiege bis zum Sarg‘ eine Vollversorgung bieten, allerdings trat für die behinderten Menschen die versprochene Befreiung nicht ein. In den 1960er Jahren waren sie noch immer mehrheitlich in Instituten eingesperrt oder lebten mit ihren Familien, die sich abmühten, um ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. Schritt für Schritt begannen sich behinderte Aktivisten für ihre Rechte einzusetzen, für Emanzipation und für eine Gesetzgebung, die sie wirklich mit ihren nicht-behinderten Mitmenschen gleichstellen sollte. Der erste Disability Discrimination Act in England wurde 1995 erlassen und wurde gefolgt von etlichen Zusätzen. 2005 wurde eine neue DDA erlassen, und diese wurde danach weitgehend ersetzt durch den Equality Act von 2010, obwohl einige Passagen der DDA immer noch Gültigkeit haben.49 Es werden einige Definitionen angeführt, was das Gesetz unter ‚Behinderung‘ versteht. Menschen, welche physische oder psychische Schwächen haben, sind eingeschlossen, während all jene, die Pyromanie haben oder süchtig nach illegalen Substanzen sind, nicht einbezogen sind. 3.4 Aktivismus
Es gibt eine Theorie der Gruppendynamik, die besagt, dass bei der Entstehung einer Gruppe vier Stadien durchlaufen werden: die Formung, das Storming, das Norming und das Durchführungsstadium.50 Es ist interessant zu sehen, wie die Aktivisten des disability-Bewegung bei ihrer Entstehung diesem Pfad gefolgt sind. Auch das Ringen um Gleichheit hat mit „forming“, „storming“, „norming“ und „performing“ zu tun. Im ersten Stadium muss sich die Gruppe noch finden und versucht zu entscheiden, welches Problem bewältigt werden soll, fixiert Prioritäten und erstellt die grundlegenden Regeln. In den 50er und 60er Jahren, als das medizinische Modell vorherrschte und sich ein leiser Ärger über die Art und Weise, 49 50
Details der DDA von 2005 siehe http://www.legislation.gov.uk/ukpga/2005/13/contents, und Equality Act siehe http://www.direct.gov.uk/en/DisabledPeople/RightsAnd Obligations/DisabilityRights/DG_4001068. Bruce Tuckman. http://www.freewebs.com/group-management/BruceTuckman(1).pdf, accessed 12.12.10.
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wie behinderte Personen behandelt wurden, breit machte, gab es verschiedene Typen von Organisationen, um behinderten Menschen zu helfen. Einige wurden von behinderten Personen selbst geleitet, wie die DDA („disabled drivers association“). Andere wiederum waren bedeutende Wohltätigkeitsorganisationen, wie die RNOB, Eltern Organisationen, wie die MENCAP und solche, die als Einzel-Schwäche Wohltätigkeitsorganisationen bekannt waren und deren Hauptziel in den meisten Fällen darin bestand, Heilung zu finden.51 Davis besagt, dass ‚Die erste Woge eines Kampfes beinhaltet, eine Identität gegen die gesellschaftlichen Definitionen aufzubauen, die durch Unterdrückung geformt wurden. […] Die erste Phase also impliziert ein Zusammenziehen von Kräften, eine Übereinkunft über politisches Ende und Gruppensolidarität, gepaart mit dem stillschweigenden Einverständnis für ein Programm über Grundrechte und Verbote geben diverse Diskriminierungen und Ausgrenzungen‘.52 Die frühen Jahre der Behinderten Bewegung wurden dominiert von den Bemühungen der Menschen mit physischen Behinderungen. Die Haupt akteure in der frühen Bewegung in England, Paul Hunt53 Mike Oliver, Vic Finkelstein, Jane Campbell, Mairian Corker, Jenny Morris, waren alle Menschen, welche die intellektuellen und akademischen Fähigkeiten besaßen, die Kämpfe auszufechten, die sich mehrheitlich um den barrierefreien Zugang zu Gebäuden und Institutionen im weiteren Sinne drehten. Da gab es Kämpfe und Unterstützung, um behinderten Menschen zu ermöglichen, die Schranken der Institutionen verlassen zu können, um sich mit größerer Autonomie bewegen und selbst die Wahl des Lebensumfeldes treffen zu können. Betrachten wir den Beginn der Behinderten Bewegung, so erwähnen Campbell und Oliver, dass sehr häufig besondere Probleme die Menschen zusammenbrachten.54 Die Erwerbstätigkeit war eines, Mobilität ein anderes, Erreichbarkeit ein drittes. Die Haltung der patriarchalischen Wohlfahrts organisationen wurde weithin verurteilt. Es liefen zum Beispiel Kampagnen für Behindertentoiletten. Das Stadium des Stormings kam, als Debatten über die Prioritäten der Kampagnen geführt wurden. Es gab Gedränge und interne Kämpfe über Positionen und Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Prio ritäten. Einige Personen versuchten auch, von innen heraus die existierenden Organisationen zu reformieren, jedoch war diese Art der Bemühung weitestgehend erfolglos. Die Ankunft des BCODP (British Council of Disabled People) signalisierte den Beginn des Lobbying für mehr Beschäftigungsmög51 52 53 54
Beispiele beinhalten die Multiple Sclerosis Society, die Muscular Distrophy Society und was früher als die Spastics Society bekannt war, nunmehr umbenannt in SCOPE. Davis, Bending over Backwards: Disability, Dismodernism, and Other Difficult Positions. Viele betrachten Paul Hunt, der einmal einen Brief schrieb, der im Guardian veröffentlicht wurde, als einen der ersten disability-Aktivisten. Campbell and Oliver, Disability Politics: Understanding Our Past, Changing Our Future.
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lichkeiten und Unterstützung bei der Arbeitssuche. Es wurde beanstandet, dass es nicht-behinderte Personen waren, die alles in der Hand hatten und leiteten. Im Gegenteil dazu war der BCODP eine Basisorganisation ohne Vermögen, in dem es Spannungen zwischen individuellen und kollektiven Zielen gab, wo jedoch eine allgemeine Übereinstimmung herrschte, dass das soziale Modell der Schlüssel zur Entwicklung ist. Das Norming begann, als die Menschen die Möglichkeiten erkannten, die sich eröffneten, als das soziale Modell auf Behinderung angewendet wurde. Das soziale Modell entstand, als Menschen mit Behinderungen begannen, die vorherrschende Anschauung zu hinterfragen, ihre Behinderungen und ihre Probleme seien durch ihre Beeinträchtigungen verursacht worden. Stattdessen ist es die Gesellschaft, die Barrieren konstruiert, welche verhindern, dass behinderte Menschen so funktionieren, wie sie es gerne hätte, und nicht die Beeinträchtigungen, unter denen diese Personen leiden. Davis vermerkt hierzu ‚Impairment is the physical fact of lacking and arm or a leg. Disability is the social process that turns an impairment into a negative by creating barriers to access.‘55 Es gab Bereiche großer Unsicherheit, wie den Grad der politischen Einbindung, und ob man sich mit einer Partei verbünden oder auf überparteiliche Unterstützung hoffen sollte. Es gab einige nennenswerte Massendemonstrationen, wie die bei Elephant und Castle im Jahre 1988, und Proteste über den Telethon.56 Eine gemeinsame Charakteristik dieser frühen Aktivisten war, dass die meisten der Mittelklasse entstammten und sehr gebildet waren. Sie hatten gewichtige Stimmen und setzten diese auch sehr effektiv ein, um für Gleichberechtigung zu werben, Barrieren niederzureißen und bestehende Strukturen herauszufordern. Dies galt auch für die großen Wohltätigkeitsorganisationen, die bis zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich von nicht-behinderten Personen geführt wurden, welche eine patriarchalische Haltung gegenüber den Menschen, die sie vertreten sollten, angenommen hatten. Diesen Personen kam das soziale Modell gerade recht, öffnete Türen, lieferte Erklärungen für ihren Ausschluss aus der Gesellschaft und gab ihnen die Argumente, um die vorherrschenden Anschauungen in Frage zu stellen. Wenn die einzige Hürde, die es zu nehmen galt, ein Fehlen von rollstuhlgerechten Zugängen war und Gesetz dem Fall, dass genug Geld vorhanden und strukturelle Ände-
55 56
Davis, Bending over Backwards: Disability, Dismodernism, and Other Difficult Positions. Behinderte Aktivisten waren gegen den Telethon weil er die persönliche Tragödie emphasiert, etwas, das wie sie dachten, der Vergangenheit angehöre. Der Elephant and Castle Protest, der von dem BCODP organisiert wurde, beinhaltete auch einen ‚sit-in‘ in der Nähe des Hauptsitzes. Behinderte Personen saßen auf dem Boden, parkten ihren Rollstuhl und blockierten damit die Strasse aus Protest, weil der zuständige Minister sich weigerte die behinderten Menschen anzuhören. Als Ergebnis des Social Security Act von 1988 wurden die Einkommen der behinderten Personen gekürzt.
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rungen möglich waren, dann gab es keinen adäquaten Grund, warum eine behinderte Person nicht überall hin können sollte. Als die Hauptarbeitsgebiete, die es zu bewältigen galt, feststanden, war das Leistungsstadium erreicht. Zwei Schlüsselbewegungen zu jener Zeit waren die ‚Disability Alliance‘ (DA) und die ‚Union of Physically Impaired Against Segregation‘ (UPIAS). Einige waren inspiriert von dem, was sie in den Centres for Independent Living (CIL) in den USA gelernt hatten. Zusammenfassend argumentieren sie, dass zwei Faktoren den größten Einfluss auf die Entstehung der Behinderten Bewegung hatten. 1. Behinderte Personen haben erkannt, dass sie nicht denselben Wohlstand genossen wie das restliche Großbritannien ab den 60er Jahren. 2. Wohnheime gaben ihren Bewohnern nicht die Mindesfreiheiten. Wie schon zuvor erwähnt, war es die Unzufriedenheit, sowohl mit Partei politik als auch mit bestehenden Wohltätigkeitsorganisationen, gekoppelt mit dem Einfluss der Bürgerrechtsbewegung, die half, die Behinderten Bewegung in den frühen Tagen aktiv werden zu lassen. Hauptthemen waren Kritik an der staatlich und freiwillig organisierten Wohlfahrt, der Kampf um ein unabhängiges Leben, Kampagnen gegen Diskriminierung, eine Zunahme der Selbsthilfe-Initiativen und bestehende, negative Stereotypen herauszufordern. 3.5 Aktuelle Trends und Tendenzen
Simi Linton widmete ein Kapitel in ihrem Buch, Claiming Disability, dem Versuch, das Studium der Behinderung von den Hochschulen zurückzuverlangen, da sie das Gefühl hatte, es werde dort marginalisiert. Linton beanstandet unter anderem die Art und Weise, wie behinderte Personen von akademischen Forschern vergegenständlicht werden, um vielleicht frei von Subjektivität zu sein und die wissenschaftliche Genauigkeit aufrecht zu erhalten. Sie findet auch, dass die akademische Welt der medizinischen, mit ihrer Überbetonung der Intervention, Behandlung, Prävention und Heilung, zu ähnlich ist. Die Hochschule betrachtet Behinderung als ein Problem, welches es zu lösen gilt, was zu einer Favorisierung deterministischer Erklärungen führt. Obwohl, dank des sozialen Modells, die akademische Welt die Behinderten Bewegung inspiriert hat, beobachten Campbell und Oliver, dass an diesem Punkt in unserer Geschichte die Angemessenheit des sozialen Modells von behinderten Personen selbst in Frage gestellt wird.57 Es scheint wichtig, nicht am sozialen Modell zu hängen, wenn dieses nicht mehr zweckmäßig ist. Laut 57
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Tom Shakespeare bedeutet die Ablehnung des sozialen Modells jedoch kein Ende des politischen Aktivismus. Was Shakespeare am sozialen Modell missfällt, ist das Beharren auf dichotome Unterschiede, z. B. Gesellschaft v. Medizin (individuell), Beeinträchtigung v. Behinderung. Er befindet, dass andere Modelle, wie das Modell der Minderheiten, welches speziell in Nordamerika entstanden ist, und das Nordic Relational Modell hilfreiche Alternativen anbieten. Letzteres erachtet eine Behinderung als ein Ungleichgewicht zwischen dem Individuum und der Umwelt, bezieht situationsbedingte Aspekte mit ein (e. g. eine blinde Person ist nicht behindert, wenn sie Radio hört) und besagt, dass eine disability relativ und auf einem Kontinuum eingetragen ist, nicht im Rahmen einer Dichotomie verstanden werden solle. Diese Dichotomien sind nur Kennzeichnungen, stattdessen sollten wir an ein Kontinuum denken. Shakespeare schlägt vor, ‚sich jenseits von dichotomen, binären Klassifizierungen wie Natur/Kultur, Körper/Geist und Beeinträchtigung/Behinderung zu bewegen‘.58 Machtkämpfe waren eine Besonderheit der frühen Tage der Behinderten Bewegung. Diese fanden zwischen der existierenden Ordnung, regiert von nichtbehinderten Personen, einer ‚ableist‘ Gesellschaft und den aufkommenden Stimmen der behinderten Aktivisten statt. Heutzutage haben sich die Machtkämpfe verändert. Es ist schwierig, die Macht der Hochschule und der Basisorganisation in Balance zu halten. Es gibt Unstimmigkeiten über die Nützlichkeit und die Relevanz des sozialen Modells für die Behinderten Bewegung. Weiters gibt es Bedenken über die Lokalisation der Macht in Zeiten des eigenständigen Lebens. Jeder einzelne davon wird der Reihe nach behandelt, bei dem Versuch aktuelle Trends und Tendenzen zu betrachten. Eigenständiges Leben wird manchmal als wegweisend propagiert, allerdings bringt dies auch Probleme mit sich. Im dritten Teil eines Buchs von Shelley Tremain59 befindet sich ein Kapitel mit der Überschrift ‚Supported Living and the Production of Individuals‘ von Chris Drinkwater, der die Frage aufwirft: ‚What new forms of power are at play in the new practices of inclusive living?‘60 Er scheint zu unterstellen, dass wir die alten Institutionen dämonisieren und die Betreuung in der Gemeinschaft begrüßen, jedoch birgt auch dies Probleme. Foucault beobachtet, dass sich Machtgefüge gemäß der unten angeführten Tabelle geändert haben:61
58 59 60 61
H. Meekosha, „Body Battles: Bodies, Gender and Disability.“ The disability reader: Social science perspectives (1998). Shelley Tremain, „Foucault and the Government of Disability.“ In: Corporealities (University of Michigan Press, 2005), http://www.loc.gov/catdir/enhancements/fy0632/2004 059878-d.html. C. Drinkwater, „Supported Living and the Production of Individuals.“ Foucault and the government of disability (2005). Adaptiert von ibid., p. 230.
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Alter Stil
Moderner Stil
souveräne Macht hierarchisch juristisch negativ Macht, die abrechnet und misst
Universelle Macht, die kein Zentrum hat von der Basis ausgehend um eine Norm verbreitet positiv und produktiv hoch spezialisiert und lokalisiert
Dies scheint zu bedeuten, dass, obwohl eine behinderte Person, die eigenständig lebt, augenscheinlich Kontrolle über ihr Leben hat, dies in Realität nicht immer der Fall ist. Drinkwater beobachtet, wie Machtverhältnisse in betreuten Wohneinheiten operieren. Das Ziel der Unterstützung ist, dass Menschen sich anpassen und dementsprechend benehmen. Tun sie das, passen sie besser in die Gesellschaft. Der Begriff, den er hier verwendet, lautet ‚social role valorization‘ (SRV) und bedeutet die soziale Position von Personen zu würdigen. ‚Valued behaviours are commended; non valued behaviours, if not exactly punished, must be seen by the service user to be associated with undesired outcomes. At the least, service users must be made aware that their actions produce consequences. This is what it is to learn the meaning of responsibility.‘62 63 Es scheint, dass Menschen mit Behinderungen noch immer benachteiligt sind, obwohl es zumindest oberflächlich so aussieht, als seien sie den Nichtbehinderten gleichgestellt. Die Behinderten Bewegung hat seit ihrer Entstehung viel erreicht. Die Stimmen der behinderten Personen wurden erhört und bekamen Recht, sie genießen mehr Freiheit und Auswahlmöglichkeit als je zuvor. Nichtsdestotrotz gilt es immer noch Kämpfe auszufechten, und es ist notwendig, Kampagnen für Gleichheit und mehr Chancen zu führen, insbesondere in Bezug auf die Erwerbstätigkeit. 4. Behinderung und soziale Gesetzesauslegung
Im vorangegangenen Abschnitt forderte das soziale Modell das medizinische Modell heraus. Das soziale Modell war so allgegenwärtig in den Studien über Behinderungen der vergangenen Jahre, dass es einer detailierteren Betrach62 63
Ibid. An example of the kind of problems that independent living can bring is when people with learning difficulties travel on public transport and experience hostility because other passengers do not understand their needs. Coping with the stresses of travelling on public transport is hard enough at the best of times. When a man with learning difficulties hit another passenger, after some provocation, he was warned that if he did it again he would be arrested.
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tung seiner Theorie und Begleiterscheinungen bedarf. Der Exkurs in die Thematik der mentalen und kognitiven Behinderung soll eine Argumentation für die nächsten Abschnitte dieser Arbeit liefern, wenn die theologischen Aspekte der Menschen mit solchen Behinderungen diskutiert werden. 4.1 Kontextualisierung der Behinderung
Der Grad der Schwierigkeiten, den eine behinderte Person erfährt, hängt sehr von den Umständen ab. Zum Beispiel sind jene, die auf eine akustische Kommunikation angewiesen sind, in einer belebten, sehr lauten Umgebung behindert, während jene, die die Zeichensprache verwenden, ungestört kommunizieren können, ungeachtet des Lärmpegels im Hintergrund. Behinderung ist ein Produkt komplexer Interaktion zwischen Personen und deren Umfeld. Ein Versuch, diese Komplexität zu berücksichtigen, wird durch den Postmodernismus gemacht. Titchkosky unterstützt den Bedarf einer postmodernen Herangehensweise an Behinderung, weil dadurch die unzähligen Erfahrungen der Menschen und ihre Vergänglichkeit interpretiert werden können. ‚The postmodern turn, with its focus on the uncertain and ambiguous character of social life and identity, allows for uncovering interpretive relations that lie at the heart of making up the meaning of disabled people.‘64 Eine ähnliche Anschauung wird von Davis und Watson unterstützt, welche ‚Meta-Geschichten und allgemeine Theorien, zu Gunsten von lokalen Geschichten und bruchstückhaften und zufälligen Einsichten‘, ablehnen.65 Postmodernismus führte auch zu der Akzeptanz, die mehr durch Komplexität, als durch Vereinfachung das Verständnis von Behinderung geprägt hat. Corker und Shakespeare sagen: „What postmodern ideas have noted, however, is that people’s lives are far more complex than modernism likes to believe and that they choose to engage with this complexity.“66 Sie erkennen an, dass dies bedeutet, dass es schwierig ist, Behinderung in einfacher Sprache und für jedermann verständlich zu erklären. Behinderte Personen übten häufig Kritik an der akademischen Gemeinschaft, indem sie ihr vorwarfen, ihre Leben mit komplexem Fachjargon zu verschleiern. Tatsächlich war das Verhältnis zwischen professionellen Akademikern, welche über Behinderung schrieben, und behinderten Personen meist ein angespanntes.67 64 65 66 67
Titchkosky, „Cultural Maps: Which Way to Disability?“ J. Davis and N. Watson, „Countering Stereotypes of Disability: Disabled Children and Resistance.“ Disability/postmodernity: Embodying disability theory (2002), p. 160. M. Corker and T. Shakespeare, Disability/Postmodernity: Embodying Disability Theory (Continuum Intl Pub Group, 2002). Um einen klaren und nützlichen Bericht über verschiedene Aspekte der Debatte über passende Forschungsmethoden zu erhalten, siehe Geof Mercers Artikel ‚From Critique
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4.2 Das soziale Modell
Das soziale Modell vertritt die Ansicht, dass Behinderung von der Gesellschaft konstruiert ist. Dies eröffnet natürlich Möglichkeiten für den Gleichheitsdiskurs – wir haben es hier auch mit Wertentscheidungen zu tun. Ein Grundgedanke des sozialen Modells ist die Unterscheidung zwischen Behinderung und Beeinträchtigung. Lennard Davis erklärt in Bending over Backwards, wie das soziale Modell zeigt, dass Beeinträchtigung durch die Barrieren der Gesellschaft zur Behinderung wird. Er weist auch darauf hin, dass sich gezeigt hat, dass vermeintlich feststehende Kategorien doch nicht so starr sind. Ein Beispiel dafür ist die Rasse, welche nicht genetisch definiert werden kann. Sogar das Geschlecht ist dehnbarer, als früher angenommen, wie wir das anhand von transsexuellen Personen sehen können. Ethnizität ist eine andere Kategorie, ohne klare Grenzen, und so sehen wir all diese Dinge als Teil eines Kontinuums, genauso wie es die Behinderung ist. ‚What we are discussing is the instability of the category of disability as a subset of the instability of identity in a postmodern era.‘68 Hauptthesen der sozialen Gesetzesauslegung sind, dass die Probleme von behinderten Personen daraus resultieren, dass sich die Gesellschaft ihrer Bedürfnisse nicht angemessen annimmt, dass das Entfernen von Barrieren verhindert, dass aus Beeinträchtigung eine Behinderung wird, und dass gesellschaftliche Veränderungen den Menschen mit Beeinträchtigungen zu ihren rechtmäßigen Positionen verhelfen können, die denen der Menschen ohne Beeinträchtigungen gleichgestellt sind. Als dieses Modell zum ersten Mal vorgestellt wurde, wurde es mit großer Begeisterung von der Behinderten Gemeinschaft aufgenommen. Im Lauf der Zeit allerdings scheint es, dass das soziale Modell nicht fähig war, jede beeinträchtigte Person von ihrer Behinderung zu entbinden. Gründe dafür werden im nächsten Abschnitt erforscht, in dem das soziale Modell kritisiert wird. 4.3 Kritik am sozialen Modell
Kritik am sozialen Modell kann in drei Stichwörtern zusammengefasst werden: das Problem der falschen Dichotomie, Ethnozentrismus und das Bedürfnis nach einem umfassenderen Ansatz. Diese werden der Reihe nach betrachtet, gefolgt von zwei Vorschlägen für alternative Modelle, namentlich Resistenztheorie und das Limit Modell.
68
to Practice: emancipatory disability research‘. http://www.leeds.ac.uk/disability-studies/ archiveuk/Barnes/implementing%20the%20social%20model%20-%20chapter%208. pdf. Davis, Bending over Backwards: Disability, Dismodernism, and Other Difficult Positions.
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Shakespeare behauptet, dass frühere Versuche, Behinderung zu definieren, reduktionistisch waren, und zitiert kulturellen, biologischen und ökonomischen Reduktionismus als gegenwärtig. In Realität ist Behinderung eine Interaktion zwischen individuellen und strukturellen Faktoren.69 Er lehnt es ab, dass das Denken an Behinderung ausschließlich in Zusammenhang mit Unterdrückung und Barrieren geschieht. Das Kontinuum und die Inter aktion sind wichtige Teile des Ganzen. Der interaktionistische Ansatz berücksichtigt auch die persönlichen Faktoren, die das soziale Modell übersieht oder ignoriert. ‚Impairment is not the end of the world, tragic and pathological. But neither is it irrelevant, or just another difference.‘70 David Wasserman ist ein weiterer Autor, der den interaktionistischen Ansatz favorisiert, wenn es um die Gründe für Behinderung geht. Er sagt, dass die Limitierungen, welche mit Beeinträchtigung in Zusammenhang gebracht werden, ein gemeinsames Produkt von biologischen Charakteristiken, Umweltfaktoren und persönlichen Zielen sind.71 Das würde anregen, dass sowohl das medizinische als auch das soziale Modell hilfreiche Beiträge erbringen und dass es ein Fehler ist, die beiden in Opposition zu bringen. Weiters argumentiert er, dass vorzugsweise die falsche Dichotomie zwischen Biologie und Gesellschaft als Ursache von Behinderung abgelehnt wird und ein Übergang zwischen Ursache und Verantwortung geschaffen wird – um die Gesellschaft für die Linderung der Nachteile verantwortlich zu machen, egal ob sie von ihr verursacht wurden oder nicht.72 Währenddessen anerkennt Carol Thomas, dass keine klare Unterscheidung zwischen Beeinträchtigungen und deren Auswirkungen herrscht, indem sie anmerkt, dass in jedem Leben Auswirkungen von Beeinträchtigung und Behinderung in einer einzigartigen und komplexen Weise ineinandergreifen.73 Simi Linton kritisiert insbesondere, dass einige Ansätze zum Thema Behinderung in diametralem Gegensatz stehen. ‚Disability studies introduces contradiction into the polarized categories of weak and strong, normal and abnormal, revered and reviled, dependent and independent, expendable and essential. It reveals these as false dichotomies, and reveals the epistemological underpinnings of the privileged position in each pair.‘74 Sie erläutert hier, dass solche falschen Dichotomien nicht nur nutzlos sind, sie führen auch dazu, dass behinderte Personen weiter an den Rand gedrängt werden, indem sie in die Position der Unterlegenen gebracht werden. 69 70 71 72 73 74
Shakespeare, „Disability Rights and Wrongs.“ Ibid. D. Wasserman, „Philosophical Issues in the Definition and Social Response to Disability.“ Handbook of disability studies (2001). Ibid. C. Thomas, „Developing the Social Relational in the Social Model of Disability: A Theoretical Agenda.“ (2004). Linton, Claiming Disability: Knowledge and Identity.
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In ihrem Buch Disability Discourse verteidigen Mairian Corker and Sally French den Diskurs als Schlüssel, um die beiden getrennten Ansichten von Behinderung und Beeinträchtigung zu verflechten.75 Sie erläutern, dass das soziale Modell auf der Idee der Gegensätze basiert, die sich nie treffen. Dem gegenüber versuchen sie in ihrem Buch, diese zwei Teile wieder zusammen zu bringen. Susan Gabel, die an Depressionen leidet, zeigt in einem Kapitel dieses Buches einige Probleme mit dem gegenwärtigen Diskurs über Behinderung auf. Eines besteht darin, dass der Fokus auf physische Beeinträchtigungen liegt und all jene ignoriert werden, deren Beeinträchtigungen nicht sichtbar sind. Das zweite Problem ist, dass, indem man Behinderung als gesellschaftlich verursacht betrachtet, die individuellen Aspekte außer Acht gelassen werden. Ihrer Meinung nach ist Behinderung nicht etwas, das jemandem von außen zugefügt wurde. Sie schlägt folgende Sichtweise vor: ‚Discourse as the construction of meaning, experience as the impetus for discourse, and the body as the medium through which discourse flows through experience to meaning‘.76 Dies zeigt auf, welch essentielle Eigenschaften Integration und Interaktion sind, statt behinderte Personen an das Ende eines Kontinuums, an die Peripherie von Normalität zu platzieren, was lediglich Polarisation und Isolation zur Folge hat. Ein anderer Kritikpunkt an dem sozialen Modell ist sein Ethnozentrismus. John Swain macht deutlich, dass behinderte Personen ihre Beeinträchtigungen, abhängig von ihrem Umfeld, in den verschiedensten Arten und Weisen erleben. Er zeigt auf, wie das soziale Modell entstanden ist: „The social model of disability was born from the experiences of disabled people in the Western minority world.“77 Erörtern wir, wie Behinderung in nicht-westlichen Gesellschaften gesehen wird. Hierzu eine interessante Bemerkung von Anita Ghai, einer indischen Forscherin, die beobachtet, dass ‚ in a culture where pain and suffering are often accepted as karma (fate) and learned helplessness becomes a life trait, consideration of disability as a social issue is a difficult goal‘.78 Ghai betont auch den großen Einfluss von Armut in Indien als Ursache von Behinderung. ‚In Entwicklungsländern wie Indien werden Beeinträchtigungen häufig durch Armut verursacht. Die Prävalenz von Beeinträchtigungen, hauptsächlich Polio und Blindheit, ist bei Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, mindestens viermal so hoch als bei denen, die darüber sind‘.79 In der abschließenden Erklärung zu diesem Buch plädiert Shakespeare für einen vielseitigeren, offeneren Ansatz bei Studien zum Thema Behinderun75 76 77 78 79
M. Corker and S. French, Disability Discourse (Open University Press, 1999). S. Gabel, „Depressed and Disabled: Some Discursive Problems with Mental Illness.“ Disability discourse (1999). J. Swain, Disabling Barriers, Enabling Environments (Sage Publications Ltd, 2004), p. 54. A. Ghai, „3 Marginalisation and Disability: Experiences from the Third World.“ Disability and the life course: Global perspectives (2001), p. 35. Ibid., p. 29.
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gen. Er sagt: ‚Rather than being restricted by social model orthodoxy, disability studies should be pluralist, valuing analytical rigour and open debate.‘80 Dieser Pluralismus wird von Tobin Siebers unterstützt, der die Theorie der komplexen Verkörperung als Mittel benutzt, die Vorteile zu verdeutlichen, die eine interaktionistische Sicht des Themas Behinderung mit sich bringt.81 Das soziale Modell hat am medizinischen Modell immer kritisiert, zu viel Gewichtung auf den Körper zu legen, während das soziale Modell dafür kritisiert werden kann, den Körper zu ignorieren. Eine ausgeglichenere, wenngleich komplexere Sichtweise würde alle Aspekten der Darstellung Rechnung tragen. Auch Susan Gabel fordert Eklektizismus als Alternative zum sozialen Modell. ‚Konzeptionelle Rahmenbedingen, welche fördern, dass Erfahrungen mit Behinderung auf einfache Weise interpretiert werden können, und die Kritiken an dem starken sozialen Modell deuten darauf hin, dass das soziale Modell in der Zukunft ersetzt werden könnte‘.82 Eine Alternative, welche flexibler ist, wird als Resistenztheorie bezeichnet. Resistenz ist etwas, das immer schon da war, Resistenz gegenüber dem medizinischen Modell, gegenüber Stigma, und anderen Formen von Unterdrückung. Resistenz, argumentiert sie, ist eine multidimensionale Dialektik auf vielen Ebenen, innerhalb derer Druck und Zug, Geben und Nehmen, Dekonstruktion und Rekonstruktion zwischen Spielern aller Niveaus in der sozialen Welt, stattfindet.83 Beth Creamer hat ein Kapitel in ihrem Buch über Theologie und Behinderung mit der Überschrift ‚ ‚Limits and Disability Theology‘ betitelt, welches einen dritten Weg einschlägt, um die Defizite beim medizinischen und sozia len Modell zu eliminieren. Das Limit Modell weist darauf hin, dass erstens Limits keine überraschende Charakteristik der Menschheit sind.84 Zweitens besagt es, dass Limits ein intrinsischer Aspekt der menschlichen Existenz sind – Teil von dem, was Menschsein ausmacht. Die Konsequenz daraus ist drittens, dass Limits gut sind – oder zumindest nicht schlecht. Ein Abschnitt zum Thema ‚Interpretation der Taubheit‘ betrachtet die Identität der Gehörlosen und wie die Gemeinschaft der Gehörlosen viele konventionelle Ansichten über Behinderung herausfordert. Betrachtet man die Taubheit, ist es möglich zu sehen, wie das Limit Modell helfen kann, die Auffassung von Behinderung zu überdenken. Ja, gehörlose Personen sind limitiert, da sie beispielsweise den Feueralarm nicht hören können oder auch kein Essen in 80 81 82 83 84
Shakespeare, „Disability Rights and Wrongs.“ Tobin Siebers, „Disability Theory.“ In: Corporealities; Variation: Corporealities (University of Michigan Press, 2008), http://www.loc.gov/catdir/toc/ecip087/2007052247.html. S. L. Gabel, Disability Studies in Education: Readings in Theory and Method (Peter Lang Pub Inc, 2005). Ibid. Creamer, Disability and Christian Theology: Embodied Limits and Constructive Possibilities.
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einem drive-in Restaurant bestellen können. Allerdings sind Personen, die hören können, genauso limitiert, da sie nicht miteinander kommunizieren können, wenn die Umgebung sehr laut ist, genausowenig können sie von den Lippen der Personen lesen, die außer Hörweite sind. 4.4 Eine kritische Evaluierung
Das soziale Modell lieferte einen herausragenden Beitrag zur Behinderten Bewegung zu einer Zeit, als neue Paradigmen gebraucht wurden. Die Entstehung der Behinderten Bewegung wurde erleichtert durch die neue Denkweise über Behinderung und Beeinträchtigung, welche aus der Derivation des sozialen Modells resultierte. Postmodernismus machte es ebenso möglich, sich von dem dogmatischen, wissenschaftlichen Ansatz des medizinischen Modells wegzubewegen und ermöglichte sowohl Akademikern als auch behinderten Personen, neue Wege einzuschlagen um ihr Leben zu leben. Der Einfluss des sozialen Modells war jedoch hauptsächlich den akademischen Kreisen vorbehalten. Die meisten behinderten Personen haben nie vom sozialen Modell gehört. Es hatte nur sehr wenig Einfluss auf die alltäglichen Probleme, denen sich behinderte Personen gegenübersahen. Transport und Gebäude mögen nun leichter zugänglich sein, als sie es noch vor fünfzig Jahren waren, allerdings existieren immer noch enorme Ungleichheiten im Bereich Beschäftigung, und, nachdem dies so eng mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit verbunden ist, ist es bei behinderten Personen immer noch wahrscheinlicher, dass sie unter der Armutsgrenze leben als bei ihren nichtbehinderten Mitmenschen. Eine andere Schwachstelle der sozialen Gesetzesauslegung von Behinderung ist deren determinierende Ansicht, dass der Behinderung eine einzelne Ursache zu Grunde liegt. Biologischer Determinismus dominiert das medizinische Modell, währenddessen ökologischer Determinismus das Standbein des sozialen Modells ist. Beide Erklärungen zeigen die Tendenz, die Freiheit des Willens im Leben der Menschen zu ignorieren. Forschungsarbeiten, in denen Fallstudien verwendet werden, können dies hervorheben. Wenn man über das individuelle Leben von Personen mit Behinderungen liest, die ihre eigenen Entscheidungen darüber getroffen haben, wie sie mit ihren Beeinträchtigungen umgehen, kann man leicht die Ansicht verwerfen, dass die Konsequenzen einer bestimmten Beeinträchtigung unausweichlich sind. Die nächste Generation von disability-Aktivisten ist erst am Anfang ihrer Reise und es wird interessant sein zu sehen, wie sich ihre Geschichten in den kommenden Jahrzehnten entwickeln. Wir können hoffen, dass es ein Weg zu wachsendem Gleichheitsverständnis ist. In jedem Fall ist der Umgang mit „disability“ ein Gradmesser für die Verwirklichung des Gleichheitsgedankens in einer Gesellschaft.
Stephanie Eldridge
Gleichstellung als ein europäischer Wert mit besonderem Bezug zu sexueller Ausrichtung Untergräbt die Gesetzgebung für Homosexuelle die gleiche Respektierung und Berücksichtigung der Interessen heterosexueller Bürger? Eine Analyse mit Fokus auf das Vereinigte Königreich.
Die Europäische Union (EU) gründet sich auf ‚die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit‘.1 In Übereinstimmung mit dem ersten Freiheitsrecht der Charta der Menschrechte der Vereinten Nationen – ‚Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren‘2 – erachtet die EU Gleichstellung als von grundlegender Bedeutung. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union hält fest: ‚Alle Personen sind vor dem Gesetz gleich.‘3 Da Gleichstellung damit ein fundamentales Ideal ist, sowohl für die EU als auch für ihre Mitgliedsstaaten, ist es eine ebenso wichtige Frage, ob alle Mitglieder diese Auffassung von Gleichstellung wahren. In Bezug auf sexuelle Ausrichtung hat sich die Debatte in Europa so weit entwickelt, dass Homosexualität nicht länger kriminalisiert wird und homosexuelle mit heterosexuellen Personen gleichgestellt sind. Zuletzt wurde dies durch Diskussionen über die gleichgeschlechtliche Ehe und rechtliche Anerkennung von homosexuellen Beziehungen vorangetrieben. Dies beruht auf der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), welche erläutert: ‚Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter haben das Recht, nach den innerstaatlichen Gesetzen, welche die Ausübung dieses Rechts regeln, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen‘4 und folglich, gemäß der
1 2 3 4
European Union, Charter of Fundamental human rights, abgerufen unter: http://www. europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf (Zugriff am 25.10.2012). United Nations, declaration of human rights, abgerufen unter: http://www.un.org/depts/ german/grunddok/ar217a3.html (Zugriff am 10.1.2012). Article 20, European Fundamental Charter on Human Rights, abgerufen unter: http:// www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf (Zugriff am 25.10.2012). Article 12, European Convention on Human Rights, abgerufen unter: http://www. europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf (Zugriff am 25.10.2012).
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Charta der Grundrechte der Europäischen Union: ‚Diskriminierungen, insbesondere wegen … der sexuellen Ausrichtung, sind verboten.‘5 Während Diskriminierung aufgrund sexueller Ausrichtung daher definitiv verboten ist, ist das Ausmaß, in dem homosexuelle Personen gleiches Recht auf die rechtliche Anerkennung ihrer Beziehung und auf Gründung einer Familie haben, abhängig von der Zulässigkeit des jeweils unabhängigen nationalen Rechts. Die EMRK verkündet die Gleichstellung homosexueller Personen als einen wichtigen Wert und erlaubt jedem Staat, diese Gleichstellung nach eigenem Ermessen in die Praxis umzusetzen. In dieser Diskussion möchte ich mich auf die Gleichstellung von homosexuellen Personen durch die Gesetzgebung im Vereinigten Königreich konzentrieren. Ich werde versuchen darzulegen, dass die gegenständlichen Rechtsvorschriften einen Kipppunkt in der ausgewogenen Balance zwischen homosexuellen und heterosexuellen Personen darstellen. Das, was einst der Kampf für die Gleichstellung im Interesse homosexueller Personen war, hat sich zu einem Unterfangen entwickelt, das die Interessen bestimmter heterosexueller Personen zu untergraben beginnt; der Impuls für die Gleichberechtigung hat für manche Mitglieder zu einer Ungleichheit geführt. In der folgenden Diskussion werde ich zunächst den Begriff der politischen Gleichstellung vorstellen, da dieser Begriff zentral für das Modell ist, mit dem ich arbeiten möchte. Dies beinhaltet auch die Schaffung einer Definition von Gleichstellung, welche im Rahmen dieser Abhandlung benutzt werden wird. Darauf aufbauend werde ich zwei Fallstudien vorstellen, um zu veranschaulichen wie die Ausarbeitung von Rechtsvorschriften im Interesse Homosexueller effektiv die Interessen Heterosexueller untergraben haben und damit eine Ungleichheit im Sinne der Definition geschaffen wurde. Die beiden gegenständlichen Fälle sind: die Änderung im Gesetz zur Menschlichen Fortpflanzung und Embryologie 1990 bis 2008 (forthin HFEA) in welchem die Streichung der ‚Vater-Klausel‘ die Interessen heterosexueller Väter untergräbt, und die Änderung des Gleichstellungsgesetzes von 2010, welches die Interessen gläubiger Menschen unterminiert. Im Anschluss an meine Analyse der Fallstudien werde ich darzulegen versuchen, dass in der Ausarbeitung der Gesetze nicht alle Bürgerinteressen klar repräsentiert, geäußert oder geachtet wurden und folglich der Beschluss und die Anwendung solcher Gesetze zur Verletzung der Interessen bestimmter heterosexueller Personen führt. Dies führt mich schließlich zur Fragestellung, ob Gleichstellung ein erreichbares Ziel darstellt oder ob solch ein Interessenskonflikt weiterhin zu Ungleichheit in einer Gruppe der Gesellschaft führen wird.
5
Article 21, European Fundamental Charter on Human Rights, abgerufen unter: http:// www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_en.pdf (Zugriff am 25.10.2012).
Gleichstellung als ein europäischer Wert
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Gleichstellung und politische Gleichstellung
Da Gleichstellung für die Europäische Union so zentral ist und als Wert als allen Menschen und Staaten innewohnend erachtet wird, sollte die Auffassung des Begriffs universeller Natur sein. Eine Recherche des Begriffs ‚Gleichstellung‘ führt jedoch zu einem anderen Schluss. Dworkin bestätigt dies in seiner Definition: ‚Equality is a contested concept, people who praise or disparage it, disagree about what it is they are praising or disparaging.‘6 Wenn man die Beziehung zwischen sexueller Ausrichtung und der Gleichstellung für alle Bürger eines Staates und der Mitgliedsstaaten der EU untersucht, ist die geeignetste Definition, um den Wert von Gleichstellung zu verstehen, die von politischer Gleichstellung. Politische Gleichstellung ist, nach Dahls Auffassung, ‚a fundamental premise of democracy‘7, in welcher Demokratie nicht nur Regierung durch das Volk bedeutet, sondern ‚a political system for governing a state that derives from legitimacy and its political institutions, from the idea of political equality‘.8 Deshalb kann politische Gleichstellung verstanden werden als ‚the extent to which citizens have an equal voice over government decisions‘.9 Wenn wir anerkennen, dass Leben, Freiheit und Glück keines Menschen höher oder niedriger ist als das eines anderen, dann müssen wir jeden als gleichwertig erachten. Dahl legt nahe, dass eine Regierung ‚the principle of intrinsic equality‘ anerkennt, indem es ‚equal consideration of interests of all its citizens in a decision making process‘10 erteilt. Diese Auffassung von politischer Gleichstellung, in der alle Bürger als gleich angesehen werden, werde ich im folgenden als Grundlage für mein Verständnis von Gleichstellung verwenden. In dieser Hinsicht scheint es, als wären andere Auffassungen von Gleichstellung, wie Verteilungsgerechtigkeit, Gerechtigkeit oder die Maximierung von Nutzen, inkompatibel mit diesem Verständnis von Gleichstellung, da diese Konzepte auf die Verteilung von Reichtum und ökonomischen Gütern sowie die Maximierung dieser Güter gerichtet sind, während unsere Fragestellung sich mit dem Schutz von primären Gütern befasst: Rechten, Freiheiten, Vorrechten und Interessen. Zudem scheint es, dass Vertragstheorien und utilitaristische Theorien der Idee der Selbstverwaltung keinen Stellenwert einräumen und daher, wie Dahl nahelegt, in Konflikt mit der Idee einer ‚autonomous participations of persons‘ geraten.11
6 7 8 9 10 11
R. Dworkin, Sovereign Virtue – The Theory and Practice of Equality. Cambridge, Massachusetts 2002, 2. R. Dahl, On Political Equality. New Haven, 2006, 1 [Kindle Edition]. Ebenda, 6. Verba. R. Dahl, On Democracy. New Haven, 2000, 65. R. Post, Democracy and Equality, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 603:24 (2006), 31 oder 24.
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Um politische Gleichstellung im Sinne von ‚the equal consideration of interests of all citizens‘ zu erreichen, schlägt Dahl daher fünf Kriterien vor: ‚Effective participation, equality in voting, gaining enlightened under standing; final control of the agenda and inclusion of adults.‘12 Von diesen Voraussetzungen ist die erste, die wirksame Beteiligung (‚effective participation‘), die relevanteste für unsere Diskussion über gleiche Interessensberücksichtigung. Wirksame Beteiligung, wie Dahl schließen lässt, ist die Idee, dass ‚before a policy is adopted, all members of the democracy should have equal opportunities for making known to other members their views about what policy should be‘.13 Durch wirksame Beteiligung ist es jedem Bürger möglich, seine Interessen zu äußern und diese durch andere Mitglieder der Demokratie respektiert zu sehen. Tatsächlich führt Verba diesen Vorschlag durch die Definition von gleichgestelltem Mitwirkungsrecht als ‚equal protection of interests‘14 weiter aus. Er argumentiert: ‚Democracy implies the equal consideration of interests as it is instrumental in its ability to inform the government of one’s needs and preferences to pressure the government to pay attention, which is key to equal consideration.‘15 Daher ist es in einer Demokratie wichtig, dass die Interessen jedes Bürgers durch Beteiligung geäußert werden: Nur durch Beteiligung bekommt die Regierung einen umfassenden Einblick in die wahren Ansichten des Staatsvolkes zu einem Gesetzgebungsvorhaben. Gleiche Interessenberücksichtigung durch gleichgestellte Beteiligung ist nötig, um das Ziel oder Ideal von politischer Gleichstellung zu realisieren, welches wiederum grundlegend ist, um das Ziel einer demokratischen oder ‚gerechten‘ Gesellschaft zu erreichen. Basierend auf dieser Diskussion über die Zusammenhänge zwischen politischer Gleichstellung und Demokratie kann als Arbeitsdefinition von Gleichstellung formuliert werden: ‚Gleichstellung bedeutet die gleiche Berücksichtigung der Interessen Einzelner oder von Gruppen sowohl in Gesetzgebungsprozessen als auch in der Anwendung von Gesetzen zum Ziel und in Verwirklichung der gleichen Respektierung aller Bürger sowie einer gleichen und demokratischen Gesellschaft.‘ Während diese Definition von Gleichstellung den Vorsatz zum Ausdruck bringt, dass Gleichstellung auf den Interes sen aller Bürger beruht, ist sie insoweit problematisch, als es in der Praxis oft schwer ist, Interessenberücksichtigung zu erreichen. Wenn die Interessen aller Personen gleich berücksichtigt werden müssen, sind dann Gruppen in der Lage, ihre eigenen Interessen zu bestimmen? Wenn jeder Bürger als gleich anzusehen ist, welche Interessen überwiegen dann letztendlich und worauf 12 13 14 15
Ebenda, 9. Ebenda, 9. S. Verba, Thoughts about Political Equality. What is it? Why do we want it? Cambridge, Massachusetts, 1972, 2. Ebenda, 3.
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basiert die Entscheidung der Gleichstellung?16 Kurz gesagt, wenn politische Gleichstellung ein Ideal ist, ist sie auch erreichbar? Dahl beantwortet dies in seiner Diskussion über die Definition von Demokratie, in der es heißt: ‚Understood as a desirable goal, one probably not perfectly achievable in practice, but a standard to which we ought to aspire to.‘ 17 Folglich ist auch die Auffassung von ‚Gleichstellung‘ etwas, nachdem wir streben sollten, auch wenn sie dennoch unerreichbar bleibt. Eben diese Feststellung soll in Bezug auf sexuelle Ausrichtung untersucht werden. In Bezug auf die Gleichstellung Homosexueller konzentrieren sich die Bestrebungen darauf, gleiche Rechte wie für Heterosexuelle zu erreichen. Peter Tatchell18, ein führender Kämpfer für die Rechte Homosexueller, legt nahe, die Kampagne der Homosexuellen vor allem auf die rechtliche Gleichbehandlung zu konzentrieren.19 Jedoch bedeutet, wie Dworkin richtig einwirft, gleiche Behandlung nicht notwendigerweise Gleichstellung: ‚There is a difference between treating people equally with respect to one or another commodity or opportunity and treating them as equals.‘20 Obwohl Tatchell zustimmend sagen würde ‚the same is not equal‘, würde er ebenso argumentieren, dass ‚equality is not enough‘ und dass Homosexuelle mehr erreichen müssen.21 Hier vertrete ich eine andere Meinung als Tatchell. Meiner Meinung nach haben Homosexuelle bereits Gleichberechtigung erreicht, da ihre Interessen gleichwertig berücksichtigt werden und sich die Gesetzgebung in einem Ausmaß entwickelt hat, das ihre Rechte denen Heterosexueller gleichstellt. Jedes weitere Gesetz birgt das Risiko, die Interessen hetero sexueller Bürger zu untergraben und damit Ungleichheit in der Gesellschaft zu schaffen. Ich untermauere diese Einschätzung mit den folgenden beiden Fallstudien, in denen die Interessen von Vätern und religiösen Organisationen vernachlässigt wurden und nicht ausreichend Berücksichtigung erhalten haben, um als gleichwertig im Gesetzgebungsprozess und seinem Ergebnis gelten zu können.
16 17 18 19 20 21
R. Dahl, On Political Equality. New Haven, 2006, 4 [Kindle Edition]. Ebenda, 6. P. Tatchell, Equality is not Enough – Talk given at Stamford Street Lecture Theatre, Waterloo, King’s College London, 21.2.2012. Ebenda. R. Dworkin, Sovereign Virtue – The Theory and Practice of Equality. Cambridge, Massachusetts, 2002, 11. Ebenda.
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Erste Fallstudie: IVF und Änderung im HFE Gesetz 2008
Die Änderung im HFE Gesetz von 2008 zeigt ein Beispiel, in dem die Novellierung des bestehenden Gesetzes von 1990 mit dem Vorsatz einer Gleichstellung zwischen Homosexuellen und Heterosexuellen zu schaffen dazu geführt hat, dass die Interessen einer gesellschaftlichen Gruppe, nämlich die der Väter, untergraben wurden. Ich werde kurz die Änderungen des Gesetzes, auf das ich mich beziehe, darstellen und den Motiven für eine solche Novellierung nachgehen, als auch Reaktionen und Probleme ansprechen, die sich in Parlamentsdebatten ergaben, bevor ich der Frage nachgehe, ob die Interessen aller involvierten Gruppen berücksichtigt wurden und ob sie unter der neuen Gesetzgebung immer noch gleichgestellte Berücksichtigung erhalten. Das HFE Gesetz
In den HFEA 1990 Lizenzbestimmungen22 legt die ‚Human Fertilisation and Embryology Authority‘ folgendes fest: ‚A Woman shall not be provided with treatment services unless account has been taken of the welfare of any child who may be born as a result of the treatment (including the need of that child for a father) and of any other child who may be affected by birth.‘23 Hinsichtlich der elterlichen Verantwortung sind Ehemann und Ehefrau für das Kind verantwortlich, außer sie sind aus irgendeinem Grund davon befreit. Daher ist eine Mutter definiert als: ‚The woman who is carrying or has carried a child as a result of the placing in her of an embryo‘24, wodurch keine andere Frau als Mutter des Kindes angesehen werden kann. Der Vater wird durch zwei Klauseln festgelegt: ‚Through marriage, as the husband of the previously defined mother and as the sperm donor.‘25 Die Änderung im HFEA 2008 lautet wie folgt: „In subsection (5) – (b) omit for ‚a father‘ and substitute ‚supportive parenting‘.“26 Hier kann man an der Streichung sehen wie die ‚Notwendigkeit eines Vaters‘ (‚need for a father‘) berücksichtigt wird, wenn man um IVF Behandlung ansucht. Darüber hinaus gibt es in den Voraussetzungen zur Vaterschaftsvereinbarung eine neue Sektion für ‚Woman in civil partnerships at the time of treatment (cases 22 23 24 25 26
HFEA 1990 cc37, 13.1 (5). Ebenda. HFEA 1990 C37, Subsection 27, ‚Meaning of Mother‘. Ebenda, Subsection 28, ‚Meaning of Father‘. HFEA 2008 cc 22, 14 (2), (b) Conditions of licenses of treatment.
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in which women are to be the other parent)‘.27 In diesem Abschnitt ist klar dargelegt, dass ‚If at the time of placing in her of the embryo … W [women] was party to a civil partnership, then … the other party to civil partnership is to be treated as a parent of the child.‘28 Dies zeigt eindeutig, dass Personen in einer Lebenspartnerschaft IVF-Behandlung erhalten können, ohne Berücksichtigung der Rolle des Vaters oder eines männlichen Vorbilds. In den Bestimmungen zur elterlichen Verantwortung wird festgesetzt: ‚Where a woman is to be treated as a parent of the child, no man is to be treated as the father of the child.‘29 Dies wird von vielen als die rechtliche Anerkennung dafür gesehen, dass im Fall von IVF keine Notwendigkeit für einen Vater besteht und damit zwei gleichgeschlechtliche Partner dazu berechtigt sind, als Eltern eines Kindes anerkannt zu werden. Das Problem
Als 2008 die Änderung im Gesetz erschien, führte dies zu einem wütenden Angriff der Medien gegen das Komitee, welches die Änderungen vorgeschlagen hatte. Schlagzeilen wie ‚ No Need For a Father‘30, ‚Another Blow to Fatherhood‘31 und ‚IVF – No Father will be Required‘32 drückten die negative Stimmung gegen dieses Gesetz aus und unterstreichen einen der Haupt einwände gegen die derzeitige Rechtsprechung; denn, während lesbische Frauen aus Sicht des Komitees mehr Gleichberechtigung erhalten, wurde die Rolle und der Status des Vaters untergraben. Dies ist ein Punkt der sowohl in Debatten im Oberhaus als auch im Unterhaus vorgebracht wurde, sowohl während der Vorlage des Gesetzes als auch später in einem Artikel von Julie McCandless. Die Begründung für die ‚Vater-Klausel‘ im Gesetz von 1990 fußte auf einer Debatte im Oberhaus, in der Bedenken über das Kindeswohl geäußert, Stabilität als wichtiger Faktor erachtet und die Familienstruktur in dieser Hinsicht als gesellschaftliches Ideal angesehen wurden. Dementsprechende Argumente bestimmten die Debatte 1990: ‚[S]uch stability is clearly linked to the marital position of the woman and in particular whether a husband or a long term partner can play a 27 28 29 30 31 32
Ebenda, section 42. Ebenda, section 42 (1). Ebenda, section 45 (1). M. Taggart, IVF Chief – No Need for a Father, in: Daily Mail. F. McRae, Another Blow to Fatherhood – IVF Mothers can Name ANYONE as ‚father‘ on birth certificate, in: Daily Mail, 21.3.2009. N. Fleming, IVF – No Father Required, in: The Telegraph, 13.7.2006.
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full part in providing the child with a permanent family setting in the fullest sense of the term, including financial provision.‘33 Folglich wurde eine Familie, bestehend aus Mutter und Vater, als die stabilere Option im Vergleich zu einem alleinerziehenden Elternteil oder gleichgeschlechtlichen Eltern angesehen. Desweiteren wurde vorgebracht, dass ‚children created by a government-regulated treatment should at least have a mother and a father … The Government are currently trying to make fathers responsible for maintenance payments. Is it not contradictory in this Bill to allow the creation of fatherless children?‘34 Dies zeigt einen der Hauptgründe für die Einführung der ‚Vater-Klausel‘ auf; sie geht auf die Probleme von vaterlosen und zerrütteten Familien ein. McCandless legt nahe, dass der Gesetzesentwurf zu einer Zeit geschrieben wurde, als zunehmend Bedenken aufkamen bezüglich der sozialen Sicherheit alleinerziehende Eltern, sowie der Kosten und Vorsorge zur Aufrechterhaltung der Kinderfürsorge.35 Der Gesetzesentwurf wurde als Signal für die Bedeutung einer ‚traditionellen Familie‘ hinsichtlich der Kindeserziehung und ihrer generellen Bedeutung für die Gesellschaft angesehen. Dabei ist aus der ‚Notwendigkeit eines Vaters‘ noch nicht zwangsweise das Vorhandensein eines Ehemanns noch eine festgelegte männliche Figur innerhalb der Familie abzuleiten, sondern vielmehr muss in einem IVF Antrag die Bedeutung einer generellen ‚Vaterfigur‘ berücksichtigt werden. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass Kinder durch Beispiele lernen: ‚It is by example that a boy learns how to be a responsible husband and father and how to treat his own children in turn … So the father is enormously important as a role model.‘36 Die Notwendigkeit eines Vaters oder eines anderen männlichen Vorbilds wurde 1990 als wichtig erachtet, da es Kindern dabei helfen würde zu lernen, wie man Zuneigung ausdrückt, Beziehungen zueinander aufbaut und die zugeordnete Geschlechter rolle annimmt. Während das Komitee auch Kinder berücksichtigte, die aus Familien kamen, in denen Familienrollen kaum mustergültig verteilt waren, argumentierte es, dass dies nicht der Norm entsprechen würde, aber dass es immer noch besser sei, zwei Elternteile verschiedener Geschlechter zu haben, als einen alleinerziehenden Elternteil oder gleichgeschlechtliche Eltern.37 Die Notwendigkeit eines Vaters wurde deshalb im Gesetz verankert, um ihre
33 34 35 36 37
HL Debs, Col 1097, 6.3.1990. Ebenda, The Lord Chancellor, Col 1102. J. McCandless, S. Sheldon, ‚No Father Required?‘ The Welfare Assessment in the Human Fertilisation and Embryology Act, in: Springer Science and Business Media B. V. (2010), 3.11.2010, 204. HL debs, Lady Saltoun of Abernethy, col 788s, 6.2.1990. M. Warnock, Report of the Committee of Inquiry into Human Fertilisation and Embryology, London, 1984, 11.
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Bedeutung für die Gesellschaft zu signalisieren, und sie sollte in Anträgen zur IVF-Behandlung berücksichtigt werden. Desweiteren, wie McCandless unterstreicht, ‚[t]he text of the 1990 Act did not translate this stricture into a ban on treating anyone other than stable heterosexual couples‘.38 Die Notwendigkeit des Vaters war einfach als Rat für IVF-Antragsteller gedacht und bedeutete nicht, dass einem Paar, ohne Ehemann oder männlichen Partner, die Behandlung verweigert worden wäre. Dies wurde eher als die optimale Beziehung um ein Kind aufzuziehen konzipiert, wie Mary Warnock ausführt: ‚A single woman or lesbian couple have a right under the European Convention to have children even though those children may have no legal father … nevertheless we believe that as a general rule, it is better for children to be born into a two-parent family, with both father and mother.‘39 Zum Wohle des Kindes dachte das Komitee deshalb, dass die IVF-Behandlung eher einem heterosexuellen, verheirateten Paar zugänglich sein sollte als einem gleichgeschlechtlichen Paar, um nochmals die Auffassung der ‚tradi tionellen Familie‘ zu bestärken. Artikel 8 der EMRK garantiert jedoch jeder Person das ‚right to found a family‘40 und aufgrund dessen darf gegen lesbische Paare und deren Berücksichtigung für IVF auch keine Benachteiligung erfolgen. Vielmehr liegt die Entscheidung im Ermessen des Klinikarztes: ‚Hard and fast rules are not applicable … this will place a heavy burden of responsibility on the individual consultant who must make social judge ments.‘41 McCandless fragt daher, warum Bestrebungen unternommen werden, um etwas in der Gesetzgebung zu ändern, das in der Praxis bereits durchgeführt wird.42 Diese Positionierung wird durch Entwicklungen in der siebten Ausgabe des Verhaltenscodex unterstützt, welcher feststellt: ‚The assessment should be carried out in a non-discriminatory way. In particular, patients should not be unfairly discriminated against on grounds of gender, 38 39 40 41 42
J. McCandless, S. Sheldon, ‚No Father Required?‘ The Welfare Assessment in the Human Fertilisation and Embryology Act, in: Springer Science and Business Media B. V. (2010), 3.11.2010, 203. M. Warnock, Report of the Committee of Inquiry into Human Fertilisation and Embryology, London, 1984, 10–12. European Convention for Human Rights, Council of Europe, Rome, 4th November, 1950, Article 8. M. Warnock, Report of the Committee of Inquiry into Human Fertilisation and Embryology, London, 1984, 12. J. McCandless, S. Sheldon, ‚No Father Required?‘ The Welfare Assessment in the Human Fertilisation and Embryology Act, in: Springer Science and Business Media B. V. (2010), 3.11.2010, 201.
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race, disability, sexual orientation, religious belief or age.‘43 Erstens lässt sich daraus schließen, dass, während ein heterosexuelles Paar bevorzugt wird, es keine Verpflichtung oder Notwendigkeit gibt, in einer heterosexuellen Partnerschaft zu sein und zweitens, durch die Entwicklungen des dazugehörigen Verhaltenscodex, das Problem der Benachteiligung aufgrund sexueller Ausrichtung berücksichtigt ist. Die Auslegung dieser Vorschriften und Verhaltenskodizes ist umstritten, aber in der Theorie sollte keine Benachteiligung aufgrund sexueller Ausrichtung geschehen und IVF-Behandlung sollte lesbischen Eltern nicht verwehrt sein. Stattdessen wird nur Sorge um das Kind zum Ausdruck gebracht, in einer heteronormativen Umgebung aufzuwachsen sowie die Notwendigkeit der Vaterrolle zu berücksichtigen, was, wie wir bereits festgestellt haben, ebenso eine Vaterfigur sein kann. Greg Clarke, Unterhausabgeordneter für Tunbridge Wells, unterstützte während der Debatte über das Gesetz von 2008 im Unterhaus das Gesetz von 1990. Er brachte vor, dass zwei enge Freunde, die in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung lebten, ein Kind unter den Bestimmungen des Gesetzes von 1990 empfangen hatten: ‚They are expecting a child in the next three months who was conceived under the present legislation, which has been entirely permissive in allowing them to do that.‘44 Durch dieses Beispiel wird ersichtlich, dass das Gesetz von 1990, teilweise aufgrund der Entwicklungen durch den Verhaltenskodex in 2007, allen, die ein Kind durch IVF bekommen wollen, gleichwertige Berücksichtigung erteilt. Es drängt sich daher die Frage auf, worin die Notwendigkeit für die Novellierung des Gesetzes 2008 bestand. Das Gesetz von 2008
Die Änderung in der Gesetzgebung war das Ergebnis der scheinbaren Notwendigkeit, Gleichstellung für lesbische Paare hinsichtlich der IVF-Behandlung zu erreichen. Obwohl dargelegt wurde, dass Gleichstellung bereits bestand, fassten viele die aktuelle Formulierung, im Besonderen den Ausdruck ‚Notwendigkeit eines Vaters‘, als diskriminierend gegenüber lesbischen Paaren auf und sahen in dieser Form eine Barriere auf dem Wege zu einem erfolgreichen Ansuchen um Behandlung. In den Debatten des Unterhauses wurde durchaus vorgebracht, dass „there is a lack of clarity in the current law … why are we saying ‚we are not really overtly discriminating against lesbians or single women, but if we are, the Human Rights Act will sort it out?‘“45 Hier liegt das Problem für manche Unterhausabgeordnete und auch Kämp43 44 45
The Human fertilisation and Embryology Authority, Code of Practice, 7th edition – R.4. (London: HFEA, 2007) G.3.2.2. HC Debs, Greg Clarke, Col 184, 20.5.2008. HC Debs, Emily Thornberry, Col 176, 20.5.2008.
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fer für die Rechte Homosexueller, denn wenn das Gesetz von 1990 Lesben auch nicht aktiv benachteiligte, führte die Unklarheit doch zu Verwirrung. Darüber hinaus sollte es nicht an der EMRK liegen, diese Benachteiligung auszugleichen, sondern die Gesetzgebung des Vereinigten Königreiches sollte dieses Problem bekämpfen, falls Personen die Behandlung in Anspruch nahmen, sich benachteiligt fühlten, besonders in Bezug auf Baroness Warnocks Bemerkungen zur Bedeutung von heterosexuellen Paaren.. Allerdings erklärt dies nach wie vor nicht die Notwendigkeit des Ausdrucks ‚unterstützende Elternschaft‘ (‚supportive parenting‘) und die Streichung von ‚Notwendigkeit eines Vaters‘. In den Unterhausdebatten im Umfeld des Gesetzes von 2008 brachte Ian Duncan Smith seine Argumentation zur Notwendigkeit der Beibehaltung der ‚Vater-Klausel‘ vor. Er stellte dabei fest, dass, um Gleichstellung beizubehalten, das Wort ‚Vater‘ erhalten werden müsse und, um nicht zu diskriminieren, müsste ‚and a mother‘46 ergänzt werden. Seine Beweggründe bestanden erneut im Wohle des Kindes und der Notwendigkeit, Familien zu erhalten. Da Familien mit zerrütteten Familienverhältnissen, ohne Väter und mit alleinstehenden Müttern, bereits eine Realität darstellten, sollten dann Familien, die durch staatlich-regulierte Technologie geschaffen werden, nicht so reguliert werden, dass sie den erwarteten Standards von Pflege und Fürsorge entsprechen, wozu nach wie vor ein männliches Vorbild zählt? ‚The fact that fathers bring something more profound to the parenting process, has for too long been taken for granted … the absence of fathers has a detrimental effect on children.‘47 Indem man die Bestimmungen betreffend des Vaters streicht und sie mit ‚unterstützende Elternschaft‘ ersetzt, nimmt man die gesamte Rolle des Vaters heraus und erkennt ihre Bedeutung für das Familienleben und ihren Einfluss auf Kinder nicht an. Jeder hat das Recht, eine ‚Familie zu gründen‘48, weshalb verweigert daher die Gesetzgebung Vätern dieses Recht? Während es wichtig ist, dass Paare jeder Ausrichtung und Zusammensetzung fähig sind, dieses Menschenrecht zu erfüllen, ist es ebenso wichtig, dass Vorsorge für das Kind getroffen wird und dass keine Person durch diese Änderung in der Gesetzgebung diskriminiert wird. Wie Tom Loughton richtig im Unterhaus erklärte: ‚I am concerned about the undermining of the role of fathers, the message sends out about fatherhood and the resulting effect on our children’s welfare‘49 und weiter: ‚Legislation that says that fathers are no longer necessary to the nucleus of a family reinforces that dangerous feeling that many fathers already experience.‘50 Die Debatte im Unterhaus unterstreicht das Problem 46 47 48 49 50
HC Debs, Ian Duncan Smith, Col 166, 20.5.2008. HC Debs, Ian Duncan Smith, Col 168, 20.5.2008. European Convention of Human Rights, Article 8, Rome, 1950. HC Debs, Tim Loughton, Col 210, Mai 2008. Ebenda, Tim Loughton, Col 212.
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der Ungleichheit, das dadurch gegeben ist, dass die Änderung in der Gesetzgebung die Rolle des Vaters untergräbt und dieser Rolle ihrer Bedeutsamkeit beraubt. Des weiteren ist es fraglich, was der Ausdruck ‚unterstützende Elternschaft‘ erreicht. McCandless stellt ganz richtig fest, dass die Phrase nur als Kompromiss entstand51 und, wie Baroness Warnock vorbringt, ist diese Phrase ‚a vague phrase‘52, ohne tatsächlicher inhaltlicher Bestimmung. Obwohl Lord Dazi versuchte, den Ausdruck im Oberhaus zu definieren53, wurde keine Definition ins Gesetz übernommen. Nach der Streichung von ‚Notwendigkeit eines Vaters‘ scheint die Phrase ‚unterstützende Elternschaft‘ wenig zur Hervorhebung der Bedeutsamkeit der Rolle der Eltern beizutragen. Ohne zu gewichten, was mit ‚unterstützend‘ gemeint ist, scheint es, dass die Phrase dem Kinderwohl eher abträglich ist, da der Begriff auf vielfältige Weise interpretiert werden kann. Während die Verantwortung zur Interpretation dieser Phrase, erneut beim Klinikarzt liegt, ist der Ausdruck äußerst mangelhaft in Bezug auf die soziale Absicherung des Kindes und verstößt gegen dessen Normierung. Vor diesem Hintergrund scheint es, als wäre alles, was das HFE Gesetz von 2008 erreicht hat, die Untergrabung der Rolle des Vaters; außerdem bietet es wenig Orientierung in Bezug auf elterliche Pflichten. Während es verständlich ist, dass die Bedeutungszuweisung von dem, was Martha Fineman als ‚Sexual Family‘54 beschreibt – mit heterosexuellen und gesetzlich verheirateten Eltern –, im Gesetz von 1990 als diskriminierend betrachtet werden kann, ist das Gesetz selbst nicht diskriminierend. Dagegen ist das Gesetz von 2008 durch die völlige Missachtung des Stellenwertes der Vaterschaft und des Vorhandenseins eines männlichen Vorbildes im Leben eines Kindes seinerseits diskriminierend. In Bezug auf Gleichstellung in diesem Fall und die immer umfassenderen Entwicklungen und Änderungen in der Gesetzgebung zugunsten von Homosexualität stellt sich die Frage, ob ein Schwinden des Status, der Rolle und der Berücksichtigung der Interessen von Heterosexuellen, in diesem Fall von Vätern, zu konstatieren ist.
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J. McCandless, Sheldon, S., ‚No Father Required?‘ The Welfare Assessment in the Human Fertilisation and Embryology Act, in: Springer Science and Business Media B. V. (2010), 3.11.2010, 217. Baroness Deech, HL Debs, Vol 698, Col 61, 21.1.2008. Vgl. Lord Dazi of Denham, HL Debs, Vol 698, Col 448, 28.1.2008. J. McCandless, S. Sheldon, The Human Fertilisation and Embryology Act (2008) and the Tenacity of the Sexual Family Form, in: Modern Law Review (73/2), 185.
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Zweite Fallstudie: Abschluss von Lebenspartnerschaften im religiösen Raum, an religiösen Orten
Eine weitere Analyse eines Gesetzgebungsvorhabens mit dem Ziel einer Gleichstellung Homosexueller weist auf einen erneuten Gleichstellungsmangel in der Berücksichtigung der Interessen anderer hin. Es handelt sich um die Novellierung des Lebenspartnerschaftsgesetzes im Gleichstellungsgesetz von 2010, zum Zweck, Lebenspartnerschaften, die im räumlichen Bereich religiöser Gemeinschaften geschlossen wurden, offiziell zuzulassen. Um diese Novellierung zu besprechen, ist es zunächst notwendig, das Lebenspartnerschafsgesetz (2004) in Relation zum Gleichstellungsgesetz zu betrachten. Anschließend werde ich die Auswirkungen dieser Rechtsvorschriften in Bezug auf die Kirche von England besprechen. Obwohl dieses Gesetz jede Religion betreffen wird, liegt es außerhalb des Rahmens dieses Aufsatzes, die Folgen für andere Religionen zu besprechen. Sich auf die Kirche von England zu konzentrieren ist logisch, da sie die Rolle der staatlichen Kirche einnimmt. Ihre Position ist komplex, sowohl aufgrund ihrer theologischen Perspektive als auch ihrer Position, in welcher es dem Klerus rechtlich und spirituell erlaubt ist, Ehen ohne die Anwesenheit eines Standesbeamten55 zu schließen. In diesem Fall werde ich argumentieren, dass die Interessen der Kirche von England, welche von ihrem theologischen Standpunkt aus Homosexualität ablehnt, nicht geschützt wurden und dass sie keine teilnehmende Rolle erhielt, bevor das Gesetz beschlossen wurde und ihre Interessen daher nicht im vollen Ausmaß berücksichtigt wurden. Das Lebenspartnerschaftsgesetz von 2004
Das Lebenspartnerschaftsgesetz, 2004 beschlossen, war das erste Gesetz im Vereinigten Königreich, welches gleichgeschlechtliche Partnerschaften anerkannte und ihnen die gleichen Rechte wie heterosexuellen Paaren einräumte. Das Gesetz von 2004 erlaubt gleichgeschlechtlichen Paaren ihre Partnerschaft einzutragen und gewährt die gleichen Vorteile in Bezug auf Eigentum im Todesfall und Steuervorteile wie z. B. die ‚Married couple’s allowance‘.56 Das Lebenspartnerschaftsgesetz erlaubt die legitime und rechtliche Anerkennung einer homosexuellen Beziehung, gleichgestellt mit der Ehe. Während die 55 56
Marriages and Civil Partnerships, abgerufen unter: http://www.direct.gov.uk/en/ Government/citizensandrights/Registeringlifeevents/Marriagesandcivilpartnerships/ DG_175717 (Zugriff am 26.1.2012). Married Couple’s Allowance, abgerufen unter: http://www.direct.gov.uk/en/Money TaxAndBenefits/Taxes/BeginnersGuideToTax/IncomeTax/Taxallowancesandreliefs/ DG_078312 (Zugriff am 26.1.2012).
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Besprechung der gleichgeschlechtlichen Ehe über die Grenzen dieses Aufsatzes hinaus geht, ist es dennoch sachdienlich, die Unterschiede zwischen einer Lebenspartnerschaft und einer Ehe zu erläutern, bevor wir damit fortfahren, das Gleichstellungsgesetz von 2010 und seine Folgen zu erklären. Inwiefern unterscheiden sich Ehe und Lebenspartnerschaft?
Abgesehen von den religiösen Aspekten einer Ehe57 gibt es nur wenige und subtile Unterschiede zwischen einer Lebenspartnerschaft und der Ehe. Erstens, eine Lebenspartnerschaft entsteht, sobald der zweite Partner das Lebenspartnerschaftsdokument unterzeichnet. Im Gegensatz dazu entsteht eine Ehe durch die Worte innerhalb einer Heiratszeremonie.58 Zweitens, eine Lebenspartnerschaft kann nicht annulliert werden, falls die Partnerschaft nicht vollzogen wurde und kann nicht durch Ehebruch aufgelöst werden, was bei einer Ehe möglich ist.59 Schließlich ist im Originalgesetzestext von 2004 festgelegt, dass eine Lebenspartnerschaft nicht an religiösen Orten geschlossen werden darf, welche definiert sind als ‚used solely or mainly for religious purposes, or have been so used and have not subsequently solely or mainly for other purposes‘.60 Dies beruht auf der Tatsache, dass die gleiche Anerkennung von Partnerschaft und Heirat sowie aller folgenden Rechte aufgrund einer rechtlichen Satzung erteilt wurde und nicht aus einer religiösen Tradition.61 Der Vorsatz des Lebenspartnerschaftsgesetzes war daher die Gleichstellung der rechtlichen Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen in Bezug auf Rechte und Vorteile: Paare sollten gleich behandelt werden wie verheiratete, andersgeschlechtliche Partner im Sinne von Einkommen und damit verbundenen Vorteilen und Beihilfen.62 ‚Treated the same‘ bedeutet in diesem Fall gleiche Anerkennung von Rechten, nicht gleiche oder ähnliche Behandlung. Daher unterscheiden sich Lebenspartnerschaften von Ehen 57
58 59 60 61 62
Heirat wird in der Kirche von England von der Generalsynode definiert als ‚a faithful, committed permanent and legally sanctioned relationship between a man and a woman [and] is central to the stability and health of human society. It continues to provide the best context for the raising of children‘ (GSMisc 843b). Sie basiert auf den Bibeltexten aus: Genesis 1:27–28. Christliche Ehe ist hier zwischen Mann und Frau definiert, welche als Gottes Ebenbild erschaffen wurden. Der Fokus liegt auf ‚männlich und weiblich‘ und erkennt keine ‚gleichgeschlichtliche‘ Vereinigung oder Partnerschaft an. M. Harper, Downs, M., Londells, K., Wilson, G., Civil Partnership – The New Law, Bristol, 2005, 41. Ebenda. Civil Partnership Act 2004, C. 33, Part 2, Chapter 2, Registration procedure: general: Section 6 2 (a) and (b). M. Harper, Downs, M., Londells, K., Wilson, G., Civil Partnership – The New Law, Bristol, 2005, 40. Ebenda, 32.
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insoweit, dass ‚marriage is a separate and special relationship … To recognise civil partnership is not, in any way, to denigrate or downgrade marriage. It is to recognise the fact that many people want to live their lives in different ways‘63, und daher werden sie rechtlich befähigt, dies zu tun. Dazu kann argumentiert werden, dass die Schaffung des Lebenspartnerschaftsgesetzes das Interesse Homosexueller, ihre Partnerschaften rechtlich anerkannt zu sehen, realisiert. Gleichstellungsgesetz von 2010
2010 wurde das Gleichstellungsgesetz geändert, so dass religiöse Orte und Räumlichkeiten Grundstücke für den Abschluss von Lebenspartnerschaften genutzt werden können: 2 ‚Omit section 6 (1) (b) and (2) (prohibition on use of religious premises for registration of civil partnership)‘ (4) In that section, after subsection (3), insert – (3A) For the avoidance of doubt, nothing in this Act places any obligation on religious organisations to host civil partnerships if they do not wish to do so.64 Das Gleichstellungsgesetz erlaubt nun auch die amtlich Beurkundung von Lebenspartnerschaften an religiösen Orten. Die Motivation dafür liegt im Wunsch religiöser Organisationen, wie der Quäker, Liberaler Synagogen und Unitarier, in ihren Gebetsstätten offiziell Lebenspartnerschaften schließen zu dürfen. Die neue Gesetzgebung ist jedoch immer noch soweit beschränkt, dass der Abschluss einer Lebenspartnerschaft keine religiöse Zeremonie darstellt oder dazu werden kann. Wenn die Abhaltung an einem religiösen Ort stattfindet, ist die Durchführung dem religiösen Oberhaupt nicht gestattet, religiöse Ausdrücke oder Symbole dürfen nicht verwendet werden, und der Bund ist nur dann rechtlich bindend, wenn ein Standesbeamter die Unterzeichnung des Lebenspartnerschaftsdokuments beaufsichtigt hat. Das Gleichstellungsgesetz erlaubt demnach zwar die Unterzeichnung des Dokumentes an religiösen Orten, der Vorgang darf allerdings nicht innerhalb oder als Teil einer religiösen Zeremonie geschehen. Es ist dem Paar erlaubt, nach Ermessen des Glaubensbekenntnisses, vor oder nach Unterzeichnung des Dokuments einen Gottesdienst zu halten, nicht aber während dieser Unterzeichnung.65
63 64 65
Ebenda, section 3.33–3.34. Equality Act 2010, C. 15, Part 16 – Civil Partnerships, Section 202. Equality Act 2010, C. 15, Part 16 – Civil Partnerships, Section 202, Col 1429.
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Diese Entwicklung in der Gesetzgebung berücksichtigt die Interessen jener Personen, die eine religiöse Dimension in ihrer Lebenspartnerschaft wünschen, wohl benachteiligt sie aber die Interessen derer, die aus theologischen Gründen homosexuelle Partnerschaften nicht anerkennen. Institutionen, wie die Kirche von England, die Homosexualität nicht anerkennen, sollten nicht verpflichtet sein, Lebenspartnerschaften auf ihren Grundstücken schließen zu lassen, ungeachtet dessen, ob es der rechtliche Aspekt einer solchen Zeremonie ist oder ein Gottesdienst im Umfeld der rechtlichen Anerkennung einer Partnerschaft, außer wenn die Kirche dies so.66 Wenn wir davon ausgehen, dass die Schaffung der Lebenspartnerschaft zur Gleichstellung der Interessen Homosexueller geführt hat, deren Partnerschaften rechtlich anerkannt sind und es ihnen praktisch auch erlaubt ist, den religiösen Aspekt zu feiern, sofern sie dies wünschen, worin besteht dann der Nutzen des neuen Gesetzes? Um auf die Frage der Gleichstellung zurückzukommen, so scheint im gegenständlichen Fall die Gesetzgebung für Ungleichheit zu sorgen, da die Interessen von Institutionen, die Homosexualität nicht anerkennen, nicht berücksichtigt werden. Es bleibt zu überprüfen, ob in dem Gesetzesprozess die Interessen der Kirche wirklich gleichwertig berücksichtigt wurden. Diskussion der Fallstudien und Auswirkungen für die Gleichstellung
Bei Betrachtung der beiden Fallstudien zeigen sich die Ungleichheiten zwischen der Entwicklung der Rechte Homosexueller und den Auswirkungen für die Gleichstellung. Im Überblick über die IVF Fallstudie wurde gezeigt, dass erstens die Formulierung des HFE Gesetzes von 2008, unter anderem aufgrund der Streichung der ‚Notwendigkeit eines Vaters‘, moralisch problematisch war. Es wurde im Unterhaus argumentiert, dass dies nicht nur die Vaterschaft untergraben würde, sondern auch dem Staat erlaubt, die Bedeutsamkeit eines männliches Vorbildes in der Kindererziehung in den Hintergrund zu drängen und damit das Kindeswohl zu verletzen. Des weiteren wurde vorgebracht, dass im ursprünglichen Gesetz von 1990 der Vorsatz darin lag, heterosexuelle, verheiratete Paare zu bevorzugen, das Gesetz aber dabei lesbische Paare nicht vom Ansuchen um IVF-Behandlung ausschloss
66
Die Position der Kirche ist nicht klar, da es widersprüchliche Aussagen gibt. Das Schriftstück Some Issues in Human Sexuality – A guide to the debate, veröffentlicht 2003, findet sich in der Aussage von 2005 wieder und kann als offizielle Haltung gelten. Dabei wird hier eine konservative und traditionelle Haltung eingenommen: Die einzig legitime Form sexueller Aktivität ist zwischen Mann und Frau und der einzige Rahmen für Geschlechtsverkehr ist im Kontext einer Ehe. Homosexualität wird als ‚disordered‘ und sündig gesehen, Homosexualität und Heterosexualität werden nicht als ‚equally congruous‘ anerkannt.
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oder benachteiligte. Tatsächlich gibt es Beispiele, in denen lesbische Paare erfolgreich durch eine solche Behandlung Kinder bekommen haben. Sowohl in der Theorie als auch der Praxis deckte das Gesetz alle Grundlagen ab und strich die Bedeutung der Vaterschaft in der Gesellschaft hervor. Aus diesen Gründen untergräbt die Streichung der ‚need for a father‘-Klausel die Institution der Vaterschaft wie auch die Interessen jener Personen, die rechtlich als Väter in IVF-Behandlung berücksichtigt werden sollten. Darauf aufbauend, ist es nun besonders wichtig zu zeigen, wie und warum Vaterschaft nicht mit Homosexualität gleichgestellt ist. In der vorhergehenden Erörterung über Gleichstellung wurde folgende Definition von Gleichstellung im Kontext dieses Aufsatzes vorgeschlagen: ‚Die Interessen jedes Bürgers oder jeder Gruppe von Bürgern sollen gleich berücksichtigt werden, sowohl in der Schaffung neuer Gesetze als auch der Anwendung dieser Gesetze.‘ Wenn man nun dieses Gleichstellungsprinzip auf die Fallstudie anwendet, so kann argumentiert werden, dass, während ein Vater immer noch das ‚Recht‘ auf ein Kind hat – in derselben Art und Weise wie nach dem Gesetz von 1990 ein lesbisches Paar das ‚Recht‘ auf ein Kind hatte – durch die Streichung der Notwendigkeit eines Vaters im Gesetz nun die Interessen von männlichen Vorbildern oder Vätern nicht mehr berücksichtigt werden. Die Gesetzgebung berücksichtigt nun nicht mehr die Interessen aller Mitglieder der Gesellschaft, wenn es darum geht, eine Familie zu schaffen oder in der Entscheidung für IVF. Durch die Streichung der Klausel wird der Eindruck erweckt, dass der Vater in solchen Entscheidungen keine Bedeutung hat, er kein notwendiger Teil einer Familie ist und es wichtiger sei, homosexuellen Paaren mehr Berücksichtigung zukommen zu lassen, selbst wenn deren Interessen bereits berücksichtigt werden. Zudem war es die Absicht der Klausel, das Kindeswohl in Hinsicht auf Schutz und ein ausgewogenen Lebens zu garantieren. Es kann argumentiert werden, wenn die ‚Vater-Klausel‘ nicht im Originalgesetzestext enthalten gewesen wäre, die Interessen aller Involvierten in die IVF gleich berücksichtigt worden wären. Was diesen Fall tatsächlich diskriminierend macht, ist die Streichung dieser Klausel zusammen mit den verbesserten Vorschriften für Personen in Lebenspartnerschaften. Durch die Streichung der Klausel wird der Eindruck erweckt, dass Väter nicht länger nötig seien. Im Sinne der Gleichstellung kommt dieser Mangel an Vorschriften zur Vaterschaft oder eines männlichen Vorbildes einer Nicht-Berücksichtigung ‚väterlicher‘ Interessen gleich. Außerdem ergibt sich ein Ungleich gewicht in Bezug auf die Interessen und Ansprüche homosexueller Personen, da ‚väterliche‘ Interessen nicht die gleiche Beteiligung erhalten. Das zweite Beispiel der Ausarbeitung von Rechtsvorschriften für Homo sexuelle zeigt eine andere Weise, in der Interessen untergraben werden. In der Untersuchung des Gleichstellungsgesetzes von 2010 zeigt sich, dass die Interessen der Kirche, welche Homosexualität aufgrund ihrer Lehren ablehnt, nicht in der Schaffung oder Ausführung solcher Gesetzgebung berücksich-
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tigt wurden. Das Gesetz eröffnete die Möglichkeit, Lebenspartnerschaften in Gebetsstätten zu schließen, bei voller rechtlicher Anerkennung, mit gleichen Rechten wie die Ehe, was einer vollen Gleichstellung der Lebenspartnerschaften Homosexueller bedeutet. Bei der Schaffung des Gesetzes fügte die Regierung eine Gewissensklausel ein, die es religiösen Institutionen erlauben sollte ‚auszusteigen‘ und für sich selbst zu entscheiden, ob sie die Schließung von Lebenspartnerschaften in ihrem Bereich zulassen wollen. Diese Klausel zeigt sich allerdings als problematisch für Institutionen wie die Kirche von England. Vor einer näheren Begründung dieser Problematik wird zunächst aber in Frage gestellt, ob eine solche Rechtsvorschrift nötig war, da sie etwas vollstreckt, was in der Praxis bereits möglich war. Ferner ist das Problem der gleichen Beteiligung im Gesetzesprozess zu berücksichtigen, bevor ich schließlich die Gleichstellung von Interessen in der Ausführung dieses Gesetzes betrachte und aufzeige, auf welche Art und Weise die Gewissensklausel von einem institutionellen Standpunkt aus ein Problem darstellen kann. Wie sich bereits in dem Vaterschaftsfall zeigte, konnten lesbische, schwule und bisexuelle Paare IVF-Behandlung erhalten und hatten diese Möglichkeit bereits vor dem neuen Gesetz; das Gesetz schien mehr Schaden zu verursachen, als die Interessen der Gesellschaft zu vertreten. Im zweiten Fall ist eine ähnliche Situation entstanden. Lesbische, schwule und bisexuelle Paare hatten in der Praxis die Möglichkeit, ihre Partnerschaft von religiösen Institutionen anerkennen zu lassen. Eine Notwendigkeit, dies durch Rechtsvorschriften zu formalisieren hat nicht bestanden. Als Konsequenz der Formalisierung werden nun die Interessen einer anderen gesellschaftlichen Gruppe untergraben. In derselben Art, in der religiöse Organisationen nicht befähigt waren, rechtliche Ehen abzuschließen, was Paare dazu zwang, sowohl eine standesamtliche Heirat als auch eine religiöse Zeremonie abzuhalten, hatten homosexuelle Paare die Möglichkeit, eine Lebenspartnerschaft zu schließen und, falls ihre religiöse Institution zustimmte, die Möglichkeit, dies mit einer Zeremonie oder einem Segen zu komplettieren. Dies wurde auch von Lord Harris in der Parlamentsdebatte hervorgehoben, in der er erklärte: ‚It is [already] possible for people to register their civil partnership legally and then move on to other premises for a religious ceremony.‘67 Hier wird belegt, dass Paare ihre Lebenspartnerschaft in ihrer Gebetsstätte feiern können, falls ihre Gebetsstätte dies erlaubt und sie wünschen, dies in Anspruch zu nehmen – in gleicher Art und Weise, wie es bei heterosexuellen, standesamtlichen Ehen möglich ist. Es scheint, dass man eine Unterscheidung machen kann zwischen zwei Personengruppen, die von Gleichheit und Ungleichheit sprechen: eine Gruppe kann offen sein für die Interessengleichstellung von Paaren, die eine religiöse Lebenspartnerschaft wünschen, sofern die religiöse Organisa67
Lord Harris of Pentregarth, HL Debs, Col 1428, 2.3.2010.
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tion dies billigt. Hier liegt aber das Problem in der Interessensgleichstellung der Kirche, die Homosexualität und homosexuelle Partnerschaften durch ihre theologischen Lehren ablehnt. In Bezug auf die Arbeitsdefinition – sowohl in der Schaffung neuer Gesetze als auch der Anwendung der Gesetze – wurden die Interessen von homosexuellen Paaren, die den Wunsch hegen, ihren religiösen Glauben mit ihrer Lebenspartnerschaft zu verbinden, berücksichtigt und die Änderung im Gesetz war unnötig und ihre Schaffung hat zur Untergrabung der Interessen gläubiger Menschen geführt. Auch in diesem Fall repräsentiert der Gesetzgebungsakt das Bedürfnis einer gesellschaftlichen Gruppe, ihre Interessen vertreten zu sehen, während die Interessen einer anderen Gruppe – die homosexuelle Beziehungen in ihrer Religion nicht als legitime Beziehung anerkennt – nicht voll berücksichtigt werden. Interessensberücksichtigung stellt tatsächlich einen Aspekt dar, der nicht nur in der Sinnhaftigkeit und Ausführung des Gesetzes ignoriert wird, auch im Gesetzesprozess wurden die Interessen nicht voll berücksichtigt. In unserer einführenden Diskussion über Gleichstellung wurde festgestellt, dass wirksame Teilnahme eine Voraussetzung für politische Gleichstellung ist. In den anfänglichen Parlamentsdebatten, bevor der Gesetzesentwurf königliche Zustimmung erhielt und Gesetz wurde, gab es sehr wenige Stimmen zur Unterstützung der Kirche. In der Debatte um Novellierung 53 am 2. März 2010, äußersten nur der Bischof von Bradford und Lord Waddington Bedenken und brachten das Interesse der Kirche, religiöse Freiheit zu bewahren, zur Sprache. Ihr Vorschlag war, der Sachlage mehr Zeit zu gewähren, damit die Interessen aller Involvierten berücksichtigt werden könnten: ‚My concern is that the amendment would create a muddle in an area that, because it touches on civil rights and religious freedoms, needs complete clarity in the interests of all concerned. I hope that the noble Lord will be willing to withdraw the amendment for a fuller discussion to take place on this matter.‘68 Diesem Wunsch wurde nicht stattgegeben und die beiden Sprecher wurden von jenen Unterhausabgeordneter überstimmt, die für das Gesetz eintraten. Damit konnte die Novellierung als Bestandteil des Gleichstellungsgesetzes beschlossen werden. Zur Zeit der Parlamentsdebatte zum neuen Gesetz wurde kein offizielles Dokument der Kirche vorgelegt und keine Reaktion gehört. Stattdessen wurden Reaktionen der beteiligten Gruppen erst gehört, nachdem das Gesetz beschlossen worden war, vor seiner Umsetzung. Es scheint auch, als wurde jeder Versuch der Partizipation ignoriert. Dass die Sachlage nach wie vor von der Kirche von England untersucht wird, was zu 68
Amendment 53, HL Debs, Vol 717, Col 1431.
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einer Erklärung der Generalsynode im Laufe des Jahres 2013 führen wird69, weist daraufhin, dass die Interessen der Kirche zum Zeitpunkt der Novellierung nicht voll berücksichtigt worden waren, sondern erst Berücksichtigung erfuhren, als der Antrag angenommen war. Diese Interpretation wird unterstützt durch die Tatsache, dass Lady O’Cathain im Dezember 2011 in ihrem Antrag, die Entscheidung zu annullieren, dieselben Einwände vorbrachte. Sie legte dabei nahe, dass die Interessen der Kirche nicht volle Einwirkung oder Berücksichtigung im Gesetzesprozess erhalten hatten. Dies zeigt den Gleichstellungsmangel in Bezug auf den gleichen Respekt ihrer Interessen. Jeglicher Versuch, die Interessen Beteiligter zu berücksichtigen, wurde in letzter Minute durchgeführt, bevor das Gesetz umgesetzt wurde, nicht vor der Gesetzgebung. Eine Anhörung zu Lebenspartnerschaften in religiösen Bereichen fand im März 2011 statt und die Reaktion der Kirche von England wurde daraufhin folgend im Juni 2011 veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt war der Entwurf allerdings schon Gesetz geworden. Es scheint, als wäre dies der entscheidende Aspekt von politischer Gleichstellung, da gleichgestellte Teilnahme nur inszeniert wurde, erst zu einem Zeitpunkt als kein Einfluss auf das Ergebnis mehr genommen werden konnte. Im Bewertungskomitee erfolgten Einwände besorgter Christen, so wie CARE, die hervorgehoben wurden als ‚drawn to the special attention of the House on the grounds that it gives rise to issues of public policy likely to be of interest to the House‘70, aber sie wären nicht gehört worden, wäre es nicht in der letzten Minute zu Lady O’Cathains Annullierungsantrag gekommen. Es zeigt sich, dass im Zuge des Beschlussprozesses der Novellierung 53 und der Änderungen im Gesetz zur Lebenspartnerschaft keine ausreichenden Konsultationsmöglichkeiten geboten worden waren. Es gab besorgte Stimmen, die nicht gehört wurden, wie etwa der konservative Unterhausabgeordnete, Mr. Leigh, unterstreicht: ‚These regulations don’t do what the Government promised which is to protect churches that do not want to register civil partnerships. It is an issue of the utmost seriousness. Yet the Commons currently isn’t even being given a chance to debate them.‘71 Dies kann als Versagen der wirksamen Teilnahme gesehen werden, die so fundamental für politische Gleichstellung und Demokratie ist. Eine Anhörung 69 70 71
Statement issued in GS Misc 997 Civil Partnerships and Human Sexuality: Statement from the House of Bishops, 1.7.2011. Marriages and Civil Partnerships (Approved Premises) (Amendment) Regulations 2011 (SI 2011/2661) Forty Third report. Tory MPs try to stop civil partnerships in places of worship, abgerufen unter: http:// www.telegraph.co.uk/news/religion/8929111/Tory-MPs-try-to-stop-civil-partnershipsin-places-of-worship.html. Date printed 2.12.2011 (Zugriff am 16.11.2012).
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zur Sachlage wurde etwa ein Jahr zu spät durchgeführt – nachdem der Antrag bereits königliche Zustimmung erhalten hatte. Dies unterscheidet diesen Fall vom Antrag zur gleichgeschlechtlichen Ehe, dessen Anhörungsphase zwar schon abgeschlossen ist, zu dem aber erst noch ein Gesetzesentwurf entstehen muss. Offensichtlich wurde die Anhörung bezüglich Lebenspartnerschaften in religiösen Bereichen nur durchgeführt, um den Anschein von Beteiligung zu erwecken. Keine Einwände, die in der Anhörung vorgebracht wurden, fanden im Oberhaus Erwähnung und weitere Bedenken, wie später dem Komitee vorgelegt, fanden kaum Berücksichtigung. Der partizipatorische Prozess scheint in diesem Fall nur vorgespiegelt und die Interessen derer, die die Gesetzgebung beanstandeten, blieben unberücksichtigt. Die Gesetzgebung berücksichtigte demnach nicht zur Gänze die Interessen aller mit Ansprüchen in dieser Sache. Im zweiten Teil der Definition von Gleichstellung wird zu Beginn dieses Aufsatzes vorgeschlagen, ‚dass ihre Interessen berücksichtigt werden sowohl in der Schaffung neuer als auch der Anwendung bestehender Gesetze‘. Im Fall homosexueller Paare scheint es, dass ihre Interessen nach dem Wunsch einer religiösen Lebenspartnerschaft im Sinne der Gesetzgebung fortgeführt wurde, allerdings hat sich die theologische Perspektive der Kirche nicht verändert. Die Gewissensklausel deckt die Interessen der Kirche von England nicht völlig ab, insofern sie Homosexualität aufgrund ihrer theologischen Lehren nicht anerkennt, sie homosexuelle Partnerschaften nicht unterstützt und daher diese Partnerschaften nicht auf Grundstücken der Kirche geschlossen werden sollten. Sektion 202 des Gleichstellungsgesetz besagt nun, dass Homosexuelle die Kirche fragen können, ob sie den Bund beschließen will und die Kirche muss sie in diesem Fall zurückweisen – eine aktive Form der Diskriminierung, die offene Feindseligkeit gegen Homosexuelle darstellt; etwas, das vor der Einführung des Gesetzes vermieden wurde. Des weiteren ist es möglich, dass die Kirche aufgrund von Diskriminierung rechtlich belangt werden kann.72 Während manche wünschen, dass die Kirche eine offenere Weltsicht zeigt, scheint sie nun dazu gezwungen zu sein, offen feindselig gegen Mitglieder der Gesellschaft zu sein, was ihrer Botschaft von ‚Generosity, Gratitude and … love‘73 in einer harmonischen Gesellschaft entgegensteht. Dieser Umstand ist angetan, die Kirche von England in einem unverdient schlechten Licht dastehen zu lassen. Das Gleichstellungsgesetz zwingt Institutionen wie die Kirche von England dazu, entweder ihre theologischen Glaubenssätze zu ändern, damit sie mit der Gesetzgebung einher gehen oder dazu, offen und direkt homosexuelle Partnerschaften und Homo72 73
Mark Hill, QC in Submission by Care the Merits Committee – The Marriages and Civil Partnerships (Approved Premises) (Amendment) Regulations 2011, 2. Being a Christian, abgerufen unter: http://www.Churchofengland.org/our-faith/being-achristian.aspx (Zugriff am 9.3.2012).
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sexuelle zu diskriminieren. Dies wird unweigerlich zu einem Schisma und einer Meinungsteilung innerhalb der Kirche führen – zwischen denen, die sich konservativ verhalten und homosexuelle Partnerschaften nicht erlauben wollen und denen, die Veränderung wünschen. Insofern dies offensichtlich nicht im Interesse der Kirche liegt, wird ihr diese Position von der Gesetz gebung aufgezwungen und ihre Interessen wurden, entsprechend der Arbeitsdefinition dieses Beitrags, nicht gleichwertig berücksichtigt. Daher sehen wir uns nun solch einer Ungleichheit gegenüber, begründet in der konkreten Ausarbeitung des gegenständlichen Gesetzes, dem Mangel an Beteiligung in seiner Schaffung und dem Bedürfnis, Regelungen im Gesetz verankert zu sehen, die in der Praxis bereits erreicht worden waren. Dieser Fall bringt beide Auffassunge unseres Begriffes von ‚Gleichstellung‘ ins Wanken, insofern es misslungen ist, alle Interessen zu berücksichtigen, sowohl in Schaffung und Vollzug des Gesetzes als auch in ihrem Ergebnis. Im Versuch Gleichstellung für homosexuelle Paare zu schaffen, wurden die religiösen Interessen derer, die Homosexualität ablehnen, untergraben, was eindeutig zur Schaffung von Ungleichheit führte. In der vorliegenden Diskussion habe ich angeregt, dass Gleichstellung als die gleiche Berücksichtigung der Interessen aller Mitglieder der Gesellschaft in der Gesetzgebung und der Anwendung von Gesetzen gesehen werden kann. Es hat sich gezeigt, dass beim Drängen auf Gesetzesbestrebungen auf Initiative homosexueller Personen die Interessen Heterosexueller nicht zur Gänze berücksichtigt wurden. Damit soll nicht ausgesagt werden, dass die Interessen homosexueller Personen in manchen Bereichen nicht mangelhaft vertreten werden oder überhaupt kaum berücksichtigt werden. Mit dem Vorantreiben jeder neuen Sachlage steht jedoch mehr auf dem Spiel, als nur die Interessen Homosexueller. Gleichstellung bedeutet, dass im Zuge eines Gestaltungsprozesses die Interessen und Absichten von anderen an der Thematik Beteiligten berücksichtigt werden müssen und auf eine Art zu handeln ist, die die Interessen von Beteiligten weder verletzt noch untergräbt. Wenn wir, indem wir die Interessen von X vorantreiben, nicht den Interessen von Y volle Berücksichtigung geben können, so kann in solch einem Konflikt niemals Gleichstellung erreicht werden, dagegen wird es immer Verluste geben. Das ist nicht nur auf sexuelle Ausrichtung beschränkt. Wie jedoch die beiden Fallstudien gezeigt haben, hat es sich stärker in der Entwicklung der Gleichstellung homosexueller Personen gezeigt. Um politische Gleichstellung zu erreichen, so scheint es, ist die Semantik unserer Gesetzgebung, ihr Nutzen und die Frage, wie man die Interessen jeder gesellschaftlichen Gruppe bemessener und repräsentativer berücksichtigen kann, zu überdenken. Ob dies erreichbar ist, bleibt abzuwarten. Während wir aber damit fortfahren, gleiche Rechte einer Gruppe zukommen zu lassen – in diesem Fall homosexuellern Personen –, müssen wir gleichzeitig die Auswirkungen auf andere Minderheiten und Mitglieder der Gesellschaft bedenken. Wir müssen anerkennen,
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dass wir alle gleich sind und niemand ein größeres Anrecht auf Glück hat als jemand anderer. Ob wir diese Gleichheit jedoch durch Gesetze anerkennen können und in einem politischen Rahmen erreichen und garantieren können, bleibt strittig. In diesem Fall vertrete ich die Ansicht, dass Gleichstellung, so wie ich sie beschrieben habe, nicht erreichbar ist, da immer Interessen untergraben werden, wenn man versucht in einem anderen Bereich Gleichstellung zu schaffen. Bibliographie Primärtexte Civil Partnership Act 2004, cc 33. Equality Act 2010, cc 15. European Convention of Human Rights, abgerufen unter: http://www.europarl.europa.eu/ charter/pdf/text_en.pdf (Zugriff am 25.10.2012). European Court of Human Rights – Factsheet on Homosexual Rights – June 2011. European Union, Charter of Fundamental human rights, abgerufen unter: http://www. europarl.europa.eu/charter/pdf/text_en.pdf. Forty-third Report – Marriage and Civil Partnerships, Approved Premises, Amendment, Regulations 2011 (SI 2011/2661). Government equalities office: Civil partnership on religious premises: a consultation. GSMisc 843 (a) – Special Agenda III, Private Members’ Motions, Civil Partnerships. London, 2005. GSMisc 843 (b) – Special Agenda III, Private Members’ Motions, Civil Partnerships. London, 2005. House of Bishops, Some issues in Human Sexuality – A guide to the debate. London, 2003. House of Bishops, Issues in Human Sexuality – A Statement by the House of Bishops of the General Synod of the Church of England. London 1991. House of Bishops, Civil partnerships and same-sex relationships – A statement by the House of Bishops of the Church of England. London, 2011. Human Fertilisation and Embryology Act, 1990, cc. 37. Human Fertilisation and Embryology Act, 2008, cc. 22. The Human fertilisation and Embryology Authority, Code of Practice, 7th edition – R.4. London, 2007. G.3.2.2. Submission to the Merits Committee – the marriages and Civil Partnerships (approved premises) (Amendment) regulations 2011. United Nations, declaration of human rights, abgerufen unter: http://www.un.org/en/ documents/udhr/ (Zugriff am 10.1.2012). Warnock, M., Report of the Committee of Inquiry into Human Fertilisation and Embryology. London, 1984.
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HFEA 1990 HL Debs, 6/2/1990, Col 787–end HL Debs, 6/3/1990, Col 1097–1108 HL Debs, 21/11/2007, Col 861–870 HC Debs, 20/05/2008, Col 166–214 (end)
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Gleichheit als Wert und Ungleichheit als Realität in Europa am Beispiel Gender
Im Gründungsdokument der Europäischen Gemeinschaft, den Römischen Verträgen, wurde bereits 1957 neben den ökonomischen Grundfreiheiten in Artikel 119 auch das erste Prinzip europäischer Gleichstellungspolitik formuliert: Jeder Mitgliedstaat wird während der ersten Stufe den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anwenden und in der Folge beibehalten.1 Der Artikel wurde auf Initiative Frankreichs in den Vertrag reklamiert. Dies geschah jedoch nicht, so Frauenrechtsexpertinnen, weil damit das Gleichheitsideal der französischen Revolution auf Geschlechterverhältnisse in ganz Europa angewendet werden sollte (Klein 2006, 65; Ramot 2009).2 Vielmehr dürfte die Furcht vor Wettbewerbsnachteilen entscheidend gewesen sein, da Frankreich zu dieser Zeit ein vergleichsweise weit entwickeltes Sozialsystem, einschließlich gesetzlich verankerter Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern, vorweisen konnte. Ein Konzept, das übrigens schon mehr als zehn Jahre zuvor als Standard der International Labour Organisation gesetzt worden war (Klein 2006, 67). Gleichstellungspolitik ist also keine Erfindung der Europäischen Union. Und sie ist immer auch Ausdruck des seit der Gründung bestimmenden Prinzips ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit der Staatengemeinschaft (PuntscherRiekman 1998; Sauer 2001).
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Artikel 199 des EGV, nach In-Kraft-Treten des Vertrags von Amsterdam Artikel 141 des EGV, zit. nach Klein 2006, 66. Zur Rolle von Frauen(rechten) in der Französischen Revolution siehe u. a. Christadler, Marieluise (Hrsg.) (1990): Freiheit, Gleichheit, Weiblichkeit. Aufklärung, Revolution und die Frauen in Europa. Opladen; Bock, Gisela (2000): Frauen in der europäischen Geschichte, C. H. Beck, München.
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Europäische Gleichstellungspolitik
Entsprechend eng blieb lange Zeit der Fokus europäischer Gleichstellungspolitik. Erst in den 70er Jahren begann man auch über Lohnfragen hinaus gehende strukturelle Ungleichbehandlungen in Angriff zu nehmen. Dazu kam die Erkenntnis, dass Artikel 119 in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten nicht implementiert worden und auch in zentralen Strategiepapieren der Union selbst keine Rede davon war (Klein 2006, 68). Musterprozesse wie jener der belgischen Stewardess Defrenne3 oder der legendäre Streik der Näherinnen der Fordwerke im britischen Dagenham4 führten zu einer Zunahme an öffentlichem Interesse und zum Druck auf politische Entscheidungsträger. Damit wurde eine Dynamik in Gang gesetzt, die von Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre andauerte und mitunter als „das goldene Zeitalter der EUFrauenpolitik“ (Osten 1995, 176) bewertet wird. Kommissionen und AdHoc-Arbeitsgruppen wurden eingesetzt, Gleichstellungsrichtlinien und Förderprogramme verabschiedet, das Thema der Teilhabe von Frauen an Entscheidungsstrukturen aufgegriffen, der Dialog mit zivilgesellschaftlichen Organisationen der Frauenbewegung eröffnet. 1990 kam es zur Gründung der European Women’s Lobby, einem europäischen Netzwerk nationaler Frauenorganisationen, das mit finanzieller Unterstützung der europäischen Kommission bis heute die Agenda der Gleichstellungsanliegen vorantreibt. Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde 1997 schließlich jene Strategie festgeschrieben, die seither als Gender Main streaming auch in den Mitgliedsländern bekannt und – zumindest in Ansätzen – umgesetzt wird. Das Anliegen der Geschlechtergleichheit sollte damit zur politischen Querschnittsmaterie werden, es wurde als Teil der „Aufgaben der Gemeinschaft“ (Art. 2) und als „Grundlagen für all ihre Tätigkeiten“ (Art. 3) explizit im Vertrag festgeschrieben. Darüber hinaus ermöglichte ein zusätzlicher Vertragsartikel (Art. 13) die Etablierung EU-weiter Initiativen zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Diskriminierung. Das Prinzip des Gender Mainstreaming ist seither aus europäischen Gleichstellungspolitiken nicht mehr wegzudenken und fand seinen Niederschlag auch in der im Jahr 2000 verabschiedeten Charta der Grundrechte der Europäische Union.5 Auch in den Vertrag von Lissabon wurde schließ3 4 5
Der Bericht des Gerichtsurteils im Fall Defrenne vs. Sabena vom 8. April 1967 ist auf der Webplattform EUR-Lex zu finden: http://eur-lex.europa.eu/smartapi/cgi/sga_doc?smart api!celexplus!prod!CELEXnumdoc&numdoc=61975J0043&lg=en (7.1.2013). Der Streik der Ford-Arbeiterinnen Ende der 60er wird auf eindrückliche Weise im 2010 erschienenen Spielfilm „Made in Dagenham“ (2010) des britischen Regisseurs wieder gegeben. Vgl. Europa. Zusammenfassungen der EU-Gesetzgebung. Informationplattform der EU [Online] http://europa.eu/legislation_summaries/justice_freedom_security/combating_ discrimination/l33501_de.htm (2.01.2013).
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lich mit Artikel 8 ein Gleichstellungsparagraph aufgenommen (Europäische Union 2007). „Auf dem Papier ist es [das Gender Mainstreaming, MM] ein sehr schönes Prinzip. (…) es (geht) darum, die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen in alle politischen Entscheidungen der Europäischen Union zu integrieren. Jede von der EU getroffene Maßnahme muss also die spezifischen Probleme und Ansprüche der Frauen berücksichtigen (Ramot 2009)“. In der Praxis sind damit einige Fallstricke und viele offene Fragen, beginnend mit jener, wie und von wem denn die Probleme und Ansprüche von – welchen – Frauen zu definieren seien, verbunden. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass Gleichstellungs- wie auch sozialpolitische Agenden bis heute Kompetenz der Mitgliedstaaten sind und all die beschriebenen Vorgaben reinen Empfehlungscharakter haben. Entsprechend kontrovers fallen auch die Einschätzungen der Wirksamkeit aus. Während die einen Gender Mainstreaming als Chance für einen neuen Geschlechtervertrag sehen und die Politik der Europäische Union als „feministisch“ bewerten (Ramot 2009), kritisieren andere weiterhin das „Herrenhaus Europa“ (Schunter-Kleemann 1991) und verweisen auf fortbestehende Defizite bezüglich geschlechtergerechter Partizipation und Repräsentation, wie sie in den beliebten „Gruppenbildern“ der Staatschefs auf EU-Rats versammlungen augenscheinlich werden (Sauer 2001, 1). Weitgehend unbestritten scheint, dass es Frauenpolitikerinnen und zivilgesellschaftlichen Frauenorganisationen in den Mitgliedsländern gelang, den durch EU-Vorgaben vergeschlechtlichten Raum für ihre Anliegen und die Destabilisierung existierender Ungleichheitsmuster zu nutzen (ebd., 3). 2006 kam es mit der Eröffnung des EU Instituts für Gender Equality, einem von der EU finanzierten unabhängigen ExpertInnen-Institut in Vilnius, zu einem weiteren Meilenstein europäischer Gleichstellungspolitik, dem jahrzehntelanges Lobbying von Frauenorganisationen und schließlich die Einsicht in die Notwendigkeit weiterer Investitionen in Forschung, Austausch, Informationsarbeit und Bewusstseinsbildung vorausgegangen war.6 Frauenrealitäten in Europa
Diana hat vom Artikel 119 der Römischen Verträge und vom Prinzip des Gender Mainstreamings wahrscheinlich noch nie etwas gehört. Und auch Frauen wie Anja oder Eleni profitieren nicht wahrnehmbar von den Einsichten, Expertisen und Empfehlungen aus Brüssel und Vilnius.7 6 7
Zu Geschichte und gegenwärtigen Aktivitäten des Instituts siehe http://www.eige.europa. eu/ (7.1.2013). Die folgenden Berichte aus dem Leben von Frauen mit Armutserfahrungen wurden, soweit nicht anders angegeben, den EAPN-Publikationen „Stimmen gegen Armut“ und
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Diana lebt in einem Dorf in der Slowakei, von dessen 600 Einwohner Innen etwa die Hälfte Roma sind. Es gibt zwei Lebensmittelgeschäfte, zwei Wirtshäuser, eine Volksschule, eine Gemeindehalle und eine lutherische Kirche. Alle weiteren Dienste, wie etwa Bildung, Gesundheit und Verwaltung, liegen außerhalb des Dorfes und können nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden. Die 20 km lange Fahrt, die beispielsweise notwendig ist, um der wöchentlichen Meldung am Arbeitsamt nachzukommen, ist teuer. Viele der Roma leben in einer Siedlung etwas außerhalb des Dorfes. Die Backsteinhäuser der Siedlung sind an die Hauptwasserleitung angeschlossen, aber nicht an die Kanalisation. Unter den Roma herrscht eine Arbeitslosigkeit von fast 100%, die meisten sind langzeitarbeitslos. Ihr Bildungsstand hat sich von Generation zu Generation verschlechtert. Im Dorf gibt es keine weiterführenden Schulen. Diana ist 21, mit 16 hat sie die Schule abgebrochen. Sie lebt mit ihren Eltern, ihrer Schwester, deren Freund und deren Baby. Diana schläft auf dem Sofa in der Küche. Alle Familienmitglieder sind arbeitslos, Sozialhilfe und das Karenzgeld der Schwester reichen kaum zum Überleben. Um sich über Wasser zu halten, muss die Familie in den örtlichen Lebensmittelläden anschreiben lassen und Dinge in den Leihhäusern außerhalb des Dorfes verpfänden. Wenige Tage, nachdem die Sozialhilfe ausgezahlt wird, geht der Familie das Geld aus und sie muss auf Pump leben, denn fast alles geht sofort als Rückzahlung an Kreditgeber. Die finanzielle Situation der Verwandten und Freund Innen sieht ähnlich aus, darum können sie niemanden um Hilfe bitten. Im Dorf gibt es einen Wucherer. Bei unvorhergesehenen Ereignissen oder Notwendigkeiten, wie etwa Krankheit und damit verbunden Fahrten zum Arzt, einem Todesfall in der Familie, Reisen in die Tschechische Republik, um dort Arbeit zu finden oder für dringend benötigten Brennstoff, muss sich Dianas Familie zu einem Zinssatz von 30–50% von ihm Geld leihen. Für alle Familienmitglieder sind die Möglichkeiten, das Dorf zu verlassen genauso eingeschränkt wie der Besuch einer weiterführenden Schule oder der Kauf qualitativ hochwertiger Lebensmittel oder Kleidung. Diana kauft nur in Billigläden ein und immer nur eine Sache, meistens Schuhe, denn Schuhe nutzen sich am schnellsten ab. Unlängst hat sie versucht, einen dauerhaften Job in der Tschechischen Republik zu bekommen, doch der Vermittler verweigerte ihr den Vorschuss, „Das Europa, das wir wollen“ entnommen und für diesen Beitrag redaktionell bearbeitet bzw. gekürzt. Obwohl die Dokumentation bereits einige Jahre zurückliegen, haben die geschilderten Realitäten nicht an Aktualität verloren. Vgl. Europäisches Netzwerk gegen Armut, Stimmen der Armut. Arbeit und Arbeitslosigkeit in der EU, Brüssel 2006; Fintan Farrell, Michaela Moser und Alida Smeekes (Hrsg.), Das Europa, das wir wollen. Ansichten von AkteurInnen im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung zur künftigen Entwicklung der EU, Brüssel 2005.
Gleichheit als Wert und Ungleichheit als Realität
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den sie gebraucht hätte, um fürs Erste durchzukommen, und so musste sie wieder zurückkehren. Die Arbeitslosenquote des Kreises ist eine der höchsten in der Slowakei (es kommen 66 Arbeitssuchende auf eine freie Stelle); eine unqualifizierte Arbeitskraft hat praktische keine Chance, einen Job zu finden. Diana sagt, dass potenzielle Arbeitgeber, die ihr am Telefon einen Job versprachen, nach einem persönlichen Treffen von ihrem Versprechen zurücktraten. Sie hat auch schon erlebt, dass sie von einem Arbeitgeber direkt am Telefon gefragt wird, ob sie eine Roma sei. Wenn ja, dann brauche sie gar nicht erst vorbeizukommen. Weder Diana noch ihre Familie haben einen Plan für die Zukunft. Sie wollen es einfach nur schaffen, von Tag zu Tag durchzuhalten. Von Tag zu Tag durchhalten, so könnte auch die Maxime von Anja lauten, die am anderen Ende Europas in Kopenhagen lebt. In Wahrheit fürchtet sie sich vor jedem neuen Tag. Früher war das anders. Viele Jahre arbeitete sie in einer Boutique, bis sie massive Rückenprobleme bekam. Nachdem sie längere Zeit krank gewesen war, verlor sie ihren Arbeitspatz, mit dem Arbeitslosengeld kam sie zunächst halbwegs über die Runden. Anja machte Design- und Erwachsenenbildungskurse und nutzte die Weiterbildungsangebote der Gewerkschaft, einen neuen Job fand sie jedoch nicht. Sie leidet unter ihren Rückenproblemen und ihre Lungenkapazität ist um ein Drittel eingeschränkt, seit einiger Zeit bekommt sie auch Angstzustände, wenn sie ihrer Umwelt entgegentreten muss. Nach anderthalb Jahren wurde das Arbeitslosengeld eingestellt und Anja an die Sozialhilfe verwiesen. Nach Abzug von Miete und Strom blieben ihr 228 Euro zum Leben, davon muss sie auch Ausgaben für Medikamente und Verkehrsmittel bestreiten. Ohne das kostenlose Mittagessen und die gebrauchte Kleidung einer sozialen Einrichtung käme sie nicht durch. Nach sechs Monaten wurde ihre Sozialhilfe um weitere 134 Euro gekürzt. Hinter dieser Kürzung steckt die Idee, Arbeitslose dazu zu bringen, sich so schnell wie möglich eine neue Arbeit zu suchen. „Ich kann mir jetzt weder die Physiotherapie, noch das Telefonieren leisten“, erzählt Anja. „Die Dusche ist kaputt, Glühbirnen sind teuer und wegen meiner Rückenprobleme bräuchte ich dringend eine neue Matratze. Am Ende des Monats reicht das Geld nur mehr für Brot.“ Anja hat einen Hund. Die Tierarztrechnungen übernimmt ihre Mutter. Der Hund bekommt Essensreste und das billigste Hundefutter. „Den Hund werde ich nicht abschaffen“, sagt Anja. Sie ist mittlerweile so sehr damit beschäftigt, ihren Alltag zu organisieren, dass sie nicht einmal erwähnt, dass sie ihre Familie oder FreundInnen nicht zum Essen einladen, ins Kino gehen oder in Urlaub fahren kann. „Ich kann keine Kontakte pflegen, mein Selbstvertrauen ist am Ende, ich fürchte mich jeden Tag vor dem nächsten.“
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Eleni8 ist 45 und lebt mit ihren Kindern in Athen. Die zwei älteren sind Mitte zwanzig und studieren schon, dazu kommen zwei Teenager. Für die Kinder hatte Eleni, die mit 19 geheiratet hat und mittlerweile geschieden ist, zu arbeiten aufgehört, bis das jüngste die Grundschule abgeschlossen hatte. Danach lebte sie von vorübergehenden Jobs im Gastgewerbe. Seit zwei Jahren findet sie keine Arbeit mehr. Vor einiger Zeit fing sie in einem Altenheim zu arbeiten an, konnte aber dort nicht bleiben, weil auch hier gespart wird und viele griechischen Familien aus finanziellen Gründen ihre alten Eltern wieder zu sich nach Hause nehmen. Von ihrem Ex-Mann bekommt sie 400 Euro pro Monat, dazu kommen 180 Euro staatliche Unterstützung und etwas Geld von ihren Eltern. Zu fünft steht ihnen damit 700 Euro Monatseinkommen zur Verfügung. Zum Glück ist das Haus schon abbezahlt, sonst stünden sie jetzt auf der Straße, meint Eleni, die derzeit in einer Abendschule versucht, den Pflichtschulabschluss und eine Buchhaltungsqualifikation zu erwerben. „Das Problem ist, dass ich viel mehr koste als jemand in den 20ern (…) Die Generation meiner Tochter arbeitet für 300 Euro im Monat. Wie soll man sich damit etwas aufbauen, eine Familie gründen?“ Eleni könnte nach Australien auswandern, sie hat dort als Kind gelebt und auch einen australischen Pass. Aber die Kinder wollen in Griechenland bleiben, und ihr selbst käme das Auswandern wie ein Aufgeben vor. „Warum soll ich gehen, nur weil PolitikerInnen unser Land ruiniert haben. Ich möchte bleiben und hier arbeiten.“ Das Leben von Diana, Anja und Eleni findet mitten in Europa und doch am Rand der europäischen Gesellschaft statt. Von den oben beschriebenen Gleichstellungsrichtlinien und -maßnahmen merken diese drei Frauen wenig und auch die in der 2001 veröffentlichten EU-Nachhaltigkeitsstrategie versprochene Verbesserung der Lebensqualität und des Wohlstands (Europäische Kommission 2001, 3) hat sich für sie nie realisiert. So wenig wie sie für die rund 80 Millionen Menschen in Europa spürbar ist, die laut offi zieller Daten mit einem Einkommen das – oft deutlich – unter der Armutsgrenze ihres Landes liegt, auskommen müssen.9 Die Armutsgrenze ist von Eurostat mit 60% des verfügbaren mittleren Einkommen eines Landes festgelegt, die jeweilige Höhe variiert je Land beträchtlich. Sie stellt einen relativen Armutsindikator dar und auch wenn ihre Aussagekraft aufgrund der Vernachlässigung von sowohl Ausgaben- als auch Vermögenssituation eingeschränkt ist, zeigt sie doch deutlich auf, dass es an Einkommensgleichheit in ganz Europa mangelt. 8 9
Die Situation von Eleni ist einer Reportage der britischen Tageszeitung The Guardian entnommen (Henley 2012) und hier gekürzt wiedergegeben. Die jeweils aktuellen Zahlen sind u. a. der Website der GD für Beschäftigung, Soziales und Integration zu entnehmen http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=751&langId=de (18.1.2013).
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Mehr als die Hälfte derjenigen, die unter der Armutsgrenze leben, sind Frauen. Besonders betroffen sind Alleinerzieherinnen, wie Marta, die in Südportugal lebt und schon vor Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise sich und ihr Kind kaum durchbringen konnte und Migrantinnen wie Rose, die aus den Philippinen kommt und ohne Aufenthaltsrecht und Arbeitsgenehmigung als Erntehelferin in Irland ausgebeutet wird. Und Frauen wie Ludmilla, die mit ihrem kranken Mann und ihren vier Kindern aus Tschetschenien geflüchtet ist, in einer österreichischen Kleinstadt lebt, keinen Job bekommt, bis vor kurzem weder Anspruch auf Sozialhilfe noch auf Kinderbeihilfe hatte und ohne die Spenden von Pfarre und wohlmeinenden Einzelpersonen sich und ihre Familie nicht einmal ernähren hätte können.10 Auch Langzeitarbeitslose wie Anja und alleinstehende Pensionistinnen sind in besonderem Maße armutsgefährdet. Sie alle und viele mehr sind VerliererInnen einer Entwicklung, die die Kluft zwischen Arm und Reich verschärft und man könnte es ihnen kaum verdenken, wenn sie die Politik der Geschlechtergleichstellung, von der scheinbar nur andere Frauen profitieren, als genauso leer und nichtssagend einschätzen wie das Ideal der Gleichheit selbst. Soziale Ungleichheit wächst
Frauen, die mitten im reichen Europa in Armut leben, scheinen zunächst also weniger von Geschlechterdiskriminierung als vielmehr von sozio-ökonomischer Ungleichheit betroffen zu sein. Dass diese auch in Europa seit Jahren zunimmt, belegen zahlreiche Studien und Forschungsberichte (zuletzt u. a. Bonesmo 2012; Dauderstädt 2012). Auch wenn über das tatsächliche Ausmaß und die Vergleichbarkeit von Einkommensunterschieden zwischen den Ländern im Detail teilweise Uneinigkeit herrscht (Dauderstädt und Keltek, 3) und eine erste europäische Studie zur Vermögensungleichheit erst im Frühjahr 2013 präsentiert wird, besteht doch Übereinstimmung hinsichtlich einer wachsenden sozialen Kluft. Und auch deren negative Auswirkungen auf physische und psychische Gesundheit, Bildungsmobilität, Kriminalität, Drogenkonsum, Lebenserwartung und Vertrauen einer Gesellschaft sind bekannt und vielfach belegt (u. a. Picket und Wilkinson, 2010). Zwar fehlt es an einer Verschränkung allgemeiner Studien zu sozialer Ungleichheit mit Studien zur Geschlechter(un)gleichheit und werden verfügbare Zahlen zu geschlechtsspezifischen und generellen Einkommensunterschieden nur selten zusammenhängend analysiert und interpretiert11,
10 11
Bei den genannten Frauen handelt es sich um reale Personen, die der Autorin bzw. ihren KollegInnen im Europäischen Armutsnetzwerk EAPN persönlich bekannt sind. Auch in den erwähnten Studien fehlen diese Zusammenhänge.
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nichtsdestotrotz gibt es deutliche Indikatoren dafür, dass Europas Frauen überproportional finanziell benachteiligt sind und auch unter den Auswirkungen aktueller Krisenpolitik besonders leiden (EWL 2010; EWL 2012). Allein das Ausmaß an statistisch erfasster Frauenarmut in Europa ist beträchtlich und dies nicht erst seit den Krisenjahren. Laut einem Bericht des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2010 liegt die Armutsquote für Frauen – und damit der Anteil derjenigen, die mit einem Einkommen unterhalb der jeweiligen nationalen Armutsgrenze leben – mit 17% etwas höher als jene des europäischen Durchschnitts (Europ. Parlament 2010, 11 f.). Zieht man in Betracht, dass Armutsstatistiken auf Haushaltsbasis erhoben und dabei von einer Gleichverteilung innerhalb jedes Haushalts ausgehen, so kann unter Infragestellung dieser Gleichverteilung – für die es nicht zuletzt aus der Arbeit sozialer Organisationen und Frauenberatungsstellen viele Indizien gibt – von einer weit höheren Armutsbetroffenheit ausgegangen werden. Schätzungen gehen von 36% Frauen im Vergleich zu 11% Männern, die unter der Armutsgrenze leben, aus (ebd.). Auch wenn es mit Blick auf den im Gründungsvertrags vor über 50 Jahren festgeschriebenen Gleichstellungsartikel fast unglaublich erscheint, sind es immer noch Lohnungleichheiten, die neben einer niedrigen Frauen erwerbsquote, steigender Arbeitslosigkeit und dem Abdrängen von Frauen in die Schattenökonomie in die Armut führen. Es ist aber auch die europäische Sozialpolitik selbst, die von Armutsforscherinnen für eine Verschärfung des Problem verantwortlich gemacht wird, insofern sie durch ihre Erwerbszentriertheit geschlechtsspezifische Ungleichheiten verstärkt (Heitzmann 2004; Mairhuber 2001). Wesentliche Sozialleistungen hängen nämlich von Art, Dauer und Kontinuität sowie der Höhe eines früheren Erwerbseinkommens und/oder vom Erwerbseinkommen des Partners ab. Die strukturelle Benachteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt wird damit fortgeschrieben und verstärkt. An von früherer Erwerbstätigkeit unabhängigen Sozialleistungen in existenzsichernder Höhe mangelt es in vielen europäischen Ländern (Frazer, Malier 2010). Die Prioritätensetzung aktueller europäischer Krisenpolitik verschärft die Situation für armutsgefährdete und -betroffene Frauen weiter. Frauenorganisationen, Armutsnetzwerke, SozialwissenschafterInnen und ÖkonomInnen kritisieren, dass die Auswirkungen der Krise auf Frauen weitgehend unsichtbar bleibe und aktuelle Krisenpolitik einen Großteil gleichstellungspolitischer Ansätze konterkarriere (EWL 2010; EWL 2012; Elson 2012). So haben Einsparungen im öffentlichen Sektor beispielsweise überdurchschnittlich negative Auswirkungen auf Frauen, die zum einen den mehrheitlichen Teil der dort beschäftigten – und im Krisenfall gekündigten – MitarbeiterInnen ausmachen, zum anderen die Auswirkungen dieser Einsparungen durch unentgeltliche Leistungen etwa im Bereich der Altenbetreuung oder Pflege auszugleichen haben.
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Systematischer betrachtet lassen sich Benachteiligungen von Frauen in allen Teilen jener Strategie ausmachen, die von der EU selbst 2008 unter dem Schlagwort „Active Inclusion“ als maßgebliche Referenz für Maßnahmen der Armutsbekämpfung formuliert wurde (Europäische Kommission 2008). Zentrale Elemente dieser Strategie bilden die Sicherung eines adäquaten Mindesteinkommens, Bereitstellung und Zugang zu Sozialleistungen und aktive Arbeitsmarktpolitik. In all diesen Bereichen bestehen spezifische Anforderungen im Sinne der Verbesserung der Situation armutsbetroffener Frauen, die jedoch kaum als Gleichstellungsanliegen im Rahmen des Gender Mainstreamings wahrgenommen werden. So mangelt es an individuellen Ansprüchen auf monetäre Unterstützung und tendieren erwerbslose Frauen, die mit einem erwerbstätigen Partner zusammen leben, dazu, auf die Inanspruchnahme bestehender Leistungen zu verzichten (Oxfam/EWL 2010, 9). Dies ist nicht zuletzt im Zusammenhang mit innerfamiliärer Gewalt, die unter dem Druck von Krisenzeiten zunimmt, kritisch zu sehen. Und es sind auch überwiegend Frauen, die die Auswirkungen von Einsparungen im Sozialbereich am stärksten zu spüren bekommen, seien es Kürzungen im Bildungs-, Gesundheits-, Kinderbetreuungsbereich oder auch im Angebot an Beratungs- und Unterstützungsleistungen. Im Hinblick auf die Arbeitsmarktpolitik sind nicht nur die in vielen Ländern noch stets bestehenden Lohnungleichheiten zu kritisieren, vor allem ist auch Augenmerk auf die vielzitierte Vereinbarkeit von Familienleben und Beruf zu richten. Da Frauen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, nach wie vor den Hauptteil unentgeltlicher Sorgearbeit übernehmen, stehen sie dem Arbeitsmarkt meist nur eingeschränkt „zur Verfügung“ und zahlen für ihr Sorgen den hohen Preis niedriger oder gar nicht vorhandener Einkommen und fehlender sozialer Absicherung, auch und vor allem im Alter. Die europäische Strategie aktiver Arbeitsmarktintegration, die davon ausgeht, dass Erwerbsbeteiligung den besten Schutz vor Armutsbetroffenheit darstellt, nimmt auf Sorgearbeit und Betreuungspflichten in der Realität meist wenig Rücksicht. Meist sind es die Frauen selbst, die angesichts fehlender adäquater Kinderbetreuungseinrichtungen eine individuelle Lösung finden müssen. Nicht unbeachtet darf auch ein viertes Prinzip der Armutsbekämpfung bleiben: die Teilhabe an Entscheidungen, die das eigene Leben und Lebensumfeld betreffen. Während Ambitionen nach verstärkter Beteiligung von Frauen in politischen Funktionen aller Ebenen und in Aufsichtsräten und Vorständen großer Unternehmen in den letzten Jahren einiges an Aufmerksamkeit, Diskussionen und Anstrengung gewidmet wurde, scheint es um Initiativen zur Stärkung politischer und gesellschaftlicher Teilhabe von Frauen am unteren Ende der Einkommensskala weitaus weniger gut bestellt. Gleichstellungspolitik, die auf Geschlechtergerechtigkeit abzielt und dabei auch andere Ungleichheitsfaktoren in den Blick nehmen will, hat hier noch
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einiges aufzuholen. Wobei in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit für jene Verflechtung an unterschiedlichen Ungleichheits- bzw. Diskriminierungsfaktoren entstand, die in der feministischen Theorie unter dem Stichwort „Intersektionalität“ diskutiert wird. Gleichheit, Differenz, Intersektionalität
Die französische Frauenrechtlerin Olympe de Gouges verwies schon Ende des 18. Jahrhunderts in ihrer berühmten Deklaration zur Rechte der Frauen darauf, dass wahre Gleichheit nur Sinn mache, wenn sie auf spezifische Weise für unterschiedliche Menschen gelte (Bock 2009, o. S.). De Gouges nahm dabei sowohl die Differenz der Geschlechter als auch das menschliche Auf einander-Bezogen-Sein in den Blick und machte sie zur Basis ihrer Rechtsvorstellung. Dabei stellte sie die These „der zufolge Frauen wegen ihrer weiblichen Rollen der Politik fernbleiben müssten, auf den Kopf bzw. auf die Füße: Nicht obwohl sie Mütter, Töchter, Schwestern sind, sondern weil sie es sind, repräsentieren sie die Nation, und das erst recht angesichts ihrer ‚intellektuellen Fähigkeiten‘“ (ebd.). Die Kategorie Geschlecht „ist somit zugleich – und je nach Kontext – von hoher Bedeutung und bedeutungslos“ (ebd.). Die Paradoxie, dass die Differenz der Geschlechter ernstzunehmen, aber keinesfalls festzuschreiben sei, stellt bis heute eine der zentralen frauenpolitischen Herausforderungen dar. „Das Differenzdilemma liegt in der Gefahr der Fortschreibung tradierter geschlechtspezifischer Zuschreibungen und der Re-Aktivierung von Geschlecherstereotypen“ (Wetterer 2003, 23). Entsprechend heftig wurden Ungleichheiten, die zwischen Frauen bestehen, in den feministischen Debatten der letzten Jahrzehnte diskutiert und zuletzt im Konzept der „Intersektionalität“ gebündelt (Klinger et al. 2007 u. 2008). Dabei schien sich „nach anfänglichen Irritationen (…) ein Konsens herauszubilden, dass ‚Dezentrierung‘ von Geschlecht nicht gleichzusetzen ist mit dessen ‚Bedeutungsverlust‘, sondern das andere Analysekategorien hinzu- und dazwischentreten. Es geht darum, Geschlechterverhältnisse einerseits nicht unabhängig von anderen Strukturkategorien zu fassen, mit denen sie in einer Konfiguration oder einem Vermittlungszusammenhang stehen, aber andererseits auch nicht in einer Weise auf Überschneidungen und Inter ferenzen zu schauen, die die je spezifische Konstitution der unterschiedlichen Teilungsverhältnisse ausblendet.“ (Knapp 2008, 146) Gleichstellungsziele müssen dieser Einsicht Rechnung tragen und sich der Herausforderung einer Verbindung der „Konzeptualisierung von Ungleichheiten, die sich an einer Vorstellung der Vertikalität (oben/unten) ausrichten und die distributiven Disparitäten abbilden (mehr/weniger)“ (Knapp 2008, 152 f.) mit „Diskussionen über soziale Teilungen, (…) welche die vertikal gedachte Klassenstruktur durchkreuzen“ (ebd.) stellen.
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Nicht um ein „additives Verständnis von Unterdrückung“ geht es, sondern um eines „das Wechselbeziehungen ernst nimmt“ (Weinbach 2008, 187), sich dabei jedoch – wie es dem Intersektionalitäts-Paradigma zuweilen vorzuwerfen ist –, nicht auf eine rein personenorientierte Zuschreibung von Differenz kategorien konzentriert, sondern vielmehr intersektionelle Analysen mit einem gesellschaftstheoretischen Horizont versieht (Weinbach 2008; Knapp 2008). Die Aktivitäten/Anliegen zivilgesellschaftlicher Frauenorganisationen wie der European Women’s Lobby tragen dieser Einsicht durchaus Rechnung, das zeigt ein Blick auf die Schwerpunktaktivitäten der Organisation, auf Projekte und Positionspapiere, die von klassischer Gleichstellungspolitik über die Auseinandersetzung mit Sozialpolitik, Migrationsthemen, Antidiskriminierungsarbeit, Gewalt gegen Frauen, Frauen in den Medien bis hin zu Fragen internationaler Frauensolidarität reichen. Dennoch zeigt der Blick auf die (Frauen-)Politik europäischer Länder einen Mangel an Maßnahmen und Projekten, die Mehrfachdiskriminierungen adressieren und die spezifischen Bedürfnisse von Frauen wie Diana, Anja oder Eleni scheinen sowohl im Mainstream der Frauen- als auch in Sozial-, Bildung- und Arbeitsmarktpolitik maximal in Nischenprojekten Beachtung zu finden. Weit über Gleichberechtigung hinaus
Es besteht also nicht nur eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Wert der Gleichheit und der Realität der Ungleichheit, auch die Grenzen einer (Gleichstellungs-)Politik, die die Umsetzung gleicher Rechte allein ins Zentrum stellt, werden deutlich. Zum einen, weil bei Missachtung bestehender Diskriminierungen die reine „Gleichbehandlungen von Ungleichen Ungleichheit nicht abbaut sondern reproduziert oder verstärkt“ (Wetterer 2003, 13), zum anderen, weil es der Frauenbewegung immer schon um mehr als ausschließlich um gleiche Rechte ging. „Manchmal brauchen Menschen Rechte, um bestimmte Ziele zu erreichen. Aber wollen sie nicht eigentlich Glück, Erfolg, gutes Leben für sich selbst, gutes Leben für alle?“ fragt die Theologin Ina Praetorius (Praetorius 2009, 5). Praetorius verweist auf die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm, die bereits 1874 argumentierte: „Wenn die Frau frei sein will, so will sie es nicht um des Bösen, sondern um des Guten willen.“ (zit. nach Praetorius, 9). Dohm und Praetorius geht es hier, wie missverstanden werden könnte, nicht darum, Frauen als die besseren Menschen zu präsentieren, es geht ihnen um deren Interesse, an der Gestaltung einer besseren Welt mitzuwirken und damit um mehr als die alleinige Realisierung von Gleichheit. Es geht um Vorstellungen, Verhandlungen und Erfahrungen eines guten Lebens – und zwar für alle, denn „nicht nur das Leben einzelner Frauen, sondern die ganze Welt soll
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wohnlicher werden“ (Praetorius 2009, 12). Das für europäische Gleichstellungspolitik relevante Prinzip der Chancengleichheit reicht dabei nicht aus, auch wenn es Mehrfachdiskriminierungen zunehmend in den Blick nimmt und betont, dass Gleichstellungspolitik durch spezifische Förderprogrammen ergänzt werden muss. „Sollen wir dem Guten Priorität einräumen, dann müssen wir eine Konzeption des Guten haben“ argumentiert die Philosophin Martha Nussbaum (Nussbaum 1999, 45) und deutet dabei an, woran es Gleichstellungsstrategien oft mangelt. Wir könnten uns nicht darauf verlassen, dass automatisch alles in Ordnung sei, „wenn die notwendigen Dinge zur Verfügung stehen“, meint Nussbaum, vielmehr brauche es auch die Berücksichtigung der „Art und Weise, wie Personen und Dinge – bzw. Personen unter sich – miteinander verbunden sind.“ (ebd., 84) und es braucht eine Vorstellung dessen, was als das Gute gilt. Der vor diesem Hintergrund von Nussbaum u. a. gemeinsam mit dem Nobelpreisträger und Ökonomen Amartya Sen und anderen WissenschafterInnen aus aller Welt und auf der Basis von Diskussionen mit vielen Frauen und Männern entwickelte „Capabilities“-Ansatz umfasst eine Reihe von Verwirklichungschancen bzw. Fähigkeiten, die von vielen Menschen aus aller Welt übereinstimmend als Bestandteile eines gutes Leben gesehen werden und von der jeweils verantwortlichen Politik zur Verfügung zu stellen sind (Nussbaum 1999; 2000). Die zentraler Frage dieses Ansatzes lautet nicht: „Wie viel haben Menschen?“, sondern: „Was können sie tun und sein?“ Denn die vorhandenen Rechte und Ressourcen können nur dann dem guten Leben dienen, wenn Menschen auch in der Lage sind, sie entsprechend zu nutzen. Es geht also sowohl um innere Stärkung und etwas, das heute oft „Empowerment“ genannt wird und durch umfassende Bildung und reflektiertes, fürsorgliches Miteinander und wechselseitige Unterstützung erreicht werden kann, als auch um die Sicherung der entsprechenden Lebensumgebung und Strukturen, um gute Schulen und Wohnmöglichkeiten, funktionierenden öffentlichen Verkehr, umfassende Gesundheitsversorgung, um sinnvolle Arbeitsplätze und Freizeitangebote. Die Wahrung körperlicher und seelischer Integrität sind genauso wichtig, wie eigene Sinne, Vorstellungskraft und Gedanken, die Förderung der Fähigkeit, Gefühle ausdrücken und empfinden zu können, und Möglichkeiten, sich eine Vorstellung vom eigenen guten Leben zu machen, Beziehungen zu anderen Menschen, zu Tieren und zur Natur zu pflegen, sich irgendwo zugehörig und daheim zu fühlen, Möglichkeiten und Anlässe zum Lachen, Spielen und zum Entspannen zu haben und den eigenen Lebens- und Arbeitsbereich mitgestalten zu können.12
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Für eine aktuelle deutschsprachige Version der Nussbaum’schen Liste der Verwirk lichungschancen vgl. Nussbaum 2010, 103 ff.
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Dabei bleibt es der oder dem einzelnen überlassen, sich aus freien Stücken auch gegen das zu entscheiden, was als gutes Lebens gilt. Wenn beispielsweise Diana aus religiösen Gründen fasten will, soll ihr dies möglich sein, voraus gesetzt es stehen ihr an sich ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung. Wenn Eleni aus freier Entscheidung auf der Straße leben wollen würde, sollte ihr das nicht verboten sein, sie soll jedoch auch Zugang zu einem Dach über dem Kopf haben. Wenn Anja unter anderen Lebensumständen freiwillig 60 oder mehr Stunden pro Woche an einem ihr zur Verfügung stehenden Arbeitsplatz verbringen wollte, müsste sie für sich, ihre Gesundheit und ihre Mitmenschen die Konsequenzen abwägen, niemand – auch Krisenverhältnisse nicht – sollte sie jedoch zu einem Ausmaß an Erwerbsarbeit zwingen können, dass Gesundheit, Beziehungs- und Erholungsmöglichkeiten unverhältnismäßig einschränkt. Wie die konkrete Verwirklichung der gegebenen Fähigkeiten umzusetzen ist, muss demgemäß von einzelnen und ihrer Umgebung im Detail formuliert und verhandelt werden. Dafür braucht es für alle jene Entwicklungs-, Bildungs- und Kommunikationsmöglichkeiten, die nötig sind, um diese Entscheidungen informiert und unter Berücksichtigung absehbarer Folgen treffen zu können. Dem Staat obliege es, so Nussbaum, die äußeren Bedingungen dafür zu schaffen, die Menschen befähigen, sich für ein gutes Leben zu entscheiden. Dabei muss immer das Ganze des guten Lebens im Blick bleiben und kann das Fehlen einer Komponente nicht durch ein „mehr“ einer anderen wett gemacht werden. Wie Nussbaum ging und geht es auch der Frauenbewegung (oder jedenfalls Teilen davon) immer wieder ums Ganze. Das bestätigt u. a. ein genauerer Blick auf die Forderungen der Aktionsplattform der UN-Frauenkonferenz in Peking aus dem Jahre 1995, wo sich – wie auch in internationalen Studien zur Lebensqualität von Frauen (Bilson und Fluer-Lobban 2005) – große Übereinstimmung mit den von Nussbaum genannten Verwirklichungschancen finden lässt. Gerade in Zeiten der Krise, die immer auch Zeiten der Unordnung und Orientierungslosigkeit sind, stehen die Chancen für eine Neuordnung des Ganzen gut. Das gilt auch und gerade für Fragen der Geschlechterdifferenz und deren Einordnung in ein System der Zweiteilung, das die Welt in ein „höheres Männliches“ und „niederes Weibliches“ teilt und damit seit langem viele Ungleichheiten nährt. Gleichzeitig gilt es Traditionen und Errungenschaften der Frauenbewegung und jahrzehntelanger Frauenpolitik zu würdigen, auch wenn der Kampf um Gleichberechtigung heute nur als „harmloser Anfang“ (Praetorius 2009, 23) erscheinen mag. „Gleichberechtigung hat uns gewissermaßen offiziell die Tür zum Wissen und zur Weltgestaltung geöffnet. Die eigentliche Arbeit, das wirkliche Abenteuer liegen noch in der Zukunft.“ (ebd.) Hier gibt es viel zu tun und mit vielem aufzuhören, Dinge neu zu bewerten und zu ordnen. Neu und weiter darüber nachzudenken, wozu Märkte gut
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sind, wozu Haushalte und wozu Gemeinwesen; neue Begrifflichkeiten und Schritt für Schritt eine neue Ordnung zu schaffen. „Es macht Sinn, in der Geschlechterforschung ein großes Gewicht auf die symbolische Ordnung zu legen, die Denk und Handlungsmuster normiert“, betont auch die Soziologin Regine Becker-Schmidt (Becker Schmidt 2008, 214). Ja, es brauche geradezu eine „Revolutionierung der symbolischen Ordnung“ (ebd.). Die Probleme nämlich mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, sind vor allem, so die These auch anderer feministischer Denkerinnen, Probleme der Kultur und damit der „Art und Weise, wie wir die existenziellen Momente des Daseins – Geburt, Erwachsen- und Altwerden, Tod, Schutz gegen Gewalten der Natur, die Erfindung und Herstellung von Gütern, die Verteilung materieller Güter und den Austausch immaterieller Werte – organisieren“. In erster Linie gehe es folglich darum „wie Menschen Beziehungen miteinander leben“ (Wagener et al. 1999, 11). Es geht um die fundamentale Frage, wie wir miteinander als Frauen und Männer leben wollen, was Lebensqualität für uns ausmacht; um das Verhandeln jener Ingredienzien also, die für ein gutes Zusammenleben notwendig sind und um die politischen und wirtschaft lichen Rahmenbedingungen, die es dafür braucht. Dass es letztlich um Fragen der Lebensqualität und nicht um Instrumente wie Wirtschaftswachstum, Wettbewerbsfähigkeit oder Beschäftigung geht, blitzt gelegentlich auch in EU-Dokumenten wie beispielsweise der EU-Nachhaltigkeitsstrategie oder im Bemühungen, neue Indikatoren für das Wohl ergehen der Menschen in Europas zu definieren13 auf, findet derzeit jedoch kaum Niederschlag in konkreten politischen Strategien und Maßnahmen. Genauso wenig wie das Prinzip des füreinander Sorgens, das für die Sicherung der oben genannten Verwirklichungschancen unerlässlich wäre. Hier bräuchte es tatsächlich wohl nicht weniger als eine „neue kopernikanische Wende“ (Luce Irigaray) im Denken und im Handeln. So sehr das Bemühen um Verwirklichungschancen aller nämlich auf dem Wert der Gleichheit fußt, so wenig kann es sich damit zufrieden geben. So wichtig es ist für jene Möglichkeiten und Fähigkeiten zu sorgen, die Diana, Anja, Eleni und die vielen anderen von Armut betroffenen Frauen und Männer brauchen, um in Würde leben zu können, so wichtig ist es auch, die Frage nach einem notwendigen „Mehr“ im Sinne bestmöglicher Entfaltung jeder von ihnen in ihrer und seiner Einzigartigkeit zu fragen. Britische Theologinnen wie Mary Grey und Alison Webster haben dafür den Begriff des „Flourishing“, also ein Bild für gutes Wachsen und Gedeihen geprägt (Grey 1999, Webster 2002) und damit die Frage nach jenen Bedingungen, die Menschen gewissermaßen „aufblühen“ lässt, ins Spiel gebracht. 13
Vgl. dazu z. B. die Initiative www.beyond-gdp.eu.
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Für zukünftige Entwicklungen im Europa, die auf ein gutes Leben aller abzielen, sollte es traditionelle Grundwerte als handlungsrelevantes Leitmotiv ergänzen. Damit das Versprechen der Verbesserung der Lebensqualität für alle auch im Leben von Diana, Anja und Eleni realisiert und spürbar wird.
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ANWENDUNGEN
Daniela Marielen Reitshammer
Gleichheit im Lichte der europäischen Rechtsprechung
1. Einleitung
Der Präambel zum Vertrag über die Europäische Union (EUV)1 ist zu entnehmen, dass sich „die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte“ aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas entwickelt haben. Dem entsprechend ist die Gleichheit einer der Werte, auf die sich die Union gemäß Art 2 EUV gründet und die allen Mitgliedstaaten in einer sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnenden Gesellschaft gemeinsam sind. Als Unionsziele werden insofern die Bekämpfung von Diskriminierungen und die Förderung der Gleichstellung in Art 3 EUV genannt. Bis zur Verankerung der Gleichheitsrechte auf europäischer Ebene und zu deren heutiger Bedeutung war es freilich ein langer Weg. Ursprünglich gegen Privilegierungen der älteren ständischen Gesellschaftsordnung gerichtet, wohnte dem Gleichheitsgedanken zunächst das Ideal einer Gleichstellung der Individuen vor dem Gesetz (Rechtsgleichheit; Rechtsanwendungsgleichheit) inne. Diese hart umkämpfte Forderung fand schließlich europaweit Eingang in die nationalen Verfassungen und nimmt seither die Stellung als fundamentales Recht, als Grundrecht, ein: Gleiches muss damit gleich, Ungleiches muss ungleich behandelt werden. Differenzierungen sind ausschließlich mit sachlichem Grund gerechtfertigt. Die Gleichheit bezieht sich hier wohlgemerkt auf die Gleichbehandlung der eigenen Bürger, weshalb man von einem Staatsbürgerrecht spricht. 1
ABl 2010 C 83/13. Die Gleichheit taucht auch als unteilbarer und universeller Wert in der Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) auf, ABl 2010 C 83/389.
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Daniela Marielen Reitshammer
In Österreich wird der Gleichheitssatz vom Verfassungsgerichtshof (VfGH) weit interpretiert. Neben dem herkömmlichen Privilegierungs-, Diskriminierungs- und Differenzierungsverbot leitet er aus Art 7 BundesVerfassungsgesetz (B-VG)2 nämlich einen gewissen Vertrauensschutz ab, der strenge Anforderungen an rückwirkend belastende Gesetze stellt und vor Eingriffen in sogenannte wohlerworbene Rechte (z. B. Pensionen) schützt. Die „Sonderopfertheorie“ konstruiert ferner eine Entschädigungspflicht für entschädigungslose Enteignungen. Schließlich soll sich aus dem Gleichheitsgrundsatz auch ein allgemeines Sachlichkeitsgebot ergeben, weshalb heute jedes Gesetz – auch ohne Ungleichbehandlung – auf seine Sachlichkeit hin geprüft werden kann.3 Dies zeigt die immense Bedeutung, die der Judikatur bei der Erfüllung des abstrakten Gleichheitsbegriffes mit Leben zukommt, führt aber gleichzeitig vor Augen, dass international gesehen eine solche Interpretation höchst unterschiedlich ausfallen kann. Gleichheitsrechte sind heute keine rein nationalen Phänomene mehr. Sie finden sich sowohl im Unions- als auch im Völkerrecht, wie z. B. in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)4, welche einen Grundrechtskatalog von Mitgliedern des Europarats darstellt. Dies führt dazu, dass die Einhaltung des Gleichheitsgrundsatzes auf europäischer Ebene von zwei Gerichten kontrolliert wird:5 Während sich der Europäische Gerichtshof (EuGH), ein Organ der Europäischen Union in Luxemburg, mit den Diskriminierungsverboten des Unionsrechts beschäftigt, entscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg über Verletzungen der Gleichheit als Menschenrecht der EMRK. Dabei sieht Art 14 EMRK ein akzessorisches Diskriminierungsverbot vor, das sich im Wesentlichen auf Ungleichbehandlungen im Zusammenhang mit Konventionsrechten bezieht.6 Ein allgemeines, über Art 14 EMRK hinausgehendes 2 3 4 5
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Art 7 Abs 1 B-VG (BGBl 1/1930 idF BGBl I 65/2012): „Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen (…).“ Zur Bedeutung des Gleichheitssatzes in Österreich vgl. z. B. Berka, Art 7 B-VG, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Rill-Schäffer-Kommentar sowie Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht9 (2012) 755 ff. BGBl 210/1958 idF BGBl III 47/2010. Diese Parallelzuständigkeit im europäischen Grundrechtsschutz hat – wenn auch bislang abseits vom Gleichheitsgrundsatz – bereits zu sehr interessanten Entscheidungen geführt, die zum Teil große Divergenzen zwischen den einzelnen Rechtsauffassungen sichtbar machen. Eine Art Pattstellung ergibt sich dadurch, dass der EGMR (vor einem Beitritt der EU zur EMRK) nicht dazu befugt ist, Urteile des EuGH zu prüfen und gegebenenfalls aufzuheben. Vgl. auch EGMR (GK) 30.6.2005, 45036/98 (Bosphorus Airways/ IRE) wonach sich der EGMR bei (widerleglich vermutetem) ausreichendem Schutz der EMRK-Rechte durch die Union zurückhält. „Der Genuß der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten ist ohne Benachteiligung zu gewährleisten (…).“
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Diskriminierungsverbot ist im 12. ZP-EMRK enthalten7, wurde jedoch noch nicht vollständig ratifiziert. Aufgrund des vorgegebenen Umfangs muss sich die Betrachtung hier auf die EuGH-Rechtsprechung beschränken. Es soll gezeigt werden, dass sich bei den unionsrechtlichen Diskriminierungsverboten der Vergleichsmaßstab des EuGH im Laufe der Zeit stark verändert hat. Längst ist das Gleichheitsgebot nicht mehr nur auf die Gleichstellung der Unionsbürger beschränkt. Und selbst in diesem Bereich hat die Rechtsprechung überraschende Anwendungsbereiche gefunden. 2. Der EuGH als europäisches Höchstgericht mit Auslegungsmonopol
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) stellt eines der sieben zur loyalen Zusammenarbeit verpflichteten Unionsorgane (Art 13 und 19 EUV) dar und besteht aus dem Gerichtshof samt dem Gericht erster Instanz und den Fachgerichten. Pro Mitgliedstaat wird jeweils ein Richter entsandt, wobei idR in Dreier- oder Fünferkammern entschieden wird. Der Gerichtshof übernimmt Vorabentscheidungsverfahren (wo es um die Auslegung des Unionsrechts geht) und auf Rechtsfragen beschränkte Berufungsverfahren gegen Entscheidungen des Gerichts erster Instanz. Letzteres ist für Direktklagen (Nichtigkeits-, Untätigkeits-, Amtshaftungsklagen) zuständig und entscheidet zudem über Klagen von Mitgliedstaaten gegen die Europäische Kommission. In all diesen Verfahren können Grundrechtsverletzungen thematisiert werden. Dadurch, dass dem EuGH das Interpretationsmonopol über das Unionsrecht zusteht, geht die Bedeutung der Entscheidungen weit über den Einzelfall hinaus. Gerade Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV8 sollen zum Verständnis der unionsrechtlichen Normen beitragen, wobei widersprüchliches nationales Recht für den innerstaatlichen Anwendungsfall unangewendet bleiben muss. Die Rechtsprechung hat für die Handhabbarkeit und Durchsetzungskraft des Unionsrechts vieles geleistet. Man denke nur an die speziell entwickelten Prüfungsformeln zu den Grundfreiheiten oder die maßgeblichen Aussagen zu den Strukturprinzipien des Unionsrechts (autonome Geltung und Anwendungsvorrang)9, die als ständige Rechtsprechung aus dem EU-Recht nicht mehr wegzudenken wären. Die Grenze zwischen der Kompetenz zur autonomen Rechtsauslegung und einer Rechtsfortbildung ultra vires ist dabei allerdings schnell überschritten. Mehrmals soll der 7 8 9
Art 1 Abs 1 lautet: „Der Genuss eines jeden gesetzlich niedergelegten Rechtes ist ohne Diskriminierung (…) zu gewährleisten.“ Gemäß Abs 2 darf weiters niemand von einer Behörde diskriminiert werden. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl 2010 C 83/47. Rs 26/62, Van Gend & Loos, Slg 1963, 1 sowie Rs 6/64, Costa/ENEL, Slg 1964, 1251.
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Gerichtshof nach Ansicht der Lehre über seinen in Art 19 Abs 1 EUV formulierten Auftrag, die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ zu sichern, hinausgeschossen haben. Die scharfe Kritik umfasst den Vorwurf, der EuGH wäre bei seiner dynamischen Fortentwicklung des Unionsrechts – unter Missachtung des Prinzips der begrenzten Einzel ermächtigung und der Gewaltentrennung zur Legislative – rechtsschöpfend tätig, kurz: er habe damit seine Zuständigkeit überschritten.10 3. Rechtsgrundlagen der Gleichheit im Unionsrecht
Einen einzelnen, umfassenden Gleichheitssatz sucht man im Unionsrecht vergeblich. Dafür existieren im Primärrecht (Gründungs-, Änderungsverträge, allgemeine Rechtsgrundsätze, GRC) und Sekundärrecht (Richtlinien und Verordnungen) der EU verschiedenste Diskriminierungsverbote, die zusammen unterschiedliche Ausprägungen des Gleichheitsgebotes darstellen. Bevor auf den Diskriminierungsbegriff und Themenschwerpunkte in der EuGH-Judikatur näher eingegangen wird, sind die unterschiedlichen Rechtsgrundlagen für Gleichheit im Unionsrecht kurz darzustellen: Art 18 Abs 1 AEUV normiert ein allgemeines Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit als unmittelbar anwendbares Grundprinzip des Unionsrechts, wonach Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaates (EU-Ausländer) Inländern in allen unionsrechtlich geregelten Sachverhalten gleichgestellt sind. Diese gegenüber spezielleren Diskriminierungsverboten (wie z. B. den Personenfreiheiten) subsidiäre Bestimmung richtet sich in erster Linie an die Mitgliedstaaten und die Organe und Einrichtungen der Union und berechtigt alle Unionsbürger. In der Rs Ferlini hat der EuGH dem Art 18 AEUV auch Drittwirkung für den Bereich der privatautonomen kollektiven Rechtssetzung zuerkannt. In diesem Fall traf die Pflicht zur Gleichbehandlung einen Krankenhausträger bei der Festsetzung der Gebühren für Krankenhausleistungen. Es sei mittelbar diskriminierend, wenn die Frau eines Beamten der Kommission in Luxemburg über 70 % mehr für eine Entbindung zahlen müsse als Pflichtversicherte der luxemburgischen Krankenversicherung.11 Wie weit eine Bindung Privater an dieses Diskriminierungsverbot in anderen Fällen gehen soll, ist bislang noch unklar. 10
11
Vgl. z. B. Moser, Allgemeine Rechtsgrundsätze in der Rechtsprechung des EuGH als Katalysatoren einer europäischen Wertegemeinschaft. Anmerkungen zu Entwicklung, Stand und Möglichkeiten der Europäischen Integration durch Recht(-sprechung), ZfRV 2012/2, 4 (7, 17 ff. m. w. N.); Griller, Vom Diskriminierungsverbot zur Grundrechtsgemeinschaft? Oder: Von der ungebrochenen Rechtsfortbildungskraft des EuGH, in: FS Heinz Schäffer (2006) 205 (223 ff.); eingehend zum Fall Mangold vgl. FN 52 f. Rs C-411/98, Ferlini, Slg 2000, I-8081.
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Die Rechtsprechung hat dem Art 18 Abs 1 AEUV einen sehr weiten sachlichen Anwendungsbereich verliehen, von dem lediglich Fallkonstellationen ohne grenzüberschreitenden Bezug, Ungleichbehandlungen von Drittstaatsangehörigen12 sowie Fälle der umgekehrten Diskriminierung (besser bekannt unter der Bezeichnung Inländerdiskriminierungen, siehe dazu unten) unerfasst bleiben. Ergänzt wird das allgemeine Diskriminierungsverbot durch speziellere primärrechtliche Diskriminierungstatbestände13 und konkretisierende Sekundärrechtsakte (insb. die Antidiskriminierungsrichtlinien).14 Richtlinien geben den Mitgliedstaaten wichtige Zielsetzungen der Union vor, die von ihnen innerhalb einer bestimmten Frist in nationalen Rechtsnormen umzusetzen sind, anderenfalls kann es zu einem Vertragsverletzungs- und/oder Staats haftungsverfahren des säumigen Staates vor dem EuGH kommen. Der Gleichheitsgrundsatz hat sich auch als Unionsgrundrecht etabliert. Die Grundrechtsjudikatur des EuGH, wonach Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze auch von der Union anerkannt werden, ist nunmehr in der GRC kodifiziert.15 Diese ist seit dem Vertrag von Lissabon allgemein verbindlich und gehört ebenso wie EUV und AEUV zum primären Unionsrecht. Art 20 GRC stellt zu Beginn des III. Titels der GRC fest, dass alle Personen „vor dem Gesetz gleich“ sind und normiert damit einen allgemeinen Gleichheitssatz. Die Erläuterungen weisen darauf hin, dass dieser Artikel „dem allgemeinen Rechtsprinzip, das in allen europäischen Verfassungen verankert ist und das der Gerichtshof als ein Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts 12 13
14
15
Rs C-22/08, Vatsouras, Slg 2009, I-4585 Rn 52. Z. B. Art 40 Abs 2 UAbs 2 AEUV (Vermeidung der Diskriminierung zwischen Erzeugern oder Verbrauchern auf dem Agrarmarkt), die Bestimmungen über die Grundfreiheiten (z. B. Art 45 Abs 2 und 4 AEUV, Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgenommen eine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung), Art 110 AEUV (steuerliches Diskriminierungsverbot) sowie Art 157 AEUV (Gleichheit des Arbeitsentgelts). Art 19 AEUV ermächtigt zur Diskriminierungsbekämpfung durch Sekundärrecht. RL 2000/43/EG des Rates vom 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der Ethnischen Herkunft, ABl 2000 L 180/22 (Anti-Rassismus-RL); RL 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl 2000 L 303/16 (Rahmen-RL); RL 2006/54/EG des EP und des Rates vom 5.7.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungs fragen, ABl 2006 L 204/23 (Gleichbehandlungs- oder Gender-RL) sowie RL 2004/113/ EG des Rates vom 13.12.2004 zur Verwirklichung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl 2004 L 373/37 („Unisex-Tarif-RL“). Vgl. näher Pöschl, Baustellen des Antidiskriminierungsrechts, in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.), Grundrechte im Europa der Zukunft (2010) 165 (169 ff. sowie zur Umsetzung im österreichischen Recht 181 ff.). ABl 2010 C 83/389. Zu den Anfängen der EuGH-Grundrechtsrechtsprechung vgl. Rs 29/69, Stauder, Slg 1969, 419 sowie umfassend Moser (FN 10).
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angesehen hat“ entspricht.16 Darüber hinaus sind in der Charta noch weitere Diskriminierungsverbote enthalten. So verbietet Art 21 Abs 1 GRC „Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“ und wiederholt in dessen Abs 2 das allgemeine Diskriminierungsverbot des AEUV, bei dem auf die Staatsangehörigkeit abgestellt wird. Eine Art Differenzierungsgebot lässt sich Art 22 GRC in Bezug auf die Achtung der „Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“ entnehmen. Art 23 GRC enthält für den Bereich des Unionsrechts ein umfassendes Gleichheitsrecht von Frauen und Männern, während für ältere Menschen (Art 25 GRC) sowie jene mit Behinderung (Art 26 GRC) lediglich Grundsätze normiert werden, die dem Einzelnen nicht zu subjektiven Rechten verhelfen. Etwas aus der Reihe schlägt die Erwähnung der Kinderrechte in Art 24 GRC, die man rein systematisch wohl nicht im Zusammenhang mit den Gleichheitsrechten erwartet hätte. In welchem Verhältnis diese unterschiedlichen Diskriminierungsverbote und Gleichheitsrechte zueinander stehen ist eine sehr komplexe Frage, die teils über die lex-specialis-Regel (also das Vorgehen der spezielleren Norm), teils über Anwendungskonkurrenzen (ein Nebeneinander mehrerer Normen) zu lösen ist.17 4. Der Begriff der Diskriminierung
Unter Diskriminierung kann ganz allgemein jegliche Unterscheidung, Abgrenzung oder Bevorzugung verstanden werden, die eine Aberkennung oder Verneinung gleicher Rechte oder ein erschwertes Ausüben zur Folge hat und sachlich nicht gerechtfertigt werden kann.18 Diskriminierung verhindert also Gleichheit. Folglich sollen hier Nichtdiskriminierung als Gleichheitssynonym und Diskriminierungsverbote und Gleichstellungs- bzw. Gleich16 17
18
ABl 2007 C 303/17. Dazu näher Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta und das Verhältnis zu sonstigen Gemeinschaftsrechten, Rechten aus der EMRK und zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa. Die Europäische Union nach Nizza (2002) 131 (147 ff.). Im Regelungsbereich einer Anti diskriminierungsrichtlinie „erübrigt sich die Prüfung, ob (…) ein Verstoß gegen denselben Grundsatz nach Maßgabe der Charta vorläge“, so etwa die Schlussanträge der GA Eleanor Sharpston vom 20.9.2012 in der Rs C-363/11, Elegktiko Sinedrio, Rn 80. Ähnlich Benedek, Menschenrechte verstehen (2009) 125. Pöschl (FN 14) 179, bezeichnet die Diskriminierung als „Kerngeschäft der Gleichheit“.
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behandlungsgebote als rechtlich vorgesehene Mittel zur Herstellung von Gleichheit verstanden werden. Der Gleichheitsgrundsatz beinhaltet den Auftrag, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches differenziert zu behandeln. Eine Diskriminierung ergibt sich daher sowohl aus ungerechtfertigten Ungleichbehandlungen als auch unsachlichen Gleichstellungen. Auf diese doppelte Ausprägung der Diskriminierung wird nachfolgend noch näher eingegangen. Begrifflich unterscheidet man offene (unmittelbare, direkte, formelle) von versteckten (mittelbaren, indirekte, materielle) Diskriminierungen. Offene Diskriminierungen sprechen das Unterscheidungskriterium (z. B. Zugehörigkeit zum Islam) direkt an, während versteckte Diskriminierungen einen indirekten Weg wählen, um dasselbe Ergebnis auf nur dem Anschein nach neutrale Art (z. B. über das Verbot von Kopfbedeckungen) zu erreichen. Um diese Umgehungsversuche zu unterbinden, hält der EuGH an sich beide Formen für mit dem Unionsrecht unvereinbar. Für das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 18 Abs 1 AEUV ist es demnach unerheblich, ob sich die Ungleichbehandlung explizit an die Staatsangehörigkeit oder indirekt an andere Kriterien knüpft, die erst bei genauem Hinsehen mehrheitlich EU-Ausländer benachteiligen (z. B. Wohnsitzerfordernis, regelmäßiger Aufenthalt, Zugehörigkeit zum nationalen System der sozialen Sicherheit). Kommen Steuerbegünstigungen ausdrücklich nur einheimischen Produkten zugute, liegt eine offene Diskriminierung vor. Ebenso verboten sind laut EuGH an sich neutrale Besteuerungs kriterien, die de facto ausländische Waren benachteiligen. Dies war etwa der Fall, weil Frankreich bei der Besteuerung von Branntweinen (vorwiegend in Frankreich hergestellte) Obstbranntweine besser stellte als Kornbranntweine (die bekanntlich überwiegend importiert werden).19 Schließlich sind dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren, die im Ergebnis ein Geschlecht erheblich benachteiligen offenen Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts gleichgestellt. Anlässlich eines österreichischen Anlassfalls erkannte der EuGH im Jahr 2011 etwa eine mittelbare Diskriminierung des weiblichen Geschlechts in der geringen Pensionsanhebung unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz, da diese prozentuell mehr Frauen betraf.20
19 20
Rs 168/78, Kommission/Frankreich, Slg 1980, 347. EuGH 20.10.2011 Rs C-123/10, Brachner.
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a. Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte
Der EuGH verlangt für die Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbotes in seiner ersten Ausprägung keine identischen, sondern vergleichbare Sachverhalte, was eine spezifische, konkrete Prüfung erfordert. So wird die Vergleichbarkeit von Erzeugnissen etwa danach geprüft, ob diese austauschbar sind und von Unternehmen, ob sie sich in einer vergleichbaren Marktsituation befinden. Führt eine Unionsmaßnahme eine fragliche Unterscheidung ein, ist die Vergleichbarkeit der kennzeichnenden Merkmale u. a. „im Licht des Ziels und des Zwecks“ dieser Maßnahme zu beurteilen, und es sind die „Grundsätze und Ziele des Regelungsbereiches zu berücksichtigen, dem die in Rede stehende Maßnahme unterfällt“. So können sich etwa der Stahl-, der Kunststoff- und der Aluminiumsektor im Hinblick auf deren CO2-Ausstoß in einer vergleichbaren Lage befinden, obwohl eine Richtlinie nur einen dieser Sektoren in den Anwendungsbereich aufgenommen hat.21 Noch Ende der 1990er-Jahre hielt der EuGH Lebensgefährten des gleichen Geschlechts nicht für vergleichbar mit heterosexuellen Partnern. Deshalb war auch in der RS Lisa Jacqueline Grant die Verweigerung einer Fahrtvergünstigung für die gleichgeschlechtliche Lebensgefährtin durch den Arbeitgeber keine verbotene Diskriminierung.22 In der Rs Maruko zeigte sich der EuGH offener, überließ jedoch letztlich dem vorlegenden Gericht die Beurteilung, ob sich in Deutschland überlebende Ehegatten und überlebende Lebenspartner in einer vergleichbaren Situation in Bezug auf die Hinterbliebenenversorgung befinden. Es komme hier nicht auf eine allgemeine Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft im Mitgliedstaat an, sondern konkret nur auf die Situation hinsichtlich der Witwen- oder Witwerrente. Im Falle einer Bejahung wäre dies laut Gerichtshof als unmittelbare Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung zu qualifizieren.23 Für nicht vergleichbar hielt der EuGH in seinem Urteil zur Bananenmarktordnung Bananenimporteure verschiedener Mitgliedstaaten aufgrund ihrer unterschiedlichen Marktsituation: Auf den offenen Inlandsmärkten konnten sich die Wirtschaftsteilnehmer nämlich mit Drittlandbananen versorgen ohne mengenmäßigen Beschränkungen zu unterliegen, für deutsche 21 22
23
Rs C-127/07, Arcelor Atlantique und Lorraine u. a., Slg 2008, I-9895 Rn 24 ff. Rs C-249/96, Grant, Slg 1998, I-621 Rz 35: „Demnach sind beim gegenwärtigen Stand des Rechts innerhalb der Gemeinschaft die festen Beziehungen zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts den Beziehungen zwischen Verheirateten oder den festen nichtehelichen Beziehungen zwischen Personen verschiedenen Geschlechts nicht gleichgestellt“. Rs C-267/06, Maruko, Slg 2008, I-1757 Rn 67–73. Ähnlich EuGH 10.5.2011 Rs C-147/08, Römer, im Zusammenhang mit Zusatzversorgungsbezügen.
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Importeure galt innerhalb ihres Kontingents sogar eine Zollbefreiung und Wirtschaftsteilnehmer auf den geschützten Inlandsmärkten vermarkteten ihre Bananen ohne Konkurrenz durch billige Drittlandbananen.24 b. Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte
Die sogenannte Avello-Entscheidung25 zum belgischen und spanischen Namensrecht hat schließlich gezeigt, dass auch die Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte von Art 18 AEUV erfasst ist. Der EuGH erkannte in dieser Entscheidung darin eine Diskriminierung, dass Belgier und belgisch-spanische Doppelstaatsbürger bei der Namensbildung vom Belgischen Rechtssystem gleich behandelt wurden. Dies zeigt deutlich die zweite Ausprägung der Nichtdiskriminierung, wonach Ungleiches grundsätzlich nicht gleich behandelt werden darf! c. Sonderfall Inländerdiskriminierung
Da sich die EU-Diskriminierungsverbote auf den Geltungsbereich des Unions rechts beziehen, finden diese auf sogenannte Inländerdiskriminierungen keine Anwendung. Bei einer solchen „umgekehrten Diskriminierung“ geht es um Fälle, wo Sachverhalte mit und ohne Grenzüberschreitung von einem Mitgliedsland unterschiedlich behandelt werden, was zu einer Schlechterstellung von Inländern gegenüber EU-Ausländern führt. Gelten in einem Mitgliedsstaat also für eigene Staatsbürger strengere Regelungen als für Unionsbürger, denen begünstigendes Unionsrecht (z. B. die Inanspruchnahme der Grundfreiheiten) zugutekommt, so ist dies aus der Sicht des EuGH mit dem Unionsrecht vereinbar. Der VfGH kann solche Ungleichbehandlungen allerdings im Rahmen der nationalen Grundrechtsprüfung aufgreifen. Der EuGH wertet etwa Grundverkehrsbestimmungen, wonach erworbene land- und forstwirtschaftliche Grundstücke selbst zu bewirtschaften sind, als unverhältnismäßige Beschränkung des freien Kapitalverkehrs.26 Solche Genehmigungsvoraussetzungen in nationalen Grundverkehrsgesetzen dürfen aufgrund des Anwendungsvorranges des Unionsrechts auf grenzüberschreitende Sachverhalte nicht mehr angewendet werden, sie bleiben jedoch für rein inländische Sachverhalte aufrecht. Dadurch kommt es zu einer Schlechterstellung österreichischer Staatsbürger, denn einem inländischen Grund
24 25 26
Rs C-280/93, Deutschland/Rat, Slg 1994, I-4973 Rn 69 ff. Rs C-148/02, Garcia Avello, Slg 2003, I-11613 Rn 31. Rs C-452/01, Ospelt, Slg 2003, I-9743.
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erwerber, der sein Grundstück verpachten würde, bliebe die Grundverkehrsgenehmigung aufgrund der fehlenden Selbstbewirtschaftung versagt. Dem EuGH sind mangels Zuständigkeit in Hinblick auf solche umgekehrten Diskriminierungen die Hände gebunden. Der VfGH prüft hier regelmäßig nach dem nationalen Gleichheitsgrundsatz (Art 7 B-VG, siehe dazu oben) und hat auch die in Rede stehende Tiroler Regelung als gleichheitswidrige Inländerdiskriminierung aufgehoben.27 5. Diskriminierungsfälle in der EuGH-Judikatur a. Grundfreiheiten
Der von der Union errichtete Binnenmarkt umfasst nach Art 26 AEUV „einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist“. Um das Funktionieren dieses gemeinsamen Marktes zu sichern, sehen die Grundfreiheiten ein besonderes Diskriminierungsverbot vor: Marktteilnehmer oder Produkte anderer EU-Mitgliedstaaten dürfen nicht schlechter behandelt werden als inländische Marktteilnehmer oder Produkte. Ergänzend sind auch nicht diskriminierende Beschränkungen (also jene, die nicht nach der Staatsangehörigkeit unterscheiden, sondern unterschiedslos gelten) untersagt, wenn sie sich auf den Marktzugang negativ auswirken (Beschränkungsverbot). Dieses System von Diskriminierungs- und Beschränkungsverboten ist im Grunde allen Grundfreiheiten gemeinsam.28 Die Warenverkehrsfreiheit (Art 28 ff. AEUV) erfasst den ungehinderten Grenzübertritt und Markteintritt von Gemeinschaftswaren (also solche körperlichen und geldwerten Gegenstände, die aus den Mitgliedstaaten stammen oder sich seit der ordnungsgemäßen Einfuhr aus Drittländern im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden) und verbietet daher mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung. Während bei offenen Diskriminierungen klar an die Herkunft des Erzeugnisses angeknüpft wird, suggerieren versteckte Diskriminierungen bloß ein Abstellen auf neutrale Kriterien (z. B. Herstellungsart, die jedoch nur in einer gewissen Region verbreitet ist). Einen mittelbar diskriminierenden Charakter entfalten weiters Kennzeichnungspflichten für Verbrauchsgüter in der jeweiligen Sprache des Vermarktungsgebietes, da dies importierte Waren faktisch mehr belastet als inländische.29 Vertriebsbezogene Maßnahmen (z. B. Werbe 27 28 29
VfSlg 18.656/2008. Siehe dazu näher Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union5 (2012) Rz 876 ff. Rs C-33/97, Colim, Slg 1999, I-3175.
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verbote, Pflicht zur Gründung einer Niederlassung) sind dann verboten, wenn sie für eingeführte Waren mit höheren Kosten verbunden sind und diese gegenüber inländischen Produkten grob benachteiligen. Da dies z. B. auf nationale Ladenschlussregelungen nicht zutrifft, erfüllen solche bloßen Verkaufsmodalitäten gar nicht den Tatbestand des Art 34 AEUV.30 Abweichungen von der grundsätzlichen Idee der Warenverkehrsfreiheit, dass alle in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellten und in den Verkehr gebrachten Erzeugnisse auch in jedem anderen Mitgliedsland zulässig sein sollen, können mit Hilfe der Schutzgüter des Art 36 AEUV (z. B. öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit) gerechtfertigt werden, wobei dem EuGH bei der Anerkennung weiterer „zwingender Gründe des Allgemeininteresses“ für nichtdiskriminierende Beschränkungen eine große Bedeutung zukommt.31 Im Mai 2011 wurde Belgien in einem Vertragsverletzungsverfahren aufgrund eines Verstoßes gegen die Niederlassungsfreiheit verurteilt, weil es den Notarberuf EU-Ausländern vorenthalten hatte.32 Staatsbürgervorbehalte dürfen nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nur bei solchen Tätigkeiten erlassen werden, die unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffent licher Gewalt (Art 51 AEUV) verbunden sind. Da dies weder bei der Beurkundungstätigkeit der Notare noch bei anderen notariellen Aufgaben der Fall war, stellte das Staatsangehörigkeitserfordernis hinsichtlich des Zuganges zum Beruf des Notars eine iSd Niederlassungsfreiheit verbotene Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar. b. Diskriminierung zwischen Unionsbürgern
Der zweite Teil des AEUV beschäftigt sich mit dem Thema „Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft“. Dies wird zuweilen als Hinweis auf deren enge Verknüpfung gedeutet. Während die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit eine Gleichstellung wirtschaftlich aktiver Personen mit Inländern beinhalten, war die Idee einer generellen Gleichbehandlung von Unionsbürgern mit Inländern in den einzelnen Mitgliedstaaten („Inländerbehandlung“) erst ab den 1980er Jahren im Zusammenhang mit dem Hochschulzugang für Studierende geboren. Da diese die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht in Anspruch nehmen konnten, verblieb nur eine Schutzmöglichkeit über das allgemeine Diskriminierungsverbot, das der EuGH in der Rs Gravier in großzügiger Weise als beachtlich ansah, solange sich der Sachverhalt „nicht außerhalb des Gemeinschaftsrechts“ befindet.33 30 31 32 33
Verb Rs C-69/93 und C-258/93, Punto Casa und PPV, Slg 1994, I-2355. Zur Rechtfertigung von Diskriminierungen vgl. unten. EuGH 24.5.2011 Rs C-47/08, Kommission/Belgien. EuGH Rs 293/83, Gravier, Slg 1985, 593 Rn 19.
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Heute dient als häufigster Anknüpfungspunkt die unionsbürgerliche Freizügigkeit (Art 21 AEUV), also das Recht, sich im „Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten (…) frei zu bewegen und aufzuhalten“. Damit hat sich das Diskriminierungsverbot völlig von einem bislang erforderlichen Marktzugangs- oder Erwerbsbetätigungskonnex gelöst. Es kann sich nunmehr jeder gegenüber Inländern des Aufnahmemitgliedstaates schlechter gestellte Unionsbürger gegen Diskriminierungen im Anwendungsbereich des Unionsrechts zur Wehr setzen, sofern er „sich rechtmäßig im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält“.34 Damit ist gewährleistet, dass der Mitgliedstaat Unionsbürger von sozialen und anderen staatlichen Leistungen (z. B. Erziehungsgeld, Sozialhilfe, Stipendien, Beihilfen zur Deckung von Unterhaltskosten) nicht in diskriminierender Weise ausschließen darf. Diese Judikatur hat beispielsweise die österreichischen Universitäten in Bezug auf den Zustrom deutscher Studierender, die im Heimatstaat die Numerus-Clausus-Hürde nicht gemeistert haben, stark in Bedrängnis gebracht.35 Einige Jahre später schloss der EuGH nicht mehr aus, dass Zugangsbeschränkungen (konkret für nicht ansässige Medizinstudierende in Belgien) zum Schutze der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt werden können.36 Die Unionsbürgerschaft verhilft aber nicht nur zu nationalen Sozialleistungen. Inzwischen scheint der EuGH die Gleichstellung der Unionsbürger auch auf nationale Grundrechte auszudehnen, wenn dies die Aufenthaltsoder Bewegungsfreiheit eines Unionsbürgers zu erleichtern vermag. Deshalb darf – wie im Fall Bickel und Franz entschieden wurde – ein Österreicher in Südtirol ebenso wie die deutschsprachige Minderheit die deutsche Sprache vor italienischen Behörden und Gerichten verwenden.37 c. Diskriminierung zwischen den Geschlechtern
Gleichbehandlung zwischen Frauen und Männern betraf in den Anfängen regelmäßig Fragen der Lohndiskriminierung. Frankreich setzte sich einst dafür ein, dass der „Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit“ 1957 in die Römischen Verträge aufgenommen wird. Dies sollte die französische Textilbranche vor Wettbewerbsnachteilen gegenüber jenen EWR-Staaten, die Billiglöhne für Frauen zuließen, schüt34 35 36 37
Für viele Rs C-85/96, Martínez Sala, Slg 1998, I-2691 Rz 63 und Rs C-209/03, Bidar, Slg 2005, I-2119 Rn 32 m. w. N. Vgl. dazu näher Griller (FN 10) 212 ff. Rs C-147/03, Kommission/Österreich, Slg 2005, I-05969 Rn 32 ff. Kritisch dazu Griller, Hochschulzugang in Österreich: Von Missverständnissen und Kurzschlüssen beim Diskriminierungsschutz, JBl 2006, 273 (278 ff.). Rs C-73/08, Bressol, Slg 2010, I-2735. Rs C-274/96, Bickel und Franz, Slg 1998, I-7637 Rn 16 f.
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zen.38 Klar prägend für die Durchschlagskraft des damaligen Art 119 EWR-V39 war die Urteils-Serie zum Fall Defrenne. Gabrielle Defrenne arbeitete als Stewardess bei der belgischen Luftfahrtgesellschaft Sabena. Ihr Arbeitsvertrag sah – wie bei den anderen weiblichen Bordbegleitern – neben einer geringeren Entlohnung ein früheres Ausscheiden aus dieser Tätigkeit (mit 40 statt 55 Jahren) im Vergleich zu den männ lichen Kollegen vor. Dadurch ergab sich auch eine vergleichsweise schlechtere spätere Altersversorgung, weshalb Frau Defrenne die einschlägige belgische Norm für Altersrenten bekämpfte und unter Bezugnahme auf Art 119 EWRV, die Sabena vor dem belgischen Arbeitsgericht verklagte. In diesem Zusammenhang kam es zu drei Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH. Im ersten Urteil schloss der EuGH aus, dass die im Rahmen eines gesetzlichen Sozialversicherungssystems gewährte Altersrente den Entgeltbegriff und damit den Tatbestand des Art 119 EWR-V erfülle.40 In der bahnbrechenden Entscheidung Defrenne II 41 stellte der EuGH klar, dass der Grundsatz des gleichen Entgelts zu den Grundlagen der Gemeinschaft gehöre (Rn 12) und unmittelbare Wirkung habe (Rn 67), also individuelle Rechte des einzelnen begründe. Frau Defrenne könne sich somit vor nationalen Gerichten gegen die unterschiedliche Bezahlung von weiblichen und männlichen Flug begleitern auf Grundlage dieser europarechtlichen Bestimmung wehren. Eine erneute Vorlage des Belgischen „Cour de Cassation“ klärte für die Zeit des Ausgangsrechtsstreits, dass abseits von Entgeltfragen europarechtlich keine Geschlechtergleichbehandlung in Bezug auf sonstige Arbeitsbedingungen geboten sei (Rn 24, 33).42 Damit blieb ein Erfolg bezüglich der begehrten Abfindung für die vorzeitige Vertragsbeendigung und für die hinsichtlich der Rente entstandenen Nachteile verwehrt. Die Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen erweiterte die Gleichstellung der Geschlechter
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39 40 41 42
Vgl. dazu Stüber, Europäische Union, Geschlecht und Wohlfahrtsstaat (2004) 56; Ostner/Lewis, Geschlechterpolitik zwischen europäischer und nationalstaatlicher Regelung, in: Leibfried/Pierson, Standort Europa. Sozialpolitik zwischen Nationalstaat und euro päischer Integration (1998) 196 (198 f ). Vgl. heute Art 157 AEUV. Rs 80/70, Defrenne I, Slg 1971, 445. Rs 43/75, Defrenne II, Slg 1976, 455. Unrichtig dazu Ostner/Lewis (FN 38) 204, die meinen, der EuGH habe die Sabena hier zu Schadenersatz verurteilt, was in einem Vorabentscheidungsverfahren gar nicht möglich ist. Rs 149/77, Defrenne III, Slg 1978, 1365. Zur Wirkung der Defrenne-Klage als Präzedenzfall siehe Dertinger, Als Europa den Stier bei den Hörnern packte. Die Anfänge der Gleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz; veröffentlicht unter http:// www.weltderarbeit.de/PDF_Dateien/Dertinger.pdf.
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erstmals in Hinblick auf das gesamte Erwerbsleben und war in den nationalen Gesetzen bis zum 12.8.1978 umzusetzen.43 Sie wurde durch die RL 2002/73/EG geändert (ABl 2002 L 269/15) und von der nunmehr geltenden RL 2006/54/EG (Gender- oder Gleichbehandlungs-RL, ABl 2006 L 204/23) ersetzt.44 Heute findet sich die Gleichheit beider Geschlechter in Bezug auf das Arbeitsentgelt im unmittelbar anwendbaren Art 157 Abs 1 AEUV sowie in Art 23 GRC.45 Letzterer ist allerdings weiter formuliert, indem hier die „Gleichheit von Frauen und Männern „in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen“ ist. Auch wenn die beiden Geschlechter damit formal gleich sind, hindert dies die Mitgliedstaaten nicht daran, das „unterrepräsentierte Geschlecht“ in Bezug auf die Erleichterung der Berufstätigkeit oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn zu begünstigen (Art 157 Abs 4 AEUV, Art 23 Abs 2 GRC). Die Union ist selbst Adressatin des Gebotes der Nichtdiskriminierung der Geschlechter in Art 21 Abs 1 GRC, Mitgliedstaaten und Private werden idR sekundärrechtlich mit ins Boot geholt. Nicht zuletzt dank der nunmehr detaillierteren Rechtsgrundlagen war der EuGH seit der Rs Defrenne bereits mit einer Vielzahl an interessanten Geschlechtergleichbehandlungsfragen beschäftigt, z. B. mit Frauenquoten46, Kinderbetreuungsplätzen47, Pensionen48, Stillurlaub49 und dem Zugang von Frauen zum Bundesheer.50 43 44
45 46 47
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49 50
ABl 1976 L 39/40. Auf Grundlage des Art 19 AEUV bzw. seiner Vorgängerregelung Art 13 EGV wurden weitere Maßnahmen zur Diskriminierungsbekämpfung durch die Union erlassen, wie z. B. die Rahmenrichtlinie 2000/78/EG oder die RL 2004/113/EG zur Gleichstellung der Geschlechter außerhalb des Erwerbslebens (z. B. in Hinblick auf Versicherungen); vgl. FN 14. Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht (2012) 691 Rz 1. Rs C-450/93, Kalanke, Slg 1995, I-3051 sowie Rs C-409/95, Marschall, Slg 1997, I-6363, wonach flexible Quotenregelungen mit Härtefallklauseln für Männer europarechts konform sind. Rs C-476/99, Lommers, Slg 2002, I-2891: Hier hat der EuGH die Bevorzugung von weiblichen Beamten bei der Vergabe von knappen Kinderbetreuungsplätzen durch ein Ministerium nicht beanstandet, sofern alleinerziehenden Männern der Zugang unter den gleichen Bedingungen ermöglicht wird. Vgl. etwa Rs C-19/02, Hlozek, Slg 2004, I-11491, wo entschieden wurde, dass das unterschiedliche Rentenalter bei Gewährung von Überbrückungsgeld wegen unterschiedlicher Situationen nicht EG-widrig sei, sowie die Entscheidung zur EU-Widrigkeit der öster reichischen Pensionsanpassung 2008 (Rs Brachner, FN 20). Rs C-104/09, Alvarez, Slg 2010, I-8661, wonach eine Ungleichbehandlung von Müttern und Vätern bei der Inanspruchnahme eines „Stillurlaubes“ im Widerspruch zum EURecht steht. Rs C-285/98, Kreil, Slg 2000, I-69 (zur Geschlechterdiskriminierung durch eine deutsche Regelung, die Frauen allgemein vom Dienst mit der Waffe ausschloss und ihnen nur den Zugang zum Sanitäts- und Militärmusikdienst erlaubte).
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Interessant ist auch, dass sich der EuGH um eine mögliche „Verfestigung der herkömmlichen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau“ sorgt und bei seiner Beurteilung mit ins Kalkül zieht.51 d. Altersdiskriminierung
Während die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf zunächst in erster Linie die Geschlechter betraf, tauchten in der Rechtsprechung später auch Fragen der Diskriminierung aufgrund des Alters als eine neue Dimension in diesem Bereich auf. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch die RL 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, die sich gemäß Art 1 auch auf das geschlechtsunabhängige Verhältnis jüngerer und älterer Arbeitnehmer bezieht. Nach Art 3 entfaltet diese RL Geltung für „alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlichen Stellen, in Bezug auf die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, einschließlich des beruflichen Aufstiegs“ (lit a) und „die Beschäftigungsund Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts“ (lit c). Unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlungen können allerdings im Bereich der Beschäftigungspolitik, des Arbeitsmarktes und der beruflichen Bildung gerechtfertigt sein (Art 6 Abs 1 RL). Für die mitgliedstaatliche Umsetzung hinsichtlich Diskriminierungen aufgrund von Alter oder Behinderung konnte eine Verlängerung der Frist bis spätestens zum 2.12.2006 beantragt werden. Die Rs Mangold gilt als eine der wichtigsten EuGH-Entscheidungen im Bereich des Arbeitsrechts.52 Der damals 56-jährige Werner Mangold schloss einen befristeten Arbeitsvertrag mit dem Rechtsanwalt Rüdiger Helm, der später Anlass für einen Vorlageantrag durch das Arbeitsgericht München bot. Fraglich war nämlich, ob die damals geltende deutsche Regelung (§ 14 Abs 3 Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge, kurz TzBfG), wonach befristete Arbeitsverträge mit Arbeitnehmern, die das 52. Lebensjahr vollendet haben, uneingeschränkt zulässig waren, im Widerspruch zum Verbot der Altersdiskriminierung stand. Deutschland versuchte die Regelung iSd Art 6 Abs 1 der RL mit der Förderung der beruflichen Eingliederung arbeitsloser älterer Arbeitnehmer zu rechtfertigen. Weil aber aufgrund dieser 51 52
Regelungen dürften etwa nicht dazu führen, dass dem Mann eine untergeordnete Rolle im Hinblick auf die Ausübung der elterlichen Gewalt zugewiesen wird. Vgl. dazu Rs Lommers (FN 47) Rn 41 und Rs Alvarez (FN 49) Rn 36. Rs C-144/04, Mangold, Slg 2005, I-9981.
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weiten Regelung ältere Arbeitnehmer über 52 Jahre Gefahr liefen, von festen Beschäftigungsverhältnissen de facto ausgeschlossen zu sein, hielt der EuGH diese dennoch über das hinausgehend, was zur Erreichung des legitimen Ziels erforderlich ist. Knackpunkt dieser Entscheidung war die Frage, wie der EuGH das Heranziehen des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbotes überhaupt argumentieren konnte. Man muss bedenken, dass zu diesem Zeitpunkt ein geschriebenes Altersdiskriminierungsverbot nicht existierte. Ein solches war nur in der RL 2000/78/EG enthalten, deren Umsetzungsfrist jedoch für Deutschland (aufgrund der beantragten Fristerstreckung) noch offen war. Die Lösung ergab sich für den EuGH dadurch, dass er den Ursprung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf nicht in der Richtlinie sah, sondern „in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten“. So konnte er das Verbot der Altersdiskriminierung als ungeschriebenen „allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ mit Primärrechtscharakter zur Anwendung bringen und nationale Maßnahmen im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts unabhängig von etwaigen Umsetzungsfristen direkt daran messen. Dieses Urteil ist viel zitiert, viel kritisiert und zuweilen missverstanden worden.53 Keineswegs hatte der EuGH geplant, der Richtlinie zu einer unmittelbaren horizontalen Drittwirkung zu verhelfen. Der Durchgriff eines primärrechtlichen Verbots der Altersdiskriminierung kam hier nur deshalb zustande, da § 14 Abs 3 TzBfG in Umsetzung einer anderen Richt linie (nämlich der RL 1999/70/EG des Rates vom 28.6.1999 über befristete Arbeitsverträge) ergangen war, was die Regelung in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts brachte (Rn 75). In der Rs Bartsch distanzierte sich der EuGH deshalb ausdrücklich von dem in Mangold entstandenen Eindruck, die Mitgliedstaaten wären generell (auch ohne einen solchen gemeinschaftsrechtlichen Bezug) schon vor Ablauf der RL-Umsetzungsfrist zum Schutz vor Altersdiskriminierung verpflichtet.54
53
54
Vgl. Herzog/Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ vom 8.9.2008, Nr 210, 8 sowie jeweils m. w. N. Bauer/Arnold, Auf „Junk“ folgt „Mangold“, NJW 2006, 6; Streinz/Herrmann, Der Fall Mangold – eine „kopernikanische Wende im Europarecht“? RdA 2007, 165 (168); Temming, Freie Rechtsschöpfung oder nicht: Der Streit um die EuGH-Entscheidung Mangold spitzt sich zu, NJW 2008, 3404 (3405); Preis/Temming, Der EuGH, das BVerfG und der Gesetzgeber – Lehren aus Mangold II, NZA 2010, 185 (193); Manthey/Unseld, Grundrechte vs. „effet utile“ – Vom Umgang des EuGH mit seiner Doppelrolle als Fach- und Verfassungsgericht, ZEuS 2011, 323 (334 ff.); Gagawczuk, Soziale Grundrechte und die Rechtsprechung des EuGH, RdA 2012, 565 (567, 570). Vgl. Rs C-427/06, Bartsch, Slg 2008, I-7245, wo sich der streitige Sachverhalt bezüglich einer Hinterbliebenenrente ohne Bezug zum Europarecht und noch vor Ende der Richtlinienumsetzungsfrist ereignete.
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Die Rechtslage hat sich seither insofern geändert, als die Umsetzungsfrist mittlerweile für alle Mitgliedstaaten abgelaufen ist (und solche Sachverhalte deshalb jedenfalls in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen) und Diskriminierungen wegen des Alters nunmehr auch gemäß Art 21 Abs 1 GRC verboten sind.55 6. Gerechtfertigte Diskriminierungen
Betrachtet man den reinen Wortlaut des Art 18 Abs 1 AEUV, scheint es keine Möglichkeit zu geben, Differenzierungen unter Unionsbürgern zu rechtfertigen. Der EuGH lässt dies allerdings in ständiger Rechtsprechung für (versteckte) Diskriminierungen zu, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit des Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck stehen, der mit den nationalen Rechtsvorschriften verfolgt wird.56 Diese objektiven Gründe schließen willkürliche Differenzierungen aus. Eine Maßnahme ist laut EuGH dann verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hierfür notwendige Maß hinausgeht.57 Ob offene Diskriminierungen absolut verboten oder auch rechtfertigbar sind, ist strittig.58 Manchmal findet sich auch der Zugang, dass schon tatbestandsmäßig eine mittelbare Diskriminierung ausscheidet, sobald eine differenzierende Behandlung objektiv gerechtfertigt ist. Danach läge gar keine gerechtfertigte sondern überhaupt keine Diskriminierung vor.59 Ein anschauliches Beispiel für die Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit bietet der Fall Gottwald.60 Arthur Gottwald, ein querschnittsgelähmter deutscher Tourist, wurde auf dem Weg zu seinem österreichischen Urlaubsort auf einer mautpflichtigen Autobahn ohne Vignette angetroffen und daraufhin zu einer Geldstrafe von € 200,– verurteilt. Im Berufungsverfahren machte er geltend, ihm müsse 55
56 57 58 59 60
Zur neueren Rsp vgl. insb. Rs C-555/07, Kücükdeveci, Slg 2010, I-365 (Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer bei der Berechnung der Kündigungsfrist); verb Rs C-250/09 und C-268/09, Georgiev, Slg 2010, I-11869 (Zwangspensionierung eines Universitäts professors im Alter von 68 Jahren) sowie aktuell EuGH 7.6.2012 Rs C-132/11, Tyrolean Airways (Nichtberücksichtigung der Berufserfahrung innerhalb des Konzerns ist keine Altersdiskriminierung). Siehe auch Rebhahn, Altersdiskriminierung in der Judikatur des EuGH, wbl 2011, 173. Für viele Rs Bidar (FN 34) Rn 52 f und EuGH 12.5.2011 Rs C-176/09, Luxemburg/ Parlament und Rat. Vgl. Rs C-192/05, Tas-Hagen und Tas, Slg 2006, I-10451 Rn 35. Bejahend u. a. Mayer in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union (2012) Rn 257; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht8 (2012) 720. Vgl. z. B. Lachmayer/Bauer (Hrsg.), Praxiswörterbuch Europarecht (2008) 197. Rs C-103/08, Gottwald, Slg 2009, I-9117.
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aufgrund seiner Unionsbürgerschaft ebenso wie behinderten Österreichern eine Gratis-Jahresvignette zur Verfügung gestellt werden. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Vorarlberg zog daher den EuGH mit der Vorlagefrage zu Rate, ob die nationale Norm, wonach nur behinderten Personen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich Anspruch auf eine kostenlose Vignette haben, gegen das allgemeine Diskriminierungs verbot verstoße. Der EuGH erkannte in der Begünstigung von Behinderten, die in Österreich wohnen oder sich dort gewöhnlich aufhalten, eine versteckte (hier: „verdeckte“) Form der Diskriminierung, da sich diese Regelung „hauptsächlich zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten“ auswirkt (Rn 28–30). Eine mögliche Rechtfertigung wurde anschließend mit den beiden üblichen kumulativen Kriterien „objektive Erwägungen des Allgemeininteresses“ und „Verhältnismäßigkeit“ geprüft. Die österreichische Regierung verteidigte die Regelung mit der Begründung, sie fördere die Mobilität und soziale Integration von behinderten Menschen, denen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar sei. Die Jahresvignette decke eine häufige Benützung des Straßennetzes ab, weshalb das Wohnsitz- bzw. Aufenthaltserfordernis als Ausdruck eines gewissen Grades an Integration in die österreichische Gesellschaft zu werten sei. Für die Bestimmung der Intensität dieser Verbindung zwischen Leistungsempfänger und leistendem Staat gesteht der Gerichtshof den Mitgliedstaaten in der neueren Rsp weites Ermessen zu, wenn es sich um nicht unionsrechtlich geregelte Leistungen handelt. Den Ausschluss von Urlaubern und anderen Kurzzeitbenutzern des Straßennetzes von der Gratisvignette hielt der EuGH daher für angemessen, wenn die Regelung ansonsten einer weiten Auslegung zugunsten jener Behinderten, die sich aus beruflichen oder persönlichen Gründen regelmäßig in diesen Staat begeben, offen ist. Es wurde bereits kurz darauf hingewiesen, dass die Bestimmungen über die Grundfreiheiten eigene Rechtfertigungsgründe für diskriminierende Maßnahmen der Mitgliedstaaten auflisten. Art 36 AEUV lässt für den Bereich des freien Warenverkehrs als Schutzgüter z. B. die öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, den Gesundheitsschutz, den Schutz des nationalen Kulturguts und des gewerblichen sowie kommerziellen Eigentums zu. Teilweise zieht der EuGH auch bei versteckten Diskriminierungen die an sich für unterschiedslose Beschränkungen entwickelten „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses“ (z. B. Umweltschutz) zur Rechtfertigung heran.61 Belange der öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit vermögen auch Diskriminierungen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit zu rechtfertigen (Art 45 Abs 4 und Art 52 Abs 1 AEUV).62 Zulässig
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Rs C-2/90, Kommission/Belgien, Slg 1992, I-4431 Rn 29 ff. Borchardt (FN 28) Rz 941 ff., 1017 sowie 1058.
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sind allerdings nur verhältnismäßige Maßnahmen, die zur Zielerreichung geeignet, erforderlich und insgesamt angemessen sind.63 Auch im Rahmen der GRC gibt es gerechtfertigte Diskriminierungen, sofern sie iSd Art 52 Abs 1 GRC gesetzlich vorgesehen, den Wesensgehalt achtend und verhältnismäßig sind. Bei Gleichheitsrechten wird genau geprüft, ob es für Differenzierungen einen objektiven, sachlichen Grund gibt. Dabei ist das Vorliegen der rechtfertigenden Umstände umso strenger zu prüfen, je mehr auf vorgegebene, nur sehr schwer oder gar nicht beeinflussbare menschliche Merkmale (z. B. Alter, Geschlecht) abgestellt wird.64 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass je nach betroffenem Diskriminierungstatbestand eigene Rechtfertigungsmöglichkeiten bestehen, die sich im Grunde genommen sehr ähnlich sind. Gemeinsam ist all diesen Fällen, dass bei der Begründung Sachlichkeit und Objektivität gefordert ist und eine gewisse, in ihrer Ausprägung unterschiedliche, Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt wird. Nur bei den Grundfreiheiten werden die mit der Diskriminierung angestrebten Zielsetzungen in Form von bestimmten schützenswerten Gütern vorgegeben. Bei der Grundrechtsprüfung muss das Ziel laut Art 52 Abs 1 GRC dem Gemeinwohl dienen und vom Unionsrecht anerkannt sein. 7. Würdigung und Ausblick
Der EuGH hat dem Begriff der Gleichheit als Wert sowie als Grundrecht der Union zum Durchbruch verholfen. Es konnte gezeigt werden, wie vielfältig Rechtsgrundlagen und Anwendungsbereiche mittlerweile geworden sind. Beides geht in gewisser Weise auf die Tätigkeit des Gerichtshofes zurück: Zum einen fanden bereits viele Lösungsansätze der Rechtsprechung Eingang in das geschriebene Recht, zum anderen macht der EuGH immer mehr Anlassfälle systematisch zu Diskriminierungsfällen, was mitunter heftig kritisiert wird. Derzeit ist noch nicht abschätzbar, wohin die Reise noch gehen wird, ob der EuGH also seine weite Anwendungspraxis beibehalten oder wieder zurücknehmen wird. Mit Spannung ist auch ein künftiger Beitritt der Europäischen Union zur EMRK zu erwarten, zumal sich der EuGH hier einem reinen Grundrechtsgericht unterordnen müsste, was interessante Fallkonstellationen mit sich bringen dürfte.
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Vgl. zur Zulassung von Vitaminpräparaten Rs C-387/99, Kommission/Deutschland, Slg 2004, I-3751 Rn 77. Haratsch/Koenig/Pechstein (FN 58) Rz 688.
William J. F. Keenan
Über kleine Freiheiten: Die Dualität der Bekleidungsfreiheit
It might strike the reflective mind with some surprise that hitherto little or nothing of a fundamental character, whether in the way of philosophy or history, has been written on the subject of Clothes. (Thomas Carlyle1) Einleitung: Freiheit im Allgemeinen
Gleichheit ist ein Wert, der historisch mit Freiheit verbunden ist. Freiheit freilich könnte ein „Recht auf Ungleichheit“ nahelegen. Die Freiheit, anders zu sein, soll in diesem Beitrag am Beispiel der Kleidung nachgezeichnet werden. Freiheit ist eines der unverfroren widerhallenden Jubelwörter der Menschheit. Wie andere „dieser enormen unpersönlichen Kräfte“, um hier T. S. Eliots Notes Towards the Definition of Culture 2 zu zitieren – z. B. Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Glück und Liebe – erscheint Freiheit als ein selbstverständliches Gut, eine Art pathetisches, unantastbares Prinzip, für das Individuen, Klassen und Nationen bereit sind, alles zu opfern. Ihr Name rechtfertigt das Vergießen fremden Blutes. Die Durchsetzung und Verteidigung der Freiheit, wie enorm ihre Bedeutung und ihre Folgen auch immer sind3, vermögen sowohl dem Leben und als auch dem Tod Würde und Sinn zu geben. Von allen höchsten Werten rühmt sich die Freiheit, die lauteste und stolzeste Glocke zu sein. Sie ist beharrlich, heftig und unterschiedslos in ihrem Appell: „Tolling for the rebel … the rake … the outcast burnin’ at the stake … Striking for the gentle … the kind … the guardians and protectors of the mind“, wie es Bob Dylan – Sprachrohr aller Troubadoure, die im Laufe der Jahrhunderte „gazed upon the chimes of freedom flashing“ – in seiner Hymne Chimes of Freedom ausdrückte.
1 2 3
Carlyle, T., Sartor Resartus. The Life and Opinions of Herr Teufelsdröckh, London 1869. Eliot, T. S., Notes Towards a Definition of Culture. London 1973, Original 1948, 88. Kirk, J. A., The Meaning of Freedom. A Study of Secular, Muslim, and Christian Views. Carlisle 1998.
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Aufsässig läutet Freiheit zu verschiedensten Zeiten und an allen mög lichen Orten, an Dorfplätzen, Kirchhöfen und Mahnmalen, durch großstädtischen Äther zur elften Stunde, an den verbarrikadierten Fabrikstoren und den zornigen Mündern der Bergwerke, wo auch immer die Mauern der Tyrannei zu bröckeln beginnen und einsame Märtyrer/innen Panzern gegenüber stehen. Der Ruf nach Freiheit hallt durch marmorne Mausoleen des nationalen Gedächtnisses; er weckt schlummernde Fantasien und begeistert Witwenherzen; sakralisiert ferne Schlachtfelder und heiligt die Berghöhlen der Helden und hallt für immer in düsteren Ecken ferner, fremder Felder wider. Der romantische Reiz der Freiheit ist offensichtlich. Romantik ist diesem umkämpften Konzept inhärent. Wer wäre je dem „Impuls der Freiheit“4 gleichgültig gegenübergestanden? Ihre Geschichten – gefasst in Balladen, Legenden oder Idyllen, oder in Abhandlungen unangefochtener hochkultureller Prägung, wie z. B. von Lord Acton, J. S. Mill, Jean Paul Sartre, Karl Popper, Isaiah Berlin, Maurice Cranston – offenbaren eine starke Involvierung der Herzen – wie überhaupt das Hofieren, das Werben der Freiheit, so steht zu vermuten, die grundlegende Antriebskraft des menschlichen Geistes ist, auch wenn Gerechtigkeit und Liebe ebenso ihre berechtigten Ansprüche darauf stellen. Die Geschichte des unermüdlichen Freiheitsmarsches begründet die progressive „Whig“ Lesart von Geschichte. Bis zu den post-60er „Jahrzehnten der Befreiung“ der „unvollendeten Revolutionen“ von Frauen, Schwarzen, Homosexuellen, Behinderten usw. neigte diese progressive Auffassung von Geschichte – mit singulären Ausnahmen wie Spartakus, Savonarola, Emily Pankhurst, Marcus Garvey, Marie Curie, Rosa Parks, Nelson Mandela und andere derartige Vorbilder – zu einer triumphalistischen Erzählung, die von den politischen und sozialen Errungenschaften der (üblicherweise) weißen, heterosexuellen, nichtbehinderten Männern dominiert wurde. Die materiell Hauptbegünstigten positionieren sich in solchen Angelegenheiten gewöhnlich auch als die Hauptgeschichtsschreiber. Wie Berlin in seinem Aufsatz „Historical Inevitability“5 schreibt: „[T]here is no sharp break between history and mythology; or history and metaphysics“. Natürlich werden „Historien“, ähnlich wie andere „große Erzählungen“, nicht einfach von den einstigen „Siegern“ entworfen. Wie Machiavelli und Sorel schon zeigten, sind solche vorherrschende „politische Mythen“ verbreitetes Allgemeinwissen. Es ist aber niemals ein einzelner Hieb eines einzigen Armes, der die Unfreiheit abschüttelt. Unfreiheit ist ja tief verwurzelt in politischen, wirtschaftlichen und religiösen Strukturen von Despotismus, Diskriminierung, Ignoranz, Krank-
4 5
Vgl. Bhaskar, R., Dialectic. The Pulse of Freedom. Classical Texts, in: Critical Realism. London 2008. Hardy, Henry (Hrsg.), Isaiah Berlin. Liberty. Oxford 2002, 157.
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heit und Armut in all ihren erniedrigenden und abwertenden Arten und Weisen. Diese „Giganten“, wie Dickens der Romancier und Beveridge der Wohlfahrtsreformer wussten, arbeiten sich heimtückisch in den gewohnten Trott des alltäglichen Lebens. Deshalb muss die abgehobene Geschichte der Freiheit herabsteigen in die Niederungen des alltäglichen, wirklichen Lebens, wo die „kleinen Freiheiten“ entweder blühen oder am Rebstock vergehen. Wo „kleine“ Rechte wie die Selbstbestimmung der Bekleidung unterdrückt oder missachtet werden, dort sind die „großen“ Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit – von denen Bekleidungsrechte eine Ausgestaltung und ein Ausdruck sind – gefährdet. Wir werden ganz und gar menschlicher und „menschenwürdiger“ (und man kann beide kaum voneinander trennen) im wahrsten, vollsten und vornehmsten Sinn des Wortes – freie Männer, Frauen und Kinder – wenn wir resolut gegen jede Art von Tyrannei, ob groß oder klein, ökonomisch, politisch, religiös, kulturell oder sozial, ankämpfen. „Freiheit von …“ – Berlins „negative Freiheit“ – ist zweifellos bedeutsam. Aber gleiches gilt auch für „Freiheit zu …“ – Berlins „positive Freiheit“, gegen die Berlin jedoch beträchtliche Vorbehalte hat (was für viele aus dem Lager der liberalen „Anti-Historizisten“ gilt, unter ihnen J. S. Mill und Popper6). Tatsächlich versteht Berlin sie, eher knauserig, als „einen Deckmantel für Despotismus“.7 Dieser Beitrag teilt diese Abneigung gegenüber „positiver Freiheit“ nicht, zumindest nicht, soweit es die Bekleidungsfreiheit betrifft. Bekleidungsfreiheiten sind Schlüsselkennzeichen sozialer Identität und kultureller Zugehörigkeit, und als solche sind sie untrennbar verbunden mit Prozessen der Inklusion und Exklusion. Bekleidungsfreiheiten transportieren sowohl in ihrer positiven als auch in ihrer negativen Version eine wichtige ideologische und moralische Bedeutung.8 Bekleidungsfreiheit ist ein nützliches Barometer für das, wovor Berlin9 warnt als „the specific dangers which, at any given time, threatened a group or society most: on the one hand, excessive control and interference, or, on the other, an uncontrolled (market) economy“. Der vorliegende Beitrag über „kleine Freiheiten“ geht der allgegenwärtigen zweifachen Gefahr nach, die die freie Wahl der Bekleidung, als ein Aspekt von Meinungsfreiheit, bedroht – exzessive Kontrolle einerseits und unbegrenzte Erlaubnis andererseits. Er tut dies anhand der Konstruktion zweier 6 7 8 9
Popper, K. R., The Poverty of Historicism. London 1948. Berlin, I., Introduction: Five Essays on Liberty, in: Henry Hardy (Hrsg.) Isaiah Berlin, Liberty. Oxford 2002, 39. Kim, K., Johnson, P., Lennon, S. J. (Hrsg.), Appearance and Power. Oxford–New York 1999; McVeigh, B. J., Wearing Ideology. State, Schooling and Self-Presentation in Japan. Oxford–New York 2000. Berlin, a.a.O.
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idealtypischer Traditionen von Bekleidungsfreiheit, der „negativen“ und der „positiven Bekleidungsfreiheit“. In dieser Spannung und dem Wechselspiel dieser beiden Pole – so wird gezeigt – liegen Kette und Schuss der signifikanten „kleinen Freiheit“ der Bekleidung, der lebhafte Puls des „Orbis Vestitus“, „der Welt in Kleidern“.10 Body Power Politik
Für das intellektuelle Projekt der Kultivierung einer bedeutsamen, politisch relevanten und substanziellen Soziologie der „somatischen Gesellschaft“11, in der die Grenzen und die Begrenzungen des Körpers ständig überprüft, neu gestaltet und neu verhandelt werden – und in der die uns gemeinsame Gebrechlichkeit als menschliche Wesen von größter Bedeutung ist – ist die genaue Erfassung unseres gekleideten Zustandes wesentlich. Außerdem ist eine Art „reflexives Monitoring“ von Bekleidungsnormen (dress codes) und Bekleidungsrechten wohl auch angesichts einer unerbittlichen „Individuation“, in der der Zusammenbruch von alten gemeinschaftlichen Banden, die Individuen und Gruppen an traditionelle Kleidungsstile gebunden haben, rasch voran schreitet, längst überfällig. Wir vertreten damit das Prinzip, dass jede Person das Recht auf Selbstbestimmung der Bekleidung hat – also eine relativ starke Position eines Kleidungsrechte-Universalismus. Damit wird „bloße Bekleidung“12 in eine philosophische Soziologie der Körperrechte als ein Beitrag zu „einer universalistischen Theorie der Menschenrechte“, eingearbeitet.13 Damit einher geht die Annahme, dass Bekleidung gut in die von Turner und Rojek vertretene Sichtweise der Menschenrechte „als beschützende soziale Mechanismen, die sich der Problematik menschlicher Verletzbarkeit, Sinnlichkeit, Gebrechlichkeit und Unsicherheit annehmen“, integriert werden kann.14 Dennoch wird dieses Recht, insofern es die „kleine Freiheit“ der Bekleidung betrifft, regelmäßig und fast ungestraft missachtet, vom Militärgefängnis in Guantanamo Bay bis zu den von Taliban kontrollierten Straßen Afghanistans. Die Geschichte formaler Kleiderordnungen und entsprechender Gesetze ist in der Literatur ausführlich dargestellt.15 Roach und Eicher kommentie10 11 12 13 14 15
Carlyle, Sartor Resartus. Turner, B. S., The Body and Society. Explorations in Social Theory. London 1996, 13. Kennan, W. (Hrsg.), Dressed to impress. Looking the part. London–New York 2001a, 6–12. Turner, B. S., Rojek, C. (Hrsg.), Society and Culture. Principles of Scarcity and Solidarity. London 2001, 109. Ibid., 111. Z. B. Hooper, W., The Tudor Sumptuary Laws, English Historical Review 30, 1915; Vincent, J., Costume and Conduct in the Laws of Basel, Bern and Zurich, 1370–1800. Baltimore 1935; Freudenberger, H., Fashion, Sumptuary Laws and Business, in: Wills,
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ren: „Adornment has long had a place in the house of power.“16 Die Ausbreitung von Bekleidungsvorschriften ist weltweites Merkmal gegenwärtigen Firmenlebens, vom Designer-Outfit der Flugbegleiter einer transkontinentalen Fluggesellschaft bis hin zur vorgeschriebenen Arbeitskleidung im Laden an der Ecke.17 Keenan schreibt:18 Whenever dress codes are imposed for whatever reason – health and safety, esprit de corps, corporate identity, a sense of equity, group discipline, collective order, human resource management and personnel control, the fancies of employers and owners, force majeure, loyalty to tradition, and so forth – those who would remain vigilant about the small, basic, perennially vulnerable freedoms that matter in everyday life, should be on guard with a healthy hermeneutic of suspicion. The case is far from clear and self-evident regarding the authority or rationale for restrictions, reductions and repres sions of dress liberty. Der Frage nach der Bekleidungsfreiheit ist ein recht zuverlässiger, wenn nicht unfehlbarer Test der Bedrohung menschlicher Freiheit – sei es die Tyrannei von Mehrheiten, der öffentlicher Meinung oder, wie man in diesem Kontext erwähnen muss, der Mode – gegen die sogar der sonst gemäßigte J. S. Mill mit der Faust drohte – oder sei es der direktere „politische“ Despotismus der Zaren, der Kommissare, der Zuchtmeister und Autokraten: Wie steht es um die Bekleidungsfreiheit, dieser kleinen Freiheit, gegen die jede Tyrannei, ob groß oder klein, gewohnheitsmäßig ihre Krallen ausfährt? Es mag kaum zu verwundern, dass Kleidung und äußeres Erscheinungsbild im Kampf gegen rechtliche Ungerechtigkeiten stets ein bedeutsames symbolisches Protestkapital bildeten. Man erinnere sich z. B. des „Afro“ oder „ethnischen“ Looks der Black Power Bewegung; der Rolle von Hosen, baumelnden Ohrringen oder die Verbrennung von BHs in der feministischen Geschichte; der rosa Kleidung und anderen Kennzeichen „schwuler Tracht“ durch Homosexuelle; und des gezielten Einsatzes der schockierenden Wirkung blutbespritzter Felle und
16 17 18
G., Midgley, D. (Hrsg.), Fashion Marketing. London 1973; Hurlock, E. B., Sumptuary Law, in: Roach, M. E., Eicher, J. B. (Hrsg.), Dress, Adornment and the Social Order. New York 1965; Hunt, A., Governance of the Consuming Passions. A History of Sumptuary Legislation. London 1996a; Hunt, A., The Governance of Consumption. Sumptuary Laws and Shifting Forms of Regulation, in: Economy and Society, 25/3 (1996b) 410–427. Roach, M. E., Eicher, J. B., „The Language of Personal Adornment“, in: Cordwell J. M., Schwarz, R. A. (Hrsg.), The Fabrics of Culture, The Hague 1979, 15. Rubinstein, R. P., Dress Codes: Meanings and Messages in American Culture. Boulder/ CO–Oxford 1995. Keenan, W., Dress Freedom. The Personal and the Political, in: ders. (Hrsg.), Dressed to impress. Looking the part. London–New York 2001b, 186.
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Pelze durch Tierrechts-Schützer. „Robes of rebellion“19 sowie hin und wieder rebellisches Entblößen markieren die Kampflinien der Bekleidung bzw. Entkleidung in dem immer wiederkehrenden und unermüdlich ausgefochtenen Krieg gegen Rechtsmissbrauch in jeder Hinsicht.20 Die Verweigerung, das „Degradierungsritual“ der Einkleidung in der Anstaltskleidung im Gefängnis zu erdulden, ist nur eine dramatische Veranschaulichung dieses symbolischen Kleidungsprotestes.21 Das allgegenwärtige T-Shirt mit seiner unbegrenzten Kapazität, Slogans zugunsten diesem oder jenem, „Freiheit von“ oder „Freiheit zu“ zu proklamieren, ist die kleidungsmäßige Angriffswaffe derer, die ihre „Körpermacht“ („body power“) in die Schlacht werfen. Das Auftreten gegen die etablierte Ordnung des Establishments – auf welche Art auch immer der Widerspruch geäußert wird – hat seine eigenen Kleiderordnungen entwickelt. Bei Yves St. Laurent oder Christian Dior gesehen zu werden, wenn die Tagesordnung eine Kleidervorführung von Katharine Hamnett oder Stella McCartney vorsieht, bringt dieselbe Art von Schande mit sich, wie jene, die den TierrechtsAktivisten trifft, der beim Verzehr eines Hamburgers bei McDonald’s erwischt wird. Aber auch „Revolte“ hat ihre Stilregeln. Auch sie hat ihre Kohorten der „radikal schicken“ Modefreaks. Die Bekundung eines radikalen und freiheitlichen Bekenntnisses mit Mitteln der Bekleidung entwickelte sich vom subkulturellen Habitus zur massentauglichen Mode. Nun ist die Politisierung der Freiheit des Bekleidungsausdrucks, der öffentliche Einsatz von Kleidung, eine Sache – das „private“ Recht auf Kleidungswahl, auf Selbstbestimmung der Bekleidung, ist eine andere. Aber wie die internationale Ächtung des Hidschab und des Tschador in den vergangen Jahren unterstrichen haben22, können öffentliche wie private Angelegenheiten, die politische und die persönliche Lebenssphäre im Hexenkessel einer symbolischen Politik der Bekleidung nicht vollständig voneinander getrennt werden. Stammers23 „sozialdemokratische“ Perspektive auf Rechte erscheint im Zusammenhang mit den Bekleidungsrechten recht passend:
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21 22 23
Mazrui, A. A., The Robes of Rebellion. Sex, Dress and Politics in Africa, in: Encounter, February issue 1970, 19–30. Langer, L., Clothes and Government, in: Roach, M. E., Eicher, J. B. (Hrsg.), Dress, Adornment and the Social Order. New York 1965, 125–127; Murdock, G., Dressed to Repress? Protestant Clerical Dress and the Regulation of Morality in Early Modern Europe, in: Fashion Theory 4/2 (2000) 179–200. Keenan, Dress Freedom, 186–189. Brown, M. D. (2001) Multiple Meanings of the „Hijab“ in Contemporary France, in: Keenan (Hrsg.), Dressed to impress. Looking the part. London–New York 2001, 105– 121; El Guindi, F., Veil. Modesty, Privacy and Resistance. New York and Oxford 1998. Stammer, N., A Critique of Social Approaches to Human Rights, in: Human Rights Quarterly 17 (1995) 489.
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[B]y grounding rights claims through an individual’s social vulnerability, the social democratic concept seems to leave far behind the much criticized „abstracted sovereign egoist“ of the liberal tradition. Mit dieser Komplexität im Sinn argumentieren wir in den folgenden Ausführungen für die Aufnahme der Bekleidungsfreiheit in die Menschenrechtsagenda. Die Argumentation geht dahin, inhaltliche Verbindungen zwischen der „großen Tradition“ des Freiheitsdiskurses – Mill, Berlin und Popper seien als ihre Fackelträger angeführt – zu der „kleinen Tradition“ der Bekleidungsfreiheit aufzuzeigen, die am Ende den Menschen zu einem Vertreter der „covering art“ machen könnte.24 Was kann ich tun, wenn ich nicht die Freiheit habe, mich anzuziehen, wie ich will? Welche Rechte habe ich und haben wir, meine Identitätsgruppe (gedacht als ein „set of one“, wie bei J. S. Mill) auf Freiheit von geltenden Bekleidungsnormen und Begrenzungen? Welche Rechte habe ich bzw. haben wir auf „freie“ und freiwillige Bekleidung zuhause, in der Schule oder an der Universität, auf der Straße, bei der Arbeit, in (religiösen, nationalen, sportlichen oder kulturellen Vereinen), in meinem Beruf? Muss ich eine Krawatte tragen? Ist der Pumps unerlässlich? Ist „formell“ oder „informell“ gesetzlich festgelegt? „Kleine Freiheiten“ wie z. B. die Bekleidungsfreiheit anzusprechen, ohne dabei die grande affaire de coeur zu berühren, in die alle Angelegenheiten der Freiheit involviert sind, würde dabei schlichtweg das Ziel verfehlen. Der Mantel der Freiheit ist unteilbar. Schneide und kürze ihn an einer Ecke des alltäglichen Lebens und der „Schutz“ der body politic wird dadurch in seiner Gesamtheit geschwächt. Jede unnötige, strafende, unterdrückende Einengung des Freiheitsraums, der uns erlaubt, uns nach unseren eigenen Vorstellungen und Vorlieben zu kleiden, bedeutet eine Verletzung der Reinheit und Aktualität der Freiheit, ihrer Verfasstheit und ihrer Verwurzelung im Kontext. Was Eliot über „Kultur“ gesagt hat, mag gleichermaßen über die „kleine Freiheit“, diese oder jene Krawatte, Socken, BH auszuwählen (oder zu entscheiden überhaupt keine Krawatte, keine Socken, oder BH zu tragen), gesagt werden, die als solche den Alltag über das Voraussagbare, Schablonenhafte hinaushebt, ihn dynamisch und transformativ werden lässt: „Culture may even be described simply as that which makes life worth living.“25 Freiheit wird nicht nur auf den großformatigen Gemälden „öffentlicher Angelegenheiten“ gesellschaftlicher Kollektive gewonnen oder verloren, sondern auch in der mikropolitischen Sphäre der „privaten Probleme“ des alltäglichen Lebens, um die Sprache von C. Wright Mills in The Sociological Imagination 26 zu entlehnen.
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Carlyle, Sartor Resartus, 281. Eliot, Notes Towards a Definition of Culture, 27. Mills, C. W., The Sociological Imagination. Oxford 1959.
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Wir provozieren damit einen soziologischen Blick auf die Bekleidungsrechte. Aus dieser Perspektive ist die Anerkennung von Bekleidungsrechten als integraler Bestandteil kultureller Bürgerrechte gefordert. Als solche haben sie auch ihren legitimen Platz auf der Agenda politischer und rechtlicher Reformen. Zwei Konzepte von Bekleidungsfreiheit
In diesem Kapitel werden die kleinen Freiheiten näher betrachtet, ja sogar ein wenig gefeiert. In seinen Betrachtungen über J. S. Mill schreibt Berlin:27 He is justly criticised for paying too much attention to purely spiritual obstacles to the fruitful use of freedom – lack of moral and intellectual light – and too little (although nothing like as little as his detractors have maintained) to poverty, disease and their causes, and to the common sources and the interaction of both; and for concentrating too narrowly on freedom of thought and expression. All this is true. Dies ist eine sachliche Kritik. Aber es gibt einen weiteren Bereich, eine dazwischen liegende Zone, sozusagen zwischen den hohen Gründen des „moralischen und intellektuellen Lichts“ und der täglichen Schinderei, nämlich den substanzieller Lebenswelten, in denen die Menschen ihren täglichen Geschäften des Lebens nachgehen. Denn es sind diese Lebensräume, in denen wir den Freiheitsbereich in Kleidungsfragen in seinen wechselhaften Bezügen und Abstufungen in concreto erleben.28 Welchen Kleidungsbeschränkungen, so können wir fragen, bist du oder ist dein Nachbar unterworfen, heute, eben zu dieser Stunde, oder an diesem Abend, wenn du dich auf Freizeitaktivitäten oder für die morgigen geschäftlichen oder beruflichen Zusammenkünfte vorbereitest? Wie gleichst du dein „privates“ Interesse an Freiheit zur Selbstdarstellung – Mills zelebriertes Recht auf Selbstbestimmung unter dem Kriterium „den Anderen keinen Schaden zuzufügen“ – aus, mit den öffentlichen Erfordernissen, den (vielleicht nur scheinbaren) Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Lebens mit seinen mannigfaltigen „dress code“-Erwartungen, Normen, Regulierungen, Formalitäten, Korrektheiten, Umgangsformen, Regeln des angebrachten Anstandes und Mode-„Gesetzen“? Sollen unsere Beschreibungen von Freiheiten – um den notwendigen Plural hervorzuheben – realistisch sein, so müssen wir von den großen ideologischen Erzählungen zu empirisch angemessenen und historisch begründeten
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Hardy, Isaiah Berlin, 243. Lowe, E. D., Anspach, K. A., Toward a Definition of Freedom, in: Dress. Family and Consumer Sciences Research Journal 1/4 (1973) 246–250.
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Darstellungen der alltäglichen Erscheinungsformen und Verwirklichungen der Freiheit hinabsteigen. Dies mag der lange Fußmarsch unter der heißen Sonne zu einer städtischen Wahlkabine sein, das heimliche Laufen des Samisdat-Druckers, oder der Eintritt eines Erwachsenen in ein Tattoo- oder Piercing-Studio während der Ferienzeit. In jedem derartigen Szenario von „kleiner Freiheit“ in Aktion können Spurenelemente der zwei Bedeutungen von Freiheit gefunden werden – „this protean word … more than two hundred senses of it recorded by historians of ideas“29 – auf die sich Berlin bezieht als die „central ones, with a great deal of human history behind them, and, I dare say, still to come“.30 Bekleidungsfreiheit ist janusköpfig, „positive“ wie „negative“ Elemente sind allgegenwärtig. Man kann sie eine „duale Freiheit“ nennen. Selbstbestim mung der Bekleidung, speziell die Abweichung von der Kleidungsnorm bzw. eine Normverletzung, ist eingekleidet in Doppeldeutigkeit. Wie wirklich sind meine Bekleidungsfreiheiten? Gelten sie irgendwie mehr als die „illusorische Freiheit“ im Ritz zu dinieren, die wir alle theoretisch irgendwie besitzen? Was ist der Punkt, der Zweck, die Bedeutung, die Relevanz von Freiheit von, wenn ich keine Freiheit zu etwas habe? Nehmen wir das Beispiel des tätowierten Teenagers, das ich oben erwähnt habe. Ihre Entscheidung die Türschwelle des verbotenen „body shops“ zu überqueren ist typischerweise ein Ausdruck trotziger Selbstbehauptung gegen die „Körper-Polizei“, sei sie wirklich oder eingebildet, die bisher ihr Leben kontrolliert hat – Eltern, Lehrer, zukünftige Arbeitgeber, potentielle Freunde oder Ehepartner. „Anständige“ Gesellschaft, „Autorität“, wie auch immer genannt, runzelt bei einer derartig „asozialen“ Darstellung mit seinen stereotypischen Konnotationen des verkommenen Lebens von Piraten, Prostituierten und Gefangenen die Stirn. Für die Jugendliche repräsentiert die diskrete Rose an der Schulter oder der Bauchnabelring eine Geste von kleidungsmäßiger Unabhängigkeit, einen Moment der Freiheit von Konventionen und Normen die Kleidung betreffend (indes viele ihrer Gleichaltrigen ähnlich gepierct sind). Es ist ein ausgestreckter Mittelfinger zu den Körperkontrollen, die von den „Erwachsenen“ auferlegt werden. Durch derartige, oft experimentelle Erkundungen der Selbstbestimmung, finden viele die Grenzen der Freiheit in beiderlei Hinsicht. Für diesen Ausdruck der Freiheit, sie selbst zu sein, wird wahrscheinlich ein Preis zu zahlen sein, bis die Hitze bei gegebener Zeit nachlässt. In diesem Zusammenhang, wie in zahllos anderen über den Tag hinweg, prallen positive und negative Bekleidungsfreiheiten aufeinander. Wo auch immer die kleine Freiheit der Selbstdarstellung durch Kleidung ausgeübt oder in
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Berlin, I., Two Concepts of Liberty, in Henry Hardy (ed.) Isaiah Berlin: Liberty. Oxford 2002, Original 1958, 168. Ibid., 168–169.
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Erwägung gezogen wird, dort können wir das Arbeiten, den Einfluss und die Bedeutung der zwei ineinander greifenden Traditionen identifizieren, jede verwurzelt in der einen oder anderen großen Konzeption der „positiven“ und „negativen“ Freiheit, die Mill und Berlin unterschieden haben. Um der Kürze willen schlage ich vor, mich in den folgenden „idealtypischen“ schematischen Festsetzungen auf diese als „die negative Bekleidungsfreiheit“ und „die positive Bekleidungsfreiheit“ zu beziehen: Tradition A: Negative Bekleidungsfreiheit
Diese „negative“ Tradition der Bekleidungsfreiheit kann man als Appollonisch-Klassisch-Hobbesianisch beschreiben. Sie betont notwendige Drosselungen, Einschränkungen und Kontrollen der Bekleidungsfreiheit. Sie ist fundiert in der „puritanischen“ Angst vor öffentlicher Fleischbeschau. „Natur“ wird im Grunde als grausam angesehen. Sitte und Anstand verlangen, dass die „rohe Natur“ domestiziert, angezogen wird, feigenblättrig, „gar“, in der Sprache von Levi-Strauss. Sie ist ebenso fundiert in der Angst vor „sozialen Fehlern“.31 Als ein Mittel diese vermeintlichen Risiken zu minimieren, werden Projektionen der „Angst vor der Freiheit“32, formale „Standards“ der Körperpräsentation etabliert, einige werden in bürokratischen Regulierungen kodifiziert, andere eingebettet in selbstverständlich angenommene Bekleidungstraditionen und legitimiert durch „Erfahrung“ von Brauch, Konvention und Kultur. Wie mit Wein, Kunst und moralischem Charakter, so auch mit Bekleidung: man entwickelt ein Gefühl dafür und eignet sich die kritische „Palette“ eines Kleidungskenners an, eine Diskriminierung und Bewertung, die „einfach weiß, was geht“. Kleidungsnormen sind Bollwerke gegen das rutschige Gefälle in die „Erlaubtheit“, dem anarchischen Abgrund. Im Grunde genommen ist dies eine kleidungsmäßige Ausarbeitung eines „philosophischen Konservatismus“, der „anti-rationalistischen“ BurkeOakeshottianischen Überzeugung, dass ein „bruchstückhafter empirischer“ Ansatz zur Kleidung eine der Methoden ist, in der „organische“ Kontinuität erfolgreich in Kleidungsgeschichte und Erfahrung hinein gearbeitet wird.33 Mit ihrem Kult des „Exklusiven“ und der „Tendenz hin zum elitären Denken“34 setzt sie „dressing down“ als ihre Standardposition fest. Sie empfiehlt „Zurückhaltung“, nichts, was zu viel öffentliche Aufmerksamkeit erregt. In der Bekleidungskunst gilt „weniger ist mehr“ insofern veredelte „gute Form“ 31 32 33 34
Elias, N., The Court Society. Oxford 1983. Fromm, E., The Fear of Freedom. London 1941. Vgl. Kirk, The Conservative Mind. Greenleaf, W. H., The British Political Tradition. Volume 2, The Ideological Heritage. London 2003, 113.
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betroffen ist. Tradition übertrumpft Mode. Modewandel, wo er toleriert ist, wird stückweise, schrittweise in die herrschende Kleiderregelung integriert, von oben nach unten, von verehrten Modehäusern, von ihren Agenten, von Nachahmern und dann von anerkannten Kaufleuten. Kleidungspflichten und Verantwortlichkeiten sind eingebaut in die soziale Ordnung, in die „Weise“ wie Dinge „erwartet“ werden und normalerweise in diesem Szenario oder jener Konstellation gemacht werden. Dress Code-Regulierung, formell oder informell, funktioniert durch hierarchische Institutionen, Familien, Schulen, Berufe, Unternehmen etc. Kleidungsnormen werden mitgeteilt durch allgemein akzeptiertes Betragen und erlernte Richtlinien, durch arbeitsethische Disziplinen, Konzepte des Respektes, der Verantwortung, des Anstandes, des guten Geschmacks, der Angemessenheit. Sie führen zu „fremdbestimmter“ Kleidung. Korrekte Form zählt mehr als Kleidung um sich selbst zu gefallen. Vermeidung von Scham, Peinlichkeit, Schande, Mode-Fauxpas, und derartigen kleidungstechnischen performativen Fehlern, Ausrutschern und vermeidbaren Indiskretionen wirkt dahin, die „moralische Ordnung“ der Bekleidung zu verstärken. Die „uniformierte Organisation“ ist der Inbegriff dieses Modells der disziplinierten Körperselbstkontrolle durch kleidungsmäßige De-Individualisierung. In einem Prozess der Entpersonalisierung verleiben Uniformen – die deutlichste Form einer „tragenden Ideologie“35 – den eigenen Körper des „Agenten“ der anonymen kollektiven „Struktur“ ein. Die konservative Untermauerung dieses Glaubens an das charakterbildende Vermögen dieser uniformierten Organisationen ist legendär. Kleidung – „the summarizing symbol“36 – steht für uns und für unser Ansehen in der Gesellschaft. Wir „sind“ was wir tragen. Die „richtige“ Krawatte sagt alles aus. Tradition A betont die notwendigen Grenzen innerhalb derer wir Freiheit erfahren und behauptet, dass hinter diesen Strukturen Chaos, Anarchie und Leere herrschen. Außerhalb dieser etablierten Kleidungsnorm zu stehen, Unabhängigkeit von ihr zu suchen, körpereigene „Verschiedenheit“ außerhalb ihrer weitreichenden Hegemonie zu suchen, deren Autorität, Macht und Gewicht herauszufordern, aktiv „Freiheit von ihr“ nachzujagen, ist gleichbedeutend mit dem Risiko, eine Reihe an negativen „strafenden“ Konsequenzen, Schandmalen, Isolation, sozialer Zurückweisung etc. zu erfahren. Sanktionen können reichen von „ts ts ts“, über Schulausschluss bis zu einem weitschweifenderen Gefühl an Unsicherheit, evtl. gefärbt mit Bedauern, über zukünftige gesellschaftliche Akzeptanz und Anerkennung.
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McVeigh, Wearing Ideology. Joseph, N., Uniforms and Nonuniforms. Communication Through Clothing. Westport 1986, 120.
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Aber es gibt auch ausgleichende Belohnungen, so z. B. die Aufregung „an der Klippe“ zu stehen; in Bezug auf Gruppenprestige und Ansehen der Gleichaltrigen: ein Gefühl des Erreichens individueller Selbstidentität und „Verschiedenheit“; und das Bewusstsein des „Außenseiterrebellen“, das „System“ „im Kleinen“ besiegt zu haben; um William Blakes Redensart anzuwenden. Diese Bekräftigungen der Freiheit, das zu tragen, was man will, sind tief in die Tradition der positiven Bekleidungsfreiheit, der Tradition B gewebt. Der Preis für Bekleidungsfreiheit zahlt sich für ihre Anhänger aus. Tradition B: Positive Bekleidungsfreiheit
Die „positive“ Tradition der Bekleidungsfreiheit kann man als Dionysisch„Romantisch“-Rousseauianisch beschreiben. Sie betont Selbstdarstellung, individuelle Autonomie und Selbstverwirklichung, Risiko und Unsicherheit in Bezug auf das Selbstimage, ein Gefühl von Kontingenz gegenüber Institutionen und sozialen Ordnungen, und eine positive Aufwertung von Liminalität und Marginalität. Dies tendiert zu einer „kontra-kulturellen“, triebhaften, spielerischen, „hedonistischen“ Orientierung, was Mill „Experimente im Leben“ nennt, einschließlich der Rolle, die Kleidung und Körperschmuck spielen, obgleich H. G. Wells nicht alleine war mit seiner Kritik des Kleidungsdespotismus der utopisch revolutionären „Gelehrten“.37 Allerdings kann in der Abwesenheit von bedeutender politischer oder ökonomischer Macht die „Spielmacht“ und der „Protestdemo“-Wert von Kleidung in einem visuellen Medienzeitalter kaum herunter gespielt werden. In der positiven Variante wird eher die menschliche Handlungsfähigkeit („agency“)38 als die „Struktur“ gefeiert und bekräftigt. Der moralische Standpunkt ist der des individuellen Freiheitsausdrucks, das ungehinderte „Ich“ schuldet sich nichts mehr als die Verpflichtung zur Selbstverwirklichung.39 Ihr vorherrschendes Mantra ist das: „Ich ziehe mich an, um mir selbst zu gefallen“. Externer Zwang zu Kleidungsnormen gegen meinen Willen, bedeutet eine Verletzung meiner Menschenrechte. Die Verpflichtung, mich gemäß den Vorschriften der anderen anzuziehen, ist eine eingeschränkte Pflicht, abhängig von meiner freien Einwilligung. Für den Bekleidungsliberalisten ist die uniformierte Organisation, als „totale Institution“, in Goffmans Sprache, nicht weniger als eine kleidungsmäßige „Gefängnisverkörperung“ der „diszi37 38 39
Vgl. Corrigan, P., The Dressed Society. Clothing the Body and Some Meanings of the World. London 2008, 24. Crossley, N., Body/Subject, Body/Power. Agency, Inscription and Control, in: Foucault and Merleau-Ponty“, Body & Society 2/2 (1996) 99–116. Csordas, T. J. (Hrsg.), Embodiment and Experience. The Existential Ground of Culture and Self. Cambridge 1996.
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plinären Macht“ oder der „anatomo-politics“ der „Gouvernementalität“, um Foucaultsche Termini zu gebrauchen.40 Beliebige Bekleidungsinnovation und symbolische Rebellion „typically denote unregenerate, irrepressible personal identities aiming to cock a snook at imposed uniformity and alienating dress controls. In contexts where scope for self-expression is highly circumscribed, these opportunities for sartorial self-assertion and ‚deviance‘ can take on considerable political significance“.41 Ich mag physikalisch genötigt sein, durch Gesetz oder durch force majeure dies oder das zu tragen oder so und so „auszusehen“. Trotzdem bewahre ich das Recht auf Widerstand und Rebellion gegen Kleidungsnormen, die mein Gewissen und meine Menschenwürde verletzen bzw. meine Lesart ihrer semiotischen Macht – eine hermeneutische Kompetenz, die Teenager nicht verloren haben.42 Die feministische Rundfunksprecherin Linda Ellerbee hat die Stimmung folgendermaßen erfasst: If men can run the world, why can’t they stop wearing neckties. How intelligent is it to start the day by tying a little noose around your neck.43 „Mein Körper gehört mir“ ist innerhalb dieser Perspektive ein nicht-verhandelbares Prinzip. Ich bin legitimiert, meine Kleidungsvorlieben als unantastbaren Bestandteil meiner Konstitution als Person geltend zu machen. Es ist wesentlich in Hinblick auf meinen Status als menschliches Wesen und als freier Bürger, dass ich frei bin, meine eigene Kleidungswahl und Entscheidungen zu treffen. Die einzige Einschränkung auf dieses absolute Recht ist das Nichtschadens-Prinzip, d. h. die ungezügelte Ausübung meiner Bekleidungsfreiheit darf andere nicht verletzen, um J. S. Mill zu paraphrasieren.44 Tradition B betont den Wert des Herausforderns und des Veränderns vermeidbarer Einschränkungen der Bekleidungsfreiheit, die man im gesellschaftlichen Leben erfährt. Die Ablösung nicht-wesentlicher „Strukturen“ von Bekleidungsvorschriften („dress codes“) – weit davon entfernt, einen Abfall in Barbarismus und einen Kleidungskrieg aller gegen alle heraufzubeschwören – weitet die Grenzen der Toleranz, der Kreativität und der Vorstellungskraft aus. Sie eröffnet dem menschlichen Subjekt und den Bürgerinnen
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Foucault, M., Discipline and Punish, Harmondsworth–London 1977; Wilson, E., Fashion and the Postmodern Body, in: Ash, J., Wilson, E. (Hrsg.), Chic Thrills: A Fashion Reader. Berkeley/CA–Los Angeles 1992, 10. Keenan, Dress Freedom, 187; Mazrui, Robes of Rebellion. Hall, S., Jefferson, T. (Hrsg.), Resistance Through Rituals. London 1976; Polhemus, T., Style Surfing. What to Wear in the 3rd Millennium. London 1996. http://thinkexist.com/quotes/linda_ellerbee/. Mill, J. S., Of Individuality, as one of the elements of well-being, On Liberty, Chapter 3, in: Cohen, M. (Hrsg.), The Philosophy of John Stuart Mill. New York 1961.
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und Bürgern einen Freiraum, in dem diese sich selbst, ihre eigene indivi duelle Identität und ihre besonderen, ja sogar sonderlichen Arten der Selbstdarstellung suchen und finden können. Wir haben in gewissem Sinn eine moralische Verpflichtung dazu „uns selbst zu finden“ und ehrlich zu dieser Entdeckung zu sein, wie wir unsere Selbstidentität „präsentieren“ und „repräsentieren“. „Echtheit“, „keine Verstellung“, „authentisch zu sein“ und so weiter – alles möglich gemacht durch Kleidungswahl als einem Medium der Selbstauthentifikation – werden hoch geschätzt. „Gesellschaft“ in Gestalt ihrer institutionellen Repräsentanten sollte keine unnötigen Grenzen an diesem Ende errichten. Außerhalb der etablierten Kleidernorm zu stehen, Unabhängigkeit von ihr zu suchen, körpereigene „Verschiedenheit“ außerhalb der weitreichenden Hegemonie zu suchen, ihre Autorität, Macht und ihr Gewicht herauszufordern, also aktiv der Freiheit von ihr nachzujagen, ist gleichbedeutend mit dem Risiko, sich eine Reihe negativer „bestrafender“ Konsequenzen einzuhandeln, wie Stigmatisierung, Isolation und gesellschaftliche Ablehnung. Vollständig uneingeschränkte Bekleidungsfreiheit ist ein demokratisches Risiko, ein Test der offenen Gesellschaft. Hier wird klar, dass die „Paradoxien der Freiheit“, wie Hook45 sie genannt hat, eine beträchtliche Stellung im Bekleidungskontext einnehmen. Die freiheitlich „anarchische“ Haltung der Tradition B kann zum Selbstbetrug tendieren, wenn die „Bürde der Freiheit“ ignoriert wird, die mit der „Grenzenlosigkeit“ einher geht, nämlich das leidige Geschäft zu wissen, was man in dieser oder jener Funktion oder anlässlich dieses oder jenen Anlasses tragen soll. Seinerseits kann der „philosophische Konservatismus“ eingebettet in die Bekleidungskontrollideologie von Tradition A zu einer illusorisch übertriebenen Sichtweise einer ungebrochenen Kette tadelloser Kleidungsgeschichte führen, die Generationen organisch über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet. Mit ihrer „impliziten Religion“ einer guten Kleiderordnung kann sie kurzen Prozess mit der kritischen Stimme von nonkonformistischen Abweichlern machen, die eine Veränderung des Styles, einen neuen Look, ein anderes Image für sich selbst, und mögen wir nicht vergessen für ihre Körper, suchen. Wo die eine Tradition rigide und inflexibel ist und die gesellschaftlichen und psychischen Kosten von Unterdrückung und Unterwerfung durch über-aufdringliche Dresscode-Vorschriften, Überwachung und Disziplin auf sich nimmt, da gibt die andere das Individuum zur „existential indifference“46 preis, der Anomie, Verfremdung und Angst vor Bekleidungsunsicherheit und Zufälligkeit, die im selben Moment die 45 46
Hook, S., The Paradoxes of Freedom. Berkeley–Los Angeles 1962. Schnell, T., Existential Indifference: Another Quality of Meaning in Life, in: Journal of Humanistic Psychology 50/3 (2010) 351–373; dies., Existential Indifference. Attributes of a new category of meaning in life, in: International Journal of Psychology, 43/3–4 (2008), 695.
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„gute Ordnung“ und die Vorhersagbarkeit der betroffenen sozialen Gruppe oder Organisation durcheinander bringt, an denen diese beteiligt sind. Außerhalb der Extrembereiche von Bekleidungkontrollfaschismus und Bekleidungsfreiheitsfanatismus können die beiden Traditionen der positiven und negativen Bekleidungsfreiheit in der Praxis sogar einen gemeinsamen Punkt des gegenseitigen Entgegenkommens finden. Im Wesentlichen ist dieser „dritte Weg“, in dem die rivalisierenden Interessen der DresscodeTraditionalisten und der Dresscode-Liberalisten innerhalb relativ flexibler, pluralistischer und selbstkritischer Abmachungen teilweise versöhnt werden, notgedrungen ein Kompromiss. Beispiele könnten hier der „zwanglos gekleidete Freitag (Casual Friday)“ sein, elegant legere Bekleidungsvorschriften im Unternehmen, uniformfreie Tage in der Schule, Kleidervorteile der älteren Schüler, duale Dresscode-Vorschriften im religiösen Leben47, krawattenlose Fernsehsprecher, ausgewiesene FKK Badestrände, 3-Tage-Bart, blue Jeans und Smoking Ensembles auf dem roten Teppich, um nur einige dieser „postmodernen“48 kleidungsmäßigen „experiments in living“ zu nennen. Kleidungsmacht und Menschenrechte
Positive und negative Bekleidungsfreiheit ist mehr als ein Aufeinanderprallen von Prinzipien. Es ist ein Aufeinanderprallen von Kleidungsmacht. Kleidungsmacht, um einen Ausdruck zu prägen, ist, mit Ausnahme von tatsächlich nur sehr wenigen Szenarien, eine Ressource in jedem zwischenmenschlichen Engagement, jeder Interaktion und jedem sozialen Kontext (denn sogar wo Nacktheit praktiziert wird, besteht Kleidungsmacht weiterhin als verborgene Ressource). Von den intimsten Beziehungen hin zu den komplexesten Organisationen schafft es die Bekleidungsmacht, Personen zu beeinflussen, wenn nicht sogar zu bestimmen, wie sie ihre eigenen Körper zu (re-)präsentieren haben. Sie ist eingeflochten in eine aufkeimende Soziologie der „Verkörperung“ (Embodiment), in die Erforschung der Personifikation, und nicht zuletzt in die Menschenrechte. Turners und Rijeks einflussreiche „fundamentalistische“ Bekräftigung der universellen Menschenrechte, basierend auf „dem Band der Gebrechlichkeit“ bzw. der Solidarität menschlicher Verletzbarkeit49, öffnet einen großen Saum soziologischen Denkens, auf den 47 48 49
Keenan, W. J. F., Of Mammon Clothed Divinely: The Profanization of Sacred Dress, Body & Society 5/1 (1999a) 73–92; ders., From Friars to Fornicators: The Eroticization of Sacred Dress, in: Fashion Theory 3/4 (1999b) 389–410. Ders., Dress Code Communication in Sociological Perspective, in: Hills, P. (Hrsg.), As Others See Us. Selected Essays on Human Communication. Dereham–Norfolk 2004, 54–56. Turner/Rojek, Society and Culture, chapter 7.
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eine „non-dekorative“ Bekleidungssoziologie und Mode aufgenäht werden könnte. „Kleidungsmacht“, hier definiert als Kontrolle über die eigenen Körper von Individuen und/oder sozialen Gruppen durch Kleidungsmittel, ist eine universelle, allgegenwärtige Ressource in allen menschlichen und gesellschaftlichen Lebensumständen. Als solches ist sie, traurigerweise, anfällig für Missbrauch. Dies wurde bisher nur selten an irgendeiner anhaltenden Mode kommentiert und man sucht vergebens nach irgendeinem seriösen Kommentar zu einem Thema, das für das Kind auf dem Schulhof genauso wirklich und drängend ist, wie für den Gefangenen in seiner Gefängniszelle. Fragen der Kleidungsmacht verletzen angrenzende Angelegenheiten der Körperrechte auf eine unmittelbare und spürbare Art und Weise. Zum Verständnis dieser komplexen politisch-rechtlich-moralischen Problematik ist es notwendig, die Kleidungssoziologie näher an die Soziologie der Personifikation, an die soziale Theorie und an die politische Philosophie heranzutragen. Die Erforschung der Bekleidung, des Körpers, der Kultur und der Gesellschaft in den Horizont der vergleichenden, historischen und ethischen Reflexion hinein zu bringen, stellt eine Startrampe bereit, von der aus man zu einer kritischen Bekleidungssoziologie abheben könnte, weit weg von den zeitgenössischen Besessenheiten von populärer Mode und Konsumkultur, die traurigerweise nur allzu oft in der „dekorativen Soziologie“ gefunden wird.50 Bekleidungsrechte gehören zu jener Art von Rechten, die in unserer sozialen Natur als verletzliche Wesen verwurzelt sind. Der Sinn dieser Rechte für Identität, Wohlsein und Sicherheit ist abhängig von einer Reihe von Repräsentationen des eigenen Körpers, die politisch toleriert und vom Gesetz respektiert werden. In dieser Hinsicht kann man mit Donnelly51 übereinstimmen, dass derartige Rechte, wie sie zu unserer „moralischen Natur“ gehören – und Bekleidungsrechte können innerhalb des Verständnisses unserer Spezies als der bekleideten Spezies dazu gezählt werden – „eine spezielle Art von Rechten sind; Rechte, die man rein deswegen besitzt, weil man ein menschliches Wesen ist. Dies sind moralische Rechte der höchsten Ordnung“. Wie auch immer die Modeströmungen und die wechselnden Stile der körpereigenen (Re-)Präsentation sein mögen, der demokratische Staat und die internationale Gemeinschaft schulden ihren Bürgern das Recht auf Selbstbestimmung der Bekleidung und den Schutz dieses Rechtes der Bekleidungswahl gegenüber den „Tyranneien“ der öffentlichen Meinung, den „Idolen“ des Marktes, den Baronen des Konsumentengeschmacks und den selbsternannten Gebietern der öffentlichen Schicklichkeit. Das menschliche Wesen in Bezug auf Bekleidung zu konfigurieren hilft dabei die Reflexion über die Menschenrechte in den Kontext des Greifbaren,
50 51
Ibid. Donnelly, J., International Human Rights. Oxford 1993, 12.
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des Alltäglichen, des Unmittelbaren, des „Nahe bei“ zu bringen – in einem Wort des „Leibhaftigen“ – wo ein aufkommender, weitreichender soziologischer realistischer Diskurs über die menschliche Verletzbarkeit lokalisiert ist. Toleranz und Respekt für die Vielfalt an Kleidungskennzeichen und Identitätssymbolen und Zugehörigkeit sind fundamental für die kulturelle Staatsbürgerschaft innerhalb einer offenen demokratischen Gesellschaft. Das Funktionieren und die Konsequenzen sogar der anscheinend harmlosesten Formen der Bekleidungskontrolle zu hinterfragen, ist ein wichtiges Element der reflektierten Bürgerschaft. Pure Macht kommt subtil verkleidet; die Eisenfaust im Samthandschuh, die Handlanger eines schicken Diktators im Designer-Outfit. Abhängig von einem allumfassenden Schleier von Dresscode-Regimen mit variierenden Graden der Sichtbarkeit, der Formalität, der Verbreitung und der Zudringlichkeit bewältigt der Körper seinen Weg durchs soziale Leben; manchmal mit sicherer Kenntnis der vorherrschenden Dresscodes; manchmal mit einer Unsicherheit in Bezug auf die Spielregeln der Bekleidung. Bekleidungsunfreiheit ist eine Art von Armut. Sich nicht so kleiden zu können, wie man möchte, impliziert Entmachtung. Abhängig zu sein von den Bekleidungskontrollen der anderen ist gleichzusetzen mit eingeschränkter Selbstbestimmung über seinen eigenen Körper und seine Selbstidentität. Bekleidungsarmut bzw. Bekleidungsentmachtung ist Bekleidungsunfreiheit auf der Micro-Ebene. Es ist eine besonders gehässige Form der Abhängigkeit. Sie zeigt einem seine traurige Lage zu jedem Moment des Tages auf, genauso wie eine Werbetafel oder die Glocke eines Aussätzigen. Gemäß Freeman:52 The concept of human rights becomes relevant to ordinary people when the relative security of everyday life is absent or snatched away. It has often been said that human rights are most needed when they are most violated. When they are generally well respected, we tend to take them for granted, and may consequently underestimate their importance. Als „body discipline“ fixiert uns Bekleidung am Zusammenfluss aller mög lichen Arten von rhetorischen und diskursiven Strömungen, derer wir uns nur in den wenigsten Fällen bewusst sind. Wir werden unserer Erscheinung nach beurteilt und dementsprechend behandelt.53 Respekt für Bekleidungsrechte ist deswegen so wichtig, weil Bekleidung und Macht und Kontrolle untrennbare Elemente des sozialen Lebens sind. Es ist hier nicht beabsichtigt, bloß um irgendeines abstrakten oder diffusen Diskurses über „soziale Forderungen“ oder „andere wünschenswerte soziale
52 53
Freeman, M., Human Rights. Cambridge 2002, 3. Kim, K., Johnson, P., Lennon, S. J. (Hrsg.), Appearance and Power. Oxford–New York 1999.
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Objekte“ willen etwas zu dem beizutragen, was Freeman „Rechteinflation“ nennt.54 Als eine tatsächliche Bedingung des sozialen und kulturellen Lebens und deshalb als ein Merkmal der Konstitution unserer menschlichen Spezies, die eine symbolische Spezies ist, verdient Bekleidung Aufmerksamkeit aus moralischer, politischer und soziologischer Perspektive. Das „Dilemma“ der Bekleidungsfreiheit darf nicht dem Schicksal eines einzelnen isolierten Akteurs überlassen werden. Vom Standpunkt der fragilen „kleinen Freiheit“ der Bekleidung aus gibt es etwas Verhängnisvolles an der Beobachtung über die Postmoderne von Bauman und May:55 The era of „self-made persons“, of the proliferation of lifestyle „tribes“, of differentiation through styles of consumption is also an era of resistance to racial, ethnic, religious and gender discrimination. Here we find struggles for human rights expressed in terms of the removal of any restrictions except those which may be overcome by the effort of any human being as an individual. Denn unglücklicherweise gibt es nur wenige, die in einer „Gesellschaft der Symbole“56 gegen nationale, staatliche und gesellschaftliche Kleidungsmächte aufstehen können. Konklusion: ein dünnes Fädchen für die Freiheit
Kleidung hat besondere, ja sogar zentrale Bedeutung für die eigene indivi duelle und soziale Identität. Sie besetzt „die ‚Schnittstelle‘ zwischen dem Körper und dem Rest der Welt ‚da draußen‘“57, eine „zweite Haut“ vermittels derer wir unsere soziale Eingliederung bewältigen und unseren Platz im kulturellen Prunk des Lebens offenbaren. Die Fragilität dieses das Selbst und die Welt verbindenden Fadens ist so, dass wir es persönlich nehmen, wenn er reißt oder beschädigt bzw. wenn er in Mitleidenschaft gezogen wird oder andersartig in Unordnung oder Verfall gerät, da die Schlingen und Pfeile anderer Gemüter, Kulturen, Meinungen, Werten und Bewertungen unser soziales Selbstbewusstsein, unseren Status und unsere Macht vernichtend treffen. Die Armen erfahren dies tagtäglich. Wenn wir ungepflegt erwischt werden oder in unpassender Kleidung für einen bestimmten Anlass, dann teilen wir dasselbe Gefühl von Verlegenheit, Schande, Ausgrenzung bzw. Verletzung. Mit unpassender Kleidung und sprichwörtlich offenem Hosenstall oder heruntergelassener Hose erwischt zu werden, lässt uns sozusagen tief sitzend die Zerreissbar54 55 56 57
Freeman, Human Rights, 5. Bauman, Z., May, T., Thinking Sociologically, 2nd. Edition. Oxford 2001, 161. Harris, D., A Society of Signs?, London–New York 1996. Bauman/May, Thinking Sociologically, 98.
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keit der Bänder spüren, die uns mit dem gesellschaftlichen Gewebe verbinden. Zwischen unserer Kleidung und unserem Selbstbewusstsein liegt ein sehr zerreißbarer, leicht durchtrennbarer Faden, der den verschiedenen Winden der gesellschaftlichen Beurteilung und öffentlichen Meinung ausgesetzt ist. Wie Beck58 in anderen Zusammenhängen der Institutionenbildung beobachtet hat, kann gerade diejenige Bekleidung, die Institutionen gemacht haben, um unsere natürliche „ontologische Unsicherheit“, Teile unseres „unfertigen“ Make-ups59 zu verdecken, zu einem kritischen Aspekt eines „Rechtsverstoßes“ werden, wenn sie, in Turners Worten60, im „Management des Körpers“ („management of the body“) angewendet wird. Als „Kleidungs tiere“, wie es Carlyle ausgedrückt hat, „Wesen, die leben, sich bewegen und ihr Sein in Kleidung haben“61, sind unsere Kleidungsrechte und -freiheiten nicht trivial und sie haben entscheidenden Einfluss auf unsere Bindung mit der Welt. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil der fragilen Bande zwischen dem Körperlichen und dem Kulturellen, dem Persönlichen und dem Politischen.62 Könnte späte Modernität, anschließend an die „expressive Revolution“63 den Anfang des Endes der Kleidungsunfreiheiten bezeugen? Schulen wurden in diesem Kampfschauplatz zu einem besonderen Ort des Zusammenpralls der traditionellen, konservativen mit der modernen, liberalen Sicht64 angesichts derer man eventuell erwarten kann, dass legislatives Interesse belebt wird und dass zukünftige Generationen eventuell durchsetzungsfähiger bezüglich ihrer Kleidungsrechte werden. Trotz Andeutungen von „Enttraditionalisierung“65 an anderen Stellen in der Gesellschaft kann z. B. anhand eines Berichts im Hansard vom 4. Juli 2001 (den offiziellen Aufzeichnungen der Vorgänge des Parlaments des Vereinigten Königreiches) gezeigt werden, dass nicht alle Versuche, etablierte Bekleidungskonventionen zu liberalisieren, erfolgreich sind. Er zeichnet auf, dass der Parlamentssprecher, als Antwort auf die Initiative einen „dress down“-Donnerstag in den parlamentarischen Dresscode einzuführen, folgendes kundtat: „Männliche Mitglieder sollen ein Jackett und eine Krawatte tragen.“ Was, in Bezug auf das Schicksal der Nationen gesehen, hängt an dieser Kleiderregelung? Schon wieder diese Krawatte! Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere 58 59 60 61 62 63 64 65
Beck, U., Risk Society. London 1992. Gehlen, A., Man. His Nature and Place in the World. New York 1988. Turner, B. S., Outline of a Theory of Human Rights, in: Sociology 27/3 (1993), 505. Carlyle, Sartor Resartus, 262; Keenan, Sartor Resartus Restored, 41. Keenan, Dress Freedom, 179–189. Martin, B., A Sociology of Contemporary Cultural Change. Oxford: 1981. Smolkin, R., Back to School: Dress Codes make a Comeback, in: Naples Daily News, 14 August 1999; Osbold, E., Dress Codes vary in Florida, in: Naples Daily News, 17 August 2000. Heelas, P., Introduction: Detraditionalization and Its Rivals, in: P. Heelas, S. Lash and P. Morris (Hrsg.), Detraditionalization. Oxford: 1996.
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Frauen des öffentlichen Lebens werden wie Espenlaub erzittern! Ein plötzlicher Sprung in eine Utopie der kleidungsmäßig anarchischen Erlaubtheit ist höchst unwahrscheinlich. Niblett66 beobachtet: (T)he assumption of post-modernism that we must do without appeals to authority, do without all certainties, is not really something it really quite believes itself … And concealed in the very quest for freedom … freedom from being confined to formal dress and formal manners … is there not there somewhere concealed in this shining quest a conviction that genuine ness matters, that pretentiousness is out? Such conviction is in itself, in a subtle way, a kind of certainty. Aber Bekleidungsfreiheit, insofern dieses Argument überhaupt einen Punkt oder eine Substanz hat – und der Punkt lautet in den kleinen Einzelheiten des Lebens frei zu leben – hat sehr viel zu tun mit einer „Überzeugung, dass Authentizität zählt“, und sie zählt als eine Frage der Gewissenhaftigkeit. Der untenstehende Auszug aus einem Pressebericht67 über die royale Widerstandskraft gegen den Prozess der „Informalisierung“ („informalization“)68 ist in Bezug auf die Beständigkeit feudal-patrimonialer Kleidungsordnungen in der spätmodernen Gesellschaft aufschlussreich: A BBC camera crew wore full morning dress in the paddock at Royal ascot yesterday after the Queen complained about their appearance on the first day of the race meeting. She was so displeased that one of the two-man crew was wearing a T-shirt while the other sported an open-necked shirt that a complaint was passed to racecourse staff, who informed the BBC. The pair left immediately. Yesterday, the corporation’s paddock crew were immaculately attired in black tail coats and top hats with grey waistcoats, hastily hired at £150 a time. Royal ascot’s rules dictate that when the queen enters the paddock it becomes an extension of the Royal Enclosure, where top hats and tails for the men are compulsory and women cannot bare their shoulders. Derselbe Bericht über die Überreste der feudalherrschaftlichen Kleidungsordnung hat „weitere Opfer“ der strikten Regelungen identifiziert, und zwar: The singer Rod Stewart … not wearing a top hat … and his girlfriend, Penny Lancaster, were barred from the Royal Enclosure. Wearing a pale blue 66 67 68
Niblett, W. R., Life, Education, Discovery. Bristol 2001, 214. Davies, C., Dressing Down for BBC Crew at Ascot. The Daily Telegraph, 20 June 2002, 11. Wouters, C., The Formalization of Informalization. Changing Tension Balances in Civilizing Processes, in: Theory, Culture & Society 3/2 (1986) 1–18.
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suit, the pop singer and Miss Lancaster were turned away by Mo Merchant, a steward. She said of the incident: „I said, I’m sorry, but you can’t come in here. The rules are the rules.“ Die Parallelen zwischen den Anforderungen des Dresscode und anderen Beispielen des Eindringens oder des Bedrängens des persönlichen körpereigenen Raums konnten hier erfolgreich aufgezeigt werden. Ohne die Themen übermäßig zu bearbeiten kann gesagt werden, dass Körperrechte in Bezug auf Sexualität, Schwangerschaft, Euthanasie usw. – die auch langsam im Rechtsdiskurs auftauchen und noch wichtiger in den Rechtsgesetzen – auf dem Prinzip der Selbstbestimmung basieren. Noch einmal: „Unsere Körper, unser Selbst“ („our bodies, ourselves“). Und es ist Zeit, dass die „Krawatte“ wieder ihren gleichnamigen Auftritt hat … meinen Kopf hinzuhalten für etwas. Emile Durkheim, der die Spannung im modernen Leben zwischen der individuellen Selbstbestimmung und der Macht des „kollektiven Gewissens“ und „Staates“, genau den Punkt, an dem die kleine Freiheit der Bekleidung in ihrer inhärenten Dualität unabänderlich und ständig balanciert, ziemlich gut wahrgenommen hat, schrieb in Professional Ethics and Civic Morals: 69 Individual rights are thus evolving: they advance unceasingly, and it is impossible to assign them a boundary which they cannot surpass. What yesterday appeared as a kind of luxury, will become tomorrow strictly a matter of right. Thus, the task with which the state is charged is unlimited. Zum Glück wurde die Menschenrechtsagenda internationalisiert und erfährt größere Zustimmung wie sie auch zunehmend größere Auswirkung zeigt, indem der politische und rechtliche Diskurs gegen neofaschistische Widerstandskessel im Kleinen wie im Großen vorrückt. Identitätspolitik, in ihrer weitesten Bedeutung „eine Politik der Anerkennung“70, ist auf der multikulturellen, multireligiösen Landkarte und sie betrifft uns alle, ob wir nun im parteipolitischen Sinne in der Politik aktiv sind oder nicht. Für „Rechtsbewacher“ ein Hinweis: behaltet die kleine Freiheit der Bekleidungsfreiheit, sowohl in ihrer „positiven“ als auch in ihrer „negativen“ Form, wachsam im Auge. Sie könnte offenlegen wie das große unveräußerliche Prinzip der Freiheit an menschlichen Körpern im alltäglichen Leben „sichtbar gemacht“ wird.71 Aus dem Englischen von David Lang.
69 70 71
Durkheim, E., Professional Ethics and Civic Morals. London 1992, 68. Taylor, C., The Politics of Recognition, in: Gutman, A. (Hrsg.) Multiculturalism. Princeton 1994. Carlyle, Sartor Resartus, 216.
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DER BLICK ÜBER DEN BINNENEUROPÄISCHEN DISKURS HINAUS
Luis M. Sánchez
Der Vorrang der „Alterität“ vor der „Gleichheit“ bei Befreiungsdiskursen von Lateinamerika
Ist der Wert von „Gleichheit“ in seinem „modernen“ Sinne relevant für „Befreiungsdiskurse“ in Lateinamerika? Ein gemeinsamer Ausgangspunkt von „Befreiungsdiskursen“ in Lateinamerika ist die Annahme, dass der historische Prozess, durch den die iberoamerikanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert erreichten und als moderne Staaten errichtet wurden, scheiterte, als diese Länder, eingegliedert in die „Peripherie“ des entstandenen kapitalistischen Weltsystems, in eine neue Art von „Dependenz“ gerieten. Die Frustration des modernen demokratischen Staates und damit des emanzipativen Projekts der Moderne in Lateinamerika bildet den historischen Hintergrund für die Entstehung von „Befreiungsdiskursen“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.1 Mit dem Wort „Befreiung“ wird in diesem Kontext die dringende Notwendigkeit einer „zweiten“ bzw. „postmodernen“ Emanzipation bezeichnet, die eine radikale Transformation der modernen Prägung dieses Begriffes impliziert. Deshalb wird von Vertretern dieser Denkströmung in Lateinamerika wie Enrique Dussel vorgeschlagen, die Postulate der französischen Revolution „Gleichheit, Fraternität und Freiheit“ im Hinblick auf die „Rebellion der unterdrückten und ausgeschlossenen Völker der Peripherie und ihre Kämpfe um die zweite Emanzipation“ in „das neue Postulat: Alterität, Solidarität, Befreiung!“ zu transformieren.2 1
2
Zur Entstehung der Befreiungsphilosophie im historischen und sozialpolitischen Kontext siehe: Raúl Fornet-Betancourt, „Zur Geschichte und Entwicklung der lateinamerikanischen Philosophie der Befreiung“, in: Concordia, Internationale Zeitschrift für Philosophie, Heft Nr. 6, Aachen: Verlag Mainz 1984, S. 78–98. „Unido a los otros postulados de la Revolución francesa que se enunciaban con la proclamación de „¡Igualdad, Fraternidad, Libertad!“, debemos transformarlos en la rebelión de los pueblos oprimidos y excluidos de la periferia en sus luchas por la Segunda
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Luis M. Sánchez
Über den Charakter der „zweiten Emanzipation“, Emanzipation der „Emanzipation“ oder „Befreiung“ Lateinamerikas herrschen im Allgemeinen zwei Positionen, die zum Teil komplementär und zum Teil konträr sind: eine historisch-hermeneutische Position, die viel Wert auf die Bejahung der Authentizität und Vielfalt der lateinamerikanischen Kulturen legt, und eine ethisch-universalistische Position, die die Priorität eher auf die Kritik und Überwindung von traditionellen und modernen Herrschaftsstrukturen in Lateinamerika setzt.3 Der Rolle des modernen „Gleichheitsbegriffes“ in beiden Typen von „Befreiungsdiskursen“ werden die folgenden Reflexionen gewidmet. Zu diesem Zweck wird zuerst der Gleichheitsbegriff im Kontext verschiedener Entwicklungsstadien der Befreiungsphilosophie von Enrique Dussel analysiert, in dessen Diskurs die Kritik und Überwindung der historischhermeneutischen Position im Mittelpunkt steht (a). Danach werden zentrale Argumente des dekolonialen Projekts von Walter Mignolo examiniert, die für die epistemische Gleichberechtigung aller Kulturen plädieren und trotz ihrer methodischen Affinität mit Dussels Befreiungsphilosophie einen „Rückfall“ in die historisch-hermeneutische Position darstellen (b). a. Der „Gleichheitsbegriff“ im Kontext der Entstehung und Entwicklung der „Befreiungsphilosophie“
Die Zentrierung der Debatte der lateinamerikanischen Philosophie auf den Gegensatz „Dependenz/Befreiung“ lief die Gefahr nach Scannone den positiven Aspekt der lateinamerikanischen Kultur zu vernachlässigen, der nicht auf die Negation der Negation – bzw. der „Dependenz“ – angewiesen ist und, ganz umgekehrt, die Bedingung einer „authentischen“ Befreiung repräsentiert. Die Hermeneutik der Geschichte und der Kultur Lateinamerikas soll aus diesem Grund den neuen Ansatzpunkt der lateinamerikanischen Philosophie darstellen.4 Die Priorität der Hermeneutik vor der Befreiung in Lateinamerika würde für Dussel hingegen einen Rückfall in die „ontologische“ Position bedeu-
3
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Emancipación, en el nuevo postulado: ¡Alteridad, Solidaridad, Liberación!“ In: Enrique Dussel, 20 Tesis de Política, Mexiko: Siglo XXI, 2006 [= Dussel (2006)], S. 158 (These Nr. 20.37). Diese Unterscheidung basiert auf den Tendenzen, die Leopoldo Zea bei der Entstehung der unterschiedlichen Strömungen der Befreiungsphilosophie in den siebziger Jahren in Argentinien feststellte und deren wichtigste Exponenten damals Arturo Andrés Roig und Enrique Dussel waren. Siehe dazu das Vorwort von Zea in: Horacio Cerutti, Filosofía de la Liberación Latinoamericana, Mexiko: Fondo de Cultura Económica 1983, S. 14. Siehe dazu: Juan Carlos Scannone, Nuevo Punto de Partida de la Filosofía Latinoamericana, Buenos Aires: Guadalupe 1990 [= Scannone (1990)].
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ten, die von der Befreiungsethik bereits Ende der sechziger Jahren überholt wurde.5 Der Hermeneutik mangelt es nach Dussel an universalen Kriterien, die materielle und politische Probleme wie Armut und asymmetrische Verhältnisse zwischen Kulturen kritisch erklären und überwinden könnten. Die Philosophie vom „Dasein“ [„estar“], mit der Kusch den introvertierten Charakter der Andenkulturen im Kontrast zu dem extravertierten, rationalisierenden Charakter der Philosophie des „Seins“ der westlichen Kultur charakterisiert6, wird von Scannone als „Widerstand“ dieser Kulturen gegen den leistungsorientierten Drang der modernen Welt betrachtet.7 Die Authentizität dieser Art von „Widerstand“ wird vom Standpunkt der Befreiungsethik als zweideutig angesehen, wenn diese Haltung der Legitimierung und Reproduktion ungerechter Herrschaftsstrukturen dient. Die Perspektive, die die „Befreiungsethik“ der Hermeneutik entgegensetzt, ist der Standpunkt der „Exteriorität“ im Bezug auf den „ontologischen“ Sinnhorizont.8 Gemeinsam ist beiden Positionen ein kritischer Abstand zu dem modernen „Gleichheitsbegriff “, da diesem Begriff (zusammen mit dem „Emanzipationsbegriff“) eine „bürgerliche“, „eurozentrische“, „homogenisierende“ Konnotation zugeschrieben wird, die das Recht der Kulturen auf ihre „Alterität“ übersieht. a1. „Gleichheit“ aus der Sicht der neo-thomistischen Prämissen der Befreiungsethik
Dussel führt in seiner „anthropologischen Trilogie“ der sechziger Jahren eine komparative Analyse der anthropologischen und ontologischen Voraussetzungen der christlichen und der hellenischen Lebenswelten und des vermeintlichen Synkretismus durch, die im Laufe der ersten drei Jahrhunderte zwischen beiden Kulturen stattfand.9 Der Grund, warum Dussel die Voraussetzungen von beiden Kulturen auf der Ebene der Lebenswelt und nicht auf der Ebene des philosophischen Diskurses untersuchte, lag in dem damaligen Interesse, die Geltungsansprüche der Philosophie von den unreflektierten universalen Geltungsansprüchen des Hellenozentrismus zu befreien, um den Weg zu einer ethischen Philosophie, ausgehend von den post-meta5 6 7 8 9
Enrique Dussel, Ética de la Liberación, Madrid: Trotta 1998, S. 415 ff. [= Dussel (1998)]. Siehe: Rodolfo Kusch, Indigeneous and Popular Thinking in América, Duke University Press 2010, S. 158 ff. Siehe dazu: Scannone (1990) S. 23 ff. Siehe: Dussel (1998) S. 417–418. Die „anthropologischen Trilogie“ besteht aus den folgenden Bänden: Enrique Dussel, El humanismo helénico, Buenos Aires: EUDEBA 1975.; ders, El humanismo semita, Buenos Aires: EUDEBA 1969; und ders., El Dualismo en la Antropología de la Cristiandad, Buenos Aires: Guadalupe 1974 [= Dussel (1974)].
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physischen Strukturen der christlichen Lebenswelt, frei zu machen.10 Nach Dussel sind die intentionalen Strukturen der hellenischen Lebenswelt und der semitischen Lebenswelt radikal konträr: während die hellenische Lebenswelt durch die Vorherrschaft von ontologisch-monistischen und anthropologisch-dualistischen Strukturen charakterisiert wird, werden die intentio nalen Strukturen der semitischen Lebenswelt als ontologisch-dualistisch und anthropologisch-monistisch bezeichnet.11 Angesichts der Radikalität dieser Unterschiede schließt Dussel definitiv die Möglichkeit eines Synkretismus beider Kulturen in der Geschichte aus: Das was in den ersten drei Jahrhunderten n. Ch. eigentlich stattfand, war eine sprachliche und logische Akkulturation des Christentums durch die hellenische Kultur, nämlich die „Christenheit“, die große Schwierigkeiten hatte, den ursprünglichen Sinn der Strukturen der christlichen Lebenwelt in ihrer völligen Radikalität auszudrücken.12 Die Genese und die charakteristischen Merkmale dieser neuen Kultur waren damals auch sehr relevant als konstitutive Momente der „lateinamerikanischen“ Lebenswelt, da diese Kultur, die sogenannte „neue Christenheit der Indien“ [„Nueva Cristiandad de las Indias“], die spanische Eroberung und Kolonisierung in Amerika begleitete und legitimierte.13 Laut Dussel können nur die ursprünglichen Strukturen der christlichen Lebenswelt ein konsistentes „ontologisches“ Fundament für die Ethik liefern. Der entscheidende Punkt liegt in der radikalen Auffassung von „Transzendenz“, die kennzeichnend für die semitischen Kulturen ist.14 An dieser Stelle möchte ich die ethische Relevanz der Ontologie für Dussel kurz erläutern. Diese Relevanz hat selbstverständlich viel mit einem starken Einfluss des scholastischen Denkens auf Dussel zu tun, insbesondere des „integralen Humanismus“ des neothomistischen Denkers Jacques Maritain.15 Ausgehend von einer „sakralen“ und einer „profanen“ Auffassung“ der Zeitlichkeit unterscheidet Maritain zwei Typen von Lebensidealen.16 Die „sakrale“ Auffassung der Zeitlichkeit betrachtet die historische Welt als Verlängerung der göttlichen Ordnung und legitimiert die Gewaltanwendung im Dienste Gottes. Diese Auffassung lag dem Ideal des heiligen Römischen Reiches zugrunde.17 Die „profane“ Auffassung der Zeitlichkeit setzt dagegen eine ontologische Kluft zwischen Gott/Schöpfer und Welt voraus und verlangt die
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Siehe: Dussel (1974) S. 55. Siehe: Dussel (1974) S. 145; Dussel (1975) S. XVIII ff. Dussel (1974) S. 35. Dussel (1974) S. 259. Siehe: Dussel (1974) S. 145–146 und auch (1969) S. 117. Jacques Maritain, Christlicher Humanismus, Heidelberg: Carl Pfeffer Verlag 1950 [= Maritain (1950)]. Maritain (1950) 128. Maritain (1950) 112 ff.
Der Vorrang der „Alterität“ vor der „Gleichheit“
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progressive Anerkennung der Freiheit und Würde der menschlichen „Person“ in der Geschichte.18 Maritain führt die Freiheit und Würde der menschlichen Person auf die „Analogie“ zurück, die Thomas von Aquin zwischen dem Schöpfer und dem Menschen postulierte.19 Er gründete seinen „integralen“ Humanismus oder „theozentrischen“ Humanismus auf der „profanen Auffassung der Zeitlichkeit“, die zugleich das Fundament eines authentischen christlichen Lebens liefern sollte.20 Die Notwendigkeit eines „ontologischen“ Fundaments für die Ethik auf der Ebene der christlichen Lebenswelt ist bei Dussel von einem tiefen Einfluss des „integralen Humanismus“ von Maritain geprägt. Dazu gehört der neothomistische Begriff von „Person“. Für Dussel – wie für Maritain – besitzt die „menschliche Person“ eine besondere Art von „Freiheit“. Eine „Freiheit“, deren Fundament nicht „weltlicher“ Natur ist. Der Ursprung der Freiheit und damit auch der Würde des Menschen befindet sich jenseits der Welt: ihr Ursprung ist „transzendent“. Dieser Punkt ist sehr wichtig, um die Rolle der „Gleichheit“ bei der Befreiungsethik zu verstehen. Was die Freiheit betrifft, wird eine gewisse Analogie zwischen Gott und Menschen zugestanden, aber keine „Gleichheit“. Eine auf „Gleichheit“ beruhende Freiheit würde einen „ontologischen“ Monismus implizieren, von dem keine „transzendente“ Perspektive mehr möglich wäre. Diese Perspektive ist aber sehr wichtig für die „ontologische“ Begründung der Ethik. Die grundlegende Idee ist, dass die Vollkommenheit des Menschen auf die „Aktualität“ des „allerwirklichsten“ Seins angewiesen ist. Dussels ethisches Denken wird die Gleichsetzung des „Seins“ mit dem „Guten“ der ontologischen Tradition immer voraussetzen, selbst wenn er sich später gegen die „Ontologie“ von einem transontologischen Standpunkt der Exteriorität wenden wird, weil der Ursprung dieser angeblich „neuen“ Perspektive letztlich auf die transzendentale „Freiheit“ der Person im Sinne der thomistisch-aristotelischen ontologischen Tradition zurückführt.21 Für diese Denktradition ist der „Andere“ nicht „gleich“.22 „Gleich zu sein“ würde in diesem Kontext bedeuten, die „Alterität“ der Person auf das ontologische Fundament der historischen „Welt“ zurückzuführen, was den Verlust des transzendentalen Charakters der „Freiheit“ des Menschen zur Folge hätte. Der transzendentale Charakter der Freiheit der menschlichen Person soll jedoch nicht deswegen „ahistorisch“ verstanden werden. Für diese
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Maritain (1950) 104 ff. Maritain (1950) 56. Maritain (1950) S. 76, S. 128 u. a. Über das „onto-theologische“ Fundament der Ethik der Dussel siehe: Luis M. Sánchez, Warum kann (und darf ) der „Andere“ nicht verstanden werden? Sinnkritische historischphilosophische Rekonstruktion der Befreiungsethik von Enrique Dussel, Concordia, Reihe Monographien Bd.41, Aachen: Mainz Verlag 2006, S. 46 ff. [Sánchez (2006)]. „Homoiousios“ (wesensähnlich) vs. „Homoousios“ (wesensgleich).
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Tradition ist der Verlauf der Geschichte ganz im Gegenteil von der Transzendenz der menschlichen Freiheit abhängig. Die „Freiheit“ der Person, die den Vorrang der Alterität vor der Gleichheit impliziert, setzt die Welt und damit die Geschichte in Gang, indem die Freiheit der menschlichen Person in der Geschichte allmählich anerkannt wird. Der Kampf um diese Art von Anerkennung ist die Aufgabe der Ethik, die später in Lateinamerika „Befreiungsethik“ genannt wird. a2. Der Verlust des transzendentalen Standpunkts der Ethik und das Scheitern der „ontologischen Ethik“
Die „anthropologische Trilogie“ lieferte die christlich geprägte lebenswelt liche Grundlage einer ethischen Philosophie, die den unreflektierten Hel lenozentrismus der westlichen Philosophie entlarven und überwinden sollte. Aber es fehlte noch die explizite philosophische Begründung der neuen Ethik. Diese Begründung glaubte Dussel zuerst in Heideggers Existenzialontologie gefunden zu haben. In Übereinstimmung mit den zwei radikal entgegengesetzten „Sinnen von Sein“, vorhanden in den jeweiligen ontologischen Strukturen der christlichen Kultur und der hellenischen Lebenswelt, unterschied Dussel zwei konträre Richtungen in den dialektischen Methoden der Philosophie: eine dialektische Methode, die von einem „immanenten“ Sinn von Sein ausgeht und daher das letzte ontologische Fundament der Wirklichkeit auf die „Subjektivität“ – die das Sein „setzt“ – zurückführt.23 Und eine zweite Richtung der dialektischen Reflexion, die das letzte Fundament der Wirklichkeit in der Transzendenz des Seins, das „sich auferlegt“, sucht. Die erste Methode entspricht der Dialektik der modernen Subjektphilosophie; die zweite Methode wird mit Heideggers Existenzialontologie identifiziert. Das „Sein“ des „Daseins“, verstanden als „Verständnishorizont“ einer Kultur, sollte nach Dussel das letzte Fundament der „ontologischen“ Ethik liefern. Problematisch wurde aber das „Da“ des „Daseins“, d. h. der „Welt“. Wenn das „existenziale“ Projekt des Menschen nicht durch den „freien Willen“ eines abstrakten Subjekts, sondern durch die kulturelle Zugehörigkeit zu einer historischen Gemeinschaft bestimmt werden sollte, dann wird die ontologische Vollkommenheit des Menschen (oder völlige Verwirklichung seiner „authentischen“ Möglichkeiten)24 auch von der herrschenden Sittlichkeit der jeweiligen Kultur determiniert. Damit würde die „Sittlichkeit“ der
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Siehe: Enrique Dussel, Método para una filosofía de la liberación, 2. Aufl., Salamanca: Sígueme 1974, S. 16 u. S. 155 ff. Siehe: Enrique Dussel, Para una destrucción de la historia de la Ética, Mendoza: Ser y Tiempo 1970, S. 35.
Der Vorrang der „Alterität“ vor der „Gleichheit“
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historischen „Lebenswelt“ verabsolutiert und die Ethik würde wieder in die „Immanenz“ des „ontologischen Monismus“ fallen. Außerdem betrachtet die Existenzialhermeneutik den Menschen fast ausschließlich vom Standpunkt des Verstehens, während seine körperliche, bedürftige Dimension fast unberührt bleibt. Wenn die eigentliche Herausforderung der Ethik darin liegt, die herrschende Sittlichkeit einer Lebenswelt von einem transzendenten Standpunkt aus kritisch zu beurteilen, dann können die benötigten Kriterien dafür nicht allein „dialektisch“ aus dem „existenzial-hermeneutischen“ Fundament abgeleitet werden. Der entscheidende Anstoß gegen das Projekt der „ontologischen Ethik“ kam von Emmanuel Levinas. Bei Levinas fand Dussel die passende philosophische Terminologie für das neue „transontologische“ Paradigma der „Befreiungsphilosophie“. a3. Der Vorrang der „Alterität“ vor der „Gleichheit“ aus der transontologischen Perspektive der Befreiungsethik
Die Kategorie von Exteriorität, die von Levinas in Totalität und Unendlichkeit 25 eingeführt worden ist, ist möglicherweise der Begriff, der den meisten Einfluss auf Dussels Befreiungsphilosophie ausgeübt hat. Und es wäre nicht übertrieben zu behaupten, dass die Philosophie der Befreiung als Konsequenz der Übernahme und Anpassung der Levinasischen Kategorie von Exteriorität in dem lateinamerikanischen Kontext der siebziger Jahren entstanden ist.26 Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass der Beitrag von Totalität und Unendlichkeit, der Dussel am meisten beeindruckte, die Kritik von Levinas an Heideg gers Ontologie war.27 Die grundlegende Idee von dieser Kritik ist, dass die Welterschließung, die durch unseren Verständnishorizont ausgeführt wird, eine egozentrische Sinntotalität konstituiert, die durch eine instrumentale Rationalität beherrscht wird. Die „Welt“ ist in dieser Perspektive eine instrumentale Totalität von Sinn. Unter solchen Prämissen impliziert „Verste25 26
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Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, übersetzt von Wolfgang Nikolaus Krewani, 2. unveränderte Aufl., Freiburg/München: Verlag Karl Albert 1993 [= Levinas (1993)]. Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung, Hamburg: Argument 1989 [= Dussel (1989)]; ders., Para una ética de la liberación latinoamericana, Bd. I, Buenos Aires: Siglo XXI 1973 [= Dussel (1973)]; ders., Para una ética de la liberación latinoamericana, Bd. II, Buenos Aires Siglo XXI 1973; ders., Filosofía ética latinoamericana, Bd. III, México: Edicol 1977; ders., Filosofía de la liberación, Edicol, México, 1977; ders., Filosofía ética latinoamericana, Bd. IV, Bogotá: Universidad de Santo Tomás 1979; ders., Filosofía ética latinoamericana, Bd. V, Bogotá: Universidad de Santo Tomás 1980. Siehe dazu: Dussel (1973) S. 98 ff. und Dussel (1989) § 2.4.
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hen“ einen egozentrischen Umgang mit Menschen und Dingen, in dem es, selbstverständlich, keinen eigentlichen Spielraum für die Ethik gibt.28 Der wichtigste Beitrag von Levinas zu dieser Problematik ist die Idee, dass ein wichtiger Aspekt der Wirklichkeit von anderen Menschen, die so genannte „Exteriorität“, dem Sinnhorizont der Welt entgeht. Eine Weise, den Solipsismus zu überwinden und Kontakt mit der Exteriorität zu setzen, wird durch die „Offenbarung“ ermöglicht, die sich durch „Von-Angesicht-zu-AngesichtBeziehungen“ ereignet.29 Diese Art von Erfahrung wird von Levinas in Totalität und Unendlichkeit phänomenologisch beschrieben und analysiert. Nach der Lektüre von Totalität und Unendlichkeit versuchte Dussel, sich von der „existenzial-ontologischen“ Begründung der Ethik zu distanzieren. Die dialektische Methode, die Dussel an Heideggers Existenzialhermeneutik anknüpfte, beschrieb die Logik der Totalität (von Sinn) aber nicht die Logik der Exteriorität (oder der Wirklichkeit des „Anderen“). Die Beschreibung dieser Logik verlangte eine neue Methode, die Dussel als „Analektik“ bezeichnete.30 Die Besonderheit dieser Methode besteht darin, dass sie – im Gegensatz zur Dialektik – nicht auf der Identität des Seins (wie Descartes Selbstbewusstsein oder Heideggers In-der-Welt-Sein), sondern auf der „Analogie des Seins“ beruht. Analektik war dann die Methode, die die meta-physische Erfahrung der „Exteriorität“, d. h. die Erfahrung der unbedingten „Freiheit“ und „Würde“ der menschlichen Person, ermöglichte. Diese „meta-physische“ Erfahrung sollte durch „unmittelbare“, „von-Angesicht-zu-Angesicht-Begegnungen“ geschehen. Durch den bloßen Blick oder die stimmlose Stimme des Anderen sollte sich der transzendentale bzw. transontologische Status der „Alterität“ bzw. der „Freiheit“ des Menschen bekunden, deren Bejahung die Abschaffung von ungerechten normativen Ordnungen und die Entstehung von neuen und gerechteren Ordnungen in der Geschichte verlangt.31 Aus dieser Perspektive, an dem Tag, an dem die transontologische Freiheit des Menschen mit der „Freiheit“ des Systems „gleichgesetzt“ werden würde, würde die Geschichte zum Ende kommen. Da aber diese Möglichkeit durch die „transontologische“ oder „analektische“ Distinktion, die das Fundament der Freiheit auf die „Exterritorialität“ der Person zurückführt, ausgeschlossen ist, kann die Geschichte trotz radikaler Umwälzungen weiter ihrem Kurs folgen. Welche Rolle spielt die „Gleichheit“ bei der „Analektik“? Diese Methode geht von einem transontologischen Unterschied zwischen „Welt“ und „Realität“ aus. Nach diesem Unterschied gründet sich die „Welt“ auf den „ontologischen“ Sinnhorizont, während die „Freiheit“ auf der „Alterität“ – oder
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Siehe: Sánchez (2006) S. 94 ff. und S. 206 ff. Siehe: Dussel (1998) S. 362 ff. Dussel (1974) S. 181 ff., § 26. Dussel (1973) 97 ff., Dussel (1974) 181 ff., Dussel (1989) § 2 u. ff.
Der Vorrang der „Alterität“ vor der „Gleichheit“
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„Realität“ – der menschlichen Person beruht. Die „Gleichheit“ in modernem Sinne wird fast immer mit der „Identität“ von „Welt“ und Realität in Verbindung gebracht, die aus der Perspektive der Befreiungsethik rein „metaphysisch“ oder „ideologisch“ ist, weil diese Identifikation die Verabsolutierung des „Sinnes“ von Sein der jeweiligen historischen Welt, in diesem Fall der „moderne Welt“, zur Folge hat. In der folgenden Textstelle wird klar, wie Dussel sich von der „Gleichheit“ der herrschenden „bürgerlichen Welt“ distanziert, ausgehend vom Standpunkt der „transontologischen“ und zukünftigen Bejahung der Rechte der ausgeschlossenen „Alterität“ der „Nicht-Gleichen“: „Jenseits der Gleichheit der bürgerlichen Revolution befindet sich die Verantwortung für die Alterität, für die differenten, distinkten Rechte des Anderen. Jenseits der politischen Gemeinschaft der Gleichen (der Weißen, der Besitzer, des Metropolensystems, des abstrakten Bürgers, der Elite) befinden sich die Ausgebeuteten, die Ausgeschlossenen, die Nicht-Gleichen (Mitglieder nichtweißer Rassen, die Armen, die Mitglieder postkolonialer Gesellschaften, all jene, die durch Kultur, Geschlecht, Alter differenziert werden), die populären Massen. Sie werden durch neue Rechte berücksichtigt.“32 Die Moderne hat auf die Anerkennung der „Alterität“ verzichtet und hat sich damit selbst verabsolutiert. Dieser Solipsismus konstituiert das eurozentrische Fundament des westlichen Imperialismus. Eine „Gleichheit“, die auf dem Imperialismus dieser „Identität“ beruht (wie z. B. die Identität des globalen Kapitals), ist für die Befreiungsethik inakzeptabel, weil diese Art von „Gleichheit“ die Alterität von anderen Menschen und Kulturen gefährdet. „Wenn die Vielfalt durch die Gleichheit zerstört wird, muss die kulturelle Differenz verteidigt werden“, so Dussel, aber wenn Individuen oder Gruppen im Namen der „kulturellen Differenz“ ausgeschlossen werden, dann muss die „Gleichheit der mensch lichen Würde“ verteidigt werden.33 Diese „Gleichheit“ soll aber nicht in bürgerlichem Sinne verstanden werden. Sie beruht – wie schon gesagt wurde – auf der „Alterität“ der menschlichen Person und nicht auf der „Identität“ des „ontologischen“ Fundaments der hegemonischen Lebenswelt.
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Urspg. Sp.: „Mas allá de la igualdad de la Revolución burguesa se encuentra la responsabilidad por la alteridad, por los derechos distintos, diferentes del Otro. Más allá de la comunidad política de los iguales (de los blancos, de los propietarios, del sistema metropolitano, del ciudadano abstracto, de la élite) se encuentran los explotados, los excluidos, los no-iguales (de raza no blanca, pobres, poscoloniales, diferenciados por su cultura, sexo, edad), las masas populares. Nuevos derechos toman cuenta de ellos.“ Dussel (2006) S. 141 (These Nr. 19.11). Dussel (2006) S. 139 (These Nr. 18.33). Siehe auch dazu: Enrique Dussel, Política de la Liberación, Bd. 2, Madrid: Trotta 2009, S. 398.
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a4. Kritik der Moderne und die Rolle der „Ungleichheit“ als Bedingung der Möglichkeit von „Dissens“
Die Kategorie von Exteriorität wurde von Dussel nicht nur in einen neuen Kontext transponiert, sondern auch transformiert. Nach Dussel bedürfe der Sinn, der dieser Kategorie ursprünglich von Levinas zugeschrieben wurde, einer stärkeren Konkretisierung in historischer und empirischer Hinsicht. Historisch betrachtet repräsentieren die ursprünglichen Kulturen der „neuen Welt“ den „Anderen“ der Moderne. Die Weltzentralität und globale Hegemonie, die Europa durch die Entdeckung und Kolonisierung Amerikas erreichte, sollte daher auch als konstitutives Moment der Moderne betrachtet werden. Dazu gehört der Eurozentrismus, der zusammen mit seinem Hellenozentrismus die ideologische Grundlage lieferte, die die imperialistische Praxis der Moderne leitete und legitimierte. Aus dieser Perspektive gilt das ego conquiro von Cortés als Vorläufer des ego cogito von Descartes.34 Empirisch betrachtet, ist der „Andere“ grundsätzlich der „Arme“.35 Aus diesem Grund widmete Dussel viele Jahren dem Studium der Manuskripten von „Das Kapital“ von Karl Marx.36 Der Schluss, zu dem er kommt, ist, dass in der Kritik der politischen Ökonomie von Marx nicht nur die dialektische Kategorie von Totalität, sondern auch die analektische Kategorie von Exterio rität anwesend ist. Der Begriff „lebendige Arbeit“ beweist die Existenz der Kategorie der Exteriorität in Marx’ ökonomischen Schriften. Die „lebendige Arbeit“ ist keine dialektische Bestimmung, wie z. B. die „Arbeitskraft“, die auf das Kapital als Fundament zurückgeführt werden könnte. Die lebendige Arbeit ist eine Bestimmung der Vitalität der menschlichen Person, deren Wirklichkeit den Sinnhorizont der kapitalistischen Totalität überschreitet. Lebendige Arbeit ist die „lebendige Quelle“ des Werts und keine dialektische Bestimmung desselben. Auf dieser Distinktion beruht letztlich das kritische Potential des „Mehrwertbegriffs“, mit dem Dussel auch die „Dependenz“ in Termini der Transferenz von „Mehrwert“ von der „Peripherie“ auf
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Siehe: Enrique Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen, Düsseldorf: Patmos 1993. Auch dazu: Sánchez (2006) S. 7 ff. Siehe: Enrique Dussel, „Auf dem Weg zu einem philosophischen Nord-Süd-Dialoge. Einige Diskussionspunkte zwischen der „Diskursethik“ und der „Philosophie der Befreiung“, Dorschel, A.; Kettner, M.; Kuhlmann, W. u. a. (Hrsg.), Transzendentalpragmatik, Frankfurt am Main, 1993 [ = Dorschel (1993)], S. 387. Siehe: Dussel, Enrique, Towards an Unknown Marx: A Commentary on the Manuscritps of 1861–1863, 1988, Routledge, London, 2001; „The four drafts of Capital: Toward a New Interpretation of the Dialectical Thought of Marx“, in: Rethinking Marxism (Notre Dame) Vol. 13, No. 1 (Spring, 2001), pp. 10–26; El último Marx (1863–1882) y la liberación latinoamericana. Un comentario a la tercera y cuarta redacción de „El Capital“, Siglo XXI, México, 1990; Hacia un Marx Desconocido. Un comentario de los Manuscritos del 61–63, Siglo XXI/UAM-I, México, 1988.
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das „Zentrum“ des kapitalistischen Systems erklärt und dem alten Konflikt zwischen „Dependenztheorie“ und „Marxismus“ in Lateinamerika ein Ende setzt.37 Dussels Vorschlag, die irrationale Seite der Moderne zu überwinden, beruht nicht auf der Priorität der kommunikativen Vernunft vor der instru mentalen Rationalität, sondern auf der Anerkennung der „Vernunft des Anderen“.38 Diese Feststellung ist eine Erwiderung auf Apels Idee einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft als transzendentalpragmatische Bedingung der Möglichkeit diskursiver Argumentation.39 Nach Dussel ist die Unterstellung einer Gemeinschaft ohne Exklusion historisch und empirisch unmöglich. Bei jeder normativen Ordnung gibt es immer irgendjemanden, der (oder die) ausgeschlossen von der Gemeinschaft ist. Die Kategorie von Exteriorität weist auf diese Art von Exklusion hin. Die Verkennung dieses negativen Aspekts macht aus der Gemeinschaft eine geschlossene Totalität. Der Andere ist deshalb der- oder diejenige, der/die von der Kommunikationsgemeinschaft ausgeschlossen ist, und repräsentiert insofern auch eine unentbehrliche Bedingung der Möglichkeit von Dissens. Der Ausschluss von der Kommunikationsgemeinschaft steht fast immer in Verbindung mit einer Exklusion ökonomischer Art, die Dussel als Ausschließung von der Lebensgemeinschaft bezeichnet. Der Andere ist demzufolge – in einem ökonomischen Kontext – der Bedürftige, der Arme. Darum ist „der Andere“ letztlich der/diejenige, der/die von der Kommunikations gemeinschaft und von der Lebensgemeinschaft ausgeschlossen ist. Nach dem Dialog mit Apels Diskursethik entwickelte Dussel eine neue Architektonik für die Befreiungsphilosophie. In dieser neuen Architektonik wird die Anerkennung der Alterität des Anderen von dem Standpunkt materieller und formaler (bzw. formal-konsensueller) Kriterien betrachtet.40 Was die ethische Rolle der „Gleichheit“ betrifft, herrscht eine gewisse Diskrepanz von Akzenten zwischen der Befreiungsethik und der Diskursethik.
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Siehe: Enrique Dussel, Marx’ s Economic Manuscripts of 1861–63 and the „Concept“ of Dependency“, in: Latin American Perspectives, Volume 17, Issue 2, Post-Marxism, the Left, and Democracy (Spring, 1990) 62–101. Siehe auch dazu: Sánchez (2006) S. 127 ff. Siehe dazu: Enrique Dussel, „Die Vernunft des Anderen. Die Interpellation als Sprechakt.“ In: Raúl Fornet Betancourt (Hrsg.), Diskursethik oder Befreiungsethik? Aachen: Augustinus Verlag, 1992, pp. 96–121. Zum Dialog zwischen Diskursethik und Befreiungsethik siehe: Hans Schelkshorn, Diskurs und Befreiung: Studien zur philosophischen Ethik von Karl-Otto Apel und Enrique Dussel, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1997. Siehe dazu: Enrique Dussel, Prinzip Befreiung. Kurzer Aufriss einer kritischen und materialien Ethik, Wissenschaftsverlag, Mainz und Aachen, 2000; ders., „Zur Architektonik der Befreiungsethik. Über materiale Ethik und formale Moral“, in: Raúl Fornet-Betancourt (Hrsg.), Armut, Ethik, Befreiung, Augustinus Verlag, Aachen, 1996, pp. 61–94. Und: Dussel (1998) S. 91 ff., S. 167 ff., S. 309 ff. und S. 411 ff.
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Für die Diskursethik ist die „Gleichheit“ der Mitglieder der idealen Kommunikationsgemeinschaft eine transzendental-pragmatische „Bedingung der Möglichkeit“ der intersubjektiven Geltungsansprüche diskursiver Argumentation. Das bedeutet, dass man immer das kontrafaktische Ideal einer Kommunikation zwischen „Gleichen“ voraussetzen muss, um „sinnvoll“ argumentieren zu können. Dussel betont hingegen die Rolle der „Ungleichheit“ als „Bedingung der Notwendigkeit“ der Ethik, zum einen im Hinblick auf die „Transzendenz“ des „Anderen“ mit Bezug auf die Konsens der hegemonischen Kommunikationsgemeinschaft41, und zum anderen unter Bedingungen „extremer“ Asymmetrie. Die Aufgabe der Ethik besteht in dieser Hinsicht nicht unbedingt darin, die Abschaffung der Asymmetrie der Akteure zu verlangen, sondern die Termini des Verhältnisses auszutauschen. In Anlehnung an Levinas verbirgt sich hinter der Misere des „Anderen“ die moralische Autorität der gesamten Menschheit: „Die Gegenwart des Antlitzes – die Unendlichkeit des Anderen – ist Blöße, Gegenwart des Dritten (d. h. der ganzen Menschheit, die uns ansieht) und Befehl, der zu befehlen befiehlt.“42 Die Befreiungsethik verleiht nicht nur uneingeschränkte Glaubwürdigkeit, sondern auch uneingeschränkte Autorität der angeblichen Perspektive des Anderen, selbst wenn das „Verstehen“ des Anderen unter den hermeneutischen Bedingungen der „Analektik“ – „jenseits des Sinnes“ – praktisch unmöglich ist. Auf diesen Punkt werde ich im nächsten Abschnitt zurückkommen. Die neue Architektonik der Befreiungsphilosophie charakterisiert sich durch die gegenseitige Bestimmung von materiellen und formalen Kriterien. Eine starke Vorrangstellung der materialen Ebene gegenüber der formalen Ebene, von Seite der Befreiungsethik, ist dennoch evident. Die Befreiungsethik betrachtet die Verletzlichkeit des menschlichen Lebens, insbesondere die Verletzlichkeit der Opfer des Systems als letzten Bezugspunkt der Ethik und verleiht dem Verstehen eine strategische Funktion, die der Reproduktion und Entwicklung des menschlichen Lebens untergeordnet ist. a5. Zur Sinnkritik der Befreiungsethik
Der Standpunkt der „Exteriorität“ ist die „Perspektive“ von Menschen, die keinen „Sinn“ als „Personen“ für den Verständnishorizont einer historisch konkreten Lebenswelt haben. 41
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Siehe: Enrique Dussel, „Die „Lebensgemeinschaft“ und die „Interpellation des Armen“. „Die Praxis der Befreiung“, in: Raúl Fornet-Betancourt Fornet-Betancourt (Hrsg.), Ethik und Befreiung, Aachen: Augustinus-Buchhandlung, 2. Aufl., 1993, S. 69–96. Siehe auch dazu: Dussel (1992) S. 107 und Sánchez (2006) S. 141 ff. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, übersetzt von Wolfgang Nikolaus Krewani, 2. unveränderte Aufl., Freiburg/München: Verlag Karl Albert 1993, S. 308.
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Kein „Sinn“ als „Person“ bedeutet, dass der Mensch in seiner „Freiheit“ und „Würde“ nicht anerkannt wird. Da aber in keiner historischen Lebenwelt alle Menschen als „frei“ anerkannt werden, gibt es immer Individuen oder gesamte Gemeinschaften, die aus verschiedenen Gründen „unterdrückt“ oder „diskriminiert“ werden und daher nicht als „Personen“ gelten. Dieses Prinzip wird von der Befreiungsethik als „Unterdrückungsprinzip“ bezeichnet.43 „Person zu sein“ ist für die Befreiungsethik keine geschichtliche oder kulturelle Bestimmung, sondern eine „transzendentale“ Eigenschaft des Menschen, d. h. eine „Eigenschaft“, die den „Sinnhorizont“ überschreitet. Diese transzendentale Eigenschaft soll nicht als „idealistisch“ verstanden werden. Der „transzendentale“ Charakter des Menschen, auch „Exteriorität“ genannt, ist eine Bestimmung der „Realität“ des Menschen, deren progressive Anerkennung im Laufe der Geschichte den Motor gesellschaftlichen Fortschritts darstellt. Dussel demonstriert die Existenz der „Exteriorität“ durch Rekurs auf Deskriptionen phänomenologischer Art. In Anknüpfung an Levinas verteidigt Dussel die Idee, dass die Präsenz der Exteriorität durch Angesicht-zuAngesicht-Erfahrungen anschaulich „wahrnehmbar“ ist. Nach der Deskription dieser Art von Erfahrung verrät ein Blick – oder manchmal auch eine stimmlose Stimme – die Exteriorität des Anderen. Dieses einzigartige Erlebnis wird von Levinas als eine Erfahrung der „Unendlichkeit“ bezeichnet. Wenn wir uns die „Sinntotalität“ einer Kultur als eine rein „mentalistische“ Konstruktion vorstellen, könnten wir vielleicht besser nachvollziehen, was Dussel als transontologische „Realität“ des Menschen versteht. Da jedoch diese „Realität“ in Verbindung mit Werten wie „Freiheit“, „Würde“, usw. gebracht wird, ist es nicht immer klar, was hier überhaupt als „Realität“ verstanden wird. Deshalb ist es notwendig, die Art von Erfahrung, die den Zugang zu dieser Art von Realität ermöglicht, etwas näher zu betrachten. Es handelt sich um eine „unmittelbare“ Erfahrung des Anderen, die Dussel auch als „Nähe“ bezeichnet.44 Der leidende Blick der „Waise“, der „Witwe“, des „Armen“, des „Bedürftigen“, d. h. der Blick von denen, die unter extremen „asymmetrischen“ Verhältnissen stehen, rührt unsere Herzen und lässt uns ihren Zustand als „ungerecht“ oder „unwürdig“ empfinden, was so viel bedeutet, wie die Würde ihrer „Exteriorität“ wahrnehmen zu können. Der Zugang
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Siehe: Enrique Dussel, Ethik der Befreiung. Zum „Ausgangspunkt“ als Vollzug der „ursprünglichen ethischen Vernunft“, in: Raúl Fornet-Betancourt (Hrsg.), Konvergenz oder Divergenz. Eine Bilanz des Gesprächs zwischen Diskursethik und Befreiungsethik, Aachen: Augustinus-Buchhandlung 1994, S. 84. Siehe: Dussel (1989) § 4.2.2.1.
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zu dieser „ethischen“ Dimension – unabhängig davon ob es sich um einen autonomen Bereich der „Realität“ handelt oder nicht – kann jedoch nicht „unmittelbar“ sein, wie es von Dussel vermutet wird. Die Idee von „unmittelbaren“ Erfahrungen ist eine mentalistische bzw. subjektivistische Reminiszenz der Phänomenologie, die auch und insbesondere bei Levinas festzustellen ist. Dieser mentalistische Einfluss der Phänomenologie lässt sich durch zwei wichtige Merkmale der Befreiungsphilosophie feststellen: erstens, durch eine „subjektivistische“ bzw. „intentionalistische“ Auffassung der Sprache und, zweitens, durch einen inflationären Gebrauch der „sinnlichen Wahrnehmung“ als einzige Alternative, dem „Solipsismus“ zu entkommen. „Unmittelbare“ Erfahrung bedeutet in diesem Kontext, dass sie ganz unabhängig von der Welterschließung, die durch die Sprache stattfindet, ist. Weil Dussel von einer intentionalistischen bzw. egologischen Auffassung von Sprache ausgeht, kann er dem Verstehen nur einen „instrumentalen“ Sinn zuschreiben.45 Die „Welt“ ist daher für ihn monologisch, d. h. durch einen Egozentrismus beherrscht. Es soll deswegen nicht überraschend sein, dass Dussel das Fundament der Ethik immer „jenseits“ der Welt suchen wollte. Fraglich sind jedoch die Annahmen, dass die Ethik in einem Bereich jenseits der Grenzen der Welt – und damit des Sinnes – liegen würde, und dass dieser Bereich nur durch sinnliche Wahrnehmung zugänglich wäre. Es sieht so aus, als ob die Sprache als rein subjektive Angelegenheit beseitigt wird und die einzige Möglichkeit, den Solipsismus zu überwinden, die sinnliche Wahrnehmungen wäre. Interessant ist die Übereinstimmung dieser Strategie mit den Prinzipien des „ontologischen Dualismus“ und des „anthropologischen Monismus“, mit denen Dussel die intentionalen Strukturen der christlichen Lebenswelt charakterisiert. Ohne die Voraussetzung des „ontologischen Dualismus“ gäbe es keine andere Alternative als die „Welt“ zu verabsolutieren, und ohne die Bejahung der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen, kennzeichnend für den anthropologischen Monismus, wäre es nicht möglich die „Welt“ zu transzendieren. Problematisch ist aber, ob ausgehend von beiden Prämissen, eine ethische Dimension in einer Realität jenseits der Welt – und damit des Sinnes! – möglich ist. An verschiedenen Stellen besteht Dussel darauf, dass die Art von Wirklichkeit, die sich jenseits der Welt befindet, nicht „objektiver“, aber „intersubjektiver“ Natur ist. Das bedeutet, dass es hauptsächlich um die „Wirklichkeit“ des „Anderen“ geht. Diese „Wirklichkeit“ hat Priorität vor der „Welt“. Als Beispiel wird das „unmittelbare“ Verhältnis angeführt, das zwischen Mutter und Kind zuerst stattfindet, bevor die „Welt“ von dem Kind entdeckt wird. Aber selbst in diesem Beispiel ist die kulturelle „Welt“ der Mutter bereits vorausgesetzt. 45
Siehe dazu: Sánchez (2006) S. 94 ff.
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Auf jeden Fall ist klar, dass die sinnliche Wahrnehmung, die einzige mögliche Weise für Dussel ist, die Existenz von „anderen“ Menschen festzustellen, was die Affinität der Befreiungsphilosophie – und dies trotz ihres „transmodernen“ Impetus – mit den solipsistischen Prämissen der Bewusstseinsphilosophie deutlich bestätigt. Eine sehr problematische Konsequenz bzw. Inkonsequenz des unreflektierten Mentalismus der Befreiungsphilosophie ist die Rolle des Begriffes „Volk“ in ihrer Architektonik. Die „Wirklichkeit“ des Anderen bildet den ethischen Bezugspunkt der Befreiungsethik. Laut ihr befindet sich der „Andere“ „jenseits“ des „Sinnhorizonts“ der Welt. Hat aber der „Andere“ keine „Welt“? Der „Andere“ ist auch immer in die Welt eingebettet, aber diese Welt wird von der Befreiungsethik idealisiert. Alle „Ausgeschlossenen“ der Rechte und Privilegien des hegemonischen Systems werden dem Oberbegriff „Volk“ untergeordnet: „Jenseits der hegemonischen Totalität befindet sich das Volk; welches … in einem weltweiten Sinne und daher als peripherisches Land verstanden werden sollte. Wir bezeichnen als Volk die Unterdrückten einer politischen Totalität, die trotzdem eine gewisse Exteriorität erweisen: nämlich die des peripherischen politisch Anderen.“46 Das „Volk“ spielt in dieser Hinsicht die Rolle des „historischen Subjekts“ bzw. des „kollektiven politischen Akteurs“ bei der Befreiungsethik.47 Kann aber das „Volk“ verstanden werden? Unter den „analektischen“ hermeneutischen Prämissen der Befreiungsphilosophie bestimmt nicht. Darum versteht Dussel als „ethisches Bewusstsein“ die offene Bereitschaft, der stimmlosen „Stimme“ des Anderen bzw. des Volkes, selbst wenn diese undeutlich ist, „zu gehorchen“. Das blinde Vertrauen zu der angeblichen Exteriorität des Volkes wird von Dussel selbst oft als eine Frage des „Glaubens“ dargestellt. Wir haben oben erwähnt, in welchem Maße die Befreiungsethik immer noch dem Solipsismus der Subjektphilosophie, den sie als überwunden betrachtet, verhaftet bleibt. Zum Schluss möchte ich noch etwas in Bezug auf die angebliche Überwindung des ontologischen Paradigmas sagen. Die Befreiungsethik ist und bleibt abhängig von den Prämissen der „ontologischen“ Tradition, insbesondere vom Sinn von Sein als „res extensa“, die Heidegger als kennzeichnend für die abendländische Tradition bezeichnet. Die Idee, dass das „Sein“ das „Gute“ impliziert, zusammen mit der Vorherrschaft des Sinnes von Sein als „Substanz“ bzw. „Unbedürftigkeit“, werden vom „transontologischen Paradigma“ der Befreiungsethik vorausgesetzt. Mit der Metapher der „Alterität“ ist nichts anderes als „das allerwirklichste Sein“ gemeint, von dessen „Aktualität“ die „Perfektion“ des Menschen angewiesen ist: „Das Recht des Anderen, außerhalb des Systems, ist kein Recht, das durch das Projekt des Systems oder durch dessen Gesetze gerechtfertigt wird. Sein
46 47
Dussel (1989) § 3.1.3.1. Dussel (2006) S. 91 (These Nr. 11.31).
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absolutes Recht, weil er jemand, frei, heilig ist, gründet sich auf seine eigene Exteriorität, auf die reale Konstitution seiner menschlichen Würde.“48 Deshalb ist die „Alterität“ für die Befreiungsethik so wichtig. Problematisch ist es aber, dass unter diesen Prämissen der „Andere“ nicht nur „verdinglicht“ und quasi „vergöttlicht“ wird, sondern auch nicht „verstanden“ werden „kann“ und „darf“.49 2. Mignolos Projekt des „epistemischen Ungehorsams“ und die „Gleichberechtigung“ nicht-okzidentaler Kulturen
Walter Mignolo vertritt in seinem Projekt des „epistemischen Ungehorsams“ eine Radikalisierung des Befreiungsdiskurses von Dussel, die praktisch den Ast absägt, auf dem beide Diskurse sitzen. Anders als Dussel, der die historischen Wurzeln seiner „Analektik“ auf die ursprünglichen ontologischen und anthropologischen Prämissen der christlichen Lebenswelt zurückführt50, betrachtet Mignolo das Christentum auch als Komplizen der „kolonialen Matrix der Macht“ der Moderne. Das gleiche gilt für den Marxismus und alle „post-“Varianten, einschließlich „Postmodernismus“ und „Kritische Theorie“. Im folgenden werde ich zuerst Mignolos Projekts des epistemischen Ungehorsams und seine Affinität zu Dussels Befreiungsphilosophie erläutern (2a–b), und danach die Konsequenzen – bzw. Inkonsequenzen – dieses Projekts für die „Gleichberechtigung“ von Kulturen diskutieren (2c). 2a. Die „dunkle“ Seite der Renaissance
Walter Mignolo dokumentiert in „The Darker Side of Renaissance“ die Weise, wie das spanische Imperium die Kontrolle über das geschichtliche Gedächtnis und den geographischen Raum der präkolumbischen Kulturen durch die Einführung der Schriftsprache und die Kartographie – beide wichtige Errungenschaften der Renaissance – übernommen hat. Die Schrift und die Kartographie sind Erfindungen, die nach Mignolo auf einer modernen Epistemologie beruhen, die die „Objektivität“ (der „außen“ Wirklichkeit) vor der kollektiven „Subjektivität“ (d. h. der narrativen Wirk48 49 50
Dussel (1989) § 2.4.4.2. Siehe: Sánchez (2006) S. 194 ff. In seiner renovierten Befreiungsethik führt Dussel die ethischen Ressourcen der semitischen Lebenswelt über das Antike Ägypten hinaus auf die afrikanische Bantu-Welt zurück, um jeden Verdacht auf „Eurozentrismus“ bei diesen Ressourcen auszuschließen. Siehe dazu: Dussel (1998) S. 28.
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lichkeit, durch die Gemeinschaften ihre eigene Identität konstruieren und am Leben halten) priorisieren. Diese zwei Technologien traten in Konflikt mit dem oralen und pikto-ideographischen Narrativen der amerikanischen Kulturen, bei denen „maps are pictographic registers of events, of persons participating in the events, of spatial boundaries and locations of legendary origin, as well as the actual habitat“.51 Die epistemische Auferlegung der literarischen Kultur und der Karto graphie auf die amerikanischen einheimischen Kulturen beruhte auf der festen Überzeugung der Renaissance, dass „people without writing were people without history and that people without history were inferior human beings“.52 Und diese Auferlegung hatte in Konsequenz zur Kolonisierung der Sprache und zur Zerstörung der zeitlichen und räumlichen Gedächtnisse dieser Kulturen geführt. Der Punkt, zu dem Mignolo mit seinen Überlegungen über diese Problematik kommt, ist, dass die Geltungsansprüche der oralen und pikto-ideographischen Narrativen der präkolumbischen Kulturen genauso „legitim“ sind, wie die Geltungsansprüche von schriftlichen Narrativen und kartographischen Darstellungen der westlichen Kultur. In seinem Eifer, die „Gleichstellung“ von oralen und schriftlichen Traditionen zu demonstrieren, beruft sich Mignolo sogar auf die vermutliche Existenz von „Büchern“ bei oral-pictographischen Kulturen in Mesoamerika, was eigentlich sehr übertrieben ist.53 Eine konsequente „dekolonisierende“ Perspektive sollte sich – m. E. – nicht der gleichen „Rhetorik“ des kolonialen Diskurses bedienen, um die angebliche „Gleichstellung“ der präkolumbischen Kulturen zu demonstrieren. Das Problem liegt nicht in der „Überlegenheit“ oder „Unterlegenheit“ von Kulturen, sondern in den neuen Machtkonstellationen, die entstehen, wenn Kulturen, die über sehr unterschiedliche Kommunikationstechnologien verfügen, zum ersten Mal in der Geschichte miteinander in Berührung kommen. Die Kommunikationspraktiken präkolumbischer Kulturen erfüllten eine ganz andere Art von Zwecken als die Kommunikationstechnologien der westlichen Welt. Deshalb macht die Frage nach der „Übergelegenheit“ bzw. „Untergelegenheit“ von Kulturen von einem „dekolonialen“ Standpunkt – zumindest in dem o. g. Kontext – keinen Sinn.
51 52 53
Walter D. Mignolo, The Darker Side of the Renaissance, The University of Michigan Press 1995, S. 300 [= Mignolo (1995)]. Mignolo (1995) S.127 Mignolo (1995) S. 118 ff.
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2b. Mignolos Projekt des „epistemischen Ungehorsams“ und die „Gleichheit“ von Kulturen
Mignolos Projekt des „epistemischen Ungehorsams“ hat also seinen Ausgangspunkt in der Ablehnung der universalen Geltungsansprüche okzidentaler Epistemologien, die die Gültigkeit von Narrativen, die auf nicht-okzidentalen Epistemen beruhen, diskreditieren. Die „Gesamtheit“ der westlichen Epistemen, die universale Gültigkeit beanspruchen, bilden – in Anknüpfung an Dussels Befreiungsphilosophie – eine „Totalität“. Um dieser „Totalität“ zu entkommen schlägt Mignolo vor, die Perspektive der „Exteriorität“ zu übernehmen. Die Übernahme dieser Perspektive verlangt eine „Entkoppelung“ mit der „Totalität“, die Mignolo – in Anknüpfung an Dussel – als „Befreiung“ bezeichnet. Ich möchte diese Thesen etwas näher betrachten. Das „okzidentale Denken“ ist „eindimensional“ und „in seiner Gesamheit eine „pensée unique“.54 Es ist „die Totalität der großen Erzählungen der okzidentalen Zivilisation, ihrer imperialen Sprachen (Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch) sowie ihrer griechischen und lateinischen Grundlagen“.55 Zu dieser „Gesamtheit“ gehören sowohl „das liberale und neoliberale, christliche und neochristliche als auch das marxistische und neomarxistische Denken“.56 In Anknüpfung an Quijano sieht Mignolo die begriffliche und theoretische „Entkoppelung“ von diesem gesamten Schemata als notwendige Bedingung für die Befreiung und Dekolonisierung der Sichtweisen anderer Kulturen.57 „Emanzipatorische Projekte“, d. h. Projekte, die an dem „okzidentalen Denken“ anschließen, stellen aus der Sicht der Befreiung und Dekolonisierung nur palliative Maßnahmen dar, indem diese Projekte nur „lineare Reformen innerhalb der okzidentalen Geschichte und des okzidentalen Denkens“ anbieten.58 Die „hispano- und anglo-amerikanischen Unabhängigkeiten“ waren historische Prozesse „innerhalb des Systems“ und damit „Emanzipationen“.59 Die Rebellion von Tupac Amaru und die haitianische Revolution waren echte Befreiungsbewegungen, indem beide sich weder auf „christlich-liberale Kosmologien“ noch auf „okzidentale kosmologische Varianten“ stützten. Diese „Kämpfe zur Dekolonisierung“ wurden von einem „Konglomerat aus einheimischen Eliten und Verdammten angeführt, von „rassisch“ Diskriminierten, 54 55 56 57 58 59
Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, Wien: Verlag Turia + Kant 2012 [= Mignolo (2012)] S. 67. Mignolo (2012) S. 67. Mignolo (2012) S. 67. Mignolo (2012) S. 68 Mignolo (2012) S. 69. Mignolo (2012) S. 69.
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von politisch, ökonomisch und „spirituell“ ihrer Religion und ihrer Erkenntnis „Beraubten“.60 Die Perspektive der „Exteriorität“ beruht also auf der Perspektive der „Verdammten“ (im Sinne von Frantz Fanon61), d. h. auf der Perspektive derjenigen, die aus rassischen, politischen, ökonomischen, religiösen und epistemischen Gründen diskriminiert und ausgebeutet werden. „Befreiung“ bedeutet in diesem Sinne die Entkoppelung von den „Theound Egopolitiken von Erkennen und Begreifen“, die dem Horizont der Moderne untergeordnet sind. Mignolo nennt „Geo- und Körperpolitik von Erkennen und Begreifen“ die „epistemologische Grundlage“, die diese Entkoppelung ermöglicht.62 Diese Entkoppelung „beginnt mit dem Unglauben und dem Zweifel an der Illusion, dass die imperiale Vernunft zugleich die befreiende Vernunft hervorbringen könnte“.63 Die Geopolitik bezieht sich – in Anknüpfung an Dussel – auf die „geopolitische“ Situation des „erkennenden“ Subjekts, von der eine mögliche Diskriminierung und Ausbeutung im lokalen, regionalen und globalen Maßstab abhängig ist. Die Körperpolitik – hier in Anknüpfung an Frantz Fanon und Anzaldúa – beschäftigt sich ihrerseits mit den möglichen politischen Asymmetrien, die als Konsequenz aus Rasse und Geschlecht von epistemischen Subjekten entstehen. Es gibt selbstverständlich eine Geopolitik und eine Körperpolitik der Macht, die die Geopolitik und Körperpolitik der „Verdammten“ „neutralisieren“ kann. Diese koloniale Perspektive wird von Mignolo dem „emanzipatorischen Begriff“ von „Gleichheit“ zugeschrieben. „Gleichheit“ im Kontext epistemischen Ungehorsams bedeutet hingegen die uneingeschränkte (und d. h. geo- und körper-politische) Anerkennung der epistemischen „Gleichheit“ der Akzeptabilitätsansprüche aller Kulturen. 2c. Vorrang der „Gleichheit“ vor der „Alterität“?
Der von Mignolo vorgeschlagene kulturelle Pluriversalismus wäre in der Lage „europäische emanzipatorische Projekte“ unter sich zu subsumieren. Vorausgesetzt aber, dass diese Projekte auf ihre „universalen“ Geltungsansprüche verzichten. Wenn das im Fall des Christentums so wäre, auf welche historischen Ressourcen soll der „analektische“ Sinn von Begriffen wie „Alterität“ und „Exteriorität“ zurückgreifen, von dessen Gültigkeit die Diskurse der „Befreiungsphilosophie“ von Dussel und der „pluritopischen Hermeneutik“ von 60 61 62 63
Mignolo (2012) S. 69–70. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, 13. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. Mignolo (2012) S. 93. Mignolo (2012) S. 96.
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Mignolo ihre „Kohärenz“ gewinnen? Nicht ohne Grund würde der Verzicht auf die „universalen“ Ansprüchen der Ethik für Dussel das „Ende“ der Befreiungsethik implizieren. Mignolo, seinerseits, scheint extrem inkonsequent zu sein, wenn er einerseits die universalen Geltungsansprüche von Diskursen – bzw. „Narrativen“ – bestreitet, und andererseits für einen zukünftigen „pluriversalen Dialog unter Gleichen“64 plädiert. Ein Dialog dieser Art setzt, worauf Fornet-Betancourt hingewiesen hat65, unbedingt die „Gleichberechtigung“ der philosophischen Perspektiven aller Kulturen voraus.
64 65
Mignolo (2012) S. 207. Raúl Fornet-Betancourt, Lateinamerikanische Philosophie im Kontext der Weltphilosophie, Nordhausen: Traugott Butz 2005, S. 11.
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Silky Promises, Torn Realities: Addressing the Failed Expectations of Citizens in Post-Apartheid South Africa
Most young black youth are barely holding on to the ledge. They are likely never to get full-time formal employment or to enter the proletarian economy. … They scavenge to live or simply to get through the day … with so much rage and almost no future.1 Beyond poverty, the greatest challenge facing the country are the expectations that South Africans have of the post apartheid living experience. Introduction
In 1955 the African National Congress (ANC) sent fifty thousand volunteers to collect suggestions for the freedoms that South Africans wanted to live under in a more tolerant time. On 26 June 1955 the Freedom Charter was signed by the Congress Alliance, a multi-racial alliance of organisations, led by the ANC, committed to a democratic South Africa. These demands, or freedoms, form the basis of the South African Constitution and within it the Bill of Rights, a document lauded as one of the most progressive constitutions in the world. Unfortunately for many these commitments remain just that, providing the ability to realise expectations but not the capability to do so therefore citizens continue to (fight for) these freedoms side by side, throughout our lives, until we have won our liberty.2 Antony Altbeker notes that South Africa is ‘half made land’, one that continues to be haunted its history of discrimination, racial humiliation, inequality and desperate poverty. The last 5 years have increasingly seen comments like ‘we feel anger’, ‘we feel ignored’ and ‘nothing has gotten better’, coming from township dwellers, the most marginalised group living in the country. 1 2
Achille Mbebe, “Forward”, in: An Inconvenient Youth: Julius Malema and the ‘new’ ANC (Picador Africa, 2011) ix. Taken from the final sentence of the Freedom Charter, 1955.
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Amartya Sen, a leading economist and social scientist, argues for the importance of equal life chances, or equality of autonomy. This is the ability and means to choose a life course, as well as the capability to do so. Sen proposes that one needs to distinguish between doing something and being free to do something, the absence of either leading to frustration and anger.3 During Apartheid, inequality was legislatively imposed, with non-white South Africans barred from making intrinsic choices for themselves resulting in the degradation and removal of both the ability and capability to develop equally with white South Africans. Although the freedom and ability to realise expectations, and consequently equality, are a provided for in various legislation it is the capability to access these freedoms that is hampered by structural challenges such as education, healthcare, corruption, violence and unemployment amoungst others. In a country trying to recover from decades of legislated oppression and separation, preceded by centuries of unlegislated discrimination, under pressure, there is the risk, according to the characteristics of deeply divided societies as studied by Lederach that citizens will retreat to their own tribal, cultural and, in South Africa’s case racial groupings. This will drown that which has been built over the last 18 years providing the potential for the country to descend into political violence.4 The most visible and physically manifestation of frustration that has increasingly reared its head in the last ten years are protests. According to Peter Alexander, a leading academic and expert following protest action in South Africa, statistics for 2011–2012 show that crowd management incidents are higher than any previously recorded year, with an average of 2.9 unrest incidents per day.5 Although a hot media topic in terms of violence perpetrated by protesters and police, the motivation beyond stated grievances6 and consequences thereof are largely absent from government memoranda and academic discussion. This paper seeks to develop an alternative framework to address the violent protests in South Africa, looking beyond the commonly held belief that they are simply about grievances. Instead I maintain that they are about the dissatisfaction arising from lack of equality in the country and citizens’ expectations, as they are held in the Freedom Charter. 3 4 5 6
Amartya Sen, “Human Rights and Capabilites”, Journal of Human Development 6, no. 2 (2006): 153. John Paul Lederach, Buiding Peace: Sustainable Reconciliation in Divided Societies (Washing ton DC: United States Institute of Peace Press, 1997) 12–13. William Gumede, Restless Nation: Making Sense of Troubled Times (Tafelberg, 2012) 84. Peter Alexander, A massive revellion of the poor (2012). Reasons given for protests in South Africa include dissatisfaction with service delivery including: housing, electricity, water, sanitation; lack of education; substandard healthcare and pervasive unemployment.
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I argue that by developing capability and teaching civic education the playing field will be levelled in resulting in the previously marginalised not only left with the ability to access freedoms but also perhaps most importantly the capability to do so too. The South African Situation
True reconciliation (in South Africa) is only possible when we bridge the economic gulf, for you can’t build a society of justice on the increasing gap between rich and poor. Only if the government moved towards an equitable distribution of wealth, land, property and income could the political ‘miracle’ begin to uproot the evil of racism which was deeply rooted in South Africa. Beyers Naude quoted in Prospects for a Nonracial Future in South Africa7
Achille Mbebe in the forward of Fiona Forde’s book An Inconvenient Youth maintains that one of the primary challenges facing South African politics is the inability of the government to consolidate the ‘constitutional democratic settlement that suspended the ‘revolution’ in 1994 but did not erase apartheid once and for all from the social, economic and mental landscapes’.8 Protests in South Africa have garnered a significant amount of attention in the media, halls of government, big business and the classroom over the last decade. Few dispute that the majority of South Africans are dissatisfied with service delivery and are frustrated with the rate of resource redistribution since the fall of apartheid. There are many that are profoundly disappointed with democracy. ‘Millions live on the margins of the formal economy their hopes and expectations unmet and arguably unmeetable (sic) … owing nothing to a society that has given them nothing’, many having already lost patience.9 According to the World Bank, South Africa is an upper middle-income country with a GDP10 per capita of $11,035; placing the country at 79th out of 180. There has been an increase in the number of wealthy South Africans specifically since the end of apartheid with the emergence of a black middle and upper class, which are, together with traditional white-owned businesses, the winners of economic reform policy. This number however hides enormous income inequalities. Currently 42.9% of South Africans are considered poor, living on less than $2 a day. The overwhelming majority of these are 7 8 9 10
Neville Alexander, “Prospects for a Nonracial Future in South Africa”, in: Beyond Racism: Race and Inequality in Brazil, South Africa and the United States, 471–507 (Boulder: Lynne Pienaar Publishers, 2001). Achille Mbebe in Fiona Forde (2011) viii. Antony Altbeker (2007) 100. According to the IMF puts South Africa at 78 out of 183 with a GDP of $10, 973.
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black South Africans.11 In 2000, the Gini coefficient stood at 0.68, by 2008, this score increased further to 0.70 making the country of the most unequal in the world topped only by Namibia. Of a population of almost 50 million people, only 5,3 million reach the income threshold to pay taxes. Protests: A Learned Reaction
Collective trauma refers to ‘a state of mind where the collective is traumatised as an entity’. A manifestation of collective violence and trauma is the ‘automatic repetition of social re-enactment’ where history repeats itself. There is a particular symbolism attached to protesting and the destruction of property as a means of gaining attention to grievance since it was central to the struggle against apartheid. Old solutions are used for new problems, in the case of South Africa, protests and its response, violence perpetrated by both state law enforcement and protestors.12 Protests in South Africa are not a new phenomenon. Protesting against discrimination and for rights and services has a history that can be traced to the slave trade in the Cape colony in the 1600’s. The National Party came into power in 1948 and with it legislated discrimination that was enforced with violence and brutality. The use of protest became one of the only means of highlighting and drawing attention to issues facing the black majority. Holdt et al. argue that ‘protests and violence can be seen as a form of democratic voice which complements the democratic practices of elections, making up for the deficits of the latter’.13 When citizens are bereft of the means to express their needs, and importantly get results, within the parameters of accepted channels, then alternative means must be sought to achieve results. The 1960’s saw the start of the ‘passive resistance campaign’. Inspired by Mahatma Ghandi, hundreds of thousands of non-white South Africans took to the streets, entering ‘whites only’ carriages on trains, burning their pass books etc all with the aim of making the system unworkable. Protests were employed as a highly visible, collective means to draw attention to the racist, discriminatory laws of a violent, oppressive regime. By the 1970s and 80s14 thousands of people had been arrested, beaten and tortured by the police resulting in the commencement of an armed resistance, 11
12 13 14
Statistics South Africa puts this number closer to 50%. Bertelsman Stiftung, Bertelsmann Stiftung, BTI 2012-SA Country Report (Gutersloh: Bertelsman Stiftung, 2012) 5, 18. Sharlene Swartz, iKasi: The Moral Ecology of South Africa’s Township Youth (Johannesburg: Wits University Press, 2010) 25. Karl von Holdt et al. (July 2011) 27, 120, 122. Peter Alexander (2010) 25. Karl von Holdt et al. (July 2011) 29. Karl von Holdt et al. (July 2011) 7.
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violence was met with violence with the result that the ‘violence of resistance became a crucial element of the country’s ambience, its social atmosphere’.15 Rituals of protest were started during this time including: burning of tyres, barricading of streets and the throwing of rocks, rituals which continue and have escalated in the last decade according to Barry Bearak of the New York Times.16 A turning point occurred in June 16, 1976 where thousands of young people took to the streets protesting against Afrikaans as a sole medium of instruction in schools. The police retaliated with maximum force resulting in the death of hundreds of young people.17 These brutal actions led to widespread condemnation of apartheid resulting in a UN18 declaration condemning the regime as well as sanctions and increased support of those resisting and although it took almost two decades for democratic elections the wheels had started to turn. Protests worked19, the majority of South Africans validly appear to believe that ‘voting helps and protest works when it comes to deciding on a repertoire of action to ensure service delivery in communities’.20 Protests in South Africa Today
When promises fail to materialise, a group of people, within a particular community, convene a mass meeting, recruit more members, organise a march to deliver a list of grievances to the local council. More than likely, these grievances receive little or no attention. Residents then gain momentum and organise a larger march, often, which results in a violent act of burning down a public building, school, library or home of a councillor, blockading of roads, construction of barricades, burning of tyres, looting and chasing unpopular individuals out of townships. The police will intervene, usually with extreme 15 16 17 18 19
20
Antony Altbeker (2007) 99. Barry Bearak (2009). Sharlene Swartz (2010) 18. Achille Mbebe in Fiona Forde (2011) vii. The UN declaration against apartheid came into force on the 18th of July 1976 three years after the approval of the International Convention on the Suppression and Punishment of the Crime of Apartheid was approved by the General Assembly. Barry Bearak, South Africa’s Poor Renew a Tradition of Protest. 7 September 2009. www. nytimes.com/2009/09/07/world/africa/07protests.html (accessed June 13, 2012). Redi Thlabi, The masses speak, but we choose not to pay attention, 25 March 2012, timeslive. co.za/opinion/columnists/2012/03/…/the-masses-speak-but-we-choose-not-to-payattention (accessed April 3, 2012). Jelani Karamoko, “Community Protests in South Africa: Trends, Analysis and Explanations” (July 2011) 34. Peter Alexander, “Rebellion of the poor: South Africa’s service delivery protests – a preliminary analysis”, Review of African Political Economy 37, no. 123 (March 2010) 25, 31. Peter Alexander (March 2010) 29.
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violence, utilising rubber bullets and water cannons and further violence will ensue. Councillors and political party members arrive after a protest, someone takes notice, and as a result there is a payoff.21 Particularly violent protests will usually result in a visit from a senior African National Congress (ANC) member from either provincial or national leadership; even the President; an elected official will be forced to resign, with the media getting involved.22 Protests, by and large, occur in informal settlements or townships that are situated near or in large urban areas. These areas seldom receive services, or if they do they are substandard and frequently dysfunctional, the result being that those that don’t receive government services are within spitting distance of those that do.23 This is supported by data from municipal IQ who indicate that those who engage in protest action are not from the poorest regions of the country, but, rather those who experience deprivation relative to other areas in their proximity. The state has also made the argument that in some areas protests occur because services have been delivered. This indicates an assent with the argument for relative deprivation, where protests occur because of expectations relative to what others have.24 Alexander too highlights the significance of comparative poverty, that is, impoverishment relative to a reference group is of primary importance. Kara moko concurs saying that ‘communities are more likely to protest when they are languishing at the periphery of municipalities, a phenomenon most common in metropolitan areas’. Also, protests are most likely to occur in places that experience high levels of migration.25 According to Alexander, studies have shown that contrary to popular thought, the majority of protests occur in the wealthier provinces. The three most rural and poorest provinces namely Limpopo, Eastern Cape and KwaZulu Natal have, thus far, experienced the lowest number of unrest incidents in comparison to the rest of the provinces in the country. Of the protests taking place across the country, 25% of 2012 protests taking place in DA led Western Cape, Cape Town being the best-run city in South Africa, according to audited statements and evaluations. The townships in and around the city have experienced some of the worst protests in the country over the past year 21
22 23 24 25
Ward councillors, the most local form of representation, are elected by direct vote. Local government elections are 50/50 direct and proportional representation. National elections are all proportional representation with closed party lists, resulting in a highly unrepresentative system. This has been the typical mode of operation in Voortrekker, a town outside of Johannesburg and many others. Peter Alexander (2010) 26. Karl von Holdt et al. (July 2011) 8. Jelani Karamoko (2011) 34. Barry Bearak (2009). Karl von Holdt et al. (July 2011) 19. Peter Alexander (2010) 32. Jelani Karamoko (2011) 25.
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(2012), with 46% of the protests occurring in informal settlements, 88% of which were violent with the numbers amounting to 113.26 In 2007, 27% of protests were considered large (more than 100 people), this number has increased to 43% in 2011. In 2007 approximately 41.66% of protests were violent, this number increased to 44.16% in 2009, 55.64% in 2010 and 29.09% in 2011 with a high of 61.54%.27 A Disillusioned Youth
This paper places a significant emphasis on the role of youth in terms of the failure and realisation of equality dynamic. Almost one-third of South Africa’s present electorate is now too young to have any direct memory of apartheid.28 Young men and women living in South Africa today are the children of those that fought against the institutions of apartheid. They are the intended reci pients of the struggle their parents fought for, those that should be benefitting from a new system that no longer discriminates against races in terms of housing, healthcare, education, employments, safety and security. Cultural space to assert selfhood now exists; all things are possible in the new South Africa.29 The consequence of this is that they are intolerant of excuses citing the past as a reason for non-delivery. Frustration and grievances include: the disappearance of large sums of money, dirty water supply, inadequacy of recreation facilities, and failure to maintain them, lack of jobs, nepotism, lack of houses, and inadequate services.30 According to a study done by Idasa, an African Democracy Institute, and partners known as the Afrobarometer31, ‘born frees’, in comparison with those born prior to or during apartheid, are most likely to: be black (83%), identify with the ANC (45%), be unemployed (44%), fear crime in the home (52%), have gone without cash income (39%) and; least likely to be an active member of a religious (35%) or community (13%) group, get together to raise an issue (32%), attend a local meeting (45%), or contact a local councillor (23%). The reality is that instead of immeasurable opportunity young 26 27
28 29 30 31
Kevin Allen and Karen Heese, Municipal IQ Brief #379 (Municipal IQ, August 2012). Peter Alexander (2012). The death of Andries Tatane in Ficksburg in 2011 was a turning point with regards to police brutality. Mr Tatane, a community leader was brutally beaten by the police after trying to stop the police from water gunning the protesters. Jelani Karamoko (July 2011) 1–7, 13, 18. Karl von Holdt et al. (July 2011) 5. Robert Mattes (2011) 3. Antony Altbeker (2007) 117. Fiona Forde, An Inconvenient Youth: Julius Malema and the ‘new’ ANC (Picador Africa, 2011) 52. Karl von Holdt et al. (July 2011) 10. Robert Mattes (2011) 7.
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people face the prospect of long-term unemployment and chronic poverty in stark contrast to those that benefitted from apartheid and those few that have benefitted from the transition.32 The Freedom Charter and Expectations
In order to express the expectations of black South Africans living in post apartheid South Africa I have used the Freedom Charter, the foundation of the social contract between the people and their leadership. In addressing the history and expectations, versus reality, that the majority of South Africans live in today, the stage will be set to enable future deeper analysis into the protests that have become so pervasive in the last ten years. There Shall be Houses, Security and Comfort!
Residents interviewed by the Centre for the Study of Violence and Reconciliation (CSVR) stated that they have been ‘staying in a shack for the past 23 years, and will die still staying in a shack’ another stating ‘the dream of owning a house is fading’.33 The ANC had built 3 million houses more than was promised in 1994 however this is far from enough, many more need to be built to keep up with the demand and overall the standard of building work is very low with houses falling apart within years of them being built. Alexander, in a number of interviews with young people that participated in housing protests learned that housing has become a generational issue. Young people want to own, or be in a position to live and raise their families in their own space, yet they are forced to live in their parent’s backyards in tin shacks despite the many promises of a house for all.34 There Shall be Work and Security!
Work fulfils a number of functions namely: an economic function, providing the ability to earn a wage for work done; a social function, dictating where people live, the community and organisations that they participate in; and finally a personal or psychological function in that it provides a source of identity, feelings of self-worth and fulfilment.35 Amartya Sen highlights that 32 33 34 35
Sharlene Swartz (2010) 26. Karl von Holdt et al. (July 2011) 20. Peter Alexander (2010) 33. Yvette Geyer, interview by Jean Scrimgeour, Anti-Apartheid Activist and Manager at Institute for Democracy in Africa (15 May 2012) 1–5. Sharlene Swartz (2010) 135.
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unemployment is not only the lack of income, resulting in an inability to buy food and pay for services but it also has far reaching “debilitating effects on an individuals freedom, initiative, and skills … contributing to ‘social-exclusion’ of some groups”.36 According to the labour force survey, a quarterly study conducted by StatsSA there has been the total number of unemployed sits at 25% according to the strict definition and at 36.6% unemployment rate, according to the expanded definition.37 72.3% of unemployed South Africans were under the age of 34 with a majority of the unemployed being non-white.38 Of those that are poor, almost 50%, 93.3% are black, 6.3% are coloured, 0.4% Indian and 0.1% white.39 The Doors of Learning and Culture Shall be Opened!
In 2000, 1 035 192 pupils entered the education system, in 2012, upon completion of primary and secondary schooling only 496 090 wrote final exams, this equates to a loss of 52.8%. Only 24.3% of students passed with enough credits to gain access to university educations. Of those eligible to go to University 11% Black and 8% Coloured South Africans enrolled with a 45.5% drop out rate after their first year.40 Level of education and employment status are closely linked with only 9.5% of the unemployed having gained tertiary education as opposed to 29.3% with incomplete and 27.1% with only high school. The People Shall Share in the Country’s Wealth!
I go into people’s offices and demand something. I am a loyal and dedicated member of the ANC. I am not after positions. I am not an opportunist. I will defend the national democratic revolution. But I also believe I am entitled to a portion of the country’s wealth.41 36 37
38 39 40 41
Dr Renette du Toit, “Unemployed youth in South Africa: the distressed generation?”, in: Minnesota International Counseling Institute (MICI) (27 July – 1 August 2003) 2. Sen (1999) 11, 94 (2000) 20. Under the strict definition, an individual must have taken steps to find employment for a given time (4 weeks) prior to a particular point. The expanded definition includes those that have previously sought work but are now discouraged and have ceased taking steps to find work. Government of South Africa, P0211 Quarterly Labour Force Survey (QLFS), 1st Quarter 2011 (Johannesburg: Statistics South Africa, 3 May 2011) vi. ibid. Sharlene Swartz (2010) 26, 195. International Education Assiciation of South Africa, South Africa higher Education Facts and Figures, 16. Karl von Holdt et al. (July 2011) 20.
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According to the 2012 Bertelsman Stiftung report, corruption has become increasingly rampant with perpetrators frequently receiving little more than a rap over the knuckles before returning to their posts. Journalists and whistleblowers are increasingly targeted with the 2000 Protected Disclosures Act, being largely ignored.42 Exacerbated by high unemployment the use of political connections and leverage to advance personal financial interest is common.43 Thuli Madonsela, the South African Public Protector highlights that ‘corruption is the biggest factor undermining the trust between the state and its citizens’.44 According to Transparency International’s 2011 Corruption Perception Index South Africa ranks 64th out of 182 countries scoring 4.1 out of 10 (with 10 being best) in terms of perceived corruption.45 Paul Hoffman, the director of the Institute for Accountability in South Africa has been quoted to say that South Africa has lost R675 Billion (67 Billion Pounds) since 1994 to corruption. Corruption Watch has reported that the Special Investigative Unit is probing R171 Million in unauthorised government spending. The auditor general has indicated that that the number is closer to R20 billion (2 Billion Pounds) for the year 2010/2011 with only three of thirty-nine departments and less than half of state firms getting clean audits.46 All Shall be Equal Before the Law! & All Shall Enjoy Equal Human Rights!
Police fired rubber bullets on Tuesday to beak up about 200 protesters in Thokoza Township outside Johannesburg …47 The above scenario is not from apartheid South Africa but from recent acts of police brutality. South Africa has a long history of violence perpetrated by the armed forces, particularly the police. The violence used in the shaping
42 43 44 45 46
47
Bertelsman Stiftung (2012) 13. Peter Alexander (2010) 29. Times Live, South Africa at corruption tipping point: Madonsela (3 April 2012). Transparency International, Corruption Perception Index, Yearly Report (Transparency International, 2011). Chantelle Benjamin, “SIU probing R171 Million worth of govt rot”, Corruption Watch, 18 April 2012, www.corruptionwatch.co.za (accessed August 20, 2012). SAPA, “R675bn lost to corruption since 1994”, City Press, 5 September 2012, www.citypress.co.za (accessed September 10, 2012). Stella Mapenzauswa, “Corruption puts strain on South Africa’s Budget”, Business Day, 21 February 2012, www.bdlive.co.za (accessed September 10, 2012). Brooks, C. (2009, July 22). SA hit by service-delivery protests. Retrieved April 5, 2012 from Mail and Guardian Online: http://mg.co.za/article/2009-07-22-sa-hit-servicedeliveryprotests/.
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of modern South Africa has not gone away; ‘it lingers on as a kind of background radiation, deforming and dementing …’.48 Although significant strides were made to attempt to professionalise and moderate the violent tendencies of the security forces, much of the work has been undone in the last 3 years with the 2008 declaration by the chief of police General Bheki Cele that the South African police should ‘shoot to kill’. In 2001/2002 the number of assault investigations against the police conducted by the Independent Complaints Directorate trebled from 255 to 920 in 2009/2010. Fatal shooting investigations increased to 524 with KwaZulu Natal showing an increase of 173% from 2005.49 Consequences: Looking Beyond Protests and Inequality
While violence used by community protesters may feel seemingly emancipatory with its ability to disrupt the dominant symbolic order, it also has a ‘corrosive effect on political and associational life’.50 There are a number of consequences arising out of protests: collective violence and the increase of subaltern groups – burning and looting; xenophobic attacks; police brutality and most worryingly the erosion of social cohesion. Some local township residents unwilling to blame the state, believe that it is foreigners that are taking jobs and opportunities, forcing them to share already limited resources with more and more people.51 Between 2007 and 2009 there were only two instances of protesters becoming expressly violent against foreigners. This amount has increased to seven in the last three years where foreigners had their shops looted, burned or were attacked particularly for being foreign in South Africa. A two-week period in 2008 saw 61 people killed and 100 000 people displaced when concentrated xenophobic violence erupted in over 135 locations across the country.52 Holt et al. conclude that there is a process of class formation, which is leading to the emergence of a new elite, and underclass producing what is called ‘differentiated citizenship’. Citizens are being separated by education, property, gender and occupation, they have different rights and privileges according to the above with subaltern groups exploiting and mobilising around this differentiation with the aim of destabilisation.53
48 49 50 51 52 53
Antony Altbeker (2007) 65, 97. Dominic Farrell, “South Africa’s Police Shoot to Kill”, Think Africa Press (22 July 2011). Karl von Holdt et al. (July 2011) 28. Karl von Holdt et al. (July 2011) 6. Jelani Karamoko (2011) 17. Karl von Holdt et al. (July 2011) 5. Karl von Holdt et al. (July 2011) 6, 7.
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‘Through his radical utterances, Malema has ironically become a walking reminder of the unfulfilled promises from 1994 that have created the kind of socio-economic inequalities that have allowed the likes of him to emerge.’54 Julius Malema, the former president of the ANC Youth League has risen through the ranks to become one what many call a highly destructive force. His appeal is however widespread since he says what many people feel, highlighting social and economic inequality. The result has been his expulsion from the ANC, a severe punishment that has not seemed to stop him. Most recently he incited deadly violence amongst miners, his popularity has not seemed to wane. According to the Institute of Justice and Reconciliation’s South African Reconciliation Barometer (SARB), the survey has pronounced that recon ciliation is more likely to happen when citizens view public institutions, leadership and democratic culture as legitimate. The 2011 SARB reports that most South Africans have little confidence in local government, currently at 46%, a number which has not reached 50% since 2006, a year after the start of major protests. Only 40% of South Africans believe that they have the power to influence changes on issues that affect them.55 Political interest has also seemed to wane as expectations are not met and protests and continue. It is a vicious circle, the more South Africans feel the a closing of life chances, the less they participate, the less they participate the less their life chances are resulting in the increased ‘polarisation of the racial structure … and a rebalkanisation of culture and society’. The result is that ‘born frees’ have the lowest demand for democracy of all the generations.56 Ted Gurr, in his analysis of major conflicts and rebellions concludes that groups move from non-violent protests, through violent protests to outright rebellion.57 On the 10th of August 2012, three-thousand mine workers initiated a wage-strike, unauthorised by the unions at Marikana platinum mine, near Rustenburg in the north of South Africa. On the first day of striking four mineworkers lost their lives in clashes with a rival mineworkers union. On the 13th of August in an attempt to calm and bring some control to the rapidly deteriorating situation the police were brought in, resulting in the death of seven mineworkers, two policeman who were hacked to death by machete wielding protesters and two mine security personnel who were burned to 54 55 56 57
Fiona Forde (2011) xx. Institute for Justice and Reconciliation (2011) 13, 14. Mbebe in Forde (2011) viii. Robert Mattes (2011) 9. 12. According to Gurr, this ‘protracted period’ can take over ten years between the manifest onset of conflict to outright escalation leading to military confrontation. Oliver Rams botham, Tom Woodhouse and Hugh Miall, Contemporary Conflict Resolution, 2nd Edition (Cambridge: Polity, 2007) 103.
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death in a car. A further three miners were killed following this incident. On the 16th of August, after failed attempts to negotiate, 34 mineworkers were killed, and 78 wounded, after the police opened fire on retreating mine workers. These events follow a number of non-violent protests that have occurred intermittently over the past year.58 The government is not in control resulting in serious ramifications for economic growth, further hampering necessary economic revolution.59 A Theoretical Discussion
The previous section described the protests as they occur, what the stated grievances are as well as the current socio-economic realities of the majority of black South Africans, in terms of the freedoms promised following the demise of the apartheid regime. I use Ted Gurr’s, seminal work Why Men Rebel and his theory of failed aspirant deprivation to explain collective conflict, geographical location and use of violence ascribed to protest action in South Africa. Amartya Sen’s capability approach is applied with respect to the importance of control over ones political environment, expanded upon by Margaret Nussbaum, to describe the levels of frustration while introducing a means of addressing capabilities for ‘citizens to do it for themselves’. Beyond poverty, the greatest challenge facing the country are the expectations that South Africans have of the post apartheid living experience. In order to address the questions posed by this paper a theory of conflict that is more holistic in approach needs to be applied, looking beyond the greed – grievance paradigm as posited by the authority on African conflict, Paul Collier.60 Ted Gurr, quoted in Ramsbotham et al., states that: ‘Grievances rarely lead to rebellion.’61 This forms the basis of his seminal work written in 1971, which Abell and Jenkins describe as the ‘most comprehensive and sustained effort to apply frustration-aggression theory to the macro-social phenomenon of collective violence’.62 58 59
60 61 62
Peter Leon, Marikana, Manguang and the SA Mining Industry, 30 August 2012, www. politicsweb.co.za (accessed August 31, 2012). The protests in the mining sector have already negatively affected exports, employment, investor confidence and economic growth says Pravin Gordhan, Minister of Finance. Ethel Hazelhurst, Mine uprisings dampen exports, jobs, economic growth, Newspaper Article (Sunday Independent, 16 September 2012). Paul Collier and Anke Hoeffler, Greed and Grievance in Civil War, Polcy Research Working Paper 2355 (World Bank, May 2000). Ramsbotham et al. (2007) 96. Peter Abell and Robin Jenkins, “Why Do Men Rebel? A Discussion of Ted Gurr’s Why Men Rebel”, Race Class, no. 13 (1971) 84.
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There is a burden on the state to provide services and employment however I maintain that the perfect provision of these services will not bring the protests to an end. The implication this statement is that one cannot simply look at the declaration of grievance as a reason for conflict. The problem, Gurr says, is that ‘aspiration outruns achievement’ insofar that most people, even if they are making some progress toward their goals, are dissatisfied because they get so much less than they want.63 Aspirational Deprivation
Aristotle first said that the cause of revolution was the aspiration for economic or political equality. Hoselitz and Willner, in Gurr, go further stating that unrealised aspirations produce feelings of disappointment whereas unrealised expectations produce feelings of deprivation. ‘If people have no reason to expect or hope for more than they can achieve, they will be less discontented with what they have, or even be grateful to hold onto it’, expectations for something better evoke a very different response.64 Expectations are beliefs and desires that are centred on a particular future, which is shaped by the surrounding social, cultural and historical environment, therefore perceptions, are key. It has been eighteen years since the first democratic elections in South Africa, citizens have waited but when they perceive that their capabilities have not changed, or are lessening then the impetus for action increases. Capabilities are the combinations of what people are feasibly able to achieve, these have two parts: functioning’s and opportunity freedom. In other words what people can achieve and whether they have the opportunities to do so.65 When there is a discrepancy between the expectations of citizens and the capability they have to attain expectations, Gurr calls this relative deprivation. Relative deprivation is contingent upon the individual, or as in this case the collective’s, point of reference or perception, the value position to which members believe they are entitled. Perceptions are dictated by history, abstract ideals or a standard as defined by a leader or group. In South Africa the value position which, is one of poverty and frustration, has changed little since apartheid. Value abilities are promised by leadership and guaranteed, and defined in documents such as the Constitution, Bill of Rights and Free-
63 64 65
Gurr (2011) 39. Gurr (2011) 24, 39. Amartya Sen, Development as Freedom (Oxford University Press, 1999). Peter Abell and Robin Jenkins, “Why Do Men Rebel? A Discussion of Ted Gurr’s Why Men Rebel”, Race Class, no. 13 (1971) 85.
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dom Charter amoungst others. This does not however mean that citizens have the capability to attain these freedoms.66 Discontent arises from the perception of the relative deprivation of expectations; these are the conditions that instigate collective violence, contingent on the amount of time and intensity of the frustration. Frustration is compounded by the promise of improvement for those that have been deprived. Hope that all the deprivations they have suffered in the past will be alleviated. This is especially the case if citizens have been persistently deprived of goods, services and conditions of life and believe that the government is about to remedy the situation, only to find these beliefs false they become ‘especially violent, often revolutionary’.67 Gurr highlights a number of patterns of relative deprivation namely decre mented, progressive and aspirational deprivation, the latter being the most relevant for this paper. Aspirational deprivation is when there is an increase in value expectations without the concurrent change in value position or capability. The increase in value expectations can be due to a change in the rules by which men are governed, such as a change in government, resulting in raised expectations of what men can achieve.68 This phenomenon is best described by the following graph.
Value capability versus value expectation graph
66 67 68
Gurr (2011) 24, 25. Gurr (2011) 13, 25–27, 37, 118, 121. Gurr (2011) 50.
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During apartheid non-whites were deprived of the opportunity to better themselves by undertaking higher learning, taking on skilled positions and fully participating in all aspects of the economy and society. These restrictions were legislated and rigorously enforced with the result that expectations of achieving more than basic education and undertaking a menial job were very low. Expectations and capabilities coincided. Post-apartheid however, restrictions against participating fully in society have been removed and promises of an improved life have been made. Capabilities however, as discussed above, have only marginally altered. A marginal increase in capabilities of deprived groups increases the desire to attain more. The event that triggers a sense of deprivation may be the realisation that a goal thought to be near at hand is in fact still very far away. The discovery that education employment, financial and personal security was not inevitable for all, post-apartheid, may have triggered a much deeper feeling of deprivation than when a change seemed very far away. Relative deprivation is also set to rise when a reference group, or members of ones own group have benefitted, through corruption etc. and you have not.69 Protests, A Not-So Unique Phenomenon
The actors, form, location and properties of a conflict are not arbitrary and can be theoretically understood. Gurr states that a ‘person who sees no possibility of satisfying his aspirations in productive ways is more likely to express dissatisfaction in destructive ways …’ therefore, the potential for violence is greatest in a nation where citizens feel sharply deprived in terms of their most deeply valued goals and where they have exhausted all constructive means to attain goals through non-violent action.70 In South Africa citizens have waited, written letters, sent petitions and voted and still service delivery, employment, education, safety and security are not what is expected. Gurr talks about two forms of open conflict namely protest and rebellion. Protests centre on policies whereas in a rebellion the conflict is not only about policies but also who rules and through what structures things happen. Participants in protests are authorities and challengers, including their subgroups. When challengers undertake an action, it begets a response by authorities – the greater the challenge the greater the response. Reverting to what citizens know to have worked in the past, protest action is revived.71
69 70 71
Gurr (2011) 72, 105, 118. Gurr (2011) 74, 92, 137. Gurr (2011) 32.
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Protests occur in townships, areas of substantial deprivation, near cities that demonstrate what values can be attained. In research conduced by Gurr, cities have a ‘attractive influence’ on people with rising literacy rates, and western education all acting as major sources of rising expectations.72 According to a recent survey of over 18 000 young people, the outlook for South Africa remains very positive, this is consistent with the work done by Sharlene Swartz and a number of other researchers.73 58% of those polled between the ages of 15 and 18 stated that they were optimistic for the future, this number decreased to 45% when speaking to those between the ages of 25 and 34. This, says Gurr, is to be expected. Young people are extremely positive about their future when they believe that as long as they complete school, or go to university, they will get a job. When jobs are scarce, pay low and capabilities thwarted, disillusionment and anger are quick to follow.74 Relative deprivation is said to increase when individuals compare themselves to those that they think they should be like.75 Young people are especially prone to doing this especially since, in South Africa, young people have been conditioned to believe that in the ‘new South Africa’ there are no bar riers to what they can attain. The longer the frustration and protests continue the more likely it is to develop into a rebellion, young people are especially impatient. As expectations remain and frustrations escalate, South Africa must recognise protests as part of a larger problem, one that has the potential to destabilise and draw the country into an outright rebellion. Countries that experience political violence, ‘whether riots, terrorism, coup d’etat, or guerrilla war – are rather likely to experience other kinds of political violence’.76 Violent behaviour in South Africa, as highlighted above has taken on a number of guises, as further discussed by Gurr: violence as a learned response, emergence of violent subaltern groups, and the use of violence by the state as a means of mobilisation. Gurr talks about the violence as a learned response, rationally chosen and dispassionately employed, a norm generated through nurture and experience, it either compels or deters. Men hold ‘norms about the extent, and the conditions, under which violence generally, and political violence specifically is proper’. The act of torching buildings and tyres, throwing rocks and looting
72 73 74 75 76
Gurr (2011) 95. SAPA, “Youth optimistic: Survey”, Times Live (Johannesburg, 13 August 2012). Gurr (2011) 95. Gurr (2011) 105. Ted Robert Gurr, Why Men Rebel (Paradigm, 2011) 5. The change in conflict takes place over a protracted period which can take over ten years between the manifest onset of conflict to outright escalation leading to military confrontation. Ramsbotham et al. (2007) 103.
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property, particularly that which is state run or owned is not a new phenomenon in South Africa, it has a long history which has proven to get attention both in the past and the present. It is a learned response based on historical events.77 Holdt describes how in his interviews the ‘words and songs of interviewees … reveal how the collective participation in violent confrontation can be experienced as empowering for those who are condemned to live on the margins of social life because of poverty and joblessness’.78 A secondary phenomenon to the primary acts of violence is the emergence of subaltern groups that take advantage of the situation and commit acts of violence for the sake thereof. According to Gurr, ‘violence has utility in obtaining scarce values and can be an independent source of political violence or it can provide a secondary motivation for action’. There is a distinction however between actions that secure the values sought and actions that are destructive for their own sake. Both occur in times of conflict, the one feeding off the other.79 Violence by the state against its citizens lowers the legitimacy of the state, this may result in the rise of new groups of challengers with a new reason for in a new reason for uprising and protest.80 Violent protest action is a historically significant, learned response of a citizenry who believe that the government has failed to satisfy their expectations in post apartheid South Africa. These expectations were set by the promises made in the Freedom Charter and raised by the transition to democracy in 1994. Gurr has found that long term frustration and protest do not eventually taper off; instead they continue to grow and develop.81 What distinguishes the South African case from the ‘Arab Spring’ countries, and other similar democratic revolutions, is that South Africa has freedoms, outlined and legislated in the constitution, Freedom Charter and Bill of Rights, amoungst others. It is the capability to achieve these freedoms that is posing the biggest challenge to the development of the state.
77 78 79 80 81
Gurr (2011) 32, 155–156. Gurr and Lichbach (1981) 7, 8, 11. Karl von Holdt et al. (July 2011) 27. Karl von Holdt et al. (July 2011) 28. Gurr (2011) 13, 34. Gurr and Lichbach (1981) 8. Gurr and Lichbach (1981) 9. Gurr and Lichbach (1981) 23.
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A Way Forward Developing Capability
What people can positively achieve is influenced by economic opportunities, political liberties and social powers, and the enabling conditions of good health, basic education, and the encouragement and cultivation of initiatives.82 The state will never be in a position to fulfil all the expectations of citizens, instead citizens need to be in a position where they are capable of achieving their own expectations in conjunction with the state. Sen states that ‘the freedom of agency that we individually have is inescapably qualified and constrained by the social, political and economic opportunities that are available to us,’ it involves both the processes that allow freedom of action and the opportunities that people have to perform these actions. Gurr maintains that citizens need to increase their personal, societal and political opportunities in order to satisfy their value expectations. Personal opportunities are the inherited and acquired capacity of individuals for value enhancing action, societal opportunities are actions available to the collective for value enhancing action and political opportunities are the normal courses of action available to the collective to induce others to provide them with value satisfaction.83 Amartya Sen addresses opportunities in terms of capabilities, a concept which has developed into the capability approach (CA), the foundation for the UNDP Human Development Reports. Capabilities refer to a person or groups freedoms to promote or achieve valuable functioning’s. He describes the importance of ‘expanding the capabilities of persons to lead the kind of lives they value – and have reason to value’.84 Des Gasper, a critic of the all-encompassing nature of the capability approach, provides a succinct summary of some of the key components of the approach. CA talks about how people live as well as and the freedom they have to choose how they live by assessing income, assets and utility. These freedoms include capabilities, functioning’s, agency, commitment and quality
82 83 84
Amartya Sen (1999) 5. Amartya Sen, Development as Freedom (Oxford University Press, 1999) xi–xii. Gurr (2011) 28. Sabina Alkire, “Why the Capability Approach?”, Journal of Human Development 6, no. 1 (March 2005) 121. Amartya Sen (1999) 18. Ingrid Robeyns, “The Capability Approach: a theoretical survey”, Journal of Human Development 6, no. 1 (2005) 94. Des Gasper, “Is Sens capability approach an adequate basis for considering human development?”, Review of Political Economy 14, no. 4 (2002) 443.
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of life. The emphasis is places upon valued capabilities (what a person can attain) over valued functioning’s (how people live).85 This I believe is critical to addressing the crisis that citizen’s face, there is no lack of freedom or ability to participate but often there is an absolute lack of capability. The capability approach addresses, as the objective of human development, not economic growth as an end-in-itself, but rather the expansion of peoples’ real freedoms. Those that experience social and economic ‘unfreedoms’ are often socially excluded, with participation in protests providing a sense of power.86 Moeletsi Mbeki argues that the service delivery protests are an indication that the poor no longer see ‘wealth redistribution through government largesse as a solution to their poverty’.87 Addressing individual grievances will not satisfy the overall challenges brought about by ‘unfreedoms’: ‘Economic reality must be remade, but so too must be the climate in which social conditions are translated by people into forms of human behaviour.’88 Capabilities also include affiliation, family life and community involvement.89 Margaret Nussbaum expanding on Sen in her book: Sex and Social Justice talks about the ten central activities that provide the components to a free life. Shortly, these are: life; bodily health; bodily integrity; senses, imagination and thought; emotions; practical reason; affiliation; other species; play and control over ones environment divided into material and political. For this paper I shall focus on political control over ones environment, the ability to participate fully in political choices that govern ones life, rights of political participation, speech and association. Even when people do not lack adequate economic security but lack political liberty or civil rights, they are denied the opportunity to take part in crucial decisions regarding public affairs and thus lack freedom.90 The paper looks at the ability of South Africans to access political freedom and advocate for the importance of civic and political education as a means of including them into society as a means to reveal Gurr’s assertions that citizens that believe that there are ‘socially acceptable alternatives to a present position’, are less likely to seek destructive ways of improving their current position.91
85 86 87 88 89 90
91
Des Gasper (2002) 435–440. Amartya Sen (1999) 20, 87, 89, 92. Moeletsi Mbeki (24 May 2012). Antony Altbeker (2007) 119. Amartya Sen (1999) 17, 90. Des Gasper (2002) 453. Margaret Nussbaum, Sex and Social Justice (Oxford University Press, 1999) 41–42. Robert E. Good, in: David Parker, “Symposium on Martha Nussbaum’s Political Philosophy”, Ethics 111, no. 1 (October 2000) 5–7. Amartya Sen (1999) 16. Sabina Alkire (2005) 125. Ted Robert Gurr (2011) 73.
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The construction of democracy as both a system of government and a culture by and through which citizens associate among themselves and relate to government institutions requires checks between the able agency of citizens to exercise and advance their rights and institutions which must help them to do so. For this, an effective system of participation, checks and balances, oversight and accountability, responsiveness and consultation are required.92 Fakir and Moloi from Why Balfour was Burnt? Democracy and Delivery Deficits: Anger over non-responsive Government.
Historically, processes to address grievances and raise issues with government structures were not open to non-whites. The ANC aligned structures within townships and cities were therefore used, even though the party was banned at the time. This tradition has not changed. Holdt et al. found in their interviews with community members that regularly the legitimacy of the ANC was more deeply rooted than that of the government. The majority of South Africans are still more familiar with ANC reporting structures than government reporting structures thus further entrenching the party into government, dissolving the difference between the two.93 The confusion surrounding where to go and what to do with grievances does not rest solely on the part of citizens. There is also a significant problem at local government level with education where councillors and other elected officials are not furnished with the skills to attend to the problems of the community. ‘Communities have been raising issues up to the provincial level; no one attended to them and now communities have bottled up and exploded,’ Cooperative Governance Minister Sicelo Shiceka.94 Citizens are bereft of the tools to engage with government similarly however, government is often unable to engage with its citizens, not through lack of interest but through lack of capability. Justin Sylvester the director of the Human Rights and Democracy Programme at the Open Society Foundation in South Africa maintains that: ‘There are very few valves to let out steam’, citizens become violent because they have no other means, they need to be ‘allowed to do for self ’ and ‘engage in more positive social activism’. In short, ‘I don’t think the citizens have the capabilities to achieve and be the citizens that they want to be’. Where to from here? He highlights the need to target education on issues such as
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Ranjeny Munsamy, “South Africa: A nation at a tipping point, or democracy in action?”, Daily Maverick, Electronic (28 August 2012). Good Governance Learning Network, “Recognising Community Voice and Dissatisfaction: A Civil Society Perspective on Local Governance in South Africa”, Collaboration (2011) 116. Karl von Holdt et al. (July 2011) 9, 28. Grobler, F. (2009, July 20). Service-delivery protests a ‘warning sign’ for govt. Retrieved April 5, 2012 from Mail and Guardian: http://mg.co.za/article/2009-07-20-service delivery-protests-a-warning-sign-for-govt/.
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citizenship: what it means and entails, what it is to be an active responsible citizen, inculcating the ideal relationship between the citizens and the state. Rights and responsibilities need to be taught across the board, in schools and in the community. At the end of the day although politicians pay lip service to issues they also ‘do not want people running around burning things down’.95 Finkel and Stambas, civic researchers, highlight three important values and behaviours all of which contribute to the development of a democracy, able to withstand tough times. These are: civic competence, the extent to which an individual or group has knowledge and personal capabilities to influence political processes; democratic values, which encompasses adherence to the value of political tolerance and political participation, which is the legal means by which individuals attempt to influence the local, provincial, national processes.96 The National Planning Commission report, released in August of 2012, highlights the importance of democratic values and political participation stating that an active citizenry and social activism is necessary for democracy and development to flourish. It goes on to describe how the state should not only be acting on behalf of the people but it should also be acting with the people to provide opportunities for the advancement of all communities. The report calls on the government to provide healthcare, access to employment and calls on citizens to support the values of the constitution, mainstreaming democratic values and to actively attain what they want through legislated participation channels.97 What is not provided for in the National Planning Commission report is the importance and development of civic competence. Sylvester is critical of the assumption that the National Development Plan makes with regard to what the state can do. Since it seems to overestimate its’ own prowess. Instead, ‘it needs to focus on issues around governance, it is not doing enough to sort that part out’. Geyer too believes that the government is quick to come up with plans but ‘not so good at making them work’. Muhammad Karaan, a commissioner and drafter of the report also highlights the importance of the fact that ‘South Africa needs job makers, not job takers’. Although this statement was made literally in terms of employment generation, the sentiment must permeate further. The plan needs to bring citizens along, take them to a place where the state is not solely responsible for the provision of all services, where citizens can take their place as framers and achievers of their own expectations. 95 96 97
Justin Sylvester, interview by Jean Scrimgeour, Programme Manager Democracy and Human Rights, Open Society Foundation South Africa (13 May 2012). Steven E. Finkel and Sheryl Stumbras, “Civic Education in South Africa: The impact of adult and school programs on democratic attitudes and participation”, US Agency for International Development (8 February 2000) iii. National Planning Commission (2012) 37, 458, 463, 466, 474.
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Steven Covey, the highly celebrated author on business and personal development concisely observes: ‘Dependent people need others to get what they want. Independent people can get what they want through their own effort. Interdependent people combine their own efforts with the efforts of others to achieve their greater success.’98
What South African needs is interdependence between the government and the people where the two entities can work together to build healthier, societies, that receive the services from the state but are not completely reliant to the point that they have no other way of realising their own expectations. A Case for Civic Education
Agency to insist upon, locate and achieve freedoms requires education, not the ability to read and write, though important, it requires civic competence, ‘greater freedom enhances the ability of people to help themselves and also to influence the world, and these matters are central to the process of develop ment’. Democratic practices must be inculcated such that communities and marginalised groups are able to ‘articulate political demands and make themselves heard’.99 Amartya Sen talks about ‘individual freedom as a social commitment’, this paper advocates for the importance of individual freedoms in terms of the development of agency to allow people to make political, economic and social decisions that are not fundamentally constrained by poverty, level of education or other socio-economic circumstances. Aristotle first recorded the link between education and civic life where he said that the greatest means to secure the stability of constitutions is to promulgate an education system that is suited to the constitutions (Politics V vii 20).100 Bertelsman Stiftung argue that that a moderate level of trust and satisfaction might affect support for democracy in the short term, but long term support for democracy must have taken root in society to guarantee support for the processes and principles during period of crisis.101 98
Stephen R. Covey, The Seven Habits of Highly Effective People (Simon & Schuster Ltd, 2004). 99 Amartya Sen (1999) xi–xii, 18. Sabine Alkire (2005) 217. 100 Paul Graham, Civic and Voter Education, 2006, aceproject.org/ace-ce/topics/ve/onePage (accessed August 12, 2012). 101 Bertelsman Stiftung (2012) 17.
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South Africa suffers from a chronic lack of civic education across the s pectrum of those living within the country. Those that are financially able to often retreat from the system, don’t vote, do not participate in any way highlighting the still the divided nature of the country. Those that are completely reliant on the state for services, education, healthcare, employment and social grants have little or no way to engage consequently resorting to protesting, looting and violence, the only way to highlight problems and release frustration. Civic education can provide alternative means to retreating or violence engagement, giving citizens the capability and means to do it for themselves. According to research conducted by the United States Institute for Peace, civic education aims to give citizens the skills, understanding and habit of engaging with government in a non-violent manner to participate constructively in politics, civic life as well as service to the community.102 Once citizens have the tools to make decisions I firmly believe that violence brought about through frustration will not occur as frequently. Political scientists have demonstrated that there is a clear link between the amount of political knowledge that a citizen has and their ability to engage with the political system, particularly in societies suffering from violent conflict and its aftermath. ‘… civics instruction can stimulate higher levels of participation, interest, and perhaps commitment to democratic values and processes.’ It is the fundamental tool that makes institutional change in other sectors possible.103 The impact of civic education was first studied in 1968 in the United States of America however the study was deemed to be a failure, unable adequately to assess the curriculum and make a judgement on whether or not it had been useful. As the developed world democratised after colonisation and brutal dictatorships, a renewed sense of interest in civic education programmes arose, highlighting the principals and importance of democracy. The post-apartheid South African government recognised the need for civic education and so ensured that all national education policy documents had a distinctive civic mission about them – the implicit, rather than explicit curriculum has however proven to be quite unsuccessful. There is no place for the explicit teaching and discussion of democratic government, how it works, how to engage and what the rights and responsibilities of citizens 102 Darrell H. Levine and Linda S. Bishai, Civic Education and Peacebuilding: Examples from Iran and Sudan, Special Report 254, United States Institute for Peace (Washington DC: USIP, October 2010) 2. 103 Steven E. Finkel and Howard R. Ernst (2005) 334. Darrell H. Levine et al. (2010) 1. Alan Smith, “The influence of education on conflict and peacebuilding”, Background Paper, Education for All Global Monitoring Report 2011: The hidden crisis: Armed conflict and education (2010) 2.
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are.104 There is a need for an enquiry-based curriculum that investigates what it means to be a citizen, framing citizenship in terms of common rights and responsibilities rather than identity factors.105 The idea is that civic education makes ‘better democrats’ by increasing knowledge and adherence to democratic principals, values and norms as well as by increasing the ‘degree to which these dispositions adhere to a more democratic belief system’. Civic opportunities have shown to lead to civic commitments, concern for local issues and expectation of future involvement.106 In 1998 Steven Finkel and Howard Ernst, undertook a study to assess black and coloured South African high school students that participated in the USAID Democracy for All project housed at the University of Natal’s Street Law Project. This was followed by a similar assessment by Finkel and Stumbras, who, in 2000 assessed an adult focussed USAID project on civic education with 1550 respondents. Both studies concluded that civic education has a highly positive impact on: political participation, trust, efficacy, tolerance; civic skills; elections; rule of law; cultural diversity and had a marked increase in the ability of participants to evaluate the performance of a political system. It had a marginal impact on democratic values. In terms of students, civic education had a strong effect on political knowledge, a moderate effects on school based political participation. Young people were also more supportive of democracy as a form of government.107 Finkel et al. suggest in their findings that the best way to achieve positive results in terms of changes in political values, not only knowledge, is the use of active participatory teaching methods: role play, practicing participation versus ‘chalk and talk’. Civic engagement is much more than undertaking actions; it is about ‘observant participation’. Hahn highlights that the constructivist paradigm talks about young people being active constructivists of meaning rather than passive recipients of the messages of adults. Trainings were most effective when frequent utilising existing neighbourhood associations and social networks.108 South Africa has the street committees, which
104 Robert Mattes (2011) 1–18. Sonja Schoeman, “A blueprint for democratic citizenship education in South African Schools: African teachers perceptions of good citizenship”, South African Journal of Education 26, no. 1 (2006) 131. 105 Alan Smith, “The influence of education on conflict and peacebuilding”, Background Paper, Education for All Global Monitoring Report 2011: The hidden crisis: Armed conflict and education (2010) 15. 106 Carole L. Hahn, “Comparative civic education research: What we know and what we need to know”, Citizenship teaching and learning (2010) 8. Steven E. Finkel and Howard R. Ernst (2005) 331. 107 Steven E. Finkel and Howard R. Ernst (2005) 333–338. Steven E. Finkel and Sheryl Stumbras (2000). 108 Carole L. Hahn (2010) 6. Steven E. Finkel and Howard R. Ernst (2005) 339. Steven E. Finkel and Sheryl Stumbras (2000) iii–v.
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are already in existence, and can be positively reutilised for education rather than mobilisation purposes. What makes civic education and participation unique is the emphasis on responsibility of individual action resulting in responsibility for results and their consequences. People are empowered to participate and benefit from developing and realising their own expectations.109 Programmes must be rolled out to both adults and young learners, they need to include those that are not in formal education and therefore utilisation of street committees, town halls and resource centres should play a central role in the delivery of the programmes. Civic education must permeate business, social enterprise organisations, schools, healthcare facilities and be encouraged and developed in the halls of government.110 Von Hentig in Seitz concludes in his analysis of civic education, that ‘Education for peace can only mean education for politics. And education for politics is in turn a matter for the entire community – to be implemented for the whole persons and over the course of a whole life.’111 There is a risk that civic education could lead to abuse by individuals and society using the skills to advantage themselves. Weaker groups will have the skills to challenge entrenched elites. In the long-term however the behaviours will even out and new groups to challenge power will surface.112 Conclusion
In the words of Mr Maya, a protest leader in an informal settlement: ‘In South Africa, the struggle is not yet over.’113 The struggle for equality continues to rage despite the inception of democracy and legislated equality for all. South Africa is facing, what many call, the greatest threat to the democratic transition since 1994. The country seems unable to shake the legacy of inequality left by apartheid resulting in rising anger and frustration physically manifest in violent protests and accompanying destruction of property and injury of citizens. This paper questions the suggestion however that protests are arbitrary and simply a statement of grievance. 109 Jerzy Hauptmann, “Towards a theory of civic engagement”, General Paper, Park University International Centre (November 2005) 6. 110 Carole L. Hahn (2010) 17. Jerzy Hauptmann, “Towards a theory of civic engagement”, General Paper, Park University International Centre (November 2005) 3. 111 Klaus Seitz, Education and Conflict: The role of education int he creation, prevention and resolution of societal crisis – consequences for development cooperation (GTZ, December 2004) 71. 112 Darrell H. Levine and Linda S. Bishai, Civic Education and Peacebuilding: Examples from Iran and Sudan, Special Report 254, United States Institute for Peace (Washington DC: USIP, October 2010) 7–9. 113 Barry Bearak (2012).
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By examining the realities and stated grievances of protesters through the lens of the expectations and promises made in the Freedom Charter, this paper argues that protests are a historically learned, normative response to an expression of failed ‘aspirational’ expectations of equality of citizens in post-apartheid South Africa. The assertion is explored and established by the nature, participants and geographical location of the protests using a theoretical framework of conflict by Ted Gurr. In order for citizens to realise expectations, and by extension equality, the country must undertake a process of reversing generations of racial domination, inequality and widespread discrimination. This process cannot however merely include an attempt to equalise and develop the economic, political and social abilities of citizens but also requires the development of those capabilities too. Equality of abilities does not amount to equality of capabilities. Using the capabilities approach, with a special focus on the importance of developing political and social capabilities, this paper has found that there is a connection between protests and the incapability of citizens to make socioeconomic and political decisions for themselves and their families. There is precedence for expectations for equality to be addressed through civic education programmes, which need to permeate every sector of society and cannot be exclusively focussed on those that were discriminated against during the previous regime but also on those that benefitted. Bridging the divide requires an effort on behalf of all those who live in South Africa, a reengagement of both the disengaged and the disenchanted. South Africa does not have a problem with an active citizenry; instead the energy of the people, furnished with the skills and tools provided by a civic education, must be pointed towards a future where they can work with the government to demand, assist, create and realise the freedoms and expectations so poetically declared in Soweto 57 years ago. Sources Consulted Abell, Peter, and Robin Jenkins, “Why Do Men Rebel? A Discussion of Ted Gurr’s Why Men Rebel.” Race Class, no. 13 (1971): 84–92. Africa, Government of South, “National Youth Policy 2009–2014.” March 2009. –, PO211 Quarterly Labour Force Survey (QLFS), 1st Quarter 2012. Johannesburg: Statistics South Africa, 3 May 2012. Africa, Statistics South, Quarterly Labour Force Survey Quarter 1 2012. Quarterly Report, Statistics South Africa, 8 May 2012. Agency, South Africa Social Security, “Statistical Report on Social Grants.” 39, 28 February 2011. Alexander, Neville, “Prospects for a Nonracial Future in South Africa.” In: Beyond Racism: Race and Inequality in Brazil, South Africa and the United States, by C. V. et al. (eds.) Hamilton, 471–507. Boulder: Lynne Pienaar Publishers, 2001. Alexander, Peter, A massive revellion of the poor. 13 April 2012. http://mg.co.za/article/2012-0413-a-massive-revellion-of-the-poor (accessed May 4, 2012).
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The Citizen Online, Anger sweeps across the land. 26 March 2012. www.citizen.co.za/citizen/ content/en/citizen/opinion-leaders (accessed March 26, 2012). The Dispatch, OUR OPINION: Beware of jobless youth. 26 March 2012. www.dispatch.co.za/ news/article/3110 (accessed March 26, 2012). Thhabi, Redi, The masses speak, but we choose not to pay attention. 25 March 2012. timeslive.co. za/opinion/columnists/2012/03/…/the-masses-speak-but-we-choose-not-to-pay-attention (accessed April 3, 2012). Times Live, South Africa at corruption tipping point: Madonsela. 3 April 2012. van der Berg, Servaas, “Current poverty and income distribution in the context of South African history.” Department of Economics, University of Stellenbosch, October 2010. von Holdt, Karl, et al., “The smoke that calls: Insurgent citizenship, collective violence and the struggle for a place in the new South Africa.” Centre for the Study of Violence and Reconciliation, Society, Work and Development Institute, July 2011, 1–142. Wucherpfennig, Julian, The Strategic Logic of Power-Shring Afrter Civil War. Center for Comparative and International Studies, Zurich: European Science Foundation, 1–35. Zuma, Jacob, Jacob Zuma, Human Rights Day Speech. 21 March 2012. www.politicsweb. co.za/politicsweb/view/politicsweb/en/page71654?oid=287772&sn=Detail&pid=71616 (accessed July 5, 2012).
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Stephanie Eldridge ist Ethikerin mit dem Schwerpunkt globale Ethik und lebt in London. Stephan Gosepath ist Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin, der sich gerade im Zusammenhang mit dem Begriff der Gleichheit einen Namen gemacht hat. William Keenan ist Soziologe mit dem Schwerpunkt Alltagssoziologie und war bis zu seiner Pensionierung an der Universität Nottingham als Senior Lecturer tätig. Michaela Moser, geb. 1967 in Kufstein, PhD in Philosophy, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ilse Arlt Institut für soziale Inklusionsforschung der FH St. Pölten, Sozialexpertin der Armutskonferenz, langjähriges Vorstandsmitglied und Vizepräsidentin (2006–2012) des European Anti Poverty Network. Univ.-Ass. Mag. Dr. iur. Daniela Marielen Reitshammer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg, Fachbereich Öffentliches Recht (Verfassungs- und Verwaltungsrecht). Luis M. Sánchez, geb. 1964, studierte Soziologie und Philosophie in Mexico City. 2006 Promotion in Frankfurt am Main. Gegenwärtig Lehrbeauftragter des Instituts für Philosophie der Universität Frankfurt und des Instituts für Kommunikationsmanagement der Hochschule Osnabrück. Nicola Santamaria ist Theologin und lehrt am Allenhall College in London; sie arbeitet an einem Projekt zu „disability and eschatology“. Dr. Gottfried Schweiger arbeitet am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg zu Themen der Sozialphilosophie, insbesondere Armut und Arbeit. Jean Scrimgeour ist Politikwissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt in Konfliktforschung und arbeitet am British Council in Kapstadt.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Clemens Sedmak ist Professor für Sozialethik und Inhaber des F. D. Maurice Lehrstuhls am King’s College London; er leitet das Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg. Dr. Anne Siegetsleitner, geb. 1968: Privatdozentin für Philosophie an der Universität Salzburg. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine und Angewandte Ethik, Politische und Sozialphilosophie, Geschichte der Philosophie (Philosophie des 20. Jahrhunderts). Mario Claudio Wintersteiger, Dr. phil., geb. 1982: Wissenschaftlicher Mit arbeiter am Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie der Paris-LodronUniversität Salzburg.
Informationen Zum Buch Unbestritten ist, dass der Begriff der Gleichheit eine wichtige Rolle für das Verständnis von ›Gerechtigkeit‹ spielt. Heftig wird diskutiert, worin die Gleichheit, worin die Ungleichheit der Menschen besteht. Band 3 der Reihe »Grundwerte Europas« will Einblicke in diese Diskussion geben.
Informationen Zum Autor Clemens Sedmak, geb. 1971, ist Professor für Theologie am King’s College in London, bei der WBG gibt er, zusammen mit Heinrich Schmidinger, die Reihe ›Topologien des Menschlichen (TOP)‹ heraus.