Gibt es auf Erden ein Maß?: Grundbestimmung einer nichtmetaphysischen Ethik 9783787327485, 9783787306053

Die gegenwärtigen Bemühungen um eine Ethik sind noch an die metaphysischen Voraussetzungen gebunden, wonach das Wesen de

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German Pages 160 [185] Year 1986

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Gibt es auf Erden ein Maß?: Grundbestimmung einer nichtmetaphysischen Ethik
 9783787327485, 9783787306053

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Werner Marx Gibt es auf Erden ein Maß?

WERNERMARX

Gibt es auf Erden ein Maß? Grundbestimmungen einer nichtmetaphysischen Ethik

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-0605-3 ISBN eBook: 978-3-7873-2748-5

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1983. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

Für Hilde

Die Himmlischen aber, Die immer gut sind, alles zumal, wie Reiche, Haben diese Tugend und Freude. Der Mensch Darf das nachahmen. Darf, wenn lauter Mühe das Leben, ein Mensch Aufschauen, und sagen: so Will ich auch seyn? Ja. So lange die Freundlichkeit noch Am Herzen, die Reine, dauert, misset Nicht unglücklich der Mensch sich Mit der Gottheit. Ist unbekannt Gott? Ist er offenbar wie der Himmel? Dieses Glaub ich eher. Der Menschen Maas ists. Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet Der Mensch auf dieser Erde. Doch reiner Ist nicht der Schatten der Nacht mit den Sternen, Wenn ich so sagen könnte, als Der Mensch, der heißet ein Bild der Gottheit. » •••

Giebt es auf Erden ein Maaß? Es giebt Keines . .. . « Friedrich Hölderlin, Gedichte, Wintertbur 1944, S. 374.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Gibt es auf Erden ein Maß? Das Maß für verantwortliches Handeln . . .

1

Der »Ürt« für das Maß- die Verwindung des Subjektivismus . . . . . . . .

61

DerTod und die Sterblichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tod und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Das Maß für das seinsgeschickliehe Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Das Maß für das Dichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Nachweise zu den Beiträgen dieses Bandes ....................... 154 Personenregister ............................................ 155 Sachregister ................................................ 157

Verzeichnis der Siglen, unter denen Heideggers Schriften zitiert werden, und Bezeichnungen der herangezogenen Ausgaben: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt 1952 Gelassenheit. Aus einem Feldweggespräch über das Denken. Pfullingen 5 1977 HBf (Humanismusbrief, in:) Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den Humanismus. Bem 1947 Hw Holzwege. Frankfurt 3 1954 SK Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit. Hrsg. v. H. Feick, Tübingen 1971 SuZ Sein und Zeit. Tübingen 1967 SvG Der Satz vom Grund. Pfullingen 1957 TuK Die Technik und die Kehre. Pfullingen 1962 UzS Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959 VA Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954 WdW Vom Wesen der Wahrheit. Frankfurt 6 1976 WhD Was heißt Denken? Tübingen 1954 WiM Was ist Metaphysik? Frankfurt 1955 ZSD Zur Sache des Denkens. Tübingen 1969 Erl Gel

Einleitung

In seinem Entwurf einer »zeitgemäßen Ethik« hat W. Schulz (Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, S. 698 ff.) erklärt, die »letzten Maßstäbe«, die von jeher als ethische Grundkategorien gelten, seien die Begriffe »gut« und »böse«. Das Gute sieht er in der uns immer schon tragenden »Ordnung des Zusammenlebens«, die gegen Verfall, insbesondere gegen das Böse als Aufhebung der Ordnung, zu bewahren sei (vgl. S. 720, 723, 727). Dementsprechend versteht Schulz »die Aufgabe der Ethik als eine Vermittlung zur Ordnung« (S. 727ff., 729ff.). Wenn das »Gute als Handlungsprinzip« (S. 729) in der Ordnung liegen soll, dann ist doch zu fragen: Haben wir nicht am Beispiel totalitärer »Ordnungen« erlebt- und erleben wir es nicht noch heute, daß Ordnung als eine solche nicht ohne weiteres »das Gute« ist. Ist nicht vielmehr zu fragen, woran gemessen dasjenige, was sich als das Gute ausgibt, das Gute ist, und was es ist, das das Motiv dafür gewährt, das Gute dem Bösen vorzuziehen? Anders als Schulz sind wir der Auffassung, daß nicht die Begriffe »gut« und »böse«, sondern daß der Begriff »Maß« die »letzte« Bestimmung einer Ethik ist. So war für SeheHing die »Liebe Gottes« das Maß, an dem sich für die Maßnahme des menschlichen Universalwillens zeigte, was das Gute ist, und für die das Böse darin lag, daß der radikal egoistische Partikularwille die Liebe Gottes ausschloß. Dieses Maß gewährte so das Motiv dafür, das Gute dem Bösen vorzuziehen. Für Hölderlin waren die »Himmlischen«, waren ihre Güte, Tugenden und Freude »der Menschen Maas«, zu dem sie aufschauen und an dem sie sich messen durften, um »rein« zu bleiben. Auch in unserer Zeit gelten die »Himmlischen« noch als das Maß für den im Ebenbild Gottes geschaffenen gläubigen Menschen. Aber in der weitgehend säkularisierten und pluralistischen westlichen Welt empfinden viele schmerzlich und beunruhigt nur noch den Entzug eines Maßes, das Orientierung für verantwortliches Handeln gewähren könnte, ja zunehmend mehr wird der Entzug, wird das Fehlen eines Maßes überhaupt nicht mehr bemerkt. Dies geschieht in einer Zeit, in der die moderne Technik den Men-

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Einleitung

sehen vor immer neue »moralische« Fragen stellt, in der ihre Errungenschaften das angreifen, was bisher als die ihm vorgegebene »Natur« galt, und ihm die unheimliche Macht verleihen, sich als Gattung- sowie die ihn umgebende Natur- irreversibel zu beschädigen und sogar zu vernichten. Die zeitgenössische Philosophie sieht sich in dieser Lage vor die Tatsache gestellt, daß die auf der jüdisch-christlichen Tradition beruhende Auffassung einer Nächstenethik und einer ihr gemäßen Sozialethik immer mehr ihre Wirkungskraft verliert und in der soviel größer gewordenen Welt keine Geltung mehr besitzt. Vielleicht ist sie auch deswegen in unterschiedlicher Weise versucht, eine Ethik ohne Rücksicht auf Glaubensinhalte zu entwerfen. Als Beispiel hierfür seien genannt: die Logik moralischen Argumentierens, die sprachanalytische Ethik, die Versuche von Rekonstuktion und Rehabilitierung der praktischen Philosophie, die gesellschaftstheoretischen Entwürfe der »Kritischen Theorie«, der genannte Entwurf einer »Verantwortungsethik« von W. Schulz (a.a.O.) und neuerdings derjenige von H. Jonas (Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M., 1979), in einer Fernethik, einer »Ethik« der »Fernverantwortung>hier auf Erden« eine Erfahrung gibt, die ihnen ein Maß für den Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen gäbe und die ein Motiv dafür gewähre, das Gute dem Bösen vorzuziehen. Mit Nachdruck sei hervorgehoben, daß wir selber keineswegs aus einem gegen die jüdisch-christliche Überlieferung gerichteten oder gar atheistischen Motiv nach einer Grundlage für eine solche Ethik suchen. Im Gegenteil, nichts wäre erwünschter, als wenn sie sich gerade heute angesichts des weltweiten Verfalls vieler Maßstäbe und der Bedrohungen durch Technik und atomaren Krieg durchsetzen würde. Aber ist es nicht dennoch unsere Pflicht, uns der Tatsache zu stellen, daß diese Entwicklungen für viele die Dimension des Heiligen verschlossen hat, innerhalb derer es allein für den Glauben den Bezug zu einem göttlichen Wesen geben kann? Nurangesichts dieser Not stellte sich uns die Frage, ob es nicht möglich und an der Zeit sei, nach der Grundlage für eine Nächstenethik zu suchen, die Maße »auf Erden« gibt - in Gestalten, die den Sachverhalten nach nicht anders als die traditionell aufgefaßte Liebe, das Mitleid und die mitmenschliche Anerkennung sind, so daß diese nichtmetaphysische Nächstenethik auch für Gläubige von Bedeutung sein könnte. Nur auf der Basis dieser »alten Tugenden«, in denen der Mensch sich wirklich verwandeln muß, gibt es, so meinen wir, überhaupt ein Motiv dafür, die uns bedrohenden Gefahren abzuwehren, die heute von vielen in eindringlicher und überzeugender Weise vor den Blick gebracht werden. Wer gleichgültig ist gegenüber dem Schmerz und dem Unglück der in seiner Gegenwart lebenden anderen und ihnen nicht einmal Anerkennung zu zollen vermag, wird sich auch nicht um zukünftige Geschlechter anderer kümmern. Letztlich wird ihn die Zerstörung der »Natur« des Menschen unberührt lassen, und ob er wirklichangesichtsvon Nahvorteilen die Gefahr einer Vernichtung der ganzen Gattung ernstnehmen würde, ist mehr als fraglich. Nur wenn es die Möglichkeit gibt, daß auch diejenigen, die nicht mehr das Maß von den Himmlischen zu nehmen vermögen, eine Erfahrung machen können, die ihnen ein Maß gibt, ist, so scheint uns, eine »Rettung« aus der heute herrschenden Gefahr denkbar. Daß dies »an der Zeit« ist, läßt sich vielleicht -mit der für jede empirische Beobachtung geltenden Unzuverlässigkeitdaran ablesen, wie sich angesichts der Bedrohungen vielerorts bei nicht wenigen das Mitsein mit den anderen zu verändern scheint: Aus gleichgültig Mitvorhandenen werden manche aus der Gestimmtheit von Solidarität mit ihnen zu Gesinnungsgenossen. Wenn dies vermutlich auch nicht auf der von

Einleitung

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uns im folgenden erörterten Erfahrung einzelner und sicher nicht immer auf religiöser Überzeugung beruht, ermutigt uns doch die Tatsache, daß sie verantwortungsvoll handeln wollen, nach den philosophischen Grundlagen einer Nächstenethik zu fragen. Auch wenn es uns gelingen sollte, sie aufzuzeigen, besagt dies noch nicht, daß es eine Ethik geben muß. Hierzu wäre der Nachweis erforderlich, daß der andere allein deswegen, weil er der andere ist, einen Anspruch darauf hat, in die Verantwortung genommen zu werden. Dies ist jedoch nicht Aufgabe dieser Abhandlung, die nur die Möglichkeit einer Erfahrung aufzeigen will, die den Ausgang für eine Verwandlung zu der Bereitschaft bilden könnte, Maße einer nichtmetaphysischen Nächstenethik in sich wirken zu lassen. Der zu erwartende Einwand, daß die meisten Menschen vor dieser Erfahrung fliehen und ihnen darum auch die von uns genannten Maße nicht zuwachsen würden, darf uns nicht daran hindern, diese Möglichkeit als eine solche aufzuzeigen, da es sich um eine Erfahrung und um Maße handelt, die im menschlichen Sein eine Grundlage haben. Das Philosophieren hatte von der sokratischen Frage nach der wahren Welt gegenüber der erscheinenden bis zu Husserls und Heideggers Auffassung vom aufzudeckenden Phänomen gerade dasjenige, das die Tendenz hatte, sich der •wahren« Erfahrung zu entziehen, zur Sprache und auf den Begriff gebracht. Die hier ans Licht zu hebende Erfahrung ist, wie sich zeigen wird, die des je eigenen Sterblichseins. Eben sie hat, so meinen wir, auch ihres Entzugscharakters wegen die Kraft, eine Nächstenethik zu •begründen«, weil sie einen den Menschen verwandelnden Weg aus der Verdeckung zur •Wahrheit« fordert. Daß ihn womöglich nur wenige gehen, widerspricht dem nicht. Erinnern wir uns daran, daß z. B. Heideggers Darstellung des •eigentlichen« Daseins, auch wenn es sich bei ihm nicht um eine Ethik handelt, gleichfalls eine Erfahrung zugrundelag, die nur wenige, nur die vollziehen, in deren •entschlossenem Dasein« die Angst •aufsteigt« (SuZ S. 344 ), und nur die, die den •klaren Mut zur wesenhaften Angst« haben (WiM S. 47). Auch für die jüdisch-christliche Ethik ist doch eine •ursprüngliche« Erfahrung Grundlage, die nur die wenigen machen, denen die göttliche Gnade zuteil wird, und dennoch hat diese Ethik große Wirkung bei denen gehabt, die die ursprüngliche Erfahrung nicht eigens zu vollziehen vermochten. So erhebt das Gebot der Liebe zwar den Anspruch, universal befolgbar zu sein, und dennoch ist für seine ursprünglich Realisierung, in •unnatürlicher« Abstandnahme von einer als ungenügend erachteten Daseinshaltung,

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Einleitung

die aus einer Verwandlung entspringende Bereitschaft und Bindung des einzelnen in der Innerlichkeit des Herzens vorausgesetzt. Sie sind als solche, anders freilich als die sich aus ihr ergebenden »Gebote«, nicht !ehrbar. Gerade in dieser Hinsicht ähneln sie der hier zu erörternden Erfahrung des Sterblichseins, auf die als eine Weise menschlichen Seins immer nur erneut anleitend hingewiesen werden kann. Dem widerspricht wiederum nicht, daß ihre Wirkungsmöglichkeiten als ein Kanon von Geboten und Gesetzen lehrbar sind, ja gelehrt werden sollten, um eine objektive Gestalt annehmen zu können. Die genannten Einwände betreffen nur die Frage, ob eine zugegebenermaßen seltene Erfahrung als Grundbestimmung für eine nichtmetaphysische Ethik dienen kann. Eben weil es uns hier einzig und allein um diese Grundbestimmung geht und weil wir nicht die konkrete Entfaltung einer Ethik zur Aufgabe haben, gehen wir in dieser Abhandlung nur am Rande auf die Probleme ein, die im gegenwärtigen Denken die »rehabilitierte« praktische Philosophie behandelt. Wir gehen in dieser Abhandlung somit auch nicht auf die in der Philosophiegeschichte in unterschiedlichen Formen aufgetretenen Aporien des Menon ein, nicht auf das Problem eines ethischen Intellektualismus sowie eines Formalismus und ethischen Apriorismus. Wir behandeln weder die Struktur des »sittlichen Bewußtseins« noch die Rolle des Normativen in einer Ethik, der, wie sich zeigen wird, eine gegenüber der Tradition andere Bestimmung des Guten und der Freiheit zugrundeliegt, und wir werden auch nicht fragen, ob Werte Wesenheiten sind. Wir fragen jedoch: Worin liegen denn überhaupt die Wesensmerkmale eines Maßes als eines solchen, wenn es nicht mehr ohne weiteres mit »den Himmlischen« als den absolut Maßgebenden verknüpft ist? Muß die Philosophie nicht eben dann, wenn sie nach der Grundlage für eine Nächstenethik fragt, die ein Maß auf Erden geben soll, zunächst die Frage stellen, ob hier nicht ein anderes Wesen von Maß zu denken ist? Wenn wir somit fragen, ob eine Grundlage für »der Menschen Maas« nicht auch in einer Erfahrungsmöglichkeit hier auf Erden gefunden werden kann, legt es sich dann nicht nahe, bei demjenigen zeitgenössischen Denker anzufragen, der sich am radikalsten von den Voraussetzungen zu befreien versuchte, auf denen die traditionellen Auffassungen einer Ethik beruhten, bei Heidegger? Vielleicht liegen in seinem daraufhin noch nicht untersuchten Denken neue Wege, die auf eine andere Auffassung vom Wesen eines

Einleitung

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Maßes und auf ein Maß hinweisen, das es »auf Erden« gibt. Wir meinen, daß wir angesichts der großen Gefahren, die in der zunehmenden Orientierungslosigkeit liegen, es wagen müssen, die »Ergebnisse« jedweden Denkens daraufhin zu prüfen, ob in ihnen die Möglichkeit einer Antwort auf unsere eigene Frage enthalten ist. Wir werden allerdings einsehen müssen, daß dies sowohl hinsichtlich der Neubestimmung des Wesens eines Maßes wie des Maßes selbst nur durch ein kritisches Weiterdenken der Bestimmungen des späten Heideggers der Fall ist. Daß Ergebnisse eines Denkens »weitergedacht« werden, ist in der Philosophiegeschichte nichts Neues. So haben die Linkshegelianer die Kategorien Hegels weitergedacht, und zwar auch in Richtungen, die seinen Intentionen widersprachen. Die Schwierigkeit jedoch, vor die sich der Versuch eines Weiterdenkens von Bestimmungen Heideggers gestellt sieht, liegt darin, daß es sich hier um ein »anderes Denken« handelt, das sich nicht ohne weiteres nachvollziehen läßt. Ich habe in meinen Veröffentlichungen die geschichtliche Situation für die heute Philosophierenden dahingehend gekennzeichnet, daß sie schlechterdings dazu »verurteilt« sind, in einem Spielraum »Zwischen Tradition und anderem Anfang« zu denken (vgl. z. B. W. M., Vernunft und Welt- Zwischen Tradition und anderem Anfang, Den Haag 1970 ). Vielleicht kann eine Reflexion auf diesen Spielraum unseres derzeitigen Philosophierens mit dazu beitragen, den Grund aufzudecken, warum bisher hierzulande nur vereinzelt versucht wurde, Heidegger weiterzudenken, und zugleich auch auf die mögliche Art und Weise der Hermeneutik eines solchen Weiterdenkens hinzuweisen. Dazu müssen wir uns als erstes die beiden »Seiten« vergegenwärtigen, die diesen Zwischenbereich umgrenzen, innerhalb derer wir philosophieren. Eine Seite bildet nach wie vor unsere Tradition: die onto-logische Lichtmetaphysik, die der Überzeugung von der zumindest potentiellen Vernünftigkeit der» Wirklichkeit« und der menschlichen Vermögen des Verstandes und der Vernunft sowie die Bestimmung des Seins als Substanz und/oder als Subjekt und die des Wesens des Menschen als- Freiheit. Diese den Zwischenbereich unseres heutigen Philosophierens umgrenzende eine Seite ist von den diese Tradition auflösenden Entwicklungen mitbestimmt; sie seien nur durch die Namen Nietzsche, Marx und Freud angedeutet. Die andere Seite, die diesen »Zwischenbereich« umfängt, bezeichnet das Denken, das sich um einen »anderen Anfang« bemüht.

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Einleitung

Wie ist nun von diesen beiden Seiten her der »Zwischenbereich« selber zu denken, in dem wir uns heute philosophierend bewegen? Er ist von der Wirkungsgeschichte der Sinngehalte erfüllt, die ihre Herkunft in jener zuerst genannten, ihn begrenzenden Seite haben. Dies zeigt sich heute in der zunehmenden Tendenz zur Rationalisierung, Verwissenschaftlichung und Technologisierung von Sachgebieten, die ehemals die Philosophie als ihre Domäne beanspruchte; Psychologie, Psychiatrie, Soziologie, wissenschaftliche Anthropologie sind es jetzt, die den Sinn der,. Wirklichkeit« und der menschlichen Verhaltensweisen bestimmen. Dies zeigt sich auch darin, daß andere oben bereits gekennzeichnete zeitgenössische philosophische Bemühungen an traditionelle Denkweisen, insbesondere an die der Transzendentalphilosophie Kants oder an die Hegels anknüpfen, wie etwa die »gesellschaftstheoretischen « Emanzipationsbemühungen der ,. N euen Linken«. Allgemein läßt sich zu diesen Richtungen heutigen Philosophierens sagen, daß sie es insofern »leicht haben«, als von ihnen keine »Verwandlung« ihres Denkens verlangt wird. Sie können sich weiter in den überlieferten Weisen eines Begründens oder Erklärens bewegen. Wie aber steht es mit dem Versuch, der bemüht ist, sich der anderen Seite des Z wischenbereiches, die ihn umgrenzt, zu nähern, dem »anderen Denken«, das einen »anderen Anfang« menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten vorzubereiten sucht? Solch ein Versuch befindet sich in großen Schwierigkeiten, denen wir auch bei den vorliegenden Interpretationen begegnen, und die wir darum offen zur Sprache bringen wollen. Ein Philosophieren, das sich nicht der von Heidegger geforderten Verwandlung seines Denkens unterzogen hat, das jedoch die Schritte, die Heidegger zum Übergang vom transzendental-phänomenologischen Denken zu demjenigen »nach der Kehre« nötigten, einsichtig findet und darum seinen Versuch, aber auch manche »Ergebnisse« seines »anderen Denkens« ernst nimmt, ist gezwungen, sie nicht nur von außen her zu verstehen, sondern auch Fragen an sie zu richten. Wenn es »Aporetisches« oder gar »Fehlendes« in Heideggers Spätwerk zu erkennen meint, dann befindet es sich allerdings in einem Dilemma, weil es sich vorhalten lassen muß, des »anderen Denkens« nicht mächtig zu sein. Untersucht aber nicht auch die Hegelforschung die ,. Wissenschaft der Logik«, ohne des »absoluten Wissens« mächtig zu sein? Untersucht nicht auch die Schellingforschung dessen positive Philosophie, ohne der »erzählenden« Methode des »freien Denkens« fähig zu sein? Und es

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gibt mit Rücksicht auf diese Denker der Tradition Versuche von •Rekonstruktionen« mit unterschiedlichen Methoden. Nun beabsichtigen wir allerdings etwas noch Anspruchsvolleres als eine Rekonstruktion. Gerade weil wir durch unsere Reflexion auf den Z wischenbereich, innerhalb dessen wir heute philosophieren müssen, Klarheit darüber gewonnen haben, daß wir nicht ohne weiteres in das •andere Denken« Heideggers eintreten können, fragen wir- traditionell denkend- im ersten Teil der ersten Abhandlung dieser Sammlung, worin für die onto-theologische Tradition und worin säkularisiert heute das Wesen eines Maßes liegt, und versuchen eine Bestimmung seiner möglichen Inhalte zu geben. In einem zweiten Teil verfolgen wir durch die Spätwerke Heideggers hindurch die Frage, ob überhaupt und wenn ja, in welchem Sinn sich diese Frage für Heidegger stellte. Indem wir so unser traditionelles Denken zu der Einsicht bringen lassen, daß Heideggers anderes Denken jedenfalls kein Maß mit traditionellen Merkmalen entworfen hat, unternehmen wir in einem dritten und vierten Teil zum Zwecke unseres eigenen Entwurfs einer nichtmetaphysischen Nächstenethik den übertritt in es als die den Zwischenbereich unseres Denkens umgrenzende andere Seite, um dort nach einer nichtmetaphysischen Grundbestimmung zu suchen, die für Heidegger selbst einen maßgebenden Charakter hat. Wir finden sie in Heideggers nichtmetaphysischer Bestimmung der Todeserfahrung. Von dem dieser Bestimmung zugrundeliegenden Sachverhalt her denken wir, insbesondere auf dem Wege einer phänomenologischen Beschreibung, den Umschlag von der ontologisch verstandenen Gestimmtheit des Entsetzens zu der des Heilenden als Grundlage für eine Nächstenethik von •auf Erden« erfahrbaren Maßen weiter. Der zweiten Abhandlung liegt eine Auslegung von Heideggers •Feldweggespräch« zugrunde. Sie gewinnt weiterdenkend den »Ürt« für die Entfaltung der Maße: die Offenheit, die »Lichtung«, sofern diese, anders als für Heideggers Auffassung des Wahrheitsgeschehens, nicht durch Verborgenheit und Irre mitbestimmt ist. Die dritte Abhandlung in dieser Sammlung bleibt nicht bei Heideggers Bestimmung des Todes stehen, sondern denkt sie weiter, indem sie zeigt, wie der Tod als ein •Drittes« Sein und Nichts vermittelt und wie er, in die Erfahrung des Daseins hineinreichend, den Menschen zum »Sterblichen« macht, ihn aus Gleichgültigkeit gegenüber den anderen erweckt und für die Maße einer Nächstenliebe öffnet, sein Selbstverständnis als animal rationale und als Selbst überwindet.

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Die vierte Abhandlung versucht, das von Heidegger, wie er selbst schrieb »ungedachte« Wesensverhältnis von Tod und Sprache zu klären. Die fünfte Abhandlung fragt danach, ob und worin das seinsgeschickliehe Denken sein Maß hat, und die letzte Abhandlung erörtert Heideggers Bestimmung des Maßes für das Dichten. Seine Erläuterung des Gedichtes Hölderlins »In lieblicher Bläue ... «- von dem auch wir ausgingen- gibt uns weiterdenkend Gelegenheit, unsere eigenen Fragen nochmals vor den Blick zu bringen. Die Fragen, die ich in diesen Abhandlungen an Heidegger richte, haben mich bereits in den Jahren meiner Emigration beschäftigt, als ich an der Graduate Faculty of the New School for Social Research, New York, lehrte. In dem letzten Kapitel meines dort verfaßten Buches »Heidegger und die Tradition« forderte ich mit zahlreichen konkreten Anregungen zu einem »Weiterdenken« der Bestimmungen Heideggers auf. In dem Vorwort zur 2. Auflage (Hamburg 1980) bemerkte ich, daß hierzulande im Gegensatz zu Bemühungen in anderen Ländern ein Weiterdenken kaum erfolgt ist. 3 Ich habe in den vielen Jahren meiner Lehrtätigkeit auf dem Freiburger Lehrstuhl, der sich mit den Namen Husserl und Heidegger verbindet, an die nicht-metaphysischen Bestimmungen des späten Heideggers die Frage gerichtet, ob und wie sich seine Bestimmungen »weiterdenken« ließen\ insbesondere mit Hinblick auf die Möglichkeit eines Orientierung gewährenden Maßes. Es erfreut und befriedigt mich, am Ende meines Weges zeigen zu können, daß selbst ein Denken, das seiner Intention nach eine radikale Abkehr von uns überlieferten »Werten« sein wollte, sich zu Erfahrungsmöglichkeiten weiterdenken läßt, die zu ihnen zurückführen, daß es auf Hölderlins Frage »gibt es auf Erden ein Maß?« eine Antwort gibt, die den

3 Vgl. jedoch die Arbeiten von U. Guzzoni: »Identität oder nicht: zur kritischen Theorie der Ontologie«, Freiburg, München, 1981 und »Wendungen. Versuche zu einem nicht identifizierenden Denken•, Freiburg, München, 1982 (s. auch S. 57, Fußnote). 4 So hat neuerdings einer meiner früheren Schüler meine Frage nach einem Maß bei Heidegger in einer in den USA verfaßten Dissertation aufgegriffen. Er ist dieser Frage, anders als es in dieser Abhandlung der Fall ist, bei dem frühen Heidegger nachgegangen und zu dem Ergebnis gekommen, Heidegger habe sie sich überhaupt nicht gestellt, sie öffne sich aber einem •Weiterdenken«, das derVerf. mit bemerkenswerten Einsichten versucht hat (Raymond E. Gogel, •The Quest for Measure«, Ann Arbor 1982, S. 156).

Einleitung

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vielen, die heute das Fehlen eines Maßes schmerzlich empfinden, zumindest die Möglichkeit eines Anhaltes gewähren könnte. Ich danke denen, die mich bei der Vorbereitung zur Drucklegung unterstützt haben, insbesondere Herrn H. R. Sepp, der auch das Personen- und Sachregister erstellte. Freiburg im Breisgau 30. Januar 1983

Werner Marx

Gibt es auf Erden ein Maß? Das Maß für verantwortliches Handeln

Für Hölderlin waren es die »Himmlischen«- diejenigen, die »immer gut sind« und »Tugend und Freude« haben, die der Mensch »nachahmen darf«. Denn sie sind »der Menschen Maas«. Und für ihn war es selbstverständlich, daß der Mensch »ein Bild der Gottheit heißet«. Seine Frage war, ob es ein Maß auf Erden gebe. Diese Frage hat er verneint. Daß die »Himmlischen«, daß Gott das Absolute, das Maßgebende, daß sein Wesen das Maß für den maßnehmenden Menschen und daß der Mensch ein »Ebenbild Gottes« ist, war auch für die Philosophenfreunde Hölderlins, Hegel und Schelling, nicht fragwürdig. Ebenso stand für sie außer Zweifel, daß das Wesen des Menschen, insbesondere seine Freiheit, wegen der Ebenbildlichkeit mit Gott so zu bestimmen ist, daß er von diesem Absoluten das Maß für seine praktisch-ethische Orientierung auf Erden nehmen soll. Für den Glauben gilt in unserer Zeit weiterhin Gott als der Maßgebende. Aber von vielen wird nur noch der Entzug eines Maßes schmerzhaft empfunden, und zunehmend mehr wird das Fehlen eines Maßes von demjenigen, der verantwortungsvoll handeln möchte, nicht mehr bemerkt. Eben dies kennzeichnet die sich ausbreitende Herrschaft des Nihilismus in der Gegenwart als Folge einer immer mehr zunehmenden Sinnentfremdung und Sinnentleerung der westlichen Welt, wie sie Nietzsche voraussah und wie sie in Sartres Existenzerfahrung am radikalsten zur Sprache kam. Dies ist weiterhin die Folge der ungeahnten Errungenschaften der modernen Technik, die immer bedrohlicher angreift, was bisher als die »Natur« des Menschen galt, und ihn in die Gefahr bringt, sich als Gattung zu vernichten. Ist es da nicht die vordringlichste Aufgabe der Philosophie, die Frage nach den Grundlagen für eine Nächstenethik und damit nach einem Maß zu stellen, das eine Orientierung dafür geben kann, wie zwischen gut und böse zu unterscheiden ist, und ein Motiv dafür zu gewähren vermag, das Gute dem Bösen vorzuziehen? Nun hat doch die metaphysische Tradition bereits in der Antike mit Platons »Idee des Guten« und deren aristotelischer Rezeption die Frage nach

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Gibt es auf Erden ein Maß?

einem Maß gestellt und zu beantworten versucht. Und den Ethiken der christlich-abendländischen Philosophie lag diese Frage zugrunde, wenn sie vermittels eines begründenden Denkens Gott als denjenigen bestimmten, der als causa sui das maßgebende Absolute ist. So war am Ende dieser Tradition für Hegel noch die Substanz der Sittlichkeit die absolute Wahrheit eines christlich-protestantisch bestimmten Absoluten. Für sie alle galt auch Hölderlins Auffassung: ,.Es gibt kein Maß auf Erden.« Die Voraussetzungen der metaphysischen Bestimmungen eines maßgebenden Absoluten hatten bereits im vergangeneo Jahrhundert Denker wie Feuerbach, Marx und Nietzsche in Zweifel gezogen. Zunehmend mehr wurde die lichtmetaphysische Annahme einer potentiell totalen Herrschaft von Vernunft fraglich gemacht, ebenso ein Denken auf der Grundlage der Kategorie der ,.Substanz« und insbesondere des ,.Subjekts«. In einer Richtung der Gegenwartsphilosophie wurde versucht, durch ein ,.anderes Denken«, das sich von den deduzierenden und dialektisch begründenden Methoden der Metaphysik in unterschiedlichen Weisen, insbesondere durch eine Destruktion der Voraussetzungen der Vernunftphilosophie abgesetzt hat, andere Denk- und Edahrungsmöglichkeiten des Menschen zu erschließen. Es wäre aber keine richtige Darstellung der hiesigen Lage der Philosophie, wollte man behaupten, daß sie noch von jenem Zug zu einer Destruktion der Voraussetzungen der Vernunftphilosophie nachhaltig beeinflußt wäre. Im Gegenteil, es gibt zeitgenössische Bemühungen, die in der einen oder anderen Hinsicht noch die traditionellen Voraussetzungen der Vernunftphilosophie teilen. Das Interesse an den anti-metaphysischen Versuchen eines ,.anderen Denkens« ist durch sie weitgehend zurückgedrängt worden. Dies ist vielleicht ein Grund dafür, daß die Frage, ob sich im Ausgang von den Grundbestimmungen Heideggers eine ,.nichtmetaphysische Ethik« entweden ließe, bisher nicht gestellt worden ist. Ein anderer Grund hiedür ist, daß man sein ,.anderes Denken« nicht nachvollziehen kann und es auch nicht mehr, wie das noch vor nicht langer Zeit allenthalben geschah, einfach nachahmen will. Entspricht aber eine Einstellung, die dieses ,.andere Denken« und seine ,.Ergebnisse« überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nehmen will, unserer ,.hermeneutischen Situation«? Läßt sich das, was denkgeschichtlich einmal geschah, überhaupt wieder zum Verschwinden bringen? Heideggers ,.anderes Denken« hat uns doch- ob wir es wahrhaben wollen oder nicht- auf

Gibt es auf Erden ein Maß?

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eine neue Reflexionsstufe gebracht, die wir auch in den Fällen berücksichtigen müssen, in denen wir dieses Denken nicht selber nachvollziehen können. Daß eben darin eine große Schwierigkeit liegt, kann nicht geleugnet werden. Wir müssen sie als eine solche erkennen und sie auszutragen versuchen. Vielleicht sind wir aus Gründen, die in der Einleitung angedeutet wurden, dazu berechtigt und sogar verpflichtet, in einem Spielraum »zwischen Tradition und anderem Anfang« zu philosophieren - worin die Forderung liegt, uns Heideggers »anderem Denken« wenigstens zu nähern, wenn dies auch nur von unserem, von der Tradition und ihren Sinngehalten noch bestimmten Horizont aus geschehen kann. Wir müssen uns für die Frage offenhalten, ob sich in den Antworten dieses Denkens auf unsere Fragen nicht doch Sinngehalte erschließen, die auch für unser heutiges Denken von Bedeutung sein könnten. Deshalb und aus den in der Einleitung genannten Gründen richten wir unsere Frage »gibt es auf Erden ein Maß?« in dieser Abhandlung an das nichtmetaphysische Denken Heideggers und an seine nichtmetaphysischen Grundbestimmungen. Dies geschieht nicht aus historischem Interesse, sondern weil wir es uns in unserer heutigen Notlage nicht leisten können, auf Denkmöglichkeiten und »Ergebnisse« eines Denkens zu verzichten, von dem aus sich vielleicht eine Antwort entwickeln ließe, die wir in unserer Tradition allein nicht mehr finden können. Eben hierin sehen wir auch die Legitimation dafür, bei den von Heidegger vorgelegten nichtmetaphysischen Grundbestimmungen nicht einfach stehen zu bleiben, sondern sie über ihn hinaus weiterzudenken: die Grundbestimmungen Heideggers aufzunehmen, dann die Sachverhalte aufzudecken versuchen, die ihnen zugrundelagen, um zu prüfen, ob in ihnen nicht noch andere Möglichkeiten angelegt sind, die Heidegger nicht beachtet hat. Dadurch maßen wir uns nicht an, das »andere Denken« selber nachzuvollziehen, noch ahmen wir es nach. Solch ein Weiterdenken mag Möglichkeiten aufdecken, die Heideggers eigenen Bemühungen fremd sind. Dieses Risiko gehen wir bewußt ein. Heidegger hat seinen eigenen Versuch damit gerechtfertigt, daß es um nichts weniger gehe als um die »Rettung« der Menschheit aus der gegenwärtigen »höchsten Gefahr«. Wenn unser Weiterdenken auf Möglichkeiten hinweisen kann, die, wenn auch von ihm selber unbeachtet, in einem eigentlichen Sinne das »Rettende« ausmachen könnten, dann wäre jedenfalls der Intention Heideggers Rechnung getragen.

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Gibt es auf Erden ein Maß?

Unsere Abhandlung muß, weil sie somit bewußt unserer »hermeneutischen Situation« entsprechen will und sich Heideggers Grundbestimmungen zu nähern versucht, einen umständlichen Weg nehmen, wenn sie die Frage »gibt es auf Erden ein Maß?« an seine Spätschriften richtet. Sie kommt nicht umhin, in ihrem ersten Teil zu klären, worin für uns heute das Wesen eines Maßes liegt. Von der Annahme ausgehend, daß unser Verstehenshorizont weiterhin zwar von traditionellen Sinngehalten bestimmt ist, daß diese jedoch, säkularisiert, in andere Richtungen weisen, fragen wir bei dem traditionellen Entwurf Schellings an und lesen die Wesensmerkmale eines Maßes von ihm ab. Im zweiten Teil fragen wir im Lichte des so gewonnenen traditionell gedachten Maßes, ob der spätere Heidegger bei seiner Rede von »Maß« auf den verschiedenen Stationen seines Weges von diesem Sinn ausging oder ob seinen nichtmetaphysischen Bestimmungen eine andere Auffassung vom Wesen eines Maßes zugrundelag, das er nicht zum Thema gemacht hat. Ist der Leser nicht so sehr an diesem zweiten, noch vorbereitenden Teil interessiert, an unserer an Heidegger gerichteten Frage, ob sein Denken ein Maß für verantwortliches Handeln beinhaltet, kann er sogleich zu dem Kernstück der Abhandlung, den Teilen drei und vier übergehen, wo wir, im Ausgang von Heideggers Bestimmung der Todeserfahrung, unseren Entwurf einer nichtmetaphysischen Nächstenethik ausführen. Im dritten Teil werden wir zum Zwecke unseres Entwurfs eine nichtmetaphysische Grundbestimmung Heideggers »weiterdenken«. Dabei wird sich zeigen, daß es ein »Maß« mit anderen Wesensmerkmalen gibt- das »Heilende«-, das zwar als solches und in seinen Erscheinungsweisen der Liebe, des Mitleids und der mitmenschlichen Anerkennung säkularisierte religiöse Sinngehalte hat, für die es aber eine Erfahrungsmöglichkeit »auf Erden« gibt. Der vierte Teil betrifft die Frage, was das Gute und das Böse im Lichte des gegenüber der Tradition anders gedachten Wesens eines Maßes besagen, und welches der Sinn und die Rolle der »Freiheit« ist. I. Traditionelle Wesensmerkmale eines Maßes und seine Inhalte

Der Aufgabe, den Sinn oder die Wesensmerkmale der Bestimmung »Maß« aufzuzeigen, die vermutlich unserem heutigen Verstehenshorizont zugrun-

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deliegen, würde eigentlich nur eine umfassende Intentionalanalyse entsprechen, die wir jedoch im Zusammenhang mit der Frage dieser Abhandlung nicht leisten können. In der Annahme, daß in unserem heutigen Verständnis von Maß in bestimmter Weise noch traditionelle Sinngehalte sedimentiert sind, wählen wir diesen abkürzenden, aber darum auch nicht voll befriedigenden Weg: Wir wenden uns an einen Gesamtentwurf der Metaphysik, dessen Kategorien noch auf einem traditionellen Verständnis von Maß beruhen und dessen Problematik auf Tendenzen hinweist, die mit den unsrigen verwandt sind. Von ihm werden wir den Sinn, die Wesensmerkmale eines Maßes ablesen, wohl wissend darum, daß sie, sofern sie unser heutiges Verständnis weiter bestimmen, doch gerade wegen der veränderten Problemlage einem anderen Verständnis vom Wesen eines Maßes weichen müßten. Die onto-theologische Position: Schelling Wir wählen bewußt einen Entwurf, der genauso wie Hölderlin noch mit Selbstverständlichkeit davon ausging, daß die »Himmlischen« »der Menschen Maas« sind und daß der Mensch ein »Ebenbild Gottes heißet«. Wir versuchen, Schellings 1 Auffassung vom Sinn eines »Maßes« auch gerade deswegen vor den Blick zu bringen, weil die Problematik seiner Freiheitsschrift Tendenzen aufweist, die, da sie den traditionellen Sinn von Maß bedrohten, Anlaß zu seiner Festigung waren. Wir wenden uns vor allem deswegen an Schelling, weil Heidegger selbst sich in der Vorlesung von 1936 und in einem Seminar von 1941 sowie in Seminarnotizen hierzu an Schellings Freiheitsabhandlung gewandt hatte. Wir wollen demnach so verfahren, daß wir den kategorialen Aufbau der Freiheitsschrift darstellend erkennen, welche Sinnbestimmungen oder Wesensmerkmaleeines »Maßes« ihr zugrundeliegen. Zunächst gilt es darauf zu 1 Vgl. zu SeheHing vom Verf. : »Schelling, Geschichte, System, Freiheit«, Freiburg 1977, und »Das Wesen des Bösen, Zur Aktualität der Freiheitsschrift Schellings«, in: Philosophisches Jahrbuch, 89. Jahrgang 1982, 1. Halbband, S. lff. und »Das Wesen des Bösen und seine Rolle in der Geschichte in Schellings Freiheitsabhandlung«, in: Schelling, seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte, hrsg. Ludwig Hasler, Zürich 1979. Wirorientieren uns nicht an den Kategorien des »Maßes« in Hegels Wissenschaft der Logik. Wir verbinden nur umgangssprachliche Bedeutungen mit Bestimmungen wie •Qualität«, »Kraft« etc.

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achten, daß es in der Freiheitsschrift, wie bei jedem eine »Ethik« begründenden onto-theologischen Entwurf der Metaphysik, eine obere kategorial das Sein des Schöpfergottes bestimmende Schicht gibt, die als »obere« für die das ebenbildliehe Geschöpf bestimmende »untere« kategoriale Schicht »maßgebend« ist. Diese doppelte Struktur ist in entscheidender Hinsicht einer traditionellen Auffassung eines Maßes vorgegeben, worin die Anzeige dafür liegt, daß sich der Sinn von Maß ändern muß, wenn diese doppelte Struktur nicht mehr bestimmend ist. Die Freiheitsschrift ist in ihrer christologischen Tendenz absichtlich (»Um uns Gott näher zu bringen«) für die obere, maßgebende Schicht »anthropologisch«, und d. h. in Termen bestimmt, die der »unteren« entstammen. Die Absolutheit Gottes gibt in seiner »absoluten Freiheit«, seiner »absoluten Vernunft«, vor allem in seinem »absoluten Willen«, und dieser als ,. Wille der Liebe Gottes«, das entscheidende Maß für den Menschen: insofern sie ihm Orientierung innerhalb der Heilsgeschichte verleiht, ihm den Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen zeigt und das Motiv dafür gewährt, das Gute dem Bösen vorzuziehen. Die bisher genannten Kategorien sind alle Ausdruck des »idealen Prinzips« in Gott. Entsprechend sind für die Maßnahme des Menschen die Kategorien der unteren Schicht gleichfalls Ausdruck eines idealen Prinzips in dem Geschöpf Mensch: seiner »derivierten« absoluten Freiheit, seines Verstandes, seiner Vernunft und seines Universalwillens, der, wenn er mit dem Partikularwillen im Lot ist, die »Liebe Gottes« nachzuahmen vermag. Nun gehört es zu der von der Mystik und der deutschen Romantik bestimmten Problemlage, innerhalb derer die Freiheitsschrift entstand, daß in der kategorial oberen Schicht, die das Sein Gottes bestimmt, nicht nur ein »ideales«, sondern gerade auch ein »reales« Prinzip herrscht, und daß das gleiche auch für die untere, für die das ebenbildliehe Geschöpf bestimmende Schicht gilt. Gott ist nicht »reinere Geist und »reine« Vernunft, er ist aus .. dunklem Grund« in »bewußtloser Sehnsuchte durch Selbstverschränkung hervorgegangen und hat diesen Grund als seine Grundlage, seine Natur. Darin, daß es somit ein Prinzip der Dunkelheit in Gott gibt, liegt die Schwierigkeit, die Absolutheit des göttlichen Seins als eine Möglichkeit der sicheren Orientierung für den Menschen zu wahren. Es kommt hinzu, daß auch für das Wesendes Menschen-aufgrund des in ihm in gleicherWeise herrschenden realen Prinzips- eine reale Grundlage in seine Vernunft hineingedacht werden

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muß. Vor allem muß seine Freiheit, wie wir noch näher sehen werden, als eine »reale« Freiheit als die des Guten und des Bösen bestimmt werden. Denn die Wirklichkeit des Bösen drohte zunehmend mehr in die »heile« Welt einzudringen. Sie ist nicht nur christologisch als Sünde in der ersten und zweiten Schöpfung, sondern als eine »positive Seinsmacht« anzusehen. Welches kann der Sinn eines absolute Orientierung gebenden Richtmaßes für den Menschen sein, wenn es doch ein »Prinzip der Dunkelheit« im Wesen Gottes gibt, und wie kann menschliche Freiheit als Universalwille diese göttliche Liebe nachahmen, wenn doch das Böse wesenhaft in diese Dimension der Freiheit hineinreicht und sie bestimmen kann? Die für unsere Problematik vordringlichste Frage aber lautet: Wie hat Schelling angesichts dieser Bedrohungen den traditionellen Sinn von Maß gerettet? Er hat ihn in der Tat durch eine besondere Wendung seiner »Theodizee« und durch den Gedanken der Heilsgeschichte zu bewahren vermocht. Wir brauchen nicht im einzelnen darzustellen, wie er zwar einen »dunklen Grund« in Gott als von ihm geschaffen und zu ihm gehörig, aber außerhalb seiner Absolutheit liegend dachte, aus dem die erste Schöpfung hervorging und der jene reale Grundlage der Persönlichkeit Gottes ausmacht. Und er hat das Böse als eine einem eigenen Prinzip entstammende »Möglichkeit« in seiner >>Wirklichkeit« nur aus der Sollizitation zu dem Menschen erklärt, der dieser aber mit Rücksicht auf das Endziel der Heilsgeschichte zu widerstehen vermag, indem er sich innerhalb der »moralischen Dimension>humanitas des homo humanus« mit Hinblick auf feststehende Auslegungen, die Natur der Geschichte, der Welt, des Weltgrundes bestimmen (S. 63 ). Es gehe jedoch darum »Zu Diensten der Wahrheit des Seins, aber ohne Humanismus im metaphysischen Sinne« (S. 104) zu denken. Die Aufgabe sei, die Ek-sistenz des Menschen, d. h. sein »Stehen in der Lichtung des Seins« (S. 66 ff. ), in ursprünglicher Weise zu denken und das »Wesen« des Menschen nicht ohne weiteres als animal rationale oder im christlichen oder marxistischen Sinne aufzufassen (S. 63ff.), aber auch nicht als eine immer neu zu entwerfende »Natur«, wie Sartre dies vorschlägt. Die Aufgabe des Denkens, wie Heidegger sie im Humanismusbrief sieht, liegt nur darin, das Sein sein zu lassen. Dementsprechend heißt es: »Es [das Denken] baut am Haus des Seins, als welches die Fuge des Seins je geschickhaft das Wesen des Menschen in das Wohnen in der Wahrheit des Seins verfügt« (S. 111 ). Unmittelbar hierauf wird Hölderlin zitiert, und zwar aus der von uns eingangs abgedruckten Passage »In lieblicher Bläue« das Wort »voll Verdienst, doch dichterisch wohnet- der Mensch auf dieser Erde«. Die Verse, die uns zu unserer Frage nach dem Maß und dem maßnehmenden Menschen geführt haben, zitiert Heidegger jedoch dort nicht. Statt dessen heißt es: »Das Denken geleitet die geschichtliche Eksistenz, d. h. die humanitas des homo humanus, in den Bereich des Aufgangs des Heilen. Mit dem Heilen zumal erscheint in der Lichtung des Seins das Böse. Dessen Wesen besteht nicht in der bloßen Schlechtigkeit des menschlichen Handelns, sondern es beruht im Bösartigen des Grimmes. Beide, das Heile und das Grimmige, können jedoch im Sein nur wesen, insofern das Sein selber das Strittige ist« (S. 112). Eben dies ist die Stelle, an der, so meinen wir, Heidegger Schellings Bestimmungen des Idealen und Realen rezipiert hatte, die dieser als Kräfte des »Lebens« des Absoluten, Gottes, bestimmte, während Heidegger sie hier als dem Sein zugehörig dachte, dessen »Wahrheit« für ihn ein sich verber-

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gend-lichtendes Geschehen ist. Es ist von Bedeutung, sich sogleich zu erinnern: Während SeheHing das Böse gerade von der Dimension des göttlichen Maßes fernhielt, eben um es als ein absolut geltendes Maß zu erhalten, erscheint es bei Heidegger im Seinsgeschehen als einem Wahrheitsgeschehen selber. Gesetzt, daß das als dieses Wahrheitsgeschehen gedachte Sein für Heidegger den Sinn eines Maßes hätte- ob dies der Fall ist, lassen wir noch offen -, dann läge ein wichtiger Unterschied darin, daß für SeheHing das Böse (und das Gute) in der Dimension der menschlichen Freiheit erscheinen, von der im Humanismusbrief allerdings nicht mehr die Rede ist. Der bedeutendere Unterschied aber liegt in der Auffassung Heideggers, daß beide, »das Heile und das Grimmige im Sein nur wesen, insofern das Sein selber das Strittige ist« (ebd. ). Für SeheHing gibt es einen »Streit« des Guten und des Bösen nur in dem »realen« Begriff der Freiheit, eben weil sie eine »moralische« Dimension ist. Es ergab sich nur aus diesem Streit, ob und wie der menschliche Geist das Verhältnis von Universal- und Partikularwillen zu einem »richtigen«, d. h. guten Verhältnis vereinigte oder zu einem »verkehrten«, d. h. bösen Verhältnis. Und dies geschah durch eine Maßnahme am absoluten Maß des göttlichen »Willens der Liebe«. Wieso aber ergibt sich für Heidegger überhaupt ohne weiteres aus der »Strittigkeit« des Seins, daß das Heile als das Heile und der Grimm als der Grimm in dessen Lichtung erscheinen? Darüber erhalten wir keine Auskunft, vielmehr folgt nach der soeben zitierten Stelle, wonach das Sein selber das Strittige ist, ein Satz über die »Wesensherkunft des Nichtens«. In dem Strittigen des Seins verberge sich diese, und beim »Nichten« handele es sich nicht um eine »seiende Beschaffenheit am Seienden«, vielmehr: >>Das Nichtenwest im Sein selbst« (S. 113 ). Noch schärfer formuliert: »Das Sein nichtet-alsdas Sein« und: »Das Nichtende im Sein ist das Wesen dessen, was ich das Nichts nenne« (S. 114 ). Die Frage nach dem »Nichtenden« als dem »Wesen des Nichts« und dessen Verhältnis zum Sein zieht sich durch Heideggers Denken seit »Sein und Zeit« und der Antrittsvorlesung »Was ist Metaphysik?« bis zu seinem Ende. Zwar hatte er in der Einleitung zu »Sein und Zeit« erklärt, es gehe nur um die Frage nach dem Sinn des Seins- später hieß es, um die nach der »Wahrheit des Seins«- aber es ging ihm gleicherweise stets um die Frage nach dem »Sinn« bzw. der »Wahrheit« des Nichts. Diese Seite seines Denkweges ist hier nicht im einzelnen zu verfolgen. Wichtig ist nur, daß es sich bei Heideggers Rede vom Nicht und Nichts nicht um das nihil negativum handelt,

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und daß die unterschiedlichen Weisen des »Nichtens«, so insbesondere das Nichten als Angst, nicht »außer dem Sein, sondern im Sein« statthaben. Identifizierte Heidegger so einfach das nichtende Geschehen, das Nichts und das Geschehen des Seins? Wir werden in einer der nachfolgenden Abhandlungen - ihn weiterdenkend - zu zeigen versuchen, daß dies für den späteren Heidegger nicht der Fall ist, sondern daß der Tod -freilich nicht verstanden als »Verwesung des Leibes«, sondern als die »höchste Verborgenheit des Seins«, als das »Gebirg des Geheimnisses der rufenden Entbergung«- Sein und Nichts vermittelt. Die Frage, die Heidegger in einer seiner letzten Veranstaltungen, in Le Thor im Jahr 1969, so formulierte: »Sein: Nichts: Selbes?«, haben wir durch den Nachweis einer solchen Vermittlung beantwortet. Im gegenwärtigen Zusammenhang aber ist zu fragen: Hat Heidegger damit, daß er die sich verbergende Wesensherkunft des Nichtens im Strittigsein des Seins aufdeckte, dieses Strittigsein als die Ermöglichung des Erscheinens des Grimms »zumal« mit dem Heilen so aufzeigen wollen, daß beide die Erscheinungsweisen des nichtenden Seinsgeschehens sind? Dies würde aber besagen: Es gibt gar kein Heiles ohne den Grimm, sowie keinen Grimm ohne das Heile. Wichtiger noch: Es gibt keine Möglichkeit, zwischen diesen Seinsmächten zu unterscheiden. Doch ist dies nicht auch für Schellings »realen« Freiheitsbegriff der Fall, der, gerade anders als in der Tradition, Freiheit als das Gute und das Böse bestimmte? Dieses »und« bedeutet jedoch, daß für SeheHing in der menschlichen Freiheit zwar beides erscheint, daß es aber auch ein Maß gibt- das Maß der göttlichen Liebe-, an dem messend der Handelnde mißt und darum weiß, was das Gute und was in dessen Licht das Böse ist. Demgegenüber läßt sich bei Heidegger zunächst nicht erkennen, woran der Handelnde überhaupt den Unterschied zwischen dem Heilen und dem Grimm innerhalb des strittigen Seins- und Wahrheitsgeschehens erkennen soll, wenn doch das Nichtende in der Gestalt des Grimmes »zumal« mit dem Heilen im Sein west. Im Humanismusbriefheißt es: »Sein erst gewährt dem Heilen Aufgang in Huld und Andrang zu Unheil dem Grimm« (S. 114). Wir fragen weiter: Wie ist dieses »Gewähren« zu denken? Gesetzt, daß nicht das Heile aufgeht, sondern das Unheil, der Grimm andrängt- wie sich dies für Heidegger ohne weiteres aus dem Strittigsein des Seins ergeben kann -, wonach entscheidet der Handelnde eigentlich, ob das, was ihn bewegt, das Heile und nicht der Grimm ist?

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Heidegger würde als Antwort auf diese Frage darauf verweisen, daß der Mensch- nach den Bestimmungen des Humanismusbriefes (S. 77ff.)- in der Lichtung als der »Wahrheit des Seins« ek-sistiert, daß er deswegen »dem Sein gehört«, woraus sich für ihn ergibt, daß er ihm zuzuhören vermag. Ausdrücklich erklärt er in diesem Zusammenhang, daß der Mensch, wenn er »Zum Aufenthalt in die Wahrheit des Seins findet« (S. 115 ), >>die Zuweisung derjenigen Weisungen« hört, die »aus dem Sein selbst« kommen, und daß diese für ihn »Gesetz und Regel werden müssen«, wobei »Gesetz« »Ursprünglicher« besage >>die in der Schickung des Seins geborgene Zuweisung«, die ihn »in das Sein zu verfügen« und ihn deswegen auch »ZU tragen und zu binden« vermag, die ihm »Halt« und »Hut« geben kann (vgl. S. 114, 115). Wir fragen: Gibt es ein Maß und somit die Möglichkeit eines »Maßnehmens« innerhalb des in sich strittigen Seins ?Traditionell denkend fragen wir zunächst nach einem Maß im traditionell-metaphysischen Sinn, wie wir es oben entwickelt hatten: Maß als absolutes, dem Maßnehmen vorgegebenes, ihm »transzendentes« Richtmaß, das zugleich >>immanent« die das Maßnehmen bindende Kraft einer Verbindlichkeit hat, und >>eindeutig« sowie »offenbar« ist. Dann wäre die Bestimmung »Wahrheit des Seins« in eben dem Sinne das Maß, in dem es für Schelling das Absolute in der Gestalt der Liebe Gottes war. Wenn dies so wäre, dann brauchte das Dasein nur auf »die in der Schickung des Seins geborgene Zuweisung« zu hören, sie nahezu »automatisch« einfach zu befolgen, und dies, auch wenn das Unheil, der Grimm der Inhalt dieser Zuweisung wäre. Daß eine solche Konsequenz mit dem Sinn von Maß, wie es die Tradition dachte, nichts gemein hat, zeigt sofort die Erinnerung daran, daß Schelling die Möglichkeit einer Einwirkung des Bösen auf den Bereich des »Ethischen« nicht nur dadurch ausschloß, daß er das Absolute von den »Mächten der Dunkelheit« freihielt, sondern auch dadurch, daß er das Böse seiner Wirklichkeit nach innerhalb der Dimension der menschlichen Freiheit dachte, in der es zusammen mit dem Guten erscheint. Von Freiheit ist im Humanismusbrief jedoch nicht mehr die Rede, ebensowenig wie von Sünde, Schuld, Zurechnung und Verantwortlichkeit. Wir werden bald zeigen, wie es dazu kam, daß in Heideggers Gesamtentwurf der Sachverhalt, der sich für die Tradition mit der Bestimmung »Freiheit« verband, unbeachtet blieb, weil er in denjenigen »unterging«, den Heidegger in der Bestimmung »Wahrheit« dachte.

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Zunächst aber zwingt uns das negative Ergebnis unseres Versuches, Heideggers Bestimmung »Wahrheit des Seins« als ein traditionell gedachtes Maß aufzufassen, zu fragen, ob sie nicht der Ausdruck eines »anderen« Wesen des Maßes sein soll, das Heidegger- ohne es selber als ein Thema seines Fragens bestimmt zu haben- hier »Unter der Hand« einführte. Gibt es überhaupt in den späteren Schriften einen Anhalt für ein traditionell oder »anders« gedachtes Maß? Wir fragen somit, ob sich eine »andere« Bestimmung des Wesens des Maßes in der Art und Weise findet, in der das nicht-metaphysische und damit auch anti-subjektive Denken Heideggers den >>Aufenthalt des Menschenwesens in der Wahrheit des Seins«, seine »Ek-sistenz« gedacht hat. Im Humanismusbrief hatte Heidegger zwar- wie bereits erwähnt- nach einem Maß für das Denken gefragt. Zieht man seine Bestimmungen in den nachfolgenden Spätschriften mit heran, dann ließe sich darin sehen, daß das Menschenwesen den Anspruch des Seins, seine lautlose Zusage, als ein >>Geschick« an sein Denken auffaßt, dem das »verlautende« Wort des Denkenden »geschicklich« entspricht. Solches »Entsprechen« gemäß dem »Anspruch« des Seins wäre, so scheint es, ein >>Maß«, das nicht das von uns bestimmte »metaphysisch« gedachte Maß, ein absolutes Richtmaß wäre, eine »Transzendenz«, die als eine bindende Kraft dem Messenden »immanent« ist. Es wäre vielmehr ein sich aus der Wechselwirkung von Anspruch und Entsprechen wie von selber hervorbildendes >>Maß«, wobei die Seite des »Seins« und dessen Anspruch das »Maßgebende« wäre. In welcher Weise ein Maß sich für das Denken für den in der Wahrheit des Seins Ek-sistierenden hervorbildet, diese und andere Fragen hat Heidegger jedoch weder im Humanismusbrief noch in späteren Abhandlungen geklärt. Wir wissen nicht, wie wir dieses nichtmetaphysische Maß genauer zu denken haben. Dieses Problem wird um so bedrängender, wenn wir jetzt mit aller Deutlichkeit darauf hinweisen, daß es Heidegger im Humanismusbrief ausdrücklich abgelehnt hat, >>Anweisungen für das tätige Leben« zu geben (HBf S. 111 ). Er vertritt zwar dort die Auffassung, daß das Denken ein »Tun« sei, »das zugleich alle Praxis übertrifft« (S. 115, vgl. S. 53 ff.), weshalb es das Handeln und Herstellen »durchrage« (ebd. ), und er hat dort zwar die »offenkundige Ratlosigkeit des Menschen unserer Zeit« zur

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Kenntnis genommen und gefragt, >>wer dürfte diese Notlage übersehen?« (S. 104 f. ). Aber er hat sich dann doch auf die »einzige Sache des Denkens« beschränkt, darauf, die »Ankunft des Seins je und je zur Sprache zu bringen« (S. 118). Dies besagtefür ihn, »die Wahrheit des Seins« und das »Wesen des Menschen als Ek-sistenz«, als das Wohnen in ihr zu bestimmen. Wenn das Maß für das Denken und das Maß für das Dichten aber zugleich das Maß für verantwortungsvolles Handeln, das Maß für den Bereich sein soll, den die Tradition als den »ethischen« bestimmt hat, dann müssen wir mitNachdruck darauf hinweisen, daß es zu den entscheidenden Einsichten Heideggers gehört, daß das Sein sich »verbirgt«, daß Entzug in unterschiedlichen Weisen als »Geheimnis«, vor allem aber als »Irre«, waltet, die den Irrtum ermöglicht. Welcher Sinn läßt sich mit dem Wesen eines nichtmetaphysischen Maßes verbinden, das sich im Verhältnis von Anspruch und Entsprechen als »Wahrheit des Seins« hervorbildet, zu dem wesenhaft Entzug, Geheimnis und Irre gehören? Wenn dies allenfalls noch im Sinn eines Maßes für das Dichten liegen mag- und dies bleibe an dieser Stelle ununtersucht -, so kann dies sicher nicht für den Sinn eines Maßes gelten, das der Orientierung für verantwortungsvolles Handeln dienen soll, für ein Maß, ohne das es für den messenden Menschen einen Unterschied zwischen Gutem und Bösem nicht geben kann und ohne das er kein Motiv dafür hat, das Gute dem Bösen vorzuziehen. In seinen späteren Schriften hat Heidegger den »Aufenthalt in der Wahrheit des Seins« als »dichterisches Wohnen« (VA S. 187 ff.) und dieses als Wohnen im »Geviert« gedacht (vgl. VA S. 145 ff., S. 163 ff. ). Wir werden darum zu fragen haben, ob und gegebenenfalls in welchem Sinne im Geviert ein Maß für die in ihm wohnenden »Sterblichen« liegt. Wir unterbrechen unsere Darstellung an dieser Stelle und wollen zunächst die Entwicklung verfolgen, in der bereits vor dem Humanismusbrief der Sachverhalt, der sich für die Tradition als Ethik und für diese als sittliche Entscheidung aus Freiheit bestimmte, in denjenigen von »Wahrheit« (aletheia) ein- und unterging. Es ist von Interesse, dies darzustellen, weil eben durch diesen Untergang der Bestimmung von Freiheit in die von »Wahrheit« die Möglichkeit verlorenging, überhaupt ein Maß - zumindest eines mit traditionellen Wesensmerkmalen- für ein maßnehmendes verantwortliches Handeln zu denken.

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Ist die Bestimmung der Wahrheit, in die Freiheit eingeht, ein Maß für verantwortliches Handeln? In »Sein und Zeit« wurden der Sachverhalt, der der Bestimmung •Freiheit« oder »Freisein«, und derjenige, der der Bestimmung •Wahrheit« zugrundelag, noch als unterschiedliche Phänomene behandelt. 5 Freiheit oder Freisein galt als der Ausdruck für das •Entschlossensein« des seinkönnenden Daseins im Spielraum seiner Möglichkeiten, im besonderen für das Entschlossensein des »eigentlichen« Daseins, das in einer freilich gegenüber der Tradition anders zu verstehenden •Schulde steht und •Verantwortlichkeit« sowie »Gewissen« haben will (S. 288 f.; vgl. auch SK S. 187). Nun versuchte bereits »Sein und Zeit« zu zeigen, daß »die Erschlossenheit des Daseins das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit erreicht«, insofern Dasein wesenhaft seine Erschlossenheit ist (S. 221). Die »eigentliche Erschlossenheit« sei das Phänomen der •ursprünglichsten Wahrheit im Modus der Eigentlichkeit«, die »Wahrheit der Existenz« (ebd.). Diese Identifizierung des damaligen Wahrheitsbegriffs mit der Freiheit als Entschlossenheit in »Sein und Zeit« zusammen mit dem Versuch, Wahrheit als Entdecktheit des innerweltlichen Seienden aufzuzeigen, führte Heidegger zu den Problemen, die er dann in den nachfolgenden Schriften »Was ist Metaphysik?«, »Vom Wesen des Grundes« und vor allem in »Vom Wesen der Wahrheit« aufnahm. Für uns, die wir danach fragen, wie es dazu kam, daß der Sachverhalt, der sich traditionell mit der Bestimmung •Freiheit« verband, mehr und mehr in Heideggers Denken zurücktrat, ist vor allem der letztgenannte Vortrag von Bedeutung, weil in ihm nicht nur die traditionellen Auffassungen vom Wesen der Freiheit einer anderen Bestimmung wichen, sondern weil die alltäglichen Weisen verantwortungsvollen Maßnehmens abgewertet wurden und eben dadurch vielleicht der Sinn für die Notwendigkeit eines der ethischen Orientierung dienenden Maßes verlorenging. 5 In •Sein und Zeit« lag für Heidegger im »Sich-vor-weg-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen die existenzial-ontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten« (S. 193 ), deren äußerste die •Freiheit zum Tode« ist (vgl. S. 266, auch S. 144, 258, 384 ). Diese Bestimmungen, die Heidegger nach der •Kehre« aufgab, wurden von Jean-Paul Sartre in »L'~tre et Je Neant« weiterentwickelt. Ausgehend von der Feststellung, die menschliche Realität sei •Handeln•, hat er Freiheit als »die erste Bedingung der Tätigkeit« aufgezeigt (vgl. in der deutschen Übersetzung: »Das Sein und das Nichts«, Harnburg 1952, s. 361' 420).

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Es entsteht zunächst der Eindruck, als handele es sich in diesem Vortrag trotz seines Titels gar nicht um die Bestimmung des Wesens von Wahrheit, sondern um die des Wesens von Freiheit. Es heißt nämlich dort: »Das Wesen der Wahrheit enthüllt sich als Freiheit« (W dW S. 19). Doch was für eine Freiheit ist es, die der Mensch besitzt? Die Antwort lautet (S. 17): »Der Mensch >besitzt< die Freiheit nicht als Eigenschaft, sondern höchstens gilt das Umgekehrte: die Freiheit, das ek-sistente, entbergende Da-sein besitzt den Menschen und das so ursprünglich, das einzig sie einem Menschentum den alle Geschichte erst begründenden und auszeichnenden Bezug zu einem Seienden im Ganzen als einem solchen gewährt«- eine Auffassung, die Heidegger noch im Schellingkommentar vertritt, wo er sie sogar in der Form eines Merksatzes wiedergibt: »Freiheit nicht Eigenschaft des Menschen, sondern Mensch Eigentum der Freiheit« (SK S. 11). 6 Hierin liegt die gegenüber der Daseinsanalyse von »Sein und Zeit« noch grundsätzlichere Abkehr von einem »Subjektivismus«, wie er sich im deutschen Idealismus in der Bestimmung der »Subjektivität« als Freiheit vollendete. Wie weit sich Heidegger bereits in >>Vom Wesen der Wahrheit« von dieser wie aber auch von allen anderen traditionellen Auffassungen des Wesens der Freiheit entfernte, zeigt sich darin, daß sich ihm Freiheit nun als das »Sein-lassen von Seiendem« bestimmte (vgl. WdW S. 15), worin er das Sichhalten an je ein Offenbares als ein solches, und das ist für ihn »das Seiende« (vgl. S. 12), das Sicheinlassen »auf das Offene und dessen Offenheit« (S. 15) verstand, >>in die jegliches Seiende hereinsteht, das jene gleichsam mit sich bringt«. Diese Offenheit, um die es ihm bei dieser Bestimmung des Wesens der Freiheit nur ging, sei -so heißt es bereits in diesem Vortrag- die von den frühen Griechen erfahrene aletheia, die Heidegger dort wie bereits in »Sein und Zeit« statt mit >>Wahrheit« mit »Unverborgenheit« übersetzt (S. 16). Den gewohnten Begriff der Wahrheit im Sinne von Richtigkeit der Aussage deutete 6 Ebenso in der Vorlesung vom SS 1930, Nom Wesen der menschlichen Freiheit« (GA Bd. 31, Frankfurt a. M. 1982, S. 135). In dieser Vorlesung zeigt sich überhaupt die Tendenz, Freiheit als ein »Ontologisches Problem« (vgl. ebd. S. 219) aufzufassen. Nicht die Erfahrung des »Wunders der Freiheit« (Kant) ist für Heidegger dort das Bewegende, sondern das »Ungeheure oder Wunderbare«, daß der Mensch als Seiendes existiert, »in dessen Sein und Wesensgrund das Seinsverständnis geschieht« (ebd. S. 135). Da für Heidegger dasVerstehen des Seins des Seienden das Verstehen der Wahrheit des Seienden in seinem Sein und schließlich der Wahrheit des S~ins des Seienden im Ganzen besagt, wird die Frage nach dem Wesen der Freiheit zu der nach dem Wesen der Wahrheit (vgl. Nom Wesen der Wahrheit«, S. 232). In den Notizen zum Schellingkommentar (S. 232) heißt es dann später allgemein: »Seinsgeschichtlich anfänglich hat die Freiheit ihre Rolle eingebüßt. Denn Seyn ist anfänglicher als Seiendheit und Subjektivität.«

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er somit um, um ihn zurückzudenken in den des noch »Unbegriffenen der Entborgenheit und der Entbergung des Seienden>Entborgenheit des Seienden>Sein-lassen«, d. h. die Freiheit (vgl. ebd.), sei, wie Heidegger erklärt, >>alldem (der >negativen< und >positiven< Freiheit) zuvor die Eingelassenheit in die Entbergung des Seienden als eines solchen>Sein des Seienden« genannt wird (S. 26). Wir werden hier nicht näher erörtern, daß und wie sich bereits dort für Heidegger mit der Bestimmung des >>Seienden als solches im Ganzenabendländischen Geschichte>die selbst unmeßbar erst das Offene für jegliches Maß eröffnet« (S. 17). Wichtig für uns ist zu erkennen, daß gerade deswegen, weil »Wahrheit im Wesen Freiheit« ist, der geschichtliche Mensch im Sein-lassen des Seienden das Seiende auch nicht das Seiende seinlassen kann, das es ist und wie es ist, und daß das Seiende dann »verdeckt und verstellt« wird, daß der Schein zur Macht kommt und daß in ihm »das Unwesen der Wahrheit zum Vorschein gelangt« (vgl. S. 18). Von dieser »Unwahrheit« wird nun- eigentlich unvermittelt- erklärt, daß sie im Wesen mit der Wahrheit zusammengehöre. Die Art und Weise des Zusammengehörens ist für unsere Frage nach der Möglichkeit eines »Maßes>Yerbergung des Verborgenen im Ganzen«- und nur sienennt Heidegger das »Geheimnis« (ebd.). Das das Seiende sein-lassende Dasein >>verhält« sich zu dieser Verbergung- ein Verhältnis, »das sich dabei

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selbst verbirgt, indem es einer Vergessenheit des Geheimnisses den Vorrang läßt und in dieser verschwindet« (S. 22). Heidegger hat selbst in diesem Zusammenhang vom »Wesen des Maßgebens« und dem »Grund des Maßnehmens« gesprochen. Allerdings hat er hier ebensowenig wie später (s. u. S. 37) versucht, das »Wesen« eines Maßes, das Maß als ein solches, zu bestimmen. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, daß er hier das Wesen eines Maßes noch mit anderen Merkmalen als den von uns oben entwickelten metaphysischen gedacht hätte. Heidegger führt aus: Der Mensch kann dem »Nicht-waltenlassen der Verbergung des Verborgenen« anheimfallen; er kann dieses »Geheimnis des Daseins« vergessen und sich bei »den je neuesten Bedürfnissen und Absichten« aufhalten, sie mit seinen Vorhaben und Planungen erfüllen, bei seinem »Gangbaren« und seinem »Gemächte« stehenbleiben und überhaupt, »das Sein im Ganzen vergessend«, diesem Gangbaren seine »Maße« (vgl. S. 23) entnehmen. »Auf diesen beharrt er«, schreibt Heidegger, »und versieht sich stets mit neuen Maaßen, ohne noch den Grund der Maaß-nahme selbst und das Wesen der Maaßgabe zu bedenken. Trotz des Fortgangs zu neuen Maaßen und Zielen versieht sich der Mensch in der Wesens-Echtheit seiner Maaße. Er vermißt sich, je ausschließlicher er sich selbst als das Subjekt für alles Seiende zum Maaß nimmt>Entschlossenheit zum Geheimnis« ausbilden; diese sei »unterwegs in die Irre als solche«; das leite dazu, daß die Frage nach dem Wesen der Wahrheit ursprünglicher gefragt würde. So führe das Geheimnis aus der Irre, zu dem »Fragen im Sinne der einzigen Frage, was das Seiende als solches im Ganzen«, was das »Sein des Seienden« sei (S. 26). Heidegger hat es somit dem »Vergessen« des Geheimnisses zugeschrieben, daß der Mensch am Gangbaren seine Maße nimmt, daß er sich in der Wesensechtheit seiner Maße versieht, und daß die »insistente« Zuwendung zum Gangbaren, das »Irren«, dieses Maßnehmen an »wesensechten« Maßen weiterhin verhindert. Er hat jedoch nicht gezeigt, worin die »wesensechten« Maße liegen, und er hat sie jedenfalls dort nicht etwa als »nicht-metaphysisch« gedachte von »metaphysisch« gedachten abgegrenzt. Zurückblickend auf die bereits erörterten Bestimmungen im Humanismusbrief von 1947 stellt sich uns angesichts dieser bereits in »Vom Wesen der Wahrheit« entwickelten Gedanken mit Dringlichkeit die Frage: Gehört etwa das Böse als Wesensgestalt des Grimmes mit zur »Verbergung des Verborgenen«, dem Geheimnis, oder ist es eine der »Irre« entstammende Weise des lrrens? In beiden Fällen wäre die im Humanismusbrief leitende Bestimmung, die >>Wahrheit des Seins«, schon allein deswegen kein »Maß« für verantwortungsvolles Handeln - und dies gilt sowohl für ein »metaphysisch« wie für ein >>nicht-metaphysisch« gedachtes Maß. Vielmehr wäre es dann doch so, daß in einem gegebenen Fall ein nach allgemeinem Verständnis »böse« Handelnder sich entweder darauf berufen könnte, daß sich das Heile aus der Verbergung des Verborgenen im Ganzen, das Geheimnis nicht entbarg, oder darauf, daß er der dem Dasein wesenhaft zugehörigen »Irre« verfiel. Nicht nur könnte von »Schuld« und »Zurechnung« seiner bösen Taten, von »Verantwortlichkeit« keine Rede sein, es würde sich auch unter der Annahme, daß Heidegger ein nichtmetaphysisch gedachtes Wesen seinen Bestimmungen zugrundegelegt haben sollte, nicht ausmachen lassen,

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ob und inwieweit die jeweiligen »Zuweisungen«, die »Gesetz>Regel« für denjenigen werden sollen, der seinen »Aufenthalt in der Wahrheit des Seins« gefunden hat, von dem zur Wahrheit gehörigen >>Geheimnis« und der >>Irre« weiterhin durchwaltet sind. Sind das Gestell und andere Gestalten der Seinsgeschichte Maße für verantwortliches Handeln?

In dem Vortrag >>Die Frage nach der Technik« (1953) hat Heidegger noch einmal ZU dem traditionellen Begriff der Freiheit Stellung genommen und erklärt, worin für ihn das Wesen der Freiheit liegt. >>Freiheit ist«-SO heißt es dort (VA S. 24)- >>ursprünglich nicht dem Willen oder gar nur der Kausalität des menschlichen Willens zugeordnetDie Freiheit des Freien besteht weder in der Ungebundenheit der Willkür noch in der Bindung durch bloße Gesetze« (S. 25 ). Diese polemisch gegen die traditionellen Auffassungen des Wesens der Freiheit gerichtete Bestimmung wird nur durch eine Andeutung dessen gerechtfertigt, was für Heidegger die »ursprüngliche« Wesensbestimmung der Freiheit ist. Bei näherem Hinsehen erweist sie sich als deckungsgleich mit der Wesensbestimmung von Wahrheit, wie sie der Humanismusbrief bereits entwickelt hatte. Heidegger spricht allerdings jetzt statt von »Wahrheit des Seins« von dem >>Geschehnis des Entbergens«. »Das Geschehnis des Entbergens, d. h. der Wahrheit ist es, zu dem die Freiheit in der nächsten und innigsten Verwandtschaft steht« (ebd.). Die »Freiheit«- heißt es weiter (ebd.)- >>ist das lichtend Verbergende, in dessen Lichtung jener Schleier weht, der das Wesende aller Wahrheit verhüllt und den Schleier als den Verhüllenden erscheinen läßt«. Unsere These, wonach der traditionelle Begriff der »Freiheit« bei Heidegger in den der »Wahrheit« und dieser in eine von der traditionellen Auffassung abweichende Bestimmung untergeht, gilt somit auch für den späten Heidegger. Hat sich in seiner Auffassung von der Bestimmung »Wahrheit« nach der Abhandlung »Vom Wesen der Wahrheit« aus dem Jahr 1930 etwas geändert? Bereits in dem Vortrag von 1935 »Der Ursprung des Kunstwerks« wurde die Auffassung von Wahrheit als »Richtigkeit« als eine nicht >>ursprüngliche>Herz« der aletheia (vgl. ZSD S. 78) bestimmt wurde und daß dasjenige, was innerhalb der Entborgenheit entborgen ist, von dem Geheimnis und der Verstellung durchwaltet bleibt. Dies ist die eine Entwicklung. Die andere ist, daß Heidegger zunehmend mehr »seinsgeschicklich« dachte. Sein, das sich als nicht begründbar erwiesen hatte, zeigte sich ihm als »Geschick« in unterschiedlichen Gestalten von »Schickungen« an das Denken und Dichten, aber auch, wie sich uns bereits bei der Erörterung des Humanismusbriefes zeigte, an den Menschen schlechthin. Die Schickungen machen zusammen eine nicht teleologisch geordnete >>SeinsgeschichteMaßWesendemenschliches Gemächte>Transzendenz«, die zugleich den Menschen, die in dieser Epoche leben, >>immanent>Sinnen, Trachten, Bilden und Werken, Bitten und Danken« (vgl. ebd. S. 18). Das Ge-stell hat die Kraft, den auf sie Hörenden so zu durchdringen, daß er ihm ohne weitere Reflexion als das Verbindlich-Bindende folgen muß. Der vom Ge-stell »Gestellte>Wahrheit des Seins« und das »Wohnen in ihr« als ein »Maß« verstehen lassen, eine negative Antwort erhielten 7 , fragen wir jetzt, ob die »inhaltlichen Bestimmungen« der Wahrheit des Seins, die vorgedachte weltende Welt Nicht nur die »Wahrheit des Seins«, sondern auch das von Heidegger als das Sein noch übergreifende »Ereignis« kann schon deswegen kein ·Maß« sein, weil zum •Ereignen« das •Enteignen« so wesenhaft wie zur aletheia die Iethe (ZSD S. 44 ). 7

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und das Spiegel-Spiel des Gevierts, zu einer positiven Antwort führen könnten. Was die Struktur des Gevierts, der Vierung, selbst angeht, so ist die Frage allein schon deswegen zu verneinen, weil sie »aletheia-Struktur«, die Verhältnishaftigkeit als Un-verborgenheit hat, sowohl das Ganze der Vierung als auch die Beziehung der vier Gegenden zueinander. Diese Verhältnishaftigkeit realisiert sich im Geviert als dessen innere Bewegtheit. Heidegger hat sie bekanntlich als »Spiel« und als »Spiegel« gedacht. Die in der Un-verborgenheit präsent bleibende Verborgenheit, das Geheimnis, und die ineinander spiegelnden, miteinander spielenden vier Gegenden bedingen eine Mehrdeutigkeit. Sie widerspricht einem wichtigen Merkmal eines traditionellen Maßes, der Eindeutigkeit, und der im Spiel und in der Spiegelung liegende Grundzug der Unstetigkeit läßt sich gleichfalls nicht mit dem traditionellen Sinn von Maß vereinbaren. Hat aber nicht eine Gegend, die der Göttlichen, den Charakter eines Maßes für die Orientierung verantwortungsvollen Handeins? Heidegger erklärt ja ausdrücklich, daß sie, die Sterblichen, »auf Winke von Ankunft warten« (VA S. 151). Diese Abhandlung ging ja davon aus, daß die Gegend der »Göttlichen« oder der »Himmlischen« für Hölderlin sowie für Schelling die »Maßgebenden« waren. Es ist jedoch undenkbar, daß Heidegger, für den es keinen »absoluten« Gott mehr gibt und für den die Vorstellung der Ebenbildlichkeit des Menschen gerade nicht mehr gilt, und der die »Onto-theologische Verfassung der Metaphysik« zu verwinden sucht, zu einer schlechthin »theologischen« Überzeugung zurückgekehrt wäre. Heideggers Bestimmung Gottes liegt darin, daß aus dem »verborgenen Walten« der Göttlichen (VA S. 177) Gott in sein Wesen erscheint. In dem Vortrag: » ... dichterisch wohnet der Mensch ... « wird dieses Erscheinen jedoch so bestimmt, daß es gerade keine wirkliche »Offenbarung« ist. Gott sei »als« ein unbekannt Bleibender »nur durch den Himmel offenbar« (S. 197), und von dem Himmel wird gesagt, daß er nicht »eitel Licht« sei (S. 201 ). Der »unbekannt bleibende« Gott, der nur durch den Himmel offenbar ist, ist ein »Maß«- allerdings gilt dieses Maß nur für die Maßnahme des Dichters- der »das Verborgene in seinem Verbergen hütet« (vgl. hierzu u. S. 151). Kann aber ein dergestalt verborgen bleibender Gott ein Maß für den Menschen sein, der für verantwortungsvolles Handeln Orientierung sucht (wie dies bei Schelling die Liebe Gottes war)? Das traditionell ver-

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standene Maß hat doch gerade Offenbarkeit und dadurch Eindeutigkeit als seine Merkmale. Nut so hat das Maß verbindliche Kraft. Ließe sich aber nicht von den »Göttlichen« sagen, daß sie und ihre Winke ein Maß für die Sterblichen hergeben? Die Göttlichen sind eine der vier Gegenden innerhalb des Spiegel-Spiels. Das Spiegel-Spiel, so sahen wir, hat aletheia-Struktur. Hierin liegt, daß eine jedeGegendun-verborgen ist, daß ihr >>Wesen« somit von Verborgenheit, dem Geheimnis, mitbestimmt ist. Des weiteren steht die Gegend der >>Göttlichen« wie eine jede innerhalb der Vierung in einem Verhältnis zu den übrigen drei Gegenden, die ihrerseits aletheia-Struktur haben und gleichfalls nur aus mitpräsenter Verborgenheit un-verborgen sind. Hinzukommt, daß das Sich-Hineinspiegeln in die drei anderen Gegenden die inhaltliche Bestimmung der Göttlichen mit ausmacht: Die Sterblichen, die Erde und der Himmel spielen in die On-verborgenheit der Göttlichen hinein, so daß sie nicht nur den Sinn des Göttlichen trägt, sondern zugleich auch den des Sterblichseins, der Erde und des Himmels. Eine dergestalt mehrdeutige Gegend der Göttlichen kann für die Sterblichen, wenngleich sie auf die Göttlichen als die Göttlichen warten, nicht ein Maß für eine Orientierung sein, die den Unterschied zwischen dem >>Heilen« und dem »Grimm>Gegend« innerhalb der Vierung, die- wie gezeigtdem traditionellen Maßverständnis entgegensteht, aber gerade von der Dimension des Heiligen erklärt Heidegger, daß sie »verschlossen>das Auszeichnende dieses Weltalters« (ebd.). Deswegen kann das Heilige in der von Heidegger gedachten Bestimmung kein Maß für verantwortliches Handeln bieten. Läßt sich für die Gegend der Sterblichen allein sagen, daß sie als Sterbliche ihr »Maß in sich tragen«, daß sie gemäß ihrer Wesensbestimmung, wonach sie >>den Tod als Tod vermögenringenden-Spiegel-Spiel der Welt«. Ist dieses »gesamte Wesen« dieses Spiels, das >>Geringentsprechenden« Verhalten erst hervorbildet? Diese Frage hatte sich uns bereits gestellt, als wir von der »Wahrheit des Seins>inhaltliche Bestimmung>metaphysisch« gedachten- der Geheimnischarakter vereinbar. Ganz sicher ist dies jedoch nicht der Fall, wenn es sich um das Maß handelt, das wir hier suchen, das Maß für verantwortungsvolles Handeln. Heidegger hat im übrigen das in dem Vortrag »Das Ding« entworfene Spiegel-Spiel des Gevierts, das »GeringMessen>Hüten des Verborgenen in seinem Sich-Verbergen>den Tod als Tod vermögen«. Es scheint zunächst keinen Anhalt in den Spätschriften Heideggers für eine solche Auffassung zu geben. Man bedenke jedoch: DerTod ist nicht nur die »höchste Verbergung des Seins«- er ist als das »höchste Ge-birg>rufende Entbergung«. Liegtnicht darin, daß er Offenbarkeit, Unverborgenheit gewährt? Eben dies werden wir in einer weiteren Abhandlung zeigen. Es gibt außerdem eine Stelle in der Vorlesung >>Der Satz vom Grunde«, in der Heidegger den Tod als den bestimmt, >>der als äußerste Möglichkeit des Daseins, das Höchste an Lichtungdes Seins und seiner Wahrheit, vermagmaß-gebend>im Sein das nichtende Nichts west« (HBfS. 113f.). DaßderTod das »Höchste an Lichtung des Seins und seiner Wahrheit vermag«, bezeugt uns, daß das Sein vom nichtenden Nichts gerade unterschieden ist. Als das »Höchste>werden«, um dann als solche gemäß den von ihm vorbereitend gedachten Bestimmungen, dichterisch im Geviert des Seins in der »Welt>Miteinandersein>Wahrheit« menschlichen Seins ausmacht und eben deshalb als Grundlage einer nichtmetaphysischen Nächstenethik dienen kann. Die »Sache selbst«, das Sterblichsein, ist ja nicht nur für den Philosophierenden evident, sie ist es auch für denjenigen, der sich den Mächten alltäglicher Verdeckung dieser »Wahrheit« entzogen hat. Wer wollte bestreiten, daß wir in dem gekennzeichneten Sinne >>ständig sterben« und daß darum jeder diese Erfahrung machen kann, wenn er sich in immer erneutem Bemühen um sie sich ihr nicht verweigert? Auch unsere Forderung nach dieser Bemühung wie nach der sich aus ihr ergebenden Überwindung des gleichgültigen Mitseins mit den anderen hat ihren Anlaß in dieser Sache selbst. Eben sie wollen wir im folgenden durch eine Methode ausdrücklich zu machen versuchen, die ihr zu entsprechen bestrebt ist: die phänomenologische. Phänomenologische Beschreibung des Erfahrungsweges vom Entsetzenden zum Heilenden Wir versuchen phänomenologisch zu beschreiben, wie der in das Dasein hineinreichende Tod so zur Erfahrung des >>Sterblichseins« wird, daß diese sich zu derjenigen des >>Heilenden>Mitseins« mit den anderen bewußt, war ihrer aufgrund vielartiger Interaktionen gewahr, wobei sie ihm in der Seinsart »Mitvorhandener« begegneten wie >>Dinge«, die für ihn als zuhandene oder vorhandene in Geltung sind, wie Heidegger dies in »Sein und Zeit« durch die Analyse der

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Weltlichkeit der Umwelt des Daseins im Modus der Alltäglichkeit gezeigt hat. Entscheidend ist, daß sich das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu den anderen in der Gestimmtheit totaler Gleichgültigkeit hält. Aus dieser Wesensverfassung und Gestimmtheit ent-setzt jene plötzliche Erleuchtung. Sie entlarvt diese als »Schein«, sie zwingt mich, meinem »Sterblichsein« als der »Wahrheit« meines Seins ins Antlitz zu schauen. Wir fragen: Wie verwandelt sich die Gestimmtheit meiner Gleichgültigkeit in die Gestimmtheit des Entsetzens und wie tritt durch sie genauer die »Wahrheit« meines Seins hervor? Zunächst werde ich mir in radikalster Weise dessen bewußt, daß der in mein Dasein hineinreichende Tod meine lebensstiftenden, lebenserhaltenden und lebensfördernden Bemühungen ,,fortwährend« untergräbt, aushöhlt, um sie schließlich ganz zu vernichten. Ich erfahre mich auf dem Wege in das mir gewisse >>Unheil«. Vor allem aber erfahre ich mich als auf mich allein zurückgeworfen. Ganz allein muß ich diesem wachsenden Unheil begegnen. Der mich durchzitternde Schreck löst jetzt mein Bewußtsein in das äußerster Hilflosigkeit auf. Dies ist die Gestimmtheit, die an die Stelle jener Gleichgültigkeit getreten ist, die meine bisherige Wesensverfassung als bloßen Firnis zeigt. Dieses Bewußtsein meiner als eines einsamen Selbst in äußerster Hilflosigkeit ist nun das Element, in dem die Gleichgültigkeit gegenüber den anderen als bloß Vorhandenen vergeht und sich langsam und zunehmend mehr in eine Beziehung verwandelt, die sie zu >>Mitmenschen« werden läßt. Zunächst werden sie aus der Erfahrung jener äußersten Not zu solchen >>anderen«, an die ich mich, nahezu um Hilfe flehend, wende. Eben dadurch sind sie mir keineswegs mehr gleichgültig. Sie sind zu denen geworden, die mir helfen könnten, zu Helfern in der Not. Damit ist der Anfang eines »Weges« gemacht, der die Verwandlung meines Seins und der es tragenden Gestimmtheit ermöglicht. Dieser Anfang hat die Tendenz zu einer stufenweisen Entwicklung, die allerdings keine »notwendige« ist. Oft, vielleicht sogar in den meisten Fällen, kehrt der Mensch wieder in die alte, von Gleichgültigkeit beherrschte Weise eines Selbstverhältnisses und eines Mitseins zurück. Die Verwandlung war nicht tiefgreifend genug. In anderen Fällen jedoch »Werden« die Menschlichen zu »Sterblichen«. Auf mich allein zurückgeworfen erwächst mir gerade aus der Erfahrung dieses Alleinseins ein Bezug zu denen, die mich alleingelassen haben, den anderen. Diese zeigen sich immer deutlicher als solche, die, zumeist freilich ohne dies selbst erfahren zu haben, demselben Schicksal des Sterblichseins

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anheimgegeben sind, so daß jene, bei denen ich Hilfe suche, doch ebenso der Hilfe bedürfen und daß auch sie als dem Ent-setzenden bereits überantwortet Sterbliche sind. Dies besagt, die anderen sind keine Fremden mehr, sie werden mir zu »Genossen« im Sinne von Schicksalsgenossen, die mich ihrerseits als einen Genossen brauchen, ja die von mir mit Recht erwarten, daß ich die Verantwortung für sie übernehme, daß ich verantwortlich handeln will - eine Annahme, von der wir in dieser Abhandlung ausgingen, deren Thema nicht die Frage ist, ob mich der andere als solcher in die Verantwortung ruft. 8 Meine langsam erwachsende und ständig zunehmende Gestimmtheit ist die einer »Solidarität«, die ihrerseits die Tendenz in sich trägt, sich weiter zu entfalten, eine Entfaltung, die in meinem Gestimmtsein geschieht. Was mir vorher neutrale und gleichgültige Weisen der »Interaktion« und der »Kommunikation« waren, wird immer »affektbeladenerheilend« und >>das Heilende« verwenden wir unter bewußter Ausklammerung aller anderen Bedeutungen, die sich mit diesen Bestimmungen verbinden. Sie kennzeichnen den Sterblichen, der im Verhältnis zu sich und zu seinen Mitmenschen in der »Wahrheit seines Seins« lebt, der geheilt im Heilenden wohnt. Allerdings »wohnt« er nur dann, wenn diese »Wohnung« nicht eine vorübergehende Gestimmtheit ist, sondern wenn sie vielmehr Gestalt gewonnen hat, wenn die Veränderung, die mit ihm geschah, sich zu dauernden >>Charakterzügen« ausgebildet und darin gefestigt hat. Das Heilende könnte eine Gestalt gewonnen haben, die den Sachverhalten gleichkommt, die die Tradition etwa als Liebe, Mitleid und mitmenschliche Anerkennung bezeichnet hat. Diese Gestalten des Heilenden sind für denjenigen, der verantwortlich handeln will, zu Maßen geworden, die sein ganzes Sein tragen und ihm darum auch nicht wie Forderungen, Pflichten gegenüberstehen. Er wäre bereits den »Weg« gegangen, der ihn in die Gestimmtheit des brüderlichen »Du« gebracht hat. Das nichtmetaphysisch gedachte Maß des Heilenden in seinen Gestalten als Überwindung des transzendenten Richtmaßes Wir erinnern daran, daß Heidegger in »Sein und Zeit« (S. 345) das Phänomen >>Hoffnung« als Erleichterung von der Last des Daseins bestimmt hatte. Er hat es aus dem Bezug des Daseins zu dem »geworfenen Grund seiner Selbst« aufgezeigt. Dieser Bezug ist ein »Weg« innerhalb einer ontologischen Gestimmtheit. Analog denken wir den »Weg« aus der gestimmten Erfahrung des Sterbens zu der gestimmten Erfahrung des Heilenden. Der Weg, der sich durch den Stog eröffnet hat, der vom Entsetzen ausging, kann freilich nach der Kehre nicht mehr, wie dies in »Sein und Zeit« für die phänomenologische Bestimmung des Phänomens Hoffnung geschah, von einem vorgängig >>Sich-gewonnen-Haben« daseinsanalytisch abgeleitet werden. Der >>Weg«, der sich innerhalb der Gestimmtheit des im Sein ek-sistierenden Menschenwesens öffnet und als »Ergebnis« das

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Heilende hat, muß als derjenige einer »Gabe« an die Sterblichen gedacht werden. Die Eröffnung und Hinführung von der Gestimmtheit des Unheils zu der des Heilenden muß des weiteren als ein >>Geschehen« aufgefaßt werden in dem Sinne von etwas, was dem Dasein geschieht, und zum anderen muß das >>Ergebnis« dieses Weges, das Heilende, als eine Gabe an die Erfahrung der Sterblichen, als ein »Geschenktes>Ürt«, dieser »Bezirk« innerhalb seiner selbst als unbegründbar, einer cattsa sui, einem Absoluten ähnlich eine Quelle des Gebens und des Schenkens, eine schenkende Kraft ist. Wie aber gibt und schenkt diese unbegründbar absolute Kraft des Heilenden? Die Antwort ist: Das Heilende schenkt als das Maß. Es schenkt, indem es sich festmacht, sich selbst Halt gibt. Liebe, Mitleid und mitmenschliche Anerkennung sind Beispiele solcher Gestalten, zu denen sich das Heilende ausbildet, weil es- anders als die Gestimmtheit der Angst - eben um heilen zu können, die Tendenz hat, nach erfolgter Veränderung des ganzen Menschen sich als das Ganze seines Verhaltens zu bestimmen. Läßt sich dasjenige, das das Heilende in diesen Gestalten gibt, noch genauer fassen? Heidegger hat ja die nichtmetaphysische Dimension durch die Bestimmung des »Es gibt« gewonnen, aber er hat dieses »Es gibt« als ein »Ereignen« gedacht, als das verbal zu denkende Ereignis, in das er noch das von der Metaphysik gedachte »Sein« zurücknahm (vgl. UzS S. 260, Fußnote). Ereignen oder Ereignis bezeichnet dasjenige, das ein jedes je und je in sein Eigenes gewährt. Diese Bestimmungen sollen in einer nichtmetaphysischen »Vorprädikativen« Weise den Geschehenscharakter dessen, was ist, bezeichnen. Hierzu gehört vor allem die Bestimmung »Nähe«. Bereits in der Daseinsanalytik hatte Heidegger von der Bestimmung des In-Seins des dem Dasein innerweltlich begegnenden Seienden dessen »wesenhafte Tendenz aus Nähe« (S. 105) zum Thema gemacht und die besondere Art der >>Näherung« und >>Ent-fernung« des besorgenden Daseins aufgezeigt. So ist es auch für den späten Heidegger (vgl. U zS S. 211 ff.) die »räumliche« Hinsicht, die für ihn in der Bestimmung »Nähe« liegt. Sie ist auch richtungsweisend geblieben, als er versuchte, durch ein »anfänglicheres Denken« Nähe als Nahnis und diese als die »Be-wegung der Weltgegenden zueinander« zu

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denken und dadurch den »Parametercharakter« von Raum und Zeit zu verhindern, der zu der »Verwahrlosung« der Dinge geführt habe. Nur dort, wo es sich für ihn um die Bestimmung des Verhältnisses von Dichten und Denken als eine »Nachbarschaft« handelte, hat er daran erinnert, daß auch ihr »Nähe« zugrundeliegt. Da Denken und Dichten für Heidegger Weisen eines außergewöhnlichen Ek-sistierens innerhalb des Seins sind, darf man behaupten, daß er die Bestimmung »Nähe« und ihr >>NähernRichtmaß