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German Pages 15 [16] Year 2016
Theologische Klärung
Die Genese der Theologie Martin Luthers Athina Lexutt 1.
Gewordenes oder Eigenes? – Eine Diskussion
Es ist nicht zu übersehen: Das Reformationsjubiläum 2017 naht mit Riesenschritten. Wie die vergangenen Jubiläen wird auch dieses seine ganz eigene Prägung haben und sich daher deutlich von den anderen unterscheiden. Eine Besonderheit wird sicher sein, die Wittenberger Reformation viel stärker in die gesamteuropäische Umbruchbewegung der Frühen Neuzeit eingebunden zu betrachten, ihre politische, mediale und soziale Dimension wahrzunehmen sowie den historischen Elementen gegenüber den theologischen den Raum zu widmen, der ihnen zweifellos gebührt. Und auch die Gestalt Martin Luthers, der mindestens durch das Datum des Jubiläums immer noch eine zentrale Rolle zugestanden wird, erhält ein Gesicht, an das manche sich erst gewöhnen müssen. Viele Ereignisse um ihn und mit ihm in der Hauptrolle werden als Legenden entlarvt: die Anrufung der Heiligen Anna bei seinem Gewittererlebnis, der Thesenanschlag, die berühmten Worte auf dem Reichstag zu Worms, der Aphorismus vom Apfelbäumchen, um nur die bekanntesten zu nennen. Luther wird von den Sockeln namentlich des 19. Jahrhunderts heruntergeholt, aus dem Helden wird ein Mensch mit Ecken und Kanten, aus dem Kämpfer für Freiheit und Nation wird ein mitunter recht eigenwilliger Dickkopf mit wenig Gespür für die Anliegen anderer. Und aus dem genialen und originellen Denker wird mehr und mehr ein Rezipient und Transformator, der in größerem Maße, als bisher erkannt, Ideen aus den Traditionen geschöpft hat, in denen er als Kind seiner Zeit stand. Gerade die jüngere Forschung ist darum bemüht, den wahren Luther, der unter so manchem Goldstaub verborgen ist, freizulegen. Und dies nun in einer solchen Weise, dass manch einer erschrocken fragt: Haben wir 2017 eigentlich noch irgendetwas zu feiern? Mit anderen Worten: Bleibt von Luther noch etwas Originelles, etwas Eigenes, was nicht vorher schon gedacht, gesagt und geschrieben worden wäre? War die Kirchenspaltung, die sich an seinen Texten und seinem assertorischen Beharren entzündete, dann doch ein tragischer, theologiegeschichtlicher Unfall, der
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nicht hätte geschehen müssen, wenn nicht die Fronten so verhärtet und die Protagonisten so uneinsichtig gewesen wären? Der folgende Beitrag wird diese Fragen nicht endgültig lösen können. Er will es auch gar nicht, denn es ist vielmehr zu hoffen, dass die Debatte darum noch recht lange andauert und die Themen dadurch im Gespräch bleiben. Kontroversen halten die Geister wach! Was dagegen der Beitrag beabsichtigt, ist zunächst eine knappe Darstellung, mit welchen Traditionen Luther sich hauptsächlich wie und mit welchem Ergebnis auseinandergesetzt hat. Dass dabei etwas durchaus Eigenes und Originelles herausgekommen ist, so dass die Tatsache, dass Luther in bestimmten Traditionen steht, und seine theologische Genialität nicht im Widerspruch stehen müssen – das soll in einem dritten Teil noch einmal pointiert zum Ausdruck kommen.1
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Dabei sieht sich dieser Beitrag durchaus in einer gewissen Nähe zu den vor allem von Volker Leppin aufgebrachten Beobachtungen in seiner Lutherbiographie [Martin Luther (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), 2., durchges., bibliogr. aktualisierte und mit einem neuen Vorwort vers. Aufl. Darmstadt 2010], die eine heftige Kontroverse provoziert hat, gegen die wiederum Leppin einiges klar gestellt hat (Eine neue LutherDebatte: Anmerkungen nicht nur in eigener Sache, in: ARG 99, 2008, 297–307); seine Äußerung in diesem Zusammenhang, „eine Kontinuitäten nicht ausblendende Sicht hilft dazu, die Entwicklungen Luthers im Sinne von Transformationen zu verstehen, in denen auch dort Altes erhalten bleibt, wo Neues, auch radikal Neues entsteht“ (ebd. 305) ist dazu geeignet, seine schärfsten Kritiker in die Schranken zu weisen, ggf. auch ihn selbst, wenn er im Zuge der Verteidigung seiner durchaus bedenkenswerten Thesen den Eindruck erweckt, er sehe an Luther nur noch Altes und nichts Neues, schon gar nichts radikal Neues. – Um diesen Beitrag nicht unnötig durch viele Literaturverweise zu belasten (die könnten und müssten just zu diesem Thema endlos werden!) verweise ich auch dafür auf die die Biographie Leppins, der ein ausführliches Literaturverzeichnis bietet (401–420). Ansonsten stehen im Hintergrund meiner Darstellung, ohne stets auf sie zu verweisen, besonders die Untersuchungen von: Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995; Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, 3. Aufl. Tübingen 2007; Berndt Hamm, Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010; die gesammelten Aufsätze von Karl-Heinz zur Mühlen in: Johannes Brosseder und Athina Lexutt (Hgg.), Reformatorisches Profil. Studien zum Weg Martin Luthers und der Reformation, Göttingen 1995, sowie in: Athina Lexutt, Volkmar Ortmann (Hgg.), Reformatorische Prägungen. Studien zur Theologie Martin Luthers und zur Reformationszeit, Göttingen 2011. Für kurze Überblicke über die vorgestellten Personen und ihre Beziehung zu Luther vgl. die nützlichen Einträge in Volker Leppin, Gury Schneider-Ludorff (Hgg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014; dort ist im Anschluss an die jeweiligen Artikel auch noch einmal wichtigste Literatur zum Thema versammelt.
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Luthers Theologie als Ergebnis von Auseinandersetzungen – Eine Untersuchung
Zu konstatieren, dass die Reformation Teil einer gesamteuropäischen Umbruch- und Freiheitsbewegung gewesen ist und sich beileibe nicht nur in der sächsischen Provinz abgespielt hat, ist heutzutage beinahe schon trivial. Viel ist hier vor allem der Konfessionalisierungsdebatte zu verdanken und dem neu erwachten, fruchtbaren Gespräch zwischen Allgemein- und Kirchengeschichte, welche die Reformation in diesem größeren Kontext verortet haben. Wurde in diesem Zusammenhang schon befürchtet, es käme vielleicht die Reformation abhanden, so konnte dem noch gewehrt werden durch die kluge Unterscheidung von „der Reformation“ und „dem Reformatorischen“. Nun sieht es allerdings beinahe so aus, als dauerte es nicht mehr lang, bis auch dieses Reformatorische abhanden kommt. Denn aus der wiederum schon beinahe trivialen Feststellung, dass Luthers Theologie natürlich nicht vom Himmel gefallen ist, lässt sich vermeintlich leicht folgern, es sei gar nicht so neu, was da als reformatorische Entdeckung seit Jahrhunderten immer wieder präsentiert wird. Natürlich hat Luther gelernt und gelesen, dieses Gelernte und Gelesene bedacht und in seine Texte einfließen lassen. Und da der Plagiatsfall im 16. Jahrhundert vermutlich noch kein Straftatbestand war, hat er seine Quellen nicht immer kenntlich gemacht. Reicht aber die Entdeckung, dass er Gedanken und Aussagen, ja gar Denkstrukturen und -muster in seine Theologie einfließen ließ, um ihm das Neue, um ihm die reformatorische Entdeckung und Ausdeutung dieser Entdeckung abzusprechen? Dieser Frage soll nun anhand der wichtigsten Bewegungen und Geistesströmungen nachgegangen werden, mit denen Luther sich auseinanderzusetzen hatte. 2.1 Luthers Auseinandersetzung mit der Scholastik Luthers Worte gegen die wissenschaftliche Theologie seiner Zeit sind bekannt. „Scholastici“ – die Schultheologen, das kam bei ihm einem Schimpfwort gleich, und seine Aggression gegen ihre falsche Auslegungsweise entlud sich dann auch schon einmal im mitten im lateinischen Text auftretenden „Sautheologen“. Bisweilen nannte er sie auch „sophistici“, eine Bezeichnung, die sprechend wiedergibt, was er an ihnen kritisierte: ihr Bemühen, durch Wortverdreherei und logische Tricks zu dem Ergebnis zu kommen, das sie von Anfang an im Blick hatten. Die universitären und schriftlich fixierten Disputationen galten ihm als Ausbund solcher Scheingefechte, die nicht ein wirkliches Ringen mit der Schrift und theologisch
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relevanten Fragen widerspiegeln, sondern die eigene Behauptung unangreifbar machen sollten. Die abwertenden Benennungen verwendete Luther summarisch für die Methode, Theologie zu treiben, ohne dass er zwischen den einzelnen Schulrichtungen Unterschiede machte. Neben der Methode waren es aber natürlich auch die inhaltlichen Momente, speziell aus dem Bereich der Anthropologie, die seiner Ansicht nach nicht mit dem Zeugnis der Schrift übereinstimmten. Doch war er nicht „von Anfang an und immer schon“ ein erklärter Gegner scholastischer Methode und mit dieser Methode verhandelter Inhalte. Zunächst stellt sich daher die Frage, welche „Scholastiker“ er überhaupt kannte. An der Universität Erfurt war Luther die Scholastik durch seine Lehrer Jodokus Trutvetter und Bartholomäus Arnoldi von Usingen in Form der sogenannten „via moderna“ begegnet, einer Schulrichtung, die wesentlich von Franziskanertheologen getragen war und gegenüber dem Primat der Vernunft der dominikanisch bestimmten „via antiqua“ den Primat des Willens setzte. Das Collectorium Biels dürfte wohl der Text gewesen sein, auf den sich Luther hauptsächlich bezog, wenn er die „Moderni“ oder die Ockhamisten kritisch in den Blick nahm.2 Nichtsdestoweniger hat er mit dem Collectorium gearbeitet und einen Großteil seines theologischen Wissens aus diesem Werk bezogen. Biel ist es auch gewesen, der ihn in die „Sekte Ockhams“ getrieben habe.3 Auch Ockham gehörte später in die Riege derer, die das Verhältnis zwischen Gottes Gnadenhandeln einerseits und menschlicher Sünde andererseits in eine Schieflage bringen, wenn sie ein Mitwirken des Menschen – in wie geringem Maße auch immer – annehmen. In diesem Zusammenhang kann er ihn in einem Atemzug mit den Pelagianern nennen.4 In der distanzierten Rückschau aber konnte sich Luther durchaus auch positiv zu Ockham äußern. Er nannte ihn seinen „liebe[n] Meister“5 und gestand ihm immerhin zu, er sei der „Scholasticorum doctorum sine dubio princeps et ingeniosissimus“6 – was nicht unbedingt 2
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Vgl. dazu u.a. Volker Leppin, Deus absconditus und Deus revelatus. Transformationen mittelalterlicher Theologie in der Gotteslehre von „De servo arbitrio“, in: Berliner Theologische Zeitschrift 22, 2005, 55–69, hier besonders 61. Dass Luther die Ockhamisten als „Sekte“ bezeichnete, belegt etwa folgender Text WA.TR 5, Nr. 6419, 653/1–5: „Scholastici. Terministen hieß man eine secten in der hohen schulen, vnter welchen ich auch gewesen. Die selbigen haltens wider die Thomisten, Scotisten vnd Albertisten vnd hießen auch Occamisten von Occam, ihrem ersten anfenger, vnd sein die aller neuesten secten, vnd ist die mechtigste auch tzu Paris.“ Vgl. etwa WA 39/II, 419. WA 30/II, 300/10. WA 6, 183/3f.
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ein Kompliment sein muss, wenn man weiß, wie Luthers Urteil über die Scholastiker generell lautete. Im Streit mit den Fakultäten in Paris und Löwen um die Frage, wem Autorität in Lehrfragen gebührt, empfahl er: „Wolt yhr myr [in der Feststellung, dass alle Schulen, Väter und Konzilien irren können] nit glewben, glewbt ewrem Occam.“7 Wieviel Luther von Thomas von Aquin kannte, ist nicht ganz klar zu eruieren. Es wird nicht sehr viel gewesen sein, er kannte eher die Thomas-Schule als Thomas im Original. Ein Umstand, der manche, namentlich katholische Lutherforscher8 zu der Annahme verleitete, dass Luther, hätte er den Aquinaten selbst in größerem Maße und nicht in der Form der Thomisten (etwa Cajetan und Ambrosius Catharinus) zur Kenntnis genommen, hätte erkennen müssen, dass ihr Verständnis von Rechtfertigung nicht so weit auseinanderliegt. Bei genauer Lektüre indes stellt sich freilich heraus, wie sehr sich die beiden unterscheiden, man denke nur an die Rolle, die das liberum arbitrium als Motor der Hinwendung des Menschen zu Gott bei Thomas spielt, ohne die Rechtfertigung nicht möglich ist. Gemeinsam mit dem Humanismus stellte Luther früh die Vorrangstellung des Aristoteles in Frage; es kam ihm merkwürdig vor, in der Theologie nicht Theologie zu treiben, sondern Philosophie; er wollte sich nicht mit philosophischen Methoden im äußeren Kreis der Sache aufhalten, sondern zum Kern der Nuss vordringen.9 Mehr als ein Fragezeichen, dem aber noch kein eindrückliches, eigenes Ausrufezeichen folgte, war dies jedoch erst einmal nicht. Insgesamt muss festgehalten werden, dass sich Luther als junger Dozent noch sehr stark in den Bahnen scholastischer Tradition bewegt hat. Die späteren Tiraden gegen die scholastische Theologie sind zu verstehen aus seinen inzwischen gewonnenen Einsichten; wenn er aber in der Retrospektive diese Front schon früher verortet, dann deshalb, weil er sich vermutlich nicht mehr vorstellen kann, je selbst auf diesem Holzweg unterwegs gewesen zu sein. Nach dem Erwerb des Grades des Baccalaureus biblicus 1509 aber tat er das, was jeder Theologiestudent im Laufe seines Studiums getan haben musste, nämlich die „Normaldogmatik“ der Zeit, die Sentenzen des Petrus Lombardus, intensiv studieren und kommentieren. Seine Randnotizen sind ein eindrückliches Zeugnis dafür, dass er die Theo7 8 9
WA 8, 298/23f. Hier ist vor allem Otto Hermann Pesch zu nennen. Vgl. WA.B 1, Nr. 5, 17/40–44: „Quod si statum meum nosse desideres, bene habeo Dei gratia, nisi quod violentum est studium, maxime philosophiae, quam ego ab initio libentissime mutarim theologia, ea inquam theologia, quae nucleum nucis et medullam tritici et medullam ossium scrutatur.“
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logie des Lombarden nicht beanstandete, gelegentliche kritische Bemerkungen oder Anfragen vor allem unter Zuhilfenahme von Augustin sind eher als so etwas wie theologische Fingerübungen zu betrachten oder aber als Versuche, sich als in der Logik als mindestens genauso clever wie der Kommentierte zu erweisen. Erst mit der nach erfolgter Promotion möglichen Übernahme der theologischen Professur in Wittenberg 1512, die ihn zu intensiver wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Schrift brachte, lässt sich ein „neuer“ Luther erahnen, dem stark an einer Verknüpfung der wissenschaftlichen Arbeit und der seelsorgerlichen Funktion der Theologie gelegen war. Um diese zu erreichen, variierte er die übliche Auslegungsmethode nach dem vierfachen Schriftsinn, indem er schon bei dem historischen, dem Literalsinn danach fragte, was dies für eine Bedeutung für den Glaubenden habe, und diese nicht erst in dem allegorischen Sinn erblickte. Mit dieser Entdeckung des Literalsinns ebnete Luther den Weg für das spätere Schriftprinzip der „sacra scriptura“ als „sui ipsius interpres“, dem die Betonung der Klarheit der Schrift in „De servo arbitrio“ 1525 korrespondiert: Die Schrift muss nicht erst allegorisch gedeutet werden, um ihr ihre tröstende Kraft und ihren wahren Sinn zu entlocken, sie öffnet diese jedem, der sich durch sie auslegen lässt. Einen ersten „Feldzug“ gegen die Scholastik führte Luther 1517 in der „Disputation gegen die scholastische Theologie.“10 In den Thesen 41 bis 44 erteilte er der bisherigen Methode, Theologie zu treiben, eine klare Absage: „41. Tota fere Aristotelis Ethica pessima est gratiae inimica. Contra Scholast. 42. Error est, Aristotelis sententiam de foelicitate non repugnare doctrinae catholicae. Contra Morales. 43. Error est dicere: sine Aristotele non fit theologus. Contra dictum commune. 44. Immo theologus non fit nisi id fiat sine Aristotele.“11 An dieser Stelle mischt sich die sachliche Auseinandersetzung um die Fähigkeiten des Menschen im Rechtfertigungsgeschehen, die später in der Thesenreihe wieder aufgenommen wird, mit einer grundsätzlichen Kritik an der Methode. Es scheint fast so, als würde der Philosoph mitver10 Die Disputation über die Frage, „ob der Mensch aus natürlichen Kräften die Gebote Gottes halten kann“, die Bartholomäus Bernhardi aus Feldkirch 1516 ganz im Sinne Luthers gehalten hat, scheint mir – im Gegensatz zur Beurteilung V. Leppins (Martin Luther, 97–100) – mit der Betonung des sola gratia noch ziemlich in den traditionellen Bahnen zu verlaufen. Auch die Tradition konnte das sola gratia auf ihre Weise betonen. Es mag richtig sein, dass hier ganz zaghaft etwas auf dem Weg ist – aber es ist noch nicht, wie Leppin auch richtig festhält, zum eigentlich den Gegensatz anzeigenden sola fide gekommen. 11 WA 1, 226/10–16.
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antwortlich dafür gemacht, wie wenig richtig bisher vom Zusammenhang zwischen Sünde und Gnade verstanden wurde. Luther hatte sich aber inzwischen intensiv mit dem antipelagianischen Augustin auseinandergesetzt und bei ihm gelernt, dass die biblische Einsicht in das, was der Mensch ist und vermag, mit den Ansichten des antiken Philosophen nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Also muss um der Sache willen Aristoteles dann aufgegeben werden, wenn er der Schrift widerspricht. Hauptsächlicher Gegner in dieser Thesenreihe war indes Gabriel Biel12. Hier wie auch in der Heidelberger Disputation ein Jahr später grenzte sich Luther scharf gegen dessen Position ab, der Mensch könne mit seinen natürlichen Kräften etwas zu seinem Heil beitragen. In seinen Focus gerieten dabei auch Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham, die in ihrem Gnadenverständnis in ähnlicher Weise von einer Mitwirkung des Menschen ausgegangen waren. Schon in der 4. These wird der eigentliche Streitpunkt benannt: „Veritas itaque est quod homo arbor mala factus non potest nisi malum velle et facere.“13 Indem an dieser Stelle auch die Unmöglichkeit des Wollens des Guten herausgehoben ist, der Mensch als durch und durch verdorbener Baum beschrieben wird, wird das letzte scholastische Schlupfloch geschlossen, neben dem sola gratia irgendeine Mitwirkung des Menschen annehmen zu können. Es gibt keine Freiheit, das Gute zu wollen. In These 17 heißt es daher pointiert: „Non potest homo naturaliter velle deum esse deum, Immo vellet se esse deum et deum non esse deum.“14 Tiefer als auf diese Weise kann die Sünde nicht beschrieben werden. Und schließlich die 40. These: „Non efficimur iusti iusta operando, sed iusti facti operamur iusta. Contra philosophos.“15 Das gerechte Werk setzt die Rechtfertigung voraus – niemals umgekehrt! Damit wird die Gerechtigkeit bereits als passive demonstriert und dem scholastischen Gnadenverständnis der Boden entzogen.
12 Leif Grane hat seine Untersuchung zu dieser Disputation daher nicht umsonst mit „Contra Gabrielem“ betitelt (Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der „Disputatio contra scholasticam theologiam 1517“ [Acta Theologica Danica 4], Kopenhagen 1962). 13 WA 1, 224/13f. 14 WA 1, 225/1f. 15 WA 1, 226/8f.
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2.2 Luthers Auseinandersetzung mit der Mystik Spätestens die Kenntnis Gabriel Biels hat Luther auch mit der Mystik in näheren Kontakt gebracht, denn Biel, als Vertreter der Via moderna und als Bruder vom gemeinsamen Leben zugleich Vertreter der Devotio moderna, kann selbst in bestimmter Hinsicht als Mystiker gelten.16 Viel bedeutender indes ist der Einfluss seines Beichtvaters Johann Staupitz gewesen, in dem man sicher so etwas wie eine Vaterfigur Luthers wird sehen können. Durch ihn ist Luther, der Suchende und Fragende, ganz neu in die Schrift hineingeführt worden. Staupitz hat dem Mönch, der vor allem im Psalmengebet zuhause war, das Neue Testament näher gebracht, und er hat ihm vor allem einen Christus gezeigt, den Luther so vorher noch nicht gekannt haben dürfte, nämlich denjenigen, der sich – wie in der Ikonographie des großen Mystikers Bernhard von Clairveaux eingefangen – vom Kreuz herab dem Betenden zuwendet und ihn in der unio mystica mit Liebe umfängt. Beeinflusst von Staupitz dürfte nicht nur Luther gewesen sein, sondern ein ganzer Kreis von jungen Theologen um Staupitz herum.17 Dabei wird Staupitz dafür gesorgt haben, dass die Mystik insgesamt, vor allem aber der Mystiker Johannes Tauler, diesen Theologen die theologischen Fragen neu aufgeschlossen hat, und das vor allem über zwei Zentralbegriffe: Buße und Demut. Luther schickte Staupitz 1516 Predigten Taulers zu mit der Empfehlung: „Addo tamen et meum consilium: si te delectat puram, solidam, antiquae simillimam theologiam legere in germanica lingua effusam, Sermones Tauleri Iohannis praedicatoriae professionis tibi comparare potes. Cuius totius velut Epitomen Ecce hic tibi mitto. Neque enim ego vel in latina vel nostra lingua theologiam vidi salubriorem et cum Euangelio consonantiorem. Gusta ergo et vide, quam suavis est dominus, ubi prius gustaris et videris, quam amarum est, quicquid nos sumus.“18 Das ist ein neues Gottesbild, das Luther hier mit Tauler zu entdecken begann. Ebenfalls plausibel nachgewiesen ist, dass Luthers Bußverständnis19, wie er es in den 95 Thesen 16 Vgl. dazu die umfassende Untersuchung von Detlef Metz, Gabriel Biel und die Mystik (Contubernium 55), Stuttgart 2001. 17 Vgl. dazu V. Leppin, Martin Luther, vor allem 84f. 18 WA.B 1, Nr. 30, 79/58–64. 19 Dazu summarisch V. Leppin, Martin Luther, 87: „Es bildet sich nun aus diesem Ineinander von Gespräch und Lektüre bei dem jungen Luder auf der Basis einer Konzentration auf Jesus Christus ein neues Bußverständnis im Sinne der Innerlichkeit einerseits und der das ganze Leben begleitenden Dimension andererseits, zwei Elemente, die er der mystischen Tradition entnimmt und die ihn in Spannung zu einem sakramentalen Verständnis von Buße bringen.“ Ausführlich Ders., „Omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“
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zugrunde legt, auf Tauler’schen Einfluss zurückzuführen ist. Die sakramentale Engführung der Buße wird hier aufgebrochen und damit ein Gegenüber zur kirchlichen Praxis angedeutet, das dann mit den 95 Thesen und den daran anschließenden Diskussionen entsprechend die Gemüter erregen wird.20 Auch die Aufgabe des eigenen Willens mit gleichzeitiger Betonung des Glaubens ist ein Element, auf das er ansatzweise in der Tauler-Lektüre gestoßen sein dürfte – allerdings wird er später bezüglich der Willensfreiheit zu einer Schärfe vordringen, die weit über Taulers monastisch-mystische Forderung nach der Brechung des Eigenwillens hinausgeht. Jedenfalls war Tauler der Mystiker, der ihm am nächsten gestanden hat und den er durchweg hochschätzte. Er bezeichnete ihn als „doctissimus Doctor“21, als „homo Dei“22. Wieder einmal gegen die Pariser Theologen nannte er ihn als wahres Vorbild: „Inn den predigten Johannis Tauleri, ynn deutscher sprach geschrieben, find ich (spricht Luther) mehr lautter und gegrundter Theologie, denn ynn allenn aller hohen schulen Schullerernn erfunden ist odder erfunden mag werden ynn alle yhren hohen synn schrifften.“23 Überhaupt ist ihm Tauler eine Hilfe bei der Übersetzungsarbeit, und zwar entweder, um den rechten deutschen Ausdruck für etwas zu finden, das bisher nur lateinisch ausgedrückt wurde, oder um eine lateinische Übersetzung eines griechischen Ausdrucks in Frage zu stellen.24 Aus dem gleichen Grund lobte er die „Theologia deutsch“, die er für ein Werk Taulers hielt oder jedenfalls in großer Nähe zu ihm verortete und 1516 herausgab: „Ich danck Gott, das ich yn deutscher zungen meynen gott alßo höre und finde, als ich und sie mit myr alher nit funden haben, Widder in lateynischer, krichscher noch hebreischer zungen. Gott gebe, das dißer puchleyn mehr an tag kumen, ßo werden wyr finden, das die Deutschen Theologen an zweyffell die beßten Theologen seyn, Amen.“25 Und an anderer Stelle 1522: „Ich freue mich ..., daß Deutschlands Schätze ans Licht kommen. ... Wahrhaftig, ich sehe, daß (hier)
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– Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese, in ARG 93, 2002, 7–25. Luther betonte dies selbst bereits in der zweiten These: „Quod verbum de penitentia sacramentali (id est confessionis et satisfactionis, que sacerdotum ministerio celebratur) non potest intelligi.“ (WA 1, 233/12f.). WA 1, 674/34. WA 5, 165/18. WA 8, 289/10–14. Etwa WA 5, 473/34–36: „‚Observare‘ enim in utranque partem accipi potest, sicut Alemanice ‚acht haben‘, vel propriissime, quo Taulerus sepe utitur, ‚warnehmen‘.“ WA 1, 379/8–12.
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eine lautere Theologie war und ist (bisher) bei den Deutschen verborgen.“26 Die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Menschen, die im Freiheitstraktat von 1520 strukturgebend ist, und die Verwendung dieser Begriffe als Bezeichnungen von Relationen ist ebenfalls schon bei Tauler vorgeprägt, wenngleich die stringente Durchführung dieser Unterscheidung und ihre Konsequenzen dann schon weit über den dominikanischen Mystiker hinausgehen. Im Freiheitstraktat diente ein weiterer Mystiker Luther als Quelle: Bernhard von Clairveaux. Bernhard hatte Luther bereits mehrfach als vorbildlichen Mönch genannt27, und wiederum von Staupitz wird Luther auf seine Christusfrömmigkeit aufmerksam gemacht worden sein. So verwies er auf ihn in einer späten Predigt folgendermaßen: „Aber wen Munche haben sollen selig werden, so haben sie mussen wider zum Creutze Christi kriechenn. Also hat auch S. Bernhard gethan, welchen ich fur den aller fromsten Munch halte und allen andern Munchen, auch S. Dominico, furziehen, und er ist auch allein werd, das man ihnen Pater Bernhardus nenne und den man mit vleiss ansehe. Den er steckt in der kappen, aber wie thutt er, da es zum treffen kompt? Ehr heltt seine kappen nicht gegen Gottes gerichte, sondern ergreifft Christum.“28 Wie viel Bernhard in der Kreuzestheologie, wie sie vor allem in der Heidelberger Disputation 1518 entfaltet ist, zugrunde gelegt ist, muss gefragt werden. Unumstritten ist dagegen, dass das berühmte Bild von Braut und Bräutigam, das Luther bereits im der Römerbriefauslegung 1515/1629 und dann wieder im Freiheitstraktat verwendet, um die communicatio idiomatum zu veranschaulichen, Bernhards Hoheliedpredigten entlehnt ist. Die Mystik des Dionysius Areopagita mit ihrer Auffassung, man könne über Gott besser nicht reden, weil er über jedem Menschenwort stehe, wolle man also über ihn reden, dann gehe dies am besten via negationis, war Luther zunächst hilfreich, um gegen die spekulative Theologie der Scholastik zu argumentieren. Endgültig hat er aber diesen Weg dann durch seine Ent26 WA 10/II, 329/22–25. 27 Vgl. als ein Beispiel von vielen WA 16, 399/31–33: „Des woellen wir Sanct Bernhard zum exempel nemen, den ich gern fur andere Muenich anzihe, Denn ist yhe ein fromer Muenich gewesen, so ists Sanct Bernhard gewesen.“ 28 WA 47/109/18–25. 29 Luther gelangte hier mit Hilfe dieses Bildes zu einer Pointierung des Gedankens, dass die seligmachende Gerechtigkeit außerhalb der Seele des Menschen liegt: „Semper petit, Semper desiderat, Semper commendat sponsum. Quo manifeste sese vacuam et pauperem ostendit intra se esse, et extra se esse plenitudinem et Iustitiam suam.“ (WA 56, 279/27– 32).
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deckung der assertorischen Rede überwunden, die einerseits die Unmöglichkeit respektierte, mit dem Menschenwort das göttliche Wort angemessen wiedergeben zu können, andererseits jedoch den Weg eröffnete, zum so nötigen Bekenntnis- und Verkündigungswort zu kommen. Diese assertorische Rede wiederum hat ihren Grund in der Tatsache, dass aus dem Deus absconditus in Jesus Christus der Deus revelatus geworden ist – ein Gedanke, der in der bisherigen Tradition der Rede von Deus absconditus nicht so radikal gedacht worden ist wie bei Luther.30 Mit einem unvergleichlichen Neuansatz erledigte Luther schließlich die areopagitische, aber auch jede andere Art des mystischen Zugangs. In der Psalmenvorlesung 1521/22 warnte er: „Senserunt autem contraria negativae theologiae, hoc est nec mortem nec infernum dilexerunt, ideo impossibile fuit, ut non fallerent tam seipsos quam suos lectores. Haec admonendi gratia velim, quod passim circumferuntur tum ex Italia tum Germania Commentaria Dionysii super Theologiam mysticam, hoc est mera irritabula inflaturae et ostentaturae seipsam scientiae, ne quis se Theologum mysticum credat, si haec legerit, intellexerit, docuerit seu potius intelligere et docere sibi visus fuerit. Vivendo, immo moriendo et damnando fit theologus, non intelligendo, legendo aut speculando.“31 Hier wird unvergleichlich deutlich, wie nur mitten im Leben und nur mitten in der Anfechtung und im Zweifel Gotteserkenntnis möglich ist. Gerade also nicht in dem Augenblick, in dem der Mensch sich selbst entrückt wird, begegnet ihm Gott, erfährt er Gott, sondern dort, wo Gottes Heilswort ihn mitten in seiner gebrochenen Existenz als Angefochtener, als Zweifelnder, als Sünder trifft. 2.3 Luthers Auseinandersetzung mit dem Humanismus Auch mit dem Humanismus ist Luther bereits in seiner Erfurter Studienzeit in Berührung gekommen. Insbesondere Mutianus Rufus, der 1515 in den Dunkelmännerbriefen hervortrat und damit zum bedeutendsten Humanistenkreis um Johannes Reuchlin zu zählen war, sammelte etliche Gleichgesinnte um sich und dürfte viel dazu beigetragen haben, dass Erfurt ein Zentrum humanistischer Interessen und Studien wurde. Als Luther 1508 nach Wittenberg wechselte, um dort als Dozent in den artes liberales zu wirken, kam er an eine junge Universität, die der Landes30 V. Leppin (Martin Luther, 254f.; ausführlich in seinem Beitrag „Deus absconditus und Deus revelatus“, hier besonders 65–67) macht darauf aufmerksam, dass diese neue Rede vom Deus absconditus auf Staupitz zurückgeht. 31 WA 5, 163/22–29.
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fürst Kurfürst Friedrich der Weise 1502 bewusst in humanistischem Sinne gründete. Obwohl Luther, wie gezeigt wurde, erst mit der Übernahme der theologischen Dozentur 1512 vorsichtig Kritik an der scholastischphilosophischen Methode zu üben begann bzw. sie ihm langsam als angemessene Weise des Umgangs mit der Schrift fraglich wurde, dürfte er doch auch schon in dieser Zeit von dem neuen Geist, der dort wehte, nicht unberührt geblieben sein. Luther lernte hier zunächst vor allem einen neuen Zugang zur Schrift kennen, der sich langsam von den Interpretationen der Kirchenväter und den dogmatischen Vorgaben der Sentenzen zu emanzipieren begann und sich dazu zunächst den Texten in ihren Ursprachen näherte, die über Jahrhunderte im Gebrauch stehende lateinische Übersetzung des Hieronymus, die Vulgata, beiseite legend. Die Kenntnis des Hebräischen und des Griechischen schloss ihm ein neues, ursprüngliches Verständnis bestimmter Begriffe und Zusammenhänge auf, so wiederum die Bedeutung der Buße als innerer Umkehr und nicht vordergründig als sakramentales Beichtgeschehen. Schon Luthers Römerbriefvorlesung 1516 lebte von dem gerade erschienenen Griechischen Neuen Testament, das Erasmus von Rotterdam publiziert hatte, und Luther hat auch die methodischen Anleitungen zur Auslegung, den Methodus, gekannt, den Erasmus später unter dem Titel „Ratio seu methodus compendio perveniendi ad veram theologiam“ separat herausgegeben hatte. Von daher erklärt sich auch eine gewisse Hochschätzung des niederländischen Humanisten. Im Oktober 1516 nannte er ihn einen „hom[o] eruditissim[us]“32 und in einem Brief an ihn von 1519 überschüttet er ihn mit Lobesfloskeln.33 Schon früh ist allerdings auch eine Skepsis spürbar, wenn er schreibt: „Erasmum nostrum lego, et indies decrescit mihi animus erga eum“, und dies folgendermaßen begründet: „timeo, ne Christum et gratiam Dei non satis promoveat“.34 Diese Skepsis war es, die sich durchhielt und sich vollends bestätigte, als es 1524/25 zum Disput über die Frage des menschlichen Willensvermögens kam. Einer der wichtigsten theologischen Texte Luthers, seine Antwort an Erasmus, die Schrift „De servo arbitrio“, erkannte einerseits an, dass Erasmus im Gegensatz zu vielen anderen endlich den Kern der theologischen Auseinandersetzung getroffen hatte, dass ihm aber andererseits genau das fehlte, was Luther schon 1517 festgestellt hatte: Christus und das über die Christologie zu definierende 32 WA.B 1, Nr. 27, 70/4. 33 WA.B 1, Nr. 163, 361/2–363/48. 34 WA.B 1, Nr. 35, 90/15–18.
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Gnadenverständnis. Hatte Luther noch im November 1520 gehofft, „Erasmus und [er], will’s Gott, wollen wohl eins bleiben“35, und bekannt, er und Melanchthon würden wohl darüber diskutieren, „wie nah oder weit Erasmus von dem Weg sei“36, so war nach 1525 die Sache entschieden. Luther sah zwischen sich und Erasmus das Tischtuch zerschnitten, weil der Humanist nicht nachvollziehen konnte, dass dem Menschen im Heilsgeschehen keinerlei, wirklich keinerlei Mitwirkung zugesprochen werden konnte und das Attribut des „liberum arbitrium“ allein Gott zukomme. Wiederum dem Humanismus verdankte Luther dagegen eine intimere Kenntnis der Kirchenväter, die er nunmehr nicht allein in den Ausschnitten in den Sentenzen und in anderen Werken scholastischer Theologen las, sondern deren Werke er im Zusammenhang im Original zur Kenntnis nahm. Das gilt vor allem auch für den Kirchenvater, der ihm als Ordenspatron am nächsten stand: Augustin. Insbesondere der Augustin der antipelagianischen Schriften begegnete ihm neu und weckte bei dem jungen Luther ein neues Verständnis der Kraft und Macht der Erbsünde, die den ganzen Menschen bestimmt und auch seine vornehmsten Kräfte niemals zum Zuge kommen lässt. 1517 schrieb Luther in einem Brief an Johannes Lang, Augustin und die Schriftlektüre selbst beginne in Wittenberg nach und nach Aristoteles und die Sentenzen zu verdrängen – ein Umstand, den er augenscheinlich sehr begrüßte und an dem er sich eine „Mitschuld“ zurechnete.37 Damit dürfte nicht nur das formale Ergebnis gemeint sein, sondern auch ein inhaltliches. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass ein Großteil seiner frühen Mitstreiter aus humanistischen Kreisen stammte, allen voran Philipp Melanchthon, sein enger Vertrauter und nach 1521 so etwas wie das öffentliche Sprachrohr der Reformation. Gegenseitige Befruchtungen sind bei einem so engen Kontakt selbstverständlich, insbesondere dürfte Luther einen Großteil seiner Kenntnisse der antiken Literatur und natürlich vor allem der antiken Sprachen seinem besonderen Verhältnis zu Melanchthon zu verdanken haben. Die erwähnte Debatte, die beide über Erasmus führten, zeigt aber, dass spätestens mit dem Disput über das menschliche Willensvermögen 35 WA.B 2, Nr. 353, 217/18f. 36 WA.B 2, Nr. 353, 217/20f. 37 Vgl. WA.B 9, Nr. 41, 99/8–13: „Theologia nostra et S. Augustinus prospere procedunt et regnant innostra universitate Deo operante. Aristoteles descendit paulatim inclinatus ad ruinam prope futuram sempiternam. Mire fastidiuntur lectiones sententiariae, nec est, ut quis sibi auditores sperare possit, nisi theologiam hanc, id est bibliam aut S. Augustinum aliumve alium ecclesiasticae autoritatis doctorem velit profiteri.“
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Luther ein gespaltenes Verhältnis zum Humanismus und insbesondere zu seinem Menschenbild gehabt hat – ein Umstand, der Luther und Melanchthon zwar nicht gerade entfremdete, jedoch für die spätere Entwicklung des Luthertums, vor allem die Auseinandersetzungen zwischen Philippisten und Gnesiolutheranern, bedeutende Folgen hatte. 3.
Das gewordene Eigene – Ein diskutables Ergebnis
Dieser denkbar knappe Überblick über einige Traditionen, die Luther kennengelernt, in denen er sich bewegt und die er schließlich in der ein oder anderen Weise transformiert oder aber auch abgebrochen hat, zeigt, dass Luther – wie auch nicht anders zu erwarten – einen großen Teil seines Gedankenguts nicht selbst erfunden, sondern zumindest Bruchteile davon bereits vorgefunden hat. Mehr als alles andere schält sich die Mystik in der Vermittlung durch Staupitz dabei als die Bewegung heraus, die Luther am nachhaltigsten beeinflusst hat und der er – mit bedeutenden Änderungen – in manchen Punkten treu geblieben ist. Leppin fasst treffend zusammen: „Was ihn prägte, war ein Ineinander von Staupitz, Mystik, Augustin und Paulus. All diese Einflüsse, die sich nach und nach in seiner Entwicklung verifizieren lassen und die begleitet werden von einer Auseinandersetzung mit der scholastischen Theologie in der Fassung, wie er sie kennengelernt hat, stehen nicht in Konkurrenz zueinander. Sie sind auch letztlich nicht klar hierarchisiert, sondern sie bilden zusammen den Stoff, aus dem Luder seine eigenen Überzeugungen gewinnt und nun forciert kritisch gegen hergebrachte Auffassungen an die – universitätsinterne – Öffentlichkeit bringt.“38 Diese Zusammenfassung für den jungen Luther ließe sich mutatis mutandis auch für Luthers weitere Entwicklung fortführen: Seine Überzeugung der Notwendigkeit des verbum externum gewinnt er in der Abgrenzung zu den Schwärmern; seine Betonung der Kindertaufe in der mit den Täufern; die Realpräsenz wird ihm im Streit mit Zwingli zu einem unaufgebbaren Element; die Gesetzespredigt gewinnt Kontur in der Zurechtweisung der Antinomer – und so weiter und so fort. Es ist eine Stärke der Theologie Luthers, dass sie auf konkrete Fragen und Probleme konkrete Antworten gibt, die darum notwendig scharf sind, weil sie eindeutig und unverwechselbar daherkommen wollen. Nur so kann Theologie das leisten, was sie leisten soll: die Schrift als Zeugnis des göttlichen Wortes angemessen zur Sprache bringen, um sie für die Menschen als tröstliches, befreiendes 38 Martin Luther, 100.
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und gewiss machendes Wort erfahrbar werden zur lassen. Was Luther in dem Kern der Nuss finden wollte, war eine Theologie, die, aufgespannt zwischen Schriftzeugnis und Seelsorge, dem Menschen in seinen existenziellen Spannungen helfen konnte, diese Spannungen auszuhalten und zu gestalten. Dafür reichten die theologischen Zugänge, die Luther kennengelernt hatte, nicht mehr aus. Sie alle trauten dem Menschen und seinen natürlichen und im Gnadenakt der Taufe wieder freigelegten Kräften zu, am Heil in irgendeiner Form – vorbereitend, begleitend, vervollkommnend – mitzuwirken. Demgegenüber entwickelte Luther ein namentlich an der Schrift und an Augustin neu geschultes Menschenbild, dass diese Mitwirkung radikal ausschloss. Wird auf der einen Seite der Mensch in seinem Sündersein ernstgenommen und auf der anderen Seite Gott als treuer und barmherziger in Menschwerdung und Kreuzestod seines Sohnes, dann bleibt für ein Mittun des Menschen keinerlei Raum. Diese Einsicht in das Sosein Gottes, das Sosein des Menschen und das Sosein der Beziehung von Schöpfer und Geschöpf ist es, die Luther dauerhaft von der Tradition trennte und die auch die bleibende Bedeutung des Reformatorischen ausmacht. Dass er auf dem Weg dahin von diesen Traditionen lebte und mit ihnen rang, steht nicht im Widerspruch dazu, dass er mit dieser Einsicht selbst Staupitz und Augustin gegenüber in der Theologie radikal Neues gesetzt hat. Abstract As research has increasingly identified in recent years, Luther did not develop his theological beliefs "ex nihilo". Rather, he built on various traditions. Through his confessor Staupitz he became acquainted with the mysticism of Johannes Tauler which stimulated his new understanding of the confession beyond the purely sacramental use. The encounter with humanism facilitated his understanding of the Bible as encompassing the comforting and quickening power of the Word of God already in its literal and not only its allegorical interpretation. Gradually a skeptical attitude towards the scholastic method developed. Especially through the intensive study of the antiPelagian Augustine Luther discovered the radical nature of sin, which corresponds with a radicality of grace, and a different conception of human kind. This finally provoked the break with all these traditions at a central point and the originality of Luther’s theology.
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